eBooks

Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters

2020
978-3-7720-5654-3
A. Francke Verlag 
Sarah Bowden
Nine Miedema
Stephen Mossman

Wie gehen mittelalterliche literarische Werke und Sachtexte mit körperlicher und mentaler (Un-)Versehrtheit um? Die modernen Begriffe "Verletzungen" und "Unversehrtheit" eröffnen ein Themenfeld, dessen lexikalisch-semantische Aufarbeitung im vorliegenden Sammelband erstmalig versucht wird. Darüber hinaus bieten die interdisziplinären Beiträge philologische, theologische und medizinhistorische Ansätze mit Schwerpunkten auf den Bereichen Religion, Krieg und Kampf sowie minne. Es zeigt sich, dass geistliche Werke des Mittelalters eine eigentümliche Mischung von Hinweisen enthalten, die Verletzung etwa im Sinne der physischen Folter der Heiligen bejahen, und solchen, die Unversehrtheit positiv werten. Auch im weltlichen Bereich kann Verwundung einerseits als Auszeichnung, andererseits aber als Schmach gedeutet werden - sowohl in physischer, kriegerischer Auseinandersetzung als auch im seelischen minne-,Kampf'. Der Sammelband bietet so ein facettenreiches Bild des mittelalterlichen Umgangs mit der anthropologischen Grundkonstante der Verwundbarkeit des Menschen.

Sarah Bowden · Nine Miedema Stephen Mossman (Hrsg.) Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters XXIV. Anglo-German Colloquium Saarbrücken 2015 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman (Hrsg.) Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters XXIV. Anglo-German Colloquium, Saarbrücken 2015 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8654-0 (Print) ISBN 978-3-8233-5654-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0113-0 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 5 Inhaltsverzeichnis Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Wolfgang Haubrichs leid , harm und sêr . Zur Geschichte eines semantischen Komplexes der Verletzung . . . . . 17 Simone Schultz-Balluff Das Wissen über Wunden. Zu Verwendungsweisen, Semantisierung und Konzeptualisierung von ahd. wunti / as. wunda / mhd. wunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Christoph Huber Wohnen in der Wunde. Zu einem passionsmystischen Metaphernkomplex . . . . . . . . . . . . 65 Racha Kirakosian Wie man got verwunden sol mit einem ougen . Zur passionsmystischen Buchschriftlichkeit und Liebesverwundung durch das Auge im Botten der götlichen miltekeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Heilige Wunden. Passionsfrömmigkeit im niederdeutschen Frühdruck . . . . . . . . . . . . . . . 95 Simon Falch Verletzungen in Heiligenlegenden. Strategien der Gedächtniswahrung im Kontext hagiographischer Sammlungen des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Anne Simon Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert. Verletzung und Unversehrtheit in der Barbaralegende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Timothy R. Jackson Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Christian Rohr Unfälle und Lawinen. Verletzungsgefahren mittelalterlicher Reisender im alpinen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ortrun Riha Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen. Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Sandra Linden lazet mich unverseret! Zur Darstellung und Problematisierung körperlicher Züchtigung in Ehestandsmären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6 Inhaltsverzeichnis Sonja Kerth diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz. Traumaerzählungen in der deutschen Dichtung des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Annette Gerok-Reiter Versehrtheit. Formen und Funktionen eines Motivs in der frühen Lyrik . . . . . . . . . . . . . 221 Jan Stellmann leitlîche blicke. Sehen und Liebeskrankheit bei Heinrich von Morungen . . . . . . . . . . . . . . 243 Annette Volfing Hadlaubs beißende Dame. Minnesang und vagina dentata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Michael Stolz The Vulnerable Text. Verwundbarkeit als anthropologisches und textuelles Phänomen in Wolframs Parzival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Handschriftenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Einleitung 7 Einleitung Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman I Thema, Gegenstand und Terminologie Der Band Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters handelt von der Darstellung und Funktion von Verletzungen, Verwundungen, (Un-)Versehrtheit und (In-)Vulnerabilität - sowohl körperlich-sichtbar als auch psychisch-unsichtbar - in der Literatur, Kultur und Gesellschaft des deutschen Mittelalters. In allen Beiträgen wird hervorgehoben, dass Verletzungen, Verwundungen und Beispiele für Unversehrtheit - in immer neuer Form - wirkmächtige Bedeutungsträger sind, für den Verletzten ebenso wie für den Unversehrten, für den Verletzenden ebenso wie für den Verletzten (sofern es sich dabei nicht ohnehin um die gleiche Person handelt), für den Einzelnen ebenso wie für breitere Kreise der Gesellschaft. Literarische und bildliche Darstellungen von Verletzungen und Unversehrtheit geben Anlass zu vielfältigen Untersuchungen von menschlicher Vulnerabilität und heben komplexe Machtkonstellationen hervor; aus der Wahrnehmung von Wunden - insbesondere der Wunden Christi - ergeben sich facettenreiche, komplexe Kommunikationsmöglichkeiten, die in verschiedenen Texten immer wieder neu geprägt und variiert werden. Der vorliegende Band setzt zwei Schwerpunkte. Erstens konzentrieren sich die Beiträge auf die Darstellung und Interpretation von Verletzungen bzw. Unversehrtheit im schriftlichen Kontext: Obwohl oft eine Verbindung mit dem Visuellen oder Materiellen hergestellt wird, steht das Schreiben über Verletzungen und Unversehrtheit im Zentrum der Betrachtungen. Als Ausgangspunkt dienen zwei sprachgeschichtliche Beiträge zur Übertragung der modernen Termini ‘Verletzung’ und ‘Unversehrtheit’ in das mittelalterliche Wortfeld, wonach in weiteren religions-, literatur-, kultur- und medizingeschichtlichen Artikeln eine Vielfalt unterschiedlicher Textsorten in Betracht gezogen wird: verschiedene Gattungen der religiösen Literatur, Minnesang, höfische Epik, Kurzerzählungen (Mären), Chroniken, Sachtexte. In allen Beiträgen wird vor allem die Art und Weise hervorgehoben, in der sich Verletzungen und Unversehrtheit im schriftlichen Kontext als bedeutungsvoll erweisen. Zweitens werden Verletzungen und Unversehrtheit als zwei verwandte Themenfelder konsequent nebeneinandergestellt. In diesem Sinne tritt der vorliegende Band in Dialog mit in jüngerer Zeit erschienenen Arbeiten über körperliche Wunden im Mittelalter 1 und solchen, 1 Stigmata. Poetiken der Körperinschrift , hg. von Bettina Menke und Barbara Vinken, Paderborn 2004; Wounds in the Middle Ages , hg. von Anne Kirkham und Cordelia Warr, Farnham 2014; Wounds and Wound Repair in Medieval Culture , hg. von Larissa Tracy und Kelly De Vries, Leiden 2015 (Explorations in Medieval Culture 1). Das Thema der Unversehrtheit spielt in diesen Untersuchungen eine deutlich untergeordnete Rolle. 8 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman die die Darstellung und Bedeutsamkeit von Gewalt im breiteren Kontext untersuchen. 2 Zudem geht es hier darum, eine umfassendere Untersuchung der Bedeutung von (hauptsächlich) menschlicher Vulnerabilität durchzuführen - wobei diese in den vorliegenden Beiträgen sowohl körperlich als auch psychisch-seelisch und gelegentlich sogar metaphorisch aufgefasst wird. Die Betonung der zwei grundsätzlich ineinandergreifenden Felder verdeutlicht, dass „[w]ounds were potent signifiers […] in the middle ages“, 3 sogar oder gerade vor dem Hintergrund der religiös begründeten Wertschätzung des unversehrten Körpers; 4 auf diese Weise erschließt das Spannungsfeld von „Verletzungen und Unversehrtheit“ eine Vielfalt von Bedeutungskonstellationen, die in verschiedenen Textsorten zu je verschiedenen Zwecken ausgestaltet werden können. Die Beiträge berücksichtigen die geistliche Literatur gleichberechtigt neben der weltlichen. Dies ist nur zum Teil einem erweiterten, an der Kulturgeschichte orientierten Literaturbegriff geschuldet. 5 Wichtiger erscheint vielmehr, dass in der geistlichen Literatur, und zwar schon zur althochdeutschen Zeit, die Semantik der Verletzung ausgehend von den geistlichen Texten im Deutschen erweitert wird, um neben der physisch-körperlichen Dimension auch eine psychisch-emotionale zu erfassen. Die literarische Beschäftigung mit der Kreuzigung Christi, die nicht nur als physisch tödliche Verletzung, sondern zugleich auch als seelische Demütigung des Gottessohns verstanden wurde, schuf die Grundlage für diese Entwicklung. Dies geht aus dem sprachgeschichtlichen Beitrag Wolfgang Haubrichs’ zu den Lexemen harm , sêr und leid hervor; nach Haubrichs ist es „die christliche Inanspruchnahme der Verwundungs- und Versehrungsterminologie, die solche Emotionalisierung treibt“ (S. 25). So umfasst der Begriff wunde in der geistlichen Literatur erstmals im besonderen Maße die seelisch-psychische Verletzung; die „sicherlich komplexeste und vielfältigste Ausgestaltung von Wunden“, so Simone Schultz-Balluff, ist in Verbindung mit der Bezugswelt Religion und Glaube zu konstatieren (S. 52). In den literarischen Darstellungen der christlichen Märtyrer erfährt die Semantik der Wunden ihre wohl ausführlichste Ausgestaltung, da erst in diesem Kontext die Verschärfung des Schmerzes in der Zufügung von Wunden und die Verhinderung ihrer Heilung thematisiert werden. Die in theologischer Perspektive höchst komplexen und facettenreichen Beziehungen, die Texte des hohen und vor allem des späten Mittelalters zwischen dem einzelnen Gläubigen und dem gekreuzigten Herrn herstellen, wie Thomas Lentes beispielhaft anhand 2 Vgl. z. B. Gewalt im Mittelalter. Realitäten, Imaginationen , hg. von Manuel Braun und Cornelia Herberichs, München 2005; Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD , hg. von Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski und Michaela Hohkamp, Berlin 2005 (Historische Forschungen 81); Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. von Claudia Ansorge u. a., Göttingen 2015. 3 Anne Kirkham und Cordelia Warr, „Introduction. Wounds in the Middle Ages“, in: Wounds in the Middle Ages (wie Anm. 1), S. 1-14, hier S. 1. 4 Auffällig ist, dass die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes das Thema der Unversehrtheit im Sinne der Jungfräulichkeit kaum aufgreifen. Vgl. dazu bereits Maria E. Müller, Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts , München 1995 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 17). 5 Kurt Ruh, „Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte“, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung , hg. von dems., Tübingen 1985 (TTG 19), S. 262-272. Einleitung 9 der Vita Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen aufgezeigt hat, 6 haben dazu beigetragen, den Bedeutungswandel von wunde auch in weltlichen Texten maßgeblich voranzutreiben. Schultz-Balluff zufolge ist es „die Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungsformen, die zugleich diverse Blickrichtungen und damit Kommunikationsrichtungen impliziert“ (S. 56), die in der Betrachtung der Wunden Christi zum Tragen kommt und durch literarische Mittel evoziert wird, die die semantische Entwicklung auslösen. II Die Verletzungen und Unversehrtheit Christi und der Heiligen Mittelalterliche Texte aus verschiedenen Gattungen der christlichen Tradition experimentieren einerseits mit den Darstellungsmöglichkeiten der Verletzung und Verwundung Christi und setzen sich andererseits mit der prinzipiellen Unerzählbarkeit der Unversehrtheit des auferstandenen Herrn auseinander. Die Bedeutung der Thematik für die geistliche Literatur insgesamt ist evident. Es geht hier jedoch nicht nur um die fundamentale Verankerung der Verletzung, d. h. des Leidens Christi, im Wesen des Christentums. Denn das Christentum ist bekanntlich eine Religion der Paradoxa, und die neuere mediävistische Forschung hat sich darum bemüht, die Paradoxa in den theologischen, literarischen und bildkünstlerischen Darstellungen des Leidens Christi und seiner Wunden aufzuzeigen. Die Wunden Christi wurden in der christlichen Auslegungstradition als schreckenerregende ‘Narben’ aufgefasst, die die Menschheit stets an ihre Fähigkeit zur Ausübung unrechter Gewalt erinnerten, und gleichzeitig als hoffnungsvolle Zeichen der Erlösung, die durch den Tod und die Auferstehung Christi erst möglich wurde. Die heilsgeschichtlich-ekklesiologische Deutung der Wunden Christi war seit den Kirchenvätern fester Bestandteil der christlichen Theologie, aber sie erfuhr im 12. und im 13. Jahrhundert einen bedeutsamen Wandel. Angeregt wurde ein immer intimer werdendes Verhältnis zur Seitenwunde Christi; die Seitenwunde bot geistlichen Schutz für den einzelnen Gläubigen und Zugang zum Herzen Christi - welches spätestens seit Bernhard von Clairvaux als durch den Lanzenstich durchstochen und den Gläubigen geöffnet galt 7 -, und sie lud zur unio mystica in seinem Innersten ein. 8 Diese Erkundung der Menschheit Christi versprach, neue kontemplative Zugänge zu seiner Gottheit zu eröffnen, jedoch ist im späteren Mittelalter eine gewisse Verselbständigung der Seitenwunde - in den bildenden Künsten oft einzeln und vom gekreuzigten Christus losgelöst dargestellt - nicht zu verkennen; die Wunde wurde somit zu einem Andachtsgegenstand an sich, der den Fokus für meditativ-‘affektive’ und sogar haptische Annäherung bildete. 9 Was in der bisherigen Forschung anhand der (Buch-)Malerei oder der Ein- 6 Thomas Lentes, „Der Blick auf den Durchbohrten. Die Wunden Christi im späten Mittelalter“, in: Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne , hg. von Reinhard Hoeps und Richard Hoppe-Sailer, Bielefeld 2014, S. 43-61. 7 S. Bernardi Opera vol. II: Sermones super Cantica canticorum 36-86 , hg. von Jacques Leclercq, Charles H. Talbot und Henri M. Rochais, Rom 1958, sermo LXI, pars I,4 (S. 150f.). 8 Einen soliden Überblick über diese bekannte Entwicklung bietet George Hardin Brown, „From the Wound in Christ’s Side to the Wound in His Heart. Progression from Male Exegesis to Female Mysticism“, in: Poetry, Place, and Gender. Studies in Medieval Culture in Honor of Helen Damico , hg. von Catherine E. Karkov, Kalamazoo, Mich. 2009, S. 252-274. 9 Dazu ausführlich Vibeke Olson, „Penetrating the Void. Picturing the Wound in Christ’s Side as a Performative Space“, in: Wounds and Wound Repair in Medieval Culture (wie Anm. 1), S. 313-339. 10 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman blattdrucke dargestellt wird, 10 erforscht Christoph Huber nun in der geistlichen Lyrik unter besonderer Berücksichtigung der Ästhetik des Einwohnens in der Wunde. Huber erläutert die Bedeutung der literarischen Kreativität im Bereich der Metaphorik für den grundsätzlichen Wandel in der Auslegung der Seitenwunde Christi von einem soteriologisch-ekklesiologischen zu einem brautmystischen und im weitesten Sinne ‘voluntaristischen’ Verständnis. Die lyrische Ausgestaltung der Seitenwunde als locus amoenus , als Ort der mystischen Rückkehr und der unio , als Ursprung der Rechtfertigung und des Heils schlechthin ist keinesfalls auf das Spätmittelalter beschränkt, sondern kann konfessionsübergreifend bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgt werden. In der Frühen Neuzeit wie auch im Mittelalter ist, um mit Huber zu sprechen, „Religiöses nicht als diskursiv geglättete Lehre, sondern nur als affektive und ästhetische (literarästhetische) Manifestation zu lesen“ (S. 80). Die intellektuell-theologische Dimension ist dabei aber stets mitzudenken. So wäre, um ein prominentes Beispiel herauszugreifen, die Bildtradition der Kreuzigung Christi durch die Tugenden 11 ohne eine neue, voluntaristische Deutung der Soteriologie, die in geistesgeschichtlicher Perspektive mit dem Namen des Franziskaners Bonaventura engstens verbunden ist, kaum vorzustellen. Aus der Liebe, die Christus zur Kreuzigung bewog, wurde die personifizierte Liebe, die ihn kreuzigte; sie war die unermessliche Liebe für die Menschheit, die von den Gläubigen Gegenliebe einforderte. Die Ansicht, Christus habe seinen Tod selbst gewählt und nach seinem Tod durch ein Wunder aus der Seitenwunde Blut und Wasser fließen lassen, gehört zu den theologischen Thesen, die die Christus zugefügte Gewalt, so Caroline Walker Bynum, eher ‘verdeckten’. 12 Die tödliche Verletzung sei von Christus auserkoren worden und ihm nicht wider seinen Willen zugefügt; er habe die Seitenwunde ‘geöffnet’, um der Menschheit entgegenzukommen. Das theologisch komplexe Wechselspiel zwischen dem gekreuzigten Christus und dem in mystischer Betrachtung versunkenen Gläubigen untersucht Racha Kirakosian anhand des Botten der götlichen miltekeit , eines deutschsprachigen Traktates des späteren 14. Jahrhunderts, der auf der Grundlage von Gertruds von Helfta Legatus divinae pietatis verfasst wurde. Die Liebespfeile, die aus den Augen des die Kreuzigung betrachtenden Menschen hervorgeschossen werden, verwunden Christus erneut und zwingen den himmlischen Bräutigam dazu, Gnade und Heil zu spenden. Gattungsinterferenzen zwischen christlicher Leidenstheologie und dem eher in der höfischen Dichtung beheimateten Konzept des Liebesschmerzes sind dabei zu beobachten; ein Thema, das in den Beiträgen von Annette Gerok-Reiter und Jan Stellmann ebenfalls aufgegriffen wird (siehe unten, Abschnitt III). Zu den Gattungen, die für die vorgegebene Thematik von besonderer Bedeutung sind, gehören die Passionserzählungen, die Literatur, die das Leiden Christi wiedererzählte und seit dem 12. Jahrhundert sowohl im Lateinischen als auch in allen europäischen Volkssprachen blühte. Die literarische Ausgestaltung des sparsamen Gerüsts, das die Evangelien zur Verfügung stell- 10 Siehe z. B. verschiedene Artikel in Glaube Hoffnung Liebe Tod , hg. von Christoph Geissmar-Brandi und Eleanora Louis, o. O. 1995; Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert , Köln 2003 (pictura & poësis 16); Silke Tammen, „Blick und Wunde - Blick und Form. Zur Deutungsproblematik der Seitenwunde Christi in der Buchmalerei“, in: Bild und Körper im Mittelalter , hg. von Kristin Marek u. a., München 2 2008, S. 85-114. 11 Siehe dazu bereits Heike Kraft, Die Bildallegorie der Kreuzigung Christi durch die Tugenden , Berlin 1978. 12 Grundsätzlich und umfassend dazu: Caroline W. Bynum, „Violence Occluded. The Wound in Christ’s Side in Late Medieval Devotion“, in: Feud, Violence and Practice. Essays in Medieval Studies in Honor of Stephen D. White , hg. von Belle S. Tuten und Tracey L. Billado, Farnham/ Burlington, Vt. 2010, S. 95-116. Einleitung 11 ten, eröffnete unzählige narrative Möglichkeiten; dabei wurde auch die affektiv-emotionale Begegnung des Gläubigen mit dem leidenden Herrn gesteuert. 13 Christi Wunden boten Anlass sowohl für Mitleid und Reue als auch für Freude, und zwar in einer komplexen Beziehung zur Kreuzigung bzw. Auferstehung. Anhand der Orationes et meditationes de vita Christi des Thomas van Kempen hat Charles Caspers das Phänomen exemplarisch untersucht; 14 nach Thomas sollte der die Zufügung der Wunden betrachtende Mensch zunächst Dankbarkeit für das Opfer Christi empfinden, bevor er dann, nun die während der Auferstehung gezeigten Wunden ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückend, zwar Freude erleben dürfe, in erster Linie jedoch Leid und Trübsal spüren müsse, um dadurch mit Christus gelitten zu haben und so durch seine Wunden zur Auferstehung gelangen zu dürfen. Die Offenbarungen der heiligen Birgitta von Schweden sind für Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Ausgangspunkt einer exemplarischen Untersuchung der gleichen Thematik, denn die Offenbarungen „bauen […] ein komplexes Verweissystem des Schauens der inneren und äußeren Verwundungen auf, das von dem Band der compassio zusammengehalten wird“ (S. 104). In Lübeck wurden die Offenbarungen gedruckt und dienten dort als Grundlage für eine städtische Literatur, die sich in multimedialer und gattungsübergreifender Weise intensiv mit der compassio Mariae und vor allem mit Mariens Betrachtung der Seitenwunde Christi auseinandersetzte. Offenbarungstexte, Gebete und Holzschnitte sind in Lübeck auf neuartige Weise zusammengesetzt worden, um komplexe meditative Programme zu verwirklichen, die kreative Begegnungen mit den Wunden Christi zu entfachen und zu beleben versuchten. Für die bemerkenswerte Lübecker Mohnkopf-Druckerei, die vor allem ein städtisches Laienpublikum bediente, war die Hauptsprache ihrer Erzeugnisse in diesem Bereich nicht Latein, wie von einem Drucker des ausgehenden 15. Jahrhunderts zu erwarten gewesen wäre, sondern Niederdeutsch. Auch die Heiligenlegenden erlebten seit dem 12. Jahrhundert einen tiefgreifenden Wandel, und die imitatio Christi wurde nun immer mehr im wortwörtlichen Sinne ausgestaltet - eine extensiv erforschte Entwicklung, die in der Stigmatisierung des heiligen Franziskus ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Die einflussreiche und weit verbreitete Gattung der Heiligenlegenden dient der Forschung oft als historisches Quellenmaterial, wird jedoch relativ selten aus literaturwissenschaftlicher Sicht untersucht. Simon Falch geht nun der Frage nach, wie einzelne Heilige angesichts der wachsenden Zahl von Heiligen und der Übernahme ihrer Viten in immer umfangreichere Kompilationen ‘Individualität’ - Unverwechselbarkeit - haben bewahren können. Anhand des im frühen 15. Jahrhundert in Nürnberg entstandenen Werkes Der Heiligen Leben erläutert Falch am Beispiel der Darstellung von Kopfwunden und Enthauptungen sowohl in der Vita als auch in den posthum vollbrachten Wundern die literarischen Mittel, die dem Verfasser von Heiligenleben zur Verfügung standen, um den Heiligen eine gewisse ‘Individualität’ - Wiedererkennbarkeit - zu verleihen. 13 Wichtigster Wegweiser durch diese Literatur im deutschsprachigen Raum, sowohl auf Latein als auch auf Deutsch, ist Jeffrey F. Hamburger und Nigel F. Palmer, The Prayer Book of Ursula Begerin , Bd. 1: Art-Historical and Literary Introduction , Dietikon-Zürich 2015, S. 401-458. Für die bildende Kunst siehe Daria Dittmeyer, Gewalt und Heil. Bildliche Inszenierungen von Passion und Martyrium im späten Mittelalter , Köln u. a. 2014 (Sensus 5). 14 Charles Caspers, „Joy and Sorrow. The Meaning of the Blood of Christ in the Late Middle Ages“, in: Blood - Symbol - Liquid , hg. von Catrien G. Santing und Jetze J. Touber, Löwen u. a. 2012, S. 37-59, hier S. 42-50. 12 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman Die heilige Barbara erfuhr im Nürnberger Raum eine besonders intensive Verehrung, so dass ihr Leiden in Der Heiligen Leben ausführlich geschildert wird; so ist es nicht verwunderlich, wenn die Figur dieser Heiligen die Aufsätze von Simon Falch und Anne Simon verbindet, die sich beide mit der Figurengestaltung in Der Heiligen Leben befassen. Simon zeigt auf, wie der verwundete und verletzte Körper der heiligen Barbara sowohl als Zeichen des Triumphs über die heidnischen Götzen als auch (durch ihre Christuskonformität) als Beweis der Gottesliebe gedeutet werden konnte. Das Leben der heiligen Barbara mit der literarisch inszenierten Folter der Heiligen ist insgesamt als eine Reihe von Gegensätzen zu charakterisieren: „Verletzung und Heilung, Versehrtheit und Unversehrtheit, Machtlosigkeit und Macht“ (S. 138). Mit der Endzeit, auf die die Heiligenlegenden vorverweisen, ist die Auferstehung der Gläubigen von den Toten verbunden; mögen ihre irdischen Körper auch noch so verletzt und verwundet worden sein, so werden sie körperlich unversehrt vor dem Jüngsten Gericht stehen. Wie dies genau geschehen mag und wie der Auferstehungskörper aussehen könnte, wird in der Apokalypse allenfalls angedeutet; so eröffnete sich ein großer Freiraum für literarische Erkundungen dieses Themas. 15 Timothy Jackson richtet die Aufmerksamkeit auf die „durch Phantasie bereicherte Logik“ (S. 151), die in der Behandlung der Auferstehung des Leibes in der mittelhochdeutschen Dichtung vom 12. bis ins 15. Jahrhundert zu beobachten ist. Das Thema scheint in der deutschsprachigen geistlichen Dichtung eine gewisse Beliebtheit genossen zu haben. Von der lateinischen Tradition abweichende theologische Stellungnahmen sind in diesem Bereich kaum zu erwarten, jedoch enthalten die betreffenden Texte gleichzeitig keine schlichte belehrende Vermittlung scholastischer Theologie in der Volkssprache; stattdessen wurde beim Versuch, die biblischen Leerstellen zu füllen, eine literarisch anspruchsvolle und variantenreiche Vielfalt spekulativer Hypothesen eingesetzt. III Verletzungen und Unversehrtheit als Thema in weltlicher Literatur und Sachtexten Die zentrale Stellung des Themas Verletzungen und Unversehrtheit ist - wie im religiösen Kontext - auch in der weltlichen Literatur des Mittelalters eine selbstverständliche. Gewalt (auch Naturgewalt), Krieg und Kampf gehören im Mittelalter zwar nicht zum Alltag, wohl aber zu denjenigen Ereignissen, die Vertreter aller Stände und Schichten aus eigener Anschauung kannten. Es überrascht somit nicht, dass die Verwundung und Verwundbarkeit des menschlichen Körpers eine grundsätzliche Rolle in verschiedenen Gattungen weltlicher Literatur spielen. Christian Rohr skizziert die umweltbedingten Risiken, denen Reisende, z. B. Pilger und Kaufleute, ausgesetzt waren, insbesondere bei Überquerungen der Alpen: Diejenigen, die mit der Situation vor Ort nicht vertraut waren, konnten sich durch ungeschicktes Verhalten leicht in Lebensgefahr bringen, wovor sie in einigen Fällen auch die ortskundigen Führer 15 Für bildliche Darstellungen des Übergangs zwischen dem irdischen Körper, der durch die Verwesung bereits zersetzt ist, und dem Auferstehungskörper siehe Reliquien. Verehrung und Verklärung. Skizzen und Noten zur Thematik und Katalog zur Ausstellung der Kölner Sammlung Louis Peters im Schnütgen-Museum , hg. von Anton Legner, Köln 1989, u. a. S. 34, wo ein Fresko aus Meran-Untermais abgebildet ist (Klosterkirche Maria Trost, 14. Jahrhundert), auf dem Vögel (= Engel? ) den Auferstehenden lose Gliedmaße reichen, um ihre Körper zu vervollständigen. Einleitung 13 nicht schützen konnten. Nicht nur Chroniken, sondern auch z. B. Maximilians I. Theuerdank verweist auf die Wucht, mit der Lawinen die Reisenden treffen konnten. 16 Die Behandlung von (Kriegs-)Wunden war eine Hauptaufgabe der mittelalterlichen Chirurgie, die ein sehr risikoreiches Berufsfeld bot, wie Ortrun Riha zeigt. Die Sachtexte in diesem Bereich belegen das Wissen um mögliche Komplikationen bei der Genesung einer physischen Wunde, die z. B. durch Infektionen oder durch Schockzustände entstehen konnten. Die Rezept- und Arzneibücher bieten darüber hinaus reiches Material für die durchaus avancierten Formen der mittelalterlichen Schmerzbehandlung und Blutstillung, auch wenn nicht alle verschriftlichten Heilmethoden tatsächlich angewandt worden sein mögen. Zudem diente körperliche Verletzung als Strafe, 17 und die literarische Thematisierung solcher bestrafenden Verletzungen eröffnet ein breites Feld von Bedeutungskonstellationen, die hier besonders von Sandra Linden im Zusammenhang von Kurzerzählungen diskutiert werden. Es wäre verfehlt, die Darstellung von physischen, oft grausamen Verwundungen in solchen Texten als Anzeichen einer generell gewaltsamen Gesellschaft zu verstehen; 18 jedoch beweist die Kurzepik, in der körperliche Verletzungen beschrieben bzw. in unterschiedlichen Erzählkonstellationen durchgespielt werden, sehr wohl die „Faszination“ (S. 189), die von Erzählungen über gezielt kalkulierte Gewalt ausging. Für die psychischen Verletzungen dagegen stellt Sonja Kerth die Frage, ob es möglich sei, in der Vormoderne die Existenz des Traumas nachzuweisen. Eine definitive Antwort ist deswegen schwer zu finden, weil retrospektive Diagnosen von literarischen Figuren per se unmöglich sind - jedoch werden in literarischen Texten, wie etwa in Wolframs von Eschenbach Parzival und Willehalm , eindeutig seelische Verletzungen und ihre lang anhaltenden Folgen dargestellt. Dieser Aspekt der seelischen Verwundung findet sich in Bezug auf die Beschreibungen von Verletzungen und (Un-)Versehrtheit auch im Zusammenhang mit der minne . Mehrere Beiträge beziehen sich auf die grundsätzliche Verbindung zwischen liep und leit in der mittelalterlichen Lyrik; die „grundlegende Minnecodierung“ der frühen lyrischen Texte konturiert, so Annette Gerok-Reiter, „Minne als physische und/ oder psychische ‘Versehrtheit’, die nach Heilung verlangt“ (S. 221 f.). Den Kern der Minnediskurse erfasse man, indem man die Varianten der Verletzungsdarstellungen in den lyrischen Texten untersuche; während grundsätzlich von einer hohen Intensität der maßlosen Liebeserfahrung auszugehen sei, spiele in der frühen Lyrik weniger die akute Verletzung durch die Minne eine Rolle als vielmehr die „habituelle[ ] Verletzlichkeit“ (S. 241). Unter Einbezug des Diskurses über ‘Liebe als Krankheit’, die den psychischen Schmerz zum physischen Leiden werden lässt, und unter Verweis auf medizinische Schriften des Constantinus Africanus interpretiert Jan Stellmann die Minne-Konzeption Heinrichs von Morungen als die Erfahrung eines Schmerzes, der durch das Sehen verursacht wird und nur durch das Singen gelindert werden kann - so dient die minne bzw. der durch das Sehen verursachte 16 Vergleichbar ist die Darstellung der Schifffahrt bei Pilgerfahrten ins Heilige Land, die bei den Reisenden offenbar einen vergleichbaren Eindruck der Vulnerabilität hinterließ. 17 Siehe auch Punishment and Penitential Practices in Medieval German Writing , hg. von Sarah Bowden und Annette Volfing, London 2018 (King’s College London Medieval Studies 26). 18 Siehe dazu Manuel Braun und Cornelia Herberichs, „Gewalt im Mittelalter. Überlegungen zu ihrer Erforschung“, in: Gewalt im Mittelalter (wie Anm. 2), S. 7-37; Robert Mills, Suspended Animation. Pain, Pleasure and Punishment in Medieval Culture , London 2005. 14 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman Schmerz als poetische Motivation und wird die Verwundung untrennbar mit dem dichterischen Akt verbunden. Das therapeutische Singen bereitet zwar dem Sänger und seinem Publikum Freude, zielt aber nie auf völlige Heilung. Minne wird jedoch nicht nur als metaphorische ‘Wunde’ oder als Krankheit verursachend dargestellt, sondern kann auch körperliche Verletzungen implizieren. Annette Volfing befasst sich mit den seltenen Fällen, in denen im Rahmen des Minnesangs unmittelbar physische Verletzungen thematisiert werden, insbesondere mit Johannes Hadlaubs Darstellung des Bisses der Minne-Dame. Volfing untersucht ausgehend von Hadlaubs Lied II die weitreichende Symbolik des (animalischen und/ oder erotischen) menschlichen Bisses einschließlich des Motivs der vagina dentata . In diesen und vielen anderen Fällen prägt die jeweilige Verletzung ein Zeichen in den menschlichen Körper ein; der verletzte Körper wird durch die sichtbare Spur der Verletzung Bedeutungsträger von besonderem (und jeweils spezifischem) symbolischem Wert. 19 Eine auf ganz andere Art geprägte Verbindung zwischen Verletzung und dichterischer Tätigkeit als in den von Stellmann besprochenen Beispielen nachweisbar wird von Michael Stolz diskutiert, der in seinem Beitrag zu Wolframs Parzival und Titurel mit Thomas Greenes Theorie des vulnerable text arbeitet. 20 Greene zufolge werden Texte der Vormoderne durch eine Art ‘Verwundbarkeit’ charakterisiert, zum Teil aufgrund des Mangels eines erst in der Moderne entwickelten Originalitätsbegriffes. Verschiedene Sachverhalte bedingen diese ‘Vulnerabilität’ des Textes, u. a. der dialogische, intertextuelle Charakter der mittelalterlichen Textproduktion, die referentielle Funktion der Sprache, die auf paradoxe Weise Unsagbares auszusagen versucht oder Unsagbarkeit thematisiert, wie auch die Metaphorizität der Sprache, die den Literalsinn ‘verletzen’ kann. IV Perspektiven auf das Gesamtthema Es erscheint annehmbar, dass die Art des Umgangs mit Verletzungen und Unversehrtheit in mittelalterlichen Texten zumindest zum Teil gattungsspezifisch zu verstehen ist. 21 Jedoch besteht auch innerhalb einzelner Gattungen eine reiche Vielfalt von Einstellungen zum Thema, wie etwa Linden in ihrer Untersuchung der Darstellung und Funktion von körperlicher Züchtigung in Kurzerzählungen beispielhaft zeigt und auch Gerok-Reiter für den frühen Minnesang mit seiner Variabilität des Verletzungsmotivs erkennbar werden lässt. Gleichzeitig sollten die Funktionen der Darstellung von Verletzungen und Unversehrtheit nicht nur gattungsbedingt interpretiert werden. Beim Motiv der (In-)Vulnerabilität lassen sich viele übergreifende Aspekte identifizieren, die in den vorliegenden Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden und von denen hier einige zusammenfassend darzustellen sind. 19 Vgl. Sarah Bowden, „Punishment and Penitential Practices. An Introduction“, in: Punishment and Penitential Practices (wie Anm. 17), S. 1-18, hier S. 12, im Zusammenhang mit Verletzung als Strafe: Der bestrafte Körper sei „a carrier of signs […] [which] may bear a sign of the particular crime or sin it has committed - a permanent trace with, perhaps, a memorial function, which can then exert an effect on others as well“. 20 Thomas M. Greene, The Vulnerable Text. Essays on Renaissance Literature , New York 1986. 21 Vgl. Torsten Haferlach, Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten , Heidelberg 1991. Einleitung 15 1. In Bezug auf das Verhältnis zwischen dem aktiven Verletzen und dem passiven Verletztwerden und auf die daraus resultierenden Machtkonstellationen ist festzuhalten, dass sich der (passive) Verletzte in der Regel der überlegenen Macht des (aktiven) Verletzenden unterordnet; Verletzungen werden jemandem auferlegt, um Machthierarchien zu verdeutlichen und die Handlungsfähigkeiten des verletzten Subjekts zu begrenzen. 22 In keiner Gattung besteht jedoch eine einfache Matrix der Machtkonstellationen (vgl. an erster Stelle die Darlegungen zu Christi Wunden bei Huber und Kirakosian); darüber hinaus kann sich innerhalb eines Textes die Bedeutung einer Verletzung verändern, so dass die Rollen des Opfers und des Täters oft von einer gewissen Komplexität und Labilität geprägt sind. Solche Rollen sind häufig geschlechtsspezifisch, widersetzen sich jedoch einer einfachen Interpretation, wie besonders von Linden und Volfing dargestellt wird. 2. Zweitens spielt die große Faszination der prinzipiellen Vulnerabilität des Menschen in vielen verschiedenen Texten eine erhebliche Rolle und löst eine Vielzahl von Reaktionen aus, sowohl in geistlichen Texten (hier ist erneut auf die Wunden Christi hinzuweisen, sowie auf die von Andersen und Lähnemann, Falch und Simon besprochenen Legenden) als auch in weltlich-literarischen Werken - wie z. B. in der Kleinepik - wie außerdem in pragmatischer Schriftlichkeit (Riha wie auch Rohr heben die zentrale Stelle der menschlich-physischen Vulnerabilität in der mittelalterlichen Gesellschaft hervor: Riha betont die grundsätzliche Möglichkeit der Behandlung von Wunden in der Chirurgie, während Rohr Einstellungen zu den Risiken durch Naturgewalt diskutiert). Jackson führt darüber hinaus eindrucksvoll vor, wie die Sorge um die Verletzbarkeit des irdischen Körpers sich auch auf die Vorstellungen vom Auferstehungskörper übertrug. Dass das Mittelalter darüber hinaus deutliche Vorstellungen von der potenziellen Verwundbarkeit nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele entwickelt, wird etwa in den Beiträgen von Kerth, Stellmann und Gerok-Reiter thematisiert. 3. Drittens besteht eine enge Beziehung zwischen (Un-)Verletzbarkeit und Sprache bzw. Textualität. Als Anfangspunkt des Bandes gehen Haubrichs und Schultz-Balluff von der Komplexität einiger mit Verletzungen verbundener Wortfelder aus, und solche produktiven semantischen Spielräume werden auch in anderen Beiträgen aufgegriffen, besonders im Kontext der Liebeslyrik. Außerdem wird eine auffällige Verbindung zwischen Verwundbarkeit und der Komposition und De-Komposition von Texten hervorgehoben. Stellmann stellt fest, dass Verletzung bzw. Liebeskrankheit die notwendige Voraussetzung für dichterische Produktion ist. Im letzten Beitrag des Bandes bringt Stolz die anthropologischen und textuellen Dimensionen von Verwundbarkeit in Wolframs Parzival und Titurel zusammen, um durch die hier besonders stark hervortretenden Phänomene der handschriftlichen Varianz und der Intertextualität zu zeigen, wie der Textkomplex seine eigene Entstehungsgeschichte widerspiegelt. 22 Vgl die berühmte Interpretation Foucaults, der argumentiert, dass in der vormodernen Gesellschaft durch bestrafende Verletzungen Sozialkontrolle ausgeübt wurde: Michel Foucault, Surveiller et punir: Naissance de la prison , Paris 1975. 16 Sarah Bowden, Nine Miedema und Stephen Mossman V Danksagung Die Beiträge im vorliegenden Band basieren auf Vorträgen, die auf dem 24. Anglo-German Colloquium gehalten wurden, das vom 2.-6. September 2015 in Saarbrücken stattfand. Für die Förderung der Tagung gilt unser Dank der DFG und der Fachrichtung Germanistik der Universität des Saarlandes. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung für Deutsche Philologie des Mittelalters und Deutsche Sprache in Saarbrücken möchten wir herzlich danken für ihre freundliche und kompetente Unterstützung der Organisation der Tagung vor Ort. Die Universität des Saarlandes, die Universität Manchester und King’s College London haben die Finanzierung der Druckkosten großzügig unterstützt. Dem Francke-Verlag danken wir für die Aufnahme des Bandes in sein Programm, Tillmann Bub für die vorzügliche und freundliche redaktionelle Betreuung. leid, harm und sêr 17 leid, harm und sêr Zur Geschichte eines semantischen Komplexes der Verletzung Wolfgang Haubrichs I Nachdem man lange geglaubt hatte, dass die poetischen Modewörter des 18. Jahrhunderts, Harm im Sinne von ‘Kummer, Trauer’ und harm-los ‘ohne Kummer’ (mit dem entsprechenden Antonym harm-voll ) unter dem Einfluss von englisch harm , harm-less ihren Neuaufschwung genommen hätten, hat der amerikanische Germanist John A. Walz schon 1935 überzeugend nachgewiesen, dass sich diese Neubelebung in der Schriftsprache vielmehr dem Einfluss ostmitteldeutscher, ja ostpreußischer Schriftsteller und Grammatiker wie Opitz, Fleming, Steinbach, Gottsched, Adelung und anderen verdankt. 1 Das entspricht durchaus dem spätmittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Befund, nach dem das Wort harm fast nur noch im Osten vorkommt, vorwiegend in der Deutschordensliteratur, wie (häufig) in Nikolaus von Jeroschins Kronike von Pruzinlant (1331/ 1341), 2 oder in der poetischen Paraphrase des Buches Hiob vom Jahr 1338. 3 Im Süden und Westen des deutschen Sprachgebiets dagegen war das Wort unbekannt, wie spät noch eine kleine Münchner Anekdote illustriert, die Karl Julius Weber 1834 in der zweiten Auflage seiner Deutschland -Beschreibung bietet: 4 Am Eingang des ‘Englischen Garten’ der bayerischen Residenz - so schreibt er - befände sich ein Denkmal, auf dem ein Genius dem lustvoll im Park spazierenden Volke zurufe: „Harmlos wandelt hier, dann kehrt gestärkt zu jeder Pflicht zurück! “ „Das Volk aber, dem das Wort durchaus fremd ist“, fährt Weber fort, hielt Harmlos für den Namen des skulptierten Genius, und so sagte das Münchner Mädchen zu seinem Freund, mit dem es sich im Parke treffen wollte: „Am Sonntag, nach der Mess, sehen wir uns beim Harmlos“. 1 John A. Walz, „Harmlos, Harm: A Supposed Anglicism in German“, in: The Germanic Review 10 (1935), S. 98-113. 2 Nikolaus von Jeroschin, Die Deutschordenschronik. Ein Beitrag zur Geschichte der mitteldeutschen Sprache und Literatur von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1854, Nachdruck Hildesheim 1966 (Glossar S. 171: „ harm ‘contumelia, vexatio’, harmschar ‘tribulatio’“); Die Kronike von Pruzinlant des Nikolaus von Jeroschin , hg. von Ernst Strehlke, in: Scriptores rerum Prussicarum , Bd. 1, Leipzig 1861, Nachdruck 1965, S. 291-624. 3 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob, aus der Handschrift des Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg , hg. von Torsten E. Karsten, Berlin 1910 (DTM 21), S. 24, V. 1439. 4 Karl J. Weber, Deutschland, oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen , 4 Bde., Stuttgart 1834, hier Bd. 1, S. 533. 18 Wolfgang Haubrichs Im Westen und Süden des deutschen Sprachgebiets war das alte Wort harm durch ein typisches West-Wort ersetzt worden, durch das französische Lehnwort mhd. kumber , nhd. Kummer , aus altfranzösisch combrier , en-combrier ‘Beschwernis, Unglück’, en-combre ‘Bedrängnis’, seinerseits abzuleiten aus gallo-romanisch *com-b(e)ros ‘Zusammengetragenes, Schutt’ (mittellat. 7. Jahrhundert combrus ‘Verhau’), wobei auch die psychische Bedeutung des deutschen Wortes aus dem Kontakt mit der semantischen Fortentwicklung der französischen Vokabel resultiert. 5 Das alte Wort germ. *harma findet sich in allen west- und nordgermanischen Sprachen 6 und trägt ursprünglich - vor seiner Emotionalisierung - die Bedeutung von ‘Unrecht, Schmach, Schmähung, Schande’, oft in agonalem oder kriegerischem Kontext, wie etwa die Bildungen ahd. harm-quetôn ‘maledicere, Schmach aussprechen, schmähen’, harm-skarôn ‘peinigen, quälen, flagellare’, vor allem aber das westgermanische Rechts- und Strafwort *harm-skara , wörtlich ‘Harmbescherung’ oder ‘Einscharung in die Schande’, bezeugen, wobei letzterer Begriff eine „ehrenrührige, nur vom Herrscher festzusetzende Strafe“ (wie etwa Satteltragen, Hundetragen) war, die nur gegenüber Ehrpersonen, also ‘Freien’ angewendet wurde. 7 Ein Beispiel für die ‘Schmach’ und ‘Verurteilung’ implizierende Bedeutung von harm bietet die 47. Fitte der um 840 entstandenen altsächsischen Evangelienharmonie des Heliand , 8 wo Jesus zur Ehebrecherin, nachdem er mit seinem berühmten „Wer von euch frei von Sünde ist, werfe den ersten Stein“ ( Joh 8,7) die anklagenden Juden vertrieben hatte, weit über die biblische Vorlage hinaus expliziert (V. 3883-3892): 5 Heinrich Götz, Leitwörter des Minnesangs , Berlin 1957 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 49, Heft 1), S. 126-129; Friedrich Kluge und Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache , Berlin/ Boston 25 2011, S. 549. Vgl. Wilhelm Meyer-Lübke, Romanisches Etymologisches Wörterbuch , Heidelberg 6 1992, Nr. 2075; Französisches Etymologisches Wörterbuch [ FEW ], hg. von Walther von Wartburg, Bd. 2 (1949), S. 938f. 6 Kluge und Seebold (wie Anm. 5), S. 395; Frank Heidermanns, Etymologisches Wörterbuch der germanischen Primäradjektive , Berlin 1993, S. 282; Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen [ EWA ], bearbeitet von Albert L. Lloyd, Otto Springer und Rosemarie Lühr, Göttingen/ Zürich 1988-2017, Bd. 4 (2009), S. 835f.; Annette de Sousa Costa, Studien zu volkssprachigen Wörtern in karolingischen Kapitularien , Göttingen 1993, S. 276-282; Glossen bei Rudolf Schützeichel, Althochdeutscher und altsächsischer Glossenwortschatz , Tübingen 2004, Bd. 4, S. 174 (vorwiegend für contumelia , calumnia , calamitas , iniuria ). Vgl. Vladimir Orel, A Handbook of Germanic Etymology , Leiden/ Boston 2003, S. 163. 7 Erik Rooth, Altgermanische Wortstudien , Halle a. S. 1926, S. 104 mit Anm. 4; Erika Urmoneit, Der Wortschatz des Ludwigsliedes im Umkreis der althochdeutschen Literatur , München 1973 (Münstersche Mittelalter-Schriften 11), S. 229-244; de Sousa Costa (wie Anm. 6), S. 276-282; Jean-Marie Moeglin, „Harmiscara - Harmschar - Hachee. Le dossier des rituels d’humiliation et de soumission au Moyen Age“, in: Archivum Latinitatis Medii Aevi 54 (1996), S. 11-65 (‘Akt der öffentlichen Unterwerfung und Demütigung’, S. 44); Ingrid Lemberg, „Harmschar“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte , Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 777f. (Bedeutungsspektrum: ‘peinliche, schmerzhafte Strafe, züchtigender Schlag, demütigende Strafe’). Vgl. Glossenbelege bei Schützeichel (wie Anm. 6), Bd. 4, S. 176-179, vorwiegend mit dem Sinn ‘Strafe, peinliche Strafe, Schicksalsschlag, Bestrafung, Elend’ ( plaga , tortura , percussio , scantinia , contritio ). 8 Heliand und Genesis , hg. von Otto Behaghel, 10. überarbeitete Auflage von Burkhard Taeger, Tübingen 1996 (ATB 4), S. 139. leid , harm und sêr 19 Thô gefragn ik that sie frâgode friðubarn godes, allaro gumono bezt: ‘huuar quâmun thit Iudeono folc’, quað he, 3885 ‘thine uuiðersakon, thea thi hêr uurôgdun te mi? Ne sie thi hiudu uuiht harmes ne gidâdun, thea liudi lêðes, the thi uueldun liƀu beniman, uuêgean te uundrun? ’ Thô sprak imu eft that uuîf angegin, quað that iru thar nioman thurh thes neriandan 3890 hêlaga helpa harm ne grifrumidi uuammes te lône. Thô sprak eft uualdand Crist, drohtin manno: ‘ne ik thi geth ni deriu neouuiht’, quað he, […] (‘Das erfuhr ich, dass da fragte Gottes Friedenssohn, der beste aller Männer: „Wo ist nun das Volk der Juden geblieben, das schwer dich beschuldigte, deine Widersacher? Haben sie kein harm heute dir angetan, nichts Böses die Leute, die dir das Leben nehmen, dich auf das Schlimmste quälen wollten? “ Da antwortete ihm das Weib und sprach, dass ihr niemand, dank des Erlösers heiliger Hilfe, ein harm getan, ein Weh als Lohn ihres Frevels. Da wiederum sprach der Herrscher Christus, der druhtin , der Herr der Menschen: „So tue ich dir auch nichts an“ […].’) 9 Das nimmt alles seinen Ausgang vom juristischen, Schimpf und Verurteilung implizierenden Johanneswort nemo te condemnavit ( Joh 8,9f.). Auch sonst steht im Heliand die Vokabel harm in Variation zu wîti ‘Strafe’. Im althochdeutschen Tatian (109,3) 10 wird das Jesus-Wort amice, non facio tibi iniuriam (Mt 20,13: „Freund, ich tue dir nicht unrecht“ zitiert. Iniuria konnte aber im Latein des Frühmittelalters als ‘Beleidigung, Schmähung’ verstanden werden 11 - und so übersetzte der Fuldaer Tatian um 830 mit friunt, ni tuon ih thír hárm . Otfrid von Weißenburg in seinem zwischen 863 und 871 entstandenen Liber Evangeliorum verwendet dieses Rechtswort nur ein einziges Mal, eingebettet in eine wahre Orgie von Jammer und Weh und Leid, wie sie seine Schilderung des bethlehemitischen Kindermordes evoziert (I, 20,9-20): 12 Thie múater thie rúzun, joh zahari úzfluzun, 10 thaz wéinon was in léngi hímilo gizéngi; Thie brústi sie in óugtun, thaz fahs thána rouftun; nist ther ío in gahi then jámar gisáhi. Sie zalatun siu ío ubar dág, tház iz in theru wágun lag, joh anan themo bárme thera múater zi hárme; 15 Nist wíb thaz io gigíangi in merun góringi, odo merun grúnni mit kíndu io giwúnni! 9 Neuübersetzung auf der Grundlage der Übersetzung von Felix Genzmer, Heliand und die Bruchstücke der Genesis , aus dem Altsächsischen und Angelsächsischen übertragen, Stuttgart 1982 (RUB 3324), S. 125. 10 Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56 , hg. von Achim Masser, Göttingen 1994 (Studien zum Althochdeutschen 25), S. 373. 11 Jan F. Niermeyer und Co van de Kieft, Mediae Latinitatis Lexicon Minus , überarbeitet von Johannes W. J. Burgers, Leiden 2 2002, Bd. 1, S. 705 ( injuria , injuriare ). 12 Otfrids Evangelienbuch , hg. von Oskar Erdmann, 4. Auflage von Ludwig Wolff, Tübingen 1962 (ATB 49), S. 42 (Hervorhebungen hier und in allen folgenden Zitaten: W. H.). 20 Wolfgang Haubrichs Inclóub man mit then suérton thaz kínd ir then hánton joh zi iro léidlusti ném iz fon ther brústi. Ira férah bot thaz wíb, thaz iz múasi haben líb; 20 ni funtun thía meina gináda niheina. (‘Die Mütter, sie weinten und Tränen vergossen sie, das Weinen dauerte lange und drang bis zum Himmel; sie zeigten ihnen [den Schergen] die Brüste, sie rauften sich die Haare; es gibt niemanden, der jemals solchen Jammer sah. Sie [die Schergen] quälten sie den ganzen Tag über, ob das Kind nun in der Wiege lag oder im Schoß, der Mutter zur Schmähung. Keine Frau erlitt jemals mehr Elend, oder erlebte mehr an Verderben für ein Kind. Man schnitt mit den Schwertern der Mutter das Kind aus den Händen, und zu ihrer ‘Leid-Lust’ riss man es ihr von den Brüsten. Ihr Leben bot das Weib, damit das Kind leben könne, doch keine Gnade beendete das Verbrechen.’) Die Schergen des Herodes verschonen keines der Kinder, nicht einmal die Neugeborenen. Die Mütter klagen, ihre Tränen fließen, ihr flehentliches Weinen dringt zum Himmel empor; sie entblößen ihre Brüste, sie raufen sich das Haar, nie war größerer Jammer (V. 12). Aus seinem reichen Wortschatz entbindet Otfrid seltene Leid-Wörter, wie V. 15 goringi ‘Elend’ und V. 16 grunnî ‘Verderben’, aber auch eben geläufige wie jâmar ‘Jammer’ und meina ‘Verbrechen’ und verbale Formeln wie riuzan ‘weinen, klagen’, zahari uzfliazan ‘Tränen entfließen’, weinôn ‘weinen’ und zalan ‘quälen’. So sollte man auch V. 13f., wo es darum geht, das Unerhörte zu schildern, wie die Soldaten die innocentes aus den Wiegen und Schößen der Mütter reißen, harm mit ‘Schmähung’ übersetzen. Das ist ein Analogon zu V. 17-20, wo noch steigernd von den gnadenlosen Soldaten gesprochen wird, die kein Erbarmen, keine Gnade kennen und Kinder mit den Schwertern aus den Händen der Mütter schneiden, sie ihnen zu ihrer leid-lusti von den Brüsten reißen. Leid-lusti ist eine typisch Otfridische Neuprägung und ist antonym zu seinem Neologismus frawo-lusti ‘Froh-lust, Froh-sinn’ (V, 7). Eine Emotionalisierung von harm ist in diesem Kontext des Grauens und der Entmenschlichung nicht zu leugnen. Das Wort wurde im Früh- und Hoch-Mittelhochdeutschen selten, klang wohl archaisch. Der im 11. Jahrhundert im Nordalemannischen entstandene althochdeutsche Physiologus (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 233) hat es in seinem typologisch auf Christi Heilswirken bezogenen Abschnitt De panthera (‘Über den Panther’): 13 After diu, do er gesatot uuard mit temo harme unde mit temo spotte unde mit uillon der Iudon un er gecrucigot uuard, to raster in demo grabe trie taga, also dir tet panttera, un an demo triten tage dorstun er von dien toton, vnde uuard daz sar so offenlihin gehorit uber alle disa uuerilt, unde uberuuand den drachin, den mihchelin tieuel. (‘Danach, als er „gesättigt“ war mit [ihm zugefügtem] Harm und Schmach und mit [ihm zugefügtem] Spott, und da er nach dem Wunsch der Juden gekreuzigt wurde, da ruhte er im Grabe drei Tage, wie es der Panther tat, und am dritten Tage stand er auf von den Toten, und das wurde öffentlich vernommen in der ganzen Welt, und er überwand den Drachen, den großen Teufel.’) Der Physiologus latinus hat hier: 14 13 Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus) , hg. von Friedrich Maurer, Tübingen 1967 (ATB 67), S. 91f. Übersetzung W. H. 14 Ebd., S. 76. Übersetzung W. H. leid , harm und sêr 21 (9) Et quia illud animal, cum saciatum fuerit, statim quiescit et dormit, ita et dominus noster Iesus Christus, postquam satiatus est iudaicis illusionibus, id est flagellis, alapis, iniuriis, contumeliis, spinis, sputaminibus, ad ultimum cruce suspensus, clavis affixus, felle et aceto potatus lanceaque perforatus est. (10) His itaque muneribus Iudeorum saciatus Christus dormivit ac requievit in sepulcro descendensque in infernum religavit illic draconem magnum generis humani maximum et antiquum inimicum. (‘Und weil jenes Tier, wenn es gesättigt ist, sich sofort zur Ruhe begibt und schläft, so ist auch unser Herr Jesus Christus, nachdem er „gesättigt“ wurde vom Spott der Juden, d. h. er ist mit Schlägen, Ohrfeigen, Schmähungen, Beleidigungen, Dornen, Spucke traktiert, zuletzt ans Kreuz gehängt, mit Nägeln geheftet, mit Galle und Essig getränkt und schließlich von einer Lanze durchbohrt worden. Durch diese Gaben der Juden also „gesättigt“, entschlief er und ruhte im Grabe, stieg ab in die Hölle und schlug dort den großen Drachen in Fesseln, den alten und größten Feind des Menschengeschlechts.’) Der althochdeutsche Text ist eindeutig vom lateinischen Physiologus abhängig, nur fasst er stärker zusammen und hat seinen Schwerpunkt im direkten typologischen Vergleich von Panther und Christus. Die auf Christus bezogene Formulierung mit temo harme unde mit temo spotte bezieht sich auf die Verspottung und Folterung Jesu. Die Bezeichnung spot übersetzt das lateinische illusiones , aber harm interpretiert zusammenfassend flagella ‘Schläge’, iniuriae ‘Schmähungen’, contumeliae ‘Beleidigungen’ etc. und steht damit ganz in der Tradition der schmähenden, ehrabschneidenden Konnotationen des alten Rechtswortes. So auch um 1150 im bairisch-oberdeutschen Priesterleben des Heinrich (sog. von Melk), 15 in jener Passage, in der der wortgewaltige Verfasser gegen die Prasserei der Pfaffen wettert, die da am Abend ihre Liturgie sprechen: post pirum vínum, nach dem wîne hoert das bibelînum (3,19f.), die dann der Liebe pflegen, aber den wegemüden, hungrigen Pilger mit Lügen abweisen, ebenso die Armen, die Blinden, die Lahmen (3,38-4,6): mit so getanem entsagen gebent si minner noch mere 3,40 durch got noch durch ere. so tuot der wegemuode gast ein riwige dannechere. 4,1 Chumt im der arme mit michelme harme unsouber unt swarzer … … … … … … … … … … 4,5 chumt im der blinde unt der chrumbe, er sprichet ze gelicher wis dar umbe. (‘Mit solcher Absage geben sie nichts um Gottes willen und nichts um der Ehre willen. So muss der wegemüde Gast eine traurige Umkehr vollziehen. Kommt zu ihm der Arme mit großem Kummer und Harm, ungewaschen und schmutzig […], kommt zu ihm der Blinde oder der Lahme, er spricht in dieser Sache immer gleich und unbeeindruckt.’) In den Versen 4,1-6 muss man harm im Kontext von Armut und Schmutz gewiss als ‘Kummer, Schmach, Elend’ verstehen. 15 Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts , nach ihren Formen besprochen und hg. von Friedrich Maurer, 3 Bde., Tübingen 1964-1970, hier Bd. 3, S. 263. Übersetzung W. H. 22 Wolfgang Haubrichs Noch bei dem in der Region von Hildesheim um die Mitte des 13. Jahrhunderts in einer mitteldeutsch-niederdeutschen Kunstsprache schreibenden Berthold von Holle ( Crâne ) schillert das Wort in seiner Bedeutung. 16 Die Situation ist die Hochzeit der Acheloyde. Nach Turnier, Essen und Tanz wird sie zum Beilager gebracht, die Braut wird dem Bräutigam öffentlich in den Arm gelegt - und dann erst wird abgeblendet (V. 2168-2174): dâr wart munt an mundelîn mit lieve gar gedrucket, 2170 dô under de decken wart gerucket Acheloyde an Gayols arm. dat was etlîches vorsten harm de heten irs herzen anker dar geschozzen an de maget clâr. Das Wort harm bezieht sich auf das Befinden der vorsten , der Fürsten, die zuvor um die Braut geworben und ihr Herz an sie verloren hatten. Man kann es mit ‘Schmach, Spott’, aber auch mit ‘Missvergnügen, Betrübnis, Kummer’ interpretieren. Die schon erwähnten spätmittelalterlichen Belege des Wortes aus der Deutschordensdichtung stehen alle in agonalem und militärischem Kontext und handeln von Unheil, Schmach, Schmerz und Schande der Niederlage, aber auch in bemerkenswerten Formulierungen von strîtis harm , und von harmis krîge , dem ‘Bemühen um Unheil, Schaden’, mit dem Städte erobert werden. 17 Selbst im um 1300 entstandenen hessischen Elisabeth-Leben schwingt das Wort zwischen den Bedeutungen von ‘Schmach’ und ‘Betrübnis’ (V. 10276-10312). 18 Die heilige Elisabeth ist nun im Himmelreich, den godes kinden glich , den Kindern Gottes gleich, weit erhoben über irdische Ehre. Sie wird verehrt und angerufen von allen, von Fürsten und Königen, und das, weil sie alles an irdischen honores hingegeben hat an die Armen (V. 10297-10305): Wande di here frouwe hat verkouft ir selbes husrat, Daz si umme ewecliches leben 10300 Den armen alles hat gegeben. Unde ist sunder allen harm Notdurftic unde worden arm. Si hat ouch al ir richduom Unde allen werltlichen ruom 10305 Gewegen harte cleine. Ganz deutlich ist, wie die Antinomien chiastisch angeordnet sind: Innen steht arm versus richduom , außen harm versus werltlichen ruom , so dass der im Kontext des Heiligenlebens negierte harm in der Sphäre des Verlustes weltlicher Ehre und weltlichen Ruhms, also im semantischen Bereich der Schmach verbleibt, die hier aber spirituell aufgehoben ist, da die bewusste Hingabe des Reichtums und die Fürsorge für die Armen jede weltliche Schmach tilgt. 16 Berthold von Holle , hg. von Karl Bartsch, Nürnberg 1858, Nachdruck Osnabrück 1967, S. 17-188, hier S. 94. 17 Vgl. oben, Anm. 2. 18 Das Leben der heiligen Elisabeth, vom Verfasser der Erlösung , hg. von Max Rieger, Stuttgart 1868 (BLVS 90), S. 352. leid , harm und sêr 23 II Das Wortfeld der Verletzungen und der daraus entstehenden Schmerzen und Leiden ist groß: Einige hierher gehörige Bezeichnungen werden uns en passant als Varianten begegnen. Doch können sie in dieser kurzen Skizze unmöglich alle auch nur aufgezählt geschweige denn behandelt werden. Vielmehr beschränke ich mich (neben harm ) auf zwei besonders bedeutsame Wörter - zunächst auf das sêr (und seine Ableitungen), das in allen germanischen Sprachen vorkommt und auf eine germanische Grundform *saira zurückzuführen ist, am frühesten belegt im Gotischen als sair ‘Wunde, körperlicher Schmerz’ und runeninschriftlich s[a]ira-widaR ‘voller Wunden’. 19 Die Grundbedeutung kann aus den im Altisländischen, Altenglischen, Altsächsischen und Althochdeutschen aufscheinenden Bedeutungen und angesichts des früh entlehnten finnischen sairas ‘krank’ gut als ‘körperliche Wunde’ rekonstruiert werden. Diese Bedeutung körperlicher Verwundung hat das Wort sêr im Deutschen bis heute in den Ableitungen ver-sehren und ver-sehrt bewahrt. Ebenso konservieren die Bedeutung ‘Verwundung’ noch westfälische, niedersächsische und altmärkische Dialekte und prominent das niederländische Adjektiv zeer ‘wund, schmerzhaft’. 20 In Otfrids verbaler Leidensikonographie gehörten sêr und seine Ableitungen zu den wichtigsten Vokabeln. Gerade bei ihm lässt sich der Übergang von der Semantik der Verwundung zu physischem und schließlich psychischem Schmerz gut beobachten, wovon hier nur Ausschnitte besprochen werden können. In der Anrufung Christi als Thaumaturgen, als Wunderheiler, in Otfrids Praefatio zum dritten Buch seines Liber evangeliorum werden Eiter und Wunden des Aussatzes beschworen, der allegorisch die suare sunta ‘die schlimme Sünde’ bedeutet (III, 1,13-18): 21 Er déta thaz hálze líafun joh stúmme man ouh ríafun: er dúe theih hiar ni hínke, thes sénses ouh ni wénke; 15 Hórngibruader héile: er míh ouh hiar giréine fon éitere joh fon wúnton: fon mínen suaren súnton! In ín irhuggu ih léwes léides filu séres; ríuzit mir thaz hérza, thaz dúat mir iro smérza. (‘Er vollbrachte, dass Lahme liefen und Stumme wieder sprachen: er möge auch bewirken, dass ich hier [bei meinem Werk] nicht hinke und den Sinn nicht verfehle. Dem Aussätzigen wurde er zum Heile: So reinige er jetzt auch mich von Eiter und von Wunden: von meinen schweren Sünden! Ach, in ihnen erfahre ich das allerschmerzlichste Leid, es klagt mein Herz, das tut mir der Schmerz der Sünden an.’) 22 19 Siegmund Feist, Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache , Leiden 3 1939, S. 405f.; Walter H. Hoffmann, Schmerz, Pein und Weh , Gießen 1956 (Beiträge zur deutschen Philologie 10), S. 29f.; Walter Mitzka, „Kontextuale Synonymik von sehr im Niederdeutschen“, in: Niederdeutsches Jahrbuch 93 (1970), S. 83-99; Heidermanns (wie Anm. 6), S. 463f.; Orel (wie Anm. 6), S. 313; Kluge und Seebold (wie Anm. 5), S. 839. 20 Etymologisch woordenboek van het Nederlands , hg. von Marlies Philippa u. a., 4 Bde., Amsterdam 2003- 2009, hier Bd. 4, S. 654. 21 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 102. 22 Übersetzung auf der Grundlage von: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch/ Neuhochdeutsch , hg., übersetzt und kommentiert von Gisela Vollmann-Profe, Stuttgart 1987 (RUB 8384), S. 94. 24 Wolfgang Haubrichs In seinen Sünden erfährt der Autor leides filu seres (V. 17), das allerschmerzlichste Leid; die Sündenschmerzen bringen sein Herz zum Klagen und Weinen. Von den körperlichen Wunden gleitet der Strahl der Allegorese hinüber zu den physischen und dann zu den psychischen Schmerzen der Sünde, die irhuggit , ‘bedacht’ und ‘erfahren’ werden müssen, und zwar im Herzen als dem Sitz von Reflexion und Erfahrung. Gleich drei wichtige Leid-Wörter hat Otfrid hier in dieser kurzen Passage der inneren Einkehr, die zugleich die universale Heilkraft Christi beschwört, vereinigt: leid , sêr , smerza . Das Wort smerza ist bezeichnenderweise (außerhalb der Glossen) 23 bei Otfrid zum ersten Male belegt. Eine wahre Inflation von sêr entfaltet Otfrid in der Szene der Begegnung der in der Osternacht zum Grabe gegangenen Maria Magdalena mit dem auferstandenen Christus. Die Engel am Grabe fragen, bevor es zur direkten Begegnung mit dem Auferstandenen kommt, die trauernde Jüngerin (V, 7,19-38 nach Joh 20,11-18): 24 ‘Wib, ziu kúmistu thar? wenan súachistu sar? 20 waz úngifuaro thinaz íst, so úngimacho ríuzist? ’ ‘Mág mih’, quad si zi in tho, ‘lés! gilusten wéinonnes, sér joh léid ubar wan ist mir hárto gidan; Háben ih zi klágonne joh léidalih zi ságenne, ni wéiz ih, les! in gáhe, war ih iz ánafahe. 25 Thaz sér thaz thar ruarit míh, theist léidon allen úngilih, iz ubarstígit noti allo wídarmuati; Mir ist sér ubar sér, ni ubarwíntu ih iz mér, ni wán es untar manne íamer dróst giwinne! Sie éigun mir ginómanan liabon drúhtin minan, 30 thaz min líaba herza, bi thiu rúarit mih thiu smérza. Ni wás in thar ginúagi tház man nan irslúagi, súntar se ouh biwúrbin tház sie nan gibúrgin; Thaz fríunt nihein ni wésti wío man nan firquísti, joh wío man nan firduásbti mir zi léidlusti! 35 Bi thiu, fró min, so ih iu rédinon, ni még ih thaz irkóboron, theih iamer fráwolusti giláze in mino brústi; Joh, so íh iu hiar nu zéllu, wárd mir wé mit mínnu, theih sino líubi in mih gilíaz, ob ih sia níazan ni muaz! […]’ (‘„Weib, zu wem kommst du hier? Wen suchst du jetzt? Was ist dein Unglück, das du so schmerzlich beweinst? “ Da sprach sie zu ihnen: „Ach, es muss mich verlangen nach Weinen, denn Schmerz und Leid, mehr als man glauben kann, ist mir über Maßen geschehen; ich muss klagen und voller Leid sprechen, ach, ich weiß gar nicht, wie ich beginnen soll. Der Schmerz, der mich hier bewegt, der übertrifft alle Leiden, er übersteigt fürwahr jede Kränkung; mir geschieht Schmerz über Schmerz, ich kann ihn nicht mehr aushalten, nicht glaube ich, dass ich in dieser Welt jemals getröstet werden kann! Sie haben mir meinen lieben Herrn genommen, mein liebes Herz, deswegen hält mich der Schmerz gefangen. Es genügte ihnen nicht, dass man ihn tötete, sondern sie schafften es auch, ihn zu 23 Rudolf Schützeichel, Althochdeutscher und altsächsischer Glossenwortschatz , 12 Bde., Tübingen 2004, hier Bd. 8, S. 486 (vorwiegend für lat. dolor ). 24 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 227. Übersetzung W. H. leid , harm und sêr 25 verstecken, so dass keiner der Freunde wissen konnte, wie man ihn von der Erde vertilgte, und wie man ihn verdarb - mir zum Leidwesen! Deswegen, oh mein Herr, ich sage es euch, kann ich es nicht zulassen, jemals wieder Fröhlichkeit in meine Brust einzulassen. Und so, ich beteure es euch nun, entstand mir wehes Leid aus liebendem Gedenken, indem ich seine Liebe in mich einströmen ließ, auch wenn ich sie nie genießen kann! “’) Der klagenden, weinenden Maria Magdalena geschah außerordentliches sêr und leid (V. 22). Das sêr , der Schmerz bewegt sie, es übertrifft alle sonst möglichen Leiden, jede Kränkung und Widerwärtigkeit, die man sich ausdenken kann. Die Abwesenheit des Herrn im leeren Grabe ist trostlos, ist ein sêr ubar sêr (V. 27), ein ‘Schmerz über alle Schmerzen’; wieder bewegt thiu smerza das Herz (V. 30); es gedenkt des Verschwindens des geliebten Herrn, gedenkt der Qualen seiner Passion, die leid-lusti , ‘Leid-wesen’ wirkten (V. 34), nie mehr kann frawo-lusti ‘Froh-sinn, Fröhlichkeit’ Einlass in die Brust der Trauernden erlangen (V. 36). ‘Weh’ entstand ihr aus der Liebe zum Herrn. Die Emotionalisierung von sêr , dem zunächst physischen Schmerz, ist in dieser von Otfrid erfundenen Rede der trauernden Magdalena außerordentlich deutlich. Es ist die christliche Inanspruchnahme der Verwundungs- und Versehrungsterminologie, die solche Emotionalisierung treibt - auch anderswo bei Otfrid. In anderen Ableitungen von sêr bleibt die physische Bedeutung des Wortes länger virulent, so im Verbum sêren ‘verwunden’ oder im Adjektiv serag ‘verwundet, schmerzhaft’ 25 - etwa in dem Hochgesang auf die Bedeutung von minna ‘Liebe’, caritas und fraternitas für den Eingang des Menschen in die himmlische Heimat, den Otfrid in seiner Widmungsepistel an die St. Galler Mönchsbrüder Hartmuot und Werinbert anstimmt (H, 129-136): 26 Mínna thiu díura (theist káritas in wára), 130 brúaderscaf (ih ságen thir éin) - thiu giléitit unsih héim. Óba wir unsih mínnon: so birun wir wérd mannon, joh mínnot unsih thráto selb drúhtin unser gúato; Ni duen wir só (ih sagen thir éin): sero químit uns iz héim; sérag wir es wérthen in thíu wir iz ni wóllen. 135 Altan níd, theih rédota, then Caín io hábeta, ther si uns léid in wara, er íst uns mihil zála. (‘Die kostbare Liebe, das ist die wahrhaftige Caritas, und die Brüderlichkeit, wahrlich ich sage es dir, die führt uns heim. Wenn wir uns lieben, dann werden wir auch den Menschen lieb und wertvoll, und es liebt uns auch kraftvoll unser gütiger Herr: Wahrlich, ich sage dir, handeln wir nicht so, dann wird uns Schmerz daraus entstehen, schmerzlich werden wir’s empfinden, wenn wir dies nicht wollen. Der alte Hass, den - wie gesagt - Kain stets hegte, der soll uns wahrlich leid sein, bedeutet für uns nur große Gefahr und Not.’) 27 Die gegenseitige Liebe - so argumentiert der Weißenburger in seiner Versepistel - schafft wertvolle Menschen und ist auch die Prämisse für die Liebe Gottes zu den Menschen. Wenn 25 Johann Kelle, Otfrids von Weissenburg Evangelienbuch , Bd. 3: Glossar der Sprache Otfrids , Regensburg 1881, S. 517: Bei Otfrid bezeichnet sêr nur Verletzungen des muat , des Gemüts oder Sinns. 26 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 269f. 27 Übersetzung auf der Grundlage der Übersetzung von Vollmann-Profe (wie Anm. 22), S. 196. 26 Wolfgang Haubrichs wir die Liebe nicht üben, wird es Schmerz bringen. In V. 133f. gebraucht Otfrid zur Verstärkung seiner Argumentation ex negativo bewusst hintereinander einmal das Adverb sêro und zum andern das mit aga -Suffix abgeleitete Adjektiv sêrag , das er am liebsten mit herza (I, 18,30; V, 9,22) und muat (II, 13,37; III, 24,10; V, 5,19; 9,4; 25,58) kombiniert, so die Ambivalenz zwischen physischer und psychischer Bedeutung dokumentierend: sêragaz herza ‘verwundetes, schmerzendes Herz’, sêragaz muat ‘schmerzendes Gemüt’. Das Adverb sêro ist der etymologische Vorfahre unseres heutigen verstärkenden Adverbs sehr (wie in ‘es ist sehr heiß’, entstanden aus ‘es ist schmerzend, empfindlich heiß’), das später nahezu alle Derivate des Lexems verdrängt hat. Sicher ist, dass diese reduzierte Bedeutung des Wunden- und Schmerz-Wortes im Mittelhochdeutschen vorhanden ist, zuerst anscheinend in den wohl zwischen 1130 und 1140 entstandenen Vorauer Bücher Moses (sechsmal, wie etwa in daz muote in sêre ‘das bekümmerte, mühte ihn sehr’). 28 Johann Kelle hat 1881 in seinem grundlegenden Otfrid-Glossar 29 für sieben Textstellen des Adverbs sêro auch die Bedeutungen ‘empfindlich, arg, hart, sehr’ (also mit einer beachtlichen Bandbreite der Intensivierung) angesetzt, obwohl die geläufigen Intensiva im Althochdeutschen harto und filo sind. Wie oben in der Widmungsepistel an die St. Galler Brüder (H, 133f.) ist bei genauer Betrachtung für alle diese Stellen auch die Interpretation ‘schmerzhaft, schmerzlich’ möglich oder sogar geboten. Ein Beispiel bietet die Begegnung von Christus und Petrus nach der Auferstehung. Nach Joh 21,17 lässt hier der auferstandene Christus Otfrids den Apostel in spiegelnder Vergeltung seiner dreimaligen Verleugnung auch dreimal seine Liebe beteuern (V, 15,23-28): 30 Er thríttun stunt nan grúazta, want er in ímo buazta thaz er ér ju in war mín so thiko lóugnita sin; 25 Ther thría stunton jáhi, so thiko inflóhan wari; thia minna zálti hiar, so zám, ther er so séro hintarquám: ‘Pétrus, avur zéli mir, bin ih líob filu thír? ist thaz hérza thinaz mir warlicho holdaz? ’ (‘Er sprach ihn zum dritten Mal an, weil er ihm damit vergalt, dass er [Petrus] vormals ihn genau so oft verleugnet hatte. Der sollte dreimal bekennen, der ebenso oft gewankt hatte; die Liebe sollte hier bekennen, wie es sich gehörte, der früher so sêro erschrak: „Petrus, bekenne mir doch, bin ich dir sehr lieb? Ist dein Herz mir wahrhaft ergeben? “’) Dazu ist Alkuins Johanneskommentar zu vergleichen, den Otfrid zweifellos benutzte: 31 […] et quotiens territus ejus passione, qua illum nosse negaverat, totius ejus resurrectione recreatus, quod illum toto amet corde, testetur […] . Zum terror , zum Schrecken, passt das Adverb sêro in der Bedeutung ‘schmerzlich, arg’ gut. 28 Deutsche Gedichte des elften und zwölften Jahrhunderts , hg. von Joseph Diemer, Wien 1849, Nachdruck Darmstadt 1968, S. 1-103. Vgl. Georg F. Benecke, Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch , Bd. 2.2, S. 254f.; Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch , Bd. 2, Leipzig 1876, Sp. 889. 29 Kelle (wie Anm. 25), Bd. 3, S. 516f. 30 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 242. Übersetzung W. H. 31 Kelle (wie Anm. 25), Bd. 3, S. 189f. leid , harm und sêr 27 Mag man hier noch zweifeln, so ist beim Gebet Otfrids an Christus in der Praefatio zum dritten Buch seines Liber Evangeliorum nur die physische Bedeutung akzeptabel (III, 1,31-38): 32 Líndo, liobo druhtin mín, laz thia késtiga sin; gilóko mir thaz minaz múat, so muater kíndiline dúat. Thóh si iz sero fille, níst ni si ávur wolle (súntar si imo múnto), theiz íaman thoh ni wúnto. 35 Thia hánt duat si fúri sar, ob íaman rámet es thar; gihúgit sar thés sinthes thes íra lieben kíndes. Mit hénti siu mo scírmit mit theru si iz míthont fillit; ni mag giséhan ira muat thaz imo fíant giduat. (‘Sanft, oh mein geliebter Herr, lass meine Strafe sein; besänftige mein Gemüt, wie die Mutter es dem kleinen Kinde tut. Wie schmerzhaft sie es auch züchtigt, will sie doch nicht, dass jemand es verletzt, vielmehr beschützt sie es. Die Hand hält sie sogleich dazwischen, wenn jemand es zu treffen versucht; sie achtet stets auf den Weg ihres lieben Kindes. Mit derselben Hand, mit der sie es soeben schlug, beschirmt sie es; ihr mütterlicher Sinn kann nicht ertragen, dass ein Feind ihm etwas antut.’) 33 Es handelt sich um ein intensives Gebet des Autors an Christus, in dem er selbst um eine sanfte Strafe bittet (V. 32), so wie es die Mutter dem Kinde tut. Auch wenn sie es einmal sero fille (V. 33), d. h. schmerzhaft züchtigt, so will sie doch nicht, dass jemand es wunto (V. 34), d. h. verletze oder verwunde. Das Substantiv sêr zeigt diese physische Bedeutung bei Otfrid noch öfter. So heißt es in seiner Schilderung der Höllenverdammnis (V, 21,24): […] eigun iamêr wêwon, sêr ioh smerzen ubar dag […] (‘sie empfangen immerwährende Qualen, Wunden und Schmerzen den ganzen Tag’). Gemeint ist der Höllenbrand, variiert wird mit wîzi ‘Strafe’ und hellipîna ‘Höllenpein’. Ähnlich in einer im Vergleich mit dem regnum caeleste verfassten Beschreibung der Unvollkommenheiten irdischer Existenz (V, 23,91-93): 34 91 Híar ist io wéwo joh állo ziti séro joh stúnta filu suáro, […] Unmezzigaz sér, […] (‘Hier finden sich stets Weh und allzeit schmerzhafte Qual und schwerste Stunden, […] unermesslicher Schmerz, […]’) Wieder fällt die Häufung der Wörter aus dem Bezirk des Leides und der Verletzung auf. In mittelhochdeutscher Zeit lässt sich sêr in der Bedeutung ‘Verwundung, wund, krank’ am längsten in medizinischen Texten nachweisen, in medizinischer Metaphorik auch noch im 13. Jahrhundert bei Mechthild von Magdeburg: 35 an die Braut Christi gewandt […] du bist 32 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 103. 33 Übersetzung auf der Grundlage der Übersetzung von Vollmann-Profe (wie Anm. 22), S. 97. 34 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 256. Übersetzung W. H. 35 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit , nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text , besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München/ Zürich 1990 (MTU 100), S. 47; 14; 40; 64. Vgl. Benecke, Müller und Zarncke (wie Anm. 28), S. 254; Lexer (wie Anm. 28), Sp. 888f. 28 Wolfgang Haubrichs ein salbe der verserten oder […] du bist ein salbe ob allen seren ; auch bezüglich auf die Jungfräulichkeit Mariens (I, 11): O tube ane gallen, o maget ane sere, o ritter ane wunden (‘O Taube ohne Galle, o Jungfrau ohne Makel, o Ritter ohne Wunden’); und auf die Wunden Christi: […] so soellent Christi wunden offen sin, bluotig, ane sere […] (‘[…] so müssen Christi Wunden offen sein, blutig, aber ohne Verletzung’). Als Adjektiv mit der Bedeutung ‘wund’ kennt Mechthild das Wort auch: Dines seren herzen súfzen und biben […] (‘deines wunden Herzens Seufzen und Beben’). Währenddessen schwindet dieser hier noch geborgene Sinn allmählich im selben Jahrhundert und später in literarischen Werken. Er findet sich freilich noch um 1140/ 1160 in des Armen Hartmanns Rede vom Glauben , wo die Heilkraft der Eucharistie, des Christus-Brotes und Christus-Leibes, beschworen wird, in einer Doppelformel (Strophe 55, V. 11-14): 36 11 des bittich dich herre heiliger Crist, wande du selbe daz brot bist. swer des brotes geizzet, allis hungeris er vergizzet. dem negewerrit niemer mer weder hunger noch ser. der wirt zo der selben stunt vil fro unde wol gesunt. (‘Darum bitte ich dich, heiliger Christus, mein Herr, denn du bist selbst das Brot. Wer immer von diesem Brote isst, der vergisst allen Hunger. Dem schadet nimmermehr Hunger oder sêr , vielmehr wird er alsbald sehr froh und recht gesund.’) Wer von diesem Brote isst, dem ‘wird nimmermehr Hunger noch sêr beschieden werden, vielmehr wird er alsbald sehr froh und recht gesund’. Da gesunt dem sêr zugeordnet ist, wird man es mit ‘körperlichem Leid’ interpretieren dürfen. In der Anklagerede des Bären zugunsten des geschundenen Wolfes im nach 1192 entstandenen elsässischen Reinhart Fuchs beziehen sich die Anklagepunkte groz laster unde sêr auf den Verlust des Schwanzes Isengrins, der Scham und Schande auslöst: 37 1375 ‘Kunic gewaldic unde her, groz laster unde ser Klaget er, her Ysengrin: daz er huete des zageles sin Vor uch hie ane stat, 1380 daz was Reinhartes rat. Des schamte sich vaste sin lip.’ (‘„Mächtiger und erhabener König, Herr Isengrin klagt wegen seiner tiefen Schmach und Verwundung: Dass er heute ohne seinen Schwanz vor Euch steht, das hat er Reinhart zu verdanken. Er schämt sich auch sehr dafür.“’) 36 Die religiösen Dichtungen (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 587. 37 Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich , hg. von Klaus Düwel, Tübingen 1984 (ATB 96), S. 76; Heinrich der Glichezâre, Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/ neuhochdeutsch , hg., übersetzt und erläutert von Karl- Heinz Göttert, Stuttgart 1976 (RUB 9819), S. 92f. Die Schreibung wurde leicht normalisiert (z. B. <u> für vokalisches <v>). Übersetzung nach Göttert, leicht verändert. leid , harm und sêr 29 Es handelt sich um eine körperliche Verwundung und Versehrung und zugleich um eine Schändung. Karl-Heinz Göttert übersetzt zu Recht mit ‘tiefe Schmach und Verwundung’. Doch setzt die Emotionalisierung und Psychologisierung des Wortes sêr , wie sie im Kontext schon bei Otfrid zu erkennen war, früh ein. Im bairisch-oberdeutschen Von des todes gehugede (um 1150) wird in einem eindrucksvollen Gedankenexperiment über die stete Existenznot selbst eines noch so reichen Königssohnes nachgedacht (V. 511-525): 38 eines chuniges sun welle wir iu nennen, ob ir andem muget erchennen, weder er sei geborn maere ze laeide unt ce sere 515 oder ce vreuden unt ze gemache? wir mugen iu maniger slahte sache hie ze stet lazzen under wegen, da mit wir diu chint mochten biwegen ze einer langen siechaeite. 520 nu lazze wir in zu der swert laeite mit allen vreuden vol chomen. wie moecht er dar an vol wonen? so get im alrest arbaeite zuo: er muz spat unt fruo 525 um dise arme ere sorgen. (‘Den Sohn eines Königs wollen wir euch vor Augen führen, ob ihr an ihm erkennen könnt, wozu er eher geboren ist, zu Leid und Schmerz oder zu Freude und Wohlergehen. Mancherlei können wir hier in diesem Zusammenhang übergehen, womit wir bereits den Kindern eine lange Krankheit auferlegen könnten. Lassen wir ihn lieber die Schwertleite in ungetrübter Freude erreichen. Wie könnte er sich wohl auf immer darin einrichten? Vielmehr kommt jetzt erst recht Mühsal auf ihn zu: Spät und früh muss er sich um dieses armselige Ansehen [die sogenannte Ehre] kümmern.’) Die Hauptfrage des Gedankenexperiments, das zu Tage fördert, dass der Mensch, wie reich und wie glücklich er zu sein scheint, wie immer er auch handelt, stets zum Verderben bestimmt ist, die Hauptfrage ist: Wozu ist dieser Königssohn wohl eher geboren (V. 514f.), ‘zu Leid und Schmerz [Unglück] oder zu Freude und Wohlleben, Glück’? sêr gewinnt in diesem memento mori eine über den bloßen ‘Schmerz’ physischer und psychischer Art hinausgehende, das ‘Unglück’ der menschlichen Existenz umgreifende Bedeutung. Eindeutig ist die Emotionalisierung von sêr bei der Schilderung des Liebeskummer-Todes der frouwe[n] Liamere im Wigalois (vor 1230) des Wirnt von Grafenberg (V. 10023-10131): 39 38 Heinrich von Melk, ‘Von des todes gehugde’. Mahnrede über den Tod. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch , übersetzt, kommentiert und mit einer Einführung in das Werk hg. von Thomas Bein u. a., Stuttgart 1994 (RUB 8907), S. 38f. Die Schreibung wurde leicht normalisiert (vgl. Anm. 37). Übersetzung nach Bein. 39 Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text - Übersetzung - Stellenkommentar , Text nach der Ausgabe von Johannes M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin/ Boston 2 2014, S. 231-233. Übersetzung nach Sabine und Ulrich Seelbach. In der nachfolgenden Paraphrase wurden, um die semantische Interdependenz der Formulierungen herauszuarbeiten, wörtlichere Übersetzungen gewählt. 30 Wolfgang Haubrichs Ditz treip si alsô siben tage, Daz ir jâmer und ir klage 10025 Was zallen zîten niuwe. Si truoc die wâren riuwe Umbe ir gesellen tôt. Liôn der vürste ir dicke enbôt Sînen lîp und ouch sîn lant. 10030 Daz gienc ir allez zeiner hant; Sîn trôst der was ir ungehabe. Sus tet si sich der werlde abe Mit herzenlîchem sêre. Den lîp, guot, und êre 10035 Verlôs si umb ir gesellen tôt; Des wart vil manech ouge rôt; […] Von sînem tôde hât verlorn Ir lîp frouwe Lîamêre Diu mit herzen sêre 10130 Vil jæemerlîche ende kôs Vor leide, daz si ir trût verlôs. (‘Sieben Tage lang erhoben sich ihre Klage und ihr Wehgeschrei immer aufs Neue. Sie trug tiefste Trauer um ihren toten Geliebten. Fürst Lion versprach ihr wiederholt sein Land und sich selbst; all das war ihr gleichgültig. Sein Trost geschah zu ihrem Leidwesen. Also entsagte sie der Welt in bitterem Schmerz. Leben, Gut und Ehre gab sie dahin durch den Tod ihres Geliebten. Das beweinten viele. […] Durch seinen Tod starb Frau Liamere, die in tiefem Schmerz ein jammervolles Ende nahm vor Leid, ihren Geliebten verloren zu haben.’) Nachdem man ihr den Liebsten getötet hatte, klagte und jammerte Liamere in wâre[r] riuwe- / Umbe ir gesellen tôt (V. 10026f.): ‘in wahrer Betrübnis über ihres Liebsten Tod’. Sie schied aus dem Leben mit herzenlîchem sêre (V. 10033): ‘aus Herz-Schmerz’. Die Herzformel wird einige Verse später noch einmal wiederholt (V. 10129f.): Diu mit herzen sêre / Vil jæmerlîche ende kôs (‘die unter Schmerzen des Herzens ein so jammervolles Ende nahm’) aus Leid darüber, dass sie ihren Liebsten verloren hatte. Mit liebe und leide ist im Guoten Gêrhart (um 1220) des Rudolf von Ems das sêr in der Szene zusammengespannt, in der der Held seine vrowe aus der Gefangenschaft der Heiden befreien kann (V. 2472-2480): 40 dô fuorte ich mîne vrowen dan, ir vrowen und die ritterschaft. dâ was rîcher vreuden kraft 2475 mit vreude in hôhem muote, daz der vil armen huote 40 Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems , hg. von John A. Asher, Tübingen 2 1971 (ATB 56), S. 85. leid , harm und sêr 31 mit güete was gescheiden. dô weinden joch die heiden von liebe durch die vrowen hêr, 2480 von leide durch ir langes sêr […]. Diese Tat löst ‘Freude’ aus (V. 2474f.), aber da es sich gütlich fügte, auch Weinen, sogar bei den Heiden. Sie weinen aus zweierlei Gründen - einmal von liebe (‘aus Liebe’) zu der vornehmen Dame, zum andern aber von leide (‘aus Betrübnis’) über ihr langes sêr , ihren langen Schmerz, ihr langes Leiden. Das sêr kann hier nicht anders denn psychisch interpretiert werden. Indessen wird im späteren Mittelalter das Wort sêr seltener und in seiner physisch-psychisch resultativen Bedeutung vom modernen Ausdruck smerze (ahd. smerza ) ‘Schmerz’ verdrängt. Die nach einer handschriftlichen Vorlage der Mitte des 14. Jahrhunderts gefertigte Bibel des Straßburger Druckers Johannes Mentelin von 1466 hat bereits als Übersetzung für lateinisch dolor zu 56 % schmertz und nur zu 22 % noch seer , das damit mit der Vokabel nôt gleichauf liegt. Wie Walter Hoffmann bereits 1956 festgestellt hat, ist sêr „seit dem 16. Jahrhundert aus der Schriftsprache verschwunden“. 41 III Mein drittes Beispiel aus dem Wortfeld der Verletzung ist vielleicht nicht das interessanteste, aber doch das siegreiche: Leid! Es tut mir leid, dass es hier nur kurz behandelt werden kann, doch ist dies doch wohl ohne Harm, ohne Versehrung und ohne allzuviele Tränen zu verschmerzen, weil gerade zu diesem Wort seit 1951 die große Monographie von Friedrich Maurer vorliegt, mit dem Titel Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte . 42 Ein Buch, dessen Resultate weiterhin aktuell sind, das jedoch in neueren Arbeiten zum Thema nur noch selten aufscheint. Dabei ist Maurers Arbeit in vielem vorbildlich: Er verknüpft umsichtige etymologische Analyse mit kontextsensitiver Semantik und berücksichtigt zugleich in onomasiologischem Ansatz Synonyme und Antonyme innerhalb des Gesamtwortfeldes. Doch beginnen wir mit den Voraussetzungen des Wortes ‘Leid’. Es handelt sich um eine nur westgermanisch erfolgte Substantivierung eines Adjektivs germ. *laiþa- , das reich überliefert ist (im heutigen Deutschen noch in erstarrten Formeln wie ‘ich bin es leid’), mit der ungefähren Grundbedeutung von ‘widerwärtig, verhasst, betrüblich’, die auch auf das Substantiv übertragen wurde. 43 Bestätigt wird diese Grundbedeutung durch die auch von Maurer angeführten frühen Entlehnungen in die romanischen Sprachen mit ihren „Bedeutungen des Bösen, Unangenehmen, Schmerzlichen, Schädlichen“ und „des Unrechts, der Kränkung, Schändung, Beleidigung“. 44 Das Lehnwort findet sich im Altprovenzalischen, Altitalienischen, Altspanischen und Altfranzösischen, das hier stellvertretend mit dem Substantiv lait „injure, 41 Hoffmann (wie Anm. 19), S. 30. 42 Friedrich Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte , Bern/ München 1951 (Bibliotheca Germanica 1). 43 Kluge und Seebold (wie Anm. 5), S. 569; Etymologisch woordenboek van het Nederlands (wie Anm. 20), Bd. 3, S. 192f.; EWA (wie Anm. 6), Bd. 5 (2014), Sp. 1126-1131. Vgl. Orel (wie Anm. 6), S. 233f. 44 Meyer-Lübke (wie Anm. 5), Nr. 4858a; Ernst Gamillscheg, Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache , Heidelberg 1969, S. 555; FEW (wie Anm. 5), Bd. 16 (1944), S. 439-441. 32 Wolfgang Haubrichs outrage, offense, tort, préjudice; chose, qui cause du tort ou du déshonneur; affront“ angeführt sei. 45 Dazu lässt sich durchaus noch die Redensart nhd. ‘ein Leid antun’ vergleichen. Dementsprechend hat altsächsisch lêd (mit Monophthongierung germ. [ai] > [ê]) auch im Heliand die Bedeutung des ‘Bösen’ und ‘Widerwärtigen’, lêd-werk ist die ‘Übeltat’. 46 Ein überzeugendes Beispiel für die semantische Bandbreite von lêd bietet Maurer mit der biblischen Szene (Fitte 59), in der Petrus (nach Tatian 188) den Herrn nach dessen Gefangennahme mehrfach verleugnet: 47 [Vers] 5026 erscheint led in Parallele zu honlico [‘schmachvoll’]. Man muß hier geradezu mit ‘Schande’ übersetzen; mit ‘Böses’, wie es Sehrt will, scheint mir der Sinn nicht voll getroffen. 48 Hier, wo es sich um das Erlebnis des Petrus bei der Verleugnung handelt, ist etwas vom Sinn des Entehrenden in dem Wort enthalten. Der Dichter erörtert bekanntlich ziemlich breit diesen Vorgang, und er stellt auch die Frage, warum Gott es zugelassen hat, that so lioben man led gistodi / that he so honlico herron sines / […] forlognide (5025f.) [‘dass auch einem so teuren Mann Schande widerführe, dass er so schmachvoll seinen Herrn […] verleugnete’]. Das ‘Leid’ besteht also für Petrus darin, daß er schmählicherweise seinen Herrn verleugnet. Variiert wird die Tat des Petrus dann (5033) mit gesundion : ‘Gott ließ ihn sündigen’? oder ‘schlecht handeln’? Es scheint so, als ob sich lêd allmählich auch mit dem christlichen Begriff der ‘Sünde’ auflade. Doch spielt dies alles noch vor dem semantischen Horizont einer Schamkultur. Die Entehrung muss jener Apostel am eigenen Leib erfahren, der bald die Gemeinschaft der bekehrten Sünder führen soll. Dem Bedeutungsgehalt von altsächsisch lêd , althochdeutsch leid entspricht, dass in den althochdeutschen Glossen sowohl Adjektiv wie Substantiv Wörter wie adversum , odiosus , exsecrabilis , onerosus , probrosus , intestabilis , andererseits malum , scandalum , sinisterum , miseria , aegritudo , dolor , injuria , labor etc. interpretieren. 49 Es darf keinesfalls - und das gilt, wie Maurer herausgearbeitet hat, auch noch für das klassische Mittelhochdeutsche 50 - leid mit dem Inhalt des neuhochdeutschen ‘Leid’ gleichgesetzt werden. Der Umbruch zur Ent-Konkretisierung und zu einer beginnenden Emotionalisierung des Wortes liegt wieder einmal bei Otfrid von Weißenburg, bei dem es den Sinn des offensiven ‘Bösen’ verliert und die Bedeutung von ‘Verdruss, Gram, Kummer’ annimmt. 51 Zusammenstellungen mit sêr und smerza sind - wie man bereits gesehen hat - häufig. Bezeichnend ist, dass das aus Ezechiel (11,19) stammende Bild des ‘steinernen Herzens’ - hier auf die Feinde Christi, die seine Selbstoffenbarung als Gottessohn nicht wahrnehmen wollen, gemünzt - gleichläufig mit smerza und leid verbunden werden kann (III, 18,67f.): 52 45 Maurer (wie Anm. 42), S. 72f. 46 Ebd., S. 74f. 47 Ebd., S. 75. 48 Vgl. Edward H. Sehrt, Vollständiges Wörterbuch zum Heliand und zur Altsächsischen Genesis , Göttingen 1925, S. 328. Genzmer (wie Anm. 9), S. 256, übersetzt lêd mit ‘Leid’, honlico sicherlich ungenau mit ‘höhnisch’. 49 Vgl. Schützeichel (wie Anm. 23), Bd. 6, S. 22-25. 50 Maurer (wie Anm. 42), S. 10-12, 198 u.ö. 51 Kelle (wie Anm. 25), Bd. 3, S. 354f. Vgl. Maurer (wie Anm. 42), S. 75. 52 Otfrids Evangelienbuch (wie Anm. 12), S. 136. Übersetzung W. H. leid , harm und sêr 33 67 Thaz stéinina hérza rúarte tho thiu smérza, ruarta thó thiz selba léid […]. (‘Ihr steinernes Herz wurde da bewegt von Schmerzen, wurde bewegt von diesem Verdruss […]’.) Die Feinde des Gottessohnes greifen schließlich gegen den angeblichen Gotteslästerer zu den Steinen. Schon früh also wird leid zu einem allgemeinen, auch vom Bösen bewegten Begriff seelischer Verletzung, der dann aber auch objektiv mit christlichen Gehalten wie dem peccatum , der Sünde als Leid-Ursache und der passio , dem ertragenen ‘Leid’ als Voraussetzung der Erlösung aufgeladen wird. Dagegen bewahrt Otfrid im Adjektiv leid ‘odiosus, verhasst’ und in der (schwach flektierten) verbalen Rückbildung leidên ‘verhasst sein, verleiden’ die alte Bedeutung des ‘Widerwärtigen’. Leid-lîh heißt ‘abscheulich, verdammenswert’ und die unrechten Opfer sind Gott leid , d. h. ‘verhasst’ ebenso wie die Wunder Jesu den Juden. 53 Otfrid prägt sogar den Begriff des gote-leido , des ‘Gott Verhassten’ (IV, 7, 34). 54 Diese negative Semantik wirkt auch noch im Mittelhochdeutschen in Wendungen wie leid sîn , wesen , werden fort (vgl. nhd. ‘etwas leid sein’). 55 Friedrich Maurer hat in einem exemplarischen Kapitel seines Leid-Buches 56 gezeigt, wie im Nibelungenlied neben den Bedeutungen von leid als Sorge um das Kommende und der noch seltenen Notation ‘Schmerz, Betrübnis’ vor allem die offensive Semantik des ‘angetanen Unrechts’, der Be-leid-igung, der Entehrung, der Schande mitklingt, ja oft den entscheidenden Akzent setzt. Es ist das angetane ‘Leid’, das zu manen , zu ‘rügen’, zu ‘rächen’, zu ‘büßen’, zu gelden ist. Das Schmach verursachende ‘angetane Leid’ tritt dagegen bei Wolfram von Eschenbach im Parzival (aber auch im Willehalm ) zurück, auch rein statistisch, während das aus christlichem Kontext kommende Wort riuwe , „dieses Wort des tiefen inneren Leides“ und daseinsprägender Trauer aufscheint - neben einer „reichen Skala anderer Bezeichnungen“. 57 Nennen wir nur mit Maurer die Vokabeln der nôt , des jamer und kumber , der pîn , des wê , der sorge , des ungemach , der swaere usw. Es ist freilich bezeichnend für die Ambivalenz des Begriffs ‘Leid’, dass im heldenorientierten Willehalm zwar selten, aber doch deutlich die Sphäre des zu rächenden ‘Leids’, ja des/ der herzebaeriu leit , das Schmach und Schande gebiert, erneut beschworen werden kann. 58 Die alten Deutungsmuster der Schamkultur leben noch. Hier breche ich ab und versage mir eine Interpretation der quasi-sakralen Poetisierung und Ideologisierung des ‘Leides’ in Gottfrieds von Straßburg Tristan . 59 Nur einige wenige zusammenfassende Sätze seien mir zur Conclusio gestattet: Ich hoffe mit meinen semantischen Akupunkturen gezeigt zu haben, aus welch differentem Reservoir und mit welch verschiedenen Strategien das mittelhochdeutsche Vokabular der Verletzung und des Leidens entstanden ist. Da stehen neben Lehnwörtern wie pîn < lat. poena , 60 neben ursprünglichen Interjektionen 53 Kelle (wie Anm. 25), Bd. 3, S. 355. 54 Ebd., S. 244. 55 Benecke, Müller und Zarncke (wie Anm. 28), S. 979f.; Lexer (wie Anm. 28), Bd. 1, Sp. 1863f. 56 Maurer (wie Anm. 42), S. 13-38. 57 Ebd., S. 115-167 und (für den Willehalm ) S. 200. 58 Vgl. ebd., S. 38, zum ‘Herzeleid’, das nicht vergeben werden kann. 59 Ebd., S. 205-262. 60 Hoffmann (wie Anm. 19), S. 30-38; Kluge und Seebold (wie Anm. 5), S. 691. 34 Wolfgang Haubrichs wie wê und jâmer 61 Konkreta wie sêr ‘Wunde’ (und auch kumber < galloromanisch *comberos ‘Schutt’ 62 ), ein Rechtswort aus dem Bereich der Entehrung wie harm ‘Schmach, Schande’ und ein das negativ Empfundene, das malum und odiosum einer Schamkultur bezeichnendes Adjektiv wie leid . Die Strategien der semantischen Fortentwicklung sind Entkonkretisierung wie im Falle von harm , sêr und leid , auch Metaphorisierung wie bei kumber und allgemein Emotionalisierung, die erst die Entstehung einer intellektuell differenzierten Terminologie, aber auch das Spiel mit den sich überlappenden Grenzen der Bedeutung ermöglicht. Insofern scheint es mir unabdingbar, dass lexikologische und semantische Untersuchungen jede interpretatorische und kulturwissenschaftliche Bemühung um Literaturen vergangener Sprachwelten begleiten müssen. 63 Alle Lexikologie ist anthropologische Grundarbeit. 64 61 Hoffmann (wie Anm. 19), S. 39-46; Kluge und Seebold (wie Anm. 5), S. 975, 454. 62 Vgl. oben, Anm. 5. 63 Dem Kollegen und Freund Kurt Gärtner möchte ich dafür danken, dass er mir aus dem unendlich reichen Schatzhaus des neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs Belege von leporello-artiger Zahl und Vielfalt gespendet hat, die nicht einmal annähernd hier ausgebreitet werden konnten. 64 Vgl. Leiden , hg. von Caroline Arni und Marian Füssel, Köln/ Wien 2015 (Historische Anthropologie 23, H. 1). Das Wissen über Wunden 35 Das Wissen über Wunden Zu Verwendungsweisen, Semantisierung und Konzeptualisierung von ahd. wunti/ as. wunda/ mhd. wunde Simone Schultz-Balluff I Lexembasierte Rekonstruktion von Wissensbereichen (1) Nv howet in tiefe wnden die nimmer mer gebvnden Werden vnz an den leſten tach Dietrichs Flucht , 1 Bl. 82rb, 33-35; V. 6047-6049 (2) Wer dem andern ein fliezzende wunden ſleht. der ſol rumen in aht tagen dri mile von der ſtat. vnd ſol vzze ſin ein vierteil iars. Würzburger Polizeisätze , 2 Bl. 242va, 10-13 (3) Jesus Christus der obirſte arzit der alle mine wundin heilit. Jenaer Martyrologium , 3 Bl. 106r, 11f.; 95,34f. (4) Ze dero wndun. Nim die gepuluerete pugnum unde ſage ez uber die wndun. so heilet siu. Bamberger Arzneibuch , 4 Bl. 2v, 18f.; 140f. 1 Dietrichs Flucht (R) - Handschrift Ende des 13. Jahrhunderts/ um 1300 - Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1062 [Riedegger Handschrift]. Vgl. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe , hg. von Elisabeth Lienert und Gertrud Beck, Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1). - Die Stellennachweise sowie die Angaben zu den einzelnen Überlieferungsträgern stammen aus den online zugänglichen Beschreibungen der Referenzkorpora; für ausführliche Informationen zu den Texten, unterschiedliche Lesetextformate und annotierte, durchsuchbare Texte vgl. http: / / linguistics.rub.de/ rem/ und http: / / korpling.german.hu-berlin.de/ annis3/ ddd (letzter Zugriff 7.1.2019). Vgl. auch unten, Anm. 9. 2 Würzburger Polizeisätze - ca. 1347-1350 vorläufig beendet - Handschrift München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (= Cim. 4) [Würzburger Liederhandschrift]. 3 Jenaer Martyrologium - Handschrift Ende des letzten Viertels des 13. Jahrhunderts oder um 1300 - Jena, Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. Bos. q. 3. Vgl. Friedrich Wilhelm, „Das Jenaer Martyrologium und die Unterweisung zur Vollkommenheit“, in: Münchener Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance 5 (1928-1932), S. 1-105. 4 Bamberger Arzneibuch ( Arzenîbuoch Ipocratis [B]) - Handschrift Mitte des 12. Jahrhunderts - Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 146. Vgl. Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts , hg. von Friedrich Wilhelm, München 1914/ 1916, S. 244-249, Nr. 25B. 36 Simone Schultz-Balluff In den ausgewählten Textpassagen 5 wird der gemeinsame Blickpunkt, die Wunde, ganz unterschiedlich perspektiviert. Während in Dietrichs Flucht (1) das Zufügen tiefer Wunden geradezu gefordert wird, legen die Würzburger Polizeisätze (2) das Strafmaß für das Schlagen fließender Wunden fest: Innerhalb von acht Tagen hat sich der Täter mindestens drei Meilen von der Stadt entfernt zu haben und muss sich ein Vierteljahr dort aufhalten. Und während das Jenaer Martyrologium (3) Jesus Christus im Sinn des Christus medicus als guten ‘Oberarzt’ für die Heilung seelischer Wunden empfiehlt, rät das Bamberger Arzneibuch (4) zu pulverisiertem Fünffingerkraut für die Wundheilung. Jeder dieser vier Textausschnitte fokussiert unterschiedliche Aspekte innerhalb des gemeinsamen Wissensbereichs ‘Wunde’: das Zufügen von Wunden mit Todesfolge, das Strafmaß für Schlagwunden, die Heilkraft Jesu für die seelischen Wunden der Gläubigen und die Behandlung von Wunden mit selbst hergestellter Arznei. 6 Bereits diese wenigen und zudem kurzen Textauszüge verraten einiges Wissenswerte: Wunden können tief sein oder fließen (also bluten), sie können gehauen oder geschlagen werden, man kann etwas über sie gießen, sie verbinden und ganz allgemein heilen. Jedes dieser Wissenselemente verweist auf den übergeordneten Wissensbereich ‘Wunde’ und macht so einen Teil des für das Mittelalter anzunehmenden Konzepts ‘Wunde‘ aus. Die folgenden Ausführungen möchten die für den Wissensbereich ‘Wunde’ relevanten, d. h. sprachlichen, inhaltlichen und kontextuellen Rahmenbedingungen und ‘Kraftfelder’ skizzieren. 7 Den Ausgangspunkt bildet das zentrale, von verstehensrelevanten, diskursiven Elementen umgebene Lexem ‘Wunde‘ in seinen historischen Äquivalenten. 8 Von diesen ausgehend wird das zu dem Konzept gehörende Wissen über die Analyse des sprachlichen und textuellen Gebrauchs sowie des kontextuellen Umfelds erfasst. Die Grundlage für die Auswertung bilden die Referenzkorpora ‘Altdeutsch (750-1050)’ und ‘Mittelhochdeutsch (1050-1350)’ 9 mit 333 5 Zugunsten der Lesbarkeit ist die handschriftennahe Wiedergabeform der Texte, wie sie die Referenzkorpora (vgl. Anm. 1) vorgeben, geringfügig editorisch modifiziert. Dies betrifft Auflösungen (Nasalstriche, allgemeine Abbrechungszeichen), Zusammenschreibungen, Ergänzungen ( r - und a -Ausfall, Nomina Sacra). Eine Kenntlichmachung solcher Eingriffe in Klammern erfolgt nicht. Entsprechend dem Usus der Referenzkorpora erfolgt durchgängig die Angabe der konkreten Textstelle im Überlieferungsträger (Ausnahme bildet der Verlust der Handschrift), ergänzt um die Editionszählung (wenn eine vorliegt). Die abstrahierten Wortformen und Beispiele im Text und in den Schaubildern sind mittelhochdeutsch normalisiert. 6 Der Artikel im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde [ RGA ] zu ‘Wunden und Wundbehandlung’ behandelt folgende Aspekte: „Verursachung“, „Schweregrad“, „Verursacher und Strafe“, „Komplikationen der Heilung“ und „Magische Wundbehandlung“; vgl. Gundolf Keil, „Wunden und Wundbehandlung“ (§ 2-5), in: RGA , Bd. 34, Berlin/ New York 2 2007, S. 323-332. 7 Dabei sind es wohl unterschiedliche Rahmenbedingungen, die, wie Klaus-Peter Wegera am Konzept von âventiure verdeutlicht, von verschiedenen Kraftfeldern geprägt werden und schließlich den zentralen Begriff mitbestimmen. Vgl. Klaus-Peter Wegera: „‘mich enhabe diu âventiure betrogen.’ Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von ‘âventiure’ im Mittelhochdeutschen“, in: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag , hg. von Vilmos Àgel u. a., Tübingen 2002, S. 229‒244. 8 Und diese Elemente evozieren wiederum das sog. verstehensrelevante Wissen. Zum lexembasierten Zugriff vgl. ausführlich Simone Schultz-Balluff, Wissenswelt triuwe. Kollokationen - Semantisierung - Konzeptualisierung , Heidelberg 2018, S. 62-69. 9 Das extrahierte Wissen kann immer nur so gut sein wie die Grundlage, der es entnommen wurde. Die zunehmende digitale Verfügbarkeit von deutschsprachigen Texten des Mittelalters (d. h. sowohl von deren textlicher als auch handschriftlicher Form) regt wissenschaftliche Fragestellungen an, die aufgrund der eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten bislang nicht gestellt wurden (und nicht beantwortet werden konnten). Die zur Initiative ‘Korpus historischer Texte des Deutschen’ gehörenden Referenzkorpora zu Das Wissen über Wunden 37 Textausschnitten, die die Lemmata ahd. wunti , as. wunda bzw. mhd. wunde enthalten. Dieser Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass über die Extraktion von Wissenselementen aus dem Medium Text in weiten Teilen die Rekonstruktion eines komplexen Wissensbereichs erfolgen kann, da sich in Wörtern, Gebrauchskontexten und Textstrukturen bereits eine verarbeitete, d. h. strukturierte Form von Wissensbeständen zeigt (das sog. ‘Weltwissen’). Daher besteht die Möglichkeit, einzelne Wissenselemente dem Medium Text nicht nur zu entnehmen, sondern deren Komplexität über Strukturbereiche fassbar zu machen, 10 sodass das Funktionieren und das Zusammenspiel einzelner Elemente herausgearbeitet werden. Schließlich können auf dieser Basis diejenigen Merkmale herausgefiltert werden, die eine Aussage über Semantisierungsrichtungen und konzeptuelle Linien zulassen. Hierfür werden die Konzeptbereiche über unterschiedliche Parameter und auf mehreren Ebenen bewertet: auf der sprachlichen Ebene die lexikalischen Solidaritäten und Kollokationen, auf der inhaltlichen Ebene die thematischen Verwendungsweisen einer Textstelle, auf der Textebene die Kontextualisierung und schließlich auf der diskursiven Ebene das textübergreifende Zusammenspiel. 11 Die in den vergangenen Jahren von Ingo H. Warnke und Jürgen Spitzmüller profilierte Mehr-Ebenen-Analyse 12 wird an die Frame-Semantik gekoppelt, die, wie Dietrich Busse betont, ein „erhebliches analytisches und deskriptives Potential, insbesondere auch ein hohes Veranschaulichungs-Potential aufweist“. 13 Über Frames bzw. Wissensrahmen können einzelnen Zeit- und Sprachstufen des Deutschen (Altdeutsch, Mittelhochdeutsch, Mittelniederdeutsch/ Niederrheinisch, Frühneuhochdeutsch) zeigen vom Aufbau her eine ausgewogene Präsenz der Textsorten und legen Wert auf eine gleichmäßige sprachräumliche und zeitliche Verteilung der Texte. Die Texte werden zum Teil nur in Ausschnitten erfasst, um einen gleichmäßigen Aufbau hinsichtlich der Anzahl der Wortformen zu erhalten. Mit der lexematischen, morphologischen, syntaktischen und in Teilen auch graphematischen Annotation bieten sich die Referenzkorpora in erster Linie für linguistische Fragestellungen an; der strukturierte Aufbau hinsichtlich der Textsortenverteilung macht die Referenzkorpora aber auch für philologische Fragestellungen attraktiv. Vgl. stellvertretend https: / / www.linguistics.rub.de/ rem/ (letzter Zugriff: 16.6.2017). Zum Design der zugrunde liegenden Referenzkorpora vgl. Schultz-Balluff (wie Anm. 8), S. 73-76; dort weitere Literatur. 10 Der gesamte Wissensbestand ist also „aufgrund kognitiver und sozialer Prozesse in Wissensrahmen […] organisiert, also in strukturierter Form gegeben“, d. h. Texte können nach Wissensbereichen befragt und einzelne Elemente extrahiert werden: Dietrich Busse, „Textbedeutung und Textverstehen aus Sicht einer linguistischen Epistemologie“, in: Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Festschrift für Inge Pohl , hg. von Andrea Bachmann-Stein, Stephan Merten und Christine Roth, Trier 2009 (Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur- und Bildungswissenschaften 3), S. 45‒56, hier S. 53. 11 Zu Ansätzen einer solchen Mehr-Ebenen-Analyse vgl. Manuel Braun, „Historische Semantik als textanalytisches Mehrebenenmodell. Ein Konzept und seine Erprobung an der mittelalterlichen Erzählung ‘Frauentreue’“, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 47‒65, und Christian Kiening, „Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur“, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19‒46. 12 Die Diskurslinguistik hat in den vergangenen Jahren im Bereich der Mehr-Ebenen-Analyse noch einmal erhebliche Weiterentwicklungen gezeigt, die nun berücksichtigt werden können und deren erklärtes Ziel es ist, „nicht nur Regularitäten des Sprachsystems jenseits der Grenze des Einzeltextes beschreiben zu wollen, sondern auf dem Weg der Sprachanalyse etwas über zeittypische Formationen des Sprechens und Denkens über die Welt aussagen zu können“: Ingo H. Warnke und Jürgen Spitzmüller, „Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik - Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen“, in: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene , hg. von dens., Berlin/ New York 2008 (Linguistik - Impulse & Tendenzen 31), S. 3‒54, hier S. 15. 13 Busse befasst sich seit den 1980er Jahren mit diesem Themenbereich und hat schließlich eine umfassende Abhandlung vorgelegt, auf die hier stellvertretend verwiesen werden soll: Dietrich Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium , Berlin/ Boston 2012; dort weiterführende Literatur. 38 Simone Schultz-Balluff die ermittelten Elemente abstrahiert dargestellt und zueinander in Bezug gesetzt werden; der Bezug zur Lexik und zum konkreten sprachlichen Umfeld bleibt dabei sichtbar. 14 Diese Verfahrensweise zwischen kognitiver Linguistik, Textwissenschaft und historischer Semantik folgt der Grundannahme, dass „einer sprachbezogenen Analyse eine Schlüsselrolle für die Untersuchung des kulturellen Wissens zukommen“ 15 kann. Mit Blickrichtung auf eine germanistische Mediävistik sehe ich dies im Anschluss an die deutlichen Forderungen der letzten Jahre nach einem intensiveren Zusammengehen von Sprache und Literatur, denn - so Christoph Huber - „als Literaturwissenschaftler bewegt man sich im Grenzbereich zur sprachwissenschaftlichen historischen Semantik, die ihrerseits programmatische Brücken zum hermeneutischen Literaturverstehen schlägt“. 16 Das Wechselspiel der wissenschaftlichen Disziplinen hat wieder verstärkt zu theoretischen wie methodischen Diskussionen geführt und allgemein begrüßt wird der „transdisziplinäre Impetus“. 17 Die Forderung von Wolfgang Haubrichs nach einer konstitutiven Bindung beider Disziplinen 18 - der germanistisch-mediävistischen Literaturwissenschaft und der Sprachwissenschaft - liegt den folgenden Ausführungen zugrunde. In diesem Beitrag wird der Korpusbefund in zwei Richtungen perspektiviert: Grundlegend wird das sprachstrukturelle Profil herausgearbeitet und weiterführend wird das semantische Feld der Bezugswelten skizziert. Auf der Wort- und Phrasenebene werden die lexikalischen Solidaritäten von ahd. wunti , as. wunda und mhd. wunde - im Folgenden vereinfacht wunde - im Objektgebrauch (agentiv und patientiv) und in Präpositionalphrasen sowie die direkte Modifikation erfasst und in Wortwolken abgebildet. Auf der Inhaltsebene werden entlang der Bezugswelten die Themenfelder der Textstellen in Form von Wissensrahmen organisiert. Die Schlüsselwörter (im Sinn einer Clusterbildung) werden dabei gebündelt und die Korrelation mit Texttypen und Duktus wird herausgestellt; zahlreiche Textbeispiele untermauern die Darstellung und konkretisieren die abstrakten Visualisierungen. Abschließend werden Semantisierungsrichtungen formuliert und in einer strukturierenden Zusammenschau die konzeptuellen Linien skizziert. II Das grundlegende thematische und sprachstrukturelle Profil von wunde Neben einem germ. Adj. *wunda- mit der Bedeutung ‘verwundet, verletzt’ ist eine substantivische Primärbildung germ. *wundi- anzusetzen. 19 Das Bedeutungsspektrum reicht von der 14 Wissensrahmen bieten eine Möglichkeit der Visualisierung von (historischen) Konzepten als Teile eines kulturellen Gedächtnisses, da sie „den rationalen Zugang zu stereotypischem Wissen ermöglichen, das an die Lexik gebunden ist“: Claudia Fraas, Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit , Tübingen 1996 (Studien zur deutschen Sprache 3), S. 16. Vgl. ausführlicher Schultz-Balluff (wie Anm. 8) zur Diskursanalyse auf mehreren Ebenen (S. 84-107) und zum Frame-semantischen Ansatz (S. 108-129). 15 Busse (wie Anm. 13), S. 809. 16 Christoph Huber, „Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Romanprolog (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg)“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter , hg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 263‒285, hier S. 273. 17 Wolfgang Haubrichs, „Auf der Wortheide - Mediävistik und Sprachwissenschaft“, in: LiLi 150 (2008), S. 94‒104, hier S. 102. 18 Vgl. ebd., S. 103. 19 Heinrich Beck, „Wunden und Wundbehandlung“ (§ 1), in: RGA (wie Anm. 6), Bd. 34, Berlin/ Boston 2 2007, S. 323. Das Wissen über Wunden 39 konkreten Bedeutung ‘Wunde’ bis zur allgemeineren Bezeichnung von ‘Verwundung, Verletzung’. 20 Das grundlegende Verständnis einer Wunde als ‘Durchtrennung der Körperoberfläche’ verdeutlicht, dass es sich um eine von außen bewirkte Verletzung handelt. 21 Die 333 Belegstellen zu den Lemmata ahd. wunti (18 Belege), as. wunda (acht Belege) und mhd. wunde (307 Belege) 22 zeigen ein deutliches Profil: Maßgeblich ist die Art der Wunde 23 und so werden insgesamt Wunden thematisiert, die konkret körperlich, körperlich imaginiert oder abstrakt bzw. imaginiert sind. Über die unmittelbaren Verwendungskontexte lassen sich die Themenschwerpunkte ‘Wunden in medizinischer Sicht’, ‘Wunden in rechtlicher Sicht’, ‘Kampfwunden’, ‘Märtyrerwunden’, ‘Wunden Jesu’ und ‘Seelenwunden’ ableiten. Im engeren Fokus stehen die Wunde, der Verwundete und/ oder der Verwundende: Abb. 1: Themenfelder und Fokussierungen Die Art der Wunde wird - mit unterschiedlicher Gewichtung - in sogenannten Bezugswelten thematisiert, die ihrerseits mit Textsorten und Themen korrelieren: ‘Religion und Glaube’ (166 Belegstellen), ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ (88), 24 ‘Recht’ (51), ‘Medizinisches Fachwissen’ (28). Diese über die Art der Wunde abgeleiteten Aspekte (Themenfeld, Fokus, Bezugswelt) bilden die Basis für die konzeptorientierte Auswertung des Materials, die von den folgenden Fragestellungen geleitet wird: Welches Profil zeigen die Verwendungsweisen in den 20 Gerhard Köbler, Althochdeutsches Wörterbuch , 6 2014, s.v. sēr (2), s.v. wunta . Vgl. http: / / www.koebler gerhard.de/ ahdwbhin.html (letzter Zugriff: 5.3.2018). 21 Diese grundsätzliche Entstehung einer Wunde durch äußere Gewalteinwirkung zeigt auch lat. volnus , vulnus . Die Grundbedeutung impliziert die Vorstellung von der Einheit von Leib und Seele, d. h. körperliche Verwundung und seelischer Schmerz stehen in Interdependenz. Jedoch scheint durch das Lexem germ. *saira- , *sairam ‘Schmerz’, auch ‘Leid, Kummer’, die affektive Konnotation abgedeckt zu werden, sodass bis zu dem Schwinden des Lexems im Deutschen über ahd. wunta , mhd. wunde usw. der konkretere Bedeutungsgehalt transportiert wird. 22 Daneben acht Mal vërchwunde und je einmal tôtwunde und gêrwunde . 23 Kampfwunden: 68; Wunden in medizinischer Sicht: 34; Wunden in rechtlicher Sicht: 51; Märtyrerwunden: 10; Wunden Jesu: 92; Seelenwunden: 47; sonstige Wunden: 31. 24 Elf Belege, die chronikalischen Texten entstammen und als das ‘Erzählen von Geschichte’ klassifiziert werden können, sind unter ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ subsumiert. 40 Simone Schultz-Balluff jeweiligen Bezugswelten? Wie spiegelt sich dies in der sprachlichen Faktur wider? Lassen sich textsortenspezifische Implementierungen erkennen? Einen Einblick in die grundlegenden Aspekte des Konzepts geben die bei dem Kernlexem stehenden Verben: Abb. 2: Verben bei wunde und deren semantische Relation 25 Für den Objektgebrauch mit patientiver semantischer Rolle von wunde lassen sich die folgenden Aktionsarten abstrahieren: Eine Wunde wird aktiv zugefügt oder aktiv behandelt, sie wird passiv empfangen oder erlitten, sie wird visuell oder kognitiv wahrgenommen, über sie kann aber auch Wahrnehmung erzeugt werden, auf sie richten sich zielgerichtete Handlungen oder ihr Vorhandensein löst Handlungen aus. Bei wunde als Agens, d. h. als Urheberin von Handlungen, drücken die Verben Aktivität und Zielgerichtetheit (i. d. R. Heilung) aus, die Personifizierung ausdrückenden Verben zeigen wunde ebenfalls aktiv befördernd, Passivität und Stagnation ausdrückende Verben sind selten: Abb. 3: Verben bei wunde im Objektgebrauch Da es sich bei wunde um ein Konkretum handelt, ist die Semantik der Präpositionen häufig noch durchsichtig: In Phrasen mit den Präpositionen, die eine richtungsweisende ( gegen , ze , 25 In fünf Stufen gibt die Schriftgröße die Beleghäufigkeit wieder: Stufe 1 = einmal belegt, Stufe 2 = zwei bis vier Mal belegt, Stufe 3 = fünf bis neun Mal belegt, Stufe 4 = häufiger als neun Mal belegt. Das Wissen über Wunden 41 ûz ) oder Nähe bzw. Kontakt ausdrückende Semantik ( ane , bî , ûf , über , in ) auf ein Objekt hin enthalten, werden auf die Wunde hin orientierte Verben mit konkretem Bedeutungsgehalt verwendet (z. B. seihen , slahen ). Übertragene Bedeutungen zeigen sich bei der Verwendung von Präpositionen mit kausaler ( umbe / um , durch ) und auswirkungsorientierter Semantik ( mit , von ), die abstrakte Sachverhalte denotieren. Abb. 4: Verben bei den Präpositionalphrasen In Präpositionalphrasen mit âne , bî , ûf , über , gegen , ze und in wird z. B. binden mit konkreter, die Wunde behandelnder Bedeutung verwendet. Ebenfalls konkret sind bei ûz und ze stehende Verben wie z. B. bei ‘ ûz der wunde wallen / vliezen ’ oder ‘etw. ze der wunde machen / gëben ’. In Phrasen mit den Präpositionen durch , mit , von sowie um / umbe steht nicht die Wunde im Fokus, d. h. ihr gilt nicht die Aktivität, sondern sie hat auslösende Funktion, wie z. B. ‘ umbe der wunde schult gëben ’, ‘ durch sîne wunden von dem ewigen tôt lëdegen ’. Hier deutet sich bereits ein abstrakter Gebrauch von wunde an. Phrasen mit âne drücken das, durchaus markante oder relevante, Fehlen einer Wunde aus. wunde wird in knapp einem Drittel der Belegstellen direkt modifiziert. Die Modifikation betrifft die Quantität und die Qualität von wunde : Hinsichtlich der Quantität wird häufig das 42 Simone Schultz-Balluff Umfassende ausgedrückt, die Anzahl wird konkret benannt oder die hohe Anzahl wird abstrakt umschrieben, daneben wird über abstrakte ‘Größen-’Angaben konkretisiert; Pronomina geben die konkrete Zugehörigkeit der Wunde an: Abb. 5: Direkte Modifikation Die Qualität wird hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte näher definiert: Zeitumschreibung, Art des Zufügens, Status, Verortung und Bewertung. Die Kombination von quantität- und qualitätanzeigenden Elementen dient der Intensivierung oder der Spezifizierung, wie z. B. di heiligen funf wunden die vnſer herre hat in ſynen lichame . 26 III Kollokationen und semantische Felder der Bezugswelten Entlang der Bezugswelten bzw. Themenfelder ‘Medizin’, ‘Recht’, ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ sowie ‘Religion und Glaube’ werden im Folgenden die konzeptuellen Elemente in Wissensrahmen zur Anschauung gebracht. Dies umfasst das semantische Umfeld - insbesondere die Schlüsselbegriffe -, die abstrahierten Aspekte und die sprachliche Umsetzung. Die Wissensrahmen bieten eine auf der Basis aller Belegstellen rekonstruierte Verlaufsform, die auch kausale Zusammenhänge abbildet. III.1 Wunden in der Bezugswelt ‘Medizin’ Im Bereich des medizinischen Fachwissens geht es um konkrete körperliche Wunden, die grundsätzlich nicht von innen, sondern - entweder selbst- oder fremdverschuldet - von Au- 26 Hermann von Fritzlar, Heiligenleben - Handschrift 1349? - Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 113, Bl. 194r, 18-29; 128,9f.; vgl. Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts , hg. von Franz Pfeiffer, Bd. 1, Leipzig 1845, S. 3-142. Das Wissen über Wunden 43 ßen zugefügt wurden. 27 Im Fokus steht die Behandlung der Wunde durch einen Sachkundigen mit dem Ziel der Heilung. 28 Die ausgewerteten Textstellen stammen fast ausschließlich aus medizinischen Fachtexten 29 und bieten Informationen zu den Aspekten ‘Zustandekommen’ und ‘Beschaffenheit’ der Wunde, ‘Herstellung einer Arznei’, ‘Anwendung einer Arznei/ Behandlung der Wunde’ sowie ‘Reaktion der Wunde’ und schließlich ‘Heilung’: Abb. 6: Wissensrahmen zur Bezugswelt ‘Medizin’ 27 Vgl. Beck (wie Anm. 19), S. 323; Keil (wie Anm. 6), S. 323. Zum Bereich der Medizin siehe auch den Beitrag von Ortrun Riha im vorliegenden Sammelband. 28 Keil (wie Anm. 6), S. 326-328, führt ausführlich die Aspekte der traumatologischen Wundbehandlung auf: Blutstillung, Wundtoilette, manuelle und medikamentöse Therapieformen. 29 Bamberger Arzneibuch (wie Anm. 4); Bartholomäus - Handschrift 3. Viertel des 13. Jahrhunderts - München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 92; Prüler Steinbuch (M1) - Handschrift 1143-1147 - München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 536; Züricher Arzneibuch - Handschrift Ende des 12. Jahrhunderts/ um 1200 - Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 58. 44 Simone Schultz-Balluff Wenngleich im weiteren Kontext auch das Zustandekommen und der Zustand der Wunde genannt werden, liegt der Schwerpunkt auf der Behandlung und der Heilung. Dabei steht die Aktivität und Zielgerichtetheit des Behandlers, der die Wunde wäscht, sie verbindet, mit Salbe bestreicht u. a. m., im Vordergrund. Darüber hinaus widmen sich die Ausführungen der Reaktion der Wunde, die nicht (zu viel) bluten, schwinden, weich werden und heilen soll. Die Reaktion der Wunde als Folge der Therapie stellt Behandlung und avisierte Heilung in einen kausalen Zusammenhang. Während diese beiden Aspekte über die Semantik der Verben konturiert werden (z. B. heilen , swinden ), überwiegen bei der vorausgehenden Wundenbeschreibung und der Arzneimittelherstellung substantivische Schlüsselwörter, wie z. B. bluot , eiter , hitze , swære , übel , viule bzw. krût , phlaster , pulver , salbe , wurz . Der Duktus ist zumeist direktiv (1), hinsichtlich des Heilerfolgs auch versprechend (2): (1) dv ſolt aver. ê. di wnden waſchen. mit eziche. oder mit wine. Bartholomäus (wie Anm. 29), Bl. 8ra, 18-20 (2) So div wnde beginnet ſwinden. So nim wegerich. vnde mvle den. […] vnde lege daz da vf. So wirt div wnde linde. vnde heilet doch ſchire. Bartholomäus (wie Anm. 29), Bl. 8ra, 26-Bl. 8rb, 7 Neben Arzneibüchern bieten vor allem Segen medizinische Aspekte: Im Münchener Wundsegen soll die angesprochene Wunde des Menschen genauso heilen wie die Wunden Jesu, dabei werden einige mögliche unerwünschte Reaktionen der Wunde klar benannt: alſo tu o diſiu wnde. diu enblu o t nith ze uil. noch engwinne hitze. noch enſwær. noch enhaetter. noch en fu o el . 30 Diese Form der magischen Wundbehandlung, d. h. die Kombination aus Behandlung und Wortbzw. Handlungszauber, kommt vor allem bei Komplikationen, wie z. B. massiver Eiterentwicklung, zum Einsatz, aber auch zur Blutstillung. 31 Bei den im Münchener Wundsegen aufgezählten Reaktionen der Wunde handelt es sich allesamt um die Heilung stark verkomplizierende oder gar verhindernde Aspekte, die zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen können. 32 Daneben begegnen medizinische Aspekte im höfischen Roman, insbesondere in den Tristanromanen und bei Wolfram von Eschenbach; z. B. reitet Gawan im Parzival von Orgeluse begleitet in eine Heidelandschaft, um eine Heilpflanze zu besorgen, die Stichwunden heilt: 33 30 Münchener Wundsegen - Handschrift 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts - München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23374, Bl. 16va, 27-30; 22,18f.; vgl. Friedrich Wilhelm, Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts , München 1960, S. 52. 31 Zu Komplikationen bei der Heilung vgl. Keil (wie Anm. 6), S. 325f., dort ausführlich zur Gefahr, die von eitrigen Wunden ausgehen kann; vgl. ebd., S. 329, zur magischen Wundbehandlung. 32 Vgl. ebd., S. 329. 33 Wolfram von Eschenbach, Parzival (D) - Handschrift 13. Jahrhundert/ nicht später als 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857; vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe , mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Berlin/ New York 2 2003. Das Wissen über Wunden 45 Si ritten dannen beide v ̂ f eine liehte heide ein chrv o t da ſtende Gawan ſach des wrce er wnden helfe iach Do rebeizte der werde nider zv o der erde er grv o b ſe wider v ̂ f er ſaz Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 33), Bl. 147b, 40-46; 516,21-27 Die Textstelle enthält fachliches Wissen über den Standort der Heilpflanze ( liehte heide ), den die Heilwirkung entfaltenden Pflanzenteil (die Wurzel) und beschreibt die Entnahme durch das Ausgraben. Orgeluse schätzt Gawan schließlich aufgrund seiner Fähigkeit als arzet ein. 34 III.2 Wunden in der Bezugswelt ‘Recht’ Da das Verursachen von Wunden grundsätzlich eine Straftat und damit eine öffentlichrechtliche Angelegenheit ist, 35 werden Wunden in ihrer rechtlichen Relevanz primär in Rechtstextsorten, hier konkret Rechts- und Stadtbüchern, thematisiert. Gegenstand sind auch hier konkrete körperliche Wunden, im Gegensatz zur medizinisch motivierten Fokussierung wird detailliert auf eine Klärung des Sachverhalts hingearbeitet. Hierfür sind diverse Spezifikationen erforderlich, wie z. B. die Entstehung, die Art, die Reaktion und die Beurteilung der Wunde, um schließlich über ein geeignetes Verfahren das Strafmaß festlegen zu können: 36 34 Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 33), Bl. 147b, 49; 516,30. Vor allem in den 1990er Jahren bestand ein reges Interesse an diesen Implementierungen, vgl. die Beiträge von Britta-Juliane Kruse, „Nieswurz und Hirschwurz im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach“, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 279-286; Wolfgang Wegner, „Beobachtungen zur medizinischen Kommunikation in deutschen Dichtungen des Mittelalters“, in: Mediaevistik 11 (1998), S. 113-134; Bernhard D. Haage, „Beobachtungen zur Thematisierung der Medizin in mittelhochdeutscher Dichtung“, in: Zwischenzeiten - Zwischenwelten. Festschrift für Kozo Hirao , hg. von Josef Fürnkäs u. a., Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 159-172; ders., „Der Ritter Gawan als Wundarzt (Parzival 506,5ff.)“, in: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit , hg. von Christa Baufeld, Göppingen 1994 (GAG 603), S. 193-216. 35 Daher kommen auch nur fremdverursachte Wunden in Betracht, selbstverursachte Wunden gelten als Unfall, vgl. Keil (wie Anm. 6), S. 323f. und S. 330. 36 Dabei werden auch Zuständigkeiten geklärt und Kontextualisierungen im Bereich der Vergehen vorgenommen. Wie man vrevel vnde wunden bu e zzen ſol dem rihter ( Schwabenspiegel , Handschrift 23. August 1287 - Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 738 [Lassberger Handschrift oder Codex Lüzelheimeri], Bl. 51rb, 3-5; 98; vgl. Der Schwabenspiegel oder Schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch nach einer Handschrift vom Jahr 1287 , hg. von Friedrich von Laßberg, Tübingen 1840); ſo rihtent ſi durch daz iar/ . wnden/ . haimſuche/ . diupſtal/ . vræfel/ . vnde allen gewalt ( Augsburger Stadtbuch - Handschrift ca. 1276 - München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichsstadt Augsburg, Lit. Nr. 32, als Dauerleihgabe im Stadtarchiv Augsburg, Bl. 14vb, 2-4). 46 Simone Schultz-Balluff Abb. 7: Wissensrahmen zur Bezugswelt ‘Recht’ Mit unmittelbarem Bezug zur Wunde begegnen die rechtsprechende Instanz, der Verursacher der Wunde und der Verwundete, daneben wird auch die Wunde selbst thematisiert. Dementsprechend entfaltet sich das Spektrum der verwendeten Verben: Die rechtsprechende Instanz kann umbe wunden rihten , von wunden sprëchen / reden oder wunden geheizen , der Verursacher kann eine wunde tuon / slahen und für wunden büezen , der Verwundete kann wunden klagen oder ungeklaget lassen, er kann ane wunden stërben , von wunden tôt ligen , die wunde sëlp heilen oder keine wunde haben , die Wunde selbst kann heilen oder ganz belîben , sie kann sich verkêren und man kann sie trocknen lassen. 37 Zwischen diesen vier Agierenden spannt sich 37 Zwar ist im Strafrecht die Heilung von Wunden nicht vorgesehen, dennoch wird die Entwicklung der Wunde sehr genau beobachtet und wirkt sich auf die Rechtsprechung aus; vgl. hierzu Barbara Haupt, „Heilung von Wunden“, in: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters , hg. von Gert Kaiser, München 1991, S. 77-113, hier S. 85. Zudem wird das Fortschreiten der Heilung im Zusammenhang mit der Entlohnung des behandelnden Arztes thematisiert: Der Verursacher der Wunde wird auch dazu verurteilt, die Kosten der gesamten Heilung zu tragen (siehe z. B. Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch - Handschrift nach 1328 - München, Stadtarchiv, Zimelie 1, Bl. 6,47-49; 22; vgl. Freisinger Rechtsbuch , hg. von Hans-Kurt Claußen, Weimar Das Wissen über Wunden 47 der Wissensrahmen auf, der vor allem durch Schlüsselwörter im weiteren Kontext konturiert wird. Die Straftat, das Strafmaß und der Rechtsraum werden jeweils spezifiziert: Die Straftat wird auf der Ebene des konkreten Vergehens ( abgeslagen gelidemæze , hant , vinger , ouge ûzbrëchen , beinschrôt , bluotruns âne wunden ; roufen , slahen , stëchen ) aber auch über abstrakte Formulierungen ( diupstâle , alliu gewalt , heimsuoche , tôtslac , ungerihte , vrevele ) skizziert, der abstrakten Bezeichnung des Strafmaßes ( buoze , büezen ane lîp unde ane guot ) folgt zumeist eine Konkretisierung ( hals / hant abe slahen , aht + Zeitangabe), der Rechtsraum wird sowohl personell (z. B. rihtære , voget ) als auch räumlich (z. B. stat , dorf ) definiert. Rechtlich relevante Zweiwortverbindungen 38 mit wunde skizzieren die Art des Vergehens ( tôtslac unde / oder wunden , vrevele unde wunden , mit wunden oder âne wunden ), auf wunde bezogene Zweiwortverbindungen definieren entweder das Zustandekommen ( slahen unde / oder stëchen , roufen oder slahen ), den Geltungsbereich ( ane lîp unde ane guot ) oder Rechtsprechungsmodalitäten ( ze hût unde ze hâr rihten , in steten oder in dörfern ). Da die Art und Schwere der Wunde das Strafmaß bestimmt, wird dieser Bereich besonders gut umschrieben, im Rechtsbuch Ruprechts von Freising wird bereits über die Überschriften differenziert: 39 (1) Wir ſprechen nu von wunden vnde ab geſlagen Lidern Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch (wie Anm. 37), Bl. 5,39f.; 19 (2) Wir ſprechen mer von wunden. die nicht lem habent Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch (wie Anm. 37), Bl. 6,30; 21 (3) Wir ſprechen mer von wunten di mit waffen geſlagen werdent vnd geſtochen Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch (wie Anm. 37), Bl. 6,57-7,1; 23 Im Bereich der Sachverhaltsdarstellungen herrscht ein berichtender bzw. feststellender Duktus vor, in der Verfahrensanweisung ein direktiver. Sachverhaltsklärung und Kontextualisierung bietet z. B. das Augsburger Stadtbuch (wie Anm. 36), Bl. 19rb, 1-4: Iſt daz ein man den andern wndet/ . daz vor gerihte ein wnde gehaizen mak/ . die man dem vogte fur aine wnde bu e zzet . Es ist unerlässlich, dass die Wunde von einem Wundarzt oder Arzt beschaut und beurteilt wird. 40 Eine für die Rekonstruktion eines Wissensbereichs wertvolle Quelle bieten die sich häufig in Rechtstexten findenden Definitionen, wie z. B. zu vërchwunde : 1941 [Germanenrechte, N. F., Stadtrechtsbücher 1]). Zur Wundversorgung durch ‘gesetzliche Ärzte’ vgl. Keil (wie Anm. 6), S. 330f. 38 Auch ‘Paarformeln’ genannt; zur Terminologie und zum Aufbau vgl. Frauke Thielert, Paarformeln in mittelalterlichen Stadtrechtstexten. Bedeutung und Funktion , Frankfurt a. M. 2016, S. 128-139; vgl. auch Schultz-Balluff (wie Anm. 8), S. 198f. 39 Grundsätzlich wird unterschieden, wo die Wunde zugefügt wurde, d. h. ob regenerierbares Gewebe, die Sinnesorgane, das Hirn, innere Organe oder Knochen betroffen sind, und ob Lebensgefahr besteht. Daneben ist relevant, ob die Wunde offen oder geschlossen (i.S. einer inneren Wunde) ist und ob Blut austritt; innere Wunden sind schwerwiegender; vgl. hierzu Keil (wie Anm. 6), S. 323f. 40 Deutlich wird dies im Fall der Beschau einer exhumierten Leiche beschrieben: ſo ſol man in wider aus graben mit dez pfarrers vrlaup. in des freithof er leit. vnde ſol man im di wunten waſchen/ mit wein vnde mit wazzer. man ſol in auf den rinch tragen. fur daz recht. vnde ſol die wunden. lazzen truchen. vnde ſol man in beſchawen mit einem wunt artzt ob man in hat (Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch [wie Anm. 37], Bl. 113,19-26; 273). 48 Simone Schultz-Balluff waz nu vo e rchwunden ſey daz lazz wir euch wizzen daz iſt in dem. waden niderhalb des chnies. vnde iſt ein dev maus oberhalb. dez Engelpogen vnde iſt ein dem rukke praten. alſo daz man im Lungel vnde Leber ſicht/ vnd iſt ob er wunt wi e rt vor an den pauch. daz im daz gewaide auz get Oder durch daz haupt daz im di hierenſchal. durchel. wi e rt daz haizzent alles vo e rchwunden. Swer der einev ſlecht/ oder mer der ſol di wunden pu e zzen neben der Painſchro e t/ vnde auch mit der choſt vnde dem artzt lonen/ alz wir vor geſchriben haben Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch (wie Anm. 41), Bl. 6,38-49; 22 Ebenso wichtig wie das Vorhandensein ist das Fehlen einer Wunde für die Festlegung des Strafmaßes: Swelher ſlahte ſchulde aíner dem andern tvt/ . ane den tot ſlach/ . vnde ane wnden/ . vnde ane die díupſtal/ . der iſt dem mvnzmaiſter/ níht mer ſchuldik/ danne fívnf ſchillínge/ phennínge nah gnaden Augsburger Stadtbuch (wie Anm. 36), Bl. 18ra, 12-18 Aspekte der Bezugswelt ‘Recht’ werden (fast) ausschließlich in entsprechenden Textsorten verhandelt, in anderen Textsorten werden allenfalls Teilaspekte verarbeitet. Marker, die das diskursive Potenzial erkennen lassen, sind vor allem Zweiwortverbindungen. 41 III.3 Wunden in der Bezugswelt ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ In der Bezugswelt ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ werden neben konkreten körperlichen Wunden in geringem Maß auch imaginierte Wunden bzw. seelische Wunden thematisiert. Grundsätzlich bilden sich zwei konzeptuelle Linien ab: Im Kontext von Macht und Kampf geht es um das Zufügen von Wunden, die mindestens zur Kampfunfähigkeit führen, zumeist aber tödlich sein sollen, 42 im Kontext von Herrschaft und Liebe liegt der Schwerpunkt auf der Behandlung von konkreten Wunden mit dem Ziel der Heilung. Da die beiden Konzeptbereiche mit epischen Textgruppen korrelieren, werden diese im Folgenden getrennt betrachtet. III.3.1 Kampfwunden Es gibt eine deutliche Schwerpunktsetzung der Heldenepik, der Karlsepik und der chronikalischen Texte dahingehend, dass zumeist Wunden mit Todesfolge (1) oder der direkt mit dem Zufügen der Wunde erfolgende Tod beschrieben werden (2): (1) ir iegweder sluch ime ejnen slach zvo uerh wnden ſi liezen in ungeſunden ligen an der erden Straßburger Alexander (wie Anm. 41), V. 3745-3748 41 Diese finden sich nur sehr vereinzelt in der Epik, wie z. B. die Zweiwortverbindung stich unde slac in Wolframs von Eschenbach Parzival (wie Anm. 33), Bl. 10a,42; 20,11, und im Straßburger Alexander , V. 3320 - Handschrift 1. Fünftel des 13. Jahrhunderts - Straßburg, Seminarbibliothek, C. V. 16. 6. 4° (sog. Straßburg-Molsheimer Handschrift [verbrannt]), zitiert nach Deutsche Gedichte des zwölften Jahrhunderts und der nächstverwandten Zeit , hg. von Hans Ferdinand Maßmann, Teil 1, Quedlinburg/ Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 3.1), S. 64-144. 42 So bereits Haupt (wie Anm. 37), S. 109. Das Wissen über Wunden 49 (2) Sie sluogen tiefe wnde Tho mohte man ſcowen Menegen heithenen verhowen Pfaffe Konrad, Rolandslied (A), 43 V. 4524-4526 Insgesamt wird nur sehr selten der Kontext spezifiziert (z. B. offener strît ; dieser liegt zumeist durch das Textthema fest), neben der konkreten Nennung der Akteure wird auch deren Disposition (z. B. manheit ) benannt. Zentralen Raum nimmt die Darstellung der die Wunde verursachenden Aktion ein, daneben werden materielle und qualitative Aspekte ergänzt. Die Spezifikation der Wunde erfolgt über Attribuierungen ( vil grôze , tief unde lanc ) oder entsprechende Komposita (z. B. gêrwunde ). Ein zweiter Schwerpunkt liegt in der Beschreibung der unmittelbaren Konsequenzen für den Verwundeten (z. B. vil kûme entrinnen ) und der letztendlichen Todesfolge (nur sehr selten erfolgt Genesung): Abb. 8: Wissensrahmen zu Kampfwunden in der Bezugswelt ‘Herrschaft und Liebe, Macht und Kampf ’ 43 Pfaffe Konrad, Rolandslied (A) - Handschrift 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts/ 3. Drittel des 12. Jahrhunderts - Straßburg, Stadtbibliothek, ohne Sign. (6) [verbrannt]. Zitiert nach Das Rolandslied des Pfaffen Konrad , hg. von Carl Wesle, dritte, durchgesehene Auflage besorgt von Peter Wapnewski, Tübingen 1985 (ATB 69). 50 Simone Schultz-Balluff Eine etwaige Heilung spielt keine Rolle, da es insgesamt um die Verwundung zur Demonstration militärischer Stärke geht. 44 Dementsprechend erfolgt die Spezifikation der Wunde als besonders groß und tief (1) oder der Verweis auf die hohe Anzahl der zugefügten Wunden (2): (1) Do irhup ſich ein geſtrite do ſlugen wunden wite die ellenden recken mit den ſcharfen ecken Graf Rudolf , 45 Bl. 8, 17f.; 8, 39-42 (2) do ſlvg ir ietwedere vil manige wnden wit ſo rehte chreftechliche er zv o dem kunige dranch daz im daz blv o t von fvzen al vber daz hovbet ſin geſpranch Nibelungenlied C , 46 Bl. 85v, 5-7; 2354,2-4 In den hier zugrunde liegenden Texten ist die Spezifikation der Wunde über Modifikation besonders markant (z. B. allerslahte , manec brëchend , [ harte ] grôz , vil manec , michel , [ manec ] tief , [ manec ] vreissam , wît ). Nur selten werden Wunden ohne Todesfolge dargestellt. 47 III.3.2 Behandlung und Heilung von Wunden Vor allem im höfischen Roman begegnet ein breiteres Spektrum an Wunden: Neben Kampfwunden werden auch Jagdwunden, Operationswunden, innere Wunden und seelische Wunden thematisiert. Als Alternative werden auch Kampfwunden ohne Todesfolge dargestellt: Rywalines ſun Triſtant Eine wunden da enphienc di im an daz leben gienc ydoch gelac er da nicht tot Heinrich von Freiberg, Tristan , 48 Bl. 137va, 22-25; V. 6280-6283 44 „Soweit es sich um weltliche Geschichte handelt, finden Verwundungen nur Beachtung im Zusammenhang mit militärischen Aktionen oder mit Strafaktionen“ (Haupt [wie Anm. 37], S. 84). 45 Graf Rudolf - Handschrift 1. Viertel des 13. Jahrhunderts/ Ende des 12. Jahrhunderts - Braunschweig, Stadtbibliothek, Fragm. 36 [a]; Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 4° Cod. Ms. philol. 184: VII [b]. Vgl. Mittelhochdeutsches Übungsbuch , hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1912 (Germanische Bibliothek I.III.2), S. 54-71. 46 Nibelungenlied - Handschrift 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts/ wohl 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63. Vgl. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch , hg. und übersetzt von Ursula Schulze, Düsseldorf/ Zürich 2005 (dtv 13693). 47 So z. B. im Alexanderlied : ſo ſtach er in mit dem orte / daz an dem ſpere was / daz er der wunden wol genas / oberhalb der bra / da was ter ſtich ketan (Pfaffe Lambrecht, Alexanderlied [ Vorauer Alexander ], V. 1339- 1343 - Handschrift 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts/ 3. Viertel des 12. Jahrhunderts - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276, Bl. 114vb, 10-12; vgl. Lamprechts Alexander , nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen hg. und erklärt von Karl Kinzel, Halle 1884). 48 Heinrich von Freiberg, Tristan (F) - Handschrift 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts - Florenz, Nationalbibliothek, Ms. B. R. 226 (früher: Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Codex Magliabechianus germ. VII 9. 33. Perg). Vgl. Heinrich von Freiberg, Tristan , hg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1982 (GAG 270). Das Wissen über Wunden 51 Insgesamt wird stärker die Heilung als avisiertes Ziel fokussiert 49 ( ze heilen ir wunden ), und markant ist die sachgerechte Versorgung der Wunde durch einen arzat : Zehant wart in bêiden êin rv o we beſcheiden da in gnade vnde gemach zv o ir wunden geſchach arzat gewan her Gawêin im ſelbem vnde in zwêin ze hêilen ir wunden ôvch pflac ir zallen ſtvnden div kvnegin vnde Artvſ deſ bvweten ſi daz ſiechhvs vil vnlange ſtvnt vnz daz ſi waren wol geſvnt Hartmann von Aue, Iwein , 50 Bl. 151v, 5-16; V. 7769-7780 Vor allem in den Artusromanen werden Verwundung und Heilung als Einheit begriffen und dementsprechend thematisiert. 51 Behandelnde sind Angehörige des Hofes, sei es der Ritter selbst, wie z. B. Gawan (1), die Königin (2) oder Frauen, die die Wundversorgung übernehmen (3): 52 (1) mit triwen Gawans hant di wrce v ̂ f di wnden bant Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 33), Bl. 149a, 28f.; 521,21f. (2) nv daz div chungein geſach ſin angeſt al begarwe die wunden vnde ir varwe Nnu erchande ſiz geluppe da ach a[r]mer ſpilman ſprach ſi ſa dv biſt mit geluppe wunt Gottfried von Straßburg, Tristan , 53 Bl. 52vb, 2-7; V. 7772-7777 49 Vgl. die ausführlichen Ausführungen zur Behandlung von Eneas’ Pfeilspitzenwunde bei Haupt (wie Anm. 37), S. 78-82. 50 Hartmann von Aue, Iwein (B) - Handschrift 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 97. Vgl. Hartmann von Aue, Iwein. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch , hg. und übersetzt von Rüdiger Krohn, kommentiert von Mireille Schnyder, Stuttgart 2011. 51 Haupt spricht hier von einer Motivik von „elementar-physischer Verwundung und Heilung“, die sich schon bei Chrétien finde; vgl. Haupt (wie Anm. 37), S. 87f. 52 Haupt verweist darauf, dass „die mittelalterliche Tradition der Kranken- und Verwundetenversorgung durch die benediktinischen Mönche völlig ausgeblendet“ bleibt; vgl. ebd., S. 89. 53 Gottfried von Straßburg, Tristan - Handschrift 2. Viertel des 13. Jahrhunderts/ etwa fünftes Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts - München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51 [= M]; vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan , hg. von Karl Marold, dritter Abdruck mit einem durch Friedrich Rankes Kollationen erweiterten und verbesserten Apparat besorgt und mit einem Nachwort versehen von Werner Schröder, Berlin 1969. 52 Simone Schultz-Balluff (3) Scho e ner ivnchfro v wen zwo den bevalch er in do dazſ im ſine wunden Salbeten vnde bvnden Hartmann von Aue, Iwein (wie Anm. 50), Bl. 108v, 17-20; V. 5613-5616 Eine Wunde kann auch als Motivation für weiteres Kämpfen dienen (1) oder die Kampfkraft unbeeinträchtigt lassen (2): (1) So irmannit ir uon den wundin Vnde geſigit undir ſtundin Athis und Prophilias , 54 Bl. 4vb, 15f.; Bl. 4, 141f. (2) die heten 0ſo e lhe wnden daz ſi doch taten riterſchaft ſi heten lazen niht ir chraft Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 33), Bl. 10a,47-49; 20,16-18 Neben den konkret körperlichen Verwundungen werden auch seelische Wunden thematisiert: Dat wort den vadder was ein ſvert Dat yme gyng ce hercen wert Vnd alſo groſce vvunde ſlu o g Dy er byt an ſin ende dru o g Bruder Hermann, Das Leben der Gräfin Yolanda von Vianden , 55 V. 5683-5686 Zur Darstellung der nicht sichtbaren seelischen Verletzungen wird auf ein Vokabular zurückgegriffen, das aus dem Bereich der konkreten Verwundung stammt; dies schafft eine Äquivalenz der beiden Verwundungsarten und macht zudem die nicht sichtbaren Wunden begreifbarer. Sie erhalten damit hinsichtlich ihrer Relevanz für den Zustand des Menschen den gleichen Status wie die konkreten Wunden. III.4 Wunden in der Bezugswelt ‘Religion und Glauben’ Die sicherlich komplexeste und vielfältigste Ausgestaltung von Wunden zeigen Textstellen und Texte, die der Bezugswelt ‘Religion und Glauben’ angehören. Thematisiert werden konkrete körperliche Wunden ebenso wie imaginierte körperliche Wunden und seelische Wunden. Zu den konkreten körperlichen Wunden zählen die Wunden Jesu im direkten Zusammenhang mit seiner Marter und der Kreuzigung (auch in der Retrospektive), Märtyrerwunden und Wunden von Menschen, bei denen Jesus als Heiler wirkt. Imaginierte körperliche Wunden 54 Athis und Prophilias - Handschrift 3. Viertel des 13. Jahrhunderts - Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. germ. quart. 846 [ABCDEF]; Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Grimm 196 (angebunden) [A*C*]. 55 Bruder Hermann, Das Leben der Gräfin Yolanda von Vianden (M) - Handschrift Ende des 1. Viertels des 14. Jahrhunderts - Luxemburg, Luxemburgische Nationalbibliothek, Ms. 860. Zitiert nach: Bruder Hermann von Veldenz, Leben der Gräfin Yolanda von Vianden. Textgetreue Edition des Codex Mariendalensis , hg. von Claudine Moulin, Luxemburg 2009. - Zum Bereich der seelischen Wunden siehe auch die Beiträge von Annette Gerok-Reiter, Sonja Kerth und Jan Stellmann in diesem Band. Das Wissen über Wunden 53 sind die Wunden Jesu als Wundmale, bei den seelischen Wunden handelt es sich um durch Sünden des gläubigen Menschen verursachte Wunden: Abb. 9: Wissensrahmen zur Bezugswelt ‘Religion und Glauben’ III.4.1 Konkrete körperliche Wunden Detailliert erfolgt die Darstellung der Wunden Jesu im direkten Kontext von Folter und Kreuzigung; verstärkende Attribuierungen ( jamerlîche , sêre ) unterstreichen den nachdrücklichen Charakter (1), die komplexen und differenzierten Aufzählungen produzieren Bildlichkeit (2): (1) du on die nagele ſere bunden an ſinen viere iemerlichen wonden Die Lilie (Versteil), 56 Bl. 43v, 7-9; 20,3f. (2) mit der deylu o ngen ſinre geliedere vnde mit dem vpryſſen ſinre w u o nden vnde alre ſynre aideren vnd afſcheidu o ngen der eideler ſelen van deme lyu o e do Johannes Tauler, Predigten , 57 Bl. 171r, 7-11; 317,18-20 Zum Ausdruck der Intensität wird das Bild von der Wunde in der Wunde und den Schmerzen in den Schmerzen gewählt (markant ist die Dopplung der wichtigen Aspekte): 56 Die Lilie (Versteil) - Handschrift späte 70er oder 80er Jahre des 13. Jahrhunderts - Wiesbaden, Landesbibliothek, Hs. 68. Vgl. Die Lilie. Eine mittelfränkische Dichtung in Reimprosa und andere geistliche Gedichte. Aus der Wiesbadener Handschrift , hg. von Paul Wüst, Berlin 1909 (DTM 15). 57 Johannes Tauler, Predigten (W2) - Handschrift kaum vor dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts - Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2744. Vgl. Sermons de J. Tauler et autres écrits mystiques. I. Le Codex Vindobonensis 2744 , hg. von Adolphe Léon Corin, Liège/ Paris 1924 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 33). 54 Simone Schultz-Balluff do hie an deme cruce heinck da waren wu o nden in wu o nden da waren ſmertzen in ſmertzen Johannes Tauler, Predigten (wie Anm. 57), Bl. 171r,1-4; 317,15-17 Bei der Darstellung der Wunden Jesu werden mit der Perspektivierung des Verursachens das Zufügen und Verstärken, mit der Perspektivierung der Wunde der Zustand und die Aktivität sowie mit der Perspektivierung des Gemarterten das Ertragen der Wunden bis zum Tod thematisiert. Besonders eindrücklich ist die Darstellung des Verschlimmerns der Wunden von Märtyrern; dabei betreffen zahlreiche Handlungen die Wunde, mit denen eine Heilung unterbunden und dadurch die (Schmerz-)Wirkung intensiviert werden soll. Hat die Wunde Objektstatus, drücken dies Verben mit entsprechender Semantik aus, wie z. B. offenen , verniuwen , versêren ([1] und [2]): (1) Dar nach nam her phinnen vnde liez alle ire wunden vornuwen vnde offenen. Hermann von Fritzlar, Heiligenleben (wie Anm. 26), Bl. 12v, 23-13r, 1; 12,29f. (2) vnde liz vnder in legen typhinis ſchirben vnde glaz daz ſine wunden verſeret wurden Hermann von Fritzlar, Heiligenleben (wie Anm. 26), Bl. 105r, 6-8; 71,12f. Die Intensität wird durch komplexe Ergänzungen gesteigert; diese zeigen z. B. die Kombination aus Präpositionalphrase mit wunde , Ergänzung ( bittere dinc , salz ) und Verb ( ersprengen , wërfen ) ([1] und [2]) oder die Kombination aus wunde mit Objektstatus, Verb ( begiezen ) und einer Präpositionalphrase ( mit salze ) (3): (1) do man die zwo pinliche ſlu o g. vnde uf ire wundin bittire ding ſprengite. vnde darna an ein holtz denete. Jenaer Martyrologium (wie Anm. 3), Bl. 59r, 12f.; 51,45-52,2 (2) vnde wurfen yme ſaltz in di wunden Hermann von Fritzlar, Heiligenleben (wie Anm. 26), Bl. 104v, 17f.; 71,6 (3) vnd mit ezche vnd mit ſaltze die vundin begozzin . Jenaer Martyrologium (wie Anm. 3), Bl. 103r, 11f.; 92,44 In erzählenden Textformen, die Märtyrerwunden oder die körperliche Darstellung der Wunden Jesu in Form von Augenzeugenberichten zum Gegenstand haben, herrscht ein berichtender Duktus vor, mit dem die Nähe zum Geschehen und zu der Wunde hervorgehoben wird. Eine mögliche zeitliche Distanz wird zudem abgebaut (sie bleibt aber grundsätzlich durch die Vergangenheitsform bestehen). Die Semantik der verwendeten Verben zeigt ein hohes Maß an Aktivität, mit der die Wunde mit dem Ziel der andauernden Versehrung malträtiert wird. Unterstützt wird dies zusätzlich durch entsprechende Ergänzungen. Das Verschlimmern und Intensivieren der bereits zugefügten Wunde ist für die Teilbereiche ‘Märtyrerwunden’ und ‘Wunden Jesu bei Marter und Kreuzigung’ innerhalb der Bezugswelt ‘Religion und Glauben’ charakteristisch und zeigt sich in dieser Ausprägung in keiner anderen Bezugswelt. Ganz anders ausgerichtet ist die Darstellung von Wunden, bei denen Jesus als der obirſte arzit ( Jenaer Martyrologium [wie Anm. 3], Bl. 106r, 11; 95,34) wirkt; diese bedient sich der eindrücklichen Bildlichkeit aus dem Bereich der konkreten Verwundung, ist aber im übertragenen Sinn zu verstehen: Das Wissen über Wunden 55 Der gotiſ ſu o n bindet dem wnden man ſin wnden ſo er ſprichet nemet di riwe an ivch unde buzet uwer ſunde. Er gîuzet den win in die wnden. ſo er dem ſunder zv ſprichet. Omnis arbor que non facit fructum bonum excidetur et in ignem mittetur Der boum der niht guten w o cher bringet. der wirt vz geſlagen vnde wirt uer brennet. Er ſalbet di wnden mit ole. ſo er daz gute wort ſprichet. Ez nahent daz himelrich. Prager Predigtentwürfe , 58 Bl. 11, 5-11; Bl. 365, 12-16 Über die Darstellung des konkreten Behandelns einer Wunde - verstanden als bzw. verursacht durch die Sündhaftigkeit des Menschen - wird hier die Mahnung Jesu Christi zu einem gottgefälligen Leben verdeutlicht, indem die Behandlungsschritte (verbinden, salben) von entsprechenden Hinweisen begleitet werden (Baumgleichnis, Himmelreich). III.4.2 Imaginierte körperliche Wunden Die Vergegenwärtigung der Wunden Jesu nimmt innerhalb der Bezugswelt ‘Religion und Glauben’ einen zentralen Raum ein. Während alle anderen Wunden für eine körperliche Dysfunktion stehen, werden die Wunden Jesu umkodiert: 59 Nicht Schandmale waren sie, nicht Zeichen von Zerstörung und Deformation des Körpers, sondern im Gegenteil zeigte sich an seinen Wunden die Schönheit und Herrlichkeit Christi. Es erfolgt dahingehend eine Versinnbildlichung der Wunden, dass sie zur „höchste[n] Arznei zur Heilung der Sündenwunden der Menschen“ 60 werden. Mit dieser Änderung in der Perspektive werden auch andere Muster im Prozess der Verbalisierung aufgerufen. Den konkret körperlichen Wunden parallel gestaltet, können die Wunden Jesu auch als Wundmale noch Aktivität zeigen: er zeiget in ſine wunden an den uuzen unde an den henden uil harte ſi blu o tent Frau Ava, Jüngstes Gericht , 61 Bl. 124va, 14-16; V. 243-245 Als Wundmale sind die Wunden zwar noch körperlich, aber nicht mehr unbedingt akut aktiv; sie zeigen allmählich Heilsfunktion 62 (hier in Form der Kraftübertragung): daz her ime craft vnde rat durch ſine vunf wunden wolde geben Graf Rudolf (wie Anm. 45), Bl. 24, 18f.; 24, 34f. 58 Prager Predigtentwürfe (M/ G T 31) - Handschrift 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts/ 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - Prag, Archiv der Prager Burg/ Bibliothek des Metropolitankapitels [früher Bibliothek des Domkapitels], Nr. 1696/ 6. 59 Thomas Lentes, „Der Blick auf den Durchbohrten. Die Wunden Christi im späten Mittelalter“, in: Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne , hg. von Reinhard Hoeps und Richard Hoppe-Sailer, Bielefeld 2014, S. 43-61, hier S. 44. 60 Ebd. 61 Frau Ava, Jüngstes Gericht (V) - Handschrift 4. Viertel des 12. Jahrhunderts - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276. Vgl. Deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhunderts , hg. von Joseph Diemer, Wien 1849, Nachdruck Darmstadt 1968. 62 da erſchein mir vnſer herre in der zelle an der marter mit ſinen funf wunden vnd ſprach zv mir (Christine Ebner, Engelthaler Schwesternbuch [ Von der genaden uberlast ] - Handschrift Mitte oder kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 1338 [N2], Bl. 72, 20-22). 56 Simone Schultz-Balluff Mit der Loslösung von der konkreten Körperlichkeit vollzieht sich eine Umbesetzung, die sich in der sprachlichen Faktur niederschlägt. Parallel zu dem Vorgehen, die konkret körperliche Wunde durch entsprechende Maßnahmen weiter zu versehren, geht es nun darum, die Wunden Jesu geistig präsent zu halten. Eine wesentliche Strategie ist die Verlagerung der Wahrnehmung auf die sinnliche Ebene. Markant ist die Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungsformen, die zugleich diverse Blickrichtungen und damit Kommunikationsrichtungen impliziert: Im Bereich der visuellen Wahrnehmung kann entweder der Mensch seinen Blick auf die Wunde richten (1) oder Jesus provoziert das Angeschaut-Werden (2): (1) blîche ſine vriſche vvunden an. vnde bedenche unſ vvol daran. daz er durch daz din gebot. vnſ ze helfe lâit den tôt. Benediktbeurer Gebet zum Messopfer , 63 Bl. 54va, 1-4; 4,4f. (2) da lat got manege uro v wen ſine wnden ſcho v wen in ſinem heizmu o te berunnen al mit blute Die Hochzeit , 64 Bl. 150r, 9-11; V. 717-720 Die Kontaktaufnahme erfolgt über den Blick und kann z. B. auf der kognitiven Ebene die Verinnerlichung ( bedenken ) zur Folge haben. Die taktile Wahrnehmung setzt einen, wenn auch imaginierten, körperlichen Kontakt voraus, sprachlich wird dieser z. B. über die Verwendung der Präpositionen in oder ane realisiert (1), markant ist die Berührung der Wunden Jesu durch das Küssen (2): (1) ein urchunde gib ich dir nu nim dinen uinger unde lege in in mine wunden unde ſih iz mit den ougen Frau Ava, Leben Jesu , 65 Bl. 121va, 14-17; V. 1977-1980 (2) ſo ſvln wir im kvſſen ſine wnden . Millstätter Predigtsammlung , 66 Bl. 32v, 5f. Das zusätzliche Sehen dieses Vorgangs dient der Wahrheitsbezeugung. Die Aufforderung zum Berühren ( nu nim […] unde lege ) und zum visuellen Vergegenwärtigen ( unde ſih ) der Wunden 63 Benediktbeurer Gebet zum Messopfer - Handschrift 1. Viertel des 13. Jahrhunderts - München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4616. Vgl. Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts , nach ihren Formen besprochen und hg. von Friedrich Maurer, 3 Bde., Tübingen 1964-1970, hier Bd. 2, S. 318, 320. 64 Die Hochzeit - Handschrift um 1200/ frühes 13. Jahrhundert - Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6/ 19. Vgl. Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts , nach der Auswahl von Albert Waag hg. von Werner Schröder, Tübingen 1972 (ATB 72), S. 112-170. 65 Frau Ava, Leben Jesu - Handschrift 4. Viertel des 12. Jahrhunderts - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276. Vgl. Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 398-491. 66 Millstätter Predigtsammlung - Handschrift Mitte des 13. Jahrhunderts/ 1. Viertel des 13. Jahrhunderts - Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. germ. quart. 484 [a]. Vgl. Franz Joseph Mone, „Altteutsche Predigten“, in: Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 8 (1839), Sp. 409-433, 509-530 (mit Teilabdruck). Das Wissen über Wunden 57 ist auf den Wahrnehmenden gerichtet. Über den anweisenden Duktus wird auch die geistige Wahrnehmung ( gehügen ) der Wunde eingefordert: gehúge ôuh mînero uvúnton. dîe íh an démo crûce dúrh díh lêit . Williram von Ebersberg, Hohelied-Kommentar , 67 Bl. 11v, 29-31; 43G,9f. Das gestische Vorzeigen der Wunden durch den Wundentragenden ( der heilant Jesus vil gevvis.- / offin ſtant ſine vvnden. / er zeiget ſie vnverbvndin 68 ) richtet sich ebenfalls auf den Wahrnehmenden und bewirkt damit eine Aktivierung des Schauens sowie zugleich die Aufnahme der Kommunikation. Der körperliche Kontakt kann durch zunehmende Aktivität des Gläubigen intensiviert werden, indem dieser mit seinem ganzen Körpereinsatz zunächst den Baum des Lebens erklimmt und dann in die Wunde Jesu steigt, um von dort aus weiterzuklettern (1), schließlich kommt es zu einer imaginären Wundenvereinigung (2): (1) vnd u o p den bloinden boym clymmen des wirdigen leyu o ens vnd des lidens vns heren Jesu Christi vnd in ſine clairrifitzeirde wu o nden vnd da vort vp clymmen vp den doilden ſinre howirdiger gotheit Johannes Tauler, Predigten (wie Anm. 57), Bl. 82r, 8-14; 119,22-120,3 (2) ſo is dir dat gebraden lamp eyne artzedie. ſine wu o nden leige in die dine vnd die dine leige in die ſine vnde weſſche dich in deme heyſſen bloide ſo wirſtu o eyn nu o we geboren .M. [= Mensch] Johannes Tauler, Predigten (wie Anm. 57), Bl. 171v, 12-17; 317,30-318,2 Die Verschmelzung der Wunden Christi mit denen des Menschen führt dazu, „dass der Betrachter selbst zum Bildkörper wird und in einem Akt der Imitatio die Wunden Christi auch selbst an seinem Körper trägt“. 69 Da imaginierte körperliche Wunden recht häufig Gegenstand von Gebet, Segen oder Predigt sind, wird in diesen auf Kommunikation und Interaktion ausgelegten Texttypen entsprechend ein anrufender (1) oder direktiver (2) Duktus verwendet: (1) hilf mir daz ich uon deme tiuuele werde enbunden durch willen der uinf wunden Vorauer Sündenklage , 70 Bl. 125vb, 42-44; V. 229f. (2) Got wart wnt vmb vnſere ſunte. Die wnden ſuln wir im ſalben mit vnſer andacht . Leysersche Predigten , 71 Bl. 19vb, 17-19 67 Williram von Ebersberg, Hohelied-Kommentar (Br/ B) - Handschrift Ende des 11. Jahrhunderts - Breslau/ Wrocław, Universitätsbibliothek, Cod. R 347. Vgl. The ‘Expositio in Cantica Canticorum’ of Williram, Abbot of Ebersberg 1048-1085. A Critical Edition , hg. von Erminnie H. Bartelmez, Philadelphia 1967. 68 Linzer Entechrist - Handschrift um 1200 oder frühes 13. Jahrhundert/ 12./ 13. Jahrhundert - Linz, Landesbibliothek, Hs. 33, Bl. 178v, 19f.; V. 61,4-6. Vgl. Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts (wie Anm. 63), Bd. 3, S. 361-427. 69 Lentes (wie Anm. 59), S. 57. 70 Vorauer Sündenklage - Handschrift 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts/ 4. Viertel des 12. Jahrhunderts - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276. Vgl. Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts (wie Anm. 64), S. 193-222. 71 Leysersche Predigten (M/ G T 15) - Handschrift 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts/ Anfang des 13. Jahrhunderts - Leipzig, Universitätsbibliothek, Cod. 720. 58 Simone Schultz-Balluff Nicht nur zwischen dem Gläubigen und Jesus besteht ein auf der Wahrnehmung der Marter- und Kreuzigungswunden gründendes Verhältnis, sondern auch zwischen den göttlichen Instanzen: alſe ovct er alle tage ſinen vater. ſine heiligen fvnf wonden. vnz an den ivngiſten dac . Salomons Haus , 72 Bl. 125, 13-16; 447, 3f. Die Darstellung der Wunden Jesu in ihrer Heilsfunktion bedient sich Verben, deren Semantik deutlich die visuelle ( schouwen , sëhen , vorzeigen ), taktile ( vüelen ), gestische ( ougen , wîsen ) und kognitive ( gehügen , niemer vergëzzen ) Wahrnehmung denotieren. III.4.3 Seelische Wunden Ursächlich für die seelischen Wunden ist die Sündhaftigkeit des Menschen und dementsprechend handelt es sich auch um sog. Sündenwunden. 73 Thematisiert wird das gesamte Spektrum von als ursächlich anzusehenden Vergehen sowie verursachenden Subjekten und Objekten, die sich anschließenden leidvollen Folgen, mögliche Behandlungsformen und die erhoffte Erlösung im Sinn des Seelenheils. Dieser Konzeptbereich konturiert sich wesentlich über bildgewaltige Schlüsselwörter im Kontext: Abb. 10: Wissensrahmen zu den ‘Sündenwunden’ Die ursächliche Sündhaftigkeit wird sehr deutlich formuliert, indem die tödlichen Seelenwunden als eine Folge der Todsünden bezeichnet werden (1), allein aufgrund der sehr ähnlichen Silbenstruktur und Lautung erfolgt wohl die nahe Verwendung von ‘Wunde’ und ‘Sünde’ (2): 74 72 Salomons Haus - Handschrift 1278 oder wenig später - Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 876. Vgl. Johann Valentin Adrian, Mittheilungen aus Handschriften und seltenen Druckwerken , Frankfurt a. M. 1846, S. 417-455. 73 Lentes (wie Anm. 59), S. 44. 74 So bereits bei Otfrid von Weißenburg: Iz héilit liuto wúnta joh mánagero súnta (Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch , IV, 10,15 - Handschrift zwischen 863 und 871 - Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2687, zitiert nach Otfrids Evangelienbuch , hg. von Oskar Erdmann, 4. Auflage von Ludwig Wolff, Tübingen 1962 (ATB 49). Das Wissen über Wunden 59 (1) Dat he ſich von ſime ſchepere wendit Vndi uellit in di hovit ſunde dat ſint der ſelen dot vunden Wernher vom Niederrhein, Die vier schiven , 75 Bl. 127r, 19-127v, 1; V. 350-352 (2) Alſe de ſundere beſit ſine ſunden. / Inde ſiner ſelen vreiſame wnden. Rede von den 15 Graden , 76 Bl. 64r, 8f. Die Wunden werden vom Teufel und seinen Werken ( deſ duviliſ ſtu o rm 77 ) verursacht, zum Einsatz kommen konkrete Kampfobjekte ( strâle , swërt ) ebenso wie negative Eigenschaften ( haz , nît ), die den Todsünden zuzurechnen sind. Die Folgen zeigen sich in inneren Verletzungen mit emotivem Gehalt ( hërzeleit , hërzen wunden , trûrec hërze u. a.), konkret körperlichen Reaktionen (z. B. bluoten ) oder eindeutigen Emotionen ( angest , vorhte ). Bei der Darstellung der Behandlung wird auf ein Vokabular aus der medizinischen Wundenbehandlung zurückgegriffen, dies wird jedoch konsequent mit den imaginierten Ursachen (1) bzw. mit den abstrakten erhofften Folgen (2) kombiniert: (1) ſo vnſir herre got alle die wnden virbindit die wir ie von adameſ ſvndon gefrvmeton Züricher Predigten , 78 Bl. 109ra, 19-21 (2) wie uns got allenthalben die wnten wolte er ſalben mit ſinme heiligen geiſte Priester Arnold, Loblied auf den heiligen Geist , 79 Bl. 132vb, 27f.; V. 740-742 Eine Besonderheit sind die sprachlichen Bilder, mit der die Zuwendung seitens der göttlichen Instanz beschrieben wird. 80 Die erhoffte bzw. erwartete Heilung ist ganz eindeutig ein sakramentaler Akt, 81 die sprachliche Gestaltung orientiert sich aber an der Heilung konkreter körperlicher Wunden im medizinischen Bereich und greift dementsprechend auf anerkannte medizinische Sachverhalte zurück, wie z. B. die Wundversorgung mit einer Salbe oder Auflage: ich leite ubir dine wunde diner arbeite alſe ein phlaſter damitte zoch ich dine eiterlichen nezen uz dir. dar nach azte ich dich mit den heiligen tugendin St. Trudperter Hohes Lied , 82 Bl. 23v, 18-21 75 Wernher vom Niederrhein, Die vier schiven - Handschrift 3. Viertel des 13. Jahrhunderts - Hannover, Landesbibliothek, Ms. I 81 (Teil II); vgl. Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts (wie Anm. 63), Bd. 3, S. 435-483. 76 Rede von den 15 Graden (P) - Handschrift vor 1350 - Prag, Bibliothek des Klosters Strahov, Cod. DG IV 17. 77 Wernher vom Niederrhein, Die vier schiven (wie Anm. 75), l. 127r, 17; V. 348. 78 Züricher Predigten - Handschrift Ende des 12. Jahrhunderts, um 1200 - Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 58. 79 Priester Arnold, Loblied auf den heiligen Geist ( Von der Siebenzahl ) - Handschrift 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts/ 4. Viertel des 12. Jahrhunderts - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276. Vgl. Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts (wie Anm. 63), Bd. 3, S. 53-85. 80 Nach der augustinischen Auffassung kommt als Heiler nur Christus in Frage, vgl. hierzu ausführlicher Haupt (wie Anm. 37), S. 86. 81 Vgl. ebd. 82 St. Trudperter Hohes Lied (A) - Handschrift 1. Viertel des 13. Jahrhunderts, aber nicht das erste Jahrzehnt/ ca. 1210-1225 - Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2719 [Handschrift A]. 60 Simone Schultz-Balluff Auch die praktizierte Form der Distanzmagie, bei der ein gesegnetes Wasser zu dem Erkrankten gebracht wird und äußerlich sowie innerlich zur Anwendung kommt, 83 wird metaphorisch verarbeitet, indem das Blut der Wunden Jesu im übertragenen Sinn zum Heilwasser wird, mit dem der Gläubige seine sündige Seele heilen kann: daz plvt ſiner wnten daz iſt ein heilwach der ſvndigen ſele. St. Pauler Predigten , 84 Bl. 162,1-3; 162 Umgekehrt kann die Heilung auch Jesus betreffen, dabei tritt der Gläubige als Heilender auf: daz wir allenthalben mit der ſûzzen ſalben die wnden ſo beſtrichen daz di v fule mu o zze entwichen Priester Wernher, Driu liet von der maget , 85 Bl. 74v, 6-8; V. 4242-4245 Das Wechselspiel des Verwundens und Heilens 86 erfährt in der Beziehung zwischen Maria und Jesus eine besondere Ausformung. Das vonseiten Marias geforderte Küssen setzt die Bereitschaft Jesu voraus, geküsst werden zu wollen; aktiv ist hier die Verwundete, der die Heilswirkung in sich Tragende ist passiv, d. h. erst die Aktivität seitens der Verwundeten löst die (Selbst-)Heilungskräfte aus (1). Da es sich um eine seelische Verletzung handelt, bietet Maria nicht ihre Wunde zum Kuss, sondern über ihre Berührung mit dem Mund nimmt sie die Heilswirkung auf. Im Gegensatz zum deutlichen Ursache- Wirkungs-Prinzip des Küssens, erfolgt das Zufügen der Wunden ausgehend von Maria bei Jesus simultan (2): (1) min ſun. min brudegume Gif mir ce cuſſene dinen munt nit enwirt anderſ mine wnde geſunt […] want mine wnde enwirt nit geſunt ich encuſſe dinen minen munt Rheinisches Marienlob , 87 Bl. 31v, 24-32r, 6; V. 1803-1810 83 Keil (wie Anm. 6), S. 330. 84 St. Pauler Predigten - Handschrift 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - St. Paul im Lavanttal, Stiftsbibliothek, Cod. 109/ 3 (olim Ms. 27.5.26). Vgl. Norman E. Whisnant, The ‘St. Pauler Predigten’ (St. Paul MS. 27.5.26). An Edition , Diss. Chapel Hill 1978. 85 Priester Wernher, Driu liet von der maget (D) - Handschrift 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts/ Anfang des 13. Jahrhunderts - Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. FB 1519/ IX und Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 18065. Vgl. Kurt Gärtner, „Ein bisher unbekanntes Fragment von Priester Wernhers ‘Maria’“, in: ZfdA 101 (1972), S. 208-213. 86 Das Wechselspiel der Verwundung und Heilung thematisiert Lentes für den Christus- und den Betrachterkörper, vgl. Lentes (wie Anm. 59), S. 59. 87 Rheinisches Marienlob - Handschrift 2. Viertel des 13. Jahrhunderts - Hannover, Landesbibliothek, Cod. I 81, Bl. 1-93. Vgl. Das Rheinische Marienlob. Eine deutsche Dichtung des 13. Jahrhunderts , hg. von Adolf Bach, Leipzig 1934 (BLVS 281). Das Wissen über Wunden 61 (2) Den rvwen den die mvter leit dem ſvne nvwe wunden ſneit Rheinfränkische Marien Himmelfahrt , 88 S. 181, 17f.; V. 327f. Der seelische Schmerz Marias - und damit die Seelenwunde, die bildlich durch das Simeonschwert zugefügt wird - schneidet Jesus nvwe wunden . Seelenschmerz und konkrete Wunden sind hier aneinander gekoppelt. Die Seelenwunden des Menschen werden vielfältig kommuniziert: Sie werden an jemanden adressiert (bittender Duktus), sie sind auf sich bezogen und werden im Zwiegespräch formuliert (berichtender oder gelobender Duktus) oder sie werden in Dialogform verhandelt (feststellender oder versprechender Duktus). IV Zusammenfassung Schlaglichtartig wurde mit der vorliegenden Auswertung das aus 333 Belegstellen der Referenzkorpora extrahierte Wissen über Wunden zur Anschauung gebracht: Lexik und Semantik, Kollokationen und Schlüsselwörter, Themenfelder und Bezugswelten sind über Wortwolken und Wissensrahmen strukturiert und dargestellt worden. Dass die eingangs bereits erwähnte Dynamik von Wissen nicht nur einen Niederschlag, sondern einen besonderen Ausdruck in bestimmten Texten und Textsorten findet, hat sich am Beispiel des Wissensbereichs ‘Wunde’ deutlich gezeigt: 89 Sie [die Texte, S. S.-B.] dienen […] nicht nur der materiellen ‘Lagerung’ (bzw. ‘Speicherung’) von Wissen als ‘Aufbewahrungssysteme’, sondern wirken erheblich (und wohl entscheidend) auf es zurück, indem sie es beeinflussen, kombinieren und durch die unzähligen und multilateralen Möglichkeiten des Neu-Arrangements transformieren. Die hier vorgestellten Schaubilder, Wortwolken und Wissensrahmen verstehen sich keineswegs als umfassend, alleingültig oder gar fehlerfrei, denn „ein corpuslinguistisch agierender Ansatz muss manches von dem offen legen, was ein hermeneutischer Ansatz verdecken kann“. 90 Ein ‘glattes Ergebnis’ ist also nicht zu erwarten, vielmehr möchten sich diese Ausführungen als eine Annäherung an den Wissensbereich ‘Wunde’ und das zugehörige Konzept verstanden wissen. Im Sinn einer historisch-semantischen Standortbestimmung ist hier keine Zusammenschau von Wortgeschichte und Lexikoneinträgen vorgenommen, sondern eine Konzeptstudie mit diskursivem Potenzial unternommen worden. Die Schaubilder, Wortwolken und Wissensrahmen können und möchten als Bezugspunkt, Vergleichsgröße und vielleicht auch als Inspirationsquelle dienen, denn 91 88 Rheinfränkische Marien Himmelfahrt - Handschrift 4. Viertel des 13. Jahrhunderts - Gießen, Universitätsbibliothek, Cod. 876, S. 163-272 (Schreiber A2). Vgl. Karl Weigand, „ Marien Himmelfahrt “, in: ZfdA 5 (1845), S. 515-564. 89 Busse (wie Anm. 13), S. 123. 90 Bernhard Jussen, „Historische Semantik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft“, in: Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 2 (2011), S. 51-61, hier S. 59. 91 Haubrichs (wie Anm. 17), S. 103. 62 Simone Schultz-Balluff [g]eht die aktive Kompetenz zur Beurteilung der sprachlichen Grundlagen dieser Texte verloren, so schwindet nicht nur die Erarbeitung kritischer Editionen, es schwindet auch die Möglichkeit der kritischen, primären Beurteilung der Texte und damit des Transfers von an den Originaltexten gewonnenem philologischem Wissen […]. Es hat sich gezeigt, wie innerhalb der Bezugswelten je spezifische Kombinationen der grundlegenden Aspekte (Art der Wunde, Fokussierung und Themenfeld) deutliche Profile zeigen. Die sprachliche Faktur korreliert mit diesen Profilen und zeigt entsprechende Schwerpunktsetzungen, insbesondere im Bereich der Schlüsselwörter (also im weiteren semantischen Umfeld). In texttypen- und bezugsweltenübergreifender Sicht ergeben sich auf der Basis der herausgefilterten semantischen Marker die folgenden Semantisierungsrichtungen: Abb. 11: Semantisierungsrichtungen Das semantische Netz um die Verwendungsweisen der Lexeme ahd. wunti / as. wunda / mhd. wunde spannt sich maßgeblich über die Aktionsrichtungen auf und diese korrelieren wiederum deutlich mit den Bezugswelten, wie die Detailanalysen (Abschnitt III) gezeigt haben. Für das Konzept ‘Wunde’ können die folgenden konzeptuellen Linien angesetzt werden: Das Wissen über Wunden 63 Abb. 12: Konzeptuelle Linien entlang thematischer und inhaltlicher Marker mit Fokussierungsrichtungen und Typenabstraktion Es wird die Aufgabe von vertiefenden Detailanalysen sein, moderne Begrifflichkeiten und Perspektivierungen wie die von ‘Verletzung(en)’ und ‘Unversehrtheit’ in einen Abgleich mit den hier erarbeiteten konzeptuellen Grundlinien, den sprachlichen Realisierungen und den Semantisierungsrichtungen zu bringen, darauf Bezug zu nehmen, sie kontrovers zu diskutieren und gegebenenfalls zu modifizieren oder zu erweitern. Wohnen in der Wunde 65 Wohnen in der Wunde Zu einem passionsmystischen Metaphernkomplex Christoph Huber Ein Abendgebet für Kinder, das im Internet auf zahlreichen Seiten kursiert, bittet Gott um Schutz für die Nacht mit den Zeilen: In deine Wunden schließ mich ein, dann schlaf ich sicher, keusch und rein. Amen . 1 Diesem für ein modernes eudämonistisches Lebensgefühl provokanten Gedanken vom Sich-Bergen und geradezu ‘Wohnen in der Wunde’ möchte ich in einer Reihe von Texten nachgehen, da hier bemerkenswerte Ambivalenzen entworfen und durchgearbeitet werden, die mit den Grundlagen spezifisch christlicher Religiosität und ihrer kulturellen Identität zu tun haben. Verwundung und Unverwundbarkeit werden auf theologischer Basis als zwei Seiten derselben Medaille gedacht und in der Praxis christlicher Frömmigkeit ausagiert. Ich wage mich damit als Literaturwissenschaftler mit meinen textanalytischen und texttheoretischen Methoden auf ein fremdes, in der Forschung uferloses Gebiet. Um mich nicht hoffnungslos zu verzetteln, gehe ich den mit meinen ausgewählten Texten vorgegebenen Denklinien nach und fokussiere besonders die ständige Verquickung vom ‘Wohnen in der Wunde’ mit weiteren Bildvorstellungen. Naheliegende Interferenzen zur Kunstgeschichte, wo die Forschung zur christlichen Bildästhetik neuerdings bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat, werden nicht ignoriert, aber zurückgestellt. 2 Wir blicken zuerst auf eine frühmittelhochdeutsche Dichtung, eine Passage aus der sogenannten Summa Theologiae , die außer in der Vorauer Handschrift noch in zwei weiteren Textzeugen erhalten ist und vor 1120 datiert wird. Das Gedicht spannt einen Bogen vom Wesen Gottes, vom Sündenfall der Engel und der Menschen zur Erlösung durch das Opfer Christi bis zu den letzten Dingen. Im kompositorischen Zentrum des Gedichts stehen vier Strophen zum Kreuz Jesu, deren zweite über die Seitenwunde die folgenden heilsgeschichtlichen Bezüge aufbaut: 3 Adam inslif, sin siti wart ingunnin; Evun wart dannin bigunnin. beinis vesti wib von dem man giwan; mit vleischis brodi wart der wechsil gitan. 1 Anfang des Gebets: Bevor ich mich zur Ruh begeb […] . Im Internet vgl. etwa: http: / / gebete-und-gedichte. de/ 294.html (letzter Zugriff: 1.1.2018). 2 Neuere kunst- und frömmigkeitsgeschichtliche Beiträge werden in den Anmerkungen berücksichtigt. 3 Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts , nach der Ausgabe von Albert Waag hg. von Werner Schröder, Berlin 1972 (ATB 72), Bd. 1, Nr. II, S. 27-42, hier: Str. 16, V. 155-158, S. 36. Eigene Übersetzung: ‘Adam fiel in Schlaf. Seine Seite wurde geöffnet. Eva wurde daraus gebildet. Die Festigkeit des Gebeins gewann die Frau von dem Mann; mit der Hinfälligkeit des Fleisches wurde der Austausch vollzogen’. 66 Christoph Huber Der Schlaf Adams und die Öffnung seiner Seite, aus der Gott Eva erschafft, wird dann in typologische Entsprechung zur Seitenwunde Christi gesetzt, aus welcher die Kirche geboren wird. Das ist altes patristisches Gedankengut, das in der Belegsammlung von Hartmut Freytag repräsentativ zu überblicken ist. 4 Nach Augustinus, der wichtigsten Autorität in der Traditionskette, fließen aus der Seitenwunde die Sakramente der Kirche, welche in bildlichen Darstellungen als Personifikation neben dem Kreuz steht und in einem Kelch Blut und Wasser auffängt. Radikaler ist die Bildformel, in der aus der Wunde selbst die Kirche wie ein Säugling heraustritt. Diese typologische Vorstellung findet sich etwa in der Bible moralisée der Wiener Handschrift Cod. 2554, Bl. 1v (um 1220). 5 Nun macht das Gedicht einen beim ersten Lesen rätselhaften Sprung und fährt fort: invart ouch in sitin du archa was, / in der manchunni ginas . 6 Der Zusammenhang erschließt sich über die Auslegungstradition der Arche Noah, die Augustinus im Gottesstaat im 15. Buch, Kapitel 26, autoritativ vorgezeichnet hat. 7 Die Arche bedeutet hier sowohl die Kirche, die durch das Meer der Zeit fährt, als auch den Leib Christi und den Leib eines jeden Menschen; als exegetischer Topos lässt sich diese Doktrin etwa in der Enzyklopädie des Hieronymus Lauretus (1570) nachlesen. 8 Unsere Passage legt den Akzent auf die invart , das Einsteigen in die Arche, in der die Menschheit das Heil findet. Das konkrete Tertium stellt hier die Tür bereit, die Noah seitlich in den hölzernen Rumpf des Schiffes einbaut, und durch welche seine Familie und alle Tiere das rettende Gefährt betreten. Den präfigurativen Zusammenhang von Evas Erschaffung, der Arche und der Seitenwunde Christi formuliert der karolingische Theologe Alkuin mit Bezug auf das Johannesevangelium (19,34), ‘und einer der Soldaten öffnete seine Seite mit einer Lanze’, wie folgt: 9 ‘Darauf deutete voraus, dass Noe in die Seite der Arche eine Öffnung zu machen befahl, durch welche die Lebewesen eintraten, die nicht durch die Sintflut umkommen sollten, und durch diese wurde die Kirche präfiguriert. 10 Daher wurde die erste Frau geschaffen aus der Seite des schlafenden Mannes, 4 Hartmut Freytag, Kommentar zur frühmittelhochdeutschen Summa Theologiae , München 1970 (Medium Aevum 19). 5 Bible moralisée. Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek , Kommentar von Reiner Haussherr, Übersetzung der französischen Bibeltexte von Hans-Walter Stork, Darmstadt 1998. Siehe das Faksimile Bl. 1v. 6 Summa Theologiae (wie Anm. 3), V. 159f. ‘Das Eindringen in die Seite stellte auch die Arche dar, in der das Menschengeschlecht gerettet wurde’. 7 Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat , aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, 2 Bde., München 1977-1978 (UTB 6087-6088); hier Bd. 2, S. 271-273. 8 Hieronymus Lauretus, Silva Allegoriarum totius sacrae scripturae , Barcelona 1570, fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Köln 1681, Einleitung von Friedrich Ohly, München 1971; hier S. 129, Stichwort Arca . 9 Lateinischer Text PL 100 (1863), Sp. 986A-B, zitiert nach Freytag (wie Anm. 4), S. 107: Hoc praenuntiabat quod Noe in latere arcae ostium facere jussus est, qua intrarent animalia quae non erant diluvio peritura, quibus praefigurabatur Ecclesia. Propter quod prima mulier facta est de viri latere dormientis, et appellata est vita materque vivorum. […] Et hic secundus Adam inclinato capite in cruce dormivit, ut inde formaretur ei conjunx, quae de latere dormientis effluxit. Weitere Parallelen ebd. Eigene Übersetzung. 10 So bereits Augustinus im Gottesstaat (wie Anm. 7), S. 271f.: ‘Und wenn auf der Seite eine Tür angebracht wurde, so weist das offenbar auf jene Wunde des Gekreuzigten hin, als seine Seite vom Speer durchbohrt ward. Denn durch diese Öffnung treten ein, die zu ihm kommen, weil aus ihr die Sakramente entströmten, durch welche die Gläubigen eingeweiht werden’. Wohnen in der Wunde 67 und sie wurde genannt „Leben und Mutter alles Lebendigen“ […]. Und dieser zweite Adam entschlief mit geneigtem Haupt am Kreuz, damit ihm dadurch seine Gattin erschaffen werde [die Kirche], die aus der Seite des Schlafenden herausfloss.’ Der exegetischen Tradition ist zu entnehmen, dass das in der Seitenwunde Jesu zu findende Heil in einer doppelten Richtung gedacht wird. Einerseits fließen aus ihr Blut und Wasser, die als die Heilsmittel der Kirche interpretiert werden, sei es als die beiden Testamente, sei es als die Sakramente. Andererseits bewegt sich die Menschheit wie in Noahs Arche in diese hinein, um, gleichsam in der Wunde selbst, d. h. im Schutzraum der Kirche, an das Ufer des Heils zu fahren. Unüberhörbar enthalten diese Auslegungen gender -relevante Merkmale. So ist es nicht abwegig, wenn man die Öffnungen in Adams und Christi Seite wie auch den Eingang in die Arche mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert. Die Diskussion um die Darstellung der Seitenwunde als vulva , vagina oder auch uterus referiert aus kunstgeschichtlicher Perspektive Silke Tammen. 11 Sie schließt vorsichtig die sexuelle Assoziation für den mittelalterlichen Betrachter nicht aus, wie sie auf verschiedenen Abbildungen geradezu ins Auge springt, und betont die symbolische Relevanz der auch als Mandorla, Auge oder Siegel lesbaren Figur als Zeichen für die Geburt einer anderen, geistlichen Realität bzw. das Eindringen, den Übertritt in diese. Das frühmittelhochdeutsche Gedicht, um dessen ästhetische Gestalt es uns gehen muss (nicht eine exegetische Auffüllung), führt ganz offensichtlich gender -typische Anspielungen für Adam und Christus chiastisch aus. Während Adam dadurch, dass ihm die geöffnete Seite, wie es in Genesis 2,21 heißt, mit Fleisch verschlossen wurde, weibliche Schwäche eintauschte, verkörpert der Christus der Passion selbst das schwache Prinzip, welches durch Passivität der Menschheit Stärke und Heil vermittelt. Der Schluss der Strophe scheint mir mit der Umkehrung der Adam- und Eva-Rollen diese ‘weibliche’ Seite des verwundeten Erlösers anzudeuten, der uns zi vesti mit brodi wart virdeilot (V. 164; ‘der, um uns zu stärken, in Schwäche aufgeopfert wurde’). Diese Sicht bestätigt sich in breiteren Zusammenhängen in Text- und Bildzeugnissen und wird uns unten noch deutlicher begegnen. 12 11 Silke Tammen, „Blick und Wunde - Blick und Form: Zur Deutungsproblematik der Seitenwunde Christi in der spätmittelalterlichen Buchmalerei“, in: Bild und Körper im Mittelalter , hg. von Kristin Marek u. a., München 2006, S. 85-114, hier besonders S. 99f. mit Anm. 39. Vgl. Thomas Lentes, „Nur der geöffnete Körper schafft Heil. Das Bild als Verdoppelung des Körpers“, in: Glaube Hoffnung Liebe Tod , hg. von Christoph Geissmar-Brandi und Eleonora Louis, 2., korrigierte Auflage Wien 1995/ 1996, S. 152-155. Lentes verweist auf den pseudo-tertullianischen Text Adversus Marcionem [Gnostiker des 2. Jahrhunderts, als Irrlehrer eingestuft, Gründer der Markioniten], in dem sich die Formulierung findet: apostolico decurrit Ecclesia verbo ex utero Christi (S. 152a); Lentes verdanke ich auch den Hinweis auf den Traktat Stimulus amoris . Zu diesem grundlegend Falk Eisermann, Stimulus amoris. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzungen, Rezeption , Tübingen 2001 (MTU 118). Einzelnes unten. 12 Vgl. Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages , Berkeley u. a. 1982 (Publications of the Center for Medieval and Renaissance Studies. University of California, Los Angeles 16), hier besonders S. 110-169, zur Mutter-Bildlichkeit Gottes bzw. Christi in zisterziensischen Traktaten; dies., Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion , New York 1991 (dt.: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters , aus dem Amerikanischen von Brigitte Große, Frankfurt a. M. 1996 [edition suhrkamp 1731, N. F. 731]); gekürzte Fassung, hier breit gestreute Belege zum weiblichen Leib Christi bzw. zur Geschlechtermischung in Text- und Bildzeugnissen, S. 73-94; zur typologischen Gegenüberstellung der Erschaffung Evas und der Geburt der Kirche aus der Seitenwunde, S. 77f. 68 Christoph Huber Die heilsgeschichtliche Sicht, welche die Erlösung der Menschheit in einer Arche des Heils konzipiert, die in der Wunde sozusagen durch das Meer der Weltgeschichte fährt, wird auf einer historisch späteren Stufe in Texten des 12. Jahrhunderts durch eine subjektive Perspektive abgelöst. Wir verfolgen das in einer Passage des Zisterzienser-Abts Aelred von Rievaulx in Yorkshire (ca. 1110-1167), eines herausragenden englischen Mystikers des 12. Jahrhunderts, der mit dem wenig älteren Bernhard von Clairvaux im Austausch stand. In der Schrift De institutione inclusarum , die Aelred seiner als Inkluse lebenden Schwester widmete, gibt er Anleitungen zur Meditation der Stationen des Lebens Jesu, darunter auch der Passion. Zur Seitenwunde schreibt er in einer stark verdichtenden Klitterung von Bildvorstellungen: 13 ‘Da öffnete einer der Soldaten seine Seite mit einer Lanze, und es flossen Blut und Wasser heraus. [ Joh 19,34] Eile, zögere nicht, iss die Wabe mit deinem Honig, trink den Wein mit deiner Milch. Das Blut wird dir in Wein verwandelt, damit du dich berauschst, in Milch das Wasser, damit du dich nährst. Es sind dir im Felsen Flüsse entsprungen, in seinen Gliedern Wunden, und im Schutzwall seines Körpers eine Höhle, in denen du dich wie eine Taube birgst und alle [Wunden] einzeln küsst. So mögen dir deine Lippen wie ein Tuch scharlachrot werden und deine Rede süß.’ Der in seiner sprunghaften Metaphorik poetisch anmutende Text verdankt diese Qualität einer Klitterung hauptsächlich von Hohelied -Zitaten, die im Apparat von Hoste und Talbot nachgewiesen sind. Anknüpfend an den Passionsbericht Joh 19,34 wird die Inkluse nach Ct 5,1f. zum Verspeisen von Honig aus der Wabe, von Wein und Milch aufgefordert, die exegetisch auf das Wort Gottes bezogen werden. Die aus dem Felsen hervorbrechenden Wasserströme bauen eine Wendung von Ps 78,16 ein: ‘er ließ Bäche aus dem Felsen kommen, daß sie hinabflossen wie Wasserströme’. 14 Damit ist nicht nur das Fließen aus der Wunde überdimensional gesteigert, sondern mit dem Fels die Brücke zum nächsten, im Ablauf früheren Hohelied -Zitat (2,13b) gebaut: ‘Steh auf, meine Freundin, meine Braut, und komm, meine Taube in den Höhlen des Felsens, im Loch der Mauer’. 15 Die Tradition der Hohelied -Auslegung bezieht genau diese Stelle auf die Seitenwunde Jesu. Das kann belegt werden mit dem karolingischen Theologen Haimo von Auxerre († ca. 878), der Hauptquelle für den mit einem komplexen Layout versehenen Cantica -Kommentar des 13 Aelred von Rievaulx, De institutione inclusarum , hg. von Anselm Hoste und Charles H. Talbot, Turnhout 1971 (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 1), hier S. 671, Z. 1187-1194: Tunc unus ex militibus lancea latus eius aperuit, et exiuit sanguis et aqua (Joh. 19,34). Festina, ne tardaueris, comede fauum cum melle tuo, bibe uinum cum lacte tuo. Sanguis tibi in uinum uertitur ut inebrieris, in lac aqua mutatur, ut nutriaris. Facta sunt tibi in petra flumina, in membris eius uulnera, et in maceria corporis eius caverna, in quibus instar columbae latitans et deosculans singula ex sanguine eius fiant sicut uitta coccinea labia tua, et eloquium tuum dulce . Eigene Übersetzung. Als Beleg für die Deutung von Blut und Wasser aus der Seitenwunde als Wein und Milch erscheint die Stelle bei Bynum, Jesus (wie Anm. 12), S. 123. Zur Assoziierung des Blutes Christi mit der mütterlichen Milch Bynum, Fragmentierung (wie Anm. 12), S. 76; nach medizinischer Anschauung der Zeit entsteht die Milch aus dem Blut der Mutter, ebd., S. 77. 14 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Württembergische Bibelanstalt , Stuttgart 1968, S. 688. 15 Williram von Ebersberg, Expositio in Cantica Canticorum und das ‘Commentarium in Cantica Canticorum’ Haimos von Auxerre , hg. und übersetzt von Henrike Lähnemann und Michael Rupp, Berlin/ New York 2004; hier Bibeltext, S. 61. Wohnen in der Wunde 69 Williram von Ebersberg († 1085). Die einschlägige Stelle lautet in der Übersetzung von Lähnemann und Rupp: 16 ‘Wenn der Fels Christus ist, nach dem, was der Apostel sagt „Der Fels aber war Christus“, sind die Höhlen des Felsens die Wunden, die er zu unserem Heil am Kreuz empfing, nämlich die Verletzungen der Nägel und der Lanzenstich. In diesen Höhlen verweilt also die Taube [ moratur ], das ist die Kirche, weil sie alle Hoffnung ihres Heils auf das Leiden ihres Erlösers setzt. Dort verbirgt sie sich sicher [ secura delitescit ] vor den Nachstellungen der bösen Geister wie vor der Räuberei des Sperbers; dort nistet sie [ nidificat ], d. h. brütet sie die Brut guter Werke aus.’ Bei Williram heißt es: íh dîn stêin unte véste bín, gehúge ôuh mînero wúnton, dîe íh an démo crûce dúrh díh lêit, quæ per foramina petræ intelleguntur. 17 Die folgende Erwähnung der Höhlung in der Mauer der Weinberge legen Haimo und mit ihm Williram auf den Schutz der Engel aus, während Aelred sie weiterhin auf den geschundenen, durchlöcherten Leib Christi bezieht. Das Fließen aus der Wunde heraus hat sich so in eine Bewegung in diese hinein umgekehrt. Die Inkluse, die nun bereits in der Wunde bzw. den zahlreichen Wunden wohnt, nähert sich weiter an, indem sie diese alle küsst. Ihre Lippen färben sich rot wie ein blutgetränktes Tuch, das greift voraus auf Ct 4,3, ‘wie ein scharlachfarbenes Band sind deine Lippen und deine Rede ist süß’, aber schließt auch an die in 2,14b folgende Bemerkung an, ‘denn deine Stimme ist süß’. 18 Damit strömt in einem erneuten Richtungswandel analog zum Blutschwall der Wunden aus dem Mund der Nonne die begeisterte Rede, die in der Exegesetradition auf die von der Passion redenden Prediger und Lehrer der Kirche bezogen wird - ein Bezug, den Aelred nicht explizit macht, wohl aber Willirams althochdeutsche Paraphrase. 19 Deutlich ist so der frömmigkeitsgeschichtliche Wechsel von einer allgemein heilsgeschichtlichen, ekklesiologischen Deutung der Kontexte zur brautmystischen Applikation vollzogen. Die Zitat-Klitterung generiert dabei eine wahre Bilderflut, in der die metaphorischen Felder und die Perspektiven auf den Gekreuzigten wie die suggerierten Rollen der Braut ständig wechseln, was eine geschlossene diskursive Auslegung des Motivkomplexes ausschließt und Deutungen in divergente Richtungen eröffnet. Die Auslegung der Cantica -Stelle von den Tauben in den Felshöhlen (2,13f.) wird von Bernhard von Clairvaux in den Hohelied -Predigten 61 und 62 breit entfaltet. 20 Im Kielwasser der Hohelied -Kommentatoren geht Bernhard von einem Stichwort zum nächsten weiter und reichert seine Ausführungen mit einer Fülle von Bibelzitaten an. Dabei lässt sich eine permanente Metamorphose der Bildvorstellungen feststellen, die auch unsere Metapher vom Wohnen ergreift, gleichzeitig schreitet eine markante theologische Reflexion voran. 16 Ebd., S. 60. Lateinischer Text: Si petra est Christus, iuxta quod Apostolus ait, ‘Petra autem erat Christus’, I Cor 10, 14, foramina petræ sunt vulnera quæ pro salute nostra in cruce suscepit, fixuræ videlicet clavorum et lanceæ percussura. In his ergo foraminibus columba, id est Ecclesia, moratur, quia totam spem salutis suæ in passione sui Redemptoris constituit. Ibi ab insidiis malignorum spirituum quasi a raptu accipitris secura delitescit; ibi nidificat, id est fetus bonorum operum congerit. 17 Ebd., S. 60. Für die mittelalterliche Präsenz unseres Cantica -Passus spricht sein Auftauchen bei Hieronymus Lauretus (wie Anm. 8) unter der Stichwort-Gruppe Foramen, Perfodere, Perforare, Pertusum (S. 462). 18 Lähnemann und Rupp (wie Anm. 15), S. 96f.; 62f. 19 Ebd., S. 96: dîe kúndent démo lûite dîe rôte mînes blûotes, da mít íh sîe erlôsta, unte sîe sint ôuh ardentes in fraterna dilectione, álse cóccus brínnet in suo colore. 20 Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/ deutsch , hg. von Gerhard B. Winkler, Bd. 6, Innsbruck 1995, Sermo 61, S. 148-153; Sermo 62, S. 154-161. 70 Christoph Huber Zum ersteren: Nachdem Bernhard den Rückzug in die Felshöhlen und Mauerritzen quasi-literal auf die spirituale, keineswegs fleischlich-sündhafte Vermählung von Braut und Bräutigam bezogen hat, die schamvoll die Heimlichkeit suchen, folgt die Allegorese: ‘Ein anderer 21 legte diese Stelle so aus, daß er die Felsenspalten als die Wunden Christi deutete’. 22 Nun wechselt der Prediger die Vorstellung über eine Reihe von Schriftzitaten. Er führt aus, dass man auf [! ] dem Felsen in Sicherheit sei und (nach Mt 7,24) dort sein Haus bauen solle: ‘Auf dem Felsen bin ich erhöht, auf dem Felsen bin ich sicher, auf dem Felsen habe ich festen Stand’. Der Felsen sei von der Erde erhöht, ‘unser Wandel soll im Himmel sein, und wir fürchten weder zu fallen noch hinabgestoßen zu werden’. In einem abermaligen Bildbruch (über Ps 103,18) findet der Exeget erneut zurück zur Vorstellung von Sicherheit im Felsen: ‘Und wirklich, wo findet sich sichere und feste Ruhe für die Schwachen, wenn nicht in den Wunden des Erlösers? Dort wohne ich [ habito ] umso sicherer, je mächtiger jener ist, Heil zu bringen. Die Welt rast, der Leib ist eine Last, der Teufel lauert: ich falle nicht, denn ich bin auf [! ] einem festen Felsen begründet’. 23 Die Ruhelosigkeit in der Bildsprache, die immer wieder das Wohnen zitiert aber mit wechselnder Metaphorik kombiniert, durchzieht auf diese Weise den ganzen Text. In der theologischen Reflexion sind Schwerpunkte die Erlösungstheologie und die Rechtfertigung des Sünders. Bernhard deutet in aller Kürze die soteriologische Relevanz der Wunden Christi an, durch die stellvertretend die Sünden der Menschheit gesühnt, ‘geheilt’ worden seien. Er verweist hier auf eine Schlüsselstelle im Alten Testament, Jes 53,5, wo es vom Gottesknecht, dem Mann der Schmerzen, heißt: ‘Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt’. 24 Diese Worte bieten nicht nur eine Referenz für zentrale neutestamentliche Texte, 25 sondern zeichnen sich auch durch ihre Präsenz in der Karfreitagsliturgie aus. In einem Abschnitt, der nach dem Editor Gerhard B. Winkler zu den exponierten Herz-Jesu-Passagen in Bernhards Werk zählt, 26 leitet er daraus die Hoffnung des Sünders, und zwar einzig auf das Erbarmen und die Gnade des Herrn, ab. Dazu die Bilder: Die durchbohrten Glieder laden den Sünder ein, Honig aus dem Felsen und Öl aus dem Gestein zu saugen. An die Speisemetapher fügt sich sofort die Schlüssellochmetapher: Durch die Öffnungen sei es möglich, in das Innere Christi zu schauen, seine Güte, sein Erbarmen und seine überfließende Gnade wie Licht zu erkennen: ‘Mein Verdienst ist somit das Erbarmen des Herrn’ [ Meum proinde meritum, miseratio Domini ]. 27 Es klingt geradezu präreformatorisch, wenn Bernhard betont, dass Gerechtigkeit einzig von Gott her zu denken sei. Diese Erkenntnisse seien in den Felshöhlen als Schätze hinterlegt; ‘er hat uns sogar durch die geöffneten Höhlen in das Heiligtum eingeführt. Wieviel Süßigkeit findet sich in ihnen, welche Fülle der Gnade, welche Vollendung der Tugenden! ’ 28 Daneben stehen aber auch klassische ekklesiologische Auslegungen, und es wird an die Sakramente Taufe und Beichte als Zugänge zum 21 Winkler (wie Anm. 20) verweist im Apparat seiner Edition (S. 149 zu Z. 20) auf Gregorius, Hohelied -Kommentar ( PL 79 [1862, Nachdruck 1960], Sp. 499D); die Deutung gilt für die spätere Tradition. 22 Bernhard (wie Anm. 20), S. 149f. 23 Ebd., S. 150f. 24 Bibelübersetzung (wie Anm. 14), S. 839; zitiert von Bernhard im Sermo 61 (wie Anm. 20), S. 150, Z. 12. 25 Rom 4,25; 1 Petr 2,24. 26 Bernhard (wie Anm. 20), S. 637, Anm. 52. 27 Ebd., S. 151, Z. 7. 28 Ebd., S. 151f. Wohnen in der Wunde 71 Heil erinnert. Die Heiligen und vor allem die Märtyrer seien es, die ganz besonders in den Wunden des Heilands Schutz und Stärke fanden. Wir folgen nun den mäandrierenden Betrachtungen der zwei Predigten nicht weiter und halten fest, dass der metaphorische Raum der Wunde ständig mit anderen Bildfeldern verquickt und keineswegs statisch behandelt wird. Es gibt das Eindringen durch den Blick oder die totale Immersion. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass die Höhlen in den Fels von der Seele durch geistliche Übungen wie Kontemplation und Gebet erst gegraben werden müssen. 29 Die Seele (auch das Kollektiv der Kirche) 30 verschafft sich Anteil am Leiden des Heilands, und letztlich ist ihr Bemühen stets darauf abgestellt, den Umschlag zu vollziehen, der das eigene Leiden wie das Leiden Christi zurück lässt, um Stärkung und Sicherheit zu finden, um Erquickung (‘Süßigkeit’) zu kosten. Die Erniedrigung schlägt um in Jubel und Triumph. 31 Die Wohnung in der Wunde ist Durchgangsort für den Sieg Christi und den Weg der Seele zu ihrer himmlischen Wohnstatt, dem caeleste habitaculum . 32 Bereits die erste Allegorese der Felslöcher als Wunden Christi steuert darauf zu: ‘Gut sind die Spalten, die den Glauben an die Auferstehung und die Gottheit Christi festigen’. 33 Zweifellos sind Bernhards Schriften ein locus classicus für die spätere Rezeption unseres Themas. Dem können wir hier nicht systematisch nachgehen, aber es zeichnet sich ab, dass die Belege, die sich auf die Frömmigkeitskultur der verschiedenen Orden verteilen und dort eigene Profile bilden, sehr zahl- und variationenreich sind. 34 Mitunter finden sich spektakuläre metaphorische Überformungen. Die Wundmale Christi können mit der historisch zweifelsfreien Kreuzigung nur als reale verstanden werden, von denen aber in der bereits überformten Überlieferung der Evangelien nur wenig Konkretes zu erfahren ist. Darüber hinaus erschafft 29 Ebd., Sermo 62 (wie Anm. 20), S. 155f. 30 Ebd., S. 149, Z. 15-17. 31 Z.B.: ausführliche Schilderung des psychischen Umschlags beim Martyrer, Bernhard (wie Anm. 20), S. 153, Z. 5-15. 32 Vgl. ebd., S. 155, Z. 5-8. 33 Ebd., S. 149, Z. 21f.: Bona foramina, quae fidem astruunt resurrectionis, et Christi divinitatem. Oben von Winkler abweichende eigene Übersetzung. 34 Vgl. Tobias A. Kemper, Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliches Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters , Tübingen 2006 (MTU 131). Belege zum Motiv des Lanzenstiches: „Unter Berufung auf Bernhard von Clairvaux fordert der Verfasser des Traktats [ Scitis, quia post biduum pasca fiet , 15. Jahrhundert, vgl. Katalog S. 133-136] die Seele, die nach Ruhe verlangt, dazu auf, sich Taubenfedern zu nehmen, in die Seitenwunde zu fliegen und dort zu nisten“ (S. 435, Verweis auf Ct 2,14). Oder „Ludolf von Sachsen [ Vita Christi , Mitte des 14. Jahrhunderts, vgl. Katalog S. 136-140] bezieht sich im Zusammenhang mit der Seitenwunde auf das Fenster der Arche und die Taube im Felsennest“ (ebd.). Dies auch volkssprachlich in den Vierzig Myrrhenbüscheln vom Leiden Christi (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, Katalog: S. 159-163), zitiert ebd. Zur gleichen Tradition besonders im zisterziensischen Umkreis vgl. Stephen Mossman und Nigel Palmer, „Ulrich der Johanniter vom Grünen Wörth and his Adaptation of the Liber amoris . A Critical Edition of the Hoheliedpredigt and of its German Precursor Die Höhenflüge der Seele “, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg , hg. von Felix Heinzer und dens., Berlin/ Boston 2012, S. 469-520, hier S. 478f.; „The idea of entrance into Christ’s wounds is encountered frequently elsewhere in Tauler’s sermons […], and itself reflects a Cistercian inheritance“ (S. 481, mit Belegen in den Anmerkungen). Die nach der Vorlage der Höhenflüge eingearbeitete Passage der Hoheliedpredigt Ulrichs beschreibt den Aufstieg der Seele der Nonne, die als Sperber einen allegorischen Kreuz-Baum erklimmt und sich in den fünf Wunden Christi birgt, um sich später zur unio in die Lüfte zu schwingen. An fünfter Stelle steht allerdings nicht die Seitenwunde, sondern die Verletzung durch die Dornenkrone (Text Ulrichs, S. 506f.; Text der Höhenflüge , S. 516f.). 72 Christoph Huber sich die passionsmystische Meditation sekundär Vorstellungen vom gemarterten Leib des Herrn. Systematisch wird eine Zahl von über 5000 Wunden deduziert und der Christuskörper von einer Stelle zur anderen abgeschritten. 35 In diesem Prozess setzen die metaphorischen Verformungen ein. Der englische Mystiker Richard Rolle, der Eremit von Hampole (14. Jahrhundert), vergleicht in seinen volkssprachlichen Passionsmeditationen den zerfetzten Körper Jesu mit dem Sternenhimmel, wo aus der Dunkelheit die Sterne leuchten; er vergleicht ihn auch mit einem Netz, in dem die Wunden die Löcher bilden, mit einem Taubenschlag, einem Bienenkorb, mit einem mit roter Tinte geschriebenen Buch, wobei mit jedem Bild spezifische Auslegungen und Bitten an Jesus verknüpft werden. 36 Eine der umfangreichsten und eindringlichsten Ausführungen der Metapher vom ‘Wohnen in der Wunde’, um die dieser Beitrag als Zentrum kreist, findet sich in der einflussreichen franziskanischen Erbauungsschrift Stimulus amoris , die in einer Fülle von Handschriften in mehreren Erweiterungsschüben lateinisch überliefert ist und auch in volkssprachlichen Bearbeitungen bis in die Neuzeit außerordentliche Verbreitung fand. 37 Wir zitieren im Folgenden die Passage vom Eintreten in die Wunden Christi und vom Aufenthalt in diesen in der ältesten Version, einer Kurzfassung vom Ende des 13. Jahrhunderts, die Jacobus von Mailand zugeschrieben wird. 38 In den erweiternden und das gesamte Material umstellenden Fassungen tritt sie ziemlich an den Anfang des Werkes unter dem Gesichtspunkt, ‘auf welche Weise der Mensch gerne das Leiden Christi betrachten solle, und warum das nützlich für ihn sei’. 39 Geradezu aberwitzig sind die Phantasien vom Eindringen in die Wunden, die schließlich die Form eines Uterus Christi annehmen. Die oben zitierte Vorstellung von der Geburt der Kirche aus der Seite erscheint hier in krassen Details auf die Christusliebe der Einzelseele übertragen: 40 35 Mnemotechnische Aspekte bei Jill Bennett, „Stigmata and the Sense of Memory“, in: Art History 24 (2001), S. 1-16. 36 Richard Rolle, English Writings , hg. von Hope E. Allen, Oxford 1931, Nachdruck 1979, S. 32-36. 37 Vgl. oben, Anm. 11. Charakterisierung der Schrift bei Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 2, München 1993, S. 373-537. Zu den Versionen siehe Eisermann (wie Anm. 11), S. 4f.; zu Datierung und Verfasserschaft ebd., S. 11f. 38 Stimulus Amoris fratris Iacobi Mediolanensis [Bonaventuras Schüler Jacob von Mailand] . Secundum codices mss. emendata et denuo edita a PP. collegii S. Bonaventura , Quaracchi 2 1949 (Bibliotheca Franciscana ascetica 4). Die Ausgabe entspricht nicht den heutigen philologischen Anforderungen. Sigle der Version: st.a.minor (Eisermann [wie Anm. 11], S. 4). 39 Ausgabe: Schriften Johanns von Neumarkt , hg. von Joseph Klapper, Teil 3: Stachel der Liebe. Übersetzung des Liber, qui dicitur Stimulus Amoris , Berlin 1939 (Vom Mittelalter zur Reformation 6, 3. Teil). - Die Ausgabe enthält parallel Johanns frühneuhochdeutsche Übersetzung und die lateinische Fassung st.a.maior I (vgl. Eisermann [wie Anm. 11], S. 1 mit Anm. 1 und S. 4). Kaum Textabweichungen zum st.a.minor . 40 Lateinischer Text nach Klapper (wie Anm. 39), S. 11-13: O amatissima vulnera Domini nostri Ihesu Christi! Nam, cum ea quadam uice oculis subintrarem apertis, ipsi oculi sunt sanguine repleti. Sed quia nichil aliud vidi, cepi ingredi manu palpans, donec perueni ad intima viscera caritatis sue, quibus vndique circumplexus reuerti nequivi. Ideoque ibi habito et, quibus uescitur cibis, uescor ac inebrior suo potu. Ibi habundo tanta dulcedine, ut non ualeam enarrare. Et qui prius fuerat in vtero virginali pro peccatoribus, nunc dignatur me miserum intra sua viscera comportare. Sed multum timeo, ne ueniat partus eius et ab illis delicijs excludar, quibus fruor. Certe, et si me pepererit, debebit sicut mater lactare uberibus, leuare manibus, portare brachijs, ore osculare, fouere gremijs. Aut quid faciam, explanabo. Certe, scio, quod semper sunt vulnera aperta. Ideo per ea in eius vterum iterum introibo. Et hoc tociens replicabo, quousque ero sibi inseparabiliter conglobatus . Oben eigene Übersetzung. Wohnen in der Wunde 73 ‘O heißgeliebte Wunden unseres Herrn Jesus Christus! Denn als ich sie gleichsam mit geöffneten Augen betrat, wurden die Augen selbst mit Blut gefüllt. Weil ich aber nichts mehr sah, begann ich mich mit der Hand hinein zu tasten, bis ich in die innersten Eingeweide seiner Liebe vordrang, durch die ich von allen Seiten umfangen wurde, so dass ich nicht zurückkehren konnte. Und so wohne ich dort [ ibi habito ] und ernähre mich von den Speisen, von denen er sich ernährt, und berausche mich an seinem Trank. Dort fließe ich über von solcher Süßigkeit, dass ich es nicht erzählen kann. Und er, der vorher für die Sünder im Leib der Jungfrau war [ in vtero virginali ], gewährt es jetzt mir Elendem, mich zwischen seinen Eingeweiden zu tragen. Aber ich fürchte sehr, dass die Zeit seines Gebärens komme, und dass ich von diesen Seligkeiten ausgeschlossen werde, die ich genieße. Sicher, auch wenn er mich geboren hat, wird er mich wie eine Mutter an seinen Brüsten nähren müssen, auf seinen Händen halten, auf seinen Armen tragen, mit seinem Mund küssen und im Schoß wärmen. Ich will erklären, was ich da sonst noch machen werde. Ich weiß ganz sicher, dass seine Wunden immer offen sein werden, und so werde ich erneut in seinen Leib [ in eius vterum ] eintreten, und das werde ich so oft wiederholen, bis ich mit ihm untrennbar verschmolzen bin.’ An einer anderen Stelle wird der versehrte Körper als Berg vorgestellt, den die Seele ersteigt, um sich in der Seitenwunde wie in einer Schutzhütte zu bergen. 41 Während hier im franziskanischen Umfeld der Umgang mit der Passion Christi in die ungenierte Fleischlichkeit von Geburt, Stillen an der Mutterbrust und symbiotische Körpernähe und in eine Inkorporation übersetzt sind, die nicht primär sexuell verstanden wird, 42 betreibt die Verbildlichung auf anderen Wegen eine Dresdener Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert, die Henrike Lähnemann ans Licht gezogen hat. 43 Die Handschrift stammt aus einem der Zisterzienserinnenklöster im Umkreis von Lüneburg, ist von einer Nonne für Nonnen geschrieben und enthält über die Fastenzeit verteilte lateinisch-niederdeutsche Passionsandachten, unter anderem eine Meditationsanleitung, welche die Annäherung an das Kreuz als die allegorische Besteigung eines Apfelbaums gestaltet. Die Nonne klettert den auch mit Rosen, Lilien und Weinranken bewachsenen Apfelbaum empor, der in verschiedenen Nischen zum Aufenthalt einlädt: ‘O Braut Christi, untersuche die Aushöhlungen dieses allerheiligsten Baums, und setze dein Nest in seine Höhlen, denn hier hat der Spatz sein Haus gefunden und die Taube ein Nest für sich, um ihre Jungen zu brüten’. 44 Wir haben das Zitat aus Ps 83,3 im Zusammenhang mit der Auslegung zu Ct 2,14 kennengelernt. Zur Seitenwunde des Gekreuzigten heißt es weiter: ‘Steig dann bis zur halben Höhe, wo du die Quelle der Barmherzigkeit des lebendigen Wassers findest, das aus dem Tempel von der rechten Seite hervorgeht; darein 41 Stimulus (Ausgabe Quaracchi, wie Anm. 38), Kapitel XXIII: Geistlicher Aufstieg: Qui vult per contemplationem venire ad summitatem montis Dei (S. 126); töricht sei, wer in die Täler absteigt, um sich auszuruhen in peccatorum sive vanitatum vallibus (S. 128); Si in monte aliquid timueris, curras ad cavernam lateris Christi (S. 129; Ende des Textes der Ausgabe). 42 Vgl. oben Anm. 11 und 12. Ferner: Caroline Walker Bynum, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe , New York 2011, zu einer nicht auf sexuelle Vereinigung fixierten Konzeption der ‘Weiblichkeit’ Christi S. 197. 43 Henrike Lähnemann, „Armbrust und Apfelbaum. Eine lateinisch-niederdeutsche Hoheliedauslegung (Mscr. Dresd. A 323)“, in: Gedenkschrift Christoph Gerhardt (im Erscheinen, Zitierung nach dem Manuskript). Ich danke Henrike Lähnemann für die Bereitstellung des Aufsatzes vor seiner Veröffentlichung. - Zum zisterziensischen Umkreis oben, Anm. 34. Die Kreuzbaum-Allegorie findet sich auch in der Hoheliedpredigt Ulrichs des Johanniters und in deren Quelle, den Höhenflügen der Seele (ebd.). 44 Übersetzung Lähnemann (wie Anm. 43), S. 20. 74 Christoph Huber lege dich [! ], weil die Tür des Königreichs offensteht; dort bleibe, dort bete, dort weine, dort schütte dein Herz aus, weil von dort dein Leben hervorgeht’. 45 Den Wechsel der Richtungen von hinein und heraus kennen wir aus anderen Variationen des Themas, ebenso den Grundgedanken vom Schutz vor den Mächten des Bösen in der Wunde. Bemerkenswert an diesem frauenmystischen Zeugnis ist jedoch, dass das Bild der Wunde gar nicht mehr vorkommt und deren Platz konsequent zum Tempel und zum Königreich positiviert ist, gleichsam im Vorgriff auf die künftige Herrlichkeit, die auch Bernhard in der Zukunft aufleuchten sieht. 46 Die mit Hohelied -Anspielungen durchsetzte Betrachtung verwandelt den Kreuzeshügel in einen Liebesgarten, in dem es zwar Zerknirschung und Tränen, also ein bewegtes religiöses Affektleben gibt, aber kein wirkliches Leid. Das sonst reichlich fließende Blut des Gekreuzigten ist in Tau verwandelt: ‘Öffne mir meine Schwester, meine Braut, weil mein Haupt voll Tau ist [wörtlich Ct 5,2]. Deswegen sauge diese süß fließenden Tröpflein auf wie ein blühender Baum’. 47 Den in der Cantica -Exegese angelegten, bei Bernhard und Aelred präsenten passionsmystischen Ausgangspunkt und die provozierende Ambivalenz der Wundenbildlichkeit hat diese Allegorisierung des Kreuzes verlassen, und zwar noch radikaler als die Stimulus -Phantasie mit ihrem Aufenthalt in blutigen Eingeweiden. 48 Kehren wir nun noch einmal zu einem Text des 13. Jahrhunderts zurück, von dem aus die Wanderung mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit mitsamt ihrer Metaphorik in die Frühe Neuzeit nachvollzogen werden kann. Unter den ps.-bernhardischen Opuscula findet sich ein Hymnus Ad singula membra Christi patientis , den man heute dem Zisterzienserabt Arnulf von Löwen zuschreibt († 1248 oder 1250). 49 Dieser widmet sich hier einer betrachtenden Vergegenwärtigung von fünf Gliedmaßen Christi und bespricht von unten nach oben die Füße, die Knie, die Hände, die Seite mit der Wunde und das Gesicht. Eine andere Fassung schiebt nach der Seite noch die Brust und das Herz ein und erweitert den Hymnus zum Septenar; diese Langfassung erweist sich aber allein schon aus formalen Gründen als sekundär. Das lateinische Gedicht war im protestantischen Deutschland des 17. Jahrhunderts verbreitet. Die siebenteilige Fassung wurde durch Paul Gerhardt übersetzt und enthält im Schlussteil Ad faciem mit der Eröffnungsstrophe Salve caput cruentatum das bekannte Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden , das heute nicht nur interkonfessionell, sondern durch eine englische Übersetzung 45 Ebd., S. 18. 46 Vergleichbare Umdeutungen oben bei Bernhard. Vgl. den teils Bernhard, teils Bonaventura zu- oder abgesprochenen Traktat Vitis mystica , wo vom cor Domini Jesu als Tempel, Allerheiligstem und Arche des Bundes gesprochen wird ( PL- 183 [1862, Nachdruck 1966], Sp. 642C). 47 Lähnemann (wie Anm. 43), S. 19. Bei Haimo von Auxerre und Williram von Ebersberg (wie Anm. 15) findet sich für Ct 5,2 keine Auslegung auf das Blut Christi. 48 Die Positivierung des Leidensszenarios ist typisch für die Brautmystik der Nonnen. Vgl. Jeffrey F. Hamburger, Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent [St. Walburgis, Eichstätt], Berkeley u. a. 1997, Kapitel 4: „The House of the Heart“. Auf der Kreuzdarstellung, Abb. 67 (S. 105), öffnet sich die Wunde in Form eines Herzens, in dem sich die Braut mit ihrem Geliebten aufhält. Weitere Darstellungen zeigen das Herz als idyllischen Raum, ja als Haus, in dem sich die Nonne mit der Trinität zum eucharistischen Mahl versammelt hat (Abb. 84, 85, S. 140f.). Der Raum der Wunde als hortus conclusus steht parallel zur geschützten Welt des Klosters, in dem die Schwestern Zuflucht finden. 49 Arnulf von Löwen, Ad singula membra Christi patientis , in: Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung , Teil 1: Hymnen bekannter Verfasser , hg. von Guido M. Dreves und Clemens Blume, Leipzig 1909, S. 323- 327. Wohnen in der Wunde 75 auch international gesungen wird. 50 Die Erstveröffentlichung findet sich 1653 in der 2. Auflage des Choralbuchs Praxis pietatis melica des Berliner Kantors Johannes Crüger, der für die Verbreitung von Paul Gerhardts Kirchenliedern überhaupt die Schlüsselrolle spielte. 51 Wenig später (1680) wurde Arnulfs lateinischer Text in einem Kantatenwerk von Dietrich Buxtehude vertont, auch hier in den sieben Teilen, aber verkürzt auf jeweils drei, nicht fünf Teilstrophen. 52 Wir greifen den Abschnitt zur Seitenwunde Ad latus (die Nummer 4) heraus. 53 Buxtehudes lateinische Vorlage, die ihre Arnulf-Ausschnitte mit Bibelstellen umrahmt, führt hier die für unser Thema zentrale Cantica -Stelle 2,13 von den Tauben in den Felslöchern an. 54 Wie auch bei den übrigen Gliedmaßen Christi wird nach dem Gruß die Annäherung durch eine Evokation der heilbringenden Wunde vollzogen. Das geschieht mit Hilfe aller fünf Sinne 55 und mit Rekurs auf einen festen Satz von Metaphern, welche die Reinigung und besonders die Nährung durch das Blut der Wunde beschwören. Indem dieses mit Wein gleichgesetzt wird, wird die eucharistische Deutung eingespielt. Genau in der Mitte des Gedichts, in der dritten Strophe zwischen der letzten Zeile des ersten und der ersten des zweiten Halbverses, also an der Mittelnaht des Textes, wird der Erlöser aufgefordert, die Seitenwunde zu öffnen, damit die Seele in sie eintreten könne: ‘Öffne dich, du süße Wunde! ’ ( Te, dulce vulnus aperi , Str. 3, V. 5), ‘Lass mein Herz dich fühlen, lass mich in dich hinübergehen. Ich möchte ganz eintreten, öffne dem armen Klopfenden’ (ebd., V. 7-10). Die zweite Hälfte der Meditation kreist ganz um das erotisch konnotierte Eingehen in die Wunde, wobei wiederum Reinigung und eucharistische Einverleibung mitgedacht sind. ‘Mit meinem Mund berühre ich dich, in dich tauche ich mein Herz, dich ziehe ich glühend an mich und lecke an dir mit dörrendem Herzen, ziehe mich ganz in dich hinein! ’ 56 Die Verschmelzung der Seele mit der Wunde des Erlösers wird in eindrucksvoller Reziprokheit dargestellt: Jesus möge die Seele an sich ziehen, und diese schmiegt sich ihrerseits an ihn. Bald wird die eine, bald die andere Seite zur Aktivität aufgefordert. Dabei könnte man fast gradus amoris unterscheiden mit Blick, Gespräch, Kuss, Berührung und völliger Verschmel- 50 Marlies Lehnertz, „Vom hochmittelalterlichen katholischen Hymnus zum barocken evangelischen Kirchenlied. Paul Gerhardts ‘O Haupt voll Blut und Wunden’ und seine lateinische Vorlage, das ‘Salve caput cruentatum’ Arnulfs von Löwen“, in: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium , Bd. 1: Historische Präsentation , hg. von Hansjakob Becker und Reiner Kaczynski, St. Ottilien 1983, S. 755-773. Vgl. auch Christina Falkenroth, Die Passion Jesu im Kirchenlied. „Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …“ , Tübingen 2017 (Mainzer hymnologische Studien 28). Zu O Haupt voll Blut und Wunden detaillierte Kommentierung von Text und Melodie ebd., S. 319-348. Auf das Motiv der Wunde wird nicht eingegangen. Im zweiten Teil der Arbeit wird die protestantische Passionstheologie als Hintergrund der Kirchenlieder dargestellt. 51 Paul Gerhardt, Passions-Salve an die leidenden Glieder Christi , Ausgabe in ders., Geistliche Lieder , hg. von Dorothea Wendebourg, Stuttgart 2013 (RUB 19058); Erstdruck 1653, Texte nach der Gesamtausgabe 1666/ 1667 (vgl. Nachwort, ebd., S. 193). 52 Franziska Küenzlen, „ Membra Jesu nostri . Rezeption und Transformation des Liederzyklus Arnulfs von Löwen bei Dietrich Buxtehude“, in: Geistliche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Rudolf Suntrup , hg. von Volker Honemann und Nine Miedema, Frankfurt a. M. u. a. 2013 (Medieval to Early Modern Culture 14), S. 253-280. 53 Arnulf von Löwen (wie Anm. 49), S. 326f.; Gerhardt (wie Anm. 51), S. 16f. 54 Küenzlen (wie Anm. 52), S. 259f., 265 und 274-276 (mit Verweis auf eine Adaptation von Ct 2,13-14 von Siegmund von Birken). Zu den Bibelworten der Buxtehude’schen Version siehe S. 268f. 55 Zurückhaltend beim Gehör, dieses wohl in der Anrede des Salve impliziert. 56 Ore meo te attingo, / In te meum cor intingo, / Te ardenter ad me stringo / Et arenti corde lingo, / Me totum in te traice (Strophe 4, V. 1-5), Arnulf von Löwen (wie Anm. 49), S. 326. 76 Christoph Huber zung. Auf dem Höhepunkt der Vereinigung mit eucharistischen Zügen wird eine Art Liebestod phantasiert: ‘O wie süß ist dieser Geschmack! Wer dich kostet, Jesus Christus, könnte, von deiner Süße überwunden, aus Liebe sterben, dich einen liebend einzigartig’. 57 Die fünfte Strophe greift die Metapher vom Graben im Weinberg auf und blickt auf den tatsächlichen Tod als Liebestod voraus, eine Steigerung von der Kontemplation zum antizipierten Sterben, die der Hymnus auch an anderen Stellen als Schluss- und Höhepunkt ansteuert. Paul Gerhardts Nachdichtung hält sich erstaunlich eng an die Vorlage und folgt ihr in der Strophengliederung genau. Dabei lässt sich die Transformation zum protestantischen Kirchenlied bis in die Einzelheiten nachverfolgen. Der deutsche Dichter setzt in den sieben Teilen unterschiedliche, sangbare Metren ein. In unserem Fall formt er die Zweiteiligkeit zu einer stolligen Strophe mit Auf- und Abgesang um. Er fährt die rhetorische Artistik des Lateinischen zurück und streicht auch Inhalte. Dabei findet er einen neuen temperierten Ton. Er mildert die Drastik der Passions- und Vereinigungsdarstellung. Eine Zuspitzung zum Liebestod lässt sich kaum mehr erkennen in den verallgemeinernden Worten: Wer dich recht liebt / dem wird das Joch / Der bittern Todes-Schmertzen- / Gleich als wie lauter Zucker . 58 Bei genauem Hinsehen bringt Paul Gerhardt dennoch die lutherische Passionstheologie zur Geltung, was in anderen, selbständigen Passionsliedern noch deutlicher geschieht, 59 mit dem mittelalterlichen Hymnus aber zu keinen Kollisionen führt. In der Strophe 2b, Salve mitis apertura, de qua manat vena pura , führt Gerhardt, das Adjektiv mitis profilierend, den Gnadenbegriff ein: Du werthe Wunde sey gegrüßt / Du weites Thor der Gnaden (2, V. 5f.). 60 Zweifellos haben die stilistische Temperierung und die profunde Schlichtheit der inhaltlichen Fassung entschieden dazu beigetragen, dass Paul Gerhardts Kirchenlieder ihren zentralen Platz in den Gesangbüchern bis heute behauptet haben. Vergleichbar der mittelalterlichen Passionsliteratur entfaltet auch die barocke eine kaum überschaubare, bisher nicht restlos erschlossene Fülle an Zeugnissen, und dies in allen konfessionellen Lagern und quer durch die verschiedenen Textgattungen. 61 Wir können hier für unser Thema den Beitrag des Reichsgrafen Nikolaus Ludwig Herr von Zinzendorf und Pottendorf (1700-1760), des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeinde, nicht übergehen. Zinzendorf gelang es, seine theologischen Ideen zwischen den protestantischen Lagern zu etablieren, in einer Religionsgemeinschaft mit weltweiten Ausläufern anzusiedeln und dieser einen Platz, einen Freiraum, innerhalb der lutherischen Orthodoxie im Rahmen der Confessio Augustana 57 O quam dulcis sapor iste! / Qui te gustat, Iesu Christe, / Tuo victus a dulcore / Mori posset prae amore, / Te unum amans unice (4, V. 6-10), ebd., S. 326. 58 Gerhardt (wie Anm. 51), S. 17, 4, V. 7-9. 59 Vgl. Traugott Koch, „Drei Passionslieder Paul Gerhardts und das lutherische Verständnis der Passion Christi“, in: Kerygma und Dogma 37 (1991), S. 2-23. Grundsätzlich zu Luthers Passionstheologie und ihrer Rezeption im 18. Jahrhundert Elke Axmacher, „Aus Liebe will mein Heyland sterben.“ Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert , Stuttgart 1984 (Beiträge zur theologischen Bachforschung 2). 60 Arnulf von Löwen (wie Anm. 49), S. 326, 2, V. 6f.; Gerhardt (wie Anm. 51), S. 16, 2, V. 5f. 61 Zur Predigt: Alfred Wiesenhütter, Die Passion Christi in der Predigt des deutschen Protestantismus von Luther bis Zinzendorf , Berlin 1930. Das Buch enthält von Luther bis Zinzendorf eine Liste von 279 Titeln. Zum Lanzenstich: „Jesu Christi Seite am Kreuz wird aufgespalten, daß alle gläubige Herzen darinnen eine sichere Wohnung und tröstliche Freistatt finden möchten, darin sie sich können verbergen, bis das Zornwetter Gottes vorüber sei“ (1611, Nr. 80). Wohnen in der Wunde 77 zu sichern. Angesichts der literaturgeschichtlichen Bedeutung von Zinzendorfs umfänglicher Lieddichtung können meine Bemerkungen nur als eine Art praeteritio vorgebracht werden. Die Texte sind überliefert im Herrnhuter Gesangbuch , seinen Anhängen und Ergänzungen. 62 Zinzendorf entwickelte hier bewusst in Absetzung gegen zeitgenössische Strömungen einen Liedstil, den man gedanklich wie formal als extrem bezeichnen muss. Seine stärkste Ausprägung fand er in der sogenannten ‘Sichtungszeit’ seit 1743, in der sich die stärksten Aktivitäten der Gemeinde in der Niederlassung Herrnhaag in der hessischen Wetterau abspielten. Hier entstand im Anhang XII des Liederbuchs (mit vier Zugaben) ein Korpus von etwa 500 Liedern unterschiedlicher Verfasser und Verfasserinnen, welches als kollektives Gemeinschaftswerk daherkommt, zu dem die Verfassernamen und Entstehungsanlässe fast durchweg in den Herrnhuter Archivalien dokumentiert wurden. Trotz des kollektiven Charakters hat an dieser Sammlung Zinzendorf selbst durch seine inspirierende Kraft und die Masse von Eigendichtungen den entscheidenden Anteil. Unter den gewagtesten Texten stammen viele von ihm, so dass man nicht sagen kann, ihm sei hier die Führung einer auf mystische Abwege schlitternden Gemeinde entglitten. Die für einen internen Zirkel und den liturgischen Gebrauch geschaffenen Lieder mussten bald nach außen hin Anstoß erregen, vor allem durch ihre emotionale, scheinbar erotisch-sexuelle Direktheit, die aber auf älteren Bildtraditionen aufruht, 63 und durch ihren sich spontan gebenden, in Wirklichkeit hochmanierierten Sprachduktus, der durch unzählige Verkleinerungsformen Kindlichkeit und Nähe herstellen wollte. Der Außendruck wurde so stark, auch durch anstößige Vorfälle in Herrnhaag (u. a. sexueller Art), 64 dass Zinzendorf den Anhang XII zurückzuziehen und zu unterdrücken suchte und eine neue Sprachregelung (voran das Verbot der Diminutiva) durchsetzte. In Herrnhaag wurden personelle Veränderungen verordnet, aus äußeren Gründen wurde die Niederlassung schließlich aufgelöst, Reste der Gemeinde emigrierten nach Amerika und siedelten in Nazareth/ Pennsylvanien. Die affektive Passionsfrömmigkeit und ihr direkter literarischer Ausfluss sind ein Kernpunkt von Zinzendorfs Religiosität. In den Wunden Christi begründet er seine Auffassung von Gemeinde. Das viel beachtete Wunden-Lied , 65 eine Kontrafaktur zu ‘Wie schön leucht’ uns der Morgenstern’, formuliert in der 2. Strophe: Des wundten Creuz=GOtts bundes=blut, die wunden=wunden=wunden=fluth, ihr wunden! ja, ihr wunden! 62 Herrnhuter Gesangbuch. Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735, zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt. Teil I. - Teil II. Anhang I-XII [XII = S. 1785-2213] . - Teil III. Zugabe , mit einem Verfasserverzeichnis von Gudrun Meyer-Hickel, Nachdruck der 3. revidierten Auflage 1741, Hildesheim/ New York 1981. 63 Vgl. Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf , [Herrnhut 1922,] Gotha 1935, Nachdruck in: Herrnhut im 19. und 20. Jahrhundert , mit Einführungen von Alexander Bitzel und Matthias Meyer, Teil 1, Hildesheim u. a. 2001. Rückführung der Bildlichkeit auf protestantische Schriften, die Zinzendorf kennen konnte, ohne dass in die mittelalterlichen Traditionen eingestiegen wird. 64 Paul Peucker, „‘Inspired by Flames of Love’. Homosexuality, Mysticism, and Moravian Brothers around 1750“, in: Journal of the History of Sexuality 15 (2006), S. 3-64. Die Arbeit skizziert anhand biographischer Zeugnisse Lebensformen und Rituale der Gemeinde im Hinblick auf Sexuallehre und wahrscheinliche (homo)sexuelle Praktiken. 65 Herrnhuter Gesangbuch (wie Anm. 62), Nr. 1945. 78 Christoph Huber eur wunden=wunden=wunden=gut macht wunden=wunden=wunden=muth und wunden, herzens=wunden. Wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! O! ihr wunden! Die Geburt der Kirche aus dem Blut der Wunden Christi, das auch als eucharistischer Wein verstanden wird, ist ältestes patristisches Gedankengut; in Herrnhut begründet nun die bunds=glieds=wunde (Strophe 3) eine von der kirchlichen Institution weitgehend gelöste Gemeinde, in welcher der einzelne das wunden=gut in seinem wunden=muth aufnimmt und dabei mit dem Leiden des Herrn sich identifiziert. Wie in einem Brennpunkt laufen Erlösungstheologie, Rechtfertigung des Sünders und kultisch praktizierte Frömmigkeit zusammen in der Seitenwunde Christi. Sie ist das punctum der religion und steht metonymisch für den ganzen Erlöser und sein ganzes salvatorisches Werk. 66 Sie wird in zahllosen Synonymen mit zahllosen drastischen Details evoziert. 67 Im Anschluss an das Hohelied und biblische Stellen, „die Felsen und Höhlen als Zufluchts- und Bergungsort der Menschen erwähnen“, erscheint die Seitenwunde als Felskluft, Spalte, Taubenfächlein, Steinritz, Felsgruft, Horte, Seitenhöhlchen, Seitenschrein, Seitenwundenschrein usw.; metaphorisch wird sie zum Teich, Kanal, ja Schlosskanal; synekdochisch wird sie auch als ‘Lende’ [! ] und mit einem neu erfundenen Wort als Pleura (‘Pleure’) bezeichnet. 68 In immer neuen Bildern wird die Annäherung und das Eingehen in die Seitenwunde vorgestellt: 69 Zur Pleure fahr’n mit leib und seel, einges nothwendige! [einzig Notwendiges] und daß man sich der Seitenhöhl zeitlich behändige [sich ihrer in der Zeit mit den Händen bemächtige] , und daß das veste und gewiß, daß man mich eh in stükke riß, eh ich aus dieser vestung wich, das weiß mein Mann und ich [als ‘mein Mann’ wird unabhängig vom Geschlecht Jesus bezeichnet, während die Seele als Braut und Ehefrau stets weiblich gedacht wird]. Mein Lamm! sieh deine herzelein, die dir in deinen Schrein auf ewig ’nein [hinein] geätzet sein; dein fleisch und dein gebein; wir küssen dich mit zärtlichkeit, und deines Leichleins offne Seit, bleib deinen creutz-luft-vögelein ihr ewigs nestelein . Nicht nur der einzelne, sondern die ganze Gemeinde zieht in diesen Zufluchtsort ein: 70 Es ist auf neun und neunzig jahr gepacht’t das Seiten=höhlgen, da ißt, trinkt, schläft und lebt die schaar der noch vermaurten seelgen [der noch in den Körper eingemauerten Seelen]. Drum ist uns unaussprechlich wohl, drum weinen wir vor freuden, wir weichen nicht aus unsrer hohl [Höhle], bis wir beim Lamme weiden [d. h. eschatologisch, nach dem Tod]. 66 Ebd., Nr. 2348, 27, zitiert bei Jörn Reichel, Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch , Bad Homburg u. a. 1969, S. 55. Vgl. Peucker (wie Anm. 64) zum ‘Seitenhöhlchen-Kult’, S. 47-49. Zum Eindringen in die Seitenwunde in Form eines theatralischen Gemeinschaftsrituals siehe ebd., S. 48. 67 Z. B. als ‘Seitenschlitz’, ‘Seitenstich’, ‘Rinne’, ‘Loch’, ‘Scheibe’, ‘Mündlein’ usw., Reichel (wie Anm. 66), S. 56. Zur Seitenwunde siehe ebd., S. 55-58. 68 Nach Reichel, ebd., S. 56f. 69 Herrnhuter Gesangbuch (wie Anm. 62), Nr. 2319 (Verfasser Christian Renatus von Zinzendorf ? ). Das Wohnen wird vielfältig ausgemalt, indem z. B. die Wunde mit einem Schneckenhaus verglichen wird (ebd.), Nr. 2161. 70 Herrnhuter Gesangbuch (wie Anm. 62), Nr. 2301, Strophe 2 und 3. Wohnen in der Wunde 79 Ich breche hier ab und schaue von den extremen Herrnhuter Varianten zurück auf die älteren Belege, die so noch einmal Profil gewinnen. In Ralf Konersmanns Wörterbuch der philosophischen Metaphern wird der Artikel ‘Wohnen’ (von Axel Beelmann) wie folgt eingeleitet: „Das Behagen in der Kultur ist nicht zuletzt dem Wohnen geschuldet. Von alters her gehört zur Lebensweise des witterungsanfälligen Menschen der Rückzug in Höhlen ebenso wie der Bau von Asthütten“. 71 Ein derartiges kulturelles Behagen will sich in der Wunde nicht so recht einstellen. Wenn hier die Herrnhuter ein sicheres und sogar fröhliches Leben imaginieren und die Höhle nie verlassen wollen, bleibt dennoch das Paradox bestehen, dass sie auch ein Ort der Grausamkeiten und der Schmerzen ist. Die Wunde wird als solche nicht verdrängt, aber der Erlöser hat sie stellvertretend angenommen. Unter dieser Voraussetzung ist Sicherheit, ist das Nisten in den Felshöhlen und das Bauen auf dem Felsen, nur über die Erkenntnis der menschlichen Gebrechlichkeit zu erreichen. Verletzungen gewinnen über das stellvertretende Leiden des Erlösers einen positiven Status, und unter dem Vorzeichen der Erlösung wandelt sich gerade die Wunde zum Raum unverletzlicher Sicherheit. Dabei wird wie in Herrnhut auch in der früheren Geschichte des Bildes das ‘Wohnen in der Wunde’ immer mit anderen Passionsvorstellungen und deren metaphorischer Qualität verquickt. Jörn Reichel hat für Herrnhut die assoziative Verknüpfung der Bilder, ihre Klitterung und kaleidoskopartige Kombinatorik herausgestellt. 72 Das assoziative Schweifen gilt nicht nur für die Lieder und lyrisch angehauchten Texte, sondern auch für die meditative Predigt. Wenn in den älteren Zeugnissen die Assoziation vor allem über ähnliche Bibelzitate verläuft, stellen sich in Herrnhut die überraschenden Brückenschläge vor allem über den Reim her. Das Streben der liebenden Seele zur Wunde hin vollführt eine permanente quasi-körperliche Bewegung. Die imaginative Meditation schafft sich in dem leidenden und heilbringenden Körper Christi einen Raum, den sie nach Methoden der Gedächtniskunst abschreiten kann. 73 Da wechseln die Perforation des Körpers, die Immersion in die Wunde und Formen des Übertritts, wenn ein Dahinter sichtbar wird. Die Herrnhuter tauchen für immer in die Wunde, um sie auch schon wieder zu verlassen und erneut in sie zurückzukehren, wie das der Stimulus amoris zugespitzt ausmalt. Schließlich wird die Wunde transzendiert, und die Glaubenden erreichen - wie schon bei Bernhard - als endgültig sicheren Hafen das Paradies. Das entscheidende Moment der Transzendierung der Verletzungen beschreiben Grundfiguren des Umschlags und des Durchbruchs. Konkret wird in den Texten festgehalten, wie Schmerz in Freude wechselt oder auch umgekehrt. 74 Der Umschlag und Transitus ins Positive drückt sich häufig in Lichtvorstellungen aus: deiner fünf Wunden durchstrahlende kraft . 75 Oder als Rückschlag in einem Zinzendorf-Lied mit akustischer und olfaktorischer Symbolik: machts gut auf saytenspiel, daß es die Pleura fühl [die Seitenwunde als Metonymie Christi] : ich möchte 71 Axel Beelmann, „Wohnen“, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern , hg. von Ralf Konersmann, Studienausgabe Darmstadt 2014, Nachdruck der 3., erweiterten Auflage 2011, S. 551-563, Zitat S. 551. 72 Reichel (wie Anm. 66), S. 43: „Die Lieder des 12. Anhangs sind oft deshalb so schwer verständlich, weil in den einzelnen Strophen mehrere Vorstellungen und Bilder unvermittelt nebeneinander erscheinen. Kaleidoskopartig wirbeln die Bilder durcheinander; es entstehen Bildvermengungen, und selbst in einzelne Ausdrücke sind mehrere Vorstellungen zusammengepreßt“. Vgl. ebd., S. 58. 73 Vgl. Bennett (wie Anm. 35). 74 Als Metaphern der ‘Erlösungsfreude’ hat Reichel (wie Anm. 66), S. 59f., Belege zum Fliegen oder Springen der ‘Kreuzluftvögelein’, ‘-lerchelein, -bienelein, -kälbelein’ zusammengestellt. 75 Herrnhuter Gesangbuch (wie Anm. 62), Nr. 1904, 3. 80 Christoph Huber in dieser Gruft hör’n wies echo ruft und schneidet durch die luft und hallt und schallt zur kluft. Glorie! - und dann allerdings weiter: Leichen=duft aus der seiten=gruft . 76 Die letztere Wendung ist in der Herrnhuter Symbolik allerdings auch positiv konnotierbar, also durchaus ambig. 77 Eine eindeutige und endgültige Qualität erhält der Umschlag auf der Zeitachse erst in eschatologischer Perspektive, die oft in der Wundenfröhlichkeit und -erotik vorweggenommen scheint. Nikolaus Ludwig, der praktisch alle Gelegenheiten seines Lebens bedichtete, schrieb auch einen Trauergesang auf den Tod seiner zweijährigen Tochter Dorothea Charitas (1732). Den Moment des Sterbens fingiert er, das Kind anredend, so: Fahr in Eil, / Und bleib im zerspaltnen Hertzen / Des verklärten Manns der Schmertzen, / Stecken als ein reiner Pfeil. 78 Wie im Kultbild ist in Texten dieser Art Religiöses nicht als diskursiv geglättete Lehre, sondern nur als affektive und ästhetische (literarästhetische) Manifestation zu lesen. Die Denkbewegung assoziativ schweifender Metonymien gilt m. E. auch für zahlreiche Predigten, etwa Bernhards Hohelied -Predigten, und aszetische betrachtende Texte. Sie erreicht eine performative Zuspitzung in dem von der Gemeinde gesungenen Kirchenlied oder im individuellen Gebet. Hier endet die religiöse Praxis, die sich aus der Passionsmystik speist, nicht im 18. Jahrhundert. 76 Ebd., Nr. 2357, 2. 77 Vgl. ebd., Nr. 2302, Strophe 14: Durchdünste uns mit deinem öl und spiritu vitali . 78 In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse , hg. von Albrecht Schöne, München 1963 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 3), S. 851. Zur personifizierten Caritas [Name des Mädchens! ], die ihren Pfeil in die Seitenwunde Christi schießt, Jeffrey F. Hamburger, The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300 , New Haven/ London 1990, S. 72-77; Hildegard E. Keller, „Gott im Visier. Zur Konstruktion allegorischer Weiblichkeit in Text und Bild beim Motiv der Liebesaggressorin“, in: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‘Körper’ und ‘Geschlecht’ in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 204-227. Die Beispiele belegen die Verschmelzung von pfeilschießender Minne mit der Braut des Hohenliedes nach Ct 4,9 und das Eindringen der liebenden Seele in die Seitenwunde bzw. das Herz Jesu mit dem Ziel der unio . Wie man got verwunden sol mit einem ougen 81 Wie man got verwunden sol mit einem ougen Zur passionsmystischen Buchschriftlichkeit und Liebesverwundung durch das Auge im Botten der götlichen miltekeit Racha Kirakosian Im christlichen Kontext gehören Schmerzen und Leid zum Konzept des Heilsgeschehens. 1 So ist es auch ein wesentliches Element der vita mystica , dass Erlösung mit Schmerz einhergeht. 2 Ein Fallbeispiel aus dem mystischen Bereich steht im Mittelpunkt dieses Beitrags; es geht um den sogenannten Botten der götlichen miltekeit , die deutsche Überarbeitung des sich mit dem Leben und den Offenbarungen Gertruds von Helfta (1256-1302) beschäftigenden Legatus divinae pietatis . Einige daraus gewählte Passagen ermöglichen es, das Verhältnis von Verwundung und Liebe, Schmerz und Erlösung in der Spannung zur Buchschriftlichkeit der mystischen Mitteilung neu zu bestimmen. Für die folgende Untersuchung sind zwei Forschungskontexte insbesondere hervorzuheben: zunächst der Kontext einer Leidensmystik, sodann das Motiv der Liebesverwundung durch das Auge. Zum Forschungskontext der Leidensmystik: Otto Langer unterscheidet eine christlich-jüdische Leidensvorstellung von antiken Konzepten und charakterisiert sie weiterhin dadurch, dass dem Leiden eine positive Wertung abgerungen wird. Die Leidensspiritualität der Dominikanerinnen dient Langer als Paradigma für die christliche Leidensdeutung als Gottesgemeinschaft. Dabei beschreibt er im Wesentlichen zwei Seiten des Leidens: Zum einen sei der „Schmerz der Selbstvernichtung“ ein notwendiger und selbst-nihilierender Schritt des Individuums für die Einheit mit Gott; 3 zum anderen stehe das Mitleiden mit Gott im Sinne einer Passionsmystik für Christuskonformität. 4 Wie folgend zu zeigen ist, lässt sich dem mystischen Leidenskonzept ein dritter Aspekt hinzufügen: Dieser dritte Aspekt betrifft das Christus mit der memoria der Passion neu zugefügte Leiden. Wie Passagen aus dem Botten der götlichen miltekeit illustrieren, ist diese Form von vergegenwärtigter Passion mit der Buchschriftlichkeit und dadurch mit der Rezeption des mystischen Textes eng verbunden. Der zweite Forschungszusammenhang, der die Liebesverwundung durch das Auge betrifft, dient zur motivischen Kontextualisierung einer Passage des Botten , in der Christus die mys- 1 Siehe dazu Niklaus Largier, Das Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung , München 2001; Otto Langer, „‘We ist ein gut wort, we ist ein genadenrichez wort’. Zur Spiritualität der Dominikanerinnen im Spätmittelalter“, in: Lerne Leiden. Leidensbewältigung in der Mystik , hg. von Wolfgang Böhme, Karlsruhe 1985 (Herrenalber Texte 67), S. 21-34, wiedergedruckt als ders., „Liebe und Leiden. Zur Spiritualität der Dominikanerinnen im Spätmittelalter“, in: Zu dir hin: Über mystische Lebenserfahrung. Von Meister Eckhart bis Paul Celan , hg. von dems., Berlin 1987, S. 107-124 (folgend daraus zitiert). 2 Vgl. Langer (wie Anm. 1), S. 107f., 117-121. 3 Ebd., S. 121. 4 Ebd., S. 121-124. 82 Racha Kirakosian tische Braut zur Verwundung durch das Auge aufruft. Liebe, die durch die Augen verwundet, ist nach Gudrun Schleusener-Eichholz ein mit martialischen Assoziationen verbundenes höfisches Motiv im Minnesang, das so in der religiösen Dichtung nicht vorkomme. Dort sei die durch das Auge entstehende Liebe ausschließlich negativ, d. h. sündhaft, konnotiert. 5 Doch zeigt der entsprechende Abschnitt aus dem Botten im Vergleich zu Texten aus dem höfischen Kontext, dass ein striktes Auseinanderhalten der religiösen und höfischen Bereiche (auch) unter diesem Aspekt kaum möglich ist. Querverweise zur höfischen Dichtung erweisen sich stattdessen als hilfreich, um die Passage zur Liebesverwundung durch das Auge in ihrem allegorischen Gehalt nachzuvollziehen. Daher ist ein Blick auf die höfische Dichtung sogar notwendig. Da Schmerzempfindungen im christlichen Kontext mit dem Heilsplan verbunden sind, wird zunächst zu untersuchen sein, wie Leiden und Heilsgeschehen in den ausgewählten Passagen des Botten zusammenhängen. Dabei spielt, wie sich herausstellen wird, Buchschriftlichkeit eine besondere Rolle. 6 Im Anschluss daran wird die bereits oben angerissene Passage, in der die Liebesverwundung durch das Auge im Vordergrund steht, mit höfischen sowie mystischen Texttraditionen abgeglichen, um abschließend das Verhältnis dieses Motivs zu einer Leidenstheologie des Schmerzes in Beziehung zu setzen. I Zum Botten der götlichen miltekeit [E]in botte der götlichen miltekeit ist der Titel der stark gekürzten und überarbeiteten deutschen Übertragung des Legatus divinae pietatis . Unterteilt in fünf Bücher ist der Legatus zum größten Teil zu Gertruds Lebzeiten und unter ihrer Mitwirkung, d. h. im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert, entstanden: Der Prolog zu Buch II identifiziert Gertrud, die jüngste der drei Helftaer Mystikerinnen, als seine Verfasserin. Trotzdem kann man mit Sicherheit von einem kollektiven Entstehungsszenario ausgehen, an dem mehrere Helftaer Schwestern beteiligt waren. So soll auch bei der Textgenese des die Offenbarungen der Mechthild von Hackeborn darstellenden Liber specialis gratiae Gertrud von Helfta mitgewirkt haben. 7 Mit einer jüngst in Leipzig entdeckten ‘Sonderausgabe’ des Legatus nach Schwester N von Helfta ist die von Anna Harrison bereits 2008 formulierte These eines kollektiven Produktionsprozesses des Legatus weiterhin überlieferungssgeschichtlich bekräftigt. 8 Caroline Walker Bynum 5 Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter , 2 Bde., München 1985 (Münstersche Mittelalter-Schriften 35), hier Bd. 2, S. 924 und 927. 6 Zur Verschränkung von Körper und Schrift im Kontext spätmittelalterlicher Leidensmystik siehe Largier (wie Anm. 1), S. 48-56. 7 Zur Helftaer Textproduktion siehe Balázs J. Nemes, „Text Production and Authorship: Gertrude of Helfta’s ‘Legatus Divinae Pietatis’“, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages , hg. von Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann und Anne Simon, Leiden u. a. 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 44), S. 103-130, hier S. 103-114. Siehe auch Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts , Tübingen/ Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 243f. 8 Anna Harrison, „‘Oh! What Treasure is in This Book? ’ Writing, Reading, and Community at the Monastery of Helfta“, in: Viator 39 (2008), S. 75-106; erneut in Verbindung mit liturgischer Praxis: Anna Harrison, „‘I Am Wholly Your Own’: Liturgical Piety and Community among the Nuns of Helfta“, in: Church History 78 (2009), S. 549-583. Zur neuentdeckten Legatus -Handschrift siehe Balázs J. Nemes und Almut Märker, „‘Hunc tercium conscripsi cum maximo labore occultandi’. Schwester N von Helfta und ihre ‘Sonderaus- Wie man got verwunden sol mit einem ougen 83 dehnt den kollektiven Charakter des Legatus auf seine Protagonistin aus: „Gertrude was not so much an individual as a community“. 9 Die lateinischen Offenbarungen der Gertrud von Helfta schreiben sich in bestimmte hagiographische Diskurse ein. Dazu zählt ein ausführlicher Prolog, der, wie Balázs Nemes darlegt, den Heiligkeitsstatus durch multiple Autorisierungsstrategien abzusichern versucht. 10 Ähnlich wie von Helmut Tervooren und Almut Suerbaum für Mechthild von Magdeburg argumentiert sind auch im Legatus intertextuelle Bezüge zur weltlichen Literatur erkennbar. 11 Der Status des deutschsprachigen Botten der götlichen miltekeit hingegen wurde bisher kaum diskutiert. Der Legatus wurde bereits im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts ins Volkssprachige übertragen und nicht erst, wie lange angenommen, im 15. Jahrhundert. 12 Überlieferungstechnisch rückt damit die Übersetzung ins Deutsche näher an die Entstehungszeit des Legatus . 13 Da sich der Botten -Text strukturell und zum Teil auch inhaltlich vom Legatus stark unterscheidet, kann aber kaum von einer Übersetzung die Rede sein. 14 Die frühe Verbreitung des Botten konzentrierte sich auf den südlichen deutschsprachigen Raum mit Nürnberg, Augsburg und Straßburg als nennbare Zentren. 15 Im Vergleich zur lateinischen Fassung des Legatus präsentiert sich der Botte nicht in fünf auf Grund ihrer jeweiligen Prologe deutlich distinguierbaren Büchern, sondern in einem einzigen Buch. Der lateinische Legatus sowie der deutsche Botte weisen beide die Unterteilung in Kapitel auf, die weitgehend „eine lockere Episodenreihung“ darstellen. 16 Dass die deutsche Version nicht einfach nur eine Verkürzung ist, 17 sondern auch Eigenheiten kennt, gabe’ des ‘Legatus divinae pietatis’ Gertruds von Helfta in der Leipziger Handschrift Ms 827“, in: PBB 137 (2015), S. 248-296. 9 Caroline Walker Bynum, „Vita: Gertrude of Helfta. Brief Life of a Female Visionary: 1256-c. 1302“, in: Harvard Magazine (May-June 2012), http: / / harvardmagazine.com/ 2012/ 05/ vita-gertrude-of-helfta (letzter Zugriff: 14.9.2017). 10 Zu den Autorisierungsstrategien siehe Nemes (wie Anm. 7), S. 115-121. 11 Vgl. Almut Suerbaum, „‘Gedenke ûf scheiden! ’ Transformationen des Tagelieds im 13. Jahrhundert“, in: Wolfram-Studien 21 (2013), S. 231-249; Helmut Tervooren, „Minnesang, Maria und das ‘Hohe Lied’. Bemerkungen zu einem vernachlässigten Thema“, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner , hg. von Dorothea Klein, Wiesbaden 2000, S. 15-47. 12 Die älteste Abschrift der deutschen Übertragung findet sich in der Handschrift Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 269, Bl. 25r-v; siehe Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha , vorläufige Beschreibung von Falk Eisermann, Stand: 22.3.2010, online www. manuscripta-mediaevalia.de/ hs/ projekt_gotha.htm (letzter Zugriff: 26.8.2017). Eine Studie zur spätmittelalterlichen Rezeption des Legatus divinae pietatis ist von mir in Vorbereitung und erscheint 2020 bei Cambridge University Press. 13 Der älteste überlieferte lateinische Text ist aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts: Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 827, Bl. 8r-148r. Siehe dazu jetzt Nemes und Märker (wie Anm. 8). 14 Siegfried Ringler, „Die Rezeption Gertruds von Helfta im Bereich süddeutscher Frauenklöster“, in: ‘Vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht’. Die Mystik der Frauen von Helfta , hg. von Hildegund Keul und Michael Bangert, Leipzig 1998, S. 134-155, geht so weit, den Bearbeiter des deutschen Textes als „Verfasser“ (S. 145) bzw. „Autor“ (S. 146) einzustufen. 15 Neben dem Botten der götlichen miltekeit gibt es eine weitere Bearbeitung des Stoffes, die von Gabriele Hirsch 1921 untersucht wurde: die sogenannte Legende der heiligen Trutta . Diese ist aus Auszügen des deutschen Botten zusammengestellt, wie Otmar Wieland zeigt, siehe Gertrud von Helfta, Ein botte der götlichen miltekeit , hg. von Otmar Wieland, Ottobeuren 1973 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 22), S. 73; Gabriele Hirsch, Die Legende der heiligen Trutta , Diss. handschr. Graz 1921. 16 Wieland (wie Anm. 15), S. 54. 17 Ebd., S. 53. 84 Racha Kirakosian zeigen allein schon ausgewählte Passagen zur Leidenstheologie. Die deutsche Bearbeitung muss daher trotz ihrer lateinischen Vorlage als eigenständiger Text behandelt werden. Dennoch bieten sich an einigen Stellen Vergleiche mit dem lateinischen Legatus an, nicht zuletzt gerade deswegen, weil sich so die Besonderheit des deutschsprachigen Botten etablieren lässt. II Buchschriftlichkeit und Passion im Botten der götlichen miltekeit Wie auch in anderen spätmittelalterlichen mystischen Texten wird im Botten physisches Leiden als Merkmal göttlicher Auszeichnung und Erwählung verstanden, was z.T. auf der Vorstellung der Passion Christi basiert. So wird das körperliche Leiden des Menschen als imitatio Christi gedeutet. 18 Gleichzeitig soll Schmerz der Seelenläuterung dienen. Als Teil der Frömmigkeits- und Bußpraxis befürwortete im 11. Jahrhundert Petrus Damiani die Geißelung als eine Geste im Kampf gegen die Sündhaftigkeit des Fleisches. Dabei versuchten Verteidiger dieser Praxis, wie Niklaus Largier vor dem Hintergrund des Körper-Seele-Dualismus beschreibt, „das Eigene, den Körper, ganz aufzuheben und in einer Vorwegnahme endzeitlicher Befreiung dem Göttlichen anheimzustellen“. 19 Ein selbst auferlegtes asketisches Leben, Selbstgeißelung und andere Formen aktiver Autoaggression zielten darauf, dem irdischen Leiden Christi näherzukommen, um auf diese Weise eine ‘Christuskonformität’ (Langer) zu erreichen. So handeln die Offenbarungen der Medinger Dominikanerin Margareta Ebner von einer passionsmystischen Praxis, bei der Krankheit und Gebrechen nicht nur die Identifikation mit Christus, sondern vor allem mit der Braut Christi ermöglichen. 20 Schmerz ist in diesem Sinne von Gott auferlegt und eine besondere Auszeichnung. In ihrer Forschung zur Tochter Zion-Allegorie zeigt Annette Volfing, wie die vom allegorischen Bräutigam, d. h. von Christus aufgebrachte Gewalt gegen den Körper seiner mystischen Braut auch gleichzeitig ein inneres Martyrium der Seele bedeutet. 21 Die Imitation der Passion ist also immer auch ein innerer Akt, der zur mystischen unio führen will. Andersherum ist die Identifikation Christi mit dem menschlichen Leiden nur auf Grund der Inkarnation möglich: Es ist die Einheit von lîp und sêle , die den Menschen vor den Engeln privilegiert. 22 Dass sich Christus in verschiedenen passionsmystischen Beschreibungen an den gebresten seiner jeweiligen Braut labt, erscheint daher nach dem Prinzip der Vereinigung dessen, was sich gleicht, nur logisch. Die doppelte Rezeption der Passion im mystischen Text, d. h. das Sich-Erinnern an das Leiden Christi durch die Lektüre des von der memoria handelnden Lebens der Mystikerin, macht 18 Vgl. Largier (wie Anm. 1), S. 63. 19 Ebd., S. 69; siehe auch ebd., S. 82. Zum allgemeinen Forschungsstand zur Gewalt im Mittelalter siehe Manuel Braun und Cornelia Herberichs, „Gewalt im Mittelalter: Überlegungen zu ihrer Erforschung“, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen , hg. von dens., München 2005, S. 7-37. 20 Zum Status der Schrift in der Passionsmystik Margareta Ebners siehe Bruno Quast, „‘drücken und schriben’. Passionsmystische Frömmigkeit in den Offenbarungen der Margarethe Ebner“, in: Gewalt im Mittelalter (wie Anm. 19), S. 293-306. 21 Vgl. Annette Volfing, The Daughter Zion Allegory in Medieval German Religious Writing , Abingdon 2017, S. 176-178. 22 Dieses Privileg formuliert so Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache , Tübingen/ Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 79. Siehe auch Almut Suerbaum, „Dialogische Identitätskonzeptionen bei Mechthild von Magdeburg“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter, Hamburger Colloquium 1999 , hg. von Nikolaus Henkel u. a., Tübingen 2003, S. 239-255, hier S. 246, Anm. 23. Wie man got verwunden sol mit einem ougen 85 zugleich auf das Medium des Buchs aufmerksam. Zwei Passagen aus dem deutschsprachigen Botten verbinden die Passion mit der Buchschriftlichkeit, so dass neben der Braut-Bräutigam-Beziehung das Leiden Christi mit der mystischen Mitteilung in ihrer materiellen Beschaffenheit zusammengebracht wird. Bereits zu Beginn des Botten der götlichen miltekeit wird das Buch mit den Wunden Christi geziert . Christus segnet auf die Bitte Gertruds hin das Buch: 23 Die arbeit des schribers, der das buoch schribet, ist mir also lústlichen, also der mir also manig zartes bysemfesselin gebe, also manig buochstabe doran geschriben stet; wann von einem iegelichen besunder han ich drúfaltigen lust, wanne darin smecke ich die unussprecheliche suessikeit miner goetlichen minne, us der geflossen sind alle die wort, die an dem buoch geschriben stont; want der guote wille des schribers reisset mich dozuo, und das bilde miner unverdineten miltekeit spilet gegen mir. […] Das buoch wil ich decken mit minem heiligen leben; ich wil es zieren mit dem gesmide miner rosevarben wunden […]. Das neuplatonische Emanationsbild der ausfließenden göttlichen Mitteilung findet im Buch einen bildlichen Ausdruck, der materialitätstechnisch gesehen das Haptische der Buchschriftlichkeit mit einschließt. Die Verbindung zwischen Passion und Buchschriftlichkeit zeigt sich nicht nur hier, am Beginn des Botten , womit ein gewisses Programm angekündigt wird, sondern später erneut. In einer Rosenmontagsvision sieht Gertrud Johannes den Evangelisten zu Füßen einer Majestas Domini schreiben - hier wird das Bild einer Schreiber-Ikone evoziert: 24 Und do Johannes also schreip, do tunkete er die vederen ie ein wil in das swartze hoernelin, das er in siner hant het. Do dunckete er sú ein wil in die wunden des hertzen unseres herren Ihesu Cristi, wen die stunt gliches gegen im offen. Und wenn er schreip us dem swartzen hoernelin, so wurden die buochstaben swartz. Wenn er aber schreip us der rosevarben wunden Ihesu Cristi, so wart die geschrift rot, und dieselbe rote geschrift was etwo underscheiden mit swartzer varbe, etwo mit gúldener. Do verstunt sú: Die geschrift, die mit swartzer varbe geschriben was, das worent die werg, die sú nuwent von gewonheit geton hetten […]. Aber die geschrift, die mit roten buochstaben geschriben was, das worent die guoten werg, die sú von besunder andaht doten. Und dieselbe rote varbe was etwo mit golde underscheiden. Das bedútet, das sú es geton hetten in der meinung des lidens Ihesu Cristi. Der direkte Bezug zu Details der handschriftlichen Beschaffenheit rückt die Materialität in den Vordergrund. 25 Die evozierten (und üblichen) graphischen Farbunterschiede eines spätmittelalterlichen Schriftbildes sind hier heilsgeschichtlich kodiert. Allerdings handelt es sich in dieser Vision nicht etwa um das Buch, das der Leser in den Händen hält, also um den Botten der götlichen miltekeit , sondern um eines, das - von Christus in Auftrag gegeben - von der Gemeinschaft der Nonnen handelt: 26 Do froget sú den herren, was er [Johannes] schrib. Do sprach er: ‘Alles, das ir gesteren guotes geton haben und noch dise zwen tage tuon wellent, das han ich alles zuoeinander gesament und das sol Johannes alles an den bruef schriben […].’ 23 Gertrud von Helfta (wie Anm. 15), Kapitel 3, S. 87, Z. 15-27. 24 Ebd., Kapitel 78, S. 144, Z. 23-36. 25 Siehe jetzt auch die Besprechung dieser Passage im Leipziger Druck des Botten bei Beatrice Trînca, „Schriftliche Berührung - gedruckte Süße. Zum ‘bot der gotlichen mildigkeit’“, in: ZfdPh 135 (2016), S. 349-366. 26 Gertrud von Helfta (wie Anm. 15), Kapitel 78, S. 143, Z. 4-6. 86 Racha Kirakosian Im Erzählbericht wird das Schriftstück zwar als Buch beschrieben (78, 49), in der Figurenrede Christi ist aber wiederholt von einem Brief die Rede (78, 46). Wenn man vom Brief als Heilsvermittlung ausgeht, dann liegt ein apostolischer Anspruch vor. Indem sich die Mitteilung in dem beschriebenen Prozess des Schreibaktes widerspiegelt, wird die Metaebene zwischen dem Visionsinhalt und der Berichterstattung besonders hervorgehoben: Die Buchschriftlichkeit wird gleichsam zur Botschaft. Zugleich ist damit auf den Titel des Botten selbst verwiesen. Der Symbolcharakter der Schrift koppelt sich so an die korporeale Buchschriftlichkeit. Der Platz der Buchschriftlichkeit in der Passionsmystik wurde in der Forschung bereits mehrfach diskutiert. Bruno Quast zeigt für Margareta Ebner und zum Teil auch für Heinrich Seuse, wie „religiöse Erfahrung und Symbolisierung“ zusammenhängen, wobei es ihm um den Status der „Ding- und Schriftzeichen in der passionsmystisch gefärbten religiösen Erfahrung der Medinger Nonne“ geht: 27 „Die religiöse Erfahrung und das Schreiben der Margarethe Ebner durchdringen einander. Schreiben ist hier mehr als Abstraktion von Lebenszusammenhängen, mehr als die Repräsentation eines Vorgängigen“. 28 Quast zufolge liege ein sogenanntes metonymisches Schreiben vor, also eine Art des an der religiösen Erfahrung teilhabenden Schreibens. 29 Christian Kiening betont die Buchschriftlichkeit mystischer Texte aus medialer Sicht; die Schrift wird „Ausdruck des heilsgeschichtlichen Programms“. 30 Auch bei Gertrud von Helfta lässt sich ein medial definiertes heilsgeschichtliches Programm erkennen, das mit einer starken Präsenz der Passion einhergeht. In der oben zitierten Passage des Botten entnimmt der Schreiber Johannes die rote Farbe zur Ausschmückung einiger Schriftzüge dem offenen Herzen Christi. Es wird betont, dass die Zugänglichkeit der Wunden ein dem Schreiber vorbehaltenes Privileg sei. Das Eintunken der Feder in die Wunden Christi erinnert dabei an die Vorstellung der Seitenwunde Christi als porta coeli , d. h. an die Öffnung der Paradiesestür als Zugang zur göttlichen Gnade. Der Schreibakt ist hier also zugleich ein Akt der Begnadigung. Das Eintunken der spitzen Feder in die noch frischen Wunden - dass sie frisch sind, legt die Farbzuschreibung als rosavarben nah - funktioniert als Passionserneuerung. Die Arbeit des Schreibers bedeutet eine Reaktivierung der Passion durch den Akt der memoria . Die dabei entstehende Schrift stiftet zugleich zu erneuter memoria an. Hier symbolisiert die aus der ‘Tinte der Wunden’ gezogene rote Schrift all diejenen Werke, die in Gedanken an das Leiden Christi ergangen sind. Obwohl die zitierten Passagen des Botten dem jeweiligen Wortlaut des lateinischen Legatus sehr nah folgen, findet sich gerade mit Bezug auf die Passionsandacht im Lateinischen eine größere Variation. Dort gibt es zwei verschiedene Formulierungen, wo es im Deutschen stets in der meinung des lidens Ihesu Christi heißt (78,36; 78,39f.), und zwar: in memoriam passionis dominicae und in unione passionis Christi . 31 Damit 27 Quast (wie Anm. 20), S. 294. 28 Ebd., S. 304. 29 Eine Phänomenologie der mystischen Erfahrung aus biologistischer Sicht setzen dahingegen voraus Frank J. Tobin, Mechthild von Magdeburg. A Medieval Mystic in Modern Eyes , Columbia, SC 1995, S. 115- 132; Renate Lachmann, „Thesen zu einer weiblichen Ästhetik“, in: Weiblichkeit oder Feminismus? Beiträge zur interdisziplinären Frauentagung Konstanz 1983 , hg. von Claudia Opitz, Weingarten 1984, S. 181-194, hier S. 190. 30 Christian Kiening, Mystische Bücher , Zürich 2011 (Mediävistische Perspektiven 2), S. 13. Erneut erschienen 2014, in: Codex im Diskurs , hg. von Thomas Haye und Johannes Helmrath, Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 25), S. 59-86. 31 Gertrude d’Helfta, Le Héraut , in: dies., Œuvres Spirituelles , Bd. 5, Paris 1986 (Sources Chrétiennes 331), Kapitel IV, 16, S. 178. Wie man got verwunden sol mit einem ougen 87 wird deutlich, dass der deutsche Begriff meinung im Botten eine doppelte Bedeutung birgt: Er unterstreicht den kontemplativen Charakter des Leidens und kann sowohl als Übung oder Praxis ( memoria ) wie auch als Erfahrung der Einheit ( unio ) verstanden werden. III Die Verwundung durch das Auge Mit der Rückbindung des Schreibaktes an die Passion liegt eine näher zu beschreibende Wechselwirkung des Leidens vor. Wenn die memoria und die unio als Vergegenwärtigungsprozesse verstanden werden, dann zieht die Betrachtung des Leidens in der Kodifizierung auch immer eine Erneuerung des Leidens nach sich. 32 Dass dieser Vorgang im Botten von göttlicher Seite ein wünschenswerter ist, legt eine Passage des Botten nahe, in der Gott mit einem Blick - es ist darunter womöglich eine kontemplative Betrachtung zu verstehen - verwundet werden will. 33 Wie man got verwunden sol mit einem ougen. Eines moles hette sú gottes licham gern entpfangen. Do wart sú geirret von dem entrihten ir gedencke. Do bat sú got, das er ir zuo hilffe kem in den sachen. Do sprach der herre: ‘Wer angevohten wurt von moenschlicher ploedikeit und denn zuo mir flúhet mit einem starcken getruwen under min beschirmung, derselbe ist der, von dem ich wol gesprechen mag: „Eine ist min tube. Ich habe sú userwelt us tusenden, wenn mit einem ovgenblicke hat sú min goetlich hertz verwundet also ser.“ Und moeht ich ir nit zuo hilffe kummen, das wer mir ein solliches liden, das mir alles himmelsches her nit gelihtern moeht mit allen den froeiden, di sú in dem himmel haben. Wenn an minem libe haben mine erwelten zuo allen ziten einen fúrsprechen, der mich twinget, das ich ein mitliden mit in haben muos, wenn sú in noeten sint.’ Do sprach sú: ‘Herre, wie mag dich din unvermosigeter lip twingen, das du ein mitliden mit unseren gebresten hast, in dem du kein widersprechen nie gehebet hast? ’ Do sprach er: ‘Den vernúnftigen ist liht zuo sagen. Der xijbot spricht von mir, er mueste sich in allen sachen zuo sinen bruederen glichen, darumb das er barmhertzig wurde.’ Darnoch lerte er sú, wie man in verwunden solte mit einem ovgen und sprach: ‘Das eine ouge miner erwelten, das min hertz verwundet, das ist ein gantzes wolgetruwen, das sú gedencken sol, das ich ir werlichen welle und múge zuo hilffe kummen in allen sachen. Und dasselbe wolgetruwen duot miner miltikeit also grossen schaden und gewalt, das ich ir nihtes versagen mag.’ Der Kontext dieses Kapitels erlaubt es, ein mehrstufiges Prinzip des heilsprogrammatischen Leidens zu erkennen. In den vorangehenden Abschnitten geht es um das Leiden Gertruds als besondere Gnadenerwählung. Auf die zitierte Passage folgt ein Kapitel, in dem die „besondere Begnadigung im Leid und in der Krankheit“ allen Menschen als Zeichen der Vermählung mit Christus dient. 34 In diesem Sinne funktioniert das hier untersuchte (48.) Kapitel des Botten als Zwischenschritt zum Heil. Die Überschrift ist modal gehalten und formuliert eine Anleitung zum Gebot: Wie man got verwunden sol mit einem ougen . In der lateinischen Fassung, in der Überschriften ebenfalls zum alten Textbestand gehören, finden wir eine andere Betitelung 32 Siehe dazu Niklaus Largier, Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese , München 2007, S. 37-42, der seine Beobachtungen auf im Mittelalter herrschende Vorstellungen über den Leser basiert, „der immer als ein in einen zeitlichen Prozess eingebundener Praktiker vorgestellt werden muss“ (S. 37). 33 Gertrud von Helfta (wie Anm. 15), Kapitel 48, S. 110, Z. 1-22. 34 Ebd., S. 61. 88 Racha Kirakosian des entsprechenden Kapitels: De compassione Domini . Die compassio wird in der mystischen Tradition wie etwa die Meditation oder das Gebet als Vorstufe der unio angesehen. 35 Das Konzept der compassio gründet auf der biblischen Kreuzigungsszene. Mittelalterliche Leidensbzw. Nachempfindungskonzepte setzen bei der Rolle Marias am Kreuz an. Der im 11. und 12. Jahrhundert ansteigende Marienkult betont die neutestamentliche compassio , die im strengen Sinne nicht von dem alle Erfahrungen übersteigenden Leiden Christi, sondern von einer nachvollziehbaren Art des Leidens im Erinnern handelt. 36 Rachel Fulton argumentiert, dass das Nachempfinden der Passion Christi insofern als brautmystische Komponente verstanden werden darf, als die formale Exegese des Hohenlieds die Identifikation der Braut mit Marias Leiden erlaube. 37 In der Botten -Passage ist es allerdings der Bräutigam, der compassio empfindet, so wie auch der lateinische Titel die compassio Domini hervorhebt. Wer auf ihn vertrauend ihn in Zeiten der Bedrängnis anrufe, verwunde sein Herz, sei seine Braut. Anders als bei Margareta Ebner oder Heinrich Seuse ist es nicht die menschliche Seele oder der dazugehörende Körper, sondern Christus selbst, der an dieser Stelle verletzt werden will. Der Verwundung folgt die ‘Auserwählung aus Tausenden’, d. h. die Angreiferin wird zur Braut erkoren. Aus intertextueller Sicht werden drei Versatzstücke aus dem Hohenlied verarbeitet und kombiniert: Eine ist min tube. Ich habe sú userwelt us tusenden, wenn mit einem ovgenblicke hat sú min goetlich hertz verwundet also ser. (48, 6-8) Ct 6,8 una est columba mea perfecta Ct 5,10 dilectus meus candidus et rubicundus electus ex milibus Ct 4,9 vulnerasti cor meum soror mea sponsa vulnerasti cor meum in uno oculorum tuorum Das im Hohenlied in der Vergangenheit angesiedelte Initiationsgeschehen der Liebe wird im Botten zu einer regelrechten Anleitung zur Verwundung, indem der Bräutigam seine Geliebte zur Gewalt gegen ihn aufruft. Das dabei erlittene Leiden zwingt ihn förmlich zur compassio . Im lateinischen Legatus finden wir einen ähnlichen Aufruf zur Initiation der Liebe durch das Durchbohren des Herzens: 38 Dum quidam frater in capella praedicans inter caetera dixisset: ‘Amor est aurea sagitta, cum qua, si quid sagittaverit homo, hoc sibi quodammodo vendicat; ergo stultus est qui amorem suum terrenis occupat, caelestia negligendo.’ Ad haec verba ista inardescens dixit ad Dominum: ‘O utinam haberem ego hanc sagittam, quia absque dilatione te unicum dilectum animae meae transfigere vellem, ut te semper retinerem.’ Quod cum diceret, vidit Dominum versus se auream sagittam tenentem et sic respondentem: ‘Tu proponis me vulnerare, si auream sagittam haberes; ergo cum ego hanc habeam, volo te transfigere in tantum quod nunquam amplius ad priorem redibis sanitatem.’ Gertrud hört einen Ordensbruder von der Liebe als goldenem Pfeil sprechen, der wenn eingesetzt die Besitzergreifung von seinem Opfer nach sich führe. Es sei töricht, diese Waffe himmlischen 35 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts , München 1990, S. 15. 36 Rachel Fulton, From Judgement to Passion. Devotion to Christ and the Virgin Mary 800-1200 , New York 2002, S. 199-201. 37 Ebd., S. 197. - Bibelzitate im Folgenden nach Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem , hg. von Robertus Weber, 2 Bde., Stuttgart 3 1985. 38 Gertrude d’Helfta (wie Anm. 31), S. 204-206. Wie man got verwunden sol mit einem ougen 89 Dingen vorzuenthalten. Entfacht ( inardescens ) von diesen Worten wendet sich Gertrud an den Herrn mit der festen Zusicherung, ihn, den Geliebten ihrer Seele, mit einem solchen goldenen Pfeil verletzen, ja durchbohren und behalten zu wollen, wenn sie einen solchen besäße. Daraufhin sieht sie den Herrn mit einem goldenen Pfeil. Er wiederholt die Kondition ihres Versprechens, die darin besteht, einen goldenen Pfeil zu besitzen. Im Erzählbericht dargelegt (sowie in der direkten Rede wiederholt) erfüllt Christus diese Bedingung, die er zum Anlass nimmt ( ergo ), im Umkehrschluss seine Geliebte zu beschießen mit der geäußerten Absicht, dass sie nie wieder genese. Die Besonderheit dieser Passage des Legatus ist bereits Wieland aufgefallen, doch für ihr Fehlen im deutschen Botten sei seines Erachtens „kein erkennbarer Grund vorhanden“. 39 Auch hier kann keine Erklärung für das Fehlen dieser Schilderung im Botten gegeben werden. Trotzdem soll das Motiv des Liebespfeils vor dem Hintergrund der Liebesverwundung genauer untersucht werden, um das oculus -Motiv des Botten im literarhistorischen Kontext besser nachvollziehen zu können. 40 Das Bild eines mit seinen Pfeilen Liebe entfachenden Eros entstammt der hellenistischen Tradition. 41 So schießt das verspielte Kind Eros in der Argonautika des Apollonios von Rhodos seinen verheerenden Pfeil auf Medea. 42 Die Vorstellung des Eros als kleines Kind ( putto ) ist ebenfalls hellenistisch. 43 In dieser antiken Tradition des Liebespfeils steht etwa die Amor- Allegorie im Minneleich des Wilden Alexander. Amor, das römische Analogon zum hellenistischen Eros, steht hier für ein gnadenloses Liebesprinzip: Er richtet mehr Schaden und Unheil an, als Eintracht und Zusammenhalt zu stiften: 44 Nu nemet war, daz ist der schilt dar under manger hât gespilt: ûf rôtem velde ein nacket kint daz ist gekrœnet unde ist blint; von golde ein strâle in einer hant und in der andern ist ein brant. (Versikel X) Vür wâr hie kumt Amor gevlogen; der bringet vackeln unde bogen. sîn strâle vert durch ganze want; dar nâch sô wirfet er den brant. (Versikel Xb) Schône, Minne, schône, tobe niht mit der krône: (Versikel XIV) Dû hast nû ze mâle 39 Wieland (wie Anm. 15), S. 57. 40 Das Durchbohren des Herzens mit einem Liebespfeil steht im Zusammenhang mit der Seitenwunde Christi. Die Erneuerung der Passion (hier mit dem Marterinstrument des Speers) führt so zum göttlichen Herzen, vgl. Racha Kirakosian, „Das göttliche Herz im ‘Fließenden Licht der Gottheit’ Mechthilds von Magdeburg. Eine motivgeschichtliche Verortung“, in: Euphorion 111 (2017), S. 257-275. 41 „Eros“, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae , Bd. 3.1, Zürich/ München 1986, S. 850-855, 933- 942, hier S. 852. 42 Rhodius Apollonius, Argonautica, Book III , hg. von Richard L. Hunter, Cambridge/ New York 1989, S. 58, Z. 275-298. 43 „Eros“ (wie Anm. 41), S. 937f. 44 Carl von Kraus, Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts , 2. überarbeitete Auflage hg. von Gisela Kornrumpf, 2 Bde., Tübingen 1978, hier Bd. 1, S. 17f. 90 Racha Kirakosian zwei mit einer strâle gwunt in dîme stricke von ir ougen blicke. (Versikel XV) Im Minneleich des Wilden Alexander ist der strâle zugleich Pfeil und Augenlicht. 45 Diese polysemantische Besetzung von strâle erlaubt es, die beiden zuletzt vorgestellten Botte - und Legatus -Passagen in Beziehung zueinander zu setzen: Die Verwundung ergeht durch den Blick, der wie ein Pfeil das Herz durchbohrt. 46 Diese ersten intertextuellen Bezüge zeigen bereits, dass eine einfache Trennung zwischen einem Liebesschmerzkonzept in der höfischen Dichtung und einer Leidenstheologie im geistlichen Bereich nicht möglich ist. 47 In diesem Sinne bietet sich ein weiterer Vergleich mit der höfischen Dichtung hervorragend an. Dass Blicke schmerzen können, obwohl oder gerade weil sie von der Geliebten ausgesendet werden, ist ein zentrales Thema bei Heinrich von Morungen. 48 Die Kraft der Blicke wird bei Morungen wie wohl bei keinem anderen Minnesänger heraufbeschworen: daz was der ougen wunne und des herzen tôt (Lied XVII). Das Lied Vrowe, wilt du mich genern bindet ein Heilsversprechen an den Anblick der Geliebten, wobei erst das Erblicken der letzteren die Krankheit verursacht: 49 Vrowe, wilt du mich genern, sô sich mich ein vil lützel an. ich enmác mich langer niht erwern, den lîp muoz ich verlorn hân. Ich bin siech, mîn herze ist wunt. vrowe, daz hânt mir getân mîn ougen und dîn rôter munt. (Lied XIX) In den Liedern Ulrichs von Liechtenstein verspricht sich der Dichter mehr Freude im Anblick der Geliebten zu empfinden, als das paradîse ihm je bieten könnte: 50 […] daz ich in dem paradîse niht sô gerne wisse mînen lîp, als dâ ich der guoten solde sehen in ir ougen minneclîchen dâ möhte lieplîch wunder mir geschehen. (Lied 57, Strophe 6) 45 Vgl . auch sît ich trage den slac von der minnen strâle (3,30b). Weitere Ausführungen zum Minneleich des Wilden Alexander bei Racha Kirakosian und David W. Hughes, „‘Mynne tzeichen und ir don’. The Text and Music of Meister Alexander’s Minneleich in the Jena Songbook“, in: Speculum 94.2 (2019), S. 385-419. 46 Zur Vorstellung des Sehvorgangs als in das Auge eindringende Strahlen siehe Schleusener-Eichholz (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 51-79. 47 Susanne Köbele, Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung , Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), S. 229-240, hat ausgiebig dargelegt, dass das stringente Auseinanderhalten der weltlichen und geistlichen Literaturbereiche Lücken entstehen lässt. 48 Siehe auch den Beitrag von Jan Stellmann in diesem Band. 49 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus , hg. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Stuttgart 38 1988, S. 264. - Wie Liebe zu Christus krank macht und Leid verursacht, wird an anderer Stelle im Botten (wie Anm. 15), Kapitel 56, S. 115f., ausführlich geschildert. 50 Von Kraus, Deutsche Liederdichter (wie Anm. 44), S. 492. Wie man got verwunden sol mit einem ougen 91 Doch es geht hier, wie Susanne Köbele es beschreibt, um das „innere, visionäre Sehen“, bei dem sich das „[I]n-ihre-Augen-Schauen, wenn auch im Irrealis, […] in eine komplexe konditionale Folge [verflüchtigt]“. 51 Im Lied Ulrichs von Liechtenstein heißt es im Anschluss an den geäußerten Wunsch, der frouwen nah sein zu wollen: von dem wunsche ein wunder mir geschach, / daz ich die vil minneclîchen / mit des herzen ougen bî mir sach. (Lied 57, Strophe 2). 52 Die hier evozierte, von Augustinus geprägte Wendung der ‘Augen des Herzens’ findet sich auch in dem Text, der die intrinsische Verwicklung von Liebe und Schmerz künstlerisch auf die Spitze treibt, im Tristan und Isolde Gottfrieds von Straßburg. 53 In der rede von minnen , die an eine heilsgeschichtliche Partizipation des Rezipienten knüpft, geht es um die reine triuwe und um die „innere Integrität des Herzens“ als mögliche Heilsgewissheit. 54 ein blic, ein inneclîch gesiht ûz herzeliebes ougen der leschet âne lougen 12355 hundert tûsent smerzen des lîbes und des herzen. ( Tristan , V. 12352-12356) 55 Der Blick bedeutet hier Heilsversprechen in Form eines Geheimzeichens zwischen den Liebenden, das den Ausweg aus der Notlage zeigt. 56 Ein weiteres prominentes Beispiel für den durch das Auge verursachten inneren und äußeren Schmerz ist Herrands von Wildonie Erzählung Die treue Gattin . 57 Das Auge als Organ scheint sich also besonders gut anzubieten, wenn es darum geht, die äußere Welt mit der inneren zu verbinden, wie auch aus der Definition erotischer Liebe nach Andreas Capellanus hervorgeht: passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius . 58 Ein inneres Leiden verursacht durch ein äußeres Sehen, hier des anderen Geschlechts, ist aber nicht unbedingt die Art von Verletzung 51 Köbele (wie Anm. 47), S. 194; siehe auch ebd., S. 200. 52 Von Kraus, Deutsche Liederdichter (wie Anm. 44), S. 492. 53 Augustinus Hipponensis, Sermo 117 ( PL 38 [1845], Sp. 661-671, zum oculus cordis siehe insbesondere Kapitel 3, Sp. 663f.). 54 Vgl. dazu Tomas Tomasek, Die Utopie im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg , Tübingen 1985 (Hermaea, N. F. 49), S. 150. 55 Gottfried von Straßburg, Tristan , hg. von Karl Marold, unveränderter 4. Abdruck nach dem 3. mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten Apparat besorgt von Werner Schröder, Berlin 1977, S. 174. 56 Auf den Einfluss der mystischen Bildlichkeit eines augustinischen oculus cordis auf Gottfrieds Tristan wurde bereits hingewiesen, siehe Friedrich W. Wodtke, Studien zum Wortschatz der Innerlichkeit im Alt- und Mittelhochdeutschen , Kiel 1952, S. 29. 57 Herrand von Wildonie, Die treue Gattin , in: Novellistik des Mittelalters , hg. und kommentiert von Klaus Grubmüller, Berlin 2010 (Bibliothek des Mittelalters 47), S. 96-110; siehe dazu Carmen Stange, „‘Oculi cordis’. Verstümmelung, Wahrnehmung und Erkenntnis in Herrands von Wildonie ‘Die treue Gattin’“, in: (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter , hg. von Gabriela Antunes und Björn Reich, Göttingen 2012, S. 83-102. Siehe auch das verwandte Märe aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Das Auge , in: Neues Gesamtabenteuer. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts , hg. von Heinrich Niewöhner, Berlin 1937, S. 154-157. Ich danke Sandra Linden für diesen Hinweis. 58 Andreas Capellanus, De amore , I, i, lateinische Fassung in: Andreas Capellanus, On Love , hg. von Patrick G. Walsh, London 1982, S. 32. Zugleich können visuelle Erscheinungen täuschen, so dass das Innere nicht im Äußeren gespiegelt, sondern verzerrt und gar verkehrt wird, wie Beispiele aus höfischen Versromanen zeigen; siehe dazu Jan-Dirk Müller, „Blinding Sight. Some Observations on German Epics of the Thir- 92 Racha Kirakosian durch das Auge, wie sie im Botten vorkommt. Zwar ist das Bild der Liebesentfachung durch einen visuellen Pfeilbeschuss hilfreich, doch bleibt zu klären, um welche Art von Sehen es sich im Botten -Text eigentlich handelt und wie dieses Sehen mit dem zuvor vorgestellten Leiden-Heilsgeschehen-Komplex korreliert. IV Das oculus-Motiv in der patristischen und mystischen Tradition Wo im lateinischen Legatus stets oculus gebraucht wird, findet sich im deutschen Botten die Unterscheidung zwischen ovgenblicke und ovgen . Ovgen ist hier metonymisch zu verstehen, denn gemeint ist der vom Auge ausgehende Strahl: Verschiedene auf Platon basierende Sehtheorien des Mittelalters beschreiben ein vom Auge ausgesendetes Licht, das die optische Wahrnehmung von Objekten mit Zuhilfenahme äußeren Lichts ermöglicht. 59 Hugo von St. Viktor fasst die Physiologie des Sehvorgangs als eine Bewegung auf, die von innen nach außen erfolgt. 60 Die Exegese des Hohenlieds bereichert diese Theorie mit der Vorstellung, dass das Augenlicht als Mittel zur Verletzung des Herzens dient: vulnerasti cor meum […] in uno oculorum tuorum (Ct 4,9). 61 Der patristischen und mystischen Tradition nach gibt es eine innere Art des Sehens, einen oculus contemplationis , d. h. ein Betrachten des Leidens Christi. Die Passionsbetrachtung als spirituelle Übung wird im Botten der götlichen miltekeit auch als solche beschrieben: mit einem rehten mitleiden betrahten (91, 5). Doch auch mit allegoretischem Bemühen mag der oculus contemplationis allein keine ausreichende Erklärung für das oculus -Motiv im Botten liefern. Stattdessen liegt ein vielschichtiges Konzept vor: Auf die (imperfekte) Kontemplation folgt der Gnadenerweis Christi, mit dessen Hilfe die mystische Vereinigung stattfinden kann. Zu Beginn scheitert Gertrud in ihrer Kontemplation, sie wird geirret von dem entrihten ir gedencke . Ihr Aufruf zur Hilfe erwirkt das Mitleiden Christi, verursacht also die entsprechende compassio Domini . Das Figuren-Ich Gertruds fragt nach: Herre, wie mag dich din unvermosigeter lip twingen, das du ein mitliden mit unseren gebresten hast, in dem du kein widersprechen nie gehebet hast? (48, 13-15) Als Antwort wird der Hebräerbrief angeführt: Der xijbot spricht von mir, er mueste sich in allen sachen zuo sinen bruederen glichen, darumb das er barmhertzig wurde (48, 15-17). 62 Im zitierten Hebräerbrief wird die Erniedrigung Christi im Leiden als eine barmherzige Angleichung an den Menschen beschrieben (vgl. Heb 2,17). Im neutestamentlichen Text wird daraus die Privilegierung des Menschen den Engeln gegenüber abgeleitet (Heb 2,16). Mit der Angleichung durch die Passion wird dem mystischen Verständnis nach die Vereinigung von Mensch und teenth Century“, in: Rethinking the Medieval Senses , hg. von Stephen G. Nichols, Andreas Kablitz und Alison Calhoun, Baltimore 2008, S. 206-217. 59 Vgl. dazu Henryk Anzulewicz, „Perspektive und Raumvorstellung“, in: Raum und Raumvorstellung im Mittelalter , hg. von Jan A. Aertsen u. a., Berlin 1997 (Miscellanea Mediaevalia 25), S. 249-286, hier S. 262f. Albertus Magnus revidierte diese Sehtheorien, vgl. ebd., S. 263. 60 Hugo de S. Victore, De tribus diebus ( Didascalion I,7 c. 7, in: PL 176 [1854], Sp. 818A-B): Supremum locum obtinet visus in oculis […]. Scimus autem, quod reliqui omnes sensus foris intro veniunt, solus visus intus foras exit, et eminus posita mira prae ceteris agilitate percipit . Dazu Anzulewicz (wie Anm. 59), S. 263. 61 Siehe Commentaria in hierarchiam coelestem III, 7 ( PL 175 [1854], Sp. 975A) im Anschluss an I Cor 2; siehe auch De sacramentis christianae fidei I, 10 ( PL 176 [1854], Sp. 173-618B). 62 Obwohl im Mittelalter generell Matthias, ein Jünger Jesu, als zwölfter Apostel an Stelle des Jüngers Judas Iskariot gezählt wurde, nimmt hier Paulus diese Rolle ein. Zu Matthias als zwölftem Apostel in der Legenda aurea siehe Peter Stanford, Judas. The Most Hated Name in History , Berkeley 2015, S. 125f. Wie man got verwunden sol mit einem ougen 93 Gott ermöglicht. Der Übergang der oculus -Metapher vom Sinnbild der Erkenntnis zur unio mystica findet bereits bei Bernhard von Clairvaux statt. 63 Im Botten verursacht der Blick letzten Endes die Vereinigung: 64 Das eine ouge miner erwelten, das min hertz verwundet, das ist ein gantzes wolgetruwen, das sú gedencken sol, das ich ir werlichen welle und múge zuo hilffe kummen in allen sachen. Und dasselbe wolgetruwen duot miner miltikeit also grossen schaden und gewalt, das ich ir nihtes versagen mag. Hier baut die Wechselwirkung des Leidens auf ein wolgetruwen auf und mündet in die eucharistische unio , denn die ganze Episode spielt sich unmittelbar vor der Kommunion, d. h. der liturgisch inszenierten Vereinigung, ab. Wenn Christus der Braut nichts abschlagen kann ( das ich ir nihtes versagen mag ), dann ist die Vereinigung von Gott und Seele erreicht. Ähnlich wie bei Mechthild von Magdeburg, wo „Leiden als spezifisch menschliche Form der Prüfung“ ausgewiesen wird, 65 bleibt Gertrud nicht bei der unio stehen, sondern öffnet die ihr erteilte Begnadigung einem größeren Kreis: 66 Do sprach sú: ‘Lieber herre, sit das wolgetruwen ein solliches guot ist, das es on din gnode nieman mag gehaben, was schulde hat denn der, der die tugent nit gehaben mag? ’ Do sprach der herre: ‘Ein ieglicher mag sin krangheit wol etwas úberwinden joch mit der geschrift; und mag er sin [halt M] 67 mit dem hertzen nit getuon, so sol er mit dem munde sprechen also Jop sprach: „Herre, ob du mich senckest in den grund der hellen, dennoch wurstu mich erloesen, und ob du mich joch zuo tode erslehst, dennoch wil ich dir getruwen.“ 68 Die wort und sollich soltu sprechen.’ An die Seite der Instruktion zur Verwundung des Herzens mit dem Auge der Seele tritt als didaktische Anweisung eine noch so mechanische Bibelrezeption in Notsituationen. Auf diese Weise bedeutet sowohl die Gewaltzufügung durch ein wolgetruwen als auch die Bibelrezeption eine Erneuerung der Passion. 69 Das Motiv der Liebesverwundung durch das Auge trägt daher im Botten -Text verschiedene Konnotationen: ouge als Voraussetzung der Kontemplation, des ‘Ausstrahlens’ der Liebesbekundung und der Konformität von Seele und Gott. Wegen dieser 63 Super Cantica Canticorum , Sermo 57, in: Sancti Bernardi Opera , hg. von Jean Leclerq, Charles H. Talbot und Henri M. Rochais, 8 Bde., Rom 1957-1977, hier Bd. 2 (1958), S. 119-126, insbesondere S. 119-122. Eine weitere Besetzung des oculus -Motivs ist die des oculus intellectualis wie z. B. in: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit , nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text , besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München/ Zürich 1990 (MTU 100), Buch III, Kapitel XII, S. 92, Z. 13: o v ge ir bekantnisse ; Buch III, Kapitel VII, S. 85, Z. 13f.: o v gen der heligen bekantnisse . 64 Gertrud von Helfta (wie Anm. 15), Kapitel 48, S. 111, Z. 18-22. 65 Suerbaum (wie Anm. 22), S. 248. 66 Gertrud von Helfta (wie Anm. 15), Kapitel 48, S. 111, Z. 22-29. 67 Die Handschrift M (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5292, Bl. 33r) präzisiert an dieser Stelle: vnd mag er sin halt mit dem hertzen nit getu o n, so sol er […] . 68 Vgl. Iob 30,23f.: scio quia morti tradas me ubi constituta domus est omni viventi, verumtamen non ad consumptionem eorum emittis manum tuam et si corruerint ipse salvabis ; Iob 13,15: etiam si occiderit me in ipso sperabo verumtamen vias meas in conspectu eius arguam . 69 Dieses Verständnis einer Bibelrezeption im Vollzug der memoria steht in der Tradition der Confessiones des Augustinus, wo das Herz als von ‘Worten wie Pfeile’ verwundet beschrieben wird, vgl. Augustinus, Confessiones , hg. von Lucas Verheijen, Turnhout 1981 (Corpus Christianorum Series Latina 27), 9,2,3 (S. 134): Sagittaueras tu cor nostrum caritate tua, et gestabamus uerba tua transfixa uisceribus […] . Siehe dazu Eric Jager, The Book of the Heart , Chicago/ London 2000, S. 33. 94 Racha Kirakosian Vielschichtigkeit des oculus -Motivs fallen Kontemplation der Passion und das Vertrauen auf Erlösung zusammen. Die der mittelalterlichen Vorstellung nach ‘penetrierende Kraft’ des Augenlichts zwingt in der Passionserneuerung Christus zur Gnade. V Zusammenführend In der mittelalterlichen christlichen Theologie ist Schmerz ein notwendiger Schritt für die Identifikation mit Christus. Was im Sinne der Passionserneuerung geschieht, wird im Botten sinnbildlich von Johannes dem Evangelisten schriftlich festgehalten, wobei Schrift als Zeichen der memoria fungiert und metaphorisch aus den Wunden Christi bezogen wird. Dafür penetriert Johannes die Seitenwunde Christi mit seiner Feder. Da zu Beginn des Botten das Buch von der Christusfigur mit dessen Wunden geschmückt wird, avanciert der Botte selbst zum Ausdruck der Passion. Die sich auf diese Weise in der Buchschriftlichkeit äußernde Erneuerung der Passion ist mit dem Akt der inneren Kontemplation verwandt. Der kontemplative Blick, der einen Liebespfeil aus dem inneren Auge schießt, verwundet Christus und löst so einen Gnadeneffekt aus. Die Liebesverwundung durch das Auge ist ein Topos, der auch in anderen Texten der Zeit - insbesondere in höfischer Dichtung - ausgehandelt wird. Dabei rangieren Gewalt und Liebesbekundung miteinander. Die Aggressivität der Bildlichkeit wird insbesondere dann ersichtlich, wenn man die mittelalterliche Vorstellung vom Augenlicht berücksichtigt, wonach Licht vom Auge selbst ausgestrahlt wird. Die visuelle Nähe zum die Seite Christi durchbohrenden Speer der Passion ist dabei nicht zufällig. Kontemplation ( oculus contemplationis ) soll schließlich die Reaktivierung der Passion hervorrufen. Die Reaktivierung der Passion zieht sodann Gnade und Erlösung nach sich. Die Vorstellung des ‘Mitleidens’ als Voraussetzung der Christuskonformität funktioniert auch in entgegengesetzter Richtung: Die memoria bewirkt bei Christus eine Passionserneuerung, die ihm in der Angleichung an den Menschen das Mitleiden mit der mystischen Braut ermöglicht. Im Botten -Text fordert Christus von der Braut, ihm Gewalt zuzufügen, weil er so zur compassio gezwungen wird, die wiederum zur Gnade führt. Nicht jedem sei dieser direkte, von wolgetruwen geprägte Zugang vergönnt, aber das Aussprechen der richtigen Worte führe ebenfalls dorthin. So funktionieren die Vergegenwärtigung der Passion in der Buchschriftlichkeit und die Liebesverwundung durch das Auge auf dieselbe Art und Weise: Kontemplation und Rezeption der Schrift leiten einen Schmerz und zugleich Erlösung bringenden Prozess ein. Heilige Wunden 95 Heilige Wunden Passionsfrömmigkeit im niederdeutschen Frühdruck Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann 1489 beschließt eine der großen Lübecker Bruderschaften, eine ewige Messe zu stiften zur Ehre der moder Christi van der medelidinghe, de se myt ereme leven sone, unsern salichmakere, do he vor uns allen yn deme galgen des cruces hanck, hadde. Durch diese Messe, die ynnichliken zu singen sei, sollen auch die Gläubigen die Möglichkeit zum Mitleiden erhalten: uppe dat de ynnighen cristenmynsschen, de sodane myssen horen, medelidinge myt Christo unde Marien syner moder hebben unde des delafftich moghen werden . 1 Diese Stiftung bestätigt die besondere Rolle, die das Fest der compassio Mariae in Lübeck spielt. 2 Als das Boek der Episteln und Evangelien , ein niederdeutsches Plenar, 1488 für den Lübecker Markt überarbeitet wurde, fügte der Bearbeiter der Mohnkopfoffizin in den Festkalenderappendix einen Zusatz ein, der zwischen dem Apostelabschied und dem Tag des heiligen Alexius die compassio Mariae als neues Fest des Lübecker Stifts verzeichnet: Van vnser leuen Frowen daghe der medelidynge dat men holt des sondages na aller apostel daghe in deme lubschen stichte vor eyn nye fest ( Plenar D , Bl. 249r). 3 In der folgenden erweiterten Auflage vier Jahre später wird die Formulierung noch durch den Hinweis ergänzt, für den Tag des Mitleidens unserer lieben Frau, das am Sonntag nach dem Apostelfest als neues Fest im Lübecker Stift gefeiert werde, seien Evangelium und Epistel wie bei den Marienfesten zwischen Ostern und Pfingsten zu lesen; dafür wird auf Blatt 136 rückverwiesen, wo tatsächlich die Lesungen in vollem Wortlaut abgedruckt sind. Vor allem aber wird das Fest durch ein Andachtsbild hervorgehoben. Der Holzschnitt zeigt Maria unter dem Kreuz, die verschränkt mit dem toten Christus unter dem Kreuz sitzt; ein Schwert durchkreuzt das T-förmige Kreuz und zielt hinter ihren gefalteten Händen auf ihre Brust ( Plenar E , Bl. 322vb, Abb. 1). 4 1 Urkundenbuch des Bistums Lübeck , Bd. 3: 1439-1509 , bearbeitet von Wolfgang Prange, Neumünster 1995 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 36, Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden 13), Nr. 2001, S. 581 (21. September 1489). 2 Vgl. zur Verbindung von Marienverehrung und Frühdruck Brigitte Derendorf, „Die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens als Kriterium für die Einordnung des in Lübeck gedruckten spätmittelalterlichen Erbauungsschrifttums. Zu einigen Drucken aus der Mohnkopf-Offizin und der Druckerei des Steffen Arndes“, in: Niederdeutsches Wort 29 (1989), S. 75-98. 3 Die Plenare sind nicht ediert; sie werden nach den Drucken zitiert. Plenar D , Lübeck: Mohnkopf 1488 ( GW [http: / / www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/ , Stand aller Webangaben in diesem Beitrag 2.9.2019] 34208) ist online im Exemplar Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 4° Inc. 1468, http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0001784700000000. 4 Plenar E , Lübeck: Mohnkopf 1492 ( GW 34220), liegt als Kopie des Exemplars New York, Pierpont-Morgan Library, ChL 518, Katalog http: / / corsair.themorgan.org/ cgi-bin/ Pwebrecon.cgi? BBID=134225 in der Bib- 96 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Abb. 1: Plenar E , Lübeck: Mohnkopf 1492, Exemplar New York, Pierpont-Morgan Library, ChL 518, Bl. 322vb (mit freundlicher Erlaubnis der Pierpont-Morgan Library) Tatsächlich handelt es sich bei dem Fest compassio Mariae um eine Lübecker Sonderentwicklung, die sich gleichzeitig mit dem rasanten Anwachsen der Drucktätigkeit in Lübeck der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vollzieht. 5 Es lässt sich hier nachverfolgen, wie sich das Konzept der compassio im Frühdruck der Hansestadt niederschlägt, und welche Rolle Maria für die Betrachtung der Wunden Christi spielt. Es sind vor allem drei Lübecker Offi zinen, die liothek der Abteilung Niederdeutsche Sprache und Literatur an der Universität Münster; mit herzlichem Dank an Friedel Helga Roolfs (Münster) für die Vermittlung. 5 Es wurde zuerst in der Kölner Kirchenprovinz 1423 eingeführt und zwar für den vierten Freitag nach Ostern, setzte sich aber erst im 18. Jahrhundert allgemein durch, dann für den 15. September, vgl. Winfried Kämpfer, Studien zu den gedruckten mitt elniederdeutschen Plenarien. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte spätmitt elalterlicher Erbauungsliteratur , Köln u. a. 1954 (Niederdeutsche Studien 2), S. 187. Heilige Wunden 97 in den letzten 15 Jahren des 15. Jahrhunderts das Andachtsthema maßgeblich aufgreifen und ausgestalten (II-IV). Die These, dass es sich bei dem Mitleiden mit den Wunden Christi um ein spezifisch lübisches Andachtsthema handelt, wird durch eine Analyse der Andachtsproduktion der drei Offizinen untermauert. Vorweg geht eine historisch-geographische Verortung Lübecks in der Frühdruckzeit (I). I Lübeck in der Frühdruckzeit Um die Bedeutung Lübecks für die Andachtsproduktion zu verstehen, ist es notwendig, die Druckaktivitäten vor dem Hintergrund der Hanse als Wirtschaftskraft von europäischer Bedeutung zu sehen. 6 Mit über 25.000 Bewohnern war Lübeck nicht nur die zweitgrößte Stadt Deutschlands nach Köln und größte Stadt der Hanse, sondern auch das strategische Zentrum des Bundes, am Kreuzungspunkt der Handelsrouten, die von Flandern mit Brügge bis zu Ostseestädten wie Gdańsk, Reval und Nowgorod reichte. Als freie Reichsstadt stand Lübeck im Austausch mit den süddeutschen Handelszentren Nürnberg und Augsburg; nach Norden und Osten hatte die Stadt die Kontrolle über den lukrativen Handel mit Lüneburger Salz. Schon bevor in Lübeck selbst die Druckproduktion begann, war die Stadt ein Umschlagplatz für Bücher in den Nord- und Ostseeraum, so dass die Entwicklung zum wichtigsten Druckzentrum in Nordeuropa erwartbar war. Zwischen 1473 und 1525 nahmen neun Druckereien den Betrieb auf. Lübeck konnte mit Köln und Antwerpen, den anderen Orten, an denen niederdeutsch gedruckt wurde, konkurrieren. 7 Lübecker Drucker bestimmten nicht nur den Markt, sondern exportierten auch das Fachwissen und die Technologie nach Dänemark und Schweden. 8 Die geistliche Landschaft Lübecks war von diesen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt. Das Bistum Lübeck war vergleichsweise klein und unbedeutend; die geistliche Entwicklung wurde von dem mit Bürgerlichen besetzten, unabhängigen Domkapitel und den von Laien geführten Bruderschaften bestimmt - mehr als 70 von ihnen entstanden von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur Reformation, etwa die Leichnamsbruderschaft der Kaufleute und zahlreiche Marienbruderschaften, darunter auch eine spezielle Marien-Mitleidsbruderschaft; 9 die häufigsten Stiftungen der Bürger sind für ‘Marientiden’, spezielle Marienmessen. Wie die Bischöfe mit dieser starken Präsenz der Bürgerschaft umgingen, war unterschiedlich: Bischof Albert II. Krummendieck (1466-1489) gab den Bischofsbesitz in Eutin auf, um mit dem Geld ein Kreuz für den Lübecker Dom bei Bernt Notke in Auftrag zu geben. Seine Einführung des 6 Neue Literatur zu Lübeck verzeichnet bei Henrike Lähnemann, „Lübeck“, in: Europe: A Literary History, 1348-1418 , hg. von David Wallace, Oxford 2016, Bd. 2, S. 596-610. 7 Dieter Lohmeier, „Die Frühzeit des Buchdrucks in Lübeck“, in: Die Lübecker Buchdrucker im 15. und 16. Jahrhundert. Buchdrucker für den Ostseeraum , hg. von Alken Bruns und Dieter Lohmeier, Heide in Holstein 1994, S. 11-53. Überblick über die Lübecker Drucker bei Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing , 2. erweiterte Auflage, Wiesbaden 2015 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), S. 604-618. 8 Hubertus Menke, „‘Na dem Holme 1 Vat mit Boken’. Zum spätmittelalterlichen Buchvertrieb Lübecks in den Ostseeraum“, in: Niederdeutsch in Skandinavien. Akten des 1. Nordischen Symposions ‘Niederdeutsch in Skandinavien’ in Oslo , hg. von Kurt Erich Schöndorf und Kai-Erik Westergaard, Berlin 1987 (Beihefte zur ZfdPh 4), S. 147-157; Wolfgang Undorf, From Gutenberg to Luther - Transnational Print Cultures in Scandinavia 1450-1525 , Leiden 2014. 9 Monika Zmyslony, Die Bruderschaften in Lübeck bis zur Reformation , Kiel 1977 (Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 6), S. 28f. 98 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Festes der compassio Mariae scheint auch eine Reaktion auf das Engagement der Bürgerschaft Lübecks gewesen zu sein. Dieser Eindruck entsteht jedenfalls in der Urkunde seines Nachnachfolgers Dietrich II. Arndes (1492-1506), der sich 1499 zwar mit ausführlicher theologischer Begründung für das Fest einsetzt, sich aber gleichzeitig gegen die Form wendet, in der es die Stadt sich angeeignet hatte. Es heißt da, aus den Schriften der Kirchenväter gehe zweifelsfrei hervor, dass 10 in Christi Jesu salvatoris nostri amarissima passione omnis nostra salus spes atque fiducia consistit. Nam eius devota atque cordialis meditacio ad dilectionem Dei inflammat, ad graciarum actionem invitat, ad imitacionem provocat, ad contemplacionem predulcem erigit et ad communem atque votivam animarum salutem efficacissime operatur. […] O gemebundum certamen oculorum, quod tunc fuit inter matrem et filium, dum illa sursum aspiceret et in horribili crucis patibulo filium paulatim emori videret, ille vero amoris reddens vicem oculos iam morte gravatos aperiens matremque quam diligebat aspiciens indicibili cruciabatur dolore. (‘auf der bittersten Passion unseres Heilands Jesus Christus unser ganzes Heil, Hoffnung und Vertrauen beruht. Denn die innige und herzliche Versenkung darin entflammt zur Liebe Gottes, lädt zur Danksagung ein, regt zur Nachahmung an, ermuntert zur allersüßesten Betrachtung und ist zum allgemeinen und persönlich gestifteten Seelenheil höchst wirksam. […] O welch beseufzenswerter Wettstreit der Augen, der dort zwischen Mutter und Sohn stattfand, als sie von unten hochblickte und am schrecklichen Kreuzesbalken ihren Sohn langsam sterben sah, während umgekehrt er ihre Liebe erwidernd die schon vom Tod getrübten Augen öffnete und die Mutter, die er liebte, anschaute, wie sie von unaussprechlichem Leid gekreuzigt wurde.’) Es ist unentscheidbar, wessen Leiden größer sei: das der Mutter, die das Leiden des Sohns betrachten muss, oder das des Sohns, der ein Zeuge ihres Mitleidens wird; beide werden gekreuzigt. Diese Reflexion des Mitleidens Mariens durch Christus als ‘Wettstreit der Blicke’ ist eine Wendung, die in den niederdeutschen Andachtstexten auch immer wieder begegnet; sie lässt sich auch mit der Passionsvision Birgittas von Schweden verbinden, die in Abschnitt II diskutiert wird. Die Einwände, die der Bischof gegen die bisherige Praxis des compassio -Festes vorbrachte, lagen auf einem anderen Gebiet: Dadurch, dass es bislang auf einen Freitag fiel, sei es zu Müßiggang und üppigem Feiern genutzt worden und habe Anlass zu Auflösung und Aufstand gegeben ( dissolucionis et insolencie daret occasionem ), 11 v. a. den Jugendlichen beiderlei Geschlechts. Daher habe er das Fest auf einen Sonntag im Juli verlegt; außerdem sei die frühere historia - gemeint sind die lateinisch-hymnischen Texte, aus denen sich die Liturgie des Tages speiste - zwar faktisch korrekt, aber sprachlich holprig ( sine lege latinitatis ) verfasst worden. Darum habe er angeordnet, die durch ihren eleganteren Stil, die süßere Melodie und den verständlicheren Inhalt stärker zur Andacht anregende historia zu verwenden, die mit dem Hoheliedzitat Adiuro vos filie Ierusalem beginne. Dahinter verbirgt sich mehr als nur ein Streit um die latinitas : Es geht um die Deutungshoheit für populäre geistliche Themen. Im Endeffekt erwiesen sich die Drucker wirkmächtiger als die Bischöfe. Der Festtag im Juli setzte sich nicht auf Dauer durch, wohl aber die Lübecker Drucke, die das Mitleiden Marias 10 Urkundenbuch des Bistums Lübeck (wie Anm. 1), Bd. 3, Nr. 2086, S. 698 (3. Juni 1499). 11 Dieses und die folgenden Zitate in der gleichen bischöflichen Verlautbarung, Urkundenbuch des Bistums Lübeck (wie Anm. 1), Bd. 3, Nr. 2086, S. 698 (3. Juni 1499). Heilige Wunden 99 erklärend aufbereiteten. Dabei waren die Bischöfe durchaus auch mit den Anfängen des Buchdrucks verbunden: Das Missale Lubicense wurde schon 13 Jahre früher als Auftrag Bischof Alberts bei der Brandis-Dynastie verlegt, die noch vor Ghotan in Lübeck zu drucken anfing. 12 Aber für unser Thema sind Druckhäuser wichtiger, die nicht primär die Lübecker Geistlichkeit lateinisch bedienten. Die drei Offizinen Ghotan, Mohnkopf und Arndes entwickelten im engen Text- und Bildaustausch den volkssprachigen Andachtsmarkt in Lübeck und verbreiteten ihn dann im ganzen Hanseraum. Die Texte, die Bartholomäus Ghotan, die Mohnkopf-Offizin und Vater und Sohn Arndes verlegen, gehören weitgehend zur Andachtsliteratur mit dem deutlichen Anliegen, ‘nützliche Lehre für nichtgelehrte Leute’ ( nutte lere den simpelen luden ) vorzulegen, wie es zu einer eucharistischen Unterweisung im Buch heißt, das das Mitleiden Marias programmatisch in den Titel genommen hat, dem Boek van der medelydinghe Marien aus dem Verlag von Steffen Arndes. 13 Die Entwicklung der städtischen, durch die Hanse primär volkssprachigen Schriftkultur war durch die Bettelorden bestimmt, durch zeitgenössische Reformbewegungen und durch die Devotio moderna mit ihrer Betonung eines Zugangs zu religiöser Lehre und Praxis für weitere Bevölkerungsschichten. Die Andachtsliteratur der Lübecker Drucker war als praktische Theologie auf die Seelsorge ausgelegt, ob nun durch Gebete, Predigten oder durch kommentierende Texte. 14 Lübeck, die freie Reichsstadt mit der starken Bürgerschaft und dem weltweiten Handelsnetz, bot ideale Bedingungen für die Entfaltung des Druckwesens, ja zog Drucker geradezu magisch an. Die große Zahl an Offizinen bedeutete nicht nur Wettbewerb, sondern auch Synergien bei der Nutzung von Holzstöcken, dem Import von Papier usw. Diese Drucker operierten im ganzen Netzwerk der Hanse. So begann Bartholomäus Ghotan zuerst in Magdeburg, zog 1484 nach Lübeck und öffnete dann eine Niederlassung in Stockholm - wie vor ihm schon der Lübecker Drucker Johann Snell, der 1482 angefangen hatte, auch in Dänemark zu drucken und ein Jahr später in Schweden. Steffen Arndes, der wohl in Mainz gelernt und in den 1470ern in Foligno und Perugia gearbeitet hatte, zog 1486 nach Lübeck. Er expandierte dann ebenfalls nach Schweden und druckte 1490 ein Graduale Svecicum . 15 Wieweit die Mohnkopf-Offizin an dieser Internationalisierung jenseits der über die Hanse verkauften Drucke Anteil hatte, wissen wir nicht, da immer noch nicht ganz klar ist, wer hinter dem Unternehmen stand, dessen erster von 30 Drucken 1487 erschien. 16 Während 12 Missale Lubicense (Lübeck: Matthäus Brandis 1486; GW 24484). 13 Boek van der medelydinghe Marien (Lübeck: Steffen Arndes 1498; GW 4508), Bl. x6r, benutzt in der Photokopie des Niederdeutschen Instituts Münster nach dem Exemplar Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8° H E Sanct 86/ 11 Inc.; entsprechend im Index Bl. 243r: Hyr na volghet ene nutte lere den simpelen minschen. do e r welke se sik tho vreden setten . 14 Hubertus Menke, „‘Ghemaket vmme der eyntvoldighen vnde simple Mynschen Willen’. Zur Lübecker Druckliteratur der frühen Neuzeit“, in: Ausstattungen Lübecker Wohnhäuser. Raumnutzungen, Malereien und Bücher im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit , hg. von Manfred Eickhölter und Rolf Hammel- Kiesow, Neumünster 1993 (Häuser und Höfe in Lübeck 4), S. 299-316, hier S. 309. 15 Vgl. Menke (wie Anm. 8), S. 153. 16 In den Drucken wurde weder preisgegeben, wer die Offizin betrieb, noch wer die Autoren der mehr als 30 dort gedruckten Texte waren: Timothy Sodmann, „Die Druckerei mit den drei Mohnköpfen“, in: Franco- Saxonica. Münstersche Studien zur niederländischen und niederdeutschen Philologie. Jan Goossens zum 60. Geburtstag , hg. von Robert Damme u. a., Neumünster 1990, S. 343-360; Ralf Kötter, „Hans van Ghetelen als Drucker der Mohnkopfoffizin“, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 71 (1991), S. 353-367; ders., „Augustinus von Getelen“, in: Lübecker Lebensläufe , Neumünster 1993, S. 156-159. 100 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Bartholomäus Ghotan sich 1492 am Ende der Revelationes S. Birgitte in lateinischen Leoninern präsentiert ( Quod dedit ipse deus. Impressit Bartholomeus , Bl. 344r), 17 nennt sich bei der Mohnkopf-Offizin niemand mit Namen. Die Anonymität der geistlichen Belehrung scheint Prinzip zu sein, anders als in der Offizin Ghotans mit seinem Marketing des eigenen Hauses, des ersten der drei großen Druckhäuser. II Bartholomäus Ghotan: Die Vermarktung Birgittas von Schweden Die relative Schwäche des Ortsbischofs bedeutete, dass nicht nur die zahlreichen Laienbruderschaften weitgehend freie Hand hatten, sondern auch andere geistliche Verbände die Stadt gern als Basis für ihre Tätigkeit im Hanseraum nutzten. So waren die Franziskaner, Dominikaner, Schwestern vom gemeinsamen Leben und nicht zuletzt der neue Birgittinerorden in der Stadt vertreten und prägten die enge Verbindung von Druckwesen und geistlicher Tätigkeit. Ein besonderer Großauftrag war die Aufgabe, die bereits erwähnte autoritative Ausgabe der Revelationes S. Birgitte im Auftrag des Mutterhauses in Vadstena für alle Birgittinerklöster zu drucken, an die Bartholomäus Ghotan wohl deshalb gelangte, weil er bereits in Schweden gedruckt hatte. 18 Birgitta wird dabei fast zu einer Schutzpatronin der Lübecker Drucker: Der lateinische Großauftrag machte Lübeck als Druckstadt international bekannt und ihr Name bürgte für die Autorität der Andachtsliteratur für den lokalen Markt. So drucken sowohl Ghotan 19 als auch die Mohnkopf-Druckerei 20 Werke unter dem Titel Sunte Birgitten Openbaringe . Die einzige Gemeinsamkeit dieser Texte besteht darin, dass sie an die in den Offenbarungen Birgittas bezeugte Passionsfrömmigkeit anknüpfen. 21 Bereits mit zehn Jahren empfing Birgitta von Schweden (1303-1373) ihre erste Vision des gekreuzigten Christus. Ihre Visionen setzten sich ihr Leben lang fort und fanden ihren Höhepunkt in dem Gespräch, das Christus mit ihr über sein Leiden führte, als sie auf dem Berg Golgatha stand. In ihren Passionsvisionen schlägt sich die Andachtskultur des 14. Jahrhunderts nieder, die Leiden und Demütigung des Gekreuzigten betonte und dabei das begrenzte Material, das die Evangelienberichte boten, erweiternd bearbeiteten. Die Gläubigen wurden dazu aufgefordert, aktiv am Geschehen Anteil zu nehmen, zu Mitwirkenden des Passionsdramas zu werden und unmittelbar körperlich mitzuleiden. Drei Passionsvisionen sind in den Revelationes enthalten; in den ersten beiden belehrt Maria Birgitta aus ihrer Erfahrung, in der dritten, die bereits erwähnte auf Golgatha, wird Birgitta zur unmittelbaren Augenzeugin der 17 Zitate im Folgenden nach der Ausgabe Revelationes S. Birgitte , Lübeck: Bartholomäus Ghotan 1492 ( GW 4391) im Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 2689, unter http: / / daten.digitalesammlungen.de/ bsb00025551/ image_1 zugänglich. 18 Vgl. Undorf (Anm. 8), S. 49. 19 Sunte Birgitten openbaringe ( GW 4394, Exemplar Stockholm, Königliche Bibliothek, https: / / gesamtkatalog derwiegendrucke.de/ docs/ gw04394.htm). 20 Sunte Birgitten openbaringe ( GW 4395, Exemplar Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 8° Inc. 1476, http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB00015F7C00000000; Sunte Birgitten Openbaringe , hg. von James Hogg, Salzburg 1989 (Analecta Cartusiana 35: Spiritualität heute und gestern, 8), S. 1-265. 21 Forschungsüberblick zu Birgitta von Schweden in den Lübecker Drucken bei Elizabeth Andersen, „Birgitta of Sweden in Northern Germany: Translation, Transmission and Reception“, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages , hg. von ders., Henrike Lähnemann und Anne Simon, Leiden 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 44), S. 205-230. Zum Thema der Passion bei Birgitta vgl. Claire L. Sahlin, Birgitta of Sweden and the Voice of Prophecy , Woodbridge 2001. Heilige Wunden 101 Kreuzigung. Die Identifizierung mit dem Leiden Christi und die besondere Beziehung zu Maria bilden damit die beiden beherrschenden Themen ihrer Visionen und Schriften. Birgittas Spiritualität war seit ihrer Kindheit von marianischer Frömmigkeit durchdrungen: In ca. einem Drittel ihrer Visionen tritt Maria als Lehrerin, Fürsprecherin, Trösterin, Schützerin und nicht zuletzt als geistliche Führerin zu Christus auf. Birgitta richtet ihre Andachtsübungen zum Leben Jesu, von der Freude über seine Geburt bis zum Mitleiden bei seiner Passion, an Maria aus. Das beginnt im ersten Buch, Kapitel 10, als Maria sich als Himmelskönigin und Mutter Gottes vorstellt und über Lebensanfang und -ende ihres Sohns nachdenkt, den Bogen damit von der Verkündigung bis zur Kreuzigung schlägt. Während bei der Vision der jungfräulichen Geburt das Wunder der nicht-physischen Erfahrung betont wird, ist die Schilderung des Todes Jesu durch gesteigerte Körperlichkeit gekennzeichnet. Seine Augen erscheinen semi-mortui , die Wangen eingefallen, das Gesicht trauernd, der Mund offen, die Zunge blutig. Der Bauchwand ist so extrem zurückgezogen, dass es wirkt, als habe er keine inneren Organe ( Revelationes I,10,26). 22 Maria fühlt den Schmerz der Kreuzigung im eigenen Körper: Der erste Nagelschlag erschüttert sie so stark, dass sie zur Erde fällt ( Revelationes I,10,24). Von besonderer Bedeutung ist der Lanzenstich, der von ihr simultan erfahren wird - er wird, wie auch sonst in der Andachtsliteratur, als Stich ins Herz interpretiert: Tunc michi videbatur, quod quasi cor meum perforaretur, cum vidissem cor filii mei carissimi perforatum (‘Da schien es mir, als ob mein Herz durchbohrt werde, als ich sah, wie das Herz meines liebsten Sohnes durchbohrt wurde’, Revelationes I,10,33). Der zweite größere Kreuzigungsbericht steht in Buch IV - und an dieser Stelle fügt Ghotan mit der Kreuzigungsszene den einzigen seitengroßen Holzschnitt der Revelationes ein (Abb. 2). Ansonsten ist der Folioband durch sorgfältig komponierte Text-Bild-Ensembles und historisierte Initialen am Anfang jedes Buchs gegliedert, die Birgitta als Vermittlerin der Botschaft zeigen. Nur die Kreuzigungsszene steht mitten im Text als Andachtsbild. Gegenüber beginnt das Kapitel 40 als Rede der Mutter ( mater loquitur ), die zu ihrer filia - also Birgitta - über das Leiden ihres filius - also Christus - spricht ( Revelationes IV,70; Ghotan Bl. n9r). Hier wird das Geschehen mit allen blutigen Details geschildert, angefangen bei dem Aufreißen der Haut bei der Geißelung, die tiefe Furchen in den ganzen Körper gräbt: flagellis aculeatis infixis aculeis et retractis non auellendo sed sulcando totum corpus eius laceratur ( Revelationes IV,70,3). Die völlige Ausmergelung des Körpers, die bereits im ersten Buch beschrieben war, wird noch weiter ausgeführt: Die Wangen sind bis zu den Zähnen eingezogen, die Rippen stechen aus der gespannten Haut heraus, alle Körpersäfte scheinen herausgesogen zu sein, die Bauchdecke klebt am Rücken: dentibus maxille inheserunt, coste vero attenuate dinumerari poterant, venter autem consumptis iam humoribus dorso applicatur ( Revelationes IV,70,16). Diese zusätzlichen Leidensschilderungen haben jeweils ein Pendant im Mitleiden Mariens; alle Schläge, die auf Christus fallen, lassen sie bewusstlos werden ( Ad primum igitur ictum ego quasi corde percusso sensibus abducor, Revelationes IV,70,4), und bei dem Lanzenstich wird die schreckliche Wirkung auf sie auch damit begründet, dass sie aus der Farbe des Bluts erkennen konnte, dass die Lanze das Herz durchstochen hatte ( Revelationes IV,70,21). 22 Die kritische Ausgabe der lateinischen Werke, die 1978-1991 von der Stockholmer Akademie herausgegeben wurde, wird im Folgenden zitiert nach der Online-Version http: / / www.umilta.net/ bk.html. Englische Übersetzung: The Revelations of St Birgitta of Sweden , übersetzt von Denis Searby mit Einleitungen und Kommentar von Bridget Morris, 4 Bde., Oxford 2006-2015. Deutsche Übersetzung im Folgenden: E. A. und H. L. 102 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Abb. 2: Revelationes S. Birgitt e , Lübeck: Bartholomäus Ghotan 1492, Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 2689, Bl. n8v-n9r (mit freundlicher Erlaubnis der Bayerischen Staatsbibliothek München) Diese und die folgenden Passagen fi nden sich wörtlich in der Openbaringe des Mohnkopf- Verlags; während die niederdeutsche Bearbeitung sonst radikal kürzt, referiert sie die zentralen Visionen des siebten Buchs in voller Länge. Birgitta tritt als Augenzeugin auf, die bei der Meditation im Geist entrückt wird und das Leiden Christi gleichsam miterlebt, lykerwys eft e dat do sulvest ersten scheghe ( Openbaringe III,28, Bl. 114r). Sie wird von Christus selbst in das Geschehen hineingezogen, der sich persönlich an sie wendet und sie auff ordert: Merke du! Der Mohnkopf-Bearbeiter weist in seiner Einleitung zu dem dritten Buch ausdrücklich darauf hin, dass der Holzschnitt in dem Druck, der zeigt, alze de here an dat cru o tze wart ghebunden vnde ghenegelt ( Openbaringe III,28, Bl. 114v), auf ihre Vision zurückgehe, und dass das im Einklang mit dem biblischen Bericht stehe (Abb. 3). Während in der repräsentativen Folio-Ausgabe der lateinischen Revelationes die klassische Darstellung beibehalten wurde, erhält der Leser des deutschsprachigen Mohnkopf-Druckes die Möglichkeit, für ein detailgetreues Andachtsbild von der Augenzeugenschaft Birgittas zu profi tieren. Dazu steht als Text der Beginn eines lateinischen Kreuzeshymnus: Salue crux digna. / Super omnia ligna benigna / Tu me consigna / Ne moriar morte maligna ( Openbaringe III,28, Bl. 115r). 23 Das Blatt wird damit zu einem aus dem narrativen Zusammenhang herausgelöst nutzbaren Text-Bild-Ensemble. 23 Vgl. Hermann A. Daniel, Th esaurus hymnologicus sive hymnorum canticorum sequentiarum circa annum MD usitatarum collectio amplissima , Bd. 2, Leipzig 1844, S. 317. Heilige Wunden 103 Abb. 3: Sunte Birgitten openbaringe , Lübeck: Mohnkopf 1485, Exemplar Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 8° Inc. 1476, Bl. 114v-115r (mit freundlicher Erlaubnis der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz) Der Nachteil bei dieser Art der faktischen Umsetzung ist, dass ein bestimmter Moment gezeigt werden muss, hier die Verspottung am Kreuz, und kein symbolisch verdichtetes Andachtsbild entstehen kann. Dafür werden im Text durch die vollständige Übertragung der Vision das Umfeld und die damit verbundenen Emotionen mitgeliefert. Wie schon in den früheren Schilderungen ist der Lanzenstich zentral. Birgitta beobachtet hochbetrübt ( vul droffenisse ) den Effekt, den der heftige, tiefe Stich auf Maria hat, die geschwächt von Mitleid ( vorkrencket van medelidinghe ) wie leblos auf der Erde liegt, vom Schwert der Betrübnis durchbohrt. Die Mitleidenskette überträgt sich auf sie selbst. Die neue Betrübnis und medelydynge Marias geht Birgitta so durch und durch, dass auch ihr Herz ein scharp swert der bittericheyt durchbohrt ( Openbaringe III,28, Bl. 116v). Die dritte Vision ist die Golgatha-Unterhaltung mit Christus. Während ihrer Pilgerreise ins Heilige Land, die im siebten Buch der Revelationes enthalten ist, besuchte Birgitta acht Kreuzwegstationen. Den Anfang machte die Grabeskirche in Jerusalem, wo sie ihre eigene Vision der Kreuzigung in der Kapelle auf dem Kreuzeshügel am Freitag nach Himmelfahrt hatte. In Buch VII referiert sie also nicht, was Maria ihr berichtete, sondern schildert als Augenzeugin, was sie an dem Ort sah, an dem das Geschehen stattfand. Sie wird von Christus selbst in das Geschehen hineingezogen, der sie auffordert, nach dem Loch im Boden zu suchen, das in den Fels gehauen wurde, um das Kreuz darin zu errichten. 24 Einige der Details, die dann ausgebreitet werden, etwa zu der Art der Annagelung, sind identisch mit dem, was Maria berichtet 24 Dominus autem conuersus ad me dixit michi: ‘Attende tu, quia in isto foramine petre infixus fuit pes crucis mee tempore passionis’ (VII,15,3). 104 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann hatte, aber die Detailgenauigkeit wird fast hyperrealistisch gesteigert, etwa wenn geschildert wird, wie die Blutgerinnsel aus der Dornenkrone so über das ganze Gesicht fließen, dass der Bart sich komplett vollsaugt. Wieder zentral ist der Lanzenstich, der als ein wütender Angriff mit furia maxima auf Christus geschildert wird: venit vnus accurrens cum furia maxima et infixit lanceam in eius latere dextro tam vehementer et valide, quod quasi per aliam partem corporis lancea voluit pertransire ( Revelationes VII,15,29; Openbaringe III,28, Bl. 117r). Birgitta beobachtet den Effekt, den diese Attacke auf Maria hat: Deren Gesichtsausdruck, heftiges Zittern und bitteres Seufzen machen deutlich, dass ihre Seele ein scharfes Schmerzensschwert durchdringt ( penetrabatur acuto doloris gladio : Revelationes VII,15,31). Diese Umwendung von physischer Lanze auf metaphorisches Schwert ist durch den Bezug auf die Prophezeiung Simeons bei der Darstellung im Tempel bedingt, die traditionell auf das Mitleiden Marias unter dem Kreuz bezogen wurde (Lc 2,34). In der niederdeutschen Andachtsliteratur wird dieser Bezug immer explizit gemacht, während Birgitta ihn hier einfach als selbstverständlich voraussetzt bzw. als Verständnisschlüssel für die Gefühle, die sich in der Visionsszene vor ihr ausbreiten, benutzt. In der lateinischen Version überträgt sich dann die Mitleidenskette auf sie selbst. Birgitta nutzt für ihre eigene Erfahrung tiefen Mitleidens ( dolor compassionis ) das gleiche Bild vom Schmerzensschwert ( gladius acutus ), das das Herz durchstößt ( Revelationes VII,15,15). Der Kreis schließt sich dadurch, dass das Herz Christi wiederum aus compassio durchbohrt wird - der Anblick seiner leidenden Mutter schießt als Schmerzenspfeil ( sagitta doloris ) durch sein Herz ( Revelationes VII,15,17). Die Visionen bauen also ein komplexes Verweissystem des Schauens der inneren und äußeren Verwundungen auf, das von dem Band der compassio zusammengehalten wird. Diese beiden ‘Rückkoppelungen’ - das Mitleiden Birgittas und Christi mit Maria - werden im Niederdeutschen nicht aufgenommen, wo das ganze Geschehen weitgehend aus dem Visionsmodus in einen Bericht übertragen wird; dafür schließt sich hier unmittelbar eine Rede Christi an Birgitta an: § In der suluen stunde sprack Cristus vnse here to sunte Birgitten. Dyt dat du nu gheseen hefst. vnde ock dat andere dat ik gheleden hebbe. dat enbetrachten de vorsten der werlde nicht Ock enmerken se nicht de stede dar ick gheboren byn vnde gheleden hebbe wente se syn ghelik eyneme mynschen de dar hefft eyne stede to synen vnghetemmeden wylden beesten dar he syne iaghet hunde in leth. vnde heft lust anto seende den loep der hunde myt den wylden deeren Des ghelyken so doen ock nu de vorsten der werlde. vnde ock de geystliken prelaten der kerken. vnde ock alle de stade der werlde. wente se seen leuer vnde gyriger an de lust der werlde wen myn lydent vnde mynen doet vnde wunden. darumme so wyl ik en noch by dy senden mine worde. vnde isset dat se nicht enwandelen ere herte. vnde syk beteren to my. so scholen se vordömet werden myt den de dar deelden myne kledere. vnde vmme myn kleed loteden. ( Openbaringe III,28, Bl. 117v-118r) Christi Haltung und Stimme machen wie im lateinischen Text für die Zuschauer - darunter Birgitta - erkennbar, dass dorch syn herte in medelidynge, de he hadde myt syner moder, ghynk eyn swerth groter dro e ffenysse ( Openbaringe III,28, Bl. 117v). Die zentrale Stellung, die Birgitta als Sprachrohr Christi für die Passion einnimmt, war Wasser auf die Mühlen der Andachtsliteratur; der Name Birgittas wurde synonym mit diesem Mitleidenskonzept gebraucht. Das war es dann auch, was den ersten Druck speiste, der etwa 1485 unter dem Namen Sunte Birgitten Openbaringe von Ghotan auf den Markt gebracht wurde, ungefähr sieben Jahre bevor er die offizielle Version der Revelationes druckte. Der gesamte Text des Andachtsbuchs wurde Heilige Wunden 105 um die Passion Christi herum aufgebaut; neben den namengebenden Visionen beruft Ghotan sich dafür auf eine Reihe weiterer Autoritäten wie Jordanus von Quedlinburg und Gregor den Großen (Bl. 5r). Der dritte Teil ist eine ausführliche Passionsvision, in der Birgitta auftritt - aber nicht mit den aus den Revelationes bekannten Fakten und Themen (obwohl die Zitate des ersten Teils zeigen, dass Ghotan auf den Text Zugriff hatte), sondern als Dialogpartnerin Christi, aus dessen Perspektive die gesamte Handlung geschildert ist. III Mohnkopf: Andachtsbearbeitung für ein Laienpublikum Die Mohnkopfdruckerei hatte ihr ganzes Verlagsprogramm weitgehend auf volkssprachige Andachtsproduktion abgestellt; so wird in ihrem deutschen Psalter auf die ‘Marientiden’ verwiesen, die in der gleichen Lübecker Werkstatt als handliches Gebetbuch entstanden seien: De tyde der yunckfrowen marien de ghedrucket syn tho Lubeke in der suluen werckstede dar desse salter gedrucket is. in kleyne bede boke myt den seuen salmen vnde vygilien rosenkrantz. vnde andere vele schoner ghebede (Mohnkopf 1493, Bl. 274v). 25 Dabei wird die ‘Einfalt’ der hier angesprochenen Laien, die keine formale lateinische Bildung durchlaufen haben, positiv bewertet, wenn sie sich mit ‘Innigkeit’, also der rechten Andachtshaltung verbindet. Durch andächtige Tränen und beständige Betrachtung des Leidens Christi werde aus dem Ungelehrten ein Meister der göttlichen Liebe: De innyghen tranen. vnde de stede betrachtynghe des lydendes cristi. maket van enen vnghelerden enen meister der godlyken leue (Arndes 1498, Bl. 191r). 26 Der Leitgedanke, der hinter der Arbeit der Mohnkopfdruckerei stand, war die Überzeugung, dass die neue Kunst der Druckerei ein göttliches Geschenk war, um die laikalen Leser mit zeitgenössischen Andachtsthemen vertraut zu machen. Die Verbreitung war ausdrücklich an die Verpflichtung gebunden, die Lehre umzusetzen. So heißt es im Mohnkopf-Plenar von 1492 unter der Überschrift Wo gud unde durbar de kunst der prenterie is ( Plenar E , Bl. 272v), 27 dass die Heiligen sich die Lehre des Evangeliums ins Herz druckten: so wan se horeden eyn wort des hilghen ewangelij. dat se salich mochte maken. dat prenteden se in eer herte vnde deden darna myt aller macht . Es wird die Vokabel verwendet, die auch für den Buchdruck eingesetzt wird, aber gleichzeitig das sich-verwundende Eindrücken des Namens Jesu evoziert. Das Beispiel, das in dem Druck angeführt wird, ist der heilige Ignatius von Antiochia, der als Attribut das Herz hat, auf das der Name Jesus geschrieben ist, wie man es der Legende zufolge nach seinem Tod fand. Der Einschub stammt wohl von dem Mohnkopf-Bearbeiter selbst, da er auch gleichlautend in der Sunte Birgitten openbaringe (Mohnkopf 1496) wiederkehrt (Bl. 88v-89r). Dieses mehrfach wiederholte Lob der Druckkunst zeigt, wie die Themen Andacht und Druck intensiv miteinander verbunden werden. Entsprechend nachhaltig sollen die Druckwerke wirken, aus denen sich der Wille Gottes lernen lässt - selbst diejenigen, die nicht selbst lesen können, werden darauf verpflichtet, sich die Bücher, aus denen sich der Wille Gottes lesen und lernen lässt, sonntags vorlesen zu lassen: 25 Zum Psalter vgl. Sodmann (wie Anm. 16), S. 355. GW M36239, online im Exemplar Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 8° Inc. 1475.5, http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB000174E700000552. 26 Boek van der bedroffenisse Marien , GW 4508, benutzt im Exemplar Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8° H E Sanct 86/ 13 Inc. 27 Vgl. Plenar E (wie Anm. 4). 106 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Men. kanstu lesen so machstu vmme eyn ghans rynge ghelt wol dy de boke schaffen de hir werden ghemenet dar du den willen godes vth lesen vnde leren machst vppe dat dy dyt lycht nicht vorgheues en luchte in dynen dagen. wente de hilghe schryft wert ghelikent eyner luchten dar by wy armen sunders mogen wanderen na deme ewyghen leuende. Isset ok dattu nicht lesen kanst vnde bystu alsodanen mynsche dattu yd vormachst. so kanstu dy ok schaffen ycht van welken boken vnde laten dy de vorlesen ychteswat dar van des hylgen dages. wente de hylge dach is gemaket vmme dattu denne gode schalt denen myt beden. lesen. almysse gheuen etc. yd sy nu eyn bok des hylghen ewangelij alse dyt. efte ander ynnyge ghenochlyke bede boeke dar du nu in dessen iaren myt ringem gelde by komen kanst ( Plenar E , Bl. 274r). Diese Art der Instrumentalisierung des Buchdrucks erklärt die reiche Lübecker Andachtsliteratur ganz besonders in der Mohnkopfdruckerei, wo sie zur Grundlage der Verlagsphilosophie wurde. Während in anderen Lübecker Verlagen die lateinische Produktion zwischen 65 und 80 % ausmachte, ist die Mehrzahl der 31 Bücher, die die Mohnkopf-Druckerei zwischen 1487 und 1527 herausbrachte, niederdeutsch. Diese Zahl wird noch auffälliger, wenn man die Gesamtheit der Druckproduktion dagegenhält, in der siebenmal mehr lateinische als volkssprachige Drucke erschienen. 28 Die Mohnkopf-Presse greift alle gängigen geistlichen Themen und Gattungen auf und bereitet sie für ein Laienpublikum auf; dabei zeigen die eingestreuten Bemerkungen zum Druckprozess und die Querverweise zwischen den Bänden, dass mit einer Leserschaft gerechnet wird, die Zugang zu dem gesamten Sortiment hat, von der Plenar-Übersetzung über die verschiedenen Gebetbücher bis zu den Offenbarungen . Es wird immer wieder betont, wie leicht es sei, sich auch die anderen Bände zu beschaffen und dass sie ausgesprochen erschwinglich seien - vor allem, wenn man bedenke, dass entsprechende Geldsummen sonst leicht verspielt würden! ( Plenar E , Bl. 274r). Das Repertoire von Übersetzungen, Gebeten und Holzschnitten wird dabei immer weiter verdichtet und verschränkt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ankündigung des Fests der compassio Mariae . Während es 1488 zunächst bildlos im Festkalenderappendix eingefügt wurde, wird es dann in der nächsten Auflage, dem Plenar E von 1492, durch ein Andachtsbild hervorgehoben, das aus zwei separaten Stöcken zusammengesetzt ist: Der Holzschnitt mit dem Vesperbild, das schon für die Lesungen an Karfreitag genutzt wurde, wird gerahmt von der Rosenkranzborte, mit der Marienfeste markiert wurden. Die kombinatorischen Möglichkeiten der Drucktechniken werden voll ausgenutzt. Die Bildfindung zeigt nicht die ‘historische’ Situation, die in der Openbaringe mit den Seilen nachgestellt wurde, sondern ist ein Andachtsbild mit Aufforderungscharakter. Es zeigt die gefühlte Wahrheit hinter dem Geschehen, und so steckt dann das Schwert in der Brust Mariens an der Stelle, an der Christi Seitenwunde blutend dargestellt ist, und fordert zum Mitvollzug der medelidinge in der Andacht auf, wie sie vom Rosenkranz symbolisiert wird. Diese Themen werden in der Mohnkopfdruckerei quer durch das Programm variierend durchgespielt. Jeweils textsortenabhängig werden faktische Informationen und ihre symbolische Bedeutung kombiniert und zusammengestellt. So wird im Speygel der leyen der faktische Moment des Lanzenstichs verbunden mit dem Blick des sterbenden Christus auf seine Mutter, die den Mitleidenszirkel aus den Revelationes aufgreift: Christus schmerzt die Wunde 28 Angaben nach dem GW bzw. dem Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (http: / / vd16.de). Vgl. auch Die Lübecker Buchdrucker (wie Anm. 6). Heilige Wunden 107 nicht physisch, sondern sie war eme eine bittere wunde in deme dath he […] sach, wo bytter dat desse wunde worde wesende syner moder . 29 Entsprechend zeigt der Holzschnitt das Schwert in der Brust Mariens; das Kreuz wird zur Spiegelachse, indem sich der kreuzförmige Griff des Schwerts und die die Wunde durchkreuzende Lanze gegenüber stehen. Was hier so intensiv im innerlübischen Diskurs verhandelt wird, wird in der Druckerei des Steffen Arndes in den 1490er Jahren mit überregional umlaufenden Texten verknüpft und seinerseits in den weiteren Hansebereich vermittelt. Abschließend soll an zwei Drucken gezeigt werden, wie compassio zum Druckprogramm Lübecks wird. IV Arndes: Maria als Vorbildfigur Der erste Text ist St. Anselmi Fragen an Maria . 30 Der Arndes-Druck stellt die einzige Überlieferung des Textes mit einem reichen Holzschnittprogramm dar. Anscheinend speziell für den Druck von 1495 wurde eine Bildfolge entwickelt, die die Stationen der Passion nach der Schilderung Marias zeigt, etwa das Vesperbild zur Schilderung, wie sich Maria auf der Erde niederlässt und den blutigen Leichnam in ihren Schoß legt, aber auch erweitert um Maria Magdalena zu Füßen Jesu, die als stellvertretende trauernde Sünderin auf der nächsten Seite im Text auftritt. Anselmus als derjenige, der Maria befragt, kommt gar nicht ins Bild; anders als Birgitta wird er nicht als Autorität aufgebaut, sondern fragt stellvertretend für die andächtigen Gläubigen, um eine Ich-Erzählung Mariens zu ermöglichen. Die Möglichkeit für die Leserschaft, aktiv an dem Mitleiden teil zu nehmen, bietet sich am Ende, als noch einmal das Kreuz mit dem aus allen Wunden blutenden Christus abgebildet wird, dessen Blut den Stamm des Kreuzes herunterfließt, wie es Maria Anselm geschildert hatte, verbunden mit einem Ablassversprechen. Diese Kombination war erfolgreich: 1521 wurde der Band mit weiteren Textzusätzen von Steffen Arndes’ Sohn Hans wieder aufgelegt. Vollends zum Programm wird die compassio im Boek van der medelydinghe Marien von 1498. Als Arndes 1495 das Werk von dem Magdeburger Johann Grashove übernahm und erweiternd bearbeitete, hieß der Band noch Boek van der bedroffenisse . Offensichtlich hatte sich die Nomenklatur des Mitleidens drei Jahre später so etabliert, dass der Titel mit medelydinghe sich besser verkaufte. Die Kapitel des Hauptteils, die Arndes übernahm, sind einheitlich aufgebaut: Nach Titel und Kapitelangabe stehen nebeneinander eine Marienstrophe und ein Holzschnitt. So heißt es in der Strophe zur Kreuzigung, dass Maria zugleich unter dem Kreuz stand und mit Christus am Kreuz hing; sie fühlte nicht nur den Lanzenstich als Schwert durch ihr Herz, sondern Alle wunden dines leuen kyndes din hylghe sele entfyngk (Bl. 93r). Diese Strophe wird dann kommentierend in dem folgenden Prosateil zum Andachtstext entfaltet und zwar in der Form eines Dialogs zwischen einem kynd , das wie Anselm ein Vertreter der gläubigen, wissbegierigen Gemeinde ist, und Maria, die sich befragen lässt. Nach dieser Strophe ruft das kynd aus, wenn die Menschen nur diese doppelte Präsenz Mariens unter und an dem Kreuz begreifen könnten, würden sie grote medelidinghe empfinden ( Boek van der medelydinghe , 29 Speygel der leyen , Mohnkopf 1496, GW M43087, Ausgabe: Pekka Katara, Speygel der Leyen, Neuausgabe eines Lübecker Mohnkopfdruckes aus dem Jahre 1496 , Helsinki 1952, S. 20. 30 Grundsätzlich zu dem Themenkomplex das Bochumer Projekt unter Leitung von Simone Schultz-Balluff, der an dieser Stelle herzlich für die Materialien zum Thema gedankt sei. Siehe https: / / www.linguistics. rub.de/ anselm/ . 108 Elizabeth Andersen und Henrike Lähnemann Bl. 94r). Es schließt sich dann ein Gebet an, in dem das kynd um die Gnade bittet, dass es ebenfalls mit dem Schwert des Mitleidens Mariens mit Christus durchstochen werden möge ( Boek van der medelydinghe , Bl. 95r), da es dann von allen Sünden gereinigt werde. Wie bei St. Anselmi Fragen setzt Arndes daraufhin in seinen Zusätzen zum Text dieses Verlangen nach Sündenvergebung als konkrete Möglichkeit den Lesern vor Augen: Zwischen die Stationen Kreuzabnahme und Begräbnis ist der einzige Holzschnitt außer der Reihe eingefügt, eine Darstellung der fünf Wunden Christi in der Dornenkrone, mit der Seitenwunde als Stich ins Herz. Dieser Zusatzholzschnitt, der unter Zurückdrängung aller narrativen oder vermittelnden Elemente den Blick ungemildert direkt auf die Wunden als Konzentrat der Passion richtet, führt uns zu dem Thema des Bandes zurück. In dem einleitenden Paragraphen wird behauptet, der Holzschnitt gebe genau die Maße der Seitenwunde wieder: Dyt is de lenghe. de grote. vnde de brede der wunde vnses heren ihesu cristi in syner syden ( Boek van der medelydinghe , Bl. 122r). 31 Das ist es offensichtlich nicht: Es handelt sich hier um eine symbolische Abstraktion, nicht um eine anatomisch genaue und maßstabsgetreue Abbildung. Es ist der gleiche Holzschnitttyp, der in dem gleichzeitig von der Mohnkopf-Offizin angefertigten Plenar E zum Fest der heiligen fünf Wunden steht (Bl. CCCXXIIvb), das wie das Fest der compassio Mariae in den Festkalenderappendix aufgenommen ist. Diese Text-Bild-Komposition führt vor, mit welchen Verfahren die Lübecker Drucker das populäre Thema der Wundenbetrachtung ‘ausschlachten’. Drei Strategien lassen sich erkennen, die die Signifikanz der heiligen Wunden und der Rolle Mariens für die Passionsfrömmigkeit im norddeutschen, spezifisch lübischen Frühdruck herausarbeiten: Genutzt werden 1. verschiedene Formen des Dialogs, 2. der Topos der Ermächtigung von Laien in der Volkssprache und 3. die technischen Möglichkeiten des neuen Druckmediums. 1. Dialog: Die Verteilung des Textes auf verschiedene Stimmen wird als beherrschende Form der Empathieerzeugung eingesetzt. Birgitta wird von Maria belehrt, Anselm und das kynd befragen Maria, ein Zusatztext in dem Boek van der medelydinghe enthält sogar ein Gespräch zwischen Jesus und Maria, das von Johannes dem Evangelisten belauscht wird. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen nicht um gleichberechtigte Dialogpartner, sondern es kommt zu einem autoritativen Gefälle wie in Lehrdialogen, ohne dass dies empathieverhindernd wirken würde. Der Grund dafür ist, dass sich Belehrung mit Zeugenschaft verbindet, die sich über reale Präsenz oder Vision formiert und auch Kettenbildungen ermöglicht: Birgitta wird Zeugin, wie Maria Zeugin der Passion wird, was wiederum von Christus selbst bezeugt wird, so dass sich eine Leidensspirale aufbaut, die aber über das compassio -Motiv auch positive innigkeit erzeugen kann. 2. Volkssprache/ Laienermächtigung: Die simplicitas der hier angesprochenen Laien, die keine formale lateinische Bildung durchlaufen haben, wird positiv bewertet, wenn sie sich mit ‘Innigkeit’, also der rechten Andachtshaltung verbindet. Dabei gehen Lesen, Hören und Sehen immer Hand in Hand. Nicht nur in dem Lob der Druckkunst wird das Medium zum Thema, sondern die Vermittlungsform ‘Druck’ wird implizit in allen besprochenen Inkunabeln verhandelt. 31 Zu den maßstabsgetreuen Darstellungen der Wunden Christi vgl. Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert , Köln 2003 (pictura & poësis 16), bes. zur Illustration von Passionsgebetbüchern (S. 251-307). Heilige Wunden 109 3. Technologie/ das Experimentieren mit dem Medium: Was die Lübecker Drucke auszeichnet, sind keine radikal neuen Bild- oder Andachtserfindungen. Was die Lübecker Inkunabeln auszeichnet ist vielmehr, wie stark sie mit der durch den Druck ermöglichten Kombinatorik experimentieren, um das neue Medium für die volkssprachige Andachtsvermittlung dienstbar zu machen. Dem in neuer Fülle eingesetzten Holzschnitt kommt die Aufgabe zu, die verschriftlichten Gespräche graphisch zu veranschaulichen, die Augenzeugenschaft der den Text garantierenden Autorität auch den lesenden Laien und durch sie einer noch größeren Rezipientengruppe zu vermitteln, die am Vortrag der Texte teilnehmen kann. Lübeck war der ideale Experimentierraum, um das Medium an dem populären Thema des Mitleidens in der Mohnkopf-Offizin innerstädtisch zu erproben, um es dann über Ghotan und Arndes über den ganzen Hanseraum zu verbreiten. In Lübeck entwickelt sich damit eine Dynamik des Druckmediums in Text und Bild im Dienst populärer Religion, wie es dann erst wieder flächendeckend in der Reformationspropaganda geschieht. Das Mit-Leiden mit Marias Betrachtung der Wunden Christi erweist sich nicht nur als Form der Anteilnahme am Passionsdiskurs, sondern auch als verbindendes Thema, das städtische Identität konstituiert. Verletzungen in Heiligenlegenden 111 Verletzungen in Heiligenlegenden Strategien der Gedächtniswahrung im Kontext hagiographischer Sammlungen des Spätmittelalters Simon Falch Legenden dienen der Gedächtniswahrung - nicht nur an die jeweilige heilige Person, sondern auch und vornehmlich an den „unvergeßliche[n] Kern, den sie in sich tragen“. 1 Bei diesem handelt es sich freilich um das Paradigma der Nachfolge Christi. 2 In diesem Sinne vermittelt das Beispiel des Heiligen heilsnotwendiges Wissen und vertreibt Unwissenheit und Trägheit, 3 denn laut Rabanus Maurus vermöge nichts den Menschen mehr von Sünden fortzureißen als die Nachfolge Christi und der Gehorsam gegenüber dem verkündeten Evangelium. 4 Neben diesem Nukleus, ohne den Heiligenlegenden keine wären und auch nicht Teil der christlichen Erinnerungskultur, 5 muss aber auch das Vorbild des Heiligen in particulari erkennbar sein, da nur durch Unverwechselbarkeit die ‘Gedächtnispflege’ 6 möglich ist - je exzeptioneller das Exempel, desto erbaulicher ist es schließlich. 7 Doch was passiert, wenn hunderte Heiligenlegenden in lateinischen und volkssprachigen Sammlungen, gleich für welche Verwendungszwecke, zusammengeführt werden? Die nachfolgenden quantifizierenden Beobachtungen zu den spätmittelalterlichen Heiligenfesten, den Legenden der Märtyrer (I), insbesondere zu der Untergruppe der Kopflosen bzw. Geköpften (II), sollen zunächst der Beschreibung der Ausgangssituation dienen, bevor dann mögliche Strategien von Kompilatoren diskutiert werden, 1 Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief , Frankfurt a. M. 2006 (edition suhrkamp 2453), S. 52. 2 Vgl. Gregorius Magnus, In septem Psalmi poenitentialis. Explanatio quinti Psalmi poenitentialis , Ps 101,25; Abschnitt 34 ( PL 79 [1862, Nachdruck 1960], Sp. 625B). Dabei hat die „Bereitwilligkeit zum Leiden“ zwei Ursachen: „die Überzeugung, daß ein Glaube, der abgeleugnet werden kann, kein lebensspendender Glaube ist, und […] die Nachahmung des Leidens ihres Erlösers“, Michael Slusser, „‘Martyrium III/ 2.1.’“, in: Theologische Realenzyklopädie , Bd. 22, Berlin 1992, S. 207-212, hier S. 208. 3 Vgl. Adamus Scotus, De ordine, habitu et professione canonicorum ordinis Præmonstratensis , sermo VIII,1 ( PL 198 [1855], Sp. 507C). 4 Vgl. Rabanus Maurus, Expositiones in Leviticum I,7 ( PL 108 [1864], Sp. 284B). 5 Vgl. Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand , München 1991, S. 49. 6 Vgl. zu Verwechslungen von Heiligen beispielsweise Werner Williams-Krapp, Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte , Tübingen 1986 (TTG 20), S. 316; Anke Krüger, Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert , Stuttgart 2002 (Beiträge zur Hagiographie 2), S. 213. 7 Dies darf als grundlegendes rhetorisches Prinzip gelten, vgl. beispielsweise Rhetorica ad Herennium. Lateinisch - Deutsch , hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, Düsseldorf/ Zürich 1994, III,XXII, S. 174-176, oder auch die Ausführungen zu Guibertus de Novigento, Liber quo ordine sermo fieri debeat ( PL 156 [1853], Sp. 29D) von Dorothea Roth, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant , Basel 1956 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 58), S. 35. 112 Simon Falch einzelnen Heiligen zu distinkter Qualität im Sammlungskontext zu verhelfen. Die fakultativ addierbaren Textbausteine der Mirakel, die von erlittener Gewalt berichten, sind dabei wohl von zentraler Bedeutung für die Kompilatoren (III), wie dann auch am Beispiel eines posthumen Wunders der heiligen Barbara (IV), in dem Verletzung und wundersame Unversehrtheit in extremer Form begegnen, zu zeigen sein wird. I Die Überbevölkerung des Heiligenhimmels Die Heiligenkalender wurden mit jeder Generation immer dichter gefüllt und so „wuchs die Zahl der Feiertage ins Unerträgliche“. 8 Unerträglich auch insofern, als dass dem einzelnen Heiligen durch diese Entwicklung der Verlust von „religiöse[m] Spitzencharisma“ 9 drohte. Die bedeutendste Legendensammlung des Mittelalters und eines der wichtigsten (lateinischen) Predigthilfsmittel, 10 die Legenda aurea ( LA ), 11 bietet Informationen zu 185 Anlässen bzw. 155 Heiligenfesten. Der Heiligen Leben ( HL ), die um 1400 verbreitetste volkssprachige, in einem Sommerteil (ST) und Winterteil (WT) gegliederte Bearbeitung der LA , 12 beinhaltet sogar 251 Texte, wovon, abzüglich der Christus-, Marien- und anderer Kirchenfeste, 236 Heiligengedenktagen gewidmet sind, 131 berichten von mindestens einem Märtyrer. 13 Doch markiert diese Zahl nicht den Höchststand, kennt doch das Missale Romanum von 1474 schon 240 Märtyrergedenktage. 14 Darstellungen sich tropisch überbietender Gewaltakte haben und hatten somit einen kirchlich approbierten Platz im Alltag von Laien und Klerikern. Der Catalogus sanctorum (1514), um schließlich das umfangreichste Heiligenkompendium des Spätmittelalters zu benennen, beinhaltet über 1500 Einträge, ein Register De sanctis pluribus quorum sola nomine et dies vestiui inueniuntur mit 333 Namen 15 zuzüglich 27 Nachträge De sanctis nuperrime canonizatis . 16 Dass aus diesem reichen thesaurus laesionum der Märtyrerlegenden, für den man sich einen Katalog wünscht, auch die Märenliteratur schöpfte, wurde bereits vermerkt 17 und ist aufgrund der Bedeutung der Heiligenlegende als eine der „populärsten 8 Alfred Wendehorst, „Das Bistum Würzburg. Ein Überblick von den Anfängen bis zur Säkularisation“, in: Freiburger Diözesanarchiv 86 (1966), S. 9-93, hier S. 53. 9 Vgl. Peter Strohschneider, „Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der Ursula-Legende“, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag , hg. von Franz J. Felten, Annette Kehnel und Stefan Weinfurter, Köln u. a. 2009, S. 571-588, hier S. 579. 10 Einen Überblick bieten Robert Earl Kaske, Arthur Groos und Michael W. Twomey, Medieval Christian Literary Imagery. A Guide to Interpretation , Toronto u. a. 1988 (Toronto Medieval Bibliographies 11). 11 Jacobus de Voragine, Legenda aurea [LA]. Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar , hg. von Bruno W. Häuptli, 2 Bde., Freiburg i. Br. u. a. 2014 (Fontes Christiani, Sonderband 1 und 2). 12 Konrad Kunze, „Der Heiligen Leben“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 617-625, hier Sp. 617. 13 Der Heiligen Leben [HL] , Bd. 1: Der Sommerteil , Bd. 2: Der Winterteil , hg. von Werner Williams-Krapp u. a., Tübingen 1996 und 2004 (TTG 44 und 51). Märtyrerfeste sind hier: Sommerteil (ST): 2, 4-9, 13, 16-19, 21, 24-30, 33f., 36-39, 41-43, 45-47, 49, 51f., 54, 60-63, 66-69, 71, 73-75, 77-83, 85, 89, 91, 93f., 97, 99, 102f., 107, 109f., 112-114, 116-121, 123-125; Winterteil (WT): 4, 10, 12f., 16f., 20-25, 29-31, 37-40, 43, 45, 48, 51, 55-57, 60f., 72-77, 81, 83, 85, 87-89, 93, 95f., 100, 102, 106, 108, 109f., 112, 115, 122. 14 Missale Romanum, Mediolani 1474 , Bd. 1: Text , hg. von Robert Lippem, London 1899. 15 Petrus de Natalibus, Catalogus sanctorum et gestorum eorum , Lyon 1514 (urn: nbn: de: bsz: 25-digilib-883; http: / / dl.ub.uni-freiburg.de/ diglit/ petrus1514, Stand 9.2.2018), XI, 130. 16 Ebd., XII, 1-24. 17 Gaby Herchert, „Wer trägt des Pfaffen Schand’ am Hut? Deutungen erotischer Tragezeichen aus literarischen und rechtlichen Perspektiven“, in: Erotik, aus dem Dreck gezogen , hg. von Johan H. Winkelman und Gerhard Wolf, Amsterdam u. a. 2004 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 59), S. 91-110, Verletzungen in Heiligenlegenden 113 Literaturgattungen“ 18 des Mittelalters auch naheliegend. Eine besondere Präsenz von Gewaltbeschreibungen ist noch einmal für das Spätmittelalter zu unterstellen: Ordensgeistliche und Nonnen mussten nicht nur alle festa fori (verbindliche Feiertage), sondern auch die festa chori , also die nicht zur Predigt, aber zum Chordienst verpflichtenden Feste (malträtierter und enthaupteter Märtyrer), der Diözese und ggf. zusätzlich die ihres Ordens oder ihrer Kongregation berücksichtigen. Hier setzen nun die folgenden Beobachtungen an. Schließlich ist es evident, dass die ständige Vermehrung der Heiligengedenktage 19 und die Zusammenstellung in Kodizes nicht ohne Einfluss auf die Kompilation der Legenden blieb, 20 mehr noch, die Balance zwischen dem allgemeinen Erinnerungskern der Nachfolge Christi und dem Besonderen des jeweiligen Exempels gefährdete. Für die Kompilatoren war die schiere Masse ein Problem, 21 dem insbesondere durch Systematisierung und Normierung begegnet wurde 22 - was wiederum die Verwechslungsgefahr erhöhen konnte. So wird zum Fest des Saturninus von Toulouse ( HL , WT 43) auch gleich von einem Saturninus zu Rom und einem Saturninus zu Affrica berichtet sowie an die mit jm gemartert[en] Satirus, Revocatus, Felicitas und Perpetua erinnert, wobei die hier genannte Felicitas nicht mit der Felicitas und ihren Söhnen ( HL , ST 52) bzw. dem Fest De septem fratribus ( LA 91) zu verwechseln ist. Über den Heiligen aus Toulouse erfährt man nur, dass er von den Aposteln zum Bischof ernannt und durch Schleifen hingerichtet wurde. Ebenso knapp werden der Römer und der Afrikaner abgehandelt, ausführlich wird allein von Felicitas erzählt. 23 Diese Gewichtung dürfte dann auch dazu geführt haben, dass aufgrund der lückenhaften Überlieferung das Fest Perpetua und Felicitas gewidmet wurde. 24 Auch der Gedenktag des heiligen Julian ( HL , WT 83) müsste eigentlich den Namen ‘Von den drei heiligen und dem einen unheiligen Julianus’ tragen, berichtet doch die Legende nacheinander von Julianus von Le Mans (vgl. LA 30), einem Märtyrer (vermutlich Julian von Brioude), einem gastfreundlichen Herrn gleichen Namens ( Julianus Hospitator) und zuletzt sogar vom Apostaten. Die Problematik für die Kompilatoren, im Rahmen der Überlieferungsmöglichkeiten der oder dem Heiligen zu Unverwechselbarkeit zu verhelfen, sofern dazu beispielsweise aufgrund hier S. 105; Satu Heiland, Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht , Berlin/ Boston 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 11), S. 217-219. 18 Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive , hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin u. a. 2 2015, S. 143. 19 Vgl. Wilhelm Kohl, Bistum Münster , Berlin/ New York 2002 (Germania Sacra, N. F. 37.2), S. 42. 20 Vgl. Sherry L. Reames, The Legenda Aurea. A Reexamination of Its Paradoxical History , London 1985, S. 4. 21 Deutlich als solches formuliert im Prolog zum Catalogus sanctorum (wie Anm. 15), Bl. 1r: Quis presumit ea tamen videre, nec tempus ad legendum sufficeret, nec studium preualeret (‘Wer vorgibt, diejenigen [die Heiligen] dennoch zu erkennen, [bedenke]: Weder konnte die Zeit für die Lektüre jemals ausreichen, noch das Bemühen es vermögen’). 22 Vgl. Reglinde Rhein, Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in ‘Historia’ und ‘Doctrina’ , Köln u. a. 1995 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 40), S. 273; Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation , Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 363; Passional , Buch 1: Marienleben , Buch 2: Apostellegenden , hg. von Annegret Haase, Martin Schubert und Jürgen Wolf, Berlin 2013 (DTM 91.1-2), S. CCXLVIII; LA (wie Anm. 11), Bd. 1, darin die Einleitung von Bruno W. Häuptli, S. 13-66, hier S. 55; HL (wie Anm. 13), ST, S. XV. 23 HL (wie Anm. 13), WT 43: Saturninus von Toulouse, S. 245-247. 24 Vgl. Philippe Mesnard, „Die Passion der Perpetua: frühchristliche Zeugnisse und die Lücken der Überlieferung“, in: Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern , hg. von Sigrid Weigel, Paderborn 2007, S. 52-55. 114 Simon Falch eines Patroziniums die Notwendigkeit bestand, ist für Einzelfälle schon bemerkt worden. 25 Dabei ist die Kongruenz zwischen Vita und Mirakeln, im Sinne einer plausiblen Zusammenstellung des Überlieferten, ein grundsätzliches Anliegen der Kompilatoren. 26 Derlei Absichten scheinen dann auch einen recht flexiblen Umgang - zum Wohl der Wiedererkennbarkeit - mit der Überlieferung zu rechtfertigen. 27 Die Dringlichkeit für ein solches Vorgehen wird indes vom konkreten Fall abhängen und sich bei der Zusammenstellung eines Legendars häufiger ergeben. Die einem Märtyrer zugefügten Verletzungen, Qualen und Demütigungen verlieren nämlich an distinktiver Qualität, je öfter sie sich in einer Sammlung, geschweige denn in einer einzigen Legende, wiederholen. Ein Beispiel: Wer würde wohl versuchen, die Märtyrer des ager Ursulanus zu benennen? 28 Wesentlich praktikabler ist eine „literarische Lösung“. 29 Allein in Verbindung mit der kunstvoll ausgestalteten Legende der heiligen Ursula ( HL , WT 17) mit Brautwerbung, Pilgerfahrt etc. erhält das spätmittelalterliche Gräberfeld bei Köln seinen Sinn, 30 werden die Martyrien plausibel summarisch erfasst und für die Glaubensunterweisung fruchtbar gemacht. Hier tritt dann auch die individuelle passio Ursulae in ihrer Bedeutung zurück, die Exekution wird nicht theatralisch inszeniert. Dies wirkte sich auch auf die Gestaltung des liturgischen Formulars zum Gedenktag der heiligen Ursula aus, 31 in der eben nicht, wie beispielsweise beim heiligen Laurentius ( Igne me examinasti - ‘durch das Feuer hast du mich geprüft’ 32 ), explizit auf die Todesart Bezug genommen wird. 25 Vgl. Thomas Head, Hagiography and the Cult of Saints. The Diocese of Orléans, 800-1200 , Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4/ 14), S. 136f.; Lothar Vogel, Vom Werden eines Heiligen. Eine Untersuchung der Vita Corbiniani des Bischofs von Arbeo von Freising , Berlin/ New York 2000 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 77), S. 24; Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum. Untersuchung über Entstehung, Ausbreitung, Gestaltung und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum , Berlin/ New York 2000 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), S. 213. 26 Vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, „Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von Beauvais - Die Apologia Actoris zum Speculum Maius“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 410-499, hier S. 419. 27 Vgl. Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ‘Policraticus’ Johanns von Salisbury , Hildesheim u. a. 1996 (Ordo 2), S. 214-220. 28 Zum Versuch des Mönchs Theoderich, den in die Abtei Deutz 1156 überführten Gebeinen tituli zuzuweisen, siehe Hans-Joachim Kracht und Jakob Torsy, Reliquiarium Coloniense , Siegburg 2003 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 34), S. 64. 29 Strohschneider (wie Anm. 9), S. 578f. 30 Jörg Poettgen, „Kölner Pilgerzeichen der Heiligen Ursula - Zeugnisse einer im 12. Jahrhundert beginnenden Wallfahrt“, in: Pilgerzeichen - ‘Pilgerstraßen’ , hg. von Klaus Herbers und Hartmut Kühne, Tübingen 2013 ( Jakobus-Studien 20), S. 153-186, hier S. 153. 31 Missale Coloniense , Köln 1498 (urn: nbn: de: bsz: 25-digilib36690; http: / / dl.ub.uni-freiburg.de/ diglit/ missale 1498, Stand 9.2.2018), Bl. CLXXXIXv-CXCr. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es feste und variable Attribute gibt und zudem die Möglichkeit, dass je nach Legendenvariante unterschiedliche Tötungsdarstellungen gewählt werden. Nach Knut Schäferdiek, „Kilian von Würzburg. Gestalt und Gestaltung eines Heiligen“, in: Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag , hg. von Albrecht Jockenhövel, Hagen Keller und Joachim Wollasch, Berlin/ New York 1994 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 23), S. 313-340, hier S. 334, beziehen sich die Ausführungen zur Vita des heiligen Kilian auf die Legendenvariante, die von dessen Enthauptung berichtet, während im HL (ST 51) berichtet wird, dass Kilian erschlagen worden sei. 32 Siehe unter https: / / www.uni-regensburg.de/ Fakultaeten/ phil_Fak_I/ Musikwissenschaft/ cantus/ (Stand 26.7.2017), Hesbert CAO 3167, 3216; siehe auch Carl Marbach, Carmina Scripturarum. Scilicet antiphonas et responsoria ex sacro scripturae fonte in libros liturgicos sanctae ecclesiae romanae derivata collegit et edidit Carolus Marbach , Straßburg 1907, 2. Nachdruck, Hildesheim u. a. 1994, S. 76. Verletzungen in Heiligenlegenden 115 II Die Wiedererkennbarkeit einer Legende Der Wiedererkennbarkeit von Märtyrern bzw. von deren passio muss jedoch nicht immer so eindeutig wie beim heiligen Laurentius gegeben sein; wobei dessen Exklusivität nur liturgisch gegeben ist, wurden doch auch andere Märtyrer über Kohlen gefoltert. 33 Noch unüberschaubarer wird es bei Verletzungen am Kopf, Enthauptungen, aber auch Wundern, die den Kopf betreffen. Nicht nur weil 70 Märtyrerfeste im HL mit der Enthauptung enden, sondern auch weil gerade Verletzungen im Gesicht oder am Kopf besondere Empathie provozieren und damit zur Gedächtnispflege einen entscheidenden Beitrag leisten können: 34 Dar nach zusluge man jm [Matthias] sein hawbt mit kolben, das sein hirn von jm sprang. Do fur sein sele zu den ewigen frewden . 35 Auch Thomas Becket stirbt schließlich an einer Kopfwunde: 36 Do slugen sy dem pfaffen ain arm ab. Do frewet sich sand Thomas gegen der marter, recht sam er zu ainer wirtschaft zu lieben frewnten geladen wer, vnd reckt sein hent auf zu dem almechtigen got vnd sprach: ‘Herr Ihesu Criste, jch bevilhe dir vnd der seligen Marie vnd dem heiligen Dyonisio vnd allen den heiligen, dy hie patron in diser kirchen sein, den vevilhe ich mich vnd mein kirchen’. Vnd naigt sein hawbt. Do zuslugen sy jm sein hawbt, das sein hirnn zustrewt lag. Die Amputation von Gliedmaßen kann wie im letzten Beispiel zu den Präliminarien vor der Exekution gehören, um die (wundersame) Unüberwindbarkeit des Glaubens des Märtyrers in besonderer Weise zu inszenieren. Der Kopf ist aber ohne Zweifel die einzige Extremität, auf die man nicht verzichten kann, und so endet in fast allen Fällen das Leben eines Heiligen nach dessen Enthauptung. Dem Kopf kommt, wie auch Herz und Blut, eine besondere Bedeutung als Sitz der Seele oder des Lebens zu. 37 Auch ist das Haupt bei Riten zentral, beispielsweise bei der Taufe oder der Weihe durch Handauflegung oder Salbung mit Chrisam. 38 Das Motiv der Taufe spielt in der Vita der heiligen Barbara sogar eine besonders zentrale Rolle, wie sie nur selten zu lesen ist: 39 So soll sie, je nach Variante, sich selbst getauft haben oder vom Diakon des Origenes oder von Johannes dem Täufer getauft worden sein. 40 In doppelter Weise spiegelt so die Gewalt gegen das Haupt eines Heiligen den Verstoß gegen den Willen Gottes wider. Bei Matthäus (11,12) heißt es: diebus autem Iohannis Baptistae usque nunc regnum caelorum vim patitur et violenti rapiunt illud . 41 Gleichzeitig eröffne Gewalt und Verfolgung 33 Zum Beispiel im HL (wie Anm. 13), ST 4: Lazarus, S. 21; WT 76: Vinzenz von Zaragoza, S. 412; WT 77: Claudius, Asterius, Neon und Theonilla, S. 414. Ohne Rost in Kohlen gewälzt wurde Agatha von Catania (WT 88, S. 472). 34 Erich H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst , Berlin 16 1995, S. 40. 35 HL (wie Anm. 13), WT 98: Matthias, Apostel, S. 508. 36 Ebd., WT 60: Thomas Becket, S. 353. 37 Jörg Riecke, Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen , Bd. 1, Berlin/ New York 2004, S. 215 und 316. 38 Vgl. Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers , Ostfildern 2014 (Mittelalter-Forschungen 48), S. 644. 39 So auch bei Thekla, vgl. Stefan Abel, „‘Paulus und Thekla II’ oder ‘Die guldin regel’ - (Pseudo-)Biographie eines Beichtigers“, in: PBB 136 (2014), S. 624-653, hier S. 634. 40 Vgl. HL (wie Anm. 13), WT 48: Barbara, S. 275. Jacobus de Voragine, Legenda aurea , Nürnberg 1492 (urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00043218-8; http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0004/ bsb00043218/ images/ , Stand 9.2.2018), Bl. CXCIIvb. 41 Zitiert nach Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem , hg. von Robertus Weber, 2 Bde., Stuttgart 3 1985. Übersetzung nach der Elberfelder Bibel , hg. von Rudolf Brockhaus, Wuppertal/ Dillenburg 2006: ‘Aber von den 116 Simon Falch aber einen Weg zum ewigen Leben, so Tertullian. 42 Daher sind auch die Märtyrerlegenden besonders erbaulich bzw. aus heutiger Sicht grotesk, die eine längere Passion schildern und mit einer Enthauptung enden. Der Tod kann zum Erstaunen und Entsetzen der Zeugen nicht mittels bekannter Foltertechniken herbeigeführt werden, so ergibt sich ein durch Folterepisoden und Wunderberichte ausgestalteter Erzählrahmen: Der heiligen Barbara wurde das Fleisch abgezogen, ihre Wunden wurden mit rauen Tüchern gerieben. Sie wurde geschlagen und gezwickt und mit Feuer malträtiert. In einem Kerker eingeschlossen bekam sie weder zu essen noch zu trinken, doch tröstete sie der Herr und heilte ihre Wunden. Schließlich griff ihr Widersacher, der eigene Vater, zur ultima ratio und enthauptete die Heilige (zu den Phasen des Martyriums der heiligen Barbara siehe auch den Beitrag von Anne Simon im vorliegenden Sammelband). Kommt es wie in dieser Legende zuletzt zur decollatio , lassen sich wiederum im HL zwei Konstellationen unterscheiden: 1. Die Enthauptung führt zum sofortigen Tod und die Bestattung erfolgt zeitnah, dies trifft auf die Mehrheit der Märtyrer zu. 43 Posthume Wunder handeln ggf. vom Schicksal von Richter, Henker und Zeugen sowie von Ereignissen am Grab, so etwa in den Legenden von Livinus ( HL , WT 31), Barbara (WT 48), Katharina (WT 40) und Prisca (WT 72). In der Vita der Margaretha von Antiochien (ST 54) ergänzt der Kompilator im Gegensatz zur LA (93) nachfolgenden Hinweis und macht damit deutlich, dass wohl posthume Wunder bekannt sein dürften: Do slug man ir ir heiliges havbt ab, und fur ir sel zu den ewigen frevden. Do begrub man irn heiligen leichnamen in der stat Anthiochia. Do geschan pei dem grab vil zeichen . 44 In der LA heißt es nur: [q]ui percutiens caput eius uno ictu abstulit et sic martyrii coronam suscepit . 45 2. Die Enthauptung führt zum sofortigen Tod, der Leichnam des oder der Heiligen wird aber (zunächst) nicht bestattet oder dessen Verbleib nicht geklärt. 46 Beispielsweise werden Blasius ( HL , WT 87) und Theodosia (WT 108) mit einem Mühlstein um den Hals ins Wasser geworfen, vor dem Ertrinken durch einen Engel gerettet und schließlich enthauptet, doch erfährt man nicht, ob sie bestattet wurden. Posthume Wunder berichten bei einigen Heiligen schließlich von der inventio des nicht verwesten Leichnams. So wird der heilige Quirinus (WT 106) im Tiber bzw. der heilige Quintinus ( HL , WT 24; LA 160) nach der Enthauptung bleibeschwert in der Somme versenkt und nach langer Zeit völlig unversehrt aufgefunden und bestattet. Freilich bestätigt aber in all diesen Fällen der Tod des Leibes nur die Unsterblichkeit der Seele. Der Märtyrer bleibt unbesiegt, eventuell schließen sich posthume Strafwunder an, so wird auch Barbaras Henker, ihr Vater, nach der Enthauptung noch am Richtplatz vom Blitz erschlagen. Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan und Gewalttuende reißen es an sich’. 42 Vgl. Wiebke Bähnk, Von der Notwendigkeit des Leidens: die Theologie des Martyriums bei Tertullian , Göttingen 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 78), S. 140. 43 Beispielsweise im HL (wie Anm. 13), ST 4f., 7, 17f., 21, 24, 26, 29, 34, 36, 39, 41, 43, 46f., 54, 67, 69, 71, 73, 78, 81, 83, 91, 93f., 97, 99, 102f., 107, 113, 123f.; WT 4, 20, 31, 39f., 48, 72, 96, 115. 44 Ebd., ST 54: Margaretha, S. 233. 45 LA (wie Anm. 11), 93: De sancta Margareta , S. 1222f.: ‘Dieser schlug zu und hieb ihr mit einem einzigen Hieb das Haupt ab, und so empfing sie die Märtyrerkrone’. 46 Beispielsweise im HL (wie Anm. 13): WT 24, 61, 87, 89, 95, 100, 102, 106, 108, 110, 122; ST 7, 52, 63, 80, 107, 114. Verletzungen in Heiligenlegenden 117 Wird in einer Legende aber berichtet, die oder der Heilige sei tödlich am Kopf verletzt oder geköpft worden und lebe dennoch weiter, dann handelt es sich um ein Ereignis, das in noch einmal gesteigerter Weise „unerklärbar ist und die übliche Ordnung bzw. Norm durchbricht“. 47 Hier lassen sich ebenfalls zwei Konstellationen unterscheiden: 1. Die Exekution scheitert und der oder die Heilige lebt schwer verwundet einige Tage weiter. Dies trifft im HL lediglich auf drei Heilige zu: Die heilige Cäcilia (WT 37) versuchte der Henker nach diversen Folterungen dreimal zu enthaupten, blieb aber auch zuletzt erfolglos. Die Heilige starb schließlich erst sieben Tage später. Petrus von Mailand (ST 9) und Panthaleon (ST 66) wurden zwar nicht enthauptet, dafür aber tödlich am Kopf verletzt. Der heilige Petrus blieb unter der Folter so lange am Leben, bis er mit einem Messer in die Seite gestochen wurde, um in vil dingen vnders herren leiden geleich zu sein. 48 Der heilige Panthaleon habe noch, nachdem ihm der Schädel gespalten wurde, ausgerufen: Herr Ihesu Christe, tu mir genedikleich vnd gib mir meiner marter ain ende, vnd ich beuilh dir mein gaist in dein hende . 49 Die Fälle gehören eigentlich nicht in die Kategorie ‘enthauptete Märtyrer’, doch sorgen die Legenden für einen hohen Wiedererkennungswert. Der heilige Petrus von Mailand - martyr de ordine praedicatorum 50 - ist dabei noch einmal vom Kompilator der Sammlung, der wohl auch Dominikaner war, durch die Darstellung von posthumen Wundern, wie auch schon in der LA (63) hervorgehoben. Umgekehrt konnte aber auf miracula post mortem - vielleicht weil die Legenden schon distinkt genug waren - bei Cäcilia der LA (169) folgend, aber auch bei Panthaleon (der sich nicht in der LA findet), verzichtet werden. 2. Mit der Enthauptung endet das Martyrium, der oder die Heilige lebt aber für einen begrenzten Zeitraum weiter. 51 Hier sind zwei Motive zu unterscheiden: erstens jenes des sprechenden Kopfs. Es ist älter und auch in der antiken Literatur belegt. 52 Besonders durch die Legenden über Johannes den Täufer ( LA 125) dürfte es verbreitet worden sein, dessen abgeschlagener Kopf in dem einen oder anderen Mirakel wieder zu sprechen beginnt. 53 Eine umfangreiche Ausgestaltung erfuhr im HL auch die Hinrichtungsszene des Apostels Paulus ( HL , ST 46), der nach der Enthauptung sein Blut selbst mit einem Schleier auf- 47 Ruben Zimmermann, „Gattung ‘Wundererzählung’. Eine literaturwissenschaftliche Definition“, in: Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven , hg. von Bernd Kollmann und dems., Tübingen 2014 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 339), S. 311-343, hier S. 323. 48 HL (wie Anm. 13), ST 9: Petrus von Mailand, S. 56. 49 Ebd., ST 66: Panthaleon, S. 310. 50 LA (wie Anm. 11), 63: De sancto Petro Martyre , S. 864. 51 Im HL (wie Anm. 13), WT 10: Dionysius ( Vnd do man sant Dyonsius sein haubt ab slug, do ving er es als pald in sein hende vnd trug es zwue meil darjnnen an dy stat, do er ligen wolt [S. 58]), WT 93: Savinianus von Troyes ( Do slug man jm sein hawbt ab. Do fur sein sele zu den ewigen frewden. Do nam er sein hawbt vnd trug es in sein henden von der stat an ain andre stat, do er ligen wolt, wol funfczig schritt [S. 486]), ST 37: Theonestus und Albanus ( Do kvmen die keczer vnd fu o rten in avf den plan vnd slu o gen im sein havbt ab. Do fu o r sein sel zu den ewigen frevden. Do nam sand Albanvs sein havbt in sein hende vnd tru o g ez an di stat, do er ligen wolt. Do legt er ez nider. Do begru o b in sand Theonestvs mit grosser andaht jn ain mv e nster zu o Maincz [S. 158]). 52 Ovid, Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch , hg. und übersetzt von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994 (RUB 1360), 11,50-53. Siehe auch DNP-Gruppe Kiel, „‘Orpheus’“, in: Der Neue Pauly , Bd. 8, Stuttgart/ Weimar 2000, Sp. 54-57, hier Sp. 55. 53 Beispielsweise auch in einer Predigt von Muleysen, Kurt Ruh, „‘Muleysen’“, in: 2 VL , Bd. 6, Berlin/ New York 1981, Sp. 735f., hier Sp. 736. 118 Simon Falch gefangen, das Tuch ausgewunden und den Namen des Herrn gerufen habe, woraufhin von seinem leichnamen milch [floz], vnd ward ain gu o ter smak do . 54 In der LA (90) wird das Wunder mit dem Tuch jedoch als ein nach Dionysius Areopagita überliefertes ausgewiesen und nachgetragen. 55 Eine in ätiologischer Hinsicht einschlägige Variante des fortlebenden Haupts bietet ein weiteres Mirakel des Apostels Paulus (nicht in der LA ), dessen Kopf nach der decollatio dreimal den Namen des Herrn ausrufend die Erde berührte und dabei drei Quellen entstehen ließ. An dem Hinrichtungsort sei später San Paolo alle Tre Fontane errichtet worden. 56 Das zweite Motiv ist das des Kephalophoren-Wunders. 57 Im HL werden neben Dionysius (WT 10; LA 153) lediglich zwei weitere Heilige, nämlich Alban von Mainz (ST 37) und Savinianus von Troyes (WT 93) als Kopfträger dargestellt. Letztgenannter findet sich auch in der lateinischen LA (127): Percussus igitur caput suum levavit et passibus XLIX illud portavit . 58 Als bedeutsamstes Zeugnis für die Verbreitung des Kopfträgerwunders 59 - das wohl zu den eigenartigsten Mirakeln für den Triumph des Heiligen über den Tod gehört - gilt in der Tat die Legende des heiligen Dionysius. In der Fassung Hilduins von Paris aus dem 9. Jahrhundert verschmelzen Dionysius von Paris und Dionysius Areopagita zu einer Person mit dem Ziel, die Vorrangstellung des Klosters St. Denis gegenüber dem Bischof von Paris zu begründen. Mit der gleichen Intention wird die Translation der Gebeine vom Richtplatz ins mehrere Meilen entfernte Kloster erklärt, die der Heilige mit seinem Kopf unter dem Arm selbst vornahm. 60 Wunder, die den Kopf betreffen, sind im HL also distinkt genug, um für einen Wiedererkennungswert der Legende zu sorgen. Eine exklusive Verbindung von geköpften Märtyrern und 54 HL (wie Anm. 13), ST 46: Paulus, S. 204. 55 LA (wie Anm. 11), 90: De sancto Paulo apostolo , S. 1172-1174. 56 Vgl. Nine R. Miedema, Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach den ‘Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae’ , Tübingen 2001 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts 97), S. 535-539, insbesondere S. 537. Siehe auch: dies., Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die ‘Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae’ (deutsch/ niederländisch). Edition und Kommentar , Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 72), z. B. S. 109, 265. 57 Pierre Saintyves, „Les saints céphalophores. Étude de folklore hagiographique“, in: Revue de l’histoire des religions 99 (1929), S. 158-231; Maurice Coens, „Nouvelles recherches sur un thème hagiographique: le céphalophorie“, in: Academie Royale de Belgique. Bulletin de la Classe des lettres et des sciences morales et politiques 5.48 (1962), S. 231-253. 58 LA (wie Anm. 11), 127: De sanctis Sabiniano et Sabina , S. 1706: ‘Als sie ihn erschlagen hatten, hob er sein Haupt auf und trug es noch 49 Schritte weit’. 59 Vgl. die Analogie zwischen Soldaten und Märtyrern bei Johannes Chrysostomos, Homilia in SS. Martyres Juventinum et Maximinum ( PG 50 [1862], Sp. 571-578), hier Sp. 576: Etenim sicut milites vulnera quae in praeliis sibi inflicta sunt regi monstrantes, fidenter loquuntur: ita et illi in manibus absecta capita gestantes, et in medium afferentes, quaecumque voluerint apud Regem caelorum impetrare possunt (‘Denn gleich wie die Soldaten ihre Wunden, die sie im Kampf erhielten, ihrem König vorzeigen und beherzt reden, so [tun] sie [die Heiligen] es auch, wenn sie in Händen ihre abgetrennten Häupter tragen und zu Gott bringen, so können sie beim König der Himmel erbitten, was immer sie wollen’). Vgl. Regula di Natale, Das Kephalophoren-Wunder in churrätischen Viten. Placitus von Disentis - Gaudentius von Casaccia - Victor von Tomils - Eusebius vom Viktorsberg , Chur 2005 (Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 14), S. 22. 60 Di Natale (wie Anm. 59), S. 32f. Kopfträgerwunder gibt es freilich im Neuen Testament nicht, in den Evangelien geht es ja primär um Jesus als Wundertäter. Vgl. Michael Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus , Tübingen 2002 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Reihe 2, 144), S. 431. Verletzungen in Heiligenlegenden 119 kopflosen bzw. kopfverletzten Hilfsbedürftigen, also eine aus der Hinrichtungsart abgeleitete „Hilfsfähigkeit“, 61 gibt es dabei aber nicht. Doch stellen diese Wunder die conditio sine qua non für die Übertragung auf gemeine Sünder wie Ritter, 62 Kaufleute und selbst Verbrecher dar. Wunder, die den Kopf betreffen, bieten sich, insofern es die Überlieferung erlaubt, in hervorragender Weise an, eine heilige Person auszuzeichnen, die Bedeutung eines Fests zu unterstreichen oder einen Kultort zu begründen. III Mögliche Strategien für die Kompilation Dem eingangs beschriebenen Verlust an Wiedererkennungswert einer oder eines Heiligen aufgrund der Zunahme der Gedenktage oder auch der von vornherein gegebenen Unbestimmtheit aufgrund beispielsweise einer lückenhaften Überlieferung konnte also auf zwei unterschiedliche Weisen begegnet werden: zum einen durch Kollektivierung wie bei der Ursulalegende, für die sich das Synonym undecim millium virginum in Erinnerung an eine Vielzahl namentlich bekannter und unbekannter Heiliger entwickelte. Zu denken wäre aber auch an Gruppenbildungen wie die 40 Märtyrer, 63 die vier Kirchenväter, 64 die vier heiligen Jungfrauen, 65 die Vierzehnheiligen bzw. 14 Nothelfer 66 oder auch die 10.000 Märtyrer ( HL , ST 38). Zum anderen durch die hier in den Fokus genommene, nur am Einzelfall beobachtbare Strategie, der Legende neue Distinktionsmerkmale zu verleihen, was vornehmlich durch Wundererzählungen 67 bewerkstelligt werden konnte, da diese sich je nach Bedeutung des Kultes kontinuierlich mehrten - der Kompilator konnte sich also auf eine entsprechend reiche Überlieferung stützen. Der Verfasser des HL weiß lediglich zu 14 Märtyreranlässen überhaupt keine und zu weiteren 31 keine postmortalen Wunder zu berichten. 68 In fast allen Fällen (117 von 131) werden also miracula ante und/ oder post mortem erwähnt. Insgesamt gibt es aber nur 21 Legenden, die sowohl Biographisches oder eine conversio als auch miracula ante und 61 Vgl. Konrad Kunze, „‘Legende’“, in: RLW , Bd. 2, Berlin/ New York 1997, S. 389-393, hier S. 390. 62 Vgl. Schmitz-Esser (wie Anm. 38), S. 643. 63 Märtyrerliteratur , hg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Hans R. Seeliger und Wolfgang Wischmeyer, Berlin u. a. 2015 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 172), S. 304. 64 Zur Einführung des Duplexfests beispielsweise in Münster siehe Kohl (wie Anm. 19), S. 134. 65 Hinweise auf den Kult der drei bzw. vier Jungfrauen (Barbara, Margaretha, Katharina, [Dorothea]), die auch zu den Nothelfern gezählt werden, finden sich erst im Spätmittelalter, vgl. Matthias Zender, „‘Drei Jungfrauen’“, in: LexMA , Bd. 3, München/ Zürich 1986, Sp. 1381. 66 Wolfgang Brückner, „‘Vierzehnheilige’“, in: LexMA , Bd. 8, München/ Zürich 1997, Sp. 1655; Erich Wimmer, „‘Nothelfer’“, in: LexMA , Bd. 6, München/ Zürich 1993, Sp. 1283-1285; vgl. Dieter J. Weiß, „Reichsstadt und Kult im Spätmittelalter. Überlegungen am Beispiel Nürnbergs und der oberdeutschen Städte“, in: Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte. Traditionen und Ausprägungen zwischen Stadt, Ritterorden und Reich , hg. von Klaus Herbers, Tübingen 2005 ( Jakobus-Studien 16), S. 1-23, hier S. 6. 67 Vgl. Hans-Werner Goetz, „Wunderberichte im 9. Jahrhundert. Ein Beitrag zum literarischen Genus der frühmittelalterlichen Mirakelsammlungen“, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen , hg. von Martin Heinzelmann, Klaus Herbers und Dieter R. Bauer, Stuttgart 2002 (Beiträge zur Hagiographie 3), S. 180-226; Michael E. Goodich, Violence and Miracle in the Fourteenth Century: Private Grief and Public Salvation , Chicago 1995; Peter Assion, Die Mirakel der Hl. Katharina von Alexandrien. Untersuchung und Texte zur Entstehung und Nachwirkung mittelalterlicher Wunderliteratur , Heidelberg 1969. 68 Legenden ohne Wunder im HL (wie Anm. 13): ST 8, 21, 28, 43, 52, 71, 74, 79, 97, 102, 117; WT 23, 43, 77. Ohne posthume Wunder im HL die vorgenannten sowie: ST 16, 24, 29, 37, 45, 60, 61, 69, 75, 89, 91, 103, 112, 114, 121, 123; WT 12, 22, 51, 56, 61, 72, 73, 87, 95, 98, 110, 112, 115, 122. 120 Simon Falch post mortem präsentieren; 69 diese bilden dann auch zusammen mit einigen Bekennerviten den Forschungskanon. 70 Wunderberichte spielen im Vergleich zu Lebensbeschreibungen oder conversio -Berichten also eine ungleich bedeutendere Rolle für den Wiedererkennungswert eines Heiligen(fests). 71 Die Zahlen bestätigen so indirekt auch, dass in der Spätantike und im frühen Mittelalter Vita und Mirakel noch nicht grundsätzlich zusammengehörten, kommen doch im HL 44 Märtyrerlegenden ohne Wunder aus, die Gott um des Heiligen willen nach dessen Tod wirkte. 72 Dabei galten gerade diese Wunder als besonders zuverlässig 73 und konnten folglich vom Kompilator beliebig zahlreich und unabhängig von der Legendenfassung hinzugefügt werden. 74 IV Strategien der Auswahl von Mirakeln Zur Illustration der bisherigen Überlegungen soll ein Predigtmärlein 75 dienen. Es handelt sich um die Erzählung eines posthumen Wunders zur heiligen Barbara, 76 die als Exempel in einer um 1520 kompilierten Predigt des Augustinerchorherrn Balthasar Boehm aus Rebdorf bei Eichstätt zu finden ist. 77 Dieses Beispiel und der Umgang des Kompilators mit den Möglichkeiten, die die Überlieferung bot, sind aufschlussreich, da für die Rebdorfer Stifts- und Gemeindekirche die Patrozinien bekannt sind: Neben dem Hauptaltar, der dem Kirchenpatron Johannes dem Täufer geweiht war, gab es Altäre, die den vorhin genannten Heiligengruppen - den vier Kirchenlehrern, den 14 Nothelfern, den Drei Königen und den heiligen Jungfrauen - geweiht waren. 78 Es kann also dem Kompilator das Interesse unterstellt werden, möglichst das Distinkte des jeweiligen Heiligen für das Gedenken an ihn herauszustellen. Die historia aus der Barbarapredigt ist nun folgende: Drei Mönche sind auf dem Weg zum Generalkapitel und durchqueren dabei einen düsteren Wald. Plötzlich hören sie eine Stimme: O ir hellige vetter durch den nomen 69 Ebd., ST 2, 4, 5, 9, 39, 54, 63, 66, 107, 109, 110, 120; WT 4, 10, 38, 48, 89, 93, 102, 108, 109. 70 Vgl. die Fallbeispiele von Feistner (wie Anm. 22) oder auch von Andreas Hammer, Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‘Passional’ , Berlin/ Boston 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 10). 71 Zum Stellenwert von Wundern im Rahmen der Kanonisationsprozesse vgl. Thomas Wetzstein, „Virtus morum et virtus signorum? Zur Bedeutung der Mirakel in den Kanonisationsprozessen des 15. Jahrhunderts“, in: Mirakel im Mittelalter (wie Anm. 67), S. 351-376, hier S. 364. 72 Vgl. Goetz (wie Anm. 67), S. 192. 73 Vgl. Jacques Le Goff, Ludwig der Heilige , Stuttgart 2000, S. 25. 74 Auch für die Kompilation in der Volkssprache darf dies vorausgesetzt werden, vgl. Gerhard Eis, „Johannes Kirchschlags Predigt zum Barbaratag 1486“, in: PBB 81 (1959), S. 196-200. 75 Klaus Grubmüller, „‘Predigtmärlein’“, in: RLW , Bd. 3, Berlin/ New York 2007, S. 156f., hier S. 156: „Predigtmärlein sind in der Predigt eingelagerte Exempel. […] In ihren Stoffen sind sie prinzipiell nicht festgelegt. […] Predigtmärlein sind deshalb auch bevorzugte Fundorte für Motiv- und Stoffgeschichte“. 76 Siehe Bibliotheca Hagiographica Latina Manuscripta s.v. „‘Tres abbates’“ (http: / / bhlms.fltr.ucl.ac.be/ , Stand 9.2.2018). Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, ms. 7917 (cat. 3189) wäre demnach die früheste Handschrift (1301-1400), die das Mirakel überliefert. 77 Balthasar Boehm, deutsche Predigten: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4337 (urn: nbn: de: bvb: 12bsb00045780-7; http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0004/ bsb00045780/ images/ , Stand 9.2.2018), Bl. 49r-58v, hier Bl. 58r-v. In den folgenden Transkriptionen wurden Groß- und Kleinschreibung reguliert, Abkürzungen aufgelöst und eine (modernisierende) Interpunktion ergänzt. 78 Josef Höcherl, Kloster Rebdorf. Von der Gründung bis zur Gegenwart , Rebdorf 1996, S. 26. Darüber hinaus können auch die Altäre der unter Rebdorfs Einfluss stehenden Kirchen ein Auswahlkriterium bei der Anlage des Predigtwerks Boehms gewesen sein. Verletzungen in Heiligenlegenden 121 Ihesu Cristi vnd durch den nomen sant Barbare kvmpt zu mir (Bl. 58r). Zwei weitere Male hören sie den Hilferuf und kommen schließlich beim dritten Mal an den Ort des Geschehens. Die nachfolgenden Ereignisse werden dann aus der Perspektive des Abts geschildert: Nvn do der apt hort den nomen Cristi nennen, do erschrack er gar nigs mere vnd gieng zu der stadt, do die stvm schrei […]. Als pald erschein im ein hewbt, daß was vor dreyen dagen einem man abgeschniden, daß die augen off het vnd mit scharppfer zungen sprach zu dem apt: ‘Erschrick nit, sunder gen hin vnd heiß auch dein andern mvnchen kvmen, so wil ich dir sagen die wunder gottis’ (Cgm 4337, Bl. 58v). Der Kopf schildert die Umstände seiner Trennung vom Leib. Vor drei Tagen hätten ihn Räuber überfallen und ermordet, doch habe die heilige Barbara ihn bis jetzt vor Tod und Höllenpein bewahrt, damit er kommunizieren und im Stand der Gnade sterben könne. Schließlich bittet der Kaufmannskopf darum, man möge ihn zurück zu seinem Leib bringen und wieder daraufsetzen. Die Mönche kommen der Bitte nach: [A]ls pald stundt der dot auff, der also wurd ermordt vnd gieng mit den geistlichen leutten in ein stadt. Do peicht er mit grossen czeren vnd rew vnd leid vnd do er genam daß hellig sacrament, do mit angesigt aller, die do waren, die sel gieng von dem leib in den himel vnd wurd entpfangen von den hern Ihesu Cristo. Aber sein leichnam mit groesser wirdikeit wurd entpfangen vnd begraben von den andechtigen cristen lewten. Auß allen disen worten ist vnß erschollen die wirdikeit der helligen junckfrawen Barbare hie auf erden. Noch vil mer grosser ist ir gloria in dem himel bey irem gesponß Ihesu Cristo. Do von ich nit kan sagen, wiß ich zu ir navff kvm, hoff ich in kvrcz. Amen, fiat, fiat (Cgm 4337, Bl. 58v). Die Erzählung bildet zusammen mit der Anrufung der Heiligen den Schluss der Predigt, die neun Blätter im Folioformat umfasst. Der Sermo weist ein Prothema und eine erste und eine zweite Gliederung auf. Die erste Teilung folgt der Perikope O quam pulchra est casta generacio cum claritate 79 (‘Wie schön ist die keusche Geburt in Klarheit’) und dient der Erklärung der Begriffe pulchra und casta . An die conclusio dieses ersten Teils schließt sich die zweite divisio an. Diese wird in Notarikaform visualisiert, was charakteristisch für die Predigten Balthasar Boehms ist: 1 b bervmpt avß dem bet sipt (vermutlich vom adj. besippe ʻverwandtʼ) 2 a angenem in irem angesigt 3 r reformirt in reinikeit 4 b wurd bereit in barmherczikeit 5 a angefallen mit angsten 6 r reimen vnd rveffen 7 a angenvmmen vnd angervefft (Cgm 4337, Bl. 51v) In der Ausführung werden dann die allgemeinen, im ersten Teil dargestellten Jungfraueneigenschaften - Schönheit, Keuschheit, Weisheit - auf die heilige Barbara übertragen, die Vita wird nach Jacobus Bergamensis geschildert. 80 Das Wunder vom abgetrennten Kaufmannskopf 79 Vgl. Hesbert CAO (wie Anm. 32), 4096. 80 Boehm (wie Anm. 77), Bl. 51v: Primo, zu dem ersten: Sant Barbara waß bervmpt auß dem bet sipt, daß ist auß der gepurt, waß si groeß vnd edel vnd hoch geporn. Wan als spricht Iacobus Pergamensis: Barbara ein junckfraw von dem landt Asia, do regirt der tyran vnd keiser Maximianus in orient, daß ist in dem auf gang der svn . Vgl. Jacobus Bergamensis, De claris selectisque mulieribus , Ferrara 1497 (urn: nbn: de: bvb: 12- 122 Simon Falch bildet dann den Abschluss des Predigtabschnitts Barbara wurd angenvmmen vnd angervefft , in dem Passion und Bestattung, Inventions-, Translations- und andere posthume Wunder dargestellt wurden. 81 Ein Blick auf die Predigtüberlieferung, die neben den Legendaren die wichtigste Quelle für die Bedeutung eines Heiligenkults ist, zeigt aber, dass es sich bei dem Exempel vom kopflosen Kaufmann um eine äußerst seltene Zutat handeln muss, denn in Johannes Baptist Schneyers Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters 1350 bis 1500 82 finden sich unter den 110.000 registrierten Predigtinitien lediglich zwölf zur heiligen Barbara und genau dieses Wunder nur in einer Predigt Meffrets von Meißen (um 1450). 83 Eine Übernahme des Exempels aus dessen Hortulus reginae , der nach der Zählung Anne T. Thayers auf Platz acht der in Europa verbreitetsten Musterpredigtsammlungen rangiert, 84 kann somit als möglich gelten. 85 Das Mirakel findet sich ebenfalls in einer altfranzösischen Barbaralegende aus dem 15. Jahrhundert. Hier, wie auch in weiteren Handschriften, die das Mirakel überliefern, 86 wird die Ordenszugehörigkeit der Äbte explizit genannt: Nous lisons de trois abbés de l’ordre de Citeaux du pais de Frise qui alloient ensamble en leur chappitre general selon le coustume d’iceulx . 87 Diese Angaben verweisen auf den Ursprung des Exempels im hochmittelalterlichen Kernraum des Barbarakults im nord- und nordöstlichen Frankreich und Belgien, von wo aus sich das Fest mit den Zisterziensern, Rhein und Main folgend, ausbreitete. 88 Weithin bekannt dürfte das bsb00067113-6; http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0006/ bsb00067113/ images/ , Stand 9.2.2018), Bl. XCIr-XCIIIv. 81 Zur Überlieferung der Legende der heiligen Barbara siehe Williams-Krapp (wie Anm. 6), S. 394f. 82 Johannes B. Schneyer, Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1350-1500 , hg. von Ludwig Hödl und Wendelin Knoch, CD-ROM-Edition, Münster 2001. Siehe auch: ders., Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150-1350 , Bd. 1-11, Münster 1969-1990, „Johannes Tauler“ (Bd. 3, S. 786), Nr. 119; „Jordanus de Quedlinburg“ (Bd. 3, S. 844), Nr. 356; „Thesaurus novus“ (Bd. 5, S. 538), Nr. 183-185; „Nicolaus de Landau n. 5“ (Bd. 7, S. 377), Nr. 6; „Sermones Fratrum Min.“ (Bd. 7, S. 412), Nr. 41; „Vatican lat. 1263“ (Bd. 7, S. 472), Nr. 4. 83 Sermones ‘Meffreth’ de tempore et de sanctis sive hortulus reginae , Bd. 3: Sermones de sanctis , Nürnberg 1487 (urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00044061-1; http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0004/ bsb00044061/ images/ , Stand 9.2.2018), Sermo III, Abschnitt f. 84 Anne T. Thayer, Penitence, Preaching and the Coming of the Reformation , Aldershot 2002, S. 36. 85 Zum discourse of compilation siehe Alastair Minnis, „Nolens auctor sed compilator reputari: the Late- Medieval Discourse of Compilation“, in: La méthode critique au Moyen Âge , hg. von Mireille Chazan und Gilbert Dahan, Turnhout 2006 (Bibliothèque d’histoire culturelle du moyen âge 3), S. 47-63. 86 Incipit: Tres abbates ( ordinis Cisterciensis oder de ordine s. Bernhardi ), siehe Lüneburg, Ratsbücherei, Ms. Theol. Quart. 15, Bl. 220r, vgl. Marlis Stähli, Handschriften der Ratsbücherei Lüneburg , Bd. 3: Die theologischen Handschriften: Quartreihe. Die juristischen Handschriften , Wiesbaden 1981, S. 58; München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1115, Bl. 6r, vgl. Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 888-4000 , Wiesbaden 1991 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V.6), S. 96f.; Köln, Historisches Archiv, GB oct. 3, Bl. 263r, vgl. Joachim Vennebusch, Die homiletischen und hagiographischen Handschriften des Stadtarchivs Köln , Teil 1: Handschriften der Gymnasialbibliothek , Köln u. a. 1993, S. 202. Das Exempel auch in Johannes von Wackerzeele, Legenda beatissimae virginis Barbarae , Köln ca. 1495 (urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00029477-3; https: / / bildsuche.digitale-sammlungen.de/ index.html? c=viewer&bandnummer=bsb00029477&pimage =2&v=100&nav=&l=de, Stand 9.2.2017), Bl. D IVr-v. 87 Harry F. Williams, „Old French Lives of Saint Barbara“, in: Proceedings of the American Philosophical Society 119/ 2 (1975), S. 156-185, hier S. 180. 88 Alexander Joseph Denomy, „An Old French Life of Saint Barbara“, in: Mediaeval Studies 1 (1939), S. 148- 178, hier S. 155-157. Siehe auch unter http: / / cantus.uwaterloo.ca/ (Stand 27.7.17) die Antiphonare aus Verletzungen in Heiligenlegenden 123 Mirakel aber schon im 15. Jahrhundert gewesen sein, steht es doch auch im HL . Warum die Legende der heiligen Barbara nun in das HL aufgenommen wurde, muss Spekulation bleiben, fehlt ihre Vita doch in der LA , im Passional , im Märterbuch 89 oder im Speculum historiale . 90 Auch im Umkreis der elsässischen Legenda aurea , in den 25 von Konrad Kunze untersuchten Handschriften, ist die Legende nur dreimal belegt, aber ohne posthume Wundererzählungen. 91 Ein Zusammenhang mit dem Katharinen-Patrozinium des Nürnberger Dominikanerinnenklosters, beispielsweise über eine Altarstiftung zu Ehren der heiligen Jungfrauen, wäre plausibel. Das Interesse an der Verehrung Barbaras könnte aber auch durch die Verbreitung des Kults der 14 Nothelfer erwachsen sein. 92 Die keineswegs selbstverständliche Berücksichtigung der Legende Barbaras im HL weist aber darauf hin, in welchem Maße die Zusammenstellung einer Legendensammlung lokalen und regionalen Bedürfnissen gefolgt sein muss. 93 Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheint sich die Barbaravita fest in den Fassungen der lateinischen LA unter den nachgetragenen Heiligen etabliert zu haben; aber auch dort ohne das Wunder vom geköpften Kaufmann. 94 So sind die zwei Nürnberger Leithandschriften der Edition Der Heiligen Leben (N6, N7) 95 bisher die frühesten Belege für diese posthume Wundererzählung im deutschsprachigen Raum. Für den Kompilator des HL konnte sich mit der Aufnahme der heiligen Barbara, neben den anderen Jungfrauen wie beispielsweise der heiligen Christina, die ebenfalls in einen Turm eingeschlossen ( LA 98) 96 und auf wundersame Weise getauft wurde ( HL , ST 61), ein gesteigertes Interesse ergeben haben, das Proprium, ‘das Eigene’ des Fests herauszustellen. Dies wäre dann, wenn sich die These erhärtet, mit Blick auf „den intendierten Gebrauch[ ] als Tischlektüre“ des HL als komplementäre Strategie zur Schlichtheit des „Erzählstils“ mit seinen „formelhaften Wendungen“ 97 zu sehen. Freilich bietet sich eine solche Strategie vornehmlich für Heilige an, Tongern, B-TO olv 63 und 64 (um 1390), Vorau A-VOR 287 (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts), und Aachen, D-AAm G20 (12. Jahrhundert). 89 Erich Gierach, Das Märterbuch. Die Klosterneuburger Handschrift 713 , Berlin 1928 (DTM 32). 90 Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive speculum maius , Bd. 4: Speculum historiale , Graz 1965 (Nachdruck der Ausgabe des Balthazarius Bellereri von 1614). 91 Konrad Kunze, „Überlieferung und Bestand der Elsässischen Legenda Aurea. Ein Beitrag zur deutschsprachigen Hagiographie des 14. und 15. Jahrhunderts“, in: ZfdA 99 (1970), S. 265-310, hier S. 306. Siehe dazu ebd., S. 290f.: Handschriften M (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6), l (Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek, KB Msc. 31 fol.) und p (Paris, Bibliothèque Nationale, ms. allem. 243). 92 Vgl. Friedrich W. Bautz, „‘Barbara’“, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon , Bd. 1, Hamm 1990, Sp. 364f., hier Sp. 365. 93 Ein Beispiel stellt auch die Berücksichtigung „des fast ausschließlich im Nürnberger Raum verehrten Sebald“ dar. Die Legende schließt hier sogar mit einem Lob auf Nürnberg. Williams-Krapp in der Einleitung zum HL (wie Anm. 13), ST, S. XIV. 94 Vgl. beispielsweise folgende Drucke der LA (http: / / www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de, Stand 10.2.2019): GW M11258, Legenda aurea . Korr. Andreas Frisner. Nürnberg: Johann Sensenschmidt und Andreas Frisner, 26.3.1476; M11338, Legenda aurea . Venedig: Bonetus Locatellus für Nikolaus von Frankfurt, 20.6.1500; M11277, Legenda aurea . Straßburg: [Drucker des Jordanus von Quedlinburg], 19.12.1486. 95 HL (wie Anm. 13), WT, S. XLf.: „N6 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. IV, 43 […] spätestens erstes Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, nürnbergisch. […] N7 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. IV, 79 […] v. J. 1430, nürnbergisch“. 96 Zur Verwechslung zweier Märtyrerinnen vgl. LA (wie Anm. 11), S. 1266, Anm. 2. 97 HL (wie Anm. 13), ST, S. XV. 124 Simon Falch die nicht bereits vor der karolingischen Liturgiereform verehrt wurden. 98 Für Apostel und altrömische Märtyrer gab es ja Formulare mit Eigentexten, also speziell und nur für diesen Heiligenanlass ausgewählte Lesungen und musikalische Kompositionen. Der Kult für die später Kanonisierten wurde hingegen aus dem Commune Sanctorum , also dem gemeinsamen Bestand von Propriumstexten und -gesängen für eine Gruppe von Heiligen (z. B. Märtyrer, Jungfrauen), bezogen. Das Proprium, die ‘herausragende Persönlichkeit’, die besonderen Taten schöpfte der Kompilator folglich aus Legenden- und Mirakelsammlungen oder anderen Quellen. 99 Dadurch ließ sich das ‘Eigene’ dann aber besonders akzentuieren. Somit lässt sich einerseits die „diskursive Variabilität“ der Gattung bestätigten, die Edith Feistner und Peter Strohschneider an diversen Beispielen illustrierten, 100 andererseits die von beiden als Ursache für Variationen genannte Kommunikationssituation mit Blick auf die liturgischen Formulare präzisieren. Gerade dann, wenn die ganze Schar der Jungfrauen im Festkalender Berücksichtigung fand, was für das Nürnberger Katharinenkloster zu vermuten und für das Augustinerchorherrenstift Rebdorf an der Musterpredigtsammlung Balthasar Boehms abzulesen ist, 101 musste das Besondere der jeweiligen Heiligen hervorgehoben werden. Bei dieser Auswahl konnte der Kompilator durch die Kenntnis anderer Mirakel beeinflusst worden sein, zumindest insofern, als vergleichbare Wunder die Glaubwürdigkeit der Erzählung vom kopflosen Kaufmann stützten. Im Index exemplorum sind entsprechende Hinweise zu finden. 102 Beispielsweise handelt es sich um Wunder, die darin bestehen, dass ein Kopf die Mutter Gottes anruft (Nr. 441, 2482), oder die von der Hilfe Mariens berichten, der Höllenpein zu entfliehen (Nr. 2946) oder heilsnotwendige Sakramente zu erhalten: So wird Geköpften die Taufe (Nr. 466) oder die Eucharistie gespendet oder die Absolution erteilt (Nr. 2481). Unserem Predigtmärlein kommt folgende Erzählung am nächsten (Nr. 4793): Ein Dieb wird im Schlaf von seinen Häschern enthauptet, sein Kopf rollt einen Hügel hinunter und ruft dabei die heilige Jungfrau Maria um Hilfe und Beistand an. Der herbeigeholte Priester besteht darauf, dass der Kopf zum Körper zurückgebracht werde, woraufhin der Dieb erklärt, allzeit die heilige Maria verehrt zu haben. In Anbetracht der 120 von Saintyves verzeichneten Kopfträger aus Legenden- und Mirakelsammlungen französischer Provenienz 103 überrascht es aber, dass bußwillige Köpfe primär in Marienmirakeln begegnen. Dass dem Kompilator des HL ebenfalls Marienwunder in den Sinn kamen, wird daher mehr als wahrscheinlich sein, machen diese doch das Gros der Überlieferung aus. Das aus dem frühen 15. Jahrhundert stammende Nürnberger Marienbuch (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 157) - das wiederum auch eine Quelle für das HL war - beinhaltet in der Tat eine Variante des Mirakels vom geköpften Kaufmann, hier aber mit einem Räu- 98 Vgl. Andreas Odenthal, Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung , Tübingen 2011 (Spätmittelalter - Humanismus - Reformation 61), S. 25-27. 99 So könnte beispielsweise für das Fest der heiligen Ursula auf die Kompositionen Hildegards von Bingen zurückgegriffen werden, die diese Heilige besonders verehrte. Vgl. Stefan J. Morent und Marianne Richert Pfau, Hildegard von Bingen. Der Klang des Himmels , Köln/ Weimar 2005 (Europäische Komponistinnen 1), S. 103. 100 Feistner (wie Anm. 22), S. 86; Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‘Alexius’“, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen , hg. von Gert Melville und Hans Vorländer, Köln u. a. 2002, S. 109-147, hier S. 125. 101 Vgl. Repertorium sermonum Balthasar Boehm , http: / / rsb.ku.de (Stand 10.1.2019). 102 Frederic C. Tubach, Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales , Helsinki 1969. 103 Saintyves (wie Anm. 57), S. 225-231. Verletzungen in Heiligenlegenden 125 ber aus Norwegen als Büßer. 104 Durch das Exempel vom geköpften Räuber/ Kaufmann ließ sich plausibel eine besondere Stellung Barbaras unter den Jungfrauen begründen. Zwar lässt sich dem Verfasser des HL diese Intention nur unterstellen, doch stützt die Predigt Balthasar Boehms diese Vermutung: Auß disen worten mach ich auß czihen ein groeß privilegium, daß do hot sant Barbara vor andern vil helligen. Wan als got der vatter hot enpfoln der junckfrawen Marie, daß si wurd ein mütter vnd ein gepererin vnd ein nererin ires svn Ihesu Cristi, der gleich schir ist enpfolen auß gottis magt sant Barbare, der helligen junckfrawen, gewalt zu verleyen allen iren dienern, daß si mogen deilhafftig werden deß helligen leichnams vnd pluets Ihesu Cristi an irem letzend end (Cgm 4337, Bl. 58r). Denn durch die Wahl des Mirakels und die anschließende Erläuterung folgt Boehm einer (vorgegebenen) Bewertung der Heiligen, wie implizit schon vor ihm die Kompilatoren von Der Heiligen Leben oder des Hortulus reginae . In diesem Sinne findet dann auch die Erläuterung des Exempels in dieser Predigt statt, die mit dem Hinweis auf der helligen junckfrawen gewalt den besonderen Rang Barbaras als eine der 14 Nothelfer unterstreicht. Aufschlussreich ist dabei auch die Parallelisierung zur Mutter Gottes, der Nothelferin par excellence , was auch noch einmal dafür spricht, dass ein Marienmirakel ursprünglich auf die heilige Barbara übertragen bzw. für diese in aufwertender Absicht geltend gemacht wurde. Durch den Rückgriff auf Mirakel konnte sowohl das Distinkte eines Heiligen plausibel hervorgehoben als auch neue Traditionen begründet werden, 105 und das ausgehend von volkssprachigen hagiographischen Texten, 106 sei es einer französischen oder deutschen Vorlage. Die Überlieferung des Wunders vom geköpften Kaufmann in der Musterpredigtsammlung Meffrets bedeutet dann, dass diese Kombination aus Legende und Mirakel für ‘wahr’ gehalten wurde. Nachfolgendes Beispiel hingegen findet sich nur in der volkssprachigen Predigt Boehms. Wenn es auch nicht Eingang in eine lateinische Sammlung gefunden hat, so mag es doch einen Hinweis darauf geben, wie man sich den Weg vom volkssprachigen Wunder in lateinische Predigtsummen vorstellen könnte: Exemplum: Es geschae doe ein priester vnders ordens vmb schuld vnd vnregt in der keichen [‘Gefängnis’] lag vnd ich war sein warten. Ein fart kom ich zu im sen wander [‘als er’] in die keichen. Do sprach er zu mir: ‘Frater Baltasar, wis Montag mvͤst ir zu meß singen’. Do sprach ich zu im: ‘Warvmb daß, liber frater Bartholomee? ’ Do sprach er: ‘Ir werds wol segen was geschae’. Er starb frue an dem Montag. Do must man singen ein meß fur in vnd eine von der zeit, wan eß was in der fasten vnd leider wie wol er cranck war an sel vnd leip vnd nam aß erlichen dawcht ein arms endt. Dannoch wan er het gedient sant Barbare sein lebtag mit fleiß, wurt im offenbar bey vir oder funff tagen der tag seins todes, vff daß er sich het mogen schiken zu gnaden vnd einem selligen end (Cgm 4337, Bl. 57r-v). Posthume Wundererzählungen sind schließlich Erweiterungen der Legende - quasi ad infinitum -, die die memoria an die heilige Person lebendig halten. Durch Mirakel ließen sich Legenden auch stets an die Bedürfnisse der Kommunitäten anpassen. Diese Strategie ist jedoch nicht 104 Bettina Jung, Das Nürnberger Marienbuch. Untersuchung und Edition , Tübingen 2004 (TTG 55), S. 123 (Nr. 27). 105 Goetz (wie Anm. 67), S. 189: „Lediglich fünf Heilige weisen im 9. Jahrhundert eine Überlieferung des Typs 2b, also die gewollte Verbindung von Viten und Mirakeln (derselbe Verfasser und/ oder zwei Bücher derselben Schrift) auf: Filibert, Gallus, Goar, Luidger und Opportuna“. 106 Vgl. HL (wie Anm. 13), ST, S. XIV. 126 Simon Falch mit dem Ersatz „historischer durch pseudo-historische und fiktiv-wunderbare Elemente“, wie es sich besonders in ‘legendarischen Legenden’ zeige, 107 so Kunze, zu verwechseln, sondern als Distinktion durch gezielte Auswahl aus dem Reservoir der Wunderberichte zu verstehen. Leicht konnte eine dreistellige Zahl an miracula post mortem zu einer Heiligen überliefert sein, 108 so dass sich nicht die Frage stellt, ob, sondern nach welchen Prinzipien eine Auswahl zum Lob der Heiligen vorgenommen werden konnte. Dabei betrachteten die mittelalterlichen Kompilatoren nicht alles, was als „wahr“ galt, auch als „historisch-authentisch“, 109 gingen also durchaus kritisch vor, doch waren sie vom Nutzen der causa vera , „der guten, gerechten Sache“, so Konrad Vollmann, überzeugt. 110 Texte über Wunder konnten daher auch vom Kompilator eingesetzt werden, um zwischen dem Historisch-Authentischen, also den überlieferten Varianten einer Legende, und der veritas historia - der lokal benötigten Adaption - zu vermitteln. 111 Dies führen das HL sowie die Predigten Meffrets und Boehms vor, indem sie eines der ‘unmöglichsten’ Wunder zur heiligen Barbara präsentieren, um deren virtus hervorzuheben. In seiner volkssprachigen Predigt geht Boehm dann aber über das approbierte Wissen lateinischer Musterpredigten hinaus, wenn er ein Exempel, über das Wunderwirken der heiligen Barbara, quasi ad hoc , aus eigener Anschauung einfügt und damit einen konkreten Bezug zum ‘Sitz im Leben’ des Kults herstellt. Das Unmögliche, auch ‘unmögliche’ Gewalt, kann so die Erinnerung an Heilige befördern und über das distinktive Potenzial von Mirakeln den Wiedererkennungswert eines Heiligenkults steigern. Die dabei zu beobachtende Präsenz burlesker Gewaltdarstellungen unterstreicht die kulturgeschichtliche Bedeutung des Phänomens ‘Verletzungen und Unversehrtheit’, auch weil der Legende schon quantitativ der Vorrang vor anderen volkssprachigen Gattungen gebührt. 107 Vgl. Kunze (wie Anm. 61), S. 390. 108 Wetzstein (wie Anm. 71), S. 352; Helmut Rosenfeld, Legende , Stuttgart 4 1982 (Sammlung Metzler 9), S. 24. 109 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik , Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit , München 1993, S. 139. LA (wie Anm. 11), Bd. 1, darin die Einleitung von Bruno W. Häuptli, S. 13-66, hier S. 25: „Ursprünglich sind Vita und Passio noch zwei getrennte Begriffe, die beide zunächst ‘historische’ und nicht ‘legendäre’ Quellentexte meinen: Vita die Lebensgeschichte, Passio das Martyrium und die Schilderung des Martyriums. Die Übergänge von ‘historisch’ zu ‘unhistorisch’ muß man sich fließend vorstellen. Wenn Rabanus Maurus († 856) in seinem Martyrologium berichtet, ‘Vita und Passio’ Georgs gelesen zu haben, handelt es sich allerdings um einen Text, der schon im gefälschten pseudogelasianischen Dekret (6. Jh.) als apokryph und gar als Produkt von ‘Ungläubigen und Idioten’ (gemeint sind die Arianer) gebrandmarkt wird“. 110 Benedikt K. Vollmann, „Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende“, in: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter , hg. von Fritz P. Knapp und Manuela Niesner, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), S. 63-72, hier S. 65. 111 Auch in Guiberts Texten „fällt auf, daß die Wundererzählungen immer an Wendepunkten oder Brüchen des hauptsächlichen Erzählstrangs eingefügt werden“, so Karin Fuchs, Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent. Kommunikation, Deutung und Funktionalisierung von Wundererzählungen im 12. Jahrhundert , München 2008 (Pariser historische Studien 84), S. 164. Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 127 Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert Verletzung und Unversehrtheit in der Barbaralegende Anne Simon Die routinemäßige Folter und Zerstückelung der den Märtyrertod begrüßenden Heiligen bilden einen Teil derer Vorbildhaftigkeit und Identität: Der heilige Laurentius wird gegeißelt und auf dem glühenden Rost gefoltert, Barbara und Katharina werden gegeißelt und enthauptet, Stephanus gesteinigt usw. 1 Die Verletzung, als Nachahmung Christi gedacht, 2 wird oft zum Wahrzeichen des Heiligen - der heilige Dionysius etwa wird mit abgetrenntem Kopf dargestellt, die heilige Lucia mit herausgestochenen Augen. Die Peinigung dient auch als Hinweis auf die Liebe zu Gott und seitens Gottes, der die Haut und den Körper seiner Auserwählten als Leinwand für die blutig gemalte Darstellung seiner Macht und Gnade benutzt. Diese physische Versehrtheit wird also zur sicht- und greifbaren Manifestation der geistigen Unversehrtheit der Heiligen und deren zur Schau getragenen, stur auf Gott gerichteten Strebsamkeit und Belohnung. 3 Diese spirituelle Intaktheit kann sich wiederum in einer erneuten körperlichen Intaktheit ausdrücken: Der Leichnam der enthaupteten heiligen Katharina von Alexandrien wird, zum Beispiel, von den ihn auf den Berg Sinai transportierenden Engeln wieder zusammengesetzt, so dass ihre ewige Ganzheit in Gott als weiteres mirakulöses Zeichen für dessen Liebe fungiert. Paradoxerweise hing aber die mittelalterliche Reliquienverehrung geradezu von der Zerteilung des Heiligen ab, wie sie auch in den Heiligenlegenden dargestellt wird: Der böhmische König Wenzeslaus etwa bittet um eine Kopfreliquie der heiligen Barbara, erhält den unteren Teil ihres Kopfes, bringt diesen nach Prag und lässt ihm dort zu Ehren eine Kapelle bauen. 4 Die Unversehrtheit des irdischen Körpers ist also nicht von erstrangiger 1 Janine Larmon Peterson stellt fest, „[f]or many of these early theologians [Cyprian, Origenes und Clemens von Alexandrien] persecution was crucial for an authentic martyr“ ( Janine Larmon Peterson, „Holy Heretics in Later Medieval Italy“, in: Past & Present 204 [2009], S. 3-31, hier S. 5). 2 In ihrem Aufsatz über die Gewalt im geistlichen Spiel erinnert Jutta Eming an die „affektive Gotteserfahrung“ des Spätmittelalters: „Die Qualen Christi, sein Schmerz und das Blut, das er vergossen hat, erscheinen als Gegenstände der Devotion und stehen so im Zeichen eines dezidiert körperlichen Gottesbildes“ ( Jutta Eming, „Gewalt im Geistlichen Spiel: Das ‘Donaueschinger’ und das ‘Frankfurter Passionsspiel’“, in: The German Quarterly 78 [2005], S. 1-22, hier S. 5). Dabei scheint die Art der Verletzung nicht geschlechtsspezifisch zu sein. 3 Eine ähnliche Sturheit wird in Dietrich Brüggemanns Film Kreuzweg (2014) dargestellt. Der Film handelt von einem jungen deutschen Mädchen, das aus dem Bedürfnis, seine besondere Liebe zu Gott zu beweisen, alle Nahrung verweigert und letztendlich eines ‘Märtyrertodes’ stirbt. Für den Hinweis auf diesen Film und dessen Parallelen zu den Heiligenlegenden bin ich Birgit Beumers (Aberystwyth) zu Dank verpflichtet. 4 Der Heiligen Leben , Nürnberg: Anton Koberger, 1488 ( GW M11407), Bl. CCLXVr. Man vergleiche Der Heiligen Leben , 2 Bde., hier Bd. 2: Der Winterteil , hg. von Margit Brand, Bettina Jung und Werner Wil- 128 Anne Simon Wichtigkeit, vielleicht weil die Macht des Heiligen in jedem Körperteil vorhanden ist und großzügig gewinnbringend verteilt werden soll. 5 In Traum und Vision erscheinen die Heiligen als Hinweis auf das ewige Leben in Gott unversehrt, wie sie auch in Glasfenstern und auf Altarbildern dargestellt werden: Dionysius trägt sein Haupt zwar auf einem Buch wie auf einem Tablett, ein zweites Haupt sitzt ihm aber oft fest auf den Schultern. 6 Nicht nur der menschliche Körper wird im Dienst Gottes geschunden und zerschmettert, sondern auch die Landschaft und die Gesetze der Physik. In der Katharinenlegende verkünden Nebel und Erdbeben unmissverständlich den Zorn Gottes, wenn ein Heide den Bischof von liams-Krapp, Tübingen 2004 (TTG 51), S. 280. Auch wenn die pertinenten Belegstellen in der kritischen Ausgabe mit angegeben werden, sind alle Zitate der Koberger-Inkunabel entnommen, da die kritische Ausgabe eine in manchen wichtigen Einzelheiten andere Fassung des Textes bietet. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. - Laut Der Heiligen Leben wurde diese Kapelle in der Kirche des heiligen Franziskus erbaut. In dem der heiligen Agnes von Böhmen gewidmeten, 1231-1234 erbauten und von König Wenzeslaus I. geförderten Klarissenkloster, das in der Prager Altstadt neben der Franziskuskirche steht, befindet sich tatsächlich eine Barbarakapelle. Barbara ist die Schutzheilige der Bergarbeiter, ab spätestens 1260 wurde in Kutná Hora (70 km östlich von Prag) Silber abgebaut, das die böhmischen Könige im 14. Jahrhundert zu den reichsten Herrschern Europas werden ließ. Die ‘Wanderlust’ von Reliquien und deren Tendenz, sich zu vervielfältigen, werden von Nine Miedema bestätigt: Nach Auskunft einiger römischer Pilgerführer befindet sich das Haupt der heiligen Barbara in der Kirche S. Barbara in Rom - oder aber in der Kirche S. Lorenzo in Damaso. Die Pilgerführer schreiben zu diesen scheinbar mehrfach vorhandenen Reliquien: [M]er ist zu wissen, wan man hat ein stuck heiltum in einer kirchen, ist das stuck von dem ho e bt des heiligen, so nennet man das ho e bt gar. Ist aber ein stuck von einem arm, so nennet man ein arm. Ist aber ein glid von einem finger, so nennet man ein finger. Also tu o t man allen glidern: Wiewol oft ein glid nit gantz da ist, so nennet man doch das gantz glid. Darvmb so sol niemants zwiueln, ob man ein glid eins heiligen ofter oder by mer kirchen zu Rom oder in anderen landen nennet. Es ist zu glicher wiß, wan einer uber land ryt oder get vnd sicht einen turn oder die mur von einer stat, so sprichet er: ‘Ich sihe die stat! ’ Also ist es och mit dem heiltum (Nine R. Miedema, Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die ‘Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae’ [deutsch/ niederländisch]. Edition und Kommentar , Tübingen 2003 [Frühe Neuzeit 72], S. 353 bzw. S. 287; zu den Häuptern der heiligen Barbara siehe dies., Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach den ‘Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae’ , Tübingen 2001 [Bibliothek des DHI 97], S. 475 [Reliquien Nr. 1] und S. 576 [Reliquien Nr. 0b]). Ich bin Nine Miedema (Saarbrücken) für diesen Hinweis zu Dank verpflichtet. Barbarareliquien befinden sich heute u. a. außerdem in Kiev, Venedig und Bloomingdale, Illinois. Die Ausgabe einer wieder anderen Fassung der Barbaralegende bietet Natalija Ganina, ‘Die Bräute Christi’. Legenden und Traktate aus dem Straßburger Magdalenenkloster. Edition und Untersuchungen , Berlin 2016 (Kulturtopographie des alemannischen Raumes 7). 5 Die Aufbewahrung heiliger Körperteile überschneidet sich allerdings zum Teil mit der rechtlichen Praxis der ‘Leibzeichen’, also der Aufbewahrung mumifizierter Körperteile oder konservierter Kleidungsstücke als Beweismittel im Falle eines Mordes. Siehe: https: / / www.rzuser.uni-heidelberg.de/ ~cd2/ drw/ e/ le/ ibze/ iche/ leibzeichen.htm, http: / / www.hrgdigital.de/ id/ leibzeichen/ stichwort.html und http: / / www.zeno.org/ Meyers-1905/ A/ Leibzeichen (letzter Zugriff: 29.2.2016). Die Folter Barbaras wird als rechtlicher Vorgang dargestellt, ihre Reliquien fungieren daher als der Beweis für ihren ‘Mord’ und für das paradox-unrechtmäßige Bemühen des (hier römisch-heidnischen) Staates, die ‘wahre’ Religion zum Schweigen zu bringen. Valentin Groebner führt hingegen aus, dass solche Leibzeichen nicht von „schrecklicher Gewalt“ zeugen, sondern von „ihrer Bewältigung durch juristische Ordnung“ (Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter , München/ Wien 2003, S. 37). In diesem Fall stellt die höhere Gerechtigkeit Gottes, der die ‘Verbrecherin’ zur Märtyrerin werden lässt, die „juristische Ordnung“ dar. 6 Die Zerstückelung der Märtyrerin spiegelt sich häufig im Leiden ihrer Anbeter wider: Ein im Wald enthaupteter, die heilige Barbara liebender Räuber bleibt zum Beispiel solange lebendig - und sprachfähig -, bis drei Äbte ihn entdecken und vorübergehend wieder zusammenstellen, so dass er beichten, den Leib des Herrn empfangen und eines seligen Todes sterben kann, wonach er gleich wieder in Einzelkörperteile zerfällt ( Der Heiligen Leben [wie Anm. 4], Bl. CCLXVr; Der Heiligen Leben , Bd. 2 [wie Anm. 4], S. 280f.; siehe dazu den Beitrag von Simon Falch im vorliegenden Sammelband). Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 129 Mailand zerstückelt und tötet. Auch wenn letzterer durch Katharina anschließend wieder zum Leben erweckt und sein Körper geheilt wird, bleibt die Landschaft als dauerhaftes Andenken an die rächende Macht Gottes zerrissen und aufgewühlt zurück. 7 Dieser Beitrag untersucht das paradoxe Zusammenspiel verschiedener Ebenen der Verletzung und der Unversehrtheit in den Heiligenlegenden, und zwar am Beispiel der heiligen Barbara, denn die Anhäufung der verschiedenen durch sie erlittenen Arten der Folter lässt sie zu einer Art Übermärtyrerin werden, die stellvertretend für alle anderen das Verletztwerden als eine wenigstens für frühchristliche Märtyrer nötige Voraussetzung für die Ganzheit in Gott verkörpert. Ihr Sonderstatus spiegelt sich (wie bei Katharina) in einer Verletzung der unbelebten Umwelt, aber auch in der Zerstörung der ebenso unbelebten heidnischen Götter wider, die die seelische Defizienz der Nichtgläubigen versinnbildlichen. Eine kurze Zusammenfassung der Legende der heiligen Barbara sei vorausgeschickt: 8 Da Barbara, Tochter des mächtigen Fürsten Dioscurus, übermäßig schön ist, halten viele Männer um ihre Hand an, die sie jedoch zurückweist, ihren sie innig liebenden Vater bittend, sie nicht zur Heirat zu zwingen. Als dieser eine lange Reise an den kaiserlichen Hof unternehmen muss, sperrt er seine Tochter während seiner Abwesenheit in einen eigens dafür erbauten Turm ein, wo ihr das Herz beim Anblick heidnischer Götzenbilder erleuchtet wird und sie sich zum Christentum bekehrt. Dem Turm lässt sie als Symbol der Dreifaltigkeit ein drittes Fenster hinzufügen, sie zerstört die heidnischen Götzenbilder, und Johannes der Täufer wird vom Himmel entsandt, um sie zu taufen. Als ihr Vater davon erfährt, will er seine Tochter töten. Barbara flieht, wird aber von einem Hirten verraten, der prompt in eine Marmorsäule verwandelt wird, seine Schafe dagegen in Heuschrecken. Dioscurus findet seine Tochter, schlägt sie und bringt sie zum römischen Statthalter Marcianus, der erfolglos versucht, sie für den alten Glauben wiederzugewinnen. Sie wird anschließend so grausam gefoltert, dass ihr die Haut in Fetzen vom Leib hängt. In der Gefängniszelle erscheint ihr Christus, der ihre Wunden heilt, was dazu führt, dass der verärgerte Statthalter sie öffentlich mit Keulen schlagen und mit Fackeln foltern lässt, wonach ihr die Brüste abgeschnitten werden. Auf das Gebet Barbaras hin erscheint ein Engel, der sie in ein schneeweißes Gewand einhüllt. Sie wird anschließend nach Nikomedia gebracht, wo sie über bloße Schwerter geführt wird. Letztendlich enthauptet Dioscurus seine Tochter selbst; er wird kurz darauf vom Blitz getroffen und verbrennt. 9 7 Der Heiligen Leben (wie Anm. 4) Bl. CCLVr-v; Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 213f. (die Katharinenlegende befindet sich auf S. 203‒231). Der Nebel drückt die geistige Blindheit der Nichtgläubigen aus, die in anderen Wundergeschichten auch ganz konkret in körperlicher Blindheit verwirklicht wird, wie wenn der in einem Notgrab in der Egidienkirche Nürnberg liegende Sebaldus einen jungen Mönch wegen seines respektlosen Zupfens des Bartes des Heiligen so hart ohrfeigt, dass ihm ein Auge ausfliegt ( Der Heiligen Leben [wie Anm. 4], Bl. CXXVIIr; Der Heiligen Leben , Bd. 2 [wie Anm. 4], S. 438; die Sebalduslegende befindet sich auf S. 433‒442). 8 Der Heiligen Leben (wie Anm. 4), Bl. CCLXIIIr-CCLXVr; Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 274‒281. 9 Für eine bildliche Darstellung der Barbara-Legende siehe den Breslauer Barbara-Altar (ca. 1447 vom Meister des Barbara-Altars für die Barbarakirche in Breslau erschaffen; dazu: Adam S. Labuda, „Wort und Bild im späten Mittelalter am Beispiel des Breslauer Barbara-Altars [1447]“, in: Artibus et Historiae 5 [1984], S. 23-57). Siehe auch den ca. 1441 erschaffenen Barbara-Altar Meister Franckes (dazu: Meister Francke und die Kunst um 1400. Ausstellung zur Jahrhundertfeier der Hamburger Kunsthalle 30. August bis 19. Oktober 1969 , s.l., s. d., S. 45f., 50f., Tafeln 1‒8). Der Holzschnitt in Der Heiligen Leben stellt zwar einige Hauptstationen der Legende sowie Kelch, Hostie und Turm (die Embleme Barbaras) dar, nicht aber die gegen sie verübte Gewalt. 130 Anne Simon Das Martyrium Barbaras wird stufenweise dargestellt, wobei der Grad der Verletzung bei jeder neuen Folter ansteigt. Die Heilige leidet also inflationär, zum ersten Mal in der durch die Anwesenheit der Hirten markierten Wildnis und durch die Hand des eigenen erzürnten Vaters, denn er peitscht sie gar ser vnd greulichen aus, nam sie bey den zápffen vnd zoch sie von dem berg her ab vntz hin heym (Bl. CCLXIIIv). 10 Wunden öffnen die Hautoberfläche, enthüllen die darunterliegende Schicht. 11 Dieses erste, an die Geißelung Christi 12 erinnernde Auspeitschen Barbaras enthüllt also ihre Hinwendung zu Gott und ihre Bereitschaft, in seinem Namen zu leiden. Zu Hause wird Barbara dann mit eisernen Ketten in einer Zelle angebunden, wobei Eisen, als Symbol der Stärke, Haltbarkeit und Unbiegsamkeit entweder die väterliche Sturheit oder die töchterliche Unbeirrbarkeit darstellt, eine Eigenschaft, die sie insbesondere in dem Moment verkörpert, als sie vor den Richter kommt. Ihre Weigerung, den heidnischen Göttern zu opfern, kündigt die zweite Stufe ihres Martyriums an: 13 10 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 276. Laut Robert Bartlett wurden lange Haare im Mittelalter häufig mit hohem gesellschaftlichem Status, ethnischer Abstammung oder Alter gleichgesetzt oder aber als Zeichen dafür verwendet, dass eine Frau unverheiratet war (Robert Bartlett, „Symbolic Meanings of Hair in the Middle Ages“, in: Transactions of the Royal Historical Society 4 [1994], S. 43-60, hier S. 44, 46). Das brutale an-den-Zöpfen-Ziehen heißt also, dass der christliche Glaube Barbaras von Anfang an mit einem Statusverlust in der heidnischen Gesellschaft gleichgesetzt wird. Die Zöpfe mögen aber mehrdeutig sein: Laut Halls Dictionary of Subjects and Symbols in Art ist „the hair of the courtesan or of personifications of profane love […] usually braided“ ( James Hall, Dictionary of Subjects and Symbols in Art , London 1974; Neudruck London 2000, S. 144). Die Zöpfe könnten also auch auf die - aus heidnischer Sicht - profane Liebe Barbaras zum christlichen Gott anspielen. 11 Wie Anne Kirkham und Cordelia Warr feststellen, enthüllen „wounds […] that which should be hidden from the eye [d. h. „the body’s interior“]. Thus, the wound can be subversive, something which has the potential to overthrow the natural order“ (Anne Kirkham und Cordelia Warr, „Introduction: Wounds in the Middle Ages“, in: Wounds in the Middle Ages , hg. von dens., Farnham/ Burlington 2014, S. 1‒14, hier S. 1). Hier nimmt das Subversive die Form des christlichen Glaubens an, der die ‘natürliche Ordnung’ der heidnischen Welt überwirft. In seinem Aufsatz über die frühneuzeitliche Körpererfahrung schreibt Michael Stolberg: „Umgrenzt wurde der Körper von der Haut. Über sie stand er unablässig mit seiner Umwelt in Berührung. Diese Haut, so ist zu konstatieren, wurde zunächst nicht so sehr als die Oberfläche und Grenze eines kompakten Körpers beschrieben denn als eine eigenständige, potentiell ablösbare Umhüllung oder Einkleidung, die den Körper mit seinen festen und beweglichen Teilen mehr oder weniger lose zusammenhielt. Der vertraute Anblick gehäuteter Tiere bei der Schlachtung mag zu dieser Sicht beigetragen haben, vielleicht auch kirchliche Märtyrerdarstellungen, in denen Heiligen die Haut bei lebendigem Leibe in großen Stücken abgezogen wurde. Auffällig ist jedenfalls die verbreitete Rede von einem Raum ‘zwischen Fell vnnd Fleisch’, ‘zwischen Haut und Fleisch’ […]. In ihm sammelten sich schädliche Krankheitsstoffe oder Scharfen an, […] um von dort aus womöglich über die Hautgrenze nach außen zu gelangen - oder mit verhängnisvollen Folgen ins Körperinnere zurückzuschlagen. […] Die Haut war dem Körper nicht nur weniger fest verbunden, als wir das heute erleben, sie war auch weitaus durchlässiger, und zwar in beide Richtungen. Über dieses ‘größte Reinigungsmittel unseres Körpers’ schied der Mensch in Form von Schweiß und Ausdünstungen ständig große Mengen schädlicher Stoffe aus“ (Michael Stolberg, „Der gesunde Leib. Zur Geschichtlichkeit frühneuzeitlicher Körpererfahrung“, in: ‘Erfahrung’ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte , hg. von Paul Münch, München 2001 [Historische Zeitschrift. Beihefte, N.S. 31], S. 37-57, hier S. 49f.). Das Durchstechen und die anschließende Entfernung der Haut dienen also der Entlassung schädlicher Giftstoffe - hier: des heidnischen Glaubens - und reinigen Körper und Seele. Die Verwundung der angehenden Heiligen wird somit als quasi-medizinischer Vorgang aufgefasst, Folter als gesundheitsfördernd. 12 Mt 27,26, Mc 14,65, Lc 22,63-65, Joh 19,1. 13 George Heyman zufolge passt diese Weigerung in die Tradition der imitatio Christi : „By refusing to sacrifice, the martyr him/ herself became the sacrifice that repeated the original sacrifice of Jesus“ (George Heyman, The Power of Sacrifice. Roman and Christian Discourses in Conflict , Washington 2007, S. 164; Her- Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 131 Er hieß sie abziehen nacket vnd hieß ir ir fleysch abzerren. vnd ir wunden mit herin hemden reyben. vnd marterten sie vnd zerzerten ir allen iren leyb dz er plutfar ward als ob man sie in bluot geduncket het. vnd als manchen schlag sy empfieng als offt lobet sy got vnnd dancket im seiner genaden (Bl. CCLXIIIv). 14 Dargestellt ist hier die zweite, als öffentliche Beschämung und Bestrafung gedachte Zerstörung und Schindung ihres Körpers. Barbara wird zum Schlachttier reduziert, dessen Fleisch und Blut den heidnischen Göttern geopfert werden. Elizabeth Castelli zufolge war im römischen Reich „religious observance […] inextricably interwoven with political security and civic loyalty“, und „Christian affiliation offered a serious challenge to the religious traditions that assured order, stability, and peace“: 15 Sacrifice to the traditional gods signaled one’s commitment to the shared enterprise of collective life and one’s participation in and submission to the complex bonds of allegiance and protection that linked the social and political world to the realm of the divine. Sacrifice was a force that kept power in circulation in Roman society […]. Im Turm hat Barbara zwar bereits heidnische Götterbilder zerstört, vor dem Richter verkündigt sie jedoch im öffentlichen Raum die endgültige Ablehnung dieser Götter. Als Herausforderung an die Ordnung und Frieden stiftenden religiösen Traditionen gefährdet sie die Macht des heidnischen Staates und muss daher selbst als Sühneopfer dienen. Ihre Nacktheit erinnert an Adam und Eva, deren Ungehorsam Christus durch seine Wunden büßte, und an den gekreuzigten Christus, dieses „model of virtuous humility“. 16 Die Nacktheit beraubt Barbara eines jeglichen äußerlichen Zeichens ihres gesellschaftlichen Standes und verwandelt sie in das gesellschaftlich Außenstehende, denn „dressing and undressing […] figure prominently in rituals that govern changes of status in societies […]. Such rituals typically have a transitional liminal phase, a moment of nonstatus that has the potential to be socially disruptive“. 17 Die zum Reiben der Wunden benutzten härenen Gewänder erinnern an das als Teil der Bußpraxis getragene Büßerhemd, denn durch das Abzerren ihres Fleisches wird ihr Leib plutfar […] als vorhebung im Original). Hier findet man also ein weiteres Paradoxon, das allerdings ein Negativum - den heidnischen Göttern ein Opfer zu bringen - in ein Positivum verwandelt - die bewusste Entscheidung, sich selbst dem christlichen Gott als Opfer zu bringen und dabei die Schmerzen Christi exemplarisch nachzuerleben. 14 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 276. 15 Elizabeth A. Castelli, Martyrdom and Memory. Early Christian Culture Making , New York 2004, S. 38; das nachfolgende Zitat ebd., S. 50. Auch wenn sich Castellis Bemerkungen auf das spätrömische Reich beziehen, gilt das Prinzip der engen Verbindung zwischen dem Glauben, der politischen Stabilität und der Loyalität dem Staat gegenüber auch für das christliche Mittelalter. In der Barbaralegende fungiert das Römische Reich also zum Teil auch als Symbol jeder Gesellschaft, die sich in einer Phase der politischreligiösen Unruhe und des Übergangs befindet. 16 Sherry C. M. Lindquist, „The Meanings of Nudity in Medieval Art: an Introduction“, in: The Meanings of Nudity in Medieval Art , hg. von ders., Farnham 2012, S. 1-46, hier S. 9. 17 Ebd., S. 2. Ähnlich John R. Decker, der schreibt, dass „[m]iscreants […] the disfigurement of the disorder they had caused“ am Körper zeigten ( John R. Decker, „Introduction: Spectacular Unmaking: Creative Destruction, Destructive Creativity“, in: Death, Torture and the Broken Body in European Art 1300-1650 , hg. von dems. und Mitzi Kirkland-Ives, Farnham 2015, S. 1-16, hier S. 2). Nacktheit und Verletztheit signalisieren also die Zerstörung gesellschaftlicher Normen und Ordnung nach außen hin, lassen sie öffentlich sichtbar - und unübersehbar - werden. 132 Anne Simon ob man sie in bluot geduncket het (Bl. CCLXIIIv). 18 Durch die Folter erlebt Barbara also eine zweite, öffentliche, blutige Taufe, 19 die ihren in der heidnischen Welt verlorenen Status in der christlichen Welt paradoxerweise erhöht. 20 Die brutale Verletzung erlaubt es Barbara erstens, zusammen mit ihrer Haut die letzten Reste ihrer heidnischen Identität abzulegen, zweitens, Geduld und Akzeptanz in vorbildlicher Weise vorzuführen. Das Durchstechen, Schinden, Zerstückeln und Verbrennen der Heiligen erlaubt es ihnen, ihre alles überwindende Liebe zu Gott theatralisch zur Schau zu stellen, so dass beispielhaftes Dulden und Leiden wie auf einer Schaubühne aufgeführt werden, und zwar mit Kulisse, Kostümen, Dialog, Toneffekten, Beleuchtung, Farbeffekten und Requisiten. 21 Dieses betont Theatralische soll dem Leser womöglich dabei helfen, sich die Folter Barbaras so lebhaft vor Augen zu führen, dass er ihre Schmerzen am eigenen Leib spürt und selbst eine imitatio Christi vollzieht, soll also eine ähnliche Wirkung wie die ‘Performance Art’ erzeugen: 22 [T]here are mirror neurons in our brains that make empathy possible. […] When these cells are influenced by something we see - for example, a performance in which someone hurts himself - they make it possible for us to feel as if we were hurt ourselves. The brain is able to mirror another person, setting up a kind of energy-dialogue with the audience. Sometimes the performer’s experiential ‘flow’ […] is transmitted to the audience. Some doubt the cathartic effects of such performances, but it seems 18 Diese Betonung des Blutes mag die dominikanische Einstellung zur Selbstgeißelung widerspiegeln: „[B]lood was alive; in shedding his blood a person shed himself “ (Caroline Walker Bynum, Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond , Philadelphia 2007, S. 129). 19 In der frühchristlichen Kirche wurde das Martyrium zum Sakrament, zur zweiten Taufe, die noch bedeutsamer war als die erste. Siehe dazu Tripp York, „Early Church Martyrdom: Witnessing For or Against the Empire? “, in: Witness of the Body. The Past, Present and Future of Christian Martyrdom , hg. von Michael L. Budde und Karen Scott, Grand Rapids/ Cambridge 2011, S. 20-42, hier S. 29. Heyman stellt außerdem fest, dass Martyrium und Taufe nahezu gleichgesetzt wurden: „Origen placed martyrdom second only to baptism as the means for achieving forgiveness for one’s sins. […] Not only did martyrs imitate the sacrificial death of Jesus, they also shared in the same redemptive activity of Jesus“ (Heyman [wie Anm. 13], S. 206f.). 20 Im Römischen Reich gehörte die Geißelung zu den Strafen, die den humiliores , der unteren Schicht, auferlegt wurden (Castelli [wie Anm. 15], S. 39). Geißelung, härenes Büßerhemd, Einkerkerung usw. gehörten aber auch zu den Strafen, die mutmaßlichen Ketzern auferlegt wurden und im Idealfall ihrer Buße und Wiedereingliederung in die wahre christliche Kirche dienen sollten. In christlichen Augen sind die Römer Ketzer, in römischen Augen ist die heilige Barbara dies, und deren Folter dient paradoxerweise dazu, sie als unbeirrbares Exemplar des ‘richtigen’ (d. h. nicht-ketzerischen) Glaubens herauszustellen. Für die Handlungsweise der Inquisition siehe Christine Caldwell Ames, „Does Inquisition Belong to Religious History? “, in: American Historical Review 110 (2005), S. 11-37. 21 Castelli zufolge spricht Augustinus in einer Predigt (51,2) von solchen „heroic stories of the Christian past embedded in accounts of the deaths of the martyrs“. Augustinus behaupte, „a splendid spectacle offered to the eyes of the mind is a spirit whole and unbroken while the body is torn to pieces“ (Castelli [wie Anm. 15], S. 105). Man vergleiche dazu auch die Meinung von Sarah Covington: „[E]ven executioners inhabited roles that were at once colorful, demonic, lowly, highly symbolized, and above all stage-managed in a larger drama whose themes hinged on nothing less than sin and salvation“ (Sarah Covington, „Cutting, Branding, Whipping, Burning: The Performance of Judicial Wounding in Early Modern England“, in: Staging Pain 1580-1800 , hg. von James Robert Allard und Mathew R. Martin, Farnham 2009, S. 93-110, hier S. 93). 22 Helge Meyer, „Empfindnis and Self-Inflicted Pain in Performance Art“, in: Representations of Pain in Art and Visual Culture , hg. von Maria Di Bella und James Elkins, New York/ London 2013, S. 39-51, hier S. 43. Die schmerzverursachenden Verletzungen mögen bei Barbara zwar nicht im buchstäblichen Sinn selbst zugefügt sein, jedoch sind sie dies durchaus in einem weiteren Sinn, denn sie beharrt darauf, den heidnischen Göttern nicht zu opfern. Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 133 that sometimes the thrill this kind of performance [d. h. der selbstzugefügte Schmerz] conveys can be nearly unbearable. Barbaras gegeißelter, blutender Leib invoziert außerdem Christus als Schmerzensmann und dessen sich in den Wein des Abendmahls verwandelndes Blut, so dass dem Leser eine Art geistiges, die rettende ‘Verletzung’ Christi feierndes Abendmahl vermittelt wird. Hier und im weiteren Verlauf der Legende wird dieses heilige Schauspiel zunehmend dramatischer, nicht zuletzt weil Christus selbst auftritt. Dass man Barbara, als dritte Stufe der Folter, einkerkert und hungern lässt, entspricht dem üblichen, von Christus vorgezeichneten Muster, denn auch Christus lag während der Errichtung seines Kreuzes im Gefängnis. 23 Das Fasten, eine weitere Bußpraxis, schwächt zwar den Körper, reinigt ihn aber auch. In ihrem trostlosen Zustand erlebt Barbara die - ebenfalls topische - durch ein hymlisch liecht vorangekündigte Christuserscheinung: Darnach gab ir vnser herr ein kron von den bluomen des paradeyß. vnd sprach zu ir. dy kron wird dir nymmer dürr ewigklichen. Da vnser herr das gesprach. Da waren alle ir wunden geheylt das man weder wunden noch masen sah (Bl. CCLXIIIv). 24 Der ewige Blumenkranz, ihre Märtyrerkrone, versinnbildlicht sowohl die Jungfräulichkeit Barbaras, also ihren innerlich intakten, Gott gewidmeten Körper, als auch minnesangartig die ewige Liebe des Schenkenden. Die Paradiesblumen - wohl Rosen und Lilien - erinnern darüber hinaus an Maria. Dieser Vergleich ermöglicht die Deutung ihres Blutes als menses , die statt der Sterblichkeit eher die Fruchtbarkeit ihrer Verletzungen symbolisieren, das Gebären weiterer, durch ihr Beispiel zur Taufe bewegter Gläubiger. Die Wiederherstellung des unversehrten Körpers gleicht der unverdorrten Schönheit der Paradiesblumen und nimmt die körperliche und seelische Vollkommenheit Barbaras als Auserwählter Gottes vorweg - man denke auch daran, dass Barbara häufig mit Maria und der heiligen Katharina zusammen in hortus conclusus -Szenen dargestellt wird. 25 Zweitens zeigt sie die wunderwirkende Allmacht Gottes. Drittens wendet sie Barbaras Standhaftigkeit nach außen, wo sie eine neue Haut bildet, eine erneut leere Oberfläche, die mit weiterer, den heilenden Glauben betonender Folter beschriftet werden kann. Die Heilung durch Sprache, also durch Text, weist auch auf eine Funktion des Werkes hin, die durch eine sich bietende Gleichsetzung von Papier oder Pergament und Haut unterstrichen wird: Auch Der Heiligen Leben bildet eine Fläche, die das exemplarische Verhalten und die Wirksamkeit der Heiligen hervorhebt. Die vierte Stufe des Martyriums bildet die vom erzürnten Richter angeordnete Folter mit Fackeln: Da ward der richter zornig vnd wütig als ein Leo vnd gebot das man ir ir seytten zerzerren solt mit brinnenden fackeln. Vnd hieß ir ir haubt schlahen mit einem eyßnen hamer. Dz ir dz blut zu mund vnd zu nasen außgieng (Bl. CCLXIIIIr). 26 Der Zorn bringt das tierische 23 In der Bibel wird seine Einkerkerung nicht erwähnt, sie wurde aber im Spätmittelalter zum Gegenstand der Anbetung, und Pilger besuchten beim Rundgang durch die Heilig-Grab-Kirche in Jerusalem das Gefängnis Christi (Anthony Bale, „God’s Cell: Christ as Prisoner and Pilgrimage to the Prison of Christ“, in: Speculum 91 [2016], S. 1‒35). 24 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 276f. 25 Siehe zum Beispiel Maria im Rosenhaag mit Heiligen und Stiftern (Köln, ca. 1430): http: / / www.malereimeisterwerke.de/ bilder/ koelner-maler-um-1430-maria-im-rosenhaag-mit-heiligen-und-stiftern-05171. html (letzter Zugriff: 21.4.2018), oder den Master of the St. Lucy Legend, Virgin amongst Virgins in a Rose Garden (ca. 1480) (Craig Harbison, The Art of the Northern Renaissance , London 1995, S. 14). 26 Man vergleiche Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 277. 134 Anne Simon Naturell des Richters zum Vorschein. Der Löwe ist Symbol des Teufels, 27 der superbia , der ira und der gelben Galle (oder Chole), einer der vier galenischen Körpersäfte und seinerseits mit dem Feuer verbunden. 28 Der richterliche Zorn schreibt sich hier in brennenden Buchstaben auf den heiligen Körper, der Laurentius vergleichbar auf dem glühenden Rost gefoltert wird. Der Löwe versinnbildlicht allerdings auch den Mut, die Stärke, die Standhaftigkeit und Christus selbst (Offb 5,5), 29 so dass die Wut, die Barbara verletzt, gleichzeitig ihre durch die Liebe zu Gott entzündete Tugend sichtbar aktiviert. Dass ihr die Seiten mit brinnenden fackeln versehrt werden, deutet auf die Seitenwunde Christi. 30 Der Vergleich wird durch den eisernen Hammer, Instrument der passio Christi , noch verstärkt. 31 Der geistigen Unbiegsamkeit des Richters kommt die christliche Standhaftigkeit Barbaras gleich, das Blutergießen aus Mund und Nase unterstreicht ‒ und stellt auch öffentlich zur Schau ‒ sowohl das weitere Abwerfen ihrer alten heidnischen Identität als auch die Echtheit ihrer Liebe zu Gott, denn wie Valentin Groebner schreibt: „In der populären Wahrnehmung des 15. und frühen 16. Jahrhunderts war es das Blut, das im religiösen wie im juristischen Kontext als Zeichen der Echtheit diente, als sichtbarer, materieller Beweis der Authentizität“. 32 Der Körper Barbaras wird allmählich alles Menschlichen beraubt, denn als fünfte Stufe ihres Martyriums gebot der böß richter dz man ir ir brüst mit einem schwert ab solt schneyden (Bl. CCLXIIIIr). 33 Diese an die heilige Agatha erinnernde Folter steigert das Versehrtwerden exponentiell, denn Barbara wird systematisch von oben nach unten verstümmelt, allerdings dadurch ihrem Mut gemäß körperlich ‘vermännlicht’, weil ihre weiblichen Geschlechtsmerkmale entfernt werden. Wie Gail Streete schreibt: „Through death by martyrdom and by means of its companion and successor, ascetic restraint, women could not merely deny but also ‘overcome’ the obstacle of femaleness, effectively erasing their bodies and their gender“. 34 Anschließend - die sechste Stufe - hieß sie der richter nackent abzyhen. vnd hieß sie also bloß durch die stat ziehen. vnd gebot das man ir ir frisch wunden mit geyßeln durchschlüg 27 Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teuffel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, welchen er verschlingen kann (1 Petr 5,8; zitiert nach der Einheitsübersetzung http: / / www.bibelwerk.de/ Bibel.12790.html/ Einheits%C3%BCbersetzung+online.12798.html [letzter Zugriff 21.4.2018]). 28 Gelbe Galle, die aus der Leber stamme, wird dem Choleriker sowie dem Feuer, dem Sommer, der Jugend, dem Mittag, den Sternzeichen Löwe, Widder und Schütze sowie dem Planeten Mars zugeordnet. Das mit dem Zorn verbundene Verhalten (Aggression, gehobene Stimme, wilde Gesten usw.) soll u. a. dazu dienen, dem bedrohlichen Verhalten seitens Anderer ein Ende zu setzen (siehe dazu Margaret Gullan Whur, The Four Elements. The traditional idea of the humours and why they are still relevant , London u. a. 1987, v. a. S. 9‒26 und 91‒94; Stolberg [wie Anm. 11], S. 41). 29 Peter und Linda Murray, The Oxford Companion to Christian Art and Architecture , Oxford 1996, S. 276f. 30 Durch diese Verbindung mit Christi Körper erinnert dies vielleicht auch an das Verbrennen der Hostie, ein den Juden im Mittelalter oft vorgeworfenes Vergehen. So wurden die Juden im mittelalterlichen Mysterienspiel beim Foltern der Hostie durch Feuer dargestellt (Covington [wie Anm. 21], S. 102). Dieser Vergleich steigert die Ähnlichkeit zwischen Christus und der aus Liebe zu ihm sterbenden Barbara. 31 The Continuum Encyclopedia of Symbols , hg. von Udo Becker, New York/ London 2000, S. 158. 32 Groebner (wie Anm. 5), S. 117. 33 Man vergleiche Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 277. 34 Gail P. C. Streete, Redeemed Bodies. Women Martyrs in Early Christianity , Louisville 2009, S. 23. Esther Cohen behauptet außerdem: „The ability to tolerate pain with equanimity was often seen as virtus in the original sense of the word: a quality pertaining to men“ (Esther Cohen, „The Expression of Pain in the Later Middle Ages: Deliverance, Acceptance and Infamy“, in: Bodily Extremities. Preoccupations with the Human Body in Early Modern European Culture , hg. von Florike Egmond und Robert Zwijnenberg, Farnham 2003, S. 195‒219, hier S. 209). Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 135 (Bl. CCLXIIIIr). 35 Diese weitere Bestrafung markiert nur die Impotenz des Richters, denn jede grausame Tat seinerseits öffnet einen Dialog zwischen Barbara und Gott, in dem Barbara ihre geduldige, Gott lobende Akzeptanz ausdrückt und Gott durch Handlungen antwortet, die seine überlegene Macht inszenieren: 36 Dz leyd sie gedultigklichen durch got. vnd sah auff gen hymel vnd sprach. Mein got vnd mein helffer. ich bit dich dz du meinen leyb deckest das in die bößen mann nit sehen. vnd da sie das gesprach. da sandt ir got einen engel von hymel herab der legt ir ein weyß gewand an (Bl. CCLXIIIIr). Das weiße Gewand (das auch von Büßenden getragen wurde) ersetzt Barbaras alte, zerschundene, weltlich-schöne Haut, macht ihre innere, durch das Martyrium erlangte Vollkommenheit allen sichtbar, schafft also eine klare seelisch-soziale Distanz zwischen ihr und den Zuschauern und kündigt ihre neue Identität an. 37 Barbara mag zwar auf eine körperlich versehrte, den heidnischen Göttern ähnelnde Unförmigkeit reduziert worden sein, gewinnt aber dadurch den Sieg über eben diese Götter. Der verletzte Körper wird damit einer Siegesfahne vergleichbar. Als krönende Folter - und siebte Stufe - wird Barbara in das eygen das da heyst Dolifium. an die stat der sunnen geführt, 38 wo ein Richter befiehlt, das man sie vber blosse schwert furt das leyd sie aber gedultigklich vnd sah auff gen hymel (Bl. CCLXIIIIr). 39 Die an sich statusgemäßen Schwerter, Sinnbild der Macht und der Gerechtigkeit, schinden die Heilige paradoxerweise weiter. Wie Sarah Covington feststellt: 40 But the behavior of criminals or martyrs, and its subversive potential, was also profoundly embodied, whether through verbal acts or in judicially injured flesh presented in a state of pained violation […]. […] [T]he body as well as the soul of the criminal assumed equal importance, with the body’s every wound […] serving to mark the law’s presence and the idea that justice had been fulfilled by being indelibly written on the flesh. Die Verletzung Barbaras, die ihr die Schuld auf den Leib schreiben 41 und das Recht und die Ordnung des Staates wieder sichern soll, unterminiert letztere nur, denn diese Betonung des menschlichen Körpers erklärt das trostspendende, ihre Beliebtheit fördernde Hauptcharakteristikum Barbaras: 42 die lieb iunckfraw [het] vnsers herren leychnam sunderlichen lieb gehabt und betet wer mich lieb hat vnd anruffet vnd mein marter eret das der on deinen heyligen leychnam nit verscheyd. vnd gib in ires lebens ein gut end. vnd das ewig leben. wann du weyst wol das wir kranck sein. vnd eynen blöden leyb haben (Bl. CCLXIIIIr). 35 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 277. 36 Ebd. 37 Siehe Covington (wie Anm. 21), S. 97. Robert Mills stellt fest: „[T]he early Church father and iconoclast Tertullian famously declared: ‘very public exposure of an honourable virgin is [to her] a suffering of rape’“ (Robert Mills, Suspended Animation. Pain, Pleasure & Punishment in Medieval Culture , London 2005, S. 115). 38 Die heilige Barbara soll im 3. Jahrhundert entweder in Nikomedia (Izmit in der heutigen Türkei) oder Heliopolis (Baalbeck im heutigen Libanon) gelebt und gewirkt haben. In Heliopolis war der größte der drei Tempel (gebaut um 60 n. Chr.) dem Jupiter Baal gewidmet, der der Sonne gleichgesetzt wurde. 39 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 277. 40 Covington (wie Anm. 21), S. 93f. 41 Man vergleiche ebd., S. 100. 42 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 278. 136 Anne Simon Ihr schwacher, kranker, verstümmelter Körper wird also zum Mittel der Rettung anderer durch den Empfang der Hostie, selbst Sinnbild des gepeitschten, gequälten, gebrochenen Leibes Christi. Das heißt, die Verletzung und die Versehrung der Heiligen dienen als unentbehrliche Speise und Heilmittel für die kranke Seele, die metaphorisch ernährt, durch Blut reingewaschen und durch Feuer geläutert werden muss, auch indem der Gläubige das Martyrium imaginativ am eigenen Körper nachvollzieht und die Macht Gottes erlebt, ihn jeden Schmerz erdulden und überwinden zu lassen. 43 Die Verletzung als Zeichen der rettenden Liebe Gottes spiegelt sich auch in der ‘Verletzung’ der Landschaft, konkreter Gegenstände und sogar der Naturgesetze wider. Erstes Beispiel der Zerbrechlichkeit des heidnischen Glaubens liefert der zum Wahrzeichen Barbaras gewordene Turm. Indem Barbara als Symbol der heiligen Dreifaltigkeit ein drittes Fenster in die Außenhaut des phallusartigen Turmes brechen lässt, zerstört sie symbolisch die Macht ihres irdischen Vaters und kündigt die Überlegenheit des himmlischen Vaters an. Nach ihrer Taufe beschriftet sie den turn inwendig an den wenden mit dem zeychen des heyligen creutzes mit vier zeychen dy trucket sie mit iren vingern inn die herten steyn (Bl. CCLXIIIv). 44 Sie lässt ihre im Herzen bewirkte Bekehrung nach außen sichtbar werden, indem sie die Haut des Steines durch das Eindrücken des Kreuzes ‘verwundet’ und ihren neuen Glauben in die Wand einschreibt. 45 Als ihr Vater sie töten will, biegt sich der Turm zur Erde nieder, damit sie entkommen kann. Diese Verletzung der Gesetze der Physik kann gleichzeitig als Niederlage der heidnischen Welt ausgelegt werden, die sich daraufhin im Aufreißen der Erde ausdrückt, denn ein Felsen spaltet sich, damit sich Barbara vor ihrem Vater verstecken kann. 46 Immer gottergeben hilfsbereit schleudert sie der Felsen anschließend auf einen weiteren Berg. Barbaras Fliegen mag als Metapher des sich anbahnenden Sieges über ihre Feinde und des späteren Eingangs in den Himmel dienen, signalisiert aber auch, dass der Glaube an Gott eine neue Welt schafft, in der ganz andere Gesetze herrschen. Diese neue Realität kommt gleich zum Vorschein, wenn der verräterische Schafhirt in eine Marmorsäule und seine Schafe in Heuschrecken verwandelt werden. Marmorsäule und Heuschrecken erinnern an die Frau Lots (1. Mose 19,26) und an die achte der zehn biblischen Plagen (2. Mose 10,12), d. h. an die Folgen des Gotteszornes für den Nichtgläubigen, dessen Herz härter als die Steinfelsen ist und dessen Taten Plagen sind, die wie Heuschrecken das Land verheeren. Die progressive Zerstörung des heiligen Körpers eröffnet aber auch eine dritte Diskursebene, nämlich die der Machtlosigkeit. Sinnbild dafür sind die heidnischen Götzenbilder, deren 43 Die leibliche Verstümmelung erinnert auch an die im Mittelalter so sehr gefürchtete, als Zeichen besonderer Bosheit gedeutete Leprakrankheit (man denke an Hartmanns von Aue Der arme Heinrich , aber auch an die Heilung eines Aussätzigen durch Christus, Mt 8: 1-4; Mc 1: 40-45; Lc 5: 12-14). Der reduzierte Körper Barbaras versinnbildlicht also, dass auch die schlimmsten Sünden durch die Liebe Gottes reingewaschen werden können. Diese Verstümmelung erinnert aber auch an die fast routinemäßige Gewalt, der man seitens der Justizbehörden in mittelalterlichen Städten begegnete (Groebner [wie Anm. 5], S. 36‒38, 72-78, 83f.). 44 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 275. In der modernen Ausgabe lässt Barbara das dritte Fenster in die Mauer eines Tempels (und nicht eines Turms) brechen. 45 Wie Barbaras Haut wird auch der Turm zu Papier oder Pergament, auf das die wunderwirkende Liebe Gottes geschrieben werden kann, und spiegelt damit auch die Funktion des Textes wider. 46 Im Augenblick des Todes Christi bebte die Erde und spalteten sich die Felsen (Mt 27,51). Der sich spaltende Felsen der Barbaralegende mag als ferner Anklang daran gedacht werden, der erneut Parallelen zwischen der Heiligen und Christus setzt. Gegeißelt, enthauptet und glorifiziert 137 Zerstückelung die heilende Verstümmelung Barbaras umgekehrt widerspiegelt. 47 Nach ihrer Taufe bricht Barbara das gold vnd silber von den bilden der abgötter , entfernt also metaphorisch deren Haut, um die darunter liegende Nichtigkeit zu enthüllen. Wie der heilige Laurentius verteilt sie den Schatz unter die Armen und zerschmettert die Götzenbilder zum zweiten Mal. Im Gegensatz zum christlichen Gott vermögen es die heidnischen Götter nicht, ihre Abbilder in alter Ganzheit wieder herzustellen, was ihre eigentliche Ohnmacht verdeutlicht. Denn als der heidnische Richter versucht, Barbara für die alten Götter wiederzugewinnen, sagt sie: 48 Sy haben münd vnd mugent nit gereden. sie haben augen vnd gesehen nit damit. sie haben oren vnd gehören nit. vnd haben nasen vnd schmecken nit. vnd haben hend vnd greyffen nit. sie haben fuß vnd mugen nit geen vnd keyn lebentiger atem ist nit in irem mund vnd die sie gemacht haben die werden in geleych. vnd alle dy sy anbeten (Bl. CCLXIIIv). Hier hallen die Worte Jeremias wider: Hör das, du törichtes Volk ohne Verstand: Augen haben sie und sehen nicht; Ohren haben sie und hören nicht ( Jer 5,21). 49 Dieses Versagen der Sinne und Gliedmaßen kommt einer körperlichen Behinderung gleich, deutet daher metaphorisch die spirituelle Leere einer kranken Religion an. 50 Diese Auslegung wird bestätigt, wenn Barbara nach der Heilung ihrer Wunden den Richter mit den Abgöttern vergleicht: Dein götter sind dir selber geleych. wann sie sind taub vnd blind. vnd kunnen nit gereden. wy mochten oder kunden sie mir dann mein wunden geheylet haben (Bl. CCLXIIIIr). 51 Der Richter ist blind, dauon dz dein hertz erhert ist (Bl. CCLXIIIIr), 52 bietet also das Gegenbild zu den paradox barmherzigen Steinfelsen. 53 47 Edward Wheatley behauptet Folgendes: „[M]edieval Christianity often constructed disability as a spiritually pathological site of absence of the divine where ‘the works of God [could] be made manifest’. […] [M]edieval Christianity held out the possibility of cure through freedom from sin and increased personal faith“ (Edward Wheatley, Stumbling Blocks Before the Blind. Medieval Constructions of a Disability , Ann Arbor 2010, S. 11). Den heidnischen Göttern fehlt also jeglicher Hauch des wahren Göttlichen. Wheatley zitiert das Johannesevangelium ( Joh 9,3). 48 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 276. 49 Zitiert nach der Einheitsübersetzung: http: / / www.bibelwerk.de/ Bibel.12790.html/ Einheits%C3%BCber setzung+online.12798.html (letzter Zugriff 21.4.2018). Man vergleiche auch Mt 13,13, Mt 13,14, Mc 4,12, Mc 8,18, Joh 12,40, Jes 6,10. 50 Sonja Kerth stellt Folgendes fest: „Ein kranker, versehrter Körper wird oft nur dann als ‘behindert’ angesehen, wenn er aufgrund seiner Krankheit und Beeinträchtigung die an ihn gestellten Leistungserwartungen dauerhaft nicht erfüllen (und diese Einschränkungen auch nicht anderweitig auffangen) kann“ (Sonja Kerth, „ sîme volke er jâmers gap genuoc . Der im Kampf versehrte Herrscher in Wolframs von Eschenbach ‘Parzival’“, in: Phänomene der ‘Behinderung’ im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne , hg. von Cordula Nolte, Affalterbach 2013 [Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8], S. 189-211, hier S. 191). Da die heidnischen Götter Barbaras an sie gestellte Erwartungen nicht mehr erfüllen, sind sie nicht nur selbst metaphorisch ‘behindert’ (im Sinne von ‘machtlos’), sondern bewirken auch ein seelisches ‘Behindertsein’ ihrer Anbeter. 51 Der Heiligen Leben , Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 277. 52 Ebd. 53 Indem Barbara den heidnischen Statthalter so angreift und der spirituellen Nichtigkeit beschuldigt, fügt sie ihm (und seiner politischen Autorität) öffentlich Gewalt zu. Diese mag zwar körperlich nicht dramatisch verletzend sein, ist aber dafür seelisch und politisch umso verheerender. Steven H. Rutledge macht nämlich deutlich, wie gewaltsam allein die akkusatorische Rhetorik sein konnte (Steven H. Rutledge, „Delatores and the Tradition of Violence in Roman Oratory“, in: American Journal of Philology 120 [1999], S. 555-573). 138 Anne Simon In der ganzen Legende spielen somit zwei Schichten der Metaphorik mit- und gegeneinander: Verletzung und Heilung, Versehrtheit und Unversehrtheit, Machtlosigkeit und Macht. Barbaras doppelte Identität - zuerst als Heidin, dann als Christin - wird enthüllt und begründet, vom geographischen und gesetzlichen Rand der heidnischen Welt ins religiös-rechtliche Zentrum versetzt, wo ihre durch die Folter erlangte ‘Rehabilitierung’ als christliches Vorbild die weitere Erzählung bestimmt. Wenn laut Robert Mills „individual threatened bodies become metaphoric stand-ins for a communal body politic that perceives itself to be in danger“, 54 verkörpert der zerstückelte Leib Barbaras die Drohungen und Gefahren, denen das frühe Christentum standhalten musste. Der Sieg der frühen Kirche hing nicht zuletzt damit zusammen, dass „saints claimed their mutilations - and weapons that mutilated them - as central to their identity“. 55 Der zerstückelte Körper konnte als „source […] of holiness“ 56 reklamiert und in Reliquien verwandelt werden, die, in Kirchen zur Schau gestellt, den Trost und Hoffnung spendenden Beweis des Lebens und Martyriums eines Heiligen lieferten. Heiligenlegenden bilden geschriebene Reliquienschreine, indem sie die Macht der Heiligen und des christlichen Gottes offenbaren und diese anhand der Abbildungen in Handschriften und Frühdrucken sichtbar werden lassen. Bei frühchristlichen Märtyrern wie der heiligen Barbara sind Verletzung und Versehrung also unentbehrlich für das Heil, denn durch sie wird einen „alternative mode of being“ erreicht, nämlich die vertrauensvolle Hingabe an Gott, die zur neuen kulturellen Norm werden soll, denn: 57 [m]artyrs […] suffer and usually die as outsiders to dominant cultural or political hierarchies that cannot tolerate them, but also serve as upholders of new, different, or resistant cultural norms, which in turn enshrine them as cultural ideals. Während die zerstückelten, zu Staub zerfallenen heidnischen Götzenbilder den Zusammenbruch des heidnischen Reiches, dessen Identitätsverlust und gesellschaftlich-religiöses Chaos versinnbildlichen, stiftet der chaotische, da zerstückelte christliche Körper paradoxerweise die neue Identität, Bedeutung und Ordnung einer durch Verletzung erlangten Unversehrtheit in Gott. 58 54 Mills (wie Anm. 37), S. 117. 55 Castelli (wie Anm. 15), S. 34. 56 Covington (wie Anm. 21), S. 106. 57 Streete (wie Anm. 34), S. 13. Castelli macht auch darauf aufmerksam, dass „by turning the chaos and meaninglessness of violence into martyrdom, one reasserts the priority and superiority of […] a privileged and idealized system of meaning“ (Castelli [wie Anm. 15], S. 34). 58 Diese Wirkung gilt sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die ganze Gemeinde, denn von der Darstellung der Gewalt im geistlichen Spiel behauptet Eming: „In der compassio mit den Qualen Christi wird schließlich ein zentrales identitätsstiftendes Moment gesehen, das die Zuschauer als christliche Gemeinde anspricht, bestätigt und rekonstituiert“ (Eming [wie Anm. 2], S. 5). Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 139 Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 1 Timothy R. Jackson In den biblischen Beschreibungen der Endzeit - loci classici sind die Offenbarungen des Johannes sowie Mt 24 und 25, Mc 13 und Lc 21 - steht neben der Zerstörung der physischen Welt das Jüngste Gericht als Hauptereignis. Und da die verstorbenen Menschen irgendwo und in irgendwelcher Form vorhanden sein sollen, damit über sie gerichtet werden kann, ist die Auferstehung der Toten seit den frühesten Jahrhunderten der Kirche ein Kernbegriff christlichen Glaubens. 2 So behauptet Paulus im 1. Korintherbrief: si autem resurrectio mortuorum non est neque Christus resurrexit (I Cor 15,13). 3 Denn schließlich war die Auferstehung Christi selber als „Unterpfand der Auferstehung aller Gläubigen und zwar ihrer realen, persönlichen Auferstehung“ zu betrachten. 4 So stellte der Autor der Elsässischen Predigten fest: er ist darvmb erstanden von dem dode, das er den glouben der gemeinen vrstende veste machte . 5 Ungeachtet dieser Prämisse jedoch, an deren Wahrheit nicht zu zweifeln war - alle Menschen werden auferstehen - bietet die Bibel einen fast vollständigen Mangel an Details über dieses Ereignis. Es geht im Folgenden um die Behandlung dieser Tatsachen in der Literatur des Mittelalters: Die Wirklichkeit der Auferstehung einmal vorausgesetzt, wie wird sich diese gestalten? D.h.: Eine Gegebenheit wird angeboten, die einerseits als Ausdruck der Autorität zwar logische Kriterien nicht erfüllen muss, andererseits aber Schlussfolgerungen verlangt. Und damit wird 1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der ursprünglich vor dem Internationalen Mediävistischen Colloquium (Montserrat 2003) gehalten wurde. 2 Vgl. Werner Thiede, Auferstehung der Toten - Hoffnung ohne Attraktivität? Grundstrukturen christlicher Heilserwartung und ihre verkannte religionspädagogische Relevanz , Göttingen 1991 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 65), S. 90: „Als der neutestamentliche Kanon in seinem Hauptbestand fertig vorliegt, ist auch und gerade der Glaube an die künftige Auferstehung der Toten fester Bestandteil frühchristlicher Überzeugung“. Allerdings wurde die allgemeine Auferstehung in späteren Zeiten von verschiedenen heterodoxen Gruppen geleugnet, z. B. Katharen, Albigensern, Waldensern und Passaginern: Bernard McGinn, „Eschatologie. A. Lateinisches Mittelalter“, in: LexMA , Bd. 4, München 2003, Sp. 4-9, hier Sp. 5. Grundlegend zum Thema: Caroline Walker Bynum, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200-1336 , New York 1995 (Lectures on the History of Religions, N. S. 15). 3 Pathetischer im 1. Thessalonikerbrief: quoniam ipse Dominus in iussu et in voce archangeli et in tuba Dei descendet de caelo et mortui qui in Christo sunt resurgent primi (I Thes 4,16). Vgl. aber auch: et multi de his qui dormiunt in terrae pulvere evigilabunt alii in vitam aeternam et alii in opprobrium ut videant semper (Dn 12,2) - „the first transparent and indisputable prediction of the resurrection of the dead in the Hebrew Bible“: Kevin J. Madigan und Jon D. Levenson, Resurrection. The Power of God for Christians and Jews , New Haven/ London 2008, S. 171. Bibelzitate nach Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem , hg. von Robertus Weber, 2 Bde., Stuttgart 3 1983. 4 Adolf Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte , 3 Bde., Tübingen 1909-1910, Bd. 1, S. 94; vgl. Thiede (wie Anm. 2), S. 90. 5 Elsässische Predigten , hg. von Anton Birlinger, in: Alemannia 1 (1873), S. 60-87, 186-194, 225-250, und 2 (1875), S. 1-28, 101-119 und 197-223, hier Nr. 23, S. 231. 140 Timothy R. Jackson ein locker definierter Freiraum aufgetan, der mit Spekulationen aufgefüllt werden kann. Es wäre vielleicht von deduktiver Phantasie zu sprechen. Gegenstand meiner Untersuchungen ist eine Reihe von Texten, die mir größtenteils durch die Lehre - vor allem ein Hauptseminar zur Endzeit - bekannt geworden sind und sich chronologisch weit erstrecken. Neben dem althochdeutschen Muspilli steht eine Gruppe von Werken aus dem 12. Jahrhundert: das Jüngste Gericht der Frau Ava, die Rede vom Glauben des Armen Hartmann, der Linzer Antichrist (auch Von den letzten Dingen genannt), der Lucidarius , das Speculum ecclesiae und eine von Wilhelm Wackernagel edierte Predigt aus Zürich; dazu kommen Von dem jungesten tage und Freidanks Bescheidenheit aus dem 13. Jahrhundert; eine weitere Gruppe von Texten, die beiderseits der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert zu lokalisieren sind: 6 das Väterbuch , Hugos von Langenstein Martina , Heinrichs von Hesler Apokalypse , Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft sowie Die Erlösung ; und schließlich noch jüngere Texte: die bereits erwähnten Elsässischen Predigten (überliefert in einer Handschrift vom Jahr 1362), das Berliner Weltgerichtspiel (Handschrift von 1482) und das Münchener Weltgerichtspiel (Handschrift wohl 1510). 7 Generisch gesehen sind diese Texte äußerst differenziert. 8 Viele sind ohne Schwierigkeit einzuordnen: Dramen (Weltgerichtspiele), Erzählungen ( Muspilli ), Homiletik (die Elsässischen Predigten ), Sprüche (Freidank) und Reden ( Von dem jungesten tage ). Neben diesen stehen jedoch auch Beispiele für Mischgattungen: Der Lucidarius z. B. ist eine Art theologische Enzyklopädie in Dialogform, und eine wichtige Textgruppe besteht aus längeren erzählenden 6 In den Niederlanden spielt die Volkssprache ab dem späten 13. Jahrhundert eine bedeutendere Rolle im intellektuellen Leben, nicht zuletzt in der Herstellung von geistlichen Texten: Geert Warnar, „Men of letters: Medieval Dutch literature and learning“, in: University, Council, City. Intellectual Culture on the Rhine (1300-1550) , hg. von Laurent Cesalli, Nadja Germann und Maarten J. F. M. Hoenen, Turnhout 2007, S. 221-246. 7 Muspilli , in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150 , hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1); Die Dichtungen der Frau Ava: Das Jüngste Gericht , in: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts , hg. von Friedrich Maurer, 3 Bde., Tübingen 1964-1970, hier Bd. 2, S. 499-513; Der Arme Hartmann, Rede vom Glauben , in: Maurer (ebd.), Bd. 2, S. 567-628; Linzer Antichrist ( Von den letzten Dingen ), in: Maurer (ebd.), Bd. 3, S. 361-427; Lucidarius , aus der Berliner Handschrift hg. von Felix Heidlauf, Berlin 1915 (DTM 28); Speculum ecclesiae. Eine frühmittelhochdeutsche Predigtsammlung (Cgm 39) , hg. von Gert Mellbourn, Lund/ Kopenhagen 1944 (Lunder Germanistische Forschungen 12); Altdeutsche Predigten und Gebete , hg. von Wilhelm Wackernagel, Basel 1876, Nr. 12: Sermo de Pascha , S. 28-31; Von dem jungesten tage , hg. von Leonard A. Willoughby, Oxford 1918; Freidank, Bescheidenheit , hg. von Heinrich E. Bezzenberger, Halle 1872; Das Väterbuch , hg. von Karl Reissenberger, Berlin 1914 (DTM 22), Nachdruck Dublin/ Zürich 1967; Hugo von Langenstein, Martina , hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1856 (BLVS 38), Heinrich von Hesler, Die Apokalypse , aus der Danziger Handschrift hg. von Karl Helm, Berlin 1907 (DTM 8); Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland, Gottes Zukunft, Visio Philiberti , hg. von Samuel Singer, Berlin 1906, Nachdruck Dublin/ Zürich 1967 (DTM 7); Die Erlösung. Eine geistliche Dichtung des 14. Jahrhunderts , hg. von Friedrich Maurer, Leipzig 1934 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Geistliche Dichtung des Mittelalters 6); Elsässische Predigten (wie Anm. 5); Weltgerichtspiele werden zitiert nach: Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe , hg. von Hansjürgen Linke, 3 Bde., Tübingen/ Basel 2002. 8 Eine ähnliche Vielfältigkeit ist bei den Werken der „vernacular theology“ im England des 14. und frühen 15. Jahrhunderts zu beobachten: „In principle, the term ‘vernacular theology’ covers a very wide range of texts, from the catechetical to the speculative, and from the most scrupulously orthodox Passion meditation to the most outspoken Lollard polemic“ - Nicholas Watson, „Censorship and cultural change in late-medieval England: Vernacular theology, the Oxford translation debate, and Arundel’s Constitutions of 1409“, in: Speculum 70 (1995), S. 822-864, hier S. 823, Anm. 4. Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 141 Texten mit zahlreichen didaktischen, seelsorgerischen oder theologischen Einschüben wie Martina , Gottes Zukunft und Erlösung , und Achim Masser stellt fest, dass auch Heinrichs von Hesler Apokalypse „allerlei persönliche Reflexionen wie allgemeine Ermahnungen“ enthält. 9 Dass alle werden zusammenkommen müssen, um vor dem Jüngsten Gericht zu erscheinen, steht somit fest - so wundert es, wenn Heinrich von Hesler mitteilt, dass er die Auferstehung des Leibes für jene vrunt und mage beschreibe, die zweifelnd fragten, Wie sie [sc. diu menscheit ] dan mochte ir ummecleit Von der erden wider gewinnen, 17890 Sint daz si solde gar vorbrinnen, Und wie si mochte gar irsten, Sint alle dinc suln zurgen. ( Apokalypse , V. 17888-17892) Die Texte, die ich untersucht habe, bringen zumeist kurze Beschreibungen der Auferstehung der Toten - mehr als 100 Zeilen ist eine Seltenheit -, jedoch ist die Behandlung der verschiedenen Motive abwechslungsreicher und phantasiereicher, als man vielleicht erwarten würde. Auf die Frage hin, wann das Jüngste Gericht und daher die Auferstehung des Leibes stattfinden wird, heißt es zunächst, man dürfe dies nicht wissen und solle danach nicht fragen - so habe Christus selbst auf die Frage der Jünger geantwortet, nach dem Wortlaut der dritten Elsässischen Predigt : do sullent ir nüt vmb wizzen wenne den dag vnd die zit hat min vater, Got von himel geseczet in sinen gewalt (S. 70), was Mt 24,36 entspricht. Einerseits besteht somit die Möglichkeit, dass jede Frage nach der Auferstehung dem Verdacht unerlaubter curiositas ausgesetzt ist; andererseits drückt sich im Wunsch, so viel wie möglich über das entscheidendste Ereignis der menschlichen Existenz zu wissen, eine allzu verständliche Neugierde aus. Manche Verfasser schweigen dazu, während andere bereit sind, zu spekulieren, bzw. die Spekulationen anderer weiter zu tradieren. So weiß der Autor des Lucidarius zu behaupten, dass wir an einem Sonntag auferstehen werden, und zwar nicht an einem beliebigen, sondern an dem osterdage, ander wile Got erstu o nt , was auf die Worte in die Paschae, ea hora qua Christus resurrexit im Elucidarium des Honorius Augustodunensis zurückgeht. 10 Auch anhand verschiedener Reihen von Vorzeichen hoffte man, den Zeitpunkt des Jüngsten Tages genauer bestimmen zu können. Neben der Offenbarung sowie dem 21. Kapitel des Lukasevangeliums kommen vor allem die 15 Vorzeichen der Letzten Dinge in Frage. Dieses in seiner jeweiligen Auffüllung etwas variable System genoss die Autorität des Hieronymus, der sich wiederum angeblich auf eine jüdische Quelle stützte - „angeblich“, weil keine iuden buoch , die eine solche Quelle hätten sein können, bekannt sind. 11 Eines von diesen Zeichen (das 11., seltener das 13., je nach Fassung) besteht darin, dass surgent ossa mortuorum et stabunt super sepulchra ab ortu solis usque ad occasum , wie es bei Jacobus de Voragine heißt. 12 Ähnlich 9 Achim Masser , Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters , Berlin 1976 (Grundlagen der Germanistik 19), S. 121. 10 Lucidarius , S. 67,5; Honorius Augustodunensis, Elucidarium , in: PL 172 (1895), Sp. 1109-1176, hier Sp. 1164. Vgl. auch Heinrich von Hesler, Apokalypse, V. 19959-19965. 11 Vgl. Hugo von Langenstein, Martina , V. 189,36, sowie Kurt Ruh, „Hieronymus, Sophronius Eusebius“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 1221-1233, hier Sp. 1226. Heinrich von Hesler will nichts zu den Fünfzehn Zeichen sagen, Wen ich ir han nicht war gelesen ( Apokalypse , V. 19839). 12 ‘Die Beine der Toten werden sich erheben und vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne über den Gräbern stehen’ - Jacobus a Voragine, Legenda aurea , hg. von Theodor Graesse, Leipzig 2 1850, S. 7. 142 Timothy R. Jackson in den Elsässischen Predigten : an dem elftin dage, so sammet sich aller doten geboine vnd legent sich uf die grab vnd erbeiten do der urstende (Nr. 3, S. 71); und mit eindeutigerer Zeitfolge im Väterbuch : Es stet ob der erd / Und peitet wan es werd / Erquiket wider in das leben (V. 40385- 40387). Bezüglich dessen, was aus den Gräbern hervorkommt, sprechen auch andere Texte von Skeletten; 13 der Linzer Antichrist formuliert aber vorsichtiger: Als wirz habin an der sage, an dem drizehindin dage stant diu greber alliu offin. die dar inne warin berochin, 56,5 die habint uf an des grabis munt. doch ist uns unchunt, in welhin bildin sie da habin, von diu sul wir des gedagin. (Str. 56, 1-8) In wieder anderen Texten heißt es einfach die totten ( Berliner Weltgerichtspiel , V. 287), alle toten (Hugo von Langenstein, Martina , V. 190,52) oder Ähnliches, ohne eine nähere Bestimmung der Körperteile; vom Fleisch ist wohlbemerkt noch keine Rede, und von der Seele erst recht noch nicht. Fast ohne Ausnahme berichten die Texte, die ich verwertet habe, und zwar zumeist als das 13. Zeichen, dass alle Menschen, die noch am Leben sind, sterben müssen, damit sie auferstehen können: 14 40410 Di sterben all in der vrist, Auf daz si mit den andern Geleich wider wandern Und gemainlich erstan. ( Väterbuch , V. 40410-40413) Was das 15. Zeichen angeht, so kann Hugo stellvertretend für weitere Texte zitiert werden: So wirt in lihten werde Nivwir himel vnd erde 191,1 Alle die e waren tot Die stant vf von todis not . ( Martina , V. 190,111-191,2) Dies bedeutet, dass das letzte Vorzeichen (neuer Himmel und neue Erde) und die Auferweckung der Toten in Erwartung des Gerichts am selben Tag zusammenfallen. 15 Wird gefragt, ‘wer oder was wird denn auferstehen, um vor das Gericht zu treten? ’, so besteht ein erstes Grundprinzip in der Inklusivität, der Universalität, wie sie etwa in der Rede vom Glauben des Armen Hartmann ausgedrückt wird: dar soln in ane scowen alle menscliche ougen (Str. 92,6), und der Linzer Antichrist erzählt, nach dem Hörnerschall in aime 13 Vgl. Heinrich von Neustadt: alle toten bein ( Gottes Zukunft , V. 6139); Frau Ava: so tuont sich diu greber uf, diu gebaine machent sich dar uz ( Das Jüngste Gericht , Str. 15,2). 14 Vgl. Heinrich von Neustadt: Sterben muz an in ergen, / Uf daz sie von dem tode ersten ( Gottes Zukunft , V. 6156f.); ähnlich Elsässische Predigten , Nr. 3, S. 71: so sterbent alle menschen, die dennoch lebent, daz sü mit den doten och erstandent ; vgl. auch Hugo von Langenstein, Martina , V. 190,87-98. 15 Vgl. Elsässische Predigten , Nr. 3, S. 71: an demselben dage erstont alle menschen mit libe vnd selen ; Linzer Antichrist , Str. 57,10-13. Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 143 ouginblicke / irstant die dotin alle (Str. 60,4f.). Diese Menschen bestehen aus Körper und Geist: Daz vleisch her [sc. Gott] von der erden nam, / Der geist von sime geiste quam (Heinrich von Hesler, Apokalypse , V. 18039f.). Das hierarchische Verhältnis zwischen den beiden, das hier angesprochen zu sein scheint, ist aber nicht immer eindeutig. So meint Freidank: Mîn lîp von anders nihte lebt, / wan daz ein sêle drinne swebt ( Bescheidenheit , V. 17,21f.). Ohne die Seele hat der Körper kein Leben; oder umgekehrt: Ohne Leben hat das Fleisch keinen Geist. Dann aber heißt es: hie enweiz ich selbe, wer ich bin. 18,1 got gît die sêle, der nem s’ ouch hin; diu vert von mir als ein blâs und lât mich ligen als ein âs. ( Bescheidenheit , V. 17,27-18,3) Dies scheint eher zu besagen, dass der Körper das Primäre ist: ‘Ich bin das, was noch bleibt, wenn die Seele mich verlässt’. Auf jeden Fall gilt: Da bei dem irdischen Tod die Seele von dem kerker dez lichames irlost werde, wie es im Lucidarius (S. 59,8) heißt, und da nun Leib und Seele vor dem Richter erscheinen sollen, damit beide belohnt oder bestraft werden, müssen Seele und Leib wieder zusammenkommen, so etwa in der Erlösung ( Sâ werdent aber eine / lîb und sêle zû der stat , V. 6700f.) und beim Armen Hartmann: 16 so comet mensclich geist unde irquicket sin eigen fleisc, so wædet geiste gelich sin eigen fleisc ane sich, so wirt fleisce gelich sinem eigenen geiste gelich. 81,5 diu zwei beide di werdent ein gemeine in eneme libe […] . ( Rede vom Glauben , Str. 81,2-6) Wird jedoch weiter gefragt: ‘Die vrstente mines libes einmal vorausgesetzt, 17 genau worin besteht dieser Leib? ’, so lässt dies ein zweites Grundprinzip erkennbar werden: die Kontinuität. Für Augustinus ist „zwar mit gesamtleiblicher Substanz-, nicht aber mit Stoffidentität im einzelnen zu rechnen“; für Irenäus und Tertullian jedoch geht es prinzipiell um „eine Auferweckung […] des konkret-irdischen Leibes“, desselben Leibes, der starb. 18 So steht in einer Zürcher Predigt aus dem 12. Jahrhundert, dass wir zem ivngistin tage also suln irstan mit deme selbin libe. vnde mit der selbvn séle so wir ie schinein ( Sermo de Pascha , S. 29,31f.). Und Hugo von Langenstein formuliert: alt vnd iunge / Erstant in lipliches lebin / Als in vor was gegebin ( Martina , V. 198,58-60). Heinrich von Hesler schreibt mehrmals, dass der auferstandene Mensch aus der Erweiterung oder Rekonstituierung dessen resultiert, was aus dem Mutterleib hervorgegangen ist, z.B.: 16 Vgl. Hugo von Langenstein, Martina , V. 198,107-199,10. Andere Texte, etwa Von dem jungesten tage , sind eher durch eine extreme Feindlichkeit der Seele dem Leib gegenüber gekennzeichnet. Nach Augustinus wird aus dem alten tierischen Körper ein neuer geistlicher werden ( in spiritalis corporis nouitatem ex animalis corporis uetustate ): Sancti Aurelii Augustini De ciuitate Dei , hg. von Bernhard Dombart und Alphons Kalb, Turnhout 1955 (Corpus Christianorum Series Latina 47/ 48), Buch XXII,21,3f. 17 Speculum ecclesiae , S. 1,18: aus dem einleitenden Credo . 18 Thiede (wie Anm. 2), S. 94 bzw. 92. 144 Timothy R. Jackson Allez daz ie geborn wart Sider Adame menschelich, Daz nimt daz selbe vleisch an sich Daz ez in siner muter nam 18170 Do sin geburt zur werlde quam, Daz vleisch und nicht ein ander . ( Apokalypse , V. 18166-18171) Unabhängig davon, ob eine von der Geburt bis zum Tod sich erstreckende leibliche Identität des Menschen anzunehmen ist oder nicht: Doch erstant si vber al-[…] / Uz dem selbin stovbe / In den siu e waren braht ( Martina , V. 199,103-109). Der gestorbene Leib wird somit zu Staub - pulvis es et in pulverem reverteris (Gn 3,19) - und dieser Zustand der völligen Atomisierung des Körpers nach dem irdischen Tod ist eine Versehrtheit, wie sie kaum radikaler zu denken ist. Jedoch wird der Leib gerade aus diesen Staubkörnern wiederhergestellt, denn auch wenn nach Augustinus der Körper conteratur in puluerem atque in auras uel in aquas dispersum, quantum fieri potest , liegt dies in Gottes Macht: Wen im nicht dinges ist zu vil / Zu tuene des her willen hat . 19 Zu diesem Vorgang hat sich z. B. bereits Hesekiel geäußert: haec dicit Dominus Deus ossibus his ecce ego intromittam in vos spiritum et vivetis et dabo super vos nervos et succrescere faciam super vos carnes et superextendam in vobis cutem et dabo vobis spiritum et vivetis (Ez 37,5f.). Und Hugo von Langenstein ( Martina , V. 200,91-201,45) untermauert das Prinzip der ununterbrochenen Identität mit einer theoretischen Grundlage des Prozesses, durch den der Mensch wieder aus seinen ursprünglichen Teilchen zusammengesetzt wird. Damit etwas entsteht, sind Hugos Ausführungen zufolge vier Dinge notwendig. Erstens: ein Schöpfer - hier ist dies Gott. Zweitens: Materie - hier Pulver, Staub und Asche, zu denen der Mensch geworden ist. Drittens: Der Schöpfer muss wissen, was zu erschaffen ist und wie - hier sind es 201,36 Div zuo fuogunge vnd der flus So sele vnde lip tuot Uon ir hohen scheppfer guot Der si zesamen wider fuget . ( Martina , V. 201,36-39) Viertens: Der zu erschaffende Gegenstand braucht eine Funktion - hier werden die Freude der Guten und die Betrübnis der Sünder beabsichtigt. Auch nach Augustinus’ Auffassung kommt Gott bei diesem Vorgang die entscheidende Rolle zu, indem er „unser Fleisch mit wunderbarer Schnelligkeit und Vollkommenheit wiederherstellen“ wird. 20 Heinrich von Hesler legt den Akzent dagegen etwas anders: Zwar bringen die vier Winde auf Gottes Gebot hin alles verweste Fleisch als Staub zusammen ( Apokalypse , V. 20169-20176), daraufhin geschieht aber Folgendes: Uz disem melmigen gestobe Got unsem schepfere zu lobe 20185 Nimet ieslichz der geiste, Der mineste und der meiste, 19 De ciuitate Dei (wie Anm. 16), XXII,21,6-8 (‘[zu] Staub zermahlen und so fern, wie möglich ist, in die Winde und die Gewässer verstreut’); Heinrich von Hesler, Apokalypse , V. 18116f. 20 Thiede (wie Anm. 2), S. 94. Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 145 Daz selbe vleisch dan an sich Mit dem her hie wart menschlich, Do sin muter in gebar . ( Apokalypse , V. 20183-20189) Mehrmals treffen wir bei Heinrich das Bild des aktiven, suchenden Geistes, der sins vleisches wartet (V. 17954), der [s]ins selbes vleisch [vindet] (V. 18104f.). Das erinnert an die von Werner Thiede beschriebene Erwartung Gregors von Nyssa, dass bei der Auferstehung „die Seele kraft ihres Erinnerungsvermögens die Materieteile ihre[s] Leibes wieder versammeln werde“. 21 Bezüglich des Aussehens des Leibes ist in der Integrität als einem Aspekt der Kontinuität ein drittes Grundprinzip zu erkennen. Wie auch andere Verfasser behauptet Heinrich von Neustadt die Ganzheit des auferstandenen Leibes: 22 6190 Die toden mu e szen ufsten Und fur den rehten rihter gen, Gantz und ungeteilet, Unverhaltzet und ungemeilet, Gantz an allem libe, 6195 Daz im niht uz blibe. ( Gottes Zukunft , V. 6190-6195) Und das gilt ungeachtet dessen, was dem Leib beim Sterben und nach dem Tod geschehen ist, wie nochmals Heinrich - mit Worten, die an die oben zitierten des Augustinus erinnern - erklärt: Weres zu stuppe worden, Und het ez der wint hin geweet 6225 Oder in daz mer geseet: Ez muz alles komen wider, Gantz lip und glider. ( Gottes Zukunft , V. 6223-6227) Prinzipiell dürfe somit nichts vom ursprünglichen Leib fehlen. Als Garantie der körperlichen Integrität in der Auferstehung verstand man die zum Topos gewordenen Lukas-Worte: et capillus de capite vestro non peribit (Lc 21,18). Daher wird der Mensch laut Heinrich von Hesler gar unzubrochen / Des vleisches und der sele auferstehen (V. 20246f.), und zwar: Also ganz und also vol 18090 Daz niemant eines lockes sol Von mannen noch von wibe Darben an sime libe. ( Apokalypse , V. 18089-18092) Heinrich von Neustadt formuliert: In get nit abe, daz ist war, / Weder nagel oder har ( Gottes Zukunft , V. 6202f.), und vergleichbar Hugo von Langenstein: Ein hares lock in niht engat ( Martina , V. 200,15). Bereits Augustinus hatte - unter Berufung auf Lc 12,7, capilli capitis vestri omnes numerati sunt - bemerkt, dass dies nicht eine Frage de longitudine, sed de numero capillorum sei (‘nicht der Länge, sondern der Anzahl der Haare’ - De ciuitate Dei, XXII,19,16f.). Der Jünger 21 Ebd., S. 93; vgl. oben die Stelle in der Rede vom Glauben : so comet mensclich geist unde irquicket sin eigen fleisc . 22 Ähnlich der Linzer Antichrist : die suln irstan algeliche / mit ganzim libe wærliche (Str. 60,11f.); Hugo von Langenstein, Martina : Mit ir ganzen liben (V. 99,49). 146 Timothy R. Jackson im Lucidarius kennt diese Stelle jedoch offenbar nicht, denn als der Meister feststellt, sie erstant alle daz in eins hares niht gebristet , wirft er folgendes Problem auf: so daz har unde die nagele denne wider an ir stat coment, da sie e warent, da sie abegesniten sint, so wird der mensche vil úbele getan . Der Meister antwortet, Gott erschaffe wie ein Töpfer; er nehme die Materie und machit wider einen schonen menschen, dem nihtes gebristet (S. 67,26-33). Auch bei Augustinus ( De ciuitate Dei, XXII,19,5-15) findet man das Bild des Töpfers, der bei einem zweiten Versuch aus dem gleichen Ton einen neuen Topf herzustellen vermag, wobei nicht jeder einzelne Bestandteil an die gleiche Stelle gelangen muss, wo er sich früher befand: Wichtig sei lediglich, dass die gesamte Tonmasse zu einem Topf verarbeitet werde. Eine nächste Frage befasst sich damit, wer zu den Menschen zählt. Nach verschiedenen Weltgerichtspielen werden auch die Totgeborenen auferstehen - im Münchner Spiel z. B. ruft der letzte der vier Engel, die die Auferstehung verkünden: Wol auf alle die ye sturben / oder in mueter leib verdurben (V. 279f.). Deutlicher noch ist der Lucidarius : Der Jünger fragt, erstant ǒch die in ir mu o ter libe sterbent? und erhält vom Meister die Antwort, die da lebendic werdint, die erstant (S. 67,16f.). 23 Dies bedeutet, dass ein Kind nicht bereits mit der Zeugung als lebend angesehen wird; die Totgeborenen, von denen hier gesprochen wird, haben nach einer Periode der Leblosigkeit eine Zeitlang im Mutterleib gelebt und sind dann vor der Geburt gestorben. Augustinus scheint diesen Menschen zunächst etwas ratlos gegenüber zu stehen - Abortiuos fetus, qui, cum iam uixissent in utero, ibi sunt mortui, resurrecturos ut adfirmare, ita negare non audeo (‘Ob Fehlgeborene, die im Mutterleib gelebt haben, darin aber gestorben sind, auferstehen werden, wage ich weder zu behaupten noch zu verneinen’) -, um dann doch zu vermerken, dass keine Toten, unabhängig davon, unter welchen Umständen sie gestorben seien, von der Auferstehung ausgeschlossen werden dürften ( De ciuitate Dei , XXII,13,3-5). Heinrich von Hesler vertritt dagegen eine weitaus mildere Auffassung: Die Totgeborenen werden sowohl auferstehen als auch gerettet werden. Die, die in ir muter sterben - seien sie Juden, Christen oder sogar Heiden - sowie Kinder, die noch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können, sollten nicht dem Höllenfeuer zugeteilt werden ( Apokalypse , V. 20075-20097). Aber der Jünger im Lucidarius stellt eine weitere Frage: waz sprichest du von den kinden die e geboren werdent e si lebidi sint? , auf die der Meister antwortet: alse vil so dez samen was dez vatires, daz erstat an dem vater, so vil ez waz [! ] der mu o ter, an der mu o ter (S. 68,1-4). Da also Fehlgeburten - um solche muss es hier gehen, wenn auch Honorius diese als abortivi verstand ( Elucidarium , Sp. 1165) - noch nicht leben, noch nicht als Menschen gelten, gehören sie noch zur Substanz der Eltern: Es geht dabei um deren körperliche Integrität. Daraus lässt sich folgern, dass dort, wo noch kein richtiger Körper, d. h. kein wirkliches Leben, existiert, auch keine Seele vorhanden ist. Schließlich jedoch gelten die Prinzipien der Kontinuität und Integrität nicht als absolut. Denn der Meister im Lucidarius vermerkt, Gott mache aus dem zerstreuten Staub einen schonen mensch : Ein viertes, ästhetisches Grundprinzip behauptet die Schönheit, oder zumindest die Makellosigkeit, des auferstandenen Körpers: Der Mensch werde nicht nur unversehrt, sondern verbessert, verschönert auferstehen. Für Augustinus hängt die menschliche Schönheit von der Harmonie der Körperteile ab ( Omnis enim corporis pulchritudo est partium congruentia - De ciuitate Dei, XXII,19,41). Um dieses Ideal - die Essenz dieses Körpers, quod naturaliter 23 Vgl. Honorius Augustodunensis, Elucidarium (wie Anm. 10), Sp. 1164: Quotquot vitalem spiritum acceperunt, resurgent (‘alle, die den lebendigen Geist erhalten haben, werden auferstehen’). Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 147 inerat (XXII,19,20) - in den Auferstandenen zu verwirklichen, werden Entstellungen korrigiert und Defekte ausgeglichen: quae praua sunt corrigentur, et quod minus est quam decet, unde Creator nouit, inde supplebitur, et quod plus est quam decet, materiae seruata integritate detrahetur (‘Missbildungen werden korrigiert, unangenehme Mängel werden kraft des Wissens des Schöpfers ergänzt, und was mehr ist, als angenehm ist, wird bei Erhaltung der Integrität des Stoffes entfernt’ - XXII,19,45-48). Dabei wird die menschliche Substanz jedoch unangetastet bleiben: quod deforme natum fuerat […], sic esse rediturum, ut seruata integritate substantiae deformitas pereat (‘was von Natur aus verunstaltet war, wird so wiedergebracht werden, dass der Vollbestand der Substanz erhalten bleibt, die Verunstaltung wegfällt’ - XXII,19,21-24). Die Materie des Körpers kann ferner neu verteilt werden, vorausgesetzt, dass diese Verteilung so erfolgt, dass die Schönheit des Ganzen in der Harmonie aller Teile erhalten bleibt: ut […] congruentia partium ubique teneatur (XXII,20,47f.). Wenn aber z. B. die abgeschnittenen Haare und Nägel ad sua loca deformiter redeunt, non redibunt (‘[sie] werden an ihre Stelle nicht zurückkehren, wenn sie da entstellend wirken würden’ - XXII,19,11f.). Eine bedeutendere Ausnahme bilden die Märtyrer, indem ihre abgetrennten Glieder zwar wiederhergestellt werden, die glorreichen Narben aber noch sichtbar sein werden (XXII,19,74-78). Was jedoch die Auferstehung der restlichen Menschheit angeht, so verspricht Hugo von Langenstein die Wiederherstellung fehlender Glieder ( gebresten […] An henden vnd an fuozen ), die Entfernung zusätzlicher Glieder ( vberigiv lider ) - dies entgegen dem woanders behaupteten Prinzip Gantz lip und glider - und die Verbesserung von Entstellungen (etwa an einem Kind, das wie ein merwunder wilde aussieht): Diz buozit allis vil balde / Diu vrstende […] ( Martina , V. 199,67-102). Heinrich von Neustadt beschreibt dieselben Vorgänge wie folgt: Waz die nature geirret hat An der rehten forme tat, 24 Daz im die glieder [! ] sint abe, Oder ob ez nie glider habe, 6210 Oder falsch menschen bilde, Oder fremede varwe wilde, Ez si dor oder stu o mme, Ufhaltz oder krumme, Ez si zu ju o ng oder zu alt: 6215 Ez wirt alles reht gestalt. ( Gottes Zukunft , V. 6206-6215) 25 24 Hier scheint das Denken des Alanus ab Insulis im Hintergrund zu stehen. Nach dem Planctus Naturae sowie dem Compendium Anticlaudiani besteht eine Auswirkung des Sündenfalls darin, dass die Natur die Vollkommenheit der Erde nicht mehr zu erhalten vermag. „ Natura ist defizient gegenüber Gott; […] Natura beklagt ihre Arbeit als unvollkommen“ - Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerclære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl , Zürich/ München 1988 (MTU 89), S. 148. Heinrich hat das Compendium für den ersten Teil der Gottes Zukunft als Quelle benutzt, und das Prinzip der gestörten Natur scheint den oben zitierten Versen zugrunde zu liegen. Vgl. auch Peter Ochsenbein, „Alanus ab Insulis“, in: 2 VL , Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 97-102, hier Sp. 99; ders., „Heinrich von Neustadt“, in: 2 VL , Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 838-845, hier Sp. 844. 25 Man fragt sich, ob diese Ausführlichkeit lediglich als rhetorisch zu betrachten ist, oder ob sie möglicherweise auf Heinrichs Erfahrungen als Arzt zurückgeht. 148 Timothy R. Jackson Bei Hugos Verweis auf das Kind, das als ein merwunder wilde geboren wird, und Heinrichs falsch menschen bilde und fremede varwe wilde geht es wohl um den Bereich der Missgeburten, deren monströses Aussehen das Mittelalter und vielleicht noch stärker die frühe Neuzeit fasziniert und beunruhigt hat - auch Augustinus erwähnt deformitates humanorum corporum, non modo usitatas, uerum etiam raras atque monstrosas (‘nicht nur gewohnte, sondern auch seltene und monströse Missgestaltungen des menschlichen Körpers’ - De ciuitate Dei, XXII,19,32-34). Der Jünger im Lucidarius wirft konkrete Fälle der Monstrosität auf: die hie zwei hobet hant, oder me, oder minre, […] irstant ǒch die also? , und bekommt die Antwort: die zwei hobitt hant, die erstant ouch mit zweigen, 26 unde iegeliche sele hat iren lichamen also schonen unde also ganzen daz ime niht gebriste (S. 67,34-38). Hugo von Langenstein schreibt, dass die Auferstandenen nicht älter aussehen würden, als sie bei Lebzeiten gewesen seien, bzw. als Christus gewesen sei ( Martina , V. 199,58-66). Andere Autoren präzisieren: Die Toten würden mit dem Aussehen von Dreißigjährigen auferstehen - wie hie die lûde wâren / bî iren drîzig jâren , wie es in der Erlösung heißt (V. 6707f.), eine Zahl, die die Zürcher Predigt als das altir so ovch unsir herre irstvont versteht, 27 und die Heinrich von Neustadt rhetorisch untermauert: Wer eins hu e ndert jar alt, Kru e mp, lam oder blint, 6235 Oder wer es ein kint, Ez wirt an allen varen Als ez zu drissig jaren Enmo e ge niht gereichen: Daz sint doch Gotes zeichen. ( Gottes Zukunft , V. 6233-6239) Bereits Augustinus hat angenommen, dass Kinder nicht mit ihren kleinen Körpern, alte Menschen nicht mit ihren alten Körpern auferstehen werden ( De ciuitate Dei, XXII,14,1-4; 15,10). Vielmehr bringt er sie in Zusammenhang mit dem ästhetisch-geistlichen Ziel des Christen, wie dieses im Epheserbrief dargestellt wird: donec occurramus omnes […] in virum perfectum in mensuram aetatis plenitudinis Christi (Eph 4,13). Und da es bei Lukas heißt, dass Jesus zur Zeit seiner Taufe erat incipiens quasi annorum triginta (Lc 3,23), und da die Weisesten lehren, dass dies das Alter ist, in dem die idealen Dimensionen eines ausgewachsenen Menschen erreicht werden, entscheidet sich Augustinus für ein Alter des Auferstehungskörpers von circa triginta Jahren. 28 Gelegentlich führt eine Lust an distinctiones und moralischer Bewertung zu einer ästhetischen Kategorisierung der Auferstehenden nach ethischen Kriterien. Frau Ava versichert, die guoten sint dem sunnen gelich in ihrer Erscheinung (Str. 18,4), erwähnt aber das Aussehen der Sünder nicht. Und bei Heinrich von Neustadt heißt es von den Gotes kint : 26 Der Herausgeber Felix Heidlauf liest mit zweigen lichamen , unter Verweis auf den Wortlaut bei Honorius Augustodunensis, Elucidarium (wie Anm. 10): duo inde corpora (Sp. 1165). 27 Sermo de Pascha , S. 30f. Allerdings soll Christus der Tradition nach mit 33 (eventuell 34) Jahren gestorben und auferstanden sein. 28 Augustinus, De ciuitate Dei (wie Anm. 16), XXII,15,19f. Damit knüpft Augustinus an ältere Begriffe des Idealalters an: Mit 30 Jahren trat Joseph vor den Pharao, wurde David König und wurde Ezechiel zum Propheten berufen. Vgl. ferner den Lucidarius : engegen drizic jaren (S. 67,19); Honorius Augustodunensis, Elucidarium (wie Anm. 10): si essent triginta annorum (Sp. 1164). Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 149 Schone und wol gestalt die sint, 6230 Verre schoner dann sie Ie gewesen sin alhie, Doch in rehter gestalt. ( Gottes Zukunft , V. 6229-6232) Die Bösen dagegen, Sie sint lamp oder blint, / Sie sint siech var getan (V. 6241f.). Bei Hugo ist diese Dichotomie weniger radikal, aber der Unterschied ist immer noch deutlich: Von den gotis kneht heißt es, dass sie erstant in ir besten maht ( Martina , V. 200,19), für die Sünder gilt jedoch: Sint siu gebresten ane Dez libes lidern vbir al 200,30 Doch so ist ir varwe sal Und och sus entschepfet […]. ( Martina , V. 200,28-31) - ihrem Auferstehungskörper fehlt somit kein Bestandteil, doch ist er verschmutzt und entstellt. Dieser ganze Gedankenkomplex berührt die Frage nach der menschlichen Identität. Wenn des Menschen Sein aus Körper und Seele besteht, und wenn der Körper, mit dem er geboren ist, noch derselbe ist, den er jetzt bewohnt, und aus derjenigen Materie besteht, die er gegessen hat, 29 ergibt sich eine weitere, wichtige Frage: Wenn ein Mensch von einem Kannibalen gegessen wird, bleibt seine Identität als Mensch immer noch gewährleistet? Zugespitzt formuliert: Bleibt er der, der er früher war - oder ist er im Kannibalen aufgegangen, und wird er daher am Jüngsten Tag als Teil dessen auferstehen? Im Grunde war die Frage für die Theologen des Mittelalters leicht zu beantworten, wenn auch mancher bei Rückgriff auf ein etwas eigensinniges Verständnis des Stoffwechsels dem Problem einfach auswich. So schreibt Caroline Walker Bynum: 30 Athenagoras and Methodius insisted that human flesh could not be digested; Tertullian and Augustine insisted it could be. But all agreed that God could triumph over that which eats human beings - whether it be the whale that swallowed Jonah, the grave that eats the properly buried, or the desperate cannibal mother who devours her baby […]. Zwar wird diese Frage in keinem deutschsprachigen Text angeschnitten, den ich verwendet habe, 31 aber im Kontext der Integrität berührt Heinrich von Hesler den Zustand, der dadurch entsteht, dass Vögel, Tiere und Fische gelegentlich Menschen gefressen und ir selbes vleisch mit gevleischet haben ( Apokalypse , V. 20207). Bynum schreibt dazu, „Violent fragmenting death - especially being eaten by animals - is the paradigm of destruction […]“. 32 Der Jünger im Lucidarius erweitert dieses Problem auf die sogenannte Kettenverzehrung, mit der Frage: obe lihte ein wolf izzet einen menschen, unde den wolf ein ber, unde den beren ein lowe, wie sol von 29 Vgl. Bynum (wie Anm. 2), S. 124f. 30 Ebd., S. 111. Augustinus setzt voraus, dass allein bevorstehendes Verhungern einen Menschen zum Essen von Menschenfleisch zwingen könnte - und auch dann werde Gott imstande sein, dem Opfer das gleichsam geborgte Fleisch ( caro […] sumpta ) und dem Täter sein eigenes, infolge des Hungerns verlorenes zurückzugeben ( De ciuitate Dei [wie Anm. 16], XXII,20,15-39). 31 Es sei denn, dass Heinrich von Hesler sich hierauf bezieht, wenn er auf Daz vleisch und nicht ein ander besteht (siehe oben). 32 Bynum (wie Anm. 2), S. 148. 150 Timothy R. Jackson den allen der mensche erstan? Auch hier kann der Meister ihn beruhigen: daz dez menschen fleiz was, daz erstat, daz dez dieres waz [! ], daz blibet (S. 67,20-24). 33 Und mit einer ähnlichen Versicherung fährt Heinrich an der gleichen Stelle fort: Als schire iz Gots wort irvreischet, Sal ieslich vleisch sin als iz was 20210 Gestalt da iz sin muter genas, Und der geist vert san dar in, Ein ieslich geist in daz sin. ( Apokalypse , V. 20208-20212) Die auf diese Weise aus zahllosen Bruchstücken wieder als Fleisch zusammengefügten Leiber, mitsamt dem jeweiligen Geist, würden bald vor dem Gericht stehen. Und Christus werde über jeden Menschen richten, 34 je nachdem, wie dessen Körper zu Lebzeiten gehandelt habe, denn - so das Muspilli (V. 89-93) - jeder Körperteil werde die Taten des jeweiligen Sünders bekennen. Demzufolge stehe dem auferstandenen Leib sowie der Seele ein ewiges Schicksal bevor: entweder der doppelte Tod oder die doppelte Verklärung, wobei der Lucidarius versichert: die seligen selen nement den lip widere, unde verlihet in Got denne siben eren ander selen unde siben an dem libe (S. 31,12f.). In der Behandlung der Auferstehung sind manche Autoren, etwa Heinrich von Neustadt, Hugo von Langenstein, Heinrich von Hesler sowie der Bearbeiter des Elucidarium , wohl systematischer und detaillierter als andere. Keiner aber ist an Komplexität und Subtilität mit Augustinus zu vergleichen. Ich möchte nicht, dass diese Worte als eine herablassende Beurteilung eines auf seine Art anspruchsvollen Textes wie etwa Gottes Zukunft verstanden würden. 35 Aber von keinem von diesen Autoren könnte man behaupten, er habe einen bedeutenden Beitrag zum theologisch-philosophischen Diskurs seiner Zeit angeboten. 36 Sie haben zwar wichtige Fragen behandelt, aber eben nicht alle: Probleme der geschlechtlichen und sozialen Unterschiede im Kontext des Jüngsten Gerichts bleiben beispielsweise unerwähnt. Die Autoren interessieren sich eher für konkret-materielle Aspekte der Auferstehung - wann, wo und wie werden wir auferstehen? und als was bzw. in welcher Form? -, weniger für das metaphysische Verhältnis von Seele und Körper. Ferner werden manche Prinzipien, die ich glaube, aus den Aussagen der Texte abstrahiert zu haben, nicht immer konsequent befolgt: Die Kontinuität zwischen dem gestorbenen und dem auferstandenen Körper etwa kann im Interesse einer Äs- 33 Vgl. ebd., S. 32f. 34 Auch hier: nur prinzipiell, denn z. B. im Linzer Antichrist findet sich die Vorstellung, dass zwei von vier Kategorien der Auferstandenen - die gotis botin einerseits und andererseits die, die Christus mit nide unt mit hazze begegnet sind (die valde boni und valde mali ) - sofort in den Himmel bzw. die Hölle kommen, ohne dass ein Urteil über sie ausgesprochen zu werden braucht; nur die, deren guot vur ir unreht gat , und diejenigen, die, ohne völlige Bösewichte zu sein, nicht insgesamt positiv beurteilt werden können (die non valde boni und non valde mali ), kommen vor das Gericht ( Linzer Antichrist , Str. 61a-63). Für Heinrich von Hesler bilden die oben erwähnten Totgeborenen sowie die wilden lute , die Gott nicht gekannt haben, eine fünfte, zu rettende Kategorie ( Apokalypse , V. 20049-20097). 35 Watson (wie Anm. 8), S. 823, Anm. 4, spricht von „the specifically intellectual content of vernacular religious texts that are often treated with condescension“. In The Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ jedoch beschreibt Nicholas Love mit unmissverständlicher Herablassung sein Laienpublikum als symple creatures Þe whiche as childryn hauen nede to be fedde with mylke of lyƺte doctryne - Watson (ebd., S. 853). 36 Die Literatur, die Warnar (wie Anm. 6), S. 229, beschreibt, war „less technical than in the Scholastic theology of the universities and more directed towards the practices of religious life“. Versehrtheit, Unversehrtheit und der auferstandene Körper 151 thetik, die die Schönheit des auferstandenen Körpers fordert, beiseite geschoben werden. Und doch weisen die Texte dieser Autoren hier und dort, sei es in seelsorgerischen Kompendien oder in erzählerischen Beschreibungen des Jüngsten Tages, deutliche Spuren eines älteren theologisch-philosophischen Diskurses auf. Denn öfters greifen sie stillschweigend auf kirchliche Autoritäten zurück, damit sie uns umso sicherer über Zukünftiges informieren können. Im Mittelalter, und dies gilt selbstverständlich bis heute, wurden gläubige Christen immer wieder, viele sogar täglich, durch die Worte des Credos - Et exspecto resurrectionem mortuorum - an das Schicksal des Körpers nach dem Tod erinnert. Wenn man die Passagen, die ich oben besprochen habe, im Kontext der Leitbegriffe des Sammelbandes - Verletzungen und Unversehrtheit - betrachtet, so ist zu konstatieren, dass sie von Extrem- oder Superlativzuständen handeln. Mit Ausnahme der allerwenigsten Fälle, nämlich des Leibes von manchen Heiligen, wird der menschliche Körper zum Schluss aufs äußerste verletzt: Schon beim Sterben wird er manchmal von wilden Tieren zerrissen, und nach dem Tod zerfällt, zerfließt er auf jeden Fall völlig. Auf dem Fundament der von der Bibel gesicherten Erwartung der Auferstehung jedoch wird im Laufe der Zeit durch eine vorsichtige, doch konsequente, vor allem aber durch Phantasie bereicherte Logik 37 die Vorstellung aufgebaut, wie dies in der Endzeit geschehen soll. Denn dieser atomisierte Körper wird prinzipiell (nur wenige Autoren relativieren das aus moralischer Perspektive) am Jüngsten Tag in einem unversehrten Idealzustand wieder zusammengestellt. Sobald er wieder mit seiner Seele vereinigt ist, kann er den Zweck der Auferstehung erfüllen: vor das Jüngste Gericht zu treten. Und ungeachtet ihrer jeweiligen Gattung - das Thema wird auf die verschiedenste Weise behandelt - mahnen alle besprochenen Texte bzw. Textpassagen explizit oder implizit, dass die Gläubigen diesen unausweichlichen Ereignissen nicht unvorbereitet begegnen sollten. 37 Vgl. Watsons Bemerkung zu Nicholas Love und dessen „interpolation of Gospel narrative with ‘devoute ymaginacions’ of what might have been done or said“ (Watson [wie Anm. 8], S. 853; Hervorhebung im Original). Unfälle und Lawinen 153 Unfälle und Lawinen Verletzungsgefahren mittelalterlicher Reisender im alpinen Bereich Christian Rohr I Einleitung Die Alpen bildeten seit jeher einen Sperrriegel zwischen Italien und Mitteleuropa bzw. Südfrankreich. Schon die Römer fühlten sich dadurch auf natürliche Weise geschützt und waren daher umso überraschter, als im Jahr 218 v. Chr. Hannibal mit seinem Heer die Alpen überschritt und in Italien einfiel. Dass von den angeblich 37 Kriegselefanten offenbar nur einer den Weg bis nach Italien schaffte, spielte für die psychologische Wirkung dieses überraschenden Angriffs wohl keine Rolle. Erst mit der Eroberung und Erschließung der Gebiete an Rhein und Donau wurde für die Römer der Alpenbogen auch zu einem Transitraum, der über ein exzellentes Straßennetz von Süden nach Norden und umgekehrt überschritten werden konnte. Mit dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches verfielen zwar auch die transalpinen Straßen immer mehr, doch wurden sie im Frühmittelalter weiterhin benutzt, zum überwiegenden Teil aber nur mehr zu Fuß oder mit Saumtieren. 1 Durch die Zunahme des Handels und allgemein der Reisetätigkeit im Hochmittelalter waren die alpinen Passrouten vermutlich das gesamte Jahr relativ stark frequentiert. Zahlreiche Reisende mussten die Alpen auf dem Weg von bzw. nach Italien aus verschiedenen Beweggründen überqueren: Könige mit ihrem Gefolge auf dem Weg zur Kaiserkrönung, Händler, aber in einem zunehmenden Ausmaß auch Pilger. Diesem Umstand steht diametral die Tatsache gegenüber, dass detailliertere Schilderungen der Alpenüberquerung selbst vor dem 15. Jahrhundert freilich sehr selten sind. Zahlreiche Reiseberichte beschreiben zwar den Weg bis zum Alpenrand und dann erst wieder nach der Überquerung, erwähnen die Beschwerlichkeiten des Alpenübergangs aber nur ganz kurz oder gar nicht. Alpenüberquerungen mit all ihren Gefahren waren somit ‘Reisen, über die man nicht gerne spricht’. Der deutsche Kulturhistoriker Arno Borst hat schon 1974 darauf hingewiesen, dass die Alpen etwa in der umfassenden Weltchronik Ottos von Freising insgesamt nur zwölf Mal erwähnt werden, davon neun Mal im Zusammenhang mit Alpenüberquerungen (von Hannibal bis zum 12. Jahrhundert). 2 1 Vgl. zum Verkehr auf den Alpenpässen im Frühmittalter im Detail Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter. Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800 , Wien u. a. 2012, S. 114-143. 2 Arno Borst, „Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter“, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 92 (1974), S. 1-46, wiederabgedruckt in: ders., Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters , München/ Zürich 1988, S. 471-527, hier S. 471 [zitiert wird nach der Ausgabe 1988]. Borst 154 Christian Rohr Somit erfahren wir auch nur in ganz wenigen Fällen von den Gefahren, denen die Reisenden in den Alpen ausgesetzt waren. Unfälle auf den steilen Straßen oder vielmehr Wegen müssen wohl häufig gewesen sein, nicht zuletzt aufgrund der geringen Erfahrung der meisten Reisenden mit dem alpinen Gelände und der entsprechend schlechten Ausrüstung. Da auch der Winter als Reisezeit genutzt wurde - dieser war insbesondere bei Händlern gebräuchlich, da der Transport schwerer Waren auf Schlitten und mittels Sackzügen deutlich leichter zu bewerkstelligen war als während der ‘morastreichen’ Jahreszeiten Frühling und Herbst -, waren die Reisenden auf den Passrouten auch einer hohen Lawinengefahr ausgesetzt. Zur Beantwortung der Frage, von welchen Unfällen und Verletzungen im Zusammenhang mit Alpenüberquerungen vom 11. bis zum frühen 16. Jahrhundert die Rede ist 3 bzw. wie diese in den spärlichen Quellen beschrieben werden, soll zunächst in einem einleitenden Abschnitt kurz allgemein auf Lawinen als potenzielle Gefahr für die Reisenden eingegangen werden (II). Damit verbunden folgen einige Überlegungen zum Thema Verwundbarkeit im historisch-soziologischen Diskurs sowie zu wesentlichen Parametern für die Wahrnehmung eines Extremereignisses als Katastrophe (III). Die inhaltliche Analyse selbst erfolgt an ausgewählten Quellentexten (IV), namentlich Lamperts von Hersfeld Bericht in seinen Annales über die Alpenüberquerung König Heinrichs IV. auf dem Weg nach Canossa (Winter 1076/ 1077), der Schilderung zur Reise des Abts Rudolf von Saint-Trond (Sint Truiden) über den Großen St. Bernhard (1128/ 1129) in den Gesta abbatum Trudonensium , weiter der Romfahrt des Klever Kanonikers Arnold Heymerick (1460), zwei Berichten zur Reisetätigkeit an das Konzil von Konstanz, zum einen Leonardo Brunis brieflicher Schilderung seines Wegs über Reschenpass und Arlberg (1414), zum anderen Ulrichs von Richental Chronik des Konstanzer Konzils mit seiner textlichen und bildlichen Beschreibung des Unfalls von (Gegen-)Papst Johannes XXIII. bei seiner Fahrt über den Arlberg. Am Ende steht die literarische Erzählung über Kaiser Maximilian I. in Lawinennot im humanistischen Heldenepos Theuerdank (1517). II Lawinen in den Alpen Lawinen haben seit jeher das Leben und Sterben der Menschen in alpinen Regionen maßgeblich beeinflusst. Für die Beurteilung, welche Lawinen in der Geschichte sich besonders verheerend auswirkten, ist zunächst ein Blick auf die unterschiedlichen Typen und allgemeinen Rahmenbedingungen notwendig, weil diese Faktoren in vielen Fällen dafür entscheidend waren, ob das Ereignis für die ansässige Bevölkerung oder die Durchreisenden unerwartet eintraf. Die eine Hauptgruppe bilden Grundlawinen (Lockerschneelawinen, Schneebretter etc.), die in der Regel einem recht konstant bleibenden Lawinenzug folgen und durch den Verbleib am Boden zwar mächtig sein können, aber in der Regel berechenbar sind, sofern entsprechendes Erfahrungswissen vorhanden ist. Lawinenkatastrophen mit hohen Opferzahlen, die auf solche fasste die wenigen ihm damals bekannten ausführlicheren Berichte zusammen. Dabei fällt auf, dass der größere Teil aus der Zeit vor dem Spätmittelalter stammt. 3 Für eine Fortsetzung dieser Fragestellung bis ins frühe 20. Jahrhundert vgl. Christian Rohr, „Sterben und Überleben. Lawinenkatastrophen in der Neuzeit“, in: Sterben in den Bergen. Realität - Inszenierung - Verarbeitung , hg. von Michael Kasper, Robert Rollinger und Andreas Rudigier, Wien u. a. 2018 (Montafoner Gipfeltreffen 3), S. 135-159. Unfälle und Lawinen 155 Grundlawinen zurückgehen, betreffen daher eher Passrouten oder Fälle, in denen sich Menschen ohne ausreichende Lawinenkenntnis in hochalpinem Gelände aufhielten. Im Gegensatz dazu sind Staublawinen deutlich unberechenbarer. Sie bestehen aus sehr lockerem Schnee, der sich mit zunehmender Geschwindigkeit vom Boden abhebt und schließlich Geschwindigkeiten bis zu 350 km/ h erreicht. Somit werden auch Schutzwälder weitgehend wirkungslos. Staublawinen können auf diese Weise weit ins Tal vordringen und damit an sich sichere Siedlungsgebiete treffen. Die Druckwelle mäht Waldungen nieder, zerstört Häuser und sonstige Gebäude; der stark komprimierte Schnee lässt die Überlebenschancen in der Lawine drastisch sinken, weil auch die Bergungsarbeiten deutlich länger dauern. Der überwiegende Teil der verheerenden Lawinenabgänge in den Alpen geht vermutlich - sofern nicht explizit anders in den Quellen erwähnt - auf Staublawinen zurück. Mehrere Faktoren sind für Lawinenabgänge entscheidend. Beträgt die Neigung des Geländes zwischen 35 und 55 Grad, so kann hier eine Lawine besonders gut Geschwindigkeit aufnehmen; bei noch steileren Hängen sind hingegen die Schneemassen in der Regel zu gering, um sich zu Schadenslawinen zu entwickeln. Die Schneemenge und -struktur spielen ebenso eine wesentliche Rolle: So lösen sich Lawinen vorrangig, wenn sich mehrere Schneeschichten nicht oder nur unzureichend miteinander verbinden. Wetterphänomene wie Wind oder Sonneneinstrahlung sind ebenfalls mitverantwortlich dafür, ob und wann sich Lawinen im Abrissgebiet lösen können. Schließlich hat auch die Vegetation, etwa Waldbestand, einen entscheidenden Einfluss darauf, ob sich Lawinen bilden können bzw. welche Bahn sie einnehmen. 4 Welche Gebiete in den Alpen von Lawinen besonders betroffen sind, hängt in erster Linie von den oben geschilderten Faktoren ab. Tendenziell sind dadurch die höher gelegenen Regionen in den Westalpen stärker gefährdet als jene der Ostalpen. Die meisten Nachrichten von Schadenslawinen und damit über Verletzte und Tote stammen daher von Savoyen (Frankreich) über den gesamten Schweizer Alpenraum bis nach Vorarlberg, Nord- und Südtirol. Die Ostalpen östlich des Landes Salzburg reichen nur mehr wenig über die Baumgrenze und sind allgemein stärker bewaldet als die höher gelegenen Gebiete, insbesondere westlich der Linie Innsbruck-Bozen. III Katastrophenwahrnehmung, Vulnerabilität, Risikogruppen Im Sinne einer kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Unfällen und Lawinen im Zuge von Alpenüberquerung stehen die Wahrnehmung, Deutung, Bewältigung und Erinnerung der Ereignisse im Mittelpunkt. Gefragt wird dabei insbesondere, welche Faktoren zu einer Wahrnehmung als Katastrophe (oder nicht) bzw. zu einer höheren bzw. niedrigeren Verwundbarkeit (Vulnerabilität) führten. Den meisten Reisenden war gemeinsam, dass sie aus ihrer Heimat Lawinen nicht oder höchstens von Erzählungen kannten, ja selbst hochalpines Gelände war vielen Reisenden aus eigener Anschauung völlig unbekannt. Es war somit eine weitgehend unberechenbare Gefahr, der sich diese Menschen bei den Alpenüberquerungen auszusetzen hatten. Dies beinhaltete auch, dass sie in der Regel weder über die entsprechende Ausrüstung verfügten, um sich sicher auf Schnee und Eis fortzubewegen, noch über das Wissen, das Risiko 4 Zur Entstehung von Lawinen vgl. ausführlich Walter Ammann, Othmar Buser und Usch Vollenwyder, Lawinen , Basel u. a. 1997, S. 59-92; Martin Engler und Jan Mersch, Die weiße Gefahr - Schnee und Lawinen , Sulzberg 2001, S. 252-273. 156 Christian Rohr entsprechend abschätzen zu können. 5 Eine Reise über die Alpen wurde somit automatisch zum unkalkulierbaren Abenteuer und brachte nicht nur die Menschen, sondern auch deren Reittiere in akute Lebensgefahr, mitunter auch die ortsansässigen Bergführer. Die Frage, inwiefern die Menschen mit einer Lawine und ihrem Ausmaß rechnen konnten, also der Grad der Vorbereitetheit bzw. umgekehrt der Unerwartetheit, ist generell ein wesentlicher Faktor, ob ein Ereignis schließlich zur persönlichen oder gar gemeinschaftlichen Katastrophe wurde. Das auf die Gefahrenregion bezogene Erfahrungswissen ( local knowledge ) spielt dabei eine entscheidende Rolle, ist aber höchstens für die lokalen Bergführer und nicht für die von außen kommenden Reisenden anzunehmen. 6 Eng verbunden mit der Katastrophenwahrnehmung ist die Frage nach der Vulnerabilität (Verletzlichkeit, Verwundbarkeit) einzelner oder einer Gesellschaft. Der Vulnerabilitätsbegriff in der aktuellen (Umwelt-)Geschichtsforschung ist dabei stark von soziologischen Diskursen geprägt, etwa von Ulrich Becks Risikogesellschaft (1986) 7 oder Niklas Luhmanns Risiko und Gefahr (1990) 8 ; auch in der aktuellen Risikosoziologie, die sich mit extremen Naturereignissen auseinandersetzt, bleibt das Konzept der Verwundbarkeit nach wie vor zentral. 9 Auf Seiten der Geschichtswissenschaft prägte der neuseeländische Historiker Greg Bankoff im Rahmen seines stark historisch-anthropologischen Zugangs den Begriff Cultures of Disaster (2003), indem er damit den Umgang der Menschen auf den Philippinen mit den zahlreichen und mannigfachen Extremereignissen beschrieb. 10 Obwohl diese Inselgruppe weltweit die vielleicht höchste Dichte an extremen Naturereignissen aufweist, von schweren Erdbeben und Tsunamis über Taifune bis hin zu schweren Überschwemmungen und damit verbundenen Hangrutschungen, so bleibt die Vulnerabilität vergleichsweise gering, weil die Anpassung an diese Situationen im Alltagsleben allgegenwärtig ist, in technischer Hinsicht ebenso wie 5 Zum Risikobewusstsein und Risikomanagement im Mittelalter angesichts von Lawinen vgl. Christian Rohr, „Risikobewusstsein und Risikomanagement gegenüber der Lawinengefahr in hochalpinen Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“, in: Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit , hg. von Benjamin Scheller, München u. a. 2019 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 99), S. 175-194. 6 Vgl. zu den wesentlichen Parametern für eine Katastrophenwahrnehmung ausführlich Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit , Köln u. a. 2007 (Umwelthistorische Forschungen 4), S. 55-62, hier besonders S. 59f. zum Aspekt der Unerwartetheit; ders., „Naturkatastrophen als Gegenstand einer kulturgeschichtlich orientierten Umweltgeschichte“, in: Naturkatastrophen in der Geschichte. Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung von extremen Naturereignissen in Risikokulturen , hg. von dems., Wien 2008 (Historische Sozialkunde 2008/ 2), S. 2-13, hier S. 6f. Neben dem Faktor der Unerwartetheit spielen auch der Mangel an Hilfskräften sowie an Erklärungsmustern und ‘sozialer Gewissheit’, die direkte oder indirekte Betroffenheit, eine Häufung schwerer Naturereignisse in kurzer Zeit, symbolische Konnotationen, etwa biblische Vorbilder, sowie das Vorhandensein einer allgemeinen Krisenstimmung eine Rolle. 7 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne , Frankfurt a. M. 22 2015 (Edition Suhrkamp 1365). 8 Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr , Opladen 1990 (Soziologische Aufklärung 5). 9 Vgl. etwa Martin Voss, „The vulnerable can’t speak. An integrative vulnerability approach to disaster and climate change research“, in: Behemoth. A Journal of Civilisation 1/ 3 (2008), S. 39-56; sowie konkret zu Lawinen Bernd Rieken, Schatten über Galtür? Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Ein Beitrag zur Katastrophenforschung , Münster u. a. 2010. 10 Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazard in the Philippines , London/ New York 2003. Allgemein zu seinem Vulnerabilitätskonzept vgl. auch den Sammelband Mapping Vulnerability. Disasters, Development & People , hg. von Greg Bankoff, Georg Frerks und Dorothea Hilhorst, London 2007. Unfälle und Lawinen 157 bezüglich der regionalen Solidarität und einer gewissen mentalen Gelassenheit, die zwischen Fatalismus und fast humoristischem Umgang mit den Naturereignissen schwankt. Ähnliche ‘Risikokulturen’ sind auch für vormoderne Gesellschaften Europas rekonstruierbar, etwa im Umgang mit immer wiederkehrenden Überschwemmungen. 11 In jüngster Zeit wurde die Frage der Vulnerabilität insbesondere in Studien zur historischen Hungerforschung eingebracht, d. h. inwiefern sich die grundsätzliche Verfügbarkeit bzw. der tatsächliche Zugang zu Nahrung in Krisenzeiten auf die Verwundbarkeit einer Gesellschaft oder einzelner Teile davon auswirkt. 12 Umgekehrt wiesen die Reisenden in den Alpen eine verhältnismäßig hohe Verwundbarkeit auf. Diese war durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren gegeben: Dazu gehören die schon erwähnte Unvorbereitetheit bzw. Unachtsamkeit, die mitunter mangelnde oder erst spät einsetzende Adaption in praktischer und mentaler Hinsicht, aber auch die konkreten Wunden, welche die Reisenden mit nach Hause nahmen. Diese Verwundung konnte körperlicher Natur sein, etwa in Form von mitunter lebenslang wirksamen Verletzungen aller Art, aber auch die nachhaltig prägende Erinnerung an die extremen Erlebnisse bei der Alpenüberquerung. Im Extremfall, etwa wenn größere Gruppen schwer verletzt oder gar getötet wurden, konnte dies auch zu kurz- oder gar langfristigen sozioökonomischen bzw. demografischen Einschnitten führen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Lawinengefahr bzw. der Verletzlichkeit lassen sich mehrere Risikogruppen voneinander unterscheiden. 13 Die frühesten Nachrichten, die bis ins 11. und 12. Jahrhundert zurückreichen, erwähnen vor allem Reisende auf den hochalpinen Passrouten im Winter. Derartige Berichte von Alpenüberquerungen durch Pilger und Kaufleute werden ab dem 15. Jahrhundert signifikant häufiger. Auch durchziehende Heere wurden ab dem späten 15. Jahrhundert immer wieder Opfer von Lawinenabgängen. Bergleute in hochalpinen Erzabbaugebieten stellen eine zweite Risikogruppe dar. Insbesondere die Region um den Schneeberg in Südtirol, wo ab dem 13. Jahrhundert Blei- und Silberbergbau bezeugt ist, wurde mehrfach von schweren Lawinenabgängen mit zahlreichen Toten getroffen. Die Lawinengefahr betraf sowohl die hoch gelegenen Bergmannssiedlungen 11 Vgl. ausführlich Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 6), S. 279-327 (am Beispiel des Umgangs mit Überschwemmungen an den Flüssen des Ostalpenraums); sowie zuletzt Christopher M. Gerrard und David N. Petley, „A Risk Society? Environmental Hazards, Risk and Resilience in the Later Middle Ages in Europe“, in: Natural Hazards 69 (2013), S. 1051-1079. 12 Vgl. für einen aktuellen Forschungsüberblick zu Mittelalter und Neuzeit Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität , hg. von Dominik Collet, Thore Lassen und Ansgar Schanbacher, Göttingen 2012; Philip Slavin, „Climate and Famines. A Historical Reassessment“, in: WIRES Climate Change 7 (2016), S. 443-447, doi: 10.1002/ wcc.395, vgl. https: / / www.researchgate.net/ publication/ 303431968_Climate_and_famines_A_historical_reassessment (Stand 15.9.2019); Famines During the ‘Little Ice Age’ (1300-1800). Socionatural Entanglements in Premodern Societies , hg. von Dominik Collet und Maximilian Schuh, Cham 2018. Zu den großen Hungerkrisen des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. zuletzt Dominik Collet, „Predicting the Past. Integrating Vulnerability, Climate and Culture during Historical Famines“, in: Grounding Global Climate Change. Contributions from the Social and the Cultural Sciences , hg. von Julia Tischler und Heike Gresche, Dordrecht 2014, S. 39-58; ders., Die doppelte Katastrophe. Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770-1772 , Göttingen 2019 (Umwelt und Gesellschaft 18); Daniel Krämer, ‘Menschen grasten nun mit dem Vieh’. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/ 17. Mit einer theoretischen und methodischen Einführung in die historische Hungerforschung , Basel 2015 (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 4). 13 Vgl. dazu detaillierter Rohr (wie Anm. 5). 158 Christian Rohr als auch die Stolleneingänge und speziell auch die Wege, die zwischen diesen beiden Orten zurückzulegen waren, zumal die Zechen meist oberhalb der Baumgrenze lagen. Eine dritte und größte Risikogruppe bilden die Bewohner hochalpiner Siedlungen, die zwar an Orten errichtet wurden, die in den meisten Jahren als lawinensicher galten, doch mitunter von schweren Staublawinen getroffen wurden. Dieses Risiko nahm vor allem seit dem 13. und 14. Jahrhundert zu, als die Walser aus dem Oberwallis (Schweiz) kommend sich in alle Richtungen, vornehmlich aber nach Osten ausdehnten und dort oft oberhalb der Baumgrenze siedelten. Erst im 19. Jahrhundert - und somit deutlich nach der Zeit, die im Fokus dieses Beitrags steht - entstanden neue Risikogruppen, die heute den überwiegenden Teil der Lawinentoten ausmachen: Damals wurden die Alpen als touristisches Ziel entdeckt und zwar nicht nur im Sommer, sondern gegen Ende des Jahrhunderts auch im Winter. Die Gefährdung durch Lawinen betraf insbesondere die Verkehrswege, d. h. hochalpine Straßen und Eisenbahnlinien. Lawinenopfer im Zusammenhang mit Bergtouren sind abgesehen von herunterstürzenden Gletscherabbrüchen erst in den 1920er-Jahren belegt. Waren militärische Einheiten bis zum 19. Jahrhundert nur dann mitunter von Lawinen bedroht, wenn sie im Frühling oder Herbst alpine Pässe überquerten, so änderte sich dies mit dem Ersten Weltkrieg. Quer durch die Dolomiten zog sich ab 1915 eine hochalpine Frontlinie zwischen Italien und Österreich-Ungarn, die selbst im Winter gehalten wurde. Als im Winter 1916/ 1917 extrem viel Schnee fiel, ganz besonders um den 13. Dezember 1916, gingen vom Ofenpass in Graubünden bis zum oberen Isonzotal im heute italienisch-slowenischen Grenzgebiet viele hundert Lawinen nieder, die mehrere tausend Soldaten in den Tod rissen. 14 Allerdings ist die Geschichte des Umgangs mit der Lawinengefahr - seit 2018 auch als schweizerisch-österreichisches Gemeinschaftsprojekt von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt - durchaus nicht nur vom Sterben geprägt: Seit den frühesten Nachrichten über Lawinenunfälle aus dem 12. Jahrhundert wird immer wieder auch von lebend Geborgenen berichtet, was darauf schließen lässt, dass v. a. die lokale Bevölkerung über wirkungsvolle Mittel verfügte, schnell rettend zur Stelle zu sein. Aufgrund des zeitlichen Schwerpunkts auf das Mittelalter und die beginnende Neuzeit sowie angesichts des begrenzten Rahmens wird im Folgenden nur auf die Risikogruppe der Alpenreisenden fokussiert, wobei durchziehende Heere mit inbegriffen sind. IV Lawinengefahr und Unfälle entlang hochalpiner Passrouten Wie erwähnt sind aussagekräftige Berichte über Alpenüberquerungen vor dem 15. Jahrhundert sehr selten. Eine der wichtigsten Ausnahmen bildet dabei die ausführliche Schilderung über die Winterüberquerung der Alpen durch König Heinrich IV. auf seinem Weg nach Canossa bei Lampert von Hersfeld (1077). Am Beginn des Investiturstreits war Heinrich IV. nach dem Bann durch Papst Gregor VII. unter Zugzwang und zog daher im Winter von Savoyen 14 Vgl. im Detail Yuri Brugnara u. a., Dezember 1916: Weisser Tod im Ersten Weltkrieg , Bern 2016 (Geographica Bernensia G91), auch online unter http: / / www.geography.unibe.ch/ dienstleistungen/ geographica_bernensia/ online/ gb2016g9102/ index_ger.html (auch in englischer und italienischer Sprache verfügbar; letzter Zugriff 15.9.2019) sowie zu den Lawinen im Hinterland Fabian Blum, ‘Von Lawinengefahr erlöse uns, o Herr! ’ Der Lawinenwinter 1916/ 17 in Tirol und Trentino abseits der Front , Bern 2018 (ungedr. Masterarbeit). Unfälle und Lawinen 159 über den 2084 Meter hohen Mont Cenis ins Piemont. Lampert von Hersfeld befand sich im Gefolge Heinrichs und konnte somit seinen Bericht ein Jahr nach den Ereignissen als Augenzeuge verfassen: 15 Hyemps erat asperrima, et montes, per quos transitus erat, in inmensum porrecti et pene nubibus cacumen ingerentes ita mole nivium et glaciali frigore obriguerant, ut per lubricum precipitemque decessum nec equitis nec peditis gressum sine periculo admitterent. […] Igitur quosdam ex indigenis locorum peritos et preruptis Alpium iugis assuetos mercede conduxit, qui comitatum eius per abruptum montem et moles nivium precederent et subsequentibus quaqua possent arte itineris asperitatem levigarent. His ductoribus cum in verticem montis magna cum difficultate evasissent, nulla ulterius progrediendi copia erat, eo quod preceps montis latus et, ut dictum est, glaciali frigore lubricum omnem penitum decessum negare videretur. Ibi viri periculum omne viribus evincere conantes, nunc manibus et pedibus reptando, nunc ductorum suorum humeris innitendo, interdum quoque titubando per lubricum gressu cadendo et longius volutando, vix tandem aliquando cum gravi salutis suae periculo ad campestria pervenerunt. Reginam et alias, quae in obsequio eius erant, mulieres boum coriis impositas duces itineris conductu praeeuntes deorsum trahebant. Equorum alios per machinas quasdam summittebant, alios colligatis pedibus trahebant, ex quibus multi, dum traherentur, mortui, plures debilitati, pauci admodum integri incolumesque periculum evadere potuerunt. (‘Der Winter war äußerst streng, und die sich ungeheuer weit hinziehenden und mit ihren Gipfeln fast bis in die Wolken ragenden Berge, über die der Weg führte, starrten so vor ungeheuren Schneemassen und Eis, daß beim Abstieg auf den glatten, steilen Hängen weder Reiter noch Fußgänger einen Schritt tun konnten. […] Daher mietete er [König Heinrich IV.] um Lohn einige ortskundige, mit den schroffen Alpengipfeln vertraute Eingeborene, die vor seinem Gefolge über das steile Gebirge und die Schneemassen hergehen und den Nachfolgenden auf jede mögliche Weise die Unebenheiten des Weges glätten sollten. Als sie unter deren Führung mit größter Schwierigkeit bis auf die Scheitelhöhe des Berges [Mont Cenis] vorgedrungen waren, da gab es keine Möglichkeit weiterzukommen, denn der schroffe Abhang des Berges war, wie gesagt, durch die eisige Kälte so glatt geworden, daß ein Abstieg hier völlig unmöglich schien. Da versuchten die Männer, alle Gefahren durch ihre Körperkraft zu überwinden: sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer, manchmal auch, wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter, schließlich aber langten sie doch unter großer Lebensgefahr endlich in der Ebene an. Die Königin und die andren Frauen ihres Gefolges setzte man auf Rinderhäute, und die dem Zug vorausgehenden Führer zogen sie darauf hinab. Die Pferde ließen sie teils mit Hilfe gewisser Vorrichtungen hinunter, teils schleiften sie sie mit zusammengebundenen Beinen hinab, von diesen aber krepierten viele beim Hinunterschleifen, viele wurden schwer verletzt, und nur ganz wenige konnten heil und unverletzt der Gefahr entrinnen.’) Die Tendenz des Berichts ist klar: Heinrich und sein Gefolge müssen in der Not einen Gewaltmarsch zur Rettung des Reichs auf sich nehmen, der durch die Schilderung der Details zum Alpenübergang noch überhöht wird. Die Verwundbarkeit der Reisegruppe war eindeutig 15 Lampert von Hersfeld, Annales ad a. 1077 , hg. von Oswald Holder-Egger, Hannover/ Leipzig 1894 (MGH, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum [38]), Nachdruck 1956, S. 286f. Übersetzung: Lampert von Hersfeld, Annalen , neu übersetzt von Adolf Schmidt, Darmstadt 4 2000 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 13), S. 397-399. Zur Stelle vgl. im Detail auch Borst (wie Anm. 2), S. 501f. 160 Christian Rohr hoch, da das gesamte königliche Gefolge nicht gebirgstauglich war. Insbesondere die Pferde kamen zu Schaden; sie galten wohl damals als wertvoller als die Dienerschaft. Bergführer konnten den königlichen Tross schließlich einigermaßen sicher ins Tal geleiten. Der vielleicht aussagekräftigste Bericht über den Umgang mit dem Lawinenrisiko entlang hochalpiner Passrouten ist in den Gesta abbatum Trudonensium aus Saint-Trond (Sint-Truiden) im heutigen Belgien enthalten; er schildert die Alpenüberquerung des Abtes Rudolf von Saint-Trond auf dem Weg nach Rom im Jahr 1127 sowie zum Rückweg 1129. Offenbar mussten Schwierigkeiten im Kloster nach einem Abtswechsel geklärt werden. Mitten im Winter, am 1. Januar 1129, mussten er und seine Begleiter den Großen St. Bernhard ( mons Iovis ) überqueren. Dieser Pass bildete schon in der Römerzeit einen der wichtigsten Übergänge über die Westalpen und verbindet mit einer Scheitelhöhe von 2473 Metern das Wallis mit dem Aostatal. Der Bericht geht zunächst auf die Zahl und die Gefahren der Reisenden allgemein ein: 16 In reditu autem suo […] increscentibus hyemalibus periculis Augustam civitatem transeuntes, ad villulam quae est in pede montis Iovis, quae vocatur Restopolis, cum difficultate morti proxima pervenerunt. Ubi nec ante ire valentes nec retro propter altissimos nivium aggeres, octavas Domini egerunt, et post aliquot dies premonstrata eis a preducibus maronibus difficillima via - marones enim appellant viarum premonstratores - subactis duobus miliariis Theutonicis, ad Sancti Remigii villulam in ipso Iovis monte pervenerunt. In quo loco tamquam in mortis faucibus coagulati, manebant nocte et die sub periculo mortis. Angustia villulae tota completa erat peregrinorum multitudine. Ex altissimis et scopulosis rupibus ruebant frequenter intolerabiles omni opposito nivium aggeres, ita ut aliis iam collocatis, aliis adhuc supersedentibus mensis domos iuxta, eos prorsus obruerent, et inventos in eis quosdam suffocarent, quosdam contritos inutiles redderent. Sub hac iugi morte aliquot dies in infausta villula illa fęcerunt. (‘Auf ihrer Rückkehr [aus Rom] […] kamen sie, als die winterlichen Gefahren schon zunahmen, durch die Stadt Aosta und erreichten unter Todesgefahr das Dorf Restopolis [Etroubles] am Fuße des Großen St. Bernhard. Wegen der überaus großen Schneemassen war es ihnen dort weder möglich vorwärts zu gehen noch umzukehren. Sie verbrachten dort die Oktav des Weihnachtsfests [1. Januar 1129]; nach einigen Tagen zeigten ihnen die marones als Führer einen sehr beschwerlichen Weg - marones werden die wegekundigen Bergführer nämlich genannt -, auf dem sie nach zwei deutschen Meilen zum Dorf Saint-Rhémy am Großen St. Bernhard gelangten. An diesem Ort blieben sie, gleichsam in einem Todesschlund zusammengepfercht, eine Nacht und einen Tag unter Todesgefahr. Die Enge des Dorfes wurde durch die Menge der Pilger noch gesteigert. Von den überaus hohen und felsigen Hängen brachen häufig Lawinen herunter, die durch nichts aufzuhalten waren und zwar so, dass die Lawinen sie völlig verschütteten, als sich die einen schon zu Tisch gesetzt hatten, die anderen noch dem Mahl fernblieben und sich in der Nähe der Häuser aufhielten. Man fand einige in den Lawinen erstickt, einige trugen schwere, bleibende Verletzungen davon. Unter diesem Todesjoch verbrachten sie mehrere Tage in jenem Unglück bringenden Dorf.’) Die Bemerkung, dass der Ort von Fremden überfüllt war, zeigt, dass wohl zahlreiche Menschen selbst im Winter die beschwerliche Alpenreise auf sich nehmen mussten. Ohne die einheimischen Bergführer vor Ort - mar(r)ones bzw. heute noch Marroniers genannt - wä- 16 Gesta abbatum Trudonensium, Continuatio 12, 6 ad a. 1128-1129 , hg. von Rudolf Koepke, Hannover 1852 (MGH, Scriptores 10), Nachdruck Stuttgart/ New York 1963, S. 307. Erstübersetzung: Chr. R. Vgl. zur Stelle auch Colin Fraser, Lawinen - Geißel der Alpen , mit einem Vorwort von André Roch, Rüschlikon-Zürich u. a. 1968, S. 23f.; Borst (wie Anm. 2), S. 497f. Unfälle und Lawinen 161 ren sie der Gefahr wohl vollkommen schutzlos ausgeliefert. Auf das Drängen der Reisenden sondierten schließlich einige marones den Weg zur Passhöhe. Der weitere Bericht schildert in einzigartiger Detailliertheit, wie sich die Lawinengefahr weiter zuspitzte, aber auch, wie sehr das Risikomanagement unter den marones schon ausgebildet war, sie aber dennoch nicht vor Verletzungen und gar Todesfällen bewahren konnte: 17 Tunc sponte applicantes se peregrinis montis marones, gravem indicunt eis mercedem, ut temptatam viam aperirent, pedites peregrini eis sequerentur, equi post illos, sicque trita via planaretur dominis qui delicatiores retro venirent. Itaque marones capitibus propter nimium frigus filtro pilleatis, manibus villose cyrothecatis, pedibus coturnis munitis atque subtus a planta ferreis aculeis propter lubricam glaciem armatis, hastas longas ad palpandam sub alta nive viam in manibus ferentes, solitam audenter ingressi sunt viam. Summum mane erat, atque cum summo timore et tremore sancta mysteria peregrini celebrantes atque sumentes, ad instantis mortis ingressum se preparabant. Certabant, quis eorum prior sacerdoti confessionem suam dare posset, et cum unus non sufficeret, passim per aecclesiam invicem sibi sua peccata confitebantur. Cumque haec in aecclesia cum summa devotione agerentur, percrepuit per plateam luctuosissimus luctus; nam marones per ordinem de villa egressos subito lapsus rupibus instar montis densissimus nivis globus decem involvit, et usque ad inferni locum visus est extulisse. Qui huius infausti mysterii aliquando conscii fuerant, precipiti cursu ad hunc homicidam locum velocissime ruerant, et effossos marones, alios exanimes in contis referebant, alios semivivos, alios contritis ossibus in manibus trahebant, illa maritum, illa fratrem, ille et ille illum et illum se amisisse clamitabant. Tam horribili occursu peregrini, exeuntes de aecclesia, exterriti paululum hesitaverunt, et idem timentes sibi futurum, quantocius Restopolim refugerunt. De difficultate viae nulla ut prius questio, plana videbatur eis pro effugiendo mortis periculo. Ibi acta epyphania Domini, et expectato sereno aere, conductis maronibus mortiferam villulam repetunt, et timore mortis pedibus velocitatem prebente, die illa usque ad medium montis modo reptando, modo ruendo, vix tandem perveniunt. (‘Da boten sich freiwillig marones den Pilgern als Bergführer an, verlangten aber von ihnen einen hohen Lohn, dass sie den eingeschlagenen Weg freimachen. Die Pilger sollten ihnen zu Fuß folgen, hinter ihnen dann die Pferde und so würde der Weg für die Herren ausgetreten, die zu sehr geschwächt umkehren sollten. Wegen der allzu großen Kälte des Schnees trugen die marones am Kopf Tücher aus Filz, an den Händen Wollhandschuhe, an den Füßen hohe Stiefel, die unten an der Sohle mit Eisennägeln wegen der Glätte des Eises versehen waren; außerdem trugen sie in ihren Händen lange Lanzen, um unter dem hohen Schnee den Weg zu ertasten. So beschritten sie mutig den gewohnten Weg. Es war der letzte Morgen und die Pilger feierten unter höchster Angst und unter Zittern die heilige Messe und empfingen die Kommunion; so bereiteten sie sich auf den bevorstehenden Tod vor. Sie stritten, wer von ihnen zuerst dem Priester seine Beichte ablegen könne, und als ob eine Beichte nicht genüge, bekannten sie sich in der Kirche ohne Unterschied gegenseitig ihre Sünden. Als sie das in äußerster Demut in der Kirche taten, erhob sich auf der Straße traurigstes Wehklagen. Denn nachdem die marones in einer Reihe das Dorf verlassen hatten, verschüttete plötzlich eine dichte Schneekugel [Lawine], die so groß wie ein Berg vom Hang herunter glitt, zehn Bergführer und schien sie bis zur Unterwelt mit sich gerissen zu haben. Die dieses unglückliche Schauspiel gerade mitbekamen, stürzten schnellstens in raschem Lauf zu diesem tödlichen Ort und bargen die verschütteten marones : die einen fanden sie schon leblos an ihren langen Stangen, die anderen halb am Leben; wieder andere mit gebrochenen 17 Gesta abbatum Trudonensium (wie Anm. 16), S. 307. 162 Christian Rohr Knochen zogen sie an den Händen weg. Die eine beklagte den Verlust des Ehemanns, die andere den Bruder, dieser und jener den einen oder anderen. Aufgrund dieses so schrecklichen Zwischenfalls verließen die Pilger verunsichert die Kirche und zögerten noch ein wenig in der Angst, dass ihnen dasselbe bevorstehen würde, flohen aber dann rasch nach Etroubles. Über die Beschwerlichkeit des Weges gab es keine Klagen mehr wie früher, er erschien ihnen flach, um der Todesgefahr zu entrinnen. In Etroubles verbrachten sie das Fest der Epiphanie des Herrn [6. Januar 1129], dann kam das erhoffte klare Wetter und sie brachen unter der Führung der marones wieder zum todbringenden Dorf auf. Die Todesangst beschleunigte ihre Schritte, sodass sie an jenem Tag schließlich mit großer Mühe bis zur Passhöhe kamen, teils am Boden kriechend, teils rutschend.’) Die ortskundigen Bergführer waren somit gut für ihre Tätigkeit ausgerüstet und auch auf den Ernstfall vorbereitet. Man wird daher davon ausgehen können, dass die Alpenbewohner des Mittelalters schon relativ genau über Lawinengefahren Bescheid wussten, auch wenn sie, wie im konkreten Fall, bei ihrer Erkundungstour selbst Opfer der Lawine wurden. Aufgrund der Wichtigkeit der Dienste, welche die marones den zahlreichen Reisenden anboten, ist davon auszugehen, dass sie ihre Tätigkeit mit Billigung und wohl auch ausdrücklicher Unterstützung der lokalen Autoritäten, namentlich des Herzogs von Aosta, durchführten. Es ist auch recht plausibel, dass sie untereinander korporativ organisiert waren, auch was das Netz an Hilfeleistungen im Katastrophenfall betraf, wie auch die raschen Bergungsmaßnahmen zeigen. In jedem Fall ist festzuhalten, dass die Hilfe für Verschüttete offensichtlich rasch und professionell erfolgte. Eine genauere Untersuchung der marones im Mittelalter, gerade auch unter dem hier untersuchten Aspekt des Risikomanagements, stellt aber noch ein Desiderat der Forschung dar. Etwas besser erforscht ist die Bedeutung der Passhospize. Um 1050 gründete der Heilige Bernhard, ein Archidiakon und Wanderprediger aus Aosta, das Hospiz auf dem nach ihm benannten Großen St. Bernhard. 1125 ist ein Hospiz St. Nikolaus auf dem Großen St. Bernhard auch urkundlich bezeugt. Es wurde von regulierten Chorherren sowie Laien geführt und war für Jahrhunderte der wohl höchstgelegene, durchgehend bewohnte Platz Europas. Allgemein erachtete man dieses und andere Passhospize als Orte täglich gelebter caritas an den Pilgern und sonstigen Reisenden. Auch an vielen anderen Alpenpässen entstanden in der Folge ähnliche Hospize - im Ostalpenraum auch Tauernhäuser genannt -, die den Reisenden Herberge und Schutz vor Naturgefahren boten, etwa am Kleinen St. Bernhard, am Mont Cenis, am Septimerpass, am Gotthardpass sowie in den Ostalpen am Semmering (Spital am Semmering), am Pyhrnpass (Spital am Pyhrn) oder in den Hohen Tauern. 18 Die berühmten Lawinenhunde am 18 Eine umfassende, vergleichende Darstellung zur Rolle der Passhospize im Rahmen des Risikomanagements bzw. der Versorgung von Verunfallten und Verletzten fehlt bislang, doch ist hier auf einige Fallstudien hinzuweisen, etwa Hans Erb und Maria-Letizia Boscardin, Das spätmittelalterliche Marienhospiz auf der Lukmanier-Passhöhe. Ein archäologischer Beitrag zur Geschichte alpiner Hospize , Chur 1974 (Schriftenreihe des Rätischen Museums Chur 17); Mario Fransioli, Der St.-Gotthard und seine Hospize , Bern 1982 (Schweizerische Kunstführer, Serie 32/ 317-318); Hanna Molden, Arlberg. Pass, Hospiz und Bruderschaft. Von den historischen Anfängen bis zur Gegenwart , Wien/ München 1986; Daniel Thurre und Gaëtan Cassina, L’hospice du Grand-St-Bernard. Son église, son trésor , Bern 1994 (Guides de monuments suisses, Série 56/ 556-557); Robert Büchner, St.-Christoph am Arlberg. Die Geschichte von Hospiz und Taverne, Kapelle und Bruderschaft, von Brücken, Wegen und Strassen, Säumern, Wirten und anderen Menschen an einem Alpenpass (Ende des 14. bis Mitte des 17. Jahrhunderts) , Wien 2005. Für den hier gewählten Fokus ist allerdings nur die letztgenannte Studie wirklich ergiebig. Unfälle und Lawinen 163 Großen St. Bernhard, beginnend mit dem in der Schweiz legendären Barry (1800-1814), die vom Passhospiz aus bei der Bergung von Lawinenopfern halfen, sind allerdings eine deutlich jüngere Entwicklung. 19 Berichte wie denjenigen zu Rudolf von Saint-Trond finden sich bis zum 15. Jahrhundert ansonsten praktisch gar nicht. Erst dann werden sie etwas zahlreicher, insbesondere auch in Berichten zu Pilgerreisen nach Rom und/ oder ins Heilige Land. Im Zentrum dieser Berichte steht aber in der Regel mehr das persönliche Empfinden der Gefahr als konkrete Aussagen zu Risikobewusstsein und Risikomanagement. Am ehesten kann hier noch die Epistola Ludovici de Confluencia de successu Romani itineris von 1460 zur Romfahrt des Klever Kanonikers Arnold Heymerick (vor 1424-1491) herangezogen werden, die ebenfalls über den vielen Schnee und die Lawinengefahr sowie die Rolle der Bergführer am Großen St. Bernhard berichtet. 20 Heymerick entstammte einer angesehenen klevischen Beamtenfamilie. Nach kurzen Aufenthalten an der Universität Köln und am Basler Konzil war er zunächst als Abbreviator an der Kurie tätig, seit 1459 als Dechant in Xanten, danach seit 1461 als Kanoniker in Deventer und 1461-1472 auch als Kanoniker am Utrechter Dom. Im Jahr 1460 führte er eine klevische Gesandtschaft zu Papst Pius II. an. Heymerick verfasste seinen Reisebericht im Namen seines Begleiters Ludwig von Koblenz an dessen Bruder, den Xantener Stiftschüler Peter von Koblenz, gedacht als belehrend-erbauliche Erzählung in Dialogform zur Verbesserung der Lateinkenntnisse des Schülers. Der Bericht hat einen humanistischen Anstrich, doch ist das Latein höchstens mittelmäßig. Die Schilderung geht auf den Weg von Brüssel bis Genf nur kursorisch ein; der Abschnitt von Aosta nach Rom ist sogar gänzlich ausgespart. Im Zentrum stehen vielmehr das persönliche Erleben und die Emotionen des Flachländers Heymerick, weniger die konkrete Route über den Pass oder die Berggipfel; ja es wird keine einzige Örtlichkeit beim Namen genannt. Zum persönlichen Empfinden bei der Passüberquerung im November heißt es etwa: me tantus concutit tremor timorque . 21 Breiten Raum nimmt die Beschreibung der Gefahren ein. Im Sturm und Schneegestöber würden insbesondere die Pferde, Esel und Maultiere zu ‘Märtyrern’. 22 Todesangst macht sich breit, als selbst die örtlichen Führer vom Weg abkommen. 23 Schließ- 19 Vgl. dazu ausführlich Marc Nussbaumer, Barry vom Grossen St.- Bernhard , Bern 2000; Anja Ebener, Die Hospiz-Bernhardiner - weit mehr als ein Mythos. Die Bernhardiner vom Grossen Sankt Bernhard , Bern 2011. 20 Der Bericht von Arnold Heymerick wurde zuerst ediert und übersetzt bei F. Schröder, „Die Reise des Klevers Arnold Heymerick über den Grossen St. Bernhard (1460)“, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 102 (1918), S. 40-81. Der Abschnitt zur Alpenüberquerung ist aufbauend auf Schröders Edition und Übersetzung gekürzt wiederabgedruckt in: Quellen zur Geschichte des Reisens im Spätmittelalter , ausgewählt und übersetzt von Folker Reichert, unter Mitarbeit von Margit Stolberg-Vowinckel, Darmstadt 2009 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 46), S. 116-123. 21 Epistola Ludovici de Confluencia de successu Romani itineris (ed. Reichert [wie Anm. 20], S. 116 = ed. Schröder [wie Anm. 20], S. 55). 22 Ebd. (ed. Reichert [wie Anm. 20], S. 116 = ed. Schröder [wie Anm. 20], S. 55): Crastina vero luce nascente licentia sacerdotis ad opus animati iterum alii equos, alii mulos, asinos autem ceteri suprascandunt nos rite translaturos, qui martyres apud illos non iniuste nuncupantur. Übersetzung zitiert nach Reichert, S. 117: ‘Am folgenden Morgen aber ermutigte der Priester des Hauses uns, das Werk zu beginnen, und so bestiegen wir denn abermals unsere Pferde oder Maultiere oder Esel (Letzere werden von den Bewohnern der Gegend nicht zu Unrecht Märtyrer genannt), um in der herkömmlichen Weise den Übergang zu bewerkstelligen’. 23 Ebd. (ed. Reichert [wie Anm. 20], S. 118-120 = ed. Schröder [wie Anm. 20], S. 63): Oculos incolae perdunt et viam. Ultro citroque venantur, perfodiunt nives, transcendunt Alpes, rupeculas inter vagantur. Hic serpunt sursum, illuc ruunt deorsum; modo sistunt, tunc moventur. […] In illa enim quisque hora suae resumit vitae 164 Christian Rohr lich wird sogar überlegt, die Pferde zu töten und sich schützend in die ausgehöhlten Kadaver zu legen. 24 Die schwierige Alpenüberquerung im Winter wird zum zentralen Teil einer Bußpilgerschaft, zur Grenzerfahrung. Es ist hier keine Spur von Risikobewusstsein im Sinne eines einigermaßen rationalen Abwägens von Nutzen und Risiko zu erkennen, sondern rein die Angst angesichts einer lebensbedrohlichen Gefahr, der die vom Niederrhein kommende Reisegruppe keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Lawinengefahr und Ortskenntnis entgegensetzen kann. Ein wesentliches Mittel, mit der Lawinengefahr umzugehen und für den Fall eines Lawinenabgangs auf Rettung hoffen zu können, war der Zusammenschluss zu größeren Reisegruppen. Dies klingt nicht nur im Bericht zur Alpenüberquerung von Rudolf von Saint-Trond durch, sondern auch Arnold Heymerick erwähnt, dass sich durch einen Zusammenschluss mit anderen Reisenden und Bergführern eine Gruppe von rund 300 Menschen und Tieren gebildet habe. 25 Solche großen Konvois lassen sich auch für Händlerzüge des 15. und 16. Jahrhunderts mehrfach nachweisen. 26 Die Überquerung des Alpenraums mit all ihren Gefahren war auch Thema mehrerer Schilderungen, die mit der Anreise zum Konzil von Konstanz (1414-1418) einhergingen. Mit dramatischen Worten beschreibt der italienische Frühhumanist Leonardo Bruni (ca. 1370-1444) seine Eindrücke bei der Überquerung des Reschenpasses und des Arlbergs, als er im Spätherbst 1414 als Sekretär des damaligen (Gegen-)Papstes Johannes XXIII. zum Konzil nach Konstanz reiste. Fast alle Berichte zu Alpenüberquerungen bis zum 14. Jahrhundert hatten sich auf die Westalpen (Westschweiz, Frankreich) bezogen; mit Brunis Bericht rückt erstmals auch der Ostalpenraum in das Zentrum des Interesses. Die anschauliche Schilderung erfolgt in einem Brief an seinen Humanistenfreund Niccolò Niccoli. Bruni richtet sein Hauptaugenmerk bewusst auf die Überquerung der Alpen und beginnt daher seinen Bericht erst mit dem Abschied aus Verona. In zahlreichen Details seiner Schilderung lässt sich das veränderte Verhältnis der Humanisten zur Natur - einschließlich der darin lebenden Menschen - erkennen: Die Natur ist nicht mehr nur der bedrohliche Feind des Menschen, über den man nur selten explizit spricht, sondern wird zum interessanten Forschungsgegenstand, ja selbst in ihrer chronicas interior homo, se Deo commendat, tendit obitum . Übersetzung zitiert nach Reichert, S. 119-121: ‘Die Einheimischen können den Weg nicht mehr sehen, laufen hin und her, stoßen ihre Stöcke in den Schnee, steigen auf die Höhen und irren zwischen den Felsen umher. Hier kriechen sie hinauf, dort stürzen sie herab; bald stehen sie still, bald sind sie in Bewegung. […] In dieser Stunde überdenkt jeder sein vergangenes Leben, empfiehlt seine Seele Gott und denkt an den Tod’. 24 Ebd. (ed. Reichert [wie Anm. 20], S. 120 = ed. Schröder [wie Anm. 20], S. 63): Postremo desperant nobiscum in tantum, ne ulla nos facerent in parte consultiores, quam singulus cuiuspiam equus, cum primum accessissent omnes, qui sequebantur a longe, occaretur et spoliatis intestinis quisque se homo recentes intra costas eius cadaveris comploderet, donec vel christianius protractiusque redderet vitam seu Deus ipsum maximus aut hora lucidior ad pedes revocaret . Übersetzung zitiert nach Reichert, S. 121: ‘Schließlich sind wir alle so verzweifelt, dass wir schon daran denken, unsere Pferde zu töten, sie auszuweiden, uns im Inneren der Kadaver zusammenzukauern und zu warten, bis uns Gott der Höchste oder das Tageslicht wieder auf die Beine brächte’. 25 Ebd. (ed. Reichert [wie Anm. 20], S. 118 = ed. Schröder [wie Anm. 20], S. 58f.). 26 Vgl. dazu ausführlicher Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 6), S. 416, sowie am Beispiel der Säumerroute über das Hochtor in den Hohen Tauern (Kärnten/ Land Salzburg) ders., „Der Handel über die Hochtorroute in Mittelalter und Neuzeit“, in: Hochtor und Glocknerroute. Ein hochalpines Passheiligtum und 2000 Jahre Kulturtransfer zwischen Mittelmeer und Mitteleuropa , hg. von Ortolf Harl, Salzburg 2014 (Österreichisches Archäologisches Institut, Sonderschriften 50), S. 213-222, hier S. 221. Unfälle und Lawinen 165 Wildheit zum locus amoenus . Mit der Überschreitung des Alpenhauptkammes beginnt die Reise für Bruni immer beschwerlicher zu werden, was auch an der vorgerückten Reisezeit Anfang Dezember liegt: 27 Descensus ex eo iugo longe difficilior fuit quam ascensus, via praecipiti et arcta ac quibusdam in locis manusarcta longo anfractu per praeruptas rupes quasi in baratrum ducit. A dextera parte viae mons ingens impendet, a sinistra praecipicia sunt vel aspectu formidanda. Abietum sursum deorsumque incredibilis multitudo, pinus insuper silvestris, cupressus, fraxini, fagi, orni ac omne genus silvestris materiae. Ab eo iugo biduum per valles profundas ac difficiles sub ipsos montes progressi ad aliud rursus iugum pervenimus. Aquilae montem barbari vocant. Huius montis transitus longe dificillimus atque asperrimus fuit. Nam praeterquam quod semper scandentibus arduum iter habet, tunc nives omnia texerant, quarum plerisque in locis supra viginti pedes altitudo erat. Semita per medias nives plantis viatorum impressa non amplius una pede lata deducebat. Per eum callem homines facile gradiebantur; nam et leviores sunt et pedetentim incedunt. Equi vero misere et laboriose per frenos ducebantur, qui, si uno vel altero pede semita excedebant, in profundam nivem immergebantur nec nisi cum summo labore et pericolo eximi poterant et ad semitam reduci. Haec difficultas tribus fere passuum millibus continuo nos afflixit, donec transversi iam verticem descendere incoepimus, ut vel in eo universa huius itineris pericula difficultatesque constitisse affirmare ausim. Est autem latitudo Alpium, qua nos iter facimus, a faucibus Athisis, quas supra demonstravi, ad Transalpinum completum descensum millia passuum circiter ducenta. Tanti autem montes, tanti scopuli, tam crebra et continuata dorsa, tanta cacumina atque fastigia, tantae magnitudes ubique insurgunt, ut valde mirandum videatur, quid parens illa et fabricatrix mundi Natura, cum eas fecit, sibi voluerit. Me quidem aeternas illas ac perpetuas moles intuentem horror quidam et religio frequenter habebat, et nunc item sine horrore meminisse non possum. (‘Der Abstieg von der Passhöhe [des Reschenpasses] gestaltete sich bei weitem schwieriger als der Aufstieg: Der Weg ist steil abfallend und eng und an manchen Stellen führt er von Menschenhand geschaffen in langen Kehren über steile Felsen gleichsam in einen Höllenschlund. Rechts der Straße droht ein gewaltiger Berg, links ist der Abgrund schon vom Anblick her Furcht erregend; überall, wohin man blickt, gibt es eine unglaubliche Menge von Tannen, dazu Fichten, Zypressen, Eschen, Buchen, Bergeschen und andere Waldpflanzen. Von diesem Pass reisten wir für zwei Tage durch tiefe und schwer begehbare Täler am Fuße der Berge und gelangten schließlich wieder zu einem weiteren Pass, den die Barbaren Arlberg (Adlerberg) nennen. Die Überquerung dieses Berges war der mit Abstand schwierigste und härteste Abschnitt der Reise. Denn abgesehen davon, dass der Weg für den Aufstieg immer steil bergauf führt, war damals alles schon mit Schnee bedeckt, und zwar an mehreren Stellen über 20 Fuß hoch. Der Saumpfad führte mitten durch den Schnee: Er war gekennzeichnet durch die Fußabdrücke der Reisenden und nicht mehr als einen Fuß breit. Die Menschen konnten auf diesem Weg ohne Probleme dahinschreiten, denn sie sind leichter und gehen mit behutsamen Schritten. Die Pferde aber wurden Mitleid erregend und 27 Leonardo Bruni, Epistulae 4,3, hg. von Lorenzo Mehus, Florenz 1741, S. 102-109. Für eine ausführliche Analyse dieses Briefes, der in der Forschung bislang fast unbeachtet geblieben ist, vgl. Christian Rohr, „Zur Wahrnehmung von Grenzen im 15. Jahrhundert. Leonardo Brunis Bericht über seine Reise von Verona nach Konstanz 1414 (Epist. 4,3)“, in: Scientia Iuris et Historia. Festschrift für Peter Putzer zum 65. Geburtstag , hg. von Ulrike Aichhorn und Alfred Rinnerthaler, 2 Bde., München 2004, Bd. 2, S. 869-901, hier S. 888-893 zur Stelle. - Übersetzung Chr. R. 166 Christian Rohr mühsam an Zügeln geführt; wenn sie mit dem einen oder anderen Lauf vom Pfad abkamen, tauchten sie in den Tiefschnee ein, ja nur mit großer Mühe und unter Gefahr konnten sie herausgezogen und auf den Weg zurückgebracht werden. Diese Schwierigkeiten betrafen uns auf einer Strecke von ungefähr drei Meilen, bis wir nach der Passhöhe schon mit dem Abstieg begannen. Ich wage zu behaupten, dass auf dieser Wegstrecke alle Gefahren und Schwierigkeiten lauerten. Die Wegstrecke durch die Alpen, die wir von der Etschquelle, die wir vorhin erwähnt haben, bis zur Talsohle nach der völligen Überschreitung zurücklegten, beträgt etwa 200 Meilen. So viele Berge, so viele Felsen, so zahlreiche und endlose Bergrücken, so viele Gipfel und Steigungen, so viele Höhen erheben sich überall, dass es äußerst bemerkenswert erscheint, was jene Mutter und Weltschöpferin Natur sich dabei gedacht hat, als sie dies schuf. Mich freilich überkommt, wenn ich diese ständigen Mühen betrachte, häufig eine Art von Schauer und Ehrfurcht und selbst jetzt kann ich mich nicht ohne Schaudern daran erinnern.’) Die Winterüberquerung des Arlbergs mag für den unerfahrenen Italiener Bruni in der Tat ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, auf das er mit Schaudern ( horror ) und Ehrfurcht ( religio ) zugleich rückblickt. Diese mühevolle Erfahrung spiegelt sich auch in der Distanzangabe wider: Die 200 Meilen vom Reschenpass bis zum Rheintal übersteigen die tatsächliche Distanz bei weitem - auch wenn man davon ausgehen muss, dass Bruni von toskanischen Meilen spricht, die nur wenig mehr als einen Kilometer ausmachen - und zeugen eher vom subjektiven Empfinden Brunis. Berichte über Verletzungen beziehen sich wie auch bei Lampert von Hersfeld sowie bei Arnold Heymerick in erster Linie auf die Last- und Reittiere, die mit dem Schnee im Hochgebirge besondere Schwierigkeiten hatten. Kurz nach Leonardo Bruni reiste auch (Gegen-)Papst Johannes XXIII. über dieselbe Route zum Konzil von Konstanz. Dabei erlitt seine Kutsche auf dem Arlberg einen Unfall, bei dem er aus dem Gefährt geschleudert wurde. Ulrich von Richental, ein erklärter Gegner des Gegenpapstes, nahm in seiner Chronik des Konstanzer Konzils diese Begebenheit in seine Erzählung auf: 28 Und do er heruf uff den Arlenberg kam by dem mittel nach by dem clösterlin do viel der wagen darinne er für umb und lag in dem schne er under dem wagen wan der schne do zemal gevallen was. […] Do antwurt er inen in latin: ‘Iaceo hic in nomine diaboli’, das ist zu tútsche gesprochen: ‘Ich lig hie in dem namens des túfels’ . Dem Ereignis wurde offenbar eine zentrale Bedeutung mit Hinweischarakter auf den folgenden Verlauf des Konzils zugeschrieben, was auch dadurch deutlich wird, dass der Unfall selbst in mehreren Handschriften auch in Form einer kolorierten Federzeichnung abgebildet wurde (Abb. 1). Das Diktum Johannes’ XXIII. ist wohl mit Thomas Rathmann als Schuldspruch post eventum zu interpretieren. 29 Ob hingegen, Rathmann folgend, der gesamte Unfall als litera- 28 Ulrich von Richental, Chronik des Konstanzer Konzils . Text nach der Fassung in der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Georgen 63, Bl. 6v (Konstanz, um 1470). Zur Quelle vgl. die Neuedition Chronik des Konstanzer Konzils 1414-1418 von Ulrich Richental , eingeleitet und hg. von Thomas Martin Buck, Ostfildern 4 2014 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 41). 29 Thomas Rathmann, Geschehen und Geschichten des Konstanzer Konzils. Chroniken, Briefe, Lieder und Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses , München 2000 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 20), S. 233-236. Unfälle und Lawinen 167 rische Fiktion anzusehen ist, scheint m. E. wenig plausibel, da derartige Anspielungen nur funktionieren, wenn sie einen nachvollziehbaren wahren Kern aufweisen. Abb. 1: Ulrich von Richental, Chronik des Konstanzer Konzils : (Gegen-)Papst Johannes XXIII. erleidet einen Unfall auf der Straße über den Arlberg, kolorierte Federzeichnung, um 1470. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3044, Bl. 34v. Der Ausruf Johannes’ XXIII. beim Sturz ist hier in lateinischer Sprache wiedergegeben ( Iacio hic jn no[m]i[n]e diaboli ). Im 15. Jahrhundert zogen auch größere Heeresabteilungen über die Alpenpässe und wurden dabei mitunter von Lawinen überrascht. So wurde ein Berner Heer, das sich 1478 auf einem Kriegszug gegen die Stadt Bellinzona im Tessin befand, auf der Südseite des Gotthard-Passes von einer Lawine verschüttet. Mehrere Schweizer Chroniken aus dem späten 15. und 16. Jahrhundert, etwa von Diebold Schilling oder Werner Schodoler, berichten nicht nur von diesem Ereignis, sondern bilden es auch ab - es sind wohl die frühesten bildlichen Darstellungen von Lawinen überhaupt (Abb. 2). 168 Christian Rohr Abb. 2: Das Berner Heer wird 1478 auf dem Weg über den Gotthard-Pass von einer Lawine verschüttet. Miniatur aus der Berner Chronik des Diebold Schilling, 1483. Bern, Burgerbibliothek, Mss. h.h. I.3, S. 917, www.e-codices.unifr.ch/ de/ bbb/ Mss-hh-I0003/ 917/ 0/ Sequence-49 (letzter Zugriff: 15.9.2019). Unfälle und Lawinen 169 Auch Maximilian I. (1493-1519), der sich häufig im Gebirge aufhielt, hatte immer wieder die Gefahren von Lawinen zu überstehen. Als sein etwa 10.000 Mann starkes Heer im Juni 1499 im Zuge des sogenannten Schweizerkriegs (Schwabenkriegs) über den Ofenpass im Schweizer Kanton Graubünden nach Italien zog, wurden mehr als 400 Soldaten von einer Lawine überrascht. Da die Lawine offensichtlich aber eher klein und langsam war - die Nachricht des Humanisten Willibald Pirckheimer, dass die ungeheure Schneelawine ( nivis pars quaedam ingens ) so schnell wie ein Pfeil ( quantus iactus est arcus ) herangekommen sei, ist sicherlich stark übertrieben -, konnten sich alle lebend befreien, und auch die Zahl der Verletzten hielt sich offensichtlich in Grenzen. Unter den Befreiten brach schließlich großes Gelächter aus, wohl in erster Linie als Ausdruck der Erleichterung. 30 Bei beiden geschilderten Kriegszügen ist davon auszugehen, dass diese Schweizer bzw. österreichischen (Tiroler? ) Truppen zumindest gewisse Grundkenntnisse im Umgang mit dem hochalpinen Gelände hatten. Zudem handelte es sich wohl um Schneebretter im Frühling, die natürlich eine deutlich geringere Zerstörungskraft hatten als die auf winterlichen Alpenpässen. Die Erfahrungen Kaiser Maximilians I. spiegeln sich auch in literarischer Form wider: Im Theuerdank (1517), einer Art Renaissance-Ritterroman zum Leben Maximilians I., den der Kaiser mitverfasste oder zumindest inhaltlich mitkonzipierte, wird nicht zuletzt über zahlreiche Gefahren bei Kriegs- und Jagdzügen in den Alpen berichtet. Lawinen, Steinschlag und Hagelschauer werden dabei als bewusste Attentatsversuche des Hauptmannes Unfal(l)o gegen Theuerdank (= Maximilian) dargestellt, der den Helden an einer erfolgreichen Brautfahrt zu Erenreich (= Maria von Burgund) hindern will. 31 So heuert Unfalo einen Knecht an, der im Gebirge einen Schneeball ins Rollen bringen soll, damit dieser, zur Lawine angewachsen, den Helden töten solle: 32 Unfalo vordert einen knecht Und nam den an ein heimlich ort Sprach gesell merckh meine wort Eylunds hin auf das gepirg lauff Unnd schaw mit allem fleys darauf Wann der Held Tewrdannckh wirt reyten Vnnden für an des pergs leyten 30 Willibald Pirckheimer, De bello Suitense sive Eluetico 2, 5 (Willibald Pirckheimer, Der Schweizer Krieg in lateinischer und deutscher Sprache , neu übersetzt und kommentiert von Fritz Wille, Baden 1998, S. 96f.: Accidit hic, ut nivis pars quaedam ingens vel nimio pressa pondere vel solis liquefacta calore a reliqua nivis divulsa sit congerie ac per montis devexum, quantum iactus est arcus, acta plus quam quadringentos secum arripuerit milites, quos omnes altissima involvit vertigine. Eratque spectaculum illud sub initium horrendum, cum tot homines eodem raperentur impetu et tamquam fluctu quodam absorberentur. Sed paulo post in risum est versum, cum milites undique tamquam terra editi emergerent. Omnes hastas tamen aut arma sive capitis aut pedum amiserant tegumenta. Tametsi nemo, quantum sciri potuit, fuit desideratus, multi tamen vehementer sunt collisi . Zum ‘Schweizerkrieg’ Pirckheimers sowie konkret zur Stelle vgl. auch Wolfgang Schiel und Ernst Münch, Willibald Pirckheimer, Der Schweizerkrieg. Mit einer historisch-biographischen Studie , Berlin (Ost) 1988, S. 121. Das Lachen als Ausdruck der Erleichterung ist ansonsten nur als Reaktion auf die Jahrtausendflut des Jahres 1501 belegt. Vgl. dazu Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 6), S. 238. 31 Vgl. zum Folgenden ausführlich Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 6), S. 405-408. 32 Maximilian I., Die ruhmreichen Taten des Ritters Theuerdank Ein illustriertes Meisterwerk der frühen Buchdruckerkunst , hg., eingeleitet und kommentiert von Anja Grebe, Faksimile der Ausgabe 1517, Darmstadt 2015, Bl. 82 bis r. 170 Christian Rohr So mach von schnee einen pallen Unnd laß den gmach herab fallen Das daraus werd ein leenen groß Dieselb den Helden zu o todt stoß. Theuerdank, der von Unfalo dazu überredet wurde, im Winter durch das Gebirge zu reiten, um gemeinsam mit einem Jäger Wild zu jagen, bemerkt im letzten Moment das Herannahen der Lawine und gibt seinem Pferd die Sporen: 33 Als der knecht ersach den Tewrn man Macht Er pald ein pallen von schne Derselbig lieff hinab unnd Ee Er halben weg geloffen was Wurd der pall von schne so groß, das Er het mo e gen mit der gro e ß sein Bedecken ein gemains stetlein Tewrdannck ho e ret den lauten pracht Unnd ee Er sich recht drauf bedacht Was doch dasselb mochte gesein Gieng die leen als ein perg herein Den na e chsten auf den Helden dar Dermassen das Im nit mer war Dann das er sich eylunds umbkhert Unnd gab die sporen seinem pferd Ranndt was sein pferd mochte lauffen Durch das empfloch Er dem hauffen Schne, sonnst het Er darinn verderben Mu e ssen, und In der leen sterben. Theuerdank versucht zwar noch weitere drei Male, dem Wild nachzuspüren, wird aber durch die Lawine, die den Weg hoch verschüttet hat, stets daran gehindert. Schließlich kehrt er unverrichteter Dinge heim, wo er von Unfalo scheinheilig nach seinem Jagderfolg befragt wird: 34 Tewrdannck sprach, ho e rzu o wie es mir Doch an hewt ist newr erganngen Ein schne leen het mich gefangen Leicht kaum bin Ich ir enndtrunnen Unfalo sprach, von der Sunnen Oder villeich durch ein vogel Der oben auf des pergs kogel Den waychen schne hate geru e rt Ist die lene herabgefu e rt. 33 Ebd., Bl. 82 bis v. 34 Ebd., Bl. 83r. Unfälle und Lawinen 171 Die ‘Ausreden’ Unfalos, wie es denn zum Abgang der Lawine gekommen sein könnte, geben die am Beginn der Neuzeit im Umlauf befindlichen Erklärungsmuster wieder. Sie zeugen davon, dass die Menschen in dieser Zeit Lawinen fast immer nur vom Tal aus wahrnahmen und dass sie umgekehrt über das Auslösen von Lawinen kaum empirisches Wissen besaßen. Die zahlreichen Gefahren, denen sich der Held Theuerdank ausgesetzt sah, haben vermutlich ihre Entsprechungen im Leben Kaiser Maximilians I. Als passionierter Jäger im Gebirge und Bergsteiger dürfte er wohl mehrfach Lawinenabgänge, Steinschlag und Unwetter im alpinen Gelände miterlebt haben. Wie der Held der epischen Erzählung verfügte er wohl auch über das nötige Sensorium, das Grollen beim Herannahen einer Lawine oder bei Steinschlag zu deuten und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Eine Abbildung des Theuerdank , die den Helden bei der Gämsenjagd zeigt, stellt diesen mit Steigeisen ausgerüstet dar. 35 Kulturgeschichtlich bemerkenswert ist freilich die künstlerische Transformation von Naturgefahren zu bewussten Attentatsversuchen von Theuerdanks Widersachern. Sie werden auf diese Weise ‘anthropogenisiert’, ähnlich wie in der Antike die Naturgewalten dem Wirken der Götter zugeschrieben wurden. Der Held Theuerdank ist freilich nicht mehr ein den Naturgewalten schutzlos ausgeliefertes Wesen, sondern er nimmt gegen sie den Kampf auf, indem er sich mutig vorwagt und ihnen mitunter gleich einem Schwerthieb oder Lanzenstich ausweicht. Die Unversehrtheit Maximilians streicht zusätzlich seine erhabene Stellung hervor. Der Theuerdank ist Teil eines groß angelegten gedechtnus -Projekts am Hof Kaiser Maximilians, für das insbesondere der Geheimschreiber Marx Treitzsaurwein verantwortlich zeigte. 36 Die Ausgaben des Theuerdank von 1517 und 1519 sind mit Holzschnitten von Hans Burgkmair und anderen Künstlern aus dem Umkreis Maximilians (Leonhard Beck, Hans Leonhard Schäuffelein) illustriert; eine davon zeigt auch den beschriebenen Lawinenabgang. 37 Die Darstellung ist ganz der zeitgenössischen Ansicht verhaftet, dass Lawinen zunächst aus Schneebällen entstehen, die erst ab einer bestimmten Größe zu rutschen beginnen (Abb. 3). V Resümee Auch wenn ausführlichere Berichte von Alpenüberquerungen bis ins 15. Jahrhundert singulär bleiben, so lässt sich daran gut erkennen, dass schlechte Straßen, widrige Witterung und hohe Lawinengefahr auf Reisen durch die Alpen allgegenwärtig waren. Die Überquerung der hohen Alpenpässe wurde somit rasch zur Grenzerfahrung für Reisende aus dem Flachland. Daher wurden die Gebirgslandschaften, sofern sie überhaupt beschrieben wurden, nur mit Schaudern zur Kenntnis genommen; ein positiver Blick auf die Alpen, wie dieser sich seit der Grand Tour des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich durchsetzte, fehlt in den hier analysierten Reiseberichten noch völlig, sieht man von einigen die Natur bewundernden Bemerkungen Leonardo Brunis ab. 35 Ebd., Bl. 138r. Einen Unfall durch Abrutschen kann aber auch die Ausrüstung mit Steigeisen nicht verhindern. 36 Zum gedechtnus -Projekt am Hofe Maximilians I. vgl. im Detail Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. , München 1982, sowie zusammenfassend den Kommentarteil von Grebe zur Faksimile-Ausgabe von 2015 (wie Anm. 32). 37 Weitere Abbildungen zeigen u. a. Versuche Unfalos, Theuerdank durch mutwilligen Steinschlag ( Theuerdank [wie Anm. 32], Bl. 84r, 111r, 123v, 145v, 153v) zu verletzen oder zu töten. 172 Christian Rohr Abb. 3: Kaiser Maximilian I. entgeht nur knapp einem Attentat, verübt durch eine mutwillig losgelöste Schneelawine. Holzschnitt von Hans Burgkmair aus dem Theuerdank (1517), Bl. 82v. Unfälle und Lawinen 173 Die Verwundbarkeit angesichts der Lawinengefahr war nicht nur bei den Reisenden hoch, sondern betraf auch die eigentlich gut vorbereiteten lokalen Bergführer und v. a. die Last- und Reittiere. Die Verletzungen waren nicht nur körperlicher Natur, sondern auch mentaler, ja wurden zum Teil einer Bußpilgerfahrt wie im Falle von Arnold Heymerick. Die Beispiele zeigten aber auch, dass Verwundung bzw. Unversehrtheit in vielen Fällen mit einer konkreten Funktion in die Erzählung eingebaut wurden, etwa zur Überhöhung des Helden Theuerdank bzw. Maximilians I. oder zur Dämonisierung des Gegenpapstes Johannes XXIII. Die raue Bergwelt der Alpen bildete dazu das perfekte Setting. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 175 Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung Ortrun Riha Im Folgenden wird nicht das gesamte Spektrum der mittelalterlichen Chirurgie behandelt, sondern nur der Ausschnitt, der tatsächlich ‘Verwundungen’ betrifft. Eingriffe wie Aderlass, (blutiges) Schröpfen, Zähne ziehen, Eröffnung von Abzessen usw. sind nicht eingeschlossen, sondern es geht ausschließlich um Traumatologie. ‘Verwundungen’ sind jedoch nicht alle Verletzungen und auch nicht alle Wunden: Verletzungen, die im Rahmen von Unfällen ohne Fremdeinwirkung entstehen, z. B. Verbrennungen, Erfrierungen, Verätzungen oder Sturzfolgen mit Abschürfungen, Risswunden, Zerrungen und Verrenkungen, fallen nicht in die Kategorie ‘Verwundung’, genauso wenig wie endogene chronische Wunden, zum Beispiel das Offene Bein ( Ulcus cruris ) als Folge venöser Abflussbehinderung, 1 Geschwüre durch neurologische Störungen (wie beim Aussatz), Karbunkel, Fisteln, Ausschläge oder Ekzeme und alles, was unter den historischen Begriffen ‘Brand’, ‘Krebs’, ‘Wolf ’, ‘Flechte’, ‘Grind’ läuft oder auch - um Fachbegriffe zu benutzen - anthrax und morphaea heißt. Verwundungen dagegen werden von außen mit aggressiver Intention - meistens im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen - durch (spitze, scharfe, heftige mechanische) Gewalteinwirkung zugefügt, so dass zumindest die Haut, oft auch das darunter liegende Gewebe verletzt ist. Es handelt sich also in erster Linie um Stiche, Schnitte und Pfeilwunden sowie Quetsch- und Platzwunden durch stumpfe Gewalt, durch die es auch zu Knochenbrüchen kommen kann; Bisse gehören ebenfalls dazu. 2 Eine sehr eindrucksvolle visuelle Zusammenfassung häufiger Kriegsverletzungen bildet der spätmittelalterliche ‘Wundenmann’, neben dem die verschiedenen damals gebräuchlichen Waffen abgebildet sind und der oft von kurzen chirurgischen Anweisungen zur Behandlung begleitet wird. 3 Das breite Spektrum soll nun exemplarisch betrachtet werden. 1 Hans J. Peters, Das ‘Buch von alten Schäden’ , Teil 1: Text , med. Diss. Bonn 1973; Ingrid Rohland, Das ‘Buch von alten Schäden’ , Teil 2: Kommentar und Wörterverzeichnis , Pattensen 1982 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 23). 2 Schussverletzungen mit Kugeln oder Schrot bleiben hier unberücksichtigt; vgl. dazu Richard A. Gabriel, Between Flesh and Steel. A History of Military Medicine from the Middle Ages to the War in Afghanistan , Washington 2013, S. 1-40: „The Emergence of Modern Warfare: 1453 to the Twenty-First Century“. 3 Karl Sudhoff, „Der ‘Wundenmann’ in Frühdruck und Handschrift und sein erklärender Text. Ein Beitrag zur Quellengeschichte des ‘Ketham’“, in: Archiv für Geschichte der Medizin 1 (1908) 5, S. 351-361; Erltraut Auer und Bernhard Schnell, „Der Wundenmann. Ein traumatologisches Schema in der Tradition der ‘Wundarznei’ Ortolfs von Baierland. Untersuchung und Edition“, in: Ein teutsch puech machen. Untersuchungen zur landessprachigen Vermittlung medizinischen Wissens , hg. von Gundolf Keil, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 11), S. 349-401. 176 Ortrun Riha Doch werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die wesentlichen Akteure, soweit sie Meilensteine in der Entwicklung der Wundbehandlung darstellen. Auskunft über die mittelalterliche Behandlungspraxis geben in erster Linie Texte (unter denen wiederum die Rezepte dominieren), an zweiter Stelle Abbildungen und drittens erhaltene Instrumente. Es ist das Verdienst von Karl Sudhoff (1853-1938), dem Nestor der Medizingeschichte, in seinem 1906 gegründeten Leipziger Institut eine Sammlung historischer Objekte angelegt und zugleich in einem Handbuch zur mittelalterlichen Chirurgie das gesamte ihm bekannte Quellenmaterial von Bildern und Texten zusammengeführt zu haben. 4 Das Frühmittelalter bietet durchaus Einzelrezepte, auf die teilweise noch zurückzukommen sein wird, ist aber hinsichtlich sonstiger Praktiken quellenmäßig stumm; es gibt beispielsweise keinen Beleg dafür, dass die umfassende Medizinenzyklopädie des Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr. - ca. 50 n. Chr.) benutzt worden wäre. Erst ab dem Ende des 11. Jahrhunderts stößt man im 19. Buch der großen und in ganz Europa verbreiteten Kompilation Pantegni Konstantins von Afrika (1017-1087) auf chirurgische Texte, die zu einem hohen Anteil aus dem Arabischen (hauptsächlich Haly Abbas, Liber regalis , um 980) übersetzt wurden und einen Eindruck von Verbands- und Repositionstechniken sowie von mehrstufiger Wundbehandlung geben. 5 Ab dem 12. Jahrhundert zeigen die Zeugnisse des autochthon in Italien und Südfrankreich entwickelten praktischen wundärztlichen Wirkens bereits ein beachtliches Niveau. 6 Es spricht für die Qualität der Schriften, dass die Venezianer Niederlassung der Familie Junta noch im Jahr 1546 unter dem Titel Ars chirurgica eine Sammlung von acht dieser hochmittelalterlichen Texte zum Druck brachte. Unter den hochmittelalterlichen Wundärzten mit Abstand am berühmtesten war Roger Frugardi (vor 1140-gegen 1195), der für mehrere Generationen von Chirurgen Vorbild und Bezugspunkt wurde. 7 Bis in die Neuzeit hinein fehlen in keinem wundärztlichen Traktat, sei 4 Karl Sudhoff, Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. Graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften , Teil 1, Leipzig 1914 (Studien zur Geschichte der Medizin 10): Operationsbilder (einschließlich Verbandstechniken) S. 3-66, Lehr- und Merkschemata S. 67-219; Karl Sudhoff, Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. Graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften , Teil 2, Leipzig 1918 (Studien zur Geschichte der Medizin 11/ 12): Abbildungen von Instrumenten S. 3-90, lateinische chirurgische Texte des Mittelalters aus Italien und Südfrankreich S. 93-430, chirurgische Texte aus Deutschland, größtenteils in deutscher Sprache S. 431-620. Etwas weniger quellenorientiert ist das Handbuch Ernst Gurlt, Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Volkschirurgie - Alterthum - Mittelalter - Renaissance , 3 Bde., Berlin 1898, Nachdruck Hildesheim 1964. 5 Julius Pagel, „Eine bisher unveröffentlichte lateinische Version der Chirurgie der Pantegni nach einer Handschrift der Kgl. Bibl. zu Berlin“, in: Archiv für klinische Chirurgie 81 (1906) 1, S. 735-786; Constantinus Africanus and Arabic Medicine. The School of Salerno. Texts and Studies , hg. von Fuat Sezgin, 3 Bde., Frankfurt a. M. 2006 (Historiography and Classification of Science in Islam 29-31). 6 Walter von Brunn, Kurze Geschichte der Chirurgie , Berlin 1928, Nachdruck Berlin 1978; ders., Geschichte der Chirurgie , Bonn 1948: Selbst Chirurg, betont der Autor die Leistungsfähigkeit der mittelalterlichen Chirurgen, die er in vielen Punkten für sorgfältiger und geschickter hält als ihre frühneuzeitlichen Kollegen. Vgl. ebenso Michael R. McVaugh, The Rational Surgery of the Middle Ages , Florenz 2006 (Micrologus’ library 15), S. 89-134: „The Rationalization of Treatment“; Nancy G. Siraisi, Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice , Chicago/ London 1990; Practical Medicine from Salerno to the Black Death , hg. von Luis Garcia-Ballester u. a., Cambridge 1994. Zu den spärlichen deutschsprachigen Zeugnissen aus dieser Zeit: Bernhard Schnell, „Vorüberlegungen zu einer Geschichte der deutschen Medizinliteratur des Mittelalters am Beispiel des 12. Jahrhunderts“, in: Sudhoffs Archiv 78 (1994), S. 90-97. 7 Karl Sudhoff, „Die Chirurgie des Roger Frugardi aus Salern“, in: ders., Beiträge , Teil 1 (wie Anm. 4), S. 148- 236. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 177 er in Latein oder in einer Volkssprache verfasst, die Rezepte für Rotes Pulver, Apostelsalbe ( apostolicon ), 8 Pappel- ( populion ) und Eibischsalbe ( dialtea ); diese Zubereitungen fördern auch in unserer Wahrnehmung die Wundheilung und wir werden sie uns deshalb noch genauer ansehen. Bei Rogers Zeitgenossen machte der stabilisierende Mehl-Eiweiß-Verband bei Knochenbrüchen (ggf. unter Beimischung von Kalzium in Form von weißem Hundekot [ album graecum ]) Furore. Zahlreiche Glossen (besser: Kommentare), die noch längst nicht alle aufgearbeitet sind, nutzten Rogers Text als Ausgangspunkt und fügten den einzelnen Lemmata dann die Anmerkungen des jeweiligen Autors an. 9 Bruno von Longoburgo (um 1200-1286) wollte durch Trockenhalten der Wunden (z. B. mit Pulvern, Harzen, Heilerden o. ä.) das damals fast unvermeidliche Eitern vermeiden. Diesen Ansatz übernahmen Ugo (um 1180-nach 1258) und insbesondere Teodorico Borgognoni (1205-1298) aus Lucca, die die Verletzungen sorgfältig mit Wein reinigten und (wie heute) eine Heilung per primam intentionem durch frühen Nahtverschluss anstrebten. Schonend ging auch Wilhelm von Saliceto 10 (um 1210-um 1280) vor, dem eine dezidierte Ablehnung des Glüheisens als Mittel der Säuberung und Blutstillung zugeschrieben wird. 11 In Frankreich lehrten Chirurgen auch an Universitäten: In Montpellier waren ihnen eigene Unterrichtszeiten außerhalb der regulären Semester zugestanden. 12 Für Paris ist die Verbindung von gelehrtem Wissen und wundärztlicher Praxis z. B. für Lanfrank von Mailand (um 1245-vor 1306) und Heinrich von Mondeville 13 (um 1260-um 1320) belegt, und auch bei diesen angesehenen Medizinern finden wir einen ähnlich sorgsamen Umgang mit Verwundungen. Als Schlusspunkt dieser Tradition darf Guy de Chauliac (um 1298-1368) gelten, der nach einem Studium von Medizin und Theologie zum päpstlichen Leibarzt in Avignon aufstieg und dort den Pestausbruch von 1348 zu managen hatte. Seine 1363 vollendete Chirurgia magna 14 gibt eine Übersicht über das gesamte bisherige chirurgische Schrifttum, und Guy präsentiert sich darin als zurückhaltender Empiriker, der trotz Weinverbänden Eiter als Teil der normalen Wundheilung betrachtete und Wundermärlein gegenüber extrem kritisch eingestellt war. Schon die mittelalterlichen Ärzte haben also fantastische Geschichten aus dem Orient, wie die Schienung des vernähten Darms mit einem Holunderrohr (erwähnt bei Roger und Bruno von Longoburgo) oder die Darmnaht mit Ameisenköpfen (bei Bruno als indische Technik nach Albucasis zitiert) nicht für bare Münze genommen, sondern ihren Unterhaltungswert 8 Erhart Kahle, „Das Apostolicum in der arabischen medizinischen Literatur“, in: Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil , hg. von Josef Domes u. a., Göppingen 1994 (GAG 585), S. 239-250. 9 Eine erste Übersicht gab schon Sudhoff, Beiträge , Teil 2 (wie Anm. 4), S. 237-384; vgl. sonst z. B. Astrid Hirschmann, Die Leipziger Rogerglosse , Teil 1: Text , Pattensen 1984 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 33); Gabriele Stedtfeld, Die Leipziger Rogerglosse , Teil 2: Roger-Konkordanz und Wörterverzeichnis , med. Diss. Würzburg 1979; Gerhard Karpp und Ortrun Riha, „Aus der Geschichte der Rogerglossen. Ein bisher unbekanntes Wilhelm von Congenis-Fragment“, in: Sudhoffs Archiv 99 (2015), S. 73-104. 10 Vgl. Sudhoff, Beiträge , Teil 2 (wie Anm. 4), S. 399-416. 11 Gundolf Keil, „Aperçus zur Geschichte der Gefäßchirurgie“, in: Gefahren, Fehler und Erfolge in der vaskulären Chirurgie und ihre Wirklichkeit , hg. von Martin Sperling, Basel u. a. 1991, S. 13-21. 12 Vgl. L’Université de Médecine de Montpellier et son rayonnement (XIII-XV siècles) , hg. von Daniel Le Blévec, Turnhout 2004 (De diversis artibus 71 = N. S. 34). 13 Marie-Christine Pouchelle, The Body and Surgery in the Middle Ages , New Brunswick 1990. 14 Guigonis de Caulhiaco Inventarium sive Chirurgia magna , 2 Bde., hg. und kommentiert von Michael R. McVaugh, Leiden u. a. 1997 (Studies in Ancient Medicine 14). 178 Ortrun Riha als Sensation geschätzt. 15 Die mittelalterliche Chirurgie scheint insgesamt jedenfalls weder rabiat noch grausam gewesen zu sein, sondern durchweg besser als ihr Ruf, der im Wesentlichen durch das großspurige Auftreten frühneuzeitlicher Chirurgen - allen voran Ambroise Paré (um 1510-1590) in seinem Werk über die Behandlung der Schusswunden 16 (1545) - im negativen Sinn geprägt wurde. Ein respektables Niveau gilt auch für die deutschsprachigen Texte, mit denen ab dem 13. Jahrhundert zu rechnen ist: 17 Zu den ältesten gehören der wohl schon kurz nach 1200 zusammengestellte Bartholomäus , 18 das Deutsche salernitanische Arzneibuch 19 - beide mit wundärztlichen Rezepten - sowie als Kräuterbuch und damit als Drogenkunde der Deutsche Macer . 20 Im niederländischen Raum war Jan Yperman (1260-um 1332) der bedeutendste mittelalterliche Chirurg. 21 Das erfolgreichste deutschsprachige Medizin-Lehrbuch des Mittelalters stammt von dem Würzburger Arzt Ortolf von Baierland, der mit ziemlicher Sicherheit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Paris studierte. 22 Das Werk enthält neben Grundlagenwissen zu Diätetik, Diagnostik, Prognostik und Therapie innerer Krankheiten auch einen wundärztlichen Abschnitt. Dieser beruht (wie auch die Krankheitslehre) auf dem Compendium medicinae des Gilbertus Anglicus (1180-1250), der seinerseits in großem Stil die genannten italienischen Chirurgen verarbeitet hat. 23 Viele der Rezepte, darunter Rotes Pulver, Pappel-, Eibisch- und Apostelsalbe, gelangten auf diesem Weg in den volksmedizinischen Erfahrungsschatz der Moderne. Wenn im Folgenden der sprachlichen Einfachheit halber daraus zitiert wird, ist dies auch mit der Rezeptionsgeschichte zu begründen. Obwohl Hans von Gersdorff (1455-1529) eigentlich schon zu den frühneuzeitlichen Chirurgen zu zählen ist, sei er hier noch erwähnt, weil bei ihm erstmals Reflexionen über das 15 Detlef Rüster, Alte Chirurgie. Legende und Wirklichkeit , Köln 1986; Ortrun Riha, „Lüge, Selbstbetrug und die Realität des Möglichen. Die Erfindung (in) der mittelalterlichen Medizin“, in: Das Mittelalter 9 (2004), S. 123-138. 16 Ambroise Paré, Die Behandlung der Schußwunden , eingeleitet, übersetzt und hg. von Henry E. Sigerist, Leipzig 1968 (Klassiker der Medizin 29). 17 Vgl. schon Sudhoff, Beiträge , Teil 2 (wie Anm. 4), S. 431-620. Überblick über deutschsprachige chirurgische Texte bei Bernhard D. Haage und Wolfgang Wegner, Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit , Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik 43), S. 238-245. Ansonsten vgl. Bernhard Schnell, „Die deutsche Medizinliteratur im 13. Jahrhundert. Ein erster Überblick“, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300 , hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young und Bettina Bildhauer, Tübingen 2003, S. 249-265. 18 Gundolf Keil, „Bartholomäus“, in: 2 VL , Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 609-615. 19 Gundolf Keil, „Deutsches salernitanisches Arzneibuch“, in: 2 VL , Bd. 2, Berlin/ New York 1980, Sp. 69- 71; Edition: Das Breslauer Arzneibuch. R 291 der Stadtbibliothek , hg. von Constantin Külz und Emma Külz-Trosse, Dresden 1908. 20 Bernhard Schnell und William Crossgrove, Der deutsche ‘Macer’ (Vulgatfassung). Mit einem Abdruck des Macer Floridus ‘De viribus herbarum’ , Tübingen 2003 (TTG 50). 21 Marija Partijn, „The Medical Crossbow from Jan Yperman to Isaack Koedijck“, in: Wounds in the Middle Ages , hg. von Anne Kirkham und Cordelia Warr, Farnham 2014, S. 197-213. 22 Hier und im Folgenden wird nach folgender Edition zitiert: Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland , auf Grundlage der Arbeit des von Gundolf Keil geleiteten Teilprojekts des SFB 226 „Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter“ zum Druck gebracht, eingeleitet und kommentiert von Ortrun Riha, Wiesbaden 2014 (Wissensliteratur im Mittelalter 50). Vgl. außerdem die Übersetzung: Ortrun Riha, Mittelalterliche Heilkunst. Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland (um 1300) , Baden-Baden 2014 (DWV-Schriften zur Medizingeschichte 15). 23 Ortrun Riha, Ortolf von Baierland und seine lateinischen Quellen. Hochschulmedizin in der Volkssprache , Wiesbaden 1992 (Wissensliteratur im Mittelalter 10), S. 213-227. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 179 Verhältnis von literarischer Tradition (hauptsächlich Guy de Chauliac, 24 aber auch Roger[glossen] und Lanfrank), anderen zeitgenössischen Chirurgen-‘Schulen’ und eigener Erfahrung zu finden sind und dadurch Licht auf die unterschiedliche Praxis im Alltag werfen. Das 1517 erschienene Feldbuch der Wundarznei verdankte seine Verbreitung bis ins Französische und Niederländische den hochwertigen Holzschnitten, die einen eigenen Weg der Wissensvermittlung darstellen. 25 Der Titel resultiert aus Hans’ Engagement in den burgundischen Kriegen 1474-1477; er hat danach als Wundarzt im Straßburger Antoniter-Hospital die am ‘Antoniusfeuer’ ( ignis sacer ) Erkrankten behandelt und verfügte insofern über fundierte Kenntnisse in der Therapie akuter und chronischer Wunden. Sogar die sonst seltenen Amputationen dürften bei seiner speziellen Klientel relativ häufig angefallen sein, da die Mutterkornvergiftung zu Gefäßverengungen und damit zum Absterben von Extremitäten führen kann; die Gliedmaßen wurden entfernt, wenn sie schwarz und brandig geworden waren. 26 Der zur gleichen Generation gehörende Chirurg Hieronymus Brunschwig (vor 1450-vor 1512) hatte übrigens einen ganz ähnlichen Lebenslauf und zählt wie Hans von Gersdorff zu den Pionieren der Schusswunden-Behandlung. Auch er benutzte ausgiebig Guy de Chauliac und förderte den Absatz seiner Cirurgia durch Abbildungen; 27 erfolgreicher wurden jedoch seine Destillierbücher, die die neue Alchemie einarbeiteten. Bevor wir uns der Behandlung zuwenden, ist vorauszuschicken, dass mittelalterliche Chirurgen von tödlichen Wunden Abstand nahmen. Dies entspricht der zeitgenössischen Konvention, wonach der Arzt am Sterbebett nichts zu suchen hat - da übernimmt der Priester die Begleitung. Es kommen jedoch noch weitere Aspekte hinzu: Die richtige Prognose zu stellen, war schon in der Antike ein wesentlicher Teil der ärztlichen Kunst (und das blieb so bis [mindestens] ins 19. Jahrhundert), besonders was fehlende Heilungschancen anging, denn die Behandlung von Todgeweihten zu übernehmen, galt nicht etwa als Menschenfreundlichkeit, sondern als Geldgier - die Palliativmedizin war noch nicht erfunden. 28 Natürlich gab es immer Scharlatane, die eine bedenkliche Situation vorspielten, um dann den leichten Erfolg ihren großartigen Fähigkeiten zuschreiben zu lassen, aber auch das wurde moralisch verurteilt. 29 Im christlichen Mittelalter kam das Problem hinzu, dass Personen, die schuld am Tod eines Menschen gewesen waren, kein geistliches Amt ausüben durften. Seit der berühmten Entscheidung ecclesia abhorret a sanguine auf dem Konzil von Tours (1163) war die 24 Guys Einfluss zeigt sich auch in anderen deutschsprachigen Texten, vgl. z. B. Gisela Weber, Eine altdeutsche Fassung der ‘Kleinen Chirurgie’ Guys de Chauliac in der Abschrift Konrad Schrecks aus Aschaffenburg (1472) , Pattensen 1982. 25 Hans von Gersdorff, Feldbuch der wundartzney , Straßburg 1517, Nachdruck Lindau 1976. Zum Verhältnis von Bild und Text: Melanie Panse, Hans von Gersdorffs ‘Feldbuch der Wundarznei’. Produktion, Präsentation und Rezeption von Wissen , Wiesbaden 2012 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 7). 26 Beschrieben in Feldbuch (wie Anm. 25), Bl. LXIIIrb-va. Vgl. dazu Lila Yawn, „The Bright Side of the Knife. Dismemberment in Medieval Europe and the Modern Imagination“, in: Wounds in the Middle Ages (wie Anm. 21), S. 215-245. 27 Melanie Panse, „Den Leser in Text und Bild begleiten. Formen der Wissensvermittlung in medizinischen Schriften des ausgehenden Mittelalters“, in: Das Mittelalter 17.1 (2012), S. 126-138. 28 Albrecht Reichelt, Die Entwicklung der Prognose in der Medizin von 1840 bis 1975 , med. Diss. Hamburg 1978; Daniel Schäfer, Der Tod und die Medizin. Kurze Geschichte einer Annäherung , Berlin u. a. 2015. 29 Grundlegend: Hippokrates, Der wahre Arzt , übertragen von Wilhelm Capelle, Zürich/ Stuttgart 1961. Weitere Textbeispiele in: Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen , hg. von Walter Müri, München/ Zürich 5 1986. 180 Ortrun Riha Ausübung der Chirurgie Geistlichen verboten, weil das Risiko von Operationen zu hoch war. Die Distanzierung vom Tod ging jedoch noch weiter: Wer - und sei es noch so indirekt und völlig schuldlos - mit einem Todesfall in irgendeiner (Kausal-)Verbindung stand, durfte nicht in geweihter Erde bestattet werden. 30 Unter solchen Umständen war der Arztberuf insgesamt - erst recht die Chirurgie - extrem riskant, und deshalb verwundert es nicht, dass in medizinischen Kontexten regelmäßig prognostische Fragen aufgeworfen werden. Erinnert sei an die Vielzahl mantischer Texte, die durch magische Praktiken die Zukunft ergründen wollten, 31 oder an laienastrologische Traktate, die zum Beispiel die Mondphase mit den Heilungschancen in Verbindung brachten. 32 Doch bleiben wir bei den Chirurgen. Bei Roger (Kapitel 3.xxv) lesen wir beispielsweise: 33 Si quis vulneratus fuerit in corde, pulmone, epate, stomacho, diafragmate, eum cure nostre non committimus. […] Quorum omnium vulnera iudicamus mortalia; ne igitur nostro vicio videantur perire, ab huiusmodi cura potius desistamus. (‘Wenn jemand an Herz, Lunge, Leber, Magen und Zwerchfell verletzt wurde, übernehmen wir seine Behandlung nicht [wörtl.: übergeben wir ihn nicht unserer Fürsorge]. Die Verletzungen all dieser [Organe] betrachten wir als tödlich; damit also die [Betroffenen] nicht durch unsere Bemühungen umzukommen scheinen, wollen wir lieber von Behandlungen dieser Art Abstand nehmen.’) Eine ähnliche Aufzählung finden wir auch bei Ortolf (Kapitel 162), der allerdings seinen Behandlungsverzicht nur implizit erklärt: Jst das hiren wunt oder daz hercz oder dÿ leber oder dÿ plosze oder ein cleiner darem, daz ist alles tötlich. Wirt aber der grösser darem verhawen oder der mag, den saltu nehen mit eÿnem cleÿnen seÿdenvaden vnd salt im des roten puluers als lang darein strewen, pisz es geheilt. Darnach saltu dÿ wunten zuheÿlen mit dem wünttranck vnd mit salben. Weshalb Ortolf bei Magen und Dickdarm optimistisch war, muss offen bleiben; aus heutiger Sicht hat ein Patient selbst beim Einsatz modernster Verfahren nur geringe Überlebenschancen, wenn das Bauchfell ( Peritoneum ) unsteril eröffnet wurde. In der Militärmedizin figurieren deshalb offene Bauchwunden als ‘abdominelle Katastrophe’, für die es keine standardisierten Behandlungsempfehlungen gibt, sondern wo die Chirurgen auf die jeweiligen Komplikationen zu reagieren versuchen müssen. 34 Ein Faktor bei dieser Divergenz mag die schwierige 30 Einen schönen Eindruck von diesbezüglichen Schreiben an die päpstliche Bußbehörde gibt Arnold Esch, Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst , München 2014. 31 Textbeispiele bei Ortrun Riha, Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften. Klassifikationskriterien und Kombinationsprinzipien bei Texten ohne Werkcharakter , Wiesbaden 1992 (Wissensliteratur im Mittelalter 9), S. 134-140. Vgl. auch Alexander Fidora, „Der wissenschaftliche Ort der Mantik in der Schule von Toledo (12. Jahrhundert)“, in: Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter , hg. von Loris Sturlese, Köln u. a. 2011, S. 33-50. 32 Riha (wie Anm. 31), S. 40-65; Stefano Caroti, „Astrologie im Mittelalter. Von superstitio zur scientia astrorum “, in: Mantik (wie Anm. 31), S. 13-32; Christoph Weißer, Studien zum mittelalterlichen Krankheitslunar. Ein Beitrag zur Geschichte laienastrologischer Fachprosa , Pattensen 1982 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 21). 33 Vgl. die Edition (Anm. 7). Übersetzung O. R. 34 Vgl. z. B. Alexander Paul Eisenächer, Die vakuumassistierte Wundbehandlung der Bauchwunde bei komplikationsreichem Verlauf , med. Diss. Lübeck 2011. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 181 Diagnostik gewesen sein, die ein Abschätzen von Verletzungstiefe und -schwere oder von verbliebenen Fremdkörpern nur eingeschränkt zuließ; eventuell sind auch die geringen anatomischen Kenntnisse in Rechnung zu stellen. Eine Hirnverletzung konnte Ortolf allerdings recht gut erkennen (Kapitel 142): Wjrt daz hiren wünt, daz saltu also erkennen: Er verlewset sein sÿnn vnd dÿ augen werden im rot vnd waz er isset, daz verleuset er vnd mag nit zu stul gen. Vnd dÿ züng wirt im swarcz vnd er greÿffet vff daz haubt vnd reÿst daz pflaster vnd dÿ pinden herab. Auf jeden Fall blieb der Ausgang bei einer Verwundung bis zum Abschluss des Heilungsprozesses heikel und unkalkulierbar. Vielleicht ist deshalb eine dreiteilige Abbildungsserie vom Ende des 14. Jahrhunderts aus Ms. VI Fc 29, Bl. 97 und 98, der Fürstlich Lobkowitz’schen Bibliothek in Raudnitz (seit 1998 in Schloss Nelahozeves nahe Prag), die das Verdikt curabilis bzw. incurabilis recht arbiträr (abwechselnd) auf verschiedene Lokalisationen von Wunden verteilt, weniger ein Hinweis auf Inkompetenz oder unkritische Herangehensweise an die Tradition, 35 sondern vielmehr ein kluger und erfahrungsbasierter Hinweis auf die Unvorhersehbarkeit von Krankheitsverläufen. Betrachten wir nun die drei wichtigsten praktischen Probleme, mit denen die mittelalterlichen Chirurgen konfrontiert waren und die ihre Patienten gefährdeten. Eher mittel- und langfristig wirkten sich Infektionen aus, wohingegen akute Lebensgefahr (sowohl bei Verwundungen als auch bei Operationen) durch Verbluten einerseits und durch den Schmerz andererseits bestand. Beides kann zu einem nicht beherrschbaren Schock führen (zu einem hämorrhagischen bzw. hypovolämischen Schock bei starkem Blutverlust bzw. zu einem neurogenen Schock durch den Schmerz). Mit ‘Schock’ ist hier nicht wie in der Alltagssprache eine akute psychische Belastungsreaktion gemeint, sondern der vergebliche Versuch des Körpers, den Blutdruck zu stabilisieren und den Kreislauf aufrecht zu erhalten. Es wird dabei jedoch durch Übersäuerung und Mikrothrombenbildung ein Teufelskreis (auch ‘Schockspirale’ genannt) in Gang gesetzt, der im Ergebnis zu einem Herzversagen führt. Erstmals in diesem Sinne bei Verwundeten auf dem Schlachtfeld beschrieben wurde der Schock 1731 vom königlichen Feldchirurgen Henry François Le Dran (1685-1770). 36 Ein Schock ist selbst unter Einsatz modernster Intensivmedizin lebensbedrohlich, in der Alten Medizin war er nicht beherrschbar. Wollten die mittelalterlichen Chirurgen also ihre Patienten retten, mussten sie den Schmerz zumindest reduzieren und eine hinreichende Blutstillung sicher stellen - und schnell arbeiten, um die in aller Regel ohnmächtig Gewordenen rasch wieder wecken zu können, bevor die fatale (neurogene) Schockspirale einsetzen konnte. 37 Operationen dürften 35 In diesem Sinne mokiert sich Sudhoff, Beiträge , Teil 1 (wie Anm. 4), S. 72-74 mit Tafel XIV, vgl. http: / / fabian.sub.uni-goettingen.de/ fabian? Raudnitzer_Lobkowicz'sche_Bibliothek (letzter Zugriff: 21.6.2017). 36 Robert M. Hardaway, „Wound Shock. A History of its Study and Treatment by Military Surgeons“, in: Military Medicine 169 (2004), S. 265-269. 37 Berühmt für seine Schnelligkeit ist vor allem Dominique Jean Larrey (1766-1842), der Leib- und Feldarzt Napoleons, geworden, der bis zu 200 Amputationen am Tag durchgeführt haben soll: Panagiotis N. Skandalakis u. a., „To Afford the Wounded Speedy Assistance. Dominique Jean Larrey and Napoleon“, in: World Journal of Surgery 30 (2006), S. 1392-1399. Das hohe Tempo wird in älteren Texten nicht explizit thematisiert, doch wenn man das entsprechende Kapitel bei Hans von Gersdorff, Feldbuch (wie Anm. 25), Bl. LXIII, unter diesem Aspekt liest, spürt man etwas von dem Zeitdruck, unter dem gearbeitet werden musste. 182 Ortrun Riha deshalb - wenn sie denn überhaupt vorkamen - eine Rarität gewesen sein; von den seltenen Amputationen war schon die Rede; ergänzt werden könnten noch zum Beispiel die Kastration (auch im Gefolge der Behandlung von Leistenbrüchen) und der Steinschnitt. Wie wurde das Problem ‘Schmerz’ nun gelöst? 38 Eines der ältesten chirurgischen Rezepte des Mittelalters beschreibt die Ingredienzien für Schlafschwämme ( spongia somnifera ): Schon im Codex Casinensis 97 (9. Jahrhundert) 39 und im karolingischen Lorscher Arzneibuch sind diese enthalten. 40 Sie finden sich im salernitanischen Standardwerk der Arzneizubereitung, dem Antidotarium Nicolai 41 (12. Jahrhundert), und sie werden bei fast allen namhaften Chirurgen, z. B. bei Bruno von Longoburgo, Teodorico Borgognoni, Heinrich von Pfalzpaint (1400-1465) sowie letztmals bei Hans von Gersdorff ( Feldbuch , Bl. LXIIIIr), erwähnt: Feuchte Schwämme werden mit Kräutersäften getränkt und dann getrocknet. Bei Bedarf befeuchtet man sie wieder und legt sie auf Mund und Nase des Patienten, so dass dieser sowohl über die Nasenschleimhaut als auch durch Schlucken die Mittel aufnehmen kann. Die Häufigkeit der Belege mag zur Annahme (ver-)führen, dass es sich um eine gängige Praxis gehandelt hat, d. h. dass die Vollnarkose im Mittelalter bekannt gewesen sei. 42 Die Zutaten haben durchaus eine betäubende Wirkung: An erster Stelle steht das schon in der Antike als Schmerz- und Schlafmittel benutzte, aus Schlafmohn ( Papaver somniferum L.) gewonnene Opium, dessen Rauschwirkung jedoch bekannt war und schon in der Antike als bedenklich und gefährlich galt. Weitere Kernkomponenten waren gepresste Säfte von Alraunenblättern ( Mandragora officinarum L.), von Kraut und Wurzel der Tollkirsche ( Atropa belladonna L.), von Schwarzem Bilsenkraut ( Hyoscyamus niger L.; aus der Antike als Narkotikum bekannt war Hyoscyamus albus L.), Wasserschierling ( Cicuta virosa L., im mediterranen Raum stattdessen Gefleckter Schierling, Conium maculatum L.), Efeu ( Hedera helix L.), Gartenlattich ( Lactuca sativa L.) sowie von weiteren (giftigen) Pflanzen, wie Eibe, Stechapfel oder Seidelbast. Aus dieser Anhäufung gefährlicher Rauschdrogen resultiert die bereits bei Guy de Chauliac recht scharf formulierte Distanzierung vieler Chirurgen. Auch Ortolf erwähnt die Schlafschwämme mit keinem Wort und im Lauf des 16. Jahrhunderts verschwinden sie gänzlich aus chirurgischen Lehrbüchern. Geht man davon aus, dass die erzielte Wirkstoffdosierung ausreichend war, um den Patienten bewusstlos zu machen, dann war diese Art der Narkose nicht steuerbar und führte zu unerwünschten Nebenwirkungen (z. B. Erregungszuständen, Krämpfen und Erbrechen) bzw. zu schweren bis tödlichen Vergiftungen. Ob man mit Fenchel- 38 Übersicht bei Swen H. Brunsch, „Schmerzmittel im Mittelalter“, in: Der Schmerz 21 (2007) 4, S. 331-338. 39 Friedrich W.T. Hunger, The Herbal of Pseudo-Apuleius. From the Ninth-Century Manuscript in the Abbey of Monte Cassino (Codex Casinensis 97) together with the First Printed Edition of Joh. Philippus de Lignamine (Editio Princeps Romae 1481) both in Facsimile, Described and Annotated , Leiden 1935. 40 Henry E. Sigerist, Studien und Texte zur frühmittelalterlichen Rezeptliteratur , Leipzig 1923, Nachdruck Vaduz 1977 (Studien zur Geschichte der Medizin 13); Ulrich Stoll, Das Lorscher Arzneibuch. Ein medizinisches Kompendium des 8. Jahrhunderts (Codex Bambergensis medicinalis 1). Text, Übersetzung und Fachglossar , Stuttgart 1992 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 28). 41 Dietlinde Goltz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Dargestellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai. Mit einem Nachdruck der Druckfassung von 1471 , Stuttgart 1976 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e. V., N. F. 44). 42 Gundolf Keil, „Spongia somnifera. Mittelalterliche Meilensteine auf dem Weg zur Voll- und Lokalnarkose“, in: Anaesthesist 38 (1989), S. 643-648; Claudia Richter, „Schlafmachende Schwämme“, in: Pharmazeutische Zeitung 143 (1999) Nr. 31, online unter: http: / / www.pharmazeutische-zeitung.de/ index. php? id=pharm4_31_1999 (letzter Zugriff 24.5.2016). Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 183 saft und Essig, wie bei Hans von Gersdorff angegeben, den Bewusstlosen bei Bedarf (und diese Notwendigkeit wurde soeben erläutert) schnell wieder aufwecken konnte, ist sehr zu bezweifeln. Auf der anderen Seite dürfte gerade bei der ausdrücklich empfohlenen mehrmaligen Anwendung die Konzentration der Drogen so stark verdünnt worden sein, dass keine Wirkung eintrat. Wenn man nun noch in Rechnung stellt, dass ein Patient bei gewaltigem Schmerz von allein ohnmächtig wird, tendiere ich dazu, die Schlafschwämme für einen Ausdruck typisch mittelalterlicher Freude am Geheimnisvollen und Fantastischen zu halten. Gegen den Schmerz von Wunden mussten nun aber Lösungen her, und davon gab es eine Menge, großteils mit den erwähnten Drogen, aber in anderer Darreichungsform. Opium wurde - wenn es denn zum Einnehmen verschrieben wurde - extrem vorsichtig tropfenweise in größeren Mengen Flüssigkeit oder Brei verabreicht und eher als Schlafmittel benutzt. Mit Bilsenkraut gab es Räucherungen, die vor allem gegen Zahnschmerzen und Atembeschwerden empfohlen wurden (aber zu unkontrollierten Rauschzuständen führen können), und auch vom warmen Mandragorawein sollte nach Plinius dem Älteren (23-79) zum Einschlafen nur der Dampf eingeatmet werden ( Naturalis historia 25, 148). Ansonsten dominierte die äußerliche Betäubung des Wundgebiets, wofür man die genannten Drogen mit geringem Risiko einsetzen kann. Bei Ortolf gibt es z. B. beruhigende Einreibungen mit Mohnsamen und Bilsenkraut (Kapitel 83), oder es werden Mohnblätter als Bestandteil der Pappelsalbe (Kapitel 167) verwendet; auch Alraune eignet sich dafür und wird heute gegen Gelenkentzündungen eingesetzt. Ansonsten setzten die Wundärzte auf Kühlung, was bei der spürbaren Überwärmung des Wundgebiets infolge von Entzündungsvorgängen nahe liegt. Empfohlen wurden Umschläge und Einreibungen mit Aloe, diversen Schleimdrogen, die in Kräuterbüchern als ‘kalt’ und ‘feucht’ eingestuft wurden (z. B. Eibisch, Malve, Isländisch Moos, Leinsamen), sowie Veilchensalbe und Rosenöl. 43 Ebenfalls gelöst werden musste die Problematik der Blutstillung. Das Rote Pulver zeigt schon durch die Signatur der Farbe (Chromoanalogie) die Indikation als Blutstillungsmittel (Styptikum) an, es wurde jedoch auch in der Weiterbehandlung benutzt. 44 Es enthält Harze 45 (Kiefernharz [ colophonium ], Mastix, Weihrauch und das rot färbende Drachenblut) sowie Bitumen (Naturasphalt, Erdpech [ mumia ]), die zunächst kleben und abdecken und mittelfristig desinfizierend wirken. Weniger effektiv und bei starken Blutungen unzureichend sind die Gerbstoffe des Blutströpfchens (Großer Wiesenknopf [ Sanguisorba officinalis L.]), 46 die aber zur Wundheilung beitragen und den suggestiven Namen der Pflanze letztlich doch bestätigen. 43 Die Kategorisierung nach den Primärqualitäten ‘warm’ - ‘kalt’ und ‘trocken’ - ‘feucht’ erfolgte auf der Basis des damaligen medizintheoretischen Modells der Viersäftelehre; vgl. hierzu z. B. Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie , Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 4); Ingo W. Müller, Humoralmedizin. Physiologische, pathologische und therapeutische Grundlagen der galenistischen Heilkunst , Heidelberg 1993; Harald Derschka, Die Viersäftelehre als Persönlichkeitstheorie. Zur Weiterentwicklung eines antiken Konzepts im 12. Jahrhundert , Ostfildern 2013. 44 Die Fassung von Roger bei Sudhoff, Beiträge , Teil 2 (wie Anm. 4), S. 164f. Ausführliche Analyse der Bestandteile bei Ortrun Riha, „Probatum est. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der mittelalterlichen Chirurgie“, in: Medizinhistorisches Journal 41 (2006), S. 137-155. 45 Die bisher umfangreichste und aktuellste Zusammenstellung mittelalterlicher Drogen mit Belegstellen und dem Versuch einer modernen Deutung bei Jörg Mildenberger, Anton Trutmanns ‘Arzneibuch’ , Teil 2: Wörterbuch , 5 Bde., Würzburg 1997 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 56). 46 Für die Interpretation der historischen Pflanzennamen grundlegend: Heinrich Marzell unter Mitwirkung von Wilhelm Wissmann und Wolfgang Pfeifer, Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen , Bd. 1-2 und 184 Ortrun Riha Ebenfalls antiseptisch wirken die Heilerde ( bolus armeniacus ) sowie die Schleimstoffe des Beinwells ( Symphytum officinale L., consolida , walwurz ). Der Blutstein (Hämatit) ist sicher wegen seiner Signatur in das Rezept aufgenommen worden: Es ist ein silbriger Stein, der beim Schleifen mit Wasser dieses rot färbt, so dass er zu bluten scheint. Neben diesem ‘Klassiker’, der bei Gesellenprüfungen abgefragt wurde 47 und den deshalb jeder Chirurg kannte, wurden wahrscheinlich auch individuelle Zubereitungen hergestellt. Hans von Gersdorff lüftete ein solches ‘Werkstattgeheimnis’ und gibt als Zutaten für sein Blutstillungsmittel ungelöschten Kalk, Alaun und Gallapfel an, um die klebende Wirkung zu erhöhen: Die Wundränder werden so durch die Ätzwirkung gleichsam chemisch verschweißt. Abdeckend und klebend ist Eiweiß, in das klein geschnittene Tierhaare gemischt werden und das darüber aufgetragen wird. Einen wasserdichten und gleichzeitig elastischen Verschluss liefert eine Tierblase, die über einen festen Faserbausch gezogen wird. Der so entstandene Druckverband trägt zusätzlich zur Blutstillung bei. Von einem offenbar von anderen Chirurgen praktizierten Zunähen der Wunde distanziert sich Hans von Gersdorff dagegen mit großem Selbstbewusstsein ( Feldbuch , Bl. LXIIIv), was aus heutiger Sicht nachvollziehbar ist: In der Regel dürften fortlaufende Nähte (Kürschnernaht) zum Einsatz gekommen sein, die relativ schnell gehen und flüssigkeitsdicht sind. Allerdings erhöhen sie die Spannung der Wundränder, gefährden deren Ernährung und erlauben keinen Abfluss der Wundflüssigkeit; sie stören also die Wundheilung. Das Ausbrennen war bei unstillbaren Blutungen aus großen Gefäßen die ultima ratio . 48 Die Blutung stand dann zwar, aber das Gewebe war durch die etwa handtellergroßen Brenneisen zerstört, oft verkohlt; das erschwerte die Folgebehandlung enorm und erforderte meistens eine operative Revision. Kleine Brandwunden durch Kauterisieren wurden als eine Art punktueller ‘Reiztherapie’ bzw. ‘ausleitendes Verfahren’ zur inneren Reinigung und bei (vermeintlichen) Organschäden in Analogie zum blutigen Schröpfen eingesetzt. Das systematische Ausbrennen von Wunden wurde von Giovanni da Vigo (1460-1517), dem Leibarzt von Papst Julius II. (1443-1513), als Reaktion auf Verwundungen mit Schießpulver aufgebracht, die man wegen des unbekannten Schadensmusters für giftig hielt und auch mit siedendem Öl übergoss. Vom gleichen Autor stammen auch Vorschläge zur Gefäßligatur, berühmt geworden für seine erstmalige Arteriennaht (1552) ist allerdings Ambroise Paré. 49 Bewährt hat sich die Technik nicht, weil bei dem damaligen groben Material die Begleitnerven der Adern mitgefasst wurden, was zu unerträglichen Schmerzzuständen und operativen Revisionen führte. Eine brauchbare Nahttechnik für Gefäße hat erst 1902 der spätere Nobelpreisträger Alexis Carrel (1873-1944) entwickelt. 50 5, Leipzig 1943-1972, Bd. 3-4 aus dem Nachlass hg. von Heinz Paul, Stuttgart/ Wiesbaden 1977-1979, Lizenzausgabe Köln 2000. 47 Tanja Merk, Das Medizinalwesen der Reichsstadt Nördlingen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert unter hauptsächlicher Berücksichtigung der Physici, Barbiere und Bader , med. Diss. Ulm 1999, S. 112-134; vgl. auch Werner Münkle, Das Medizinalwesen der Reichsstadt Hall vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit. Eine Auswertung der Bader-, Barbier- und Medizinalordnungen , med. Diss. Ulm 1992. 48 So explizit Hans von Gersdorff, Feldbuch (wie Anm. 25), S. LXIIIv: Wütet aber ein ader vnd wolt sich nit lassenn stellen so cauterisiers . 49 Jean-Michel Delacomptée, Ambroise Paré, la main savante , Paris 2007. 50 Ernst Jeger, „Geschichte der Gefäßnaht am Menschen“, in: ders., Die Chirurgie der Blutgefäße und des Herzens , Berlin 1973, Nachdruck Berlin 2011, S. 229-234. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 185 Wo Nähte aber offenbar zum Einsatz kamen, waren klaffende Verletzungen im Gesicht. Hier dürften kosmetische und funktionale Aspekte eine Rolle gespielt haben; die Erfahrungen waren wohl auch gar nicht so schlecht, denn am Kopf sind wegen der guten Durchblutung die Heilungschancen viel besser als sonst am Körper. Verwendet wurde auch feineres Material, insbesondere Seidenfäden und dafür geeignete dünne Nadeln, die bei der dickeren Haut an Bauch oder Gliedmaßen unbrauchbar gewesen wären. Dass zusätzlich zur Naht noch ein abdeckendes Pflaster 51 aus soeben genannten Komponenten aufgebracht wurde, zeigt folgendes Beispiel (Ortolf, Kapitel 148): Jst daz dÿ nasz gehawen wirt, also daz es durch dÿ naszlöcher gee, so saltu sÿ mit eÿnem cleÿnen vaden, der seÿdin seÿ, oder süst mit eÿnem cleÿnen vaden neen. Vnd salt jm ein pflaster machen von eÿnem weÿsen eÿnes eÿes vnd von ein wenig weÿsen weÿrauchs vnd mit werck, daz es ein pflaster wird, vnd lege es vber dÿ wünden vnd lasz es als lang ligen, pisz daz dich düncket, daz dÿ nasen geheÿlet seÿ. Du salt im auch ein rörin oder ein vederkÿel in dÿ naszlocher stossen, daz sÿ icht verheillent vnd daz der adem herausz müge vnd daz der sige herdurch gee. Jst aber daz dÿ nasz auszeinander geet vnd daz pflaster sÿ nit heÿlet, so nÿm es ab vnd drück dÿ wünten zusammen mit deÿnen henden vnd leg aber der selben pflaster eÿns darvber als lang, pisz daz das pflaster hert wird. Aus dieser Passage wird im Übrigen auch ersichtlich, welch großer Wert auf einen ungehinderten Abfluss der Wundflüssigkeit ( sige ) gelegt wurde. An dieser Stelle sei kontrastiv eine weitere Sensationsgeschichte aus der mittelalterlichen Chirurgie erwähnt, die einige Fachleute für glaubwürdig halten. 52 In der Wundarznei Heinrichs von Pfalzpaint (1460) ist von einem Nasenersatz durch einen mobilisierten Stirnlappen die Rede, wodurch eine schwere Mittelgesichtsverletzung zumindest gedeckt worden sein soll. Die große Geheimhaltung mit wochenlanger Isolation des Kranken klingt allerdings ein bisschen verdächtig. Rund 100 Jahre später publizierte Gaspare Tagliacozzi (1545-1599) eine Modifikation dieser angeblich aus Indien stammenden Technik, die nach 1400 von der Chirurgenfamilie Branca in Catania/ Sizilien mit einer gestielten Fernplastik aus Oberarmhaut erprobt und 1450 von der Familie Vianeo in Kalabrien übernommen worden sei. Es soll Monate gedauert haben, bis der Lappen angewachsen war und aus der Oberarmhaut Gefäße einsprossten - wenn überhaupt. 53 Im 17. Jahrhundert ist jedenfalls davon keine Rede mehr. Die erste nachgewiesene gestielte Fernplastik zum Nasenersatz, bei der allerdings nicht nur Haut mobilisiert, sondern auch die versorgenden Blutgefäße eingenäht wurden, gelang dem Berliner Chirurgen und Augenarzt Carl Ferdinand von Graefe (1787-1840) im Jahr 1811. 51 Ulrike Zeber, Die Geschichte des Pflasters. Von der traditionellen Arzneiform Pflaster zum Heftpflaster , Stuttgart 2001 (Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte 18). 52 Christoph Weißer, „Die Nasenersatzplastik nach Heinrich von Pfalzpaint“, in: Licht der Natur (wie Anm. 8), S. 485-506; Bernhard Schnell, „Heinrich von Pfalzpaint, ein Ahnherr der plastischen Chirurgie auf der Marienburg“, in: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat. Leben und Nachleben , hg. von Jaroslaw Wenta, Sieglinde Hartmann und Gisela Vollmann-Profe, Torun 2008 (Sacra bella septentrionalia 1), S. 231-244. 53 Der oft publizierte Holzschnitt mit der eindrucksvollen Fixierung des Arms über dem Kopf zeigt jedenfalls mit dem angesetzten röhrenförmigen Lappen eine ungeeignete Vorgehensweise, vgl. z. B. http: / / www.sciencemuseum.org.uk/ broughttolife/ people/ gasparetagliacozzi (letzter Zugriff 24.5.2016). 186 Ortrun Riha Die Domäne der mittelalterlichen Chirurgie war eindeutig die Wundbehandlung. 54 Deren besondere Herausforderung bestand in der Versorgung der aufgrund der fehlenden Antisepsis immer infizierten Verletzungen (auch wenn - wie wir schon gehört haben - einzelne Protagonisten von ‘sauberen’ Wunden geträumt haben). Die Keimbesiedelung der Wunde verhindert eine physiologische Wundheilung, deshalb war die permanente Betonung des ‘Reinigens’ der betroffenen Stelle aus heutiger Sicht insofern hilfreich, als schon einfaches Auswaschen bei oberflächlichen Verletzungen zu einer merklichen Reduktion der Bakterien führt und die Chancen der körpereigenen Immunabwehr erhöht. Präsent blieb jedoch die ständige Gefahr einer Ausweitung der bakteriellen Infektion bei tiefen und zerklüfteten Wunden, vor allem, wenn noch ein Fremdkörper darin steckte: Das Übergreifen auf den Knochen (Osteo[myel]itis) hat eine langwierige Krankheit zur Folge und macht manchmal eine Amputation unausweichlich. Eine diffuse Ausbreitung der Erreger in die Weichteile (Wundbrand, Wundrose, Phlegmone) geht mit hohem Fieber einher und führt ohne Antibiotika zu einer Blutvergiftung (Sepsis), die noch heute in 80 % der Fälle tödlich endet. Vergleichsweise harmlos, aber für einen individuellen Lebensentwurf dennoch einschneidend nimmt sich die Narbenbildung aus, die bei der sich über Wochen, ja Monate erstreckenden Sekundärheilung nicht nur ein kosmetisches, sondern durch die damit verbundene Gewebeschrumpfung auch ein funktionelles Problem darstellt, z. B. mit Bewegungseinschränkungen (Verkrüppelung) als Folge. Das Spektrum der Arzneiformen für die Wundbehandlung war breit und umfasste alle gängigen Mittel: Pulver, Salben, Öle, Pflaster und Umschläge; innerlich sollten Tränke, Latwergen, Pillen und Zäpfchen den Heilungsprozess unterstützen. Zwar kamen vereinzelt auch organotherapeutische Drogen 55 zum Einsatz und auch Heilerden sind belegt, doch spielten Harze und Heilkräuter die größte Rolle. 56 Dass diese Herangehensweise rational und in den meisten Fällen empirisch untermauert war, wurde bereits mehrfach nachgewiesen; 57 das Rote Pulver wurde bereits vorgestellt. Ein weiteres gutes Beispiel hierfür ist die als Universalmittel eingesetzte Pappelsalbe (Ortolf, Kapitel 167): Also sal man dÿ pappelsalben machen: Nÿm papelspawmes spros ein pfunt, hawszwurcz vnd mahenpletter vnd nachtschatten, itlichs ein halb marck, das stosz alles zusammen vnd sewde es mit vier pfunden smerbes ein wenig. Darnach laz es vier tage stehen, daz dÿe krafft der krewter in daz smerb gee. Darnach 54 Karine van ’t Land, „The Solution of Continuous Things. Wounds in Late Medieval Medicine and Surgery“, in: Wounds in the Middle Ages (wie Anm. 21), S. 89-108. 55 Zum Bibergeil ( castoreum ) Riha (wie Anm. 44), S. 140-142. 56 Gabriela Stark, Die mittelalterliche Wundbehandlung mit Pflanzen , online unter: www.satureja.de/ html/ wundversorgung.html (letzter Zugriff 28.4.2016); Johannes Müller, Pflanzen zur Wundbehandlung der mittelalterlichen arabischen Heilkunde in der europäischen Tradition , Stuttgart 2013 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 100). Einen Eindruck, wenn auch mit anderem Schwerpunkt, gibt ferner Ian Naylor, „Medicines for Surgical Practice in Fourteenth-Century England. The Judgement against John le Spicer“, in: Wounds in the Middle Ages (wie Anm. 21), S. 175-196. 57 John M. Riddle, „Methodology of Historical Drug Research“, in: ders., Quid pro quo. Studies in the History of Drugs , Great Yarmouth 1992 (Collected Studies Series 367), Nr. XV; ders., „Theory and Practice in Medieval Medicine“, in: Viator 5 (1974), S. 157-184 (erneut abgedruckt in: Quid pro quo , Nr. VI); Claudia Richter , Phytopharmaka und Pharmazeutika in Heinrichs von Pfalzpaint ‘Wündärznei’ (1460). Untersuchungen zur traumatologischen Pharmakobotanik des Mittelalters , Würzburg 2004 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 84). Zu diesem Thema arbeitet auch die Würzburger „Forschergruppe Klostermedizin“, die schon auf eine Vielzahl bemerkenswert wirksamer Mittel gestoßen ist, vgl. z. B. Johannes Gottfried Mayer, Bernhard Uehleke und Kilian Saum, Handbuch der Klosterheilkunde , München 2008. Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen 187 werem es vnd druck es durch ein tuch vnd thu es behalten, es heÿlet alle hiczig wünden vnd ist gut für alle hiczig seuchten vnd auch den, dÿ nit geslaffen mügen. Du magst sie auch also machen: Nÿm vier pfunt pütteren vnd ein pfunt papelsprosses, stosz es miteinander vnd dring es durch ein tuch, sÿ hilfft der prust, dem haubt vnd der leberen vnd allen siechtagen etc. Sie enthält neben der im humoralpathologischen Sinn ‘kühlenden’ Hauswurz, dem lokal betäubenden Mohn und dem giftigen, aber antimikrobiell wirkenden [Schwarzen] Nachtschatten ( Solanum nigrum L.) als wichtigsten Bestandteil junge Sprossen von Pappelblättern. Es hat sich bei der pharmakologischen Analyse herausgestellt, dass diese Salicin enthalten, das in der Leber zu Salicylsäure - dem Wirkstoff im bekannten Aspirin® - verstoffwechselt wird und insofern schmerzstillend und entzündungshemmend wirkt. Die auch heute noch im Handel erhältliche Pappelsalbe wird gegen Hautprobleme, Hämorrhoiden und Weichteilschmerzen empfohlen. Auch die Eibischsalbe ( dialtea ) hat ein positives Wundheilungspotenzial (Ortolf, Kapitel 159): Dÿalteam sal man also machen: Nÿm zweÿ pfunt ibischenwurcz, leinsamen vnd kriechisch hew, itlichs ein pfunt, zwibolden ein halb marck. Die saltu als miteÿnander stoszen vnd sewd sÿ in siben pfunden wassers als lang, pisz daz das wasser nahent eingesied. Darnach thu es in eÿnen sack vnd drück es ausz mit heiszem wasser. Darnach nÿm des saffts zweÿ pfunt vnd sewd es mit vier pfunden pawmöls als lang, pisz daz das safft versotten seÿ. Darnach thu ein pfunt wachses darzu. Als dan das wachs zergangen seÿ, so thu darzu tanplatterpech vnd galbani vnd gümmi edere, itlichs vier lot. Darnach thu darzu kriechisch pech vnd weisses harcz, itlichs ein halb pfunt. Darnach las es alles miteinander wol zergan peÿ dem fewer vnd seÿhe es durch ein reÿnes tuch. Es müssen hier nicht sämtliche Zutaten gewürdigt werden; 58 es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass ‘Griechisches Heu’ ( fenum graecum ) den Bockshornklee ( Trigonella foenum-graecum L.) meint, dessen ätherische Öle in Wunden entzündungshemmend und desinfizierend wirken. Die gemahlenen Samen sind wegen ihres Aromas in vielen Curry-Mischungen enthalten und werden heute bei Appetitlosigkeit empfohlen. Der namengebende Eibisch ( Althaea officinalis L.) ist eine typische Schleimdroge, die reizlindernd und vermutlich auch entzündungshemmend ist. Als letztes Exempel soll die Apostel‘salbe’ ( apostolicum ) 59 vorgestellt werden, die allerdings eher ein kapselartiges Pflaster ist (nach Ortolf, Kapitel 146): Apostolicum macht man also: Nÿm swarcz pech vnd krichisch pech itlichs ein pfunt, nÿm galbani vnd seraphini vnd amoniaci vnd opoponacis itlichs gleich ein lot, wachs sechs lot, essigs ein halb pfunt, vnd thu es alles zusammen in ein schaff vnd laz es ein wenig sÿden. Darnach nÿm mastig vnd olibanum - clein gestossen - vnd thanplaterpech (id est terbentinum), itlichs ein lot, daz thu alles zusammen. Vnd als es wol miteinander zergangen ist, so gewsz es in ein tuch vnd drück es dar durch auf ein kalt wasser. Darnach thu es ausz dem wasser vnd trücken es mit den henden gegen dem fewer mit öle, daz es ein wenig weich wird. Bei dieser Variante setzten die mittelalterlichen Chirurgen ganz auf neun verschiedene Harze, die sich in erwärmtem Zustand untereinander und mit Wachs vermischen ließen. Bei Bedarf 58 Vgl. Das Arzneibuch Ortolfs (wie Anm. 22), S. 290f. 59 Vgl. Anm. 8. Analyse der Zutaten in: Das Arzneibuch Ortolfs (wie Anm. 22), S. 283f. 188 Ortrun Riha musste man diese zähe Mischung wieder erhitzen und mit (Oliven-)Öl vermengen, um sie verstreichen zu können. Im Ergebnis wurde so die Wunde luftdicht abgeschlossen. Nun kann es von Vorteil sein, eine gereinigte Wunde so vor erneuter Keimbesiedelung zu schützen, und durch das feuchte Milieu mag die Heilung gefördert werden, doch wird auch der Abfluss von Wundsekret verhindert. Vielleicht legten die mittelalterlichen Wundärzte, denen diese Problematik, wie wir gesehen haben, bewusst war, einen Schwamm in die Wunde ein, bevor sie sie abdeckten, und dann hätten wir eine ungefähre Entsprechung zur Vakuumversiegelungstherapie, die heute bei chronischen Wunden nach chirurgischer Reinigung (Débridement) in der Heilungsphase (Granulationsphase) recht erfolgreich erprobt wird. Wenn wir die Herangehensweise mittelalterlicher Chirurgen an Verwundungen zusammenfassen, so finden wir in den Texten auf der einen Seite alle zeittypischen Charakteristika, 60 wie Vertrauen in Autoritäten (in der Medizin: Hippocrates, Galen, Dioskurides, Plinius), deduktive Argumentation (ausgehend von der Viersäftelehre bzw. Humoralpathologie, deren Wahrheitsgehalt nicht angezweifelt wurde) sowie Freude an Exempeln und Mirabilien. Wissen wurde durch Anwendung der Signaturenlehre (Aussehen, Wirkung) und durch Analogiebildung (mit Einbeziehung sinnlicher Erfahrung) als heuristisches Prinzip generiert, 61 jedoch nicht ausschließlich: Es gibt viele Beispiele für Anwendungserfahrung, die vor allem auf der Beobachtung von unmittelbaren bzw. kurzfristigen Wirkungen beruhte. Und bei alledem blieben die Wundärzte bescheiden, weil sie täglich die Unwägbarkeit und Schicksalhaftigkeit der Krankheitsverläufe trotz bester Behandlung vor Augen hatten. 60 Martin Pape, Habituelle Kognition. Überlegungen zur Rationalität und Begründbarkeit von Wissen und Erfahrung , Frankfurt a. M. 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 20, 209); Hans-Werner Goetz, „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft“, in: Das Mittelalter 8 (2003), S. 23-33. 61 Olaf Breidbach, Der Analogieschluß in den Naturwissenschaften oder die Fiktion des Realen. Bemerkungen zur Mystik des Induktiven , Frankfurt a. M. 1987. lazet mich unverseret! 189 lazet mich unverseret! Zur Darstellung und Problematisierung körperlicher Züchtigung in Ehestandsmären Sandra Linden I Ausgangstableau: Faszination der Gewaltdarstellung Was gibt es denn für ein Vergnügen, einen zerfleischten Leichnam zu sehen, vor dem man zurückschaudert; und doch laufen sie da, wo er liegt, zusammen, um ihn zu beklagen und sich zu fürchten. Sie fürchten, es im Schlafe zu sehen, gerade als hätte sie jemand gezwungen, es wachend zu sehen oder als hätte sie irgendein Ruf besonderer Schönheit dazu verführt. […] Infolge dieser krankhaften Begier werden im Theater wunderbare Effektstücke aufgeführt. 1 So beschreibt Augustinus im 10. Buch seiner Confessiones die Anziehungskraft, die von Gewalt und Verletzungen ausgeht; ähnliche Überlegungen finden sich bereits in Platons Politeia , wenn der junge Leontios die Leichen auf dem Hinrichtungsplatz anschauen geht. 2 Gewalt und ihre Folgen lösen sowohl in der Realität als auch in der künstlerischen Darstellung eine Schaulust aus, die zwischen Faszination und Grauen schwankt. Gewaltdarstellung fasziniert, 3 wobei Faszination keine verstandesgelenkte, kritisch distanzierte Rezeption meint, sondern im ursprünglichen Wortsinn des lateinischen fascinare ein Bezaubern, eine Augenblicksintensität, die die Aufmerksamkeit des Betrachters emotional bindet. Gewalt ist seit jeher elementarer Bestandteil der Literatur, 4 doch ist die Vergegenwärtigung der Gewalt stark gattungsabhängig und funktioniert in der Heldenepik anders als in der 1 Augustinus, Confessiones , hg. von Lucas Verheijen, Turnhout 1990 (Corpus Christianorum Series Latina 27), X,35: Quid enim uoluptatis habet uidere in laniato cadauere quod exhorreas? Et tamen sicubi iaceat, concurrunt, ut contristentur, ut palleant. Timent etiam, ne in somnis hoc uideant, quasi quisquam eos uigilantes uidere coegerit aut pulchritudinis ulla fama persuaserit. […] Ex hoc morbo cupiditatis in spectaculis exhibentur quaeque miracula. Übersetzung nach Otto F. Lachmann, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus , Leipzig 1888 (RUB 2791/ 94a). 2 Platon, Politeia. Griechisch und Deutsch , nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl und anderen, hg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt a. M./ Leipzig 1991 (Sämtliche Werke in zehn Bänden 5; insel taschenbuch 1405), 439e-440a. 3 Vgl. etwa den aus einer Ringvorlesung hervorgegangenen Sammelband Gewalt: Faszination und Ordnung , hg. von Knut Berner, Sebastian Lange und Werner Röcke, Berlin 2012 (Villigst-Profile 15). 4 Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich vielfältig mit der Thematik beschäftigt, vgl. die Übersicht bei Hania Siebenpfeiffer, „Literaturwissenschaft“, in: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch , hg. von Christian Gudehus und Michaela Christ, Stuttgart/ Weimar 2013, S. 340-347, sowie in mediävistischer Perspektive beispielsweise Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen , hg. von Manuel Braun und 190 Sandra Linden Heiligenlegende oder im Passionsspiel. Spätmittelalterliche Kurzerzählungen bieten in ihrem Hang zur Konkretheit ein breites Tableau körperlicher Gewalthandlungen von der einfachen Verletzung der Haut durch Prügel bis zum Entfernen einzelner Körperteile. 5 Die Reihe der Gewaltarrangements ist lang, beginnt bei klar motivierten Straf- und Rachehandlungen und endet vielleicht bei Rosenplüts Fünfmal getötetem Pfarrer , wo der bereits tote Körper auf mechanische Weise andere verletzt, oder auch bei Kaufringers Rache des Ehemanns , wo gezogene Zähne und abgetrennte Geschlechtsteile vom Goldschmied zu kostbaren Kunstgegenständen veredelt werden. Häufig ist mit der Ausstellung der Gewalt eine Aufmerksamkeitswirkung der Texte verbunden, wird mit der Darstellung konkreter körperlicher Destruktion eine Intensivierung erzielt, die nicht explizit über einen Kommentar aufgefangen wird, sondern einen Sinnüberschuss produziert. 6 Die Texte zeigen eine deutliche Freude am genauen Auserzählen der gewaltsamen Übergriffe, und so entwickelt die Gattung eine besondere Ästhetik der Gewalt. Auch wenn man ein historisiertes Gewaltkonzept ansetzt und bedenkt, dass die Texte von einer breiteren Befugnis zur Ausübung körperlicher Gewalt ausgehen, als sie heute besteht, und eine höhere kulturelle Normalisierung der Gewalt herrscht, 7 sind die detaillierten Beschreibungen doch auffällig und stellen eine gattungsspezifische Besonderheit dar. Innerhalb dieses breiten Spektrums konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf Körperstrafen, die eine Strafinstanz infolge eines Normenverstoßes verhängt und ausführt, denn wenn man die Mären als Texte versteht, die häufig soziale Normen zugleich bestätigend diskursivieren und vielsinnig umspielen, kann man vermuten, dass Sanktionen, die bei Normverletzungen eintreten, eine besondere Aufmerksamkeit der Gestaltung erfahren. Dabei wird auf den Bereich des ehelichen Konflikts, insbesondere auf die Züchtigung der widerständigen Frau durch den Ehemann fokussiert. Cornelia Herberichs, München 2005, und den Band Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit , hg. von Jutta Eming und Claudia Jarzebowski, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), der im Titel schon eine spezifische Ausrichtung der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema andeutet: Im Fokus steht nicht nur die Gewalt als literarisches Sujet, sondern oft auch sprachliche Gewalt und die Gewaltsamkeit der literarischen Sprache. Zur Gewalt von Gruppen vgl. auch Rules and Violence. Regeln und Gewalt. On the Cultural History of Collective Violence from Late Antiquity to the Confessional Age. Zur Kulturgeschichte der kollektiven Gewalt von der Spätantike bis zum konfessionellen Zeitalter , hg. von Cora Dietl und Titus Knäpper, Berlin/ Boston 2014. 5 Zur Darstellung körperlicher Gewalt in der Gattung Märe vgl. Klaus Grubmüller, „Der Tor und der Tod. Anmerkungen zur Gewalt in der Märendichtung“, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw, Tübingen 1996 (Publications of the Institute of Germanic Studies 63), S. 340-347, und Udo Friedrich, „Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer“, in: IASL 21 (1996), S. 1-30. 6 Vgl. Christian Kiening, „Verletzende Worte - verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen“, in: ZfdPh 127 (2008), S. 321-335. 7 Dass Gewalt im Mittelalter in höherem Maße ein integraler Bestandteil des Lebens war, betonen Mark D. Meyerson, Daniel Thiery und Oren Falk, „Introduction“, in: ‘A Great Effusion of Blood’? Interpreting Medieval Violence , hg. von dens., Toronto u. a. 2004, S. 3-16, hier S. 6. Vgl. dort auch den Beitrag von Daniel Baraz, „Violence or Cruelty? An Intercultural Perspective“, S. 164-189. lazet mich unverseret! 191 II Züchtigung der widerständigen Frau Die Zähmung der Widerspenstigen ist nicht erst seit Shakespeares Taming of the Shrew ein im europäischen Raum weit verbreitetes Erzählmotiv; es findet sich in zahlreichen Ehestandsmären. Die Frage, wie der Ehemann seine widerständige Frau zum Gehorsam zwingt, ergibt sich im Märe aus der übel wîp -Thematik 8 in Kombination mit der gottgegebenen Norm, dass die Frau dem Mann in der Ehe untergeordnet ist. 9 Um den göttlichen ordo zu bewahren, muss der Mann seine Position oftmals mit Gewalt durchsetzen. 10 Das eheherrliche Züchtigungsrecht legitimiert die Gewaltausübung des Mannes, 11 und die Texte zeigen diese Strafgewalt als mehr oder weniger öffentliche Praxis, was auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz hinweist. Der Begriff ‘Gewalt’ ist semantisch ambivalent, 12 das Lateinische kennt drei Entsprechungsbegriffe, nämlich 1) potestas als institutionalisierte Herrschaft oder Macht, 2) vis als die Kraft oder Kraftfülle und 3) violentia als konkrete Gewalttat oder Angriff. So ergibt sich ein breites Handlungsspektrum von der legitimen Gewaltausübung innerhalb einer Rechtsordnung bis zum irrationalen Gewaltexzess einer Einzelperson. Gemeinsam ist diesen Ausformungen die Verletzung der physischen oder auch psychischen Integrität des anderen. Auch die Züchtigung der widerständigen Ehefrau schwankt zwischen zwei Gewaltkonzepten, nämlich zwischen der Ausübung eheherrlicher Strafgewalt zur Sicherung der Ordnung und der unkontrollierten und illegitimen Übersteigerung der gewalttätigen Handlungen. In Erzählungen über eheliche Gewaltszenen sind Schläge das häufigste Disziplinierungsmittel; wo diese nicht ausreichen, ist vor allem im Märe das Reiten der Frau als gewaltsame Unterwerfungsgeste mit erotischer Konnotation verbreitet, 13 wobei für die Verletzungen durch den Ehemann stets eine Nähe von Gewalt und Sexualität zu bedenken ist. Die Erzählungen führen das Reiten in erstaunlicher Konkretheit aus, legen der Frau tatsächlich Zaumzeug und Sattel an, lassen die Männer häufig das zelten als eine besonders disziplinierte Gangart einfordern. Das Märe Die gezähmte Widerspenstige 14 malt eine solche Reitszenerie detailliert aus, das Epi- 8 Eine breite Materialsammlung zu diesem Stoffkomplex bietet Franz Brietzmann, Die böse Frau in der deutschen Litteratur des Mittelalters , Berlin 1912, Nachdruck New York/ London 1967. 9 Vgl. Gn 3,16. 10 Zur ordo -Vorstellung in Bezug auf die Ehe vgl. Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt , Frankfurt a. M. 2011 (Geschichte und Geschlechter 60), S. 44-51. Vgl. auch Rüdiger Schnell, Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe , Köln u. a. 2002, S. 107f. 11 Zur eheherrlichen Gewalt vgl. Karl von Amira, Grundriss des germanischen Rechts , Straßburg 1913, S. 178. 12 Zur Gewaltdefinition vgl. Manuel Braun und Cornelia Herberichs, „Gewalt im Mittelalter. Überlegungen zu ihrer Erforschung“, in: Gewalt im Mittelalter (wie Anm. 4), S. 7-37, hier S. 19f. Vgl. auch Manuel Braun, „‘Violentia’ und ‘Potestas’. Mediävistische Gewaltforschung im interdisziplinären Feld“, in: PBB 127 (2005), S. 436-458. Zur Begrifflichkeit vgl. auch Cora Dietl, „Vorwort“, in: Rules and Violence (wie Anm. 4), S. VII-XV, hier S. VIIIf. 13 Zum Motiv vgl. Jan-Dirk Müller, „Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft“, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie , hg. von Martin Huber und Gerhard Lauer, Tübingen 2000, S. 461-481, erneut abgedruckt in: ders., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien , Berlin 2010, S. 45-63, hier S. 56f. 14 Vgl. Die gezähmte Widerspenstige , im Folgenden zitiert nach der Edition im DFG-Projekt Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts , Nr. 129, bearbeitet von Sandra Linden. Vgl. auch die Edition von Heinrich Niewöhner, Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 192 Sandra Linden mythion empfiehlt dem männlichen Rezipienten Reiten und Stockschläge als die beiden effektivsten Disziplinierungsmethoden. 15 In seiner Grundform bietet das Motiv der körperlichen Züchtigung der widerständigen Frau kaum Raum für ironische Distanzierung oder kritische Reflexion. Doch macht die Gattung Märe im wiederholten Auserzählen einzelner Motive die geschickte Variation zum Ausweis der Kunstfertigkeit und kann so eine im Grundmotiv eindeutige Moral in der konkreten Ausführung immer wieder experimentierend unterlaufen und über die kombinatorische Phantasie neu fassen. III Problematisierung und Variation des Züchtigungsmotivs Im Motiv der widerständigen Frau ist die Problematisierung bereits auf der Handlungsebene angelegt: Die Frauen zeigen bezüglich der Körperstrafen eine hohe Frustrationstoleranz, geben sich von den Prügeln wenig beeindruckt, so dass der Strafmechanismus nicht mehr greift und nicht zu einer Verhaltensänderung führt. Im Vertrauen darauf, dass der Mann sie nicht zu Tode schlagen wird, verlegen sich die Frauen darauf, die Verletzungen zu ertragen und trotzdem weiter aufzubegehren. Mit dieser Strategie bleibt etwa die Ehefrau in Strickers Eingemauerter Frau 16 auch unter schweren Misshandlungen überlegen. Die Brutalität der Verletzungen wird in diesem Märe stufenweise gesteigert, beginnt bei der verbalen Aggression, bis der Mann zu Faustschlägen übergeht und schließlich zu einem schweren Knüppel greift, so dass die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafmaß virulent wird. Der Mann schlägt seine Frau so lange, bis er nicht mehr kann: unz im der arm tet sô wê, 20 daz er niht slahen mohte mê und ir ein sîte alsô zebrach, daz man niht anders dâ ensach wan zebrochen hût und bluot. (Stricker, Die eingemauerte Frau , V. 19-23) Doch auf die Frage, ob sie endlich einlenken will, zeigt die Frau eine ähnliche Leidensfähigkeit und vor allem Sprachmacht, wie sie bei Märtyrern in Heiligenlegenden geläufig ist, und verweist ihn spöttisch-gewitzt darauf, dass sie neben der einen zerschundenen Seite ja auch 13. und 14. Jahrhunderts , Berlin 1937, Dublin/ Zürich 2 1967, Bd. 1, Nr. 2, S. 36-39. Zur Analyse vgl. Andrea Schallenberg, Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen , Berlin 2012 (Deutsche Literatur 7), S. 68-73. 15 Vgl. Die gezähmte Widerspenstige (wie Anm. 14), V. 221-230: da von sol man ublen wiben / mit zelten ir ubli vertriben. / wer die slingen noch dü sail / nit haben müg noch vinde vail, / der näm ainen heßlin stab, / den der summer, dez jares wab, / hat gefruchtet und entsprossen. / mit dem sol man si stossen / und ain langen sal erraichen / und sol ir den rucken waichen. 16 Vgl. Stricker, Die eingemauerte Frau , in: Der Stricker, Verserzählungen , Bd. 1, hg. von Hanns Fischer, 5. Auflage besorgt von Johannes Janota, Tübingen 2000 (ATB 53), Nr. VI. Zur Gewaltdarstellung in dieser Erzählung vgl. auch Silvan Wagner, „Ehestands-Mären und Gewalt. Autoaggressive Gewaltgemeinschaften und ihre gewalthafte Transformation in Gewaltgemeinschaften (Die eingemauerte Frau - Frauenzucht)“, in: Rules and Violence (wie Anm. 4), S. 115-130, hier S. 120-125 und S. 129f. Eine gendertheoretische Perspektive bietet Dorothea Ackermann, Gewaltakte - Disziplinarapparate. Geschlecht und Gewalt in mittel- und frühneuhochdeutschen Mären , Diss. Würzburg 2007, S. 70-85. lazet mich unverseret! 193 noch drei heile hat. 17 Der Mann sieht ein, dass die Schläge nichts nützen, sondern dass er sich vielmehr mit der maßlosen Prügelei selber schadet, denn er beklagt, daz ich mîn zuht an iu zebrach (V. 32). Im Ertragen der Schläge entwickeln die Frauen eine Art heldische Überwindung der Verwundbarkeit, nehmen die körperlichen Qualen als Preis in Kauf, um ihren Willen durchzusetzen. Sie bemühen sich, die Verletzungen weniger als konkretes Faktum, sondern als eine Variable anzusetzen, die von der eigenen Interpretation abhängig ist. In dieser Gleichzeitigkeit von Verletzung und Unangegriffensein steht das behauptete Empfinden in Kontrast zur objektiv sichtbaren Verletzung, so dass eine Ebene des Fingierens eröffnet wird, die bis zum Unrealistischen gesteigert werden kann. Die Frauen entwickeln eine aggressive Rhetorik, verweigern die der Gewalt korrespondierende Kommunikation der Klage und führen stattdessen ihre Spottrede fort . Dass die Körperstrafen keine Wirkung zeigen, ist nicht nur ein Problem für das Handlungsgefüge der ehelichen Ordnung, sondern ergibt sich aus der darstellerischen Erwägung, dass die körperliche Züchtigung mit anschließender Fügung der Frau unter die physische Übermacht des Mannes narrativ nicht sonderlich ergiebig ist. Die Hyperbolik tritt zwar als einfache Variationsmöglichkeit auf - so wird im Märe Die gezähmte Widerspenstige die Reitszenerie rund 100 Verse lang entfaltet -, doch ist das Verfahren einer reinen Verstärkung der Gewalt schnell erschöpft: Der Gattung geht es nicht um den schlichten Gewaltexzess in Form einer quantitativen Steigerung, vielmehr verlegen sich die Märenautoren in ihrer Bearbeitung des Motivs auf die geschickte Varianz. So zeigen sich Effekte eines Wiedererzählens, ordnen sich die Texte in eine Erzähltradition ein und stellen mittels Variation die eigene Leistung heraus. Am Beispiel von Jörg Zobels Erzählung Die faule Frau , Siegfrieds des Dörfers Frauentrost und Sibotes Frauenerziehung sollen im Folgenden drei Formen der Variation analysiert werden. III.1 Transformation der Verletzung. Jörg Zobel, Die faule Frau Über eine Transformation wieder interessant gemacht wird die Verletzung in Jörg Zobels Erzählung Die faule Frau . 18 Der Ehemann bleibt hier stets freundlich, auch wenn seine Frau den ganzen Tag im Bett liegt und weder etwas kocht noch den Haushalt versorgt. Stattdessen schimpft er mit der Katze, die faul auf dem Herd liegt, und befiehlt ihr, ebendiese Aufgaben zu übernehmen. Als die Katze seinen Befehlen nicht folgt, gibt er das Tier seiner nackten, da gerade dem Bett entstiegenen Frau in den Schoß, um es mit einer Rute zu schlagen - die erotische Konnotation der Züchtigung ist wiederum deutlich. Die Frau soll bei der gerechten Bestrafung mitwirken, indem sie die Katze festhält, doch das Tier wehrt sich mit Kratzen und Beißen, so dass die Frau schwer verletzt wird: 17 Vgl. Stricker, Die eingemauerte Frau (wie Anm. 16), V. 28f.: nu bin ich doch zuo drîn sîten / noch ungerüert und ungeslagen . 18 Jörg Zobel, Die faule Frau , in: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts , hg. von Hanns Fischer, München 1966, Nr. 33. Zur Analyse vgl. Schallenberg (wie Anm. 14), S. 74-78. 194 Sandra Linden die katz die stalt sich gen ir ze wer 155 und zerkratzt si so jämerlich, das si nit was aim menschen glich. ( Jörg Zobel, Die faule Frau , V. 154-156) Je mehr sich die Katze wehrt, umso stärker schlägt der Mann zu: als begund er die katzen hetzen. si gund fast pissen unde kretzen, das si schrai das bitter mort. 160 do der man das erhort, er schlug die katzen aber me. ( Jörg Zobel, Die faule Frau , V. 157-161) Als die Frau die Katze schließlich nicht mehr halten kann und loslässt, vergibt der Mann ihr zwar mit Rücksicht auf ihre schweren Verletzungen, droht aber, dass sie eine solche Schonung der Katze das nächste Mal mit dem Leben bezahlen wird. In einem genau kalkulierten Handlungsentwurf verlagert der Mann das spontan-aggressive Element der Gewalt auf das Tier. Die geschlagene Katze, die die Frau zerkratzt, ist das Medium, durch das der Mann seiner Frau die Verletzungen beibringt. Zugleich ist die kratzende und fauchende Katze das Spiegelbild der Frau, die ihre Aufgaben vernachlässigt und sich nicht zähmen lassen will - die Personalpronomen für Frau und Katze sind mit Bedacht nicht immer ganz eindeutig gesetzt. Dabei scheinen die Verletzungen durch die Katze gravierender als die üblichen Stockschläge; die gezielten Schläge des Mannes, der die Frau zwar brutal strafen, aber nicht töten will, sind durch die wilde unberechenbare Animalität der Katze ersetzt. Dass er seine Frau ohne direkte Schläge gezähmt hat, nimmt der Ehemann später im Gespräch mit dem Schwiegervater als besondere Leistung für sich in Anspruch: er sprach: ‘weder straich noch stoß / han ich ir al min tag nie geben.’ (V. 234f.). Die Aussage ist ironisch, verweist zugleich aber auf eine Problematisierung eheherrlicher Gewaltausübung: Um die einfache Prügelstrafe zu meiden, kommt es in der Variationsreihe zu einer Transgression der Gewalt, werden immer perfidere Möglichkeiten einer körperlichen Verletzung konstruiert. Der Mann entzieht sich der Rolle des wütenden Gewalttäters, vielmehr wird die faule Frau von der faulen Katze zur Raison gebracht und fügt sich die Schmerzen in der Bildlogik des Gewaltarrangements selber zu. III.2 Religiöse Positivierung. Siegfried der Dörfer, Frauentrost Eine weitere Variationsmöglichkeit ergibt sich aus einem Wechsel des Deutungssystems, indem die Verletzungen der Frau aus der Ehekonstellation gelöst werden und in einer geistlich-religiösen Perspektive eine Positivierung erfahren. Während in Strickers Eingemauerter Frau der Mann das Einmauern seiner Frau als zermürbende Strafe installiert, gelingt es ihr, die Isolation über die religiöse Lebensform der Inkluse zu positivieren. 19 Als sie realisiert, dass sie wohl - ebenfalls wie die Inklusen - nicht mehr lebendig aus ihrem Gefängnis herauskommen wird, wird sie von den bösen Dämonen ihrer Widerspenstigkeit verlassen und vom Heiligen 19 Zum Bezug der Erzählung auf die religiöse Lebensform der Inkluse vgl. Annette Volfing, „The Discourse of Bad Wives“, in: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident , hg. von Regula Forster und Romy Günthart, Frankfurt a. M. 2010, S. 277-291, hier S. 283f. lazet mich unverseret! 195 Geist beseelt. 20 Fortan zeichnet sie sich durch einen ausgewiesenen Bekehrungswillen gegenüber anderen übelen wîben aus und kann von der Rolle der Ehefrau in die der Heiligen wechseln, die ihr deutlich mehr Freiraum bietet. Sie pariert die Aggression ihres Mannes, indem sie auf einen alternativen Deutungscode ausweicht. Mit etwas weniger Ambivalenz als beim Stricker ist das Muster auch im Frauentrost von Siegfried dem Dörfer durchgeführt: 21 Hier ist dem Ehemann die Züchtigung seiner Frau, deren fromme Lebensweise ihm missfällt, bereits zur Gewohnheit geworden. 22 Nach einer langen Zeit der Duldung verzweifelt die Frau und entschließt sich zum Selbstmord, der im parallelen lateinischen Exemplum Quidam erat miles dives streng verurteilt wird, 23 im Märe aber als psychologisch nachvollziehbare Reaktion auf die schweren Züchtigungen motiviert ist. Kurz vor dem Selbstmord erscheint ihr Maria und hält sie davon ab. In einer weiteren Transzendenzerfahrung sieht die Frau Christus am Kreuz, dessen blutende Wunden ihre Verletzungen gesteigert spiegeln: do sach si zu den stunden 400 uz allen sinen wunden daz blut zu tale vlizen und uz den wunden diezen. (Siegfried der Dörfer, Frauentrost , V. 399-402) Christus fordert sie zur Betrachtung seiner Wunden auf 24 und bittet sie in abgestufter Parallelität zu seiner Passion: kanstu niht erliden / durch mich ein kleines herzenleit? (V. 430f.). Die willkürlichen Schläge des zornigen Ehemannes werden zum Martyrium für Christus umgedeutet, für das duldsame Ertragen der Verletzungen wird himmlischer Lohn versprochen. Die Perspektive der Frau auf das eigene Leid ändert sich augenblicklich: ich lide gerne, daz ich sol (V. 439), antwortet sie und referiert damit auf das geistliche Denkmuster einer 20 Wie sehr dieses Märe zwischen einer ernstzunehmenden conversio der Frau und ihrer fortwährenden Widerspenstigkeit unter dem Deckmantel der Heiligkeit schwankt, ist in der Forschung wiederholt besprochen worden, vgl. Stephen Wailes, „Immurement and Religious Experience in the Stricker’s ‘Eingemauerte Frau’“, in: PBB 96 (1974), S. 79-102, und Jutta Eming, „Subversion through Affirmation in the Stricker’s Eingemauerte Frau“, in: The Growth of Authority in the Medieval West. Selected Proceedings of the International Conference, Groningen 6-9 November 1997 , hg. von Martin Gosman, Arie J. Vanderjagt und Jan R. Veenstra, Groningen 1999 (Mediaevalia Groningana 25), S. 213-228. Vgl. auch Silvan Wagner, Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens , Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 31), S. 358-363. Die Diskussion um die religiösen Motive und Denkmuster in diesem Märe kann im Rahmen der vorliegenden Fragestellung nur angedeutet werden. 21 Vgl. Siegfried der Dörfer, Frauentrost , im Folgenden zitiert nach der Edition im DFG-Projekt Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts , Nr. 23, bearbeitet von Manuela Gliesmann. Vgl. auch die Edition von Friedrich H. von der Hagen, Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen , 3 Bde., Stuttgart/ Tübingen 1850, Nachdruck Darmstadt 1961, hier Bd. 3, Nr. 72, S. 429f. Zur Analyse vgl. Nicole Eichenberger, Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters , Berlin u. a. 2015 (Hermaea, N. F. 136), S. 103-108. 22 Vgl. Siegfried der Dörfer, Frauentrost (wie Anm. 21), V. 105-112: Dicke reit der ritter uz / unde sluch der vrowen einen puz. / so er gegen dem abende wider quam, / mit den zopfen er si nam / unde warf sie fur die fuze. / also getaner gruze / wart ir vil an geleit, / wenne er von siner vrowen reit. 23 Das Exempel Quidam erat miles dives ist ediert bei Margaret D. Howie, Studies in the Use of Exempla, with Special Reference to Middle-High-German Literature , London 1923, S. 118-121, einen detaillierten Vergleich zwischen lateinischer und deutscher Fassung bietet Eichenberger (wie Anm. 21), S. 104-108. 24 Vgl. Siegfried der Dörfer, Frauentrost (wie Anm. 21), V. 424: sich mine wunden offen stan. 196 Sandra Linden jenseitigen Belohnung für das Ertragen irdischer Qual. Sie dankt Christus, dass du mir selbe hast verjehen / so helflicher mere (V. 448f.). Nicht allein die Erlösungstat Christi, sondern seine persönliche Ansprache, die hilfreiche Erzählung, die sein Leiden mit ihrem parallelisiert, wird hervorgehoben: Durch die Erzählung wird das Ertragen ehelicher Gewalt zur imitatio Christi und nach dem Muster der Passionsfrömmigkeit positiviert; in diesem Sinne spricht auch das Epimythion anderen geschlagenen Frauen Trost und Hoffnung zu. 25 III.3 Verletzung und Imagination. Sibotes Frauenerziehung Eine besonders differenzierte Reaktion auf das erzählerische Leerlaufen der Körperstrafen bietet Sibote in seiner Frauenerziehung , die mit neun Handschriften zu den breit überlieferten Mären zählt. 26 Die Situation ist zugespitzt, die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern werden „bis an die Grenzen des Absurden ausgereizt“. 27 Das Thema der ungehorsamen Frau erfährt hier eine genealogische Verlängerung, indem die Mutter ihre Widerständigkeit bereits von der Großmutter geerbt hat und an ihre Tochter weitergibt. 28 Die Tochter ist zwar von außerordentlicher Schönheit, doch schreckt ihre Wesensart alle Werber ab. Derjenige, der es schließlich doch wagt, hat genau geplant, wie er ihren Widerstand brechen will, und kann in einem zweiten Erzählteil auch noch die Mutter unterwerfen. Das Märe ist in vier Redaktionen überliefert, die das Thema der körperlichen Züchtigung unterschiedlich stark ausbauen. Die Gewaltdarstellung zeigt sich als signifikantes Element der Erzählung, das je nach Bearbeitungsinteresse erweitert oder gekürzt wird. Besonders deutliche Varianz gegenüber der Redaktion der Leithandschrift K zeigt die Redaktion, die von den Handschriften w, i und d repräsentiert wird, 29 indem hier die Körperstrafen detailliert ausgeschildert werden . So warnt der Vater seine Tochter in Handschrift K, dass ein zukünftiger Ehemann Widerstand mit Schlägen bestrafen wird. 30 In der Redaktion wid malt der Vater die Züchtigungen des Ehemanns deutlich konkreter aus und steigert sie ins Lebensbedrohliche: 25 Vgl. ebd., V. 641-643. 26 Vgl. Sibote, Frauenerziehung , im Folgenden zitiert nach der Edition im DFG-Projekt Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts , Nr. 45, bearbeitet von Reinhard Berron. Vgl. auch die Edition von Niewöhner (wie Anm. 14), Bd. 1, Nr. 1, S. 1-35. Eine detaillierte Analyse der Erzählung bietet Fritz P. Knapp in seinem Band Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur , hg. von dems., Redaktion Nils Borgmann, Berlin/ Boston 2013 (Germania Litteraria Mediaevalis Francigena 6), S. 134-141. Vgl. auch Claudia Brinker-von der Heyde, „Weiber-Herrschaft oder: Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung“, in: Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorie ‘Körper’ und ‘Geschlecht’ in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 47-65, Schallenberg (wie Anm. 14), S. 55-68, und Wagner (wie Anm. 20), S. 155-192. 27 Müller (wie Anm. 13), S. 52. 28 Der Erzähler betont, dass der Mutter mit keinem Holz beizukommen sei, vgl. Sibote, Frauenerziehung (wie Anm. 26), Redaktion KK 2 v (vgl. Anm. 29), V. 59-63: swie vil heseliner gerten / iren rucke dicke berten, / puchein und eychen, / enkonden sie niht weichen, / daz sie gut wolde sin. 29 K: Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 72, Bl. 328ra-333ra. Zu dieser Redaktion gehören neben dieser Handschrift noch die Handschriften K 2 (Thorn/ Toruń, Universitätsbibliothek, Rps 10/ 1, Bl. 1ra-6ra) und v (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1361, Bl. 107r-118v). w: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885, Bl. 154rb-163ra; i: Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, FB 32001, Bl. 76ra-80va; d: Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. M 68, Bl. 57vb-63ra. 30 Vgl. Sibote, Frauenerziehung (wie Anm. 26), Redaktion KK 2 v, V. 172-175: so wene ich, daz icht belibe, / dunen muzzest siner hant entstreben, / swenne er mit eichinen steben / dinen rucke beginnet villen. lazet mich unverseret! 197 du müzzest von seiner hant zittern. 170 wenn er dich pegint erfippern mit zwain aichern steken, sust lert er dich weken. er slecht dich vmb dein kopf vnd treib dich vmb alz ain topf. 175 so get ez dir dann ans leben. (Sibote, Frauenerziehung , Redaktion wid, V. 169-175) Wenn die Mutter der Tochter nach ihrem eigenen Vorbild zum Widerstand gegen den zukünftigen Ehemann rät, wird die weibliche Gegenwehr in Handschrift K bündig als Kratzen und Raufen beschrieben. 31 Die wid-Redaktion hingegen weitet die Kampfanweisungen auf gut 20 Verse aus (ab V. 329). Zwar verfolgen die Handschriften w und i gegenüber K allgemein eine ausweitende Tendenz, doch ist auffällig, dass gerade die Reden, die die körperliche Gewalt betreffen, noch einmal mit besonders deutlichem Konkretisierungswillen bearbeitet werden. Das Verhalten des Werbers ist geradezu theatral, da er sich strategisch auf die Aufführung vorbereitet und eigens Requisiten beschafft, um sein „Theater der Grausamkeit“ 32 zu präsentieren. Sein Plan ist eine Selbstinszenierung, die seine Frau glauben lässt, dass er bei Ungehorsam nicht vor ihrer Tötung zurückschrecken würde. Bei der Abholung der Braut führt er ein minderwertiges Pferd, einen Habicht und einen Windhund mit sich. Auf dem Weg tötet er nacheinander die drei Tiere als Strafe dafür, dass sie sich nicht an seine Befehle halten, die sie aber aufgrund ihrer Natur gar nicht erfüllen können. Da er sein Pferd verloren hat, will er schließlich auf seiner Frau nach Hause reiten: Die Verängstigte zeigt keinerlei Widerstand. Während die Mutter die Verletzungen in der Sicherheit erträgt, dass ihr Mann sie nicht töten wird, kann sich die Tochter ihrer Sache nicht mehr sicher sein und will ihr Leben nicht riskieren. Nicht die Schwere der Verletzung, die physische Gewalt ist ausschlaggebend, sondern der psychische Druck, der begründete Glaube der Tochter daran, dass sie das nächste tödliche Opfer ihres Mannes werden könnte. Mit einer genau geplanten Einschüchterungsstrategie hat der Ritter ihren Widerstand gebrochen; innerhalb der Fiktion wird hier eine zweite Ebene des Fingierens eröffnet. Ein Gehorsamsversprechen beendet das grausame Spiel, es folgt, wie der Erzähler berichtet (Redaktion KK 2 v, V. 494-503), eine durchaus glückliche Ehe. Während der Ritter bei der Tochter die reale körperliche Verletzung - abgesehen vom Reiten - durch eine perfide Gewaltfiktion ersetzt, verfolgt er im zweiten Handlungsteil für die Zähmung der Mutter eine andere Strategie und arbeitet mit einer Kombination aus Angstvision und radikaler Verletzung. Wieder benötigt der Ritter Requisiten für sein Theater und besorgt sich vorab zwei Schafsnieren. Als im Gespräch mit der Schwiegermutter auch massive Gewaltandrohung nichts bewirkt, wechselt er in die Rolle des verständigen Mediziners und vermutet, dass ihre Widerständigkeit auf eine anatomische Ursache zurückzuführen ist, nämlich auf zwei Zornbraten an ihren Oberschenkeln, die entfernt werden müssten, um ihr männlich-aggressives Gebaren zu unterbinden. In der parallelen französischen Kurzerzählung, 31 Vgl. ebd., V. 291-294: liebe tochter, gehorche mir: / swenne er zurnet mit dir / und dich under in werfe nider, / kratze unde roufe in vaste wider! 32 Maria E. Müller, „Böses Blut. Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären“, in: Blutige Worte (wie Anm. 4), S. 145-161, hier S. 151. 198 Sandra Linden im Fabliau La dame escoillee , 33 sind es Hoden statt der ominösen Zornbraten, doch auch bei Sibote ist deutlich, was gemeint ist. 34 Der Schwiegersohn kann die Mutter zwar nicht für ihren Ungehorsam strafen, denn das ist Sache ihres Ehemanns, aber er kann sie in der Rolle des Arztes vermeintlich hilfreich von dem kurieren, was ihre Widerständigkeit verursacht. Die logische medizinische Konsequenz aus der behaupteten Vermännlichung der Mutter ist die Kastration, d. h., die Verletzung wird dadurch legitimiert, dass sie eine körperliche Abnormität beseitigt. Die Mutter wird von mehreren Knechten überwältigt, dann schreitet der vermeintliche Chirurg kaltblütig zur Tat: an daz mezzer greif er sider; daz hette einen scharfen ort. also malte er sie dort, 735 oben dem knie oben (do begonde sie ze toben), wol eines vingers tief und lanc. (Sibote, Frauenerziehung , Redaktion KK 2 v, V. 732-737) Nun wälzt der Ritter eine der vorbereiteten Schafsnieren im Blut der Mutter und präsentiert das tierische Organ als den herausoperierten Zornbraten: 740 den einen nyeren nam er do, da er in het in siner hute unde welget in in dem blute unde warf in vur sie in ein vaz. ‘hie umme sit ir gewesen laz 745 izunt gar manic jar. […]’ (Sibote, Frauenerziehung , Redaktion KK 2 v, V. 740-745) Während der Schwiegersohn in seiner Geschichte suggeriert, die Mutter zu heilen, ist der schmerzhafte Messerschnitt in Wirklichkeit eine brutale körperliche Bestrafung für ihren Ungehorsam. In der Redaktion wid wird der Wundschmerz zudem noch dadurch forciert, dass der falsche Arzt statt der versprochenen Heilsalbe Salz in die Wunde reibt: do sieltz er ir di wunden / ze den selben stunden. / si lag vnder im vnd kar (Redaktion wid, V. 813-815), und die vatikanische Handschrift ist sogar noch konkreter: in die wunde warff er da salcze / Daz beiß sie gar sere jn daz smalcze (Handschrift v, V. 725f.). 35 Der Schmerz ist echt, der Zornbraten nicht, aber das Requisit ist perfekt in die Inszenierung eingebunden. Zuvor im Gespräch hatte die Mutter die abenteuerliche Zornbraten-Geschichte nicht geglaubt und sie richtig als Manipulationsversuch ihres Gegners eingeschätzt: waz welt ir uz mir machen? (Redaktion KK 2 v, V. 715), hatte sie dort durchaus zu Recht gefragt. Doch dem drastischen Faktum des blutigen Zornbratens, der unmittelbaren körperlichen Evidenz 33 Vgl . Nouveau Recueil Complet des Fabliaux , hg. von Willem Noomen und Nico van den Boogaard, 10 Bde., Assen 1983-1998, Nr. 83. Einen Vergleich zwischen der deutschsprachigen Erzählung und dem Fabliau bietet Knapp (wie Anm. 26), S. 135-140. Vgl. auch Frauke Frosch-Freiburg, Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich , Göppingen 1971 (GAG 49), S. 87-95. 34 Brinker von der Heyde (wie Anm. 26), S. 57, verweist zudem darauf, dass die mittelalterliche Medizin die Niere als Sitz männlicher Potenz sieht. 35 Zu Handschrift v vgl. Reinhard Berron, „Sibotes ‘Frauenerziehung’. Die Handschrift Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1361“, in: ZfdA 143 (2014), S. 24-56 (mit Edition). lazet mich unverseret! 199 kann sie nichts entgegensetzen, sondern glaubt sich vom Teufel besessen und fängt an zu weinen (V. 751). Der Schwiegersohn hat mit dem zweiten Zornbraten noch ein Druckmittel parat: vrowe, ir habet noch einen / an dem andern peine (Redaktion KK 2 v, V. 752f.). Angesichts der drohenden Wiederholung der blutigen Operation verzweifelt die Mutter und fleht um Gnade. Für die Diskussion, ob man den zweiten Zornbraten noch entfernen soll oder nicht, zeigt die Überlieferung wiederum eine große Varianz. Während die Mutter bei den üblichen Stockschlägen eine gesteigerte Fähigkeit entwickelt hat, körperlichen Schmerz zu ertragen, kann sie die Kombination der tiefen Schnittwunde mit der Vorstellung, dass faustgroße Organe aus ihrem Körper entnommen werden, nicht aushalten. Die perfide Koppelung von körperlichem Schmerz und der Fiktion einer gravierenderen als der eigentlichen Verletzung bricht ihren Widerstand und lässt sie in bedingungsloser Unterordnung um ihr Leben flehen: ich mag iz niht erliden, 770 lazet mich unverseret! ich han mich des bekeret, daz ich wil haben senften mut, unde lobe, swaz ir alle tut. (Sibote, Frauenerziehung , Redaktion KK 2 v, V. 769-773) Während im altfranzösischen Fabliau gleich beide ‘Hoden’ entfernt werden, hat der Ritter in Sibotes Erzählung perfide mit einem Weniger an Blutvergießen ein Mehr an psychischem Druck aufgebaut und die Angstwirkung auf Dauer aktiviert. Nicht eine vom Ehemann gewählte Körperstrafe wird zum Druckmittel, sondern die Illusion einer medizinischen Notwendigkeit, die der Schwiegersohn nicht zornig als Strafinstanz verhängt, sondern neutral diagnostiziert. Über die Drohung des Schwiegersohns, den verbliebenen Zornbraten auch noch entfernen zu lassen, kann der Vater fortan seine eheherrliche Dominanz sichern (KK 2 v, V. 774-781). Die Unterwerfung der Mutter ist im Vergleich zu der der Tochter gesteigert: Zur bloßen Illusion einer lebensgefährlichen Bedrohung tritt nun der gravierende körperliche Schmerz. Der fingertiefe Schnitt stellt einen massiveren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar als die Schläge, die sich stets auf eine Verletzung der Haut beschränken und eher die Oberfläche des Körpers betreffen. Die Einschüchterung reicht nicht aus, sondern die Imagination wird mit einer realen Verletzung kombiniert. Zugleich wird die Theatralität gesteigert, indem der Schwiegersohn in die Rolle des Arztes wechselt und mit Hilfe von Requisiten und einer Erzählfiktion die Art der Verletzung in der Wahrnehmung des Opfers und auch der anderen Figuren nach seinen Vorstellungen modelliert. Der Ritter übt seine Gewalt nicht primär über die reale Verletzung aus, sondern indem er seinem Opfer eine Verletzungsimagination aufzwingt. Dabei manipuliert er die Imagination der Mutter so weit, dass sie keine Sicherheit mehr über ihre eigene Körperlichkeit hat, vielmehr ist die im Erzählen erzeugte fiktive Körperlichkeit so zwingend, dass sie trotz ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit als Realität akzeptiert wird. Der Ritter setzt in seiner Inszenierung die Imagination gezielt als Gewaltverstärker ein: Es gibt die reale Verletzung und die imaginierte, die nicht identisch sind. Die imaginierte Verletzung wird zentral durch das Erzählen erzeugt, hat aber die reale Verletzung als Basisreferenz und arbeitet mit konkreten körperlichen Requisiten, um Authentizität zu suggerieren. 200 Sandra Linden IV Poetologische Lesart: Erzählte Körperstrafen Je mehr die Texte über die Zähmung der widerspenstigen Frau im Bemühen um kunstvolle Variation und geistreiches Überbieten der übrigen Erzählvarianten die Körperstrafen steigern, umso aufwendiger und ungewöhnlicher werden die jeweiligen Strafarrangements. Dabei geht es den Autoren nicht um eine einfache lebensweltliche Anwendung: Trotz seiner Überschrift will Sibotes Märe keine Anleitung zur Frauenerziehung sein, schwingt sich der Erzähler nicht zum Ratgeber auf. Im Prolog gibt er vielmehr an, von gemelichen (Redaktion KK 2 v, V. 3), d. h. unterhaltsamen Dingen erzählen zu wollen. Nur noch pro forma nimmt er einige Verse lang die Rolle des Lehrmeisters ein, muss dann aber selbstironisch eingestehen, dass er selbst auch eine widerständige Frau zu Hause hat: sprech ich ‘swartz’, sie sprichet ‘wiz’ (Redaktion KK 2 v, V. 13) - so fasst er ihre Neigung zum Widerspruch in eine topische Formel. Dass ausgerechnet Sibote seinen Erzähler so wortreich darüber klagen lässt, dass er seine eigene Frau nicht bezwingen kann, ist durchaus verwunderlich, da der Ritter im Märe in seinen drastischen Unterwerfungsmethoden signifikante Gemeinsamkeiten mit einem Erzähler aufweist: Er präsentiert vor Publikum eine Geschichte, eröffnet seinen Rezipienten eine fiktive Welt, regt im Erzählen ihre Imagination an und kann die Immersionswirkung seines Erzählens gezielt steigern. Wenn der Ritter eine Gewaltfiktion erstellt, um seine Ehefrau einzuschüchtern, gestaltet er wie der Erzähler eine sekundäre Welt. Der Ritter erzeugt mit seiner Inszenierung gezielt einen Abschreckungs- und Einschüchterungseffekt, wie ihn auch die Erzählungen über die gezähmten Frauen häufig anvisieren oder zumindest behaupten. So ruft etwa Jörg Zobels Erzähler am Ende warnend: ir lieben frawen, hand üch in hut . 36 In Strickers Eingemauerter Frau wird am Ende sogar berichtet, dass allein die landläufige Erzählung von der eingemauerten Frau ausreicht, damit sich viele übeliu wîp eines Besseren besinnen: 37 375 dô gedâhte ein ieslich übel wîp: ‘ich hæte verlorn mînen lîp, ob ich quæme in daz gaden. der nœte wil ich mich entladen. ich wil guot sîn und reine.’ (Stricker, Die eingemauerte Frau , V. 375-379) Ironischerweise hat dann die eingemauerte Frau selbst, die die bei ihr angewandte Züchtigung eben nicht erzählen, sondern real umsetzen will, gar keine Opfer mehr. Das lantmære 38 über die Bestrafung hat denselben verhaltensändernden Effekt wie die Bestrafung selbst und kann diese ersetzen. Eine solche Eigendynamik der Erzählung wird jedoch in Sibotes Märe mit dem selbstironischen Erzähler bewusst konterkariert. Das mag darin begründet sein, dass hier zwei Fiktionsebenen gestaffelt sind, denn die Gewaltfiktion wird auf die Handlungsebene verlegt und so erzählt, dass sie zwar nicht für die anderen Figuren, wohl aber für den Rezipienten als Fiktion ersichtlich wird. Sobald man die im Erzählen erzeugte Schreckensvision als eine fingierte aufdeckt und als ein sorgfältig inszeniertes Als-ob erkennbar macht, wie Sibote dies tut, wird die Einschüchterungsfunktion der erzählten Verletzung unterlaufen. Sibote kommentiert so 36 Jörg Zobel, Die faule Frau (wie Anm. 18), V. 264. 37 Stricker, Die eingemauerte Frau (wie Anm. 16), V. 375-379. 38 Ebd., V. 359. lazet mich unverseret! 201 die von anderen Märenautoren verfolgte Möglichkeit, dass die Erzählung von den Körperstrafen, das wortreiche Ausmalen der blutigen Verletzungen im Sinne eines Drohszenarios die eigentliche Züchtigung ersetzen kann. Während der Stricker die Wirkung der Erzählung für die Rezeption innerhalb der Fiktion berichtet, geht Sibote noch einen Schritt weiter und verlegt die Gewaltfiktion auf die Handlungsebene. Er erlaubt seinen Rezipienten den Blick hinter die Kulissen des Fingierens und die Tricks der Realitätssuggestion, die der Ritter anwendet, und führt ihnen zugleich vor, wie zwingend die Fiktion auf diejenigen wirkt, die sie für die Realität halten. Die Beispielreihe hat gezeigt, dass sich die Märenautoren differenziert mit den emotionalen Effekten von Gewaltvorstellungen auseinandersetzen, sie auch selbst zum Gegenstand der Darstellung machen. Das Variationsbemühen der Gattung führt dazu, dass die Autoren nicht nur das Handlungsgefüge variieren, die Gewaltformen steigern oder modifizieren, sondern vermehrt auch das Verhältnis von Gewalt und Fiktion, die imaginativen Wirkungsmechanismen erzählter Gewalt diskursivieren. Von diesem Befund ausgehend, ist abschließend zu fragen, warum das Thema Gewalt gerade in der Gattung Märe eine so differenzierte Gestaltung erfährt. V Gattungsgeschichtliche Perspektivierung: Ordnung und Gewalt Nach der umstrittenen Gattungsdefinition von Hanns Fischer 39 hat Walter Haug eine Märentheorie angeboten, die eine „konstitutionelle Sinnlosigkeit der Kurzerzählung“ 40 behauptet und diesen bewussten Verzicht auf Sinnstiftung an den erzählerischen Umgang mit den beiden Faktoren Begierde und Gewalt bindet. Die Kurzerzählung zielt laut Haug auf das Sinnlos- Negative, kann es nicht mehr in eine Ordnung integrieren, sondern bietet karnevaleske Konstellationen des Obszönen und Gewalttätigen. Nun fällt jedoch auf, dass Gewaltdarstellungen gerade innerhalb der Ehekonstellation besonders beliebt sind, und die Eheordnung durch die Gewalt auch nicht gesprengt wird, sondern am Ende stets - wenn auch vielleicht nur formal - bestehen bleibt. Die dargestellte Gewalt richtet sich nicht gegen die Ordnung, sondern erfolgt vielmehr im Namen der Ordnungssicherung, wird auch in extremen Formen nach außen explizit als Ordnungsinstrument legitimiert. In letzter Zeit ist die Märenforschung verstärkt dazu übergegangen, Fabliau, Märe und Novelle vergleichend zu betrachten und eine europäische Tradition der Kurzerzählung zu erfassen. 41 Dabei zeigt sich, dass das deutschsprachige Märe anders als das französische Fabliau aus der Tradition des Exempels heraus entsteht und zunächst eher die normierenden, 39 Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung , Tübingen 2 1983, S. 62f. 40 Walter Haug, „Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts , hg. von dems. und Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea 8), S. 1-36, hier S. 26. 41 Vgl. Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle , Tübingen 2006, sowie dens., „Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik“, in: Kleinere Erzählformen (wie Anm. 40), S. 37-54. Vgl. auch Udo Friedrich, „Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen“, in: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven , hg. von Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young, Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh 13), S. 48-75. 202 Sandra Linden didaktisierenden Erzählungen und gerade nicht Gewalttätiges und Obszönes rezipiert und somit präferiert. 42 Die vergleichende Perspektive lässt auch den Faktor des Wiedererzählens im Exemplarischen stärker hervortreten und zeigt für zahlreiche Mären ein Durchspielen von Normierungsansprüchen. Diese literarhistorische Entwicklungslinie einer anfänglichen Bevorzugung des Normativen vor den Gewaltobsessionen bietet auch einen Zugang zur Gewaltdarstellung in den Ehestandsmären, denn über das Thema der widerständigen Frau kann man die Gewaltdarstellung platzieren, ohne den Rahmen des ordnungsstiftenden und normativen Erzählens gänzlich aufgeben zu müssen. Unter dem sicheren didaktisierenden Deckmantel einer Wiederherstellung der natürlichen Eheordnung eröffnen sich Spielräume für die Darstellung von Gewaltausübung und Verletzungen, gilt das Darstellungsinteresse deutlich einem genauen Ausgestalten sowohl der konkreten Verletzungen als auch der Wirkungsmechanismen der Gewaltimagination. Auf diese Weise kann die Gewalt narrativ ausgetestet werden, ohne die gesamte Sinnsetzung zu gefährden. Nicht die wütend-aggressive, ins Chaos eskalierende Gewalt ist es, für die sich die Märenautoren interessieren, sondern die gezielt kalkulierte und genau dosierte Gewalt bzw. deren Potenzial in der Imagination. So gestalten sie intellektuell überformte, mit grausamer Kühle ausgeführte Verletzungsarrangements im Rahmengefüge einer moralischen Kasuistik. Nicht die Unvereinbarkeit von Gewalt und Ordnung wird in den Erzählungen über die widerständigen Frauen thematisiert, vielmehr wird über die Gewaltarrangements auch ein Ordnungsdiskurs geführt, werden die Möglichkeiten einer Durchsetzung von Hierarchien im privaten Raum und die Wirksamkeit der Strafgewalt zur Disposition gestellt. So erschließt sich die Gattung neue Erzählräume, probiert auch radikale Gewaltentwürfe aus, wie sie etwa in der Großform des höfischen Romans kaum möglich wären. Gerade die narrative Kurzform bringt als kleineres Werkstück, das meist im Konvolut mit anderen versnovellistischen Texten überliefert ist, die nötige Unverbindlichkeit mit, um sich in der Gewaltdarstellung dem Experimentellen zu öffnen. 43 Die Darstellungen von körperlicher Gewalt und Verletzungen entfalten sich in der Gattung Märe vor allem in der Varianz desselben Motivs in unterschiedlichen Konstellationen, als ästhetisches Spiel des gegenseitigen Überbietens und aufeinander Reagierens, sowohl in den verschiedenen Erzählungen als auch innerhalb der Überlieferung einer einzigen Erzählung in mehreren Redaktionen. Und so kann es also vorkommen, dass ein Bearbeiter die Geschichte eilig zu Ende erzählt, während der andere genüsslich verweilt und unabhängig von jeder Handlungslogik noch ein bisschen Salz in die Wunde streut. 42 Vgl. Grubmüller, Ordnung (wie Anm. 41), S. 245f. 43 Diese Freiheiten sind freilich nicht auf das Thema Gewalt beschränkt, sondern die Beispiele sind einzuordnen in ein allgemeines Streben der Gattung nach einer plastischen, auf das Sinnliche konzentrierten Erzählweise, die sich auch für andere sinnliche Vollzüge, für das Sexuelle ebenso wie für Essen und Trinken und den Bereich des Fäkalischen interessiert. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 203 diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 1 Traumaerzählungen in der deutschen Dichtung des Mittelalters Sonja Kerth ‘Kriegstrauma’ ist in den letzten Jahrzehnten zu einem kulturellen Schlüsselwort geworden. Es findet sich in Fernsehreportagen über Bundeswehr-Auslandseinsätze, in wissenschaftlichen und populären Zeitschriftenartikeln sowie in Zeitungskommentaren, ist Gegenstand von Ratgeberliteratur und Belletristik. Aber trotz des breiten Interesses ist vieles an Trauma 2 noch unklar: Handelt es sich dabei um schockbedingte extreme Emotionen wie Furcht, Trauer, Wut, Verzweiflung? Liegt eine durch unverarbeitete Extremsituationen ausgelöste psychische Krankheit (PTSD) vor? Oder resultiert Trauma aus früheren Depressionen, die das Gehirn dauerhaft vorgeschädigt haben? Zu diesen medizinisch-psychologischen Fragen kommt die Frage nach der Historizität des Phänomens: Ist Trauma etwas Überzeitlich-Biologisches oder etwas Historisch-Kulturelles, das vor Freud undenkbar ist? Lässt man die Geschichte des Kriegstraumas gemäß verbreiteten psychoanalytischen Vorstellungen mit den sog. Kriegsneurotikern und Kriegszitterern des Ersten Weltkrieges beginnen, 3 dann scheint eine Spurensuche in der Vormoderne sinnlos: Nicht nur war die Art der Kriegsführung eine andere, auch die Einsichten in die menschliche Psyche, eine adäquate Begrifflichkeit und Diagnostik lagen damals nicht vor. 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Creative Unit „Homo debilis. Dis/ ability in der Vormoderne“, die aus Mitteln des Zukunftskonzeptes der Universität Bremen im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert wurde. Eine englische Teilversion dieses Beitrags ist erschienen als „Narratives of Trauma in Medieval German Literature“, in: Trauma in Medieval Society , hg. von Wendy J. Turner und Christina Lee, Leiden/ Boston 2018 (Explorations in Medieval Culture 7), S. 274-297. 2 Das griechische Wort bedeutet ‘Wunde’ und ist so bereits in der Antike belegt. Gemeint sind zunächst körperliche Wunden mit Gewebedurchtrennung, im weiteren Sinn jede Verletzung, die auf äußere Krafteinwirkung zurückgeht. Jenseits eines rein fachsprachlich-medizinischen Gebrauchs meint Trauma vor allem seelische Erschütterung, ein äußerst belastendes Ereignis, das durch Konfrontation mit drohendem oder tatsächlichem Tod, ernsthafter Verletzung oder Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen eintritt. Es ist in der Regel durch intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen gekennzeichnet. Dieses Ereignis kann akzidentell oder intentional herbeigeführt sein. Grundlegend dazu: Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschungen zu posttraumatischem Stress sowie Traumatherapie , hg. von Bessel A. van der Kolk u. a., Paderborn 2000; vgl. zusammenfassend „Trauma“, in: Pschyrembel. Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie , hg. von Jürgen Margraf und Franz J. Müller-Spahn, Berlin/ New York 2009, S. 845f. 3 Vgl. Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920) , Köln u. a. 2004, bes. S. 194. 204 Sonja Kerth Selbst wenn man Kriegstrauma nicht grundsätzlich auf die Moderne beschränkt, 4 lassen sich Argumente nennen für die Annahme, dass in mittelalterlichen Quellen Trauma nicht beschrieben wird. Wenn die Psychologie heute davon ausgeht, dass im Krieg gute Ausbildung und ständiges Training, Gewöhnung an Kampfsituationen, eine grundsätzlich positive Einstellung zu Gewalt und deren gesellschaftliche Akzeptanz Trauma vorbeugen, 5 dann wäre für vormoderne Ritter und Söldner anzunehmen, dass sie nicht oder wenig gefährdet waren. Dieses Argument fragt nach der Existenz von Trauma in der Vormoderne und lässt sich weder verifizieren noch falsifizieren, da retrospektive Diagnosen in Schriftquellen unmöglich sind - an literarischen Figuren allzumal. 6 Das zweite Argument gilt der Frage nach den Texten selbst und ihren literarischen Darstellungsusancen: Mit Trauma verbinden sich intensive Furcht, Entsetzen, Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlustes. Diese Emotionen werden in der epischen Literatur des Mittelalters in der Regel marginalisiert bis tabuisiert, handelt es sich doch primär um Literatur für Angehörige einer Kriegeraristokratie, die nicht an einer derartigen Darstellung von Rittertum und Kampf interessiert waren. 7 4 Vgl. Donna Trembinski, „Comparing Premodern Melancholy/ Mania and Modern Trauma: An Argument in Favor of Historical Experiences of Trauma“, in: History of Psychology 14 (2011), S. 80-99; Sonja Kerth, „Traumaerzählungen im Parzival. Ein Versuch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 252 (2015), S. 263-293. Eine breitere Öffentlichkeit erreichte der Versuch des US-amerikanischen Psychiaters Jonathan Shay, Homers Epen auf Trauma hin zu lesen: In der Ilias etwa entstehe Trauma aus heftiger Trauer beim Verlust eines nahestehenden Mitkämpfers, aus dem Gefühl des persönlichen Verratenwerdens durch Anführer oder allgemein des Verrats an dem, ‘was recht ist’. Diese Emotionen mündeten in zornige Empörung, berserkerhafte Wut, ungezügelte Rachsucht und das Gefühl des Schontot-Seins. Diese literarischen Darstellungen hat Shay mit Erzählungen von traumatisierten US-Soldaten nach dem Vietnamkrieg, die bei ihm in Behandlung waren, verglichen und aus psychoanalytischer Sicht charakteristische Übereinstimmungen gefunden. Jonathan Shay, Achill in Vietnam , Hamburg 1988, S. 146 und passim ; ders., Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming , New York 2002. Zur Unmöglichkeit, eine Liste von Faktoren zu erstellen, die ggf. in vergangenen Zeiten und anderen Kulturen ein Trauma auslösen konnten, vgl. Neil J. Smelser, „Psychological Trauma and Cultural Trauma“, in: Cultural Trauma and Collective Identity , hg. von Jeffrey Alexander u. a., Berkeley u. a. 2004, S. 31-59, hier S. 36. 5 Vgl. Karolina Meyer-Schilf, „‘dazu jch jedem raten wil / er buw vff kriegen nit zu vil’. Grundüberlegungen und Forschungsperspektiven zum Umgang mit Kriegsinvalidität im Spätmittelalter“, in: Phänomene der ‘Behinderung’ im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne , hg. von Cordula Nolte, Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8), S. 113-123, hier S. 118. 6 Vgl. z. B. Michael Stolberg, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit , Köln u. a. 2003, S. 248-257; Katharina Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Literatur , Berlin/ Boston 2013 (Hermaea, N. F. 131), S. 17, 327 u. ö.; sowie besonders Manuel Brauns Bemerkung, dass man literarische Figuren nicht auf die Couch des Psychoanalytikers legen könne: Manuel Braun, „Trauer als Textphänomen. Zum Ebenenproblem der mediävistischen Emotionsforschung“, in: Machtvolle Gefühle , hg. von Ingrid Kasten, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 53-86, hier S. 58f. Vgl. aber auch den methodisch problematischen medizinhistorischen Versuch, an Apollonius von Tyrland im gleichnamigen Roman Heinrichs von Neustadt eine Depression zu ‘diagnostizieren’: Torsten Haferlach, Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten , Heidelberg 1991, S. 50-53. 7 Vgl. die Überlegungen bei Annette Gerok-Reiter, „Angst - Macht - Ohnmacht. Emotionscrossing in Hartmanns Erec ? “, in: Machtvolle Gefühle (wie Anm. 6), S. 218-245, die in der höfischen Epik Angstlizenzen nur unter ganz bestimmten, begrenzten Bedingungen sieht: v. a. bei Frauen und Kindern, bei untergeordneten Figuren, die der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollen, und bei Gegenfiguren, die stigmatisiert werden sollen (S. 228f.). diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 205 Trotzdem lassen sich in vormoderner Literatur Darstellungen finden, die auf kriegs- oder gewaltbedingte seelische Verletzungen und ihre andauernden Folgen hinweisen. 8 Diese Darstellungen rücken die in der germanistischen Mediävistik noch wenig beachtete Disability History ins Blickfeld. Sie untersucht Konstruktionen körperlicher, seelischer und geistiger Abweichung anhand der Leitfrage, inwieweit Behinderung ( disability ) bzw. Beeinträchtigung ( impairment ) Kategorien gesellschaftlicher Differenzierung und Ordnung in vormodernen Gesellschaften bildeten, 9 die sich in historischen Texten widerspiegeln. Diese Frage gilt es auch für Darstellungen seelischer Verletzungen in fiktionalen Repräsentationen zu untersuchen. Man wird Traumaerzählungen aber in einem Kontext verorten müssen, der von einem medizinisch-psychologischen Modell von Trauma wegführt. Sinnvoller erscheint ein Konzept, das danach fragt, ob sich in mittelalterlicher Literatur ein narrativer Kern bestimmen lässt, der Trauma konfiguriert. Literarische Darstellungen von Trauma, so meine These, besitzen als Erzählkern ein signifikantes emotionales Geflecht um lähmende Trauer, Hilflosigkeit, Furcht und Entsetzen, das Gefühl des Ausgeliefertseins angesichts Unrecht und Gewalt, aber auch um Aggression und Wut. 10 Diese Emotionen werden in der Figurendarstellung und in Erzählerkommentaren greifbar, und mit ihnen verbinden sich Fragen nach Bewertungen und Handlungsspielräumen, die ein Traumaopfer erhält. Wer gilt als Opfer, wer als Täter? Wer wird unter welchen Bedingungen in Verbindung gebracht 8 Trauma in mittelalterlichen Dichtungen thematisieren z. B. auch Hannes Fricke, „Literaturpsychologie. Stigma und Trauma bei Abaelard: Bewältigungsstrategien eines körperlich und seelisch Verletzten. Ein literaturpsychologischer Versuch“, in: Abaelards Historia calamitatum. Text - Übersetzung - literaturwissenschaftliche Modellanalysen , hg. von Dag N. Hasse, Berlin/ New York 2002, S. 237-259; Christiane Ackermann und Klaus Ridder, „Trauer - Trauma - Melancholie. Zum Willehalm Wolframs von Eschenbach“, in: Trauer , hg. von Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer, Würzburg 2003 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche 22), S. 83-108; Manfred Kern, „Thymos, Kultur und Geschlecht. Perspektiven einer traumatologischen Lektüre der chanson de geste “, in: Mythos - Sage - Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer , hg. von Johannes Keller und Florian Kragl, Göttingen 2009, S. 173-192; Sonja Kerth, „Schreiende Kriegswunden. Darstellungen kriegsbedingter Traumatisierung in mittelalterlicher heroischer Dichtung“, in: (De)formierte Körper 2: Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter / Corps (Dé)formés 2: Perception et lʾAltérité au Moyen-Âge , hg. von Gabriela Antunes, Björn Reich und Carmen Stange, Göttingen 2014, S. 273-298 9 Vgl. z. B. Irina Metzler, Disability in Medieval Europe. Thinking about Physical Impairment during the High Middle Ages, c. 1100-1400 , London/ New York 2006 (Routledge Studies in Medieval Religion and Culture 5); dies., A Social History of Disability in the Middle Ages. Cultural Considerations of Physical Impairment , New York/ London 2013 (Routledge Studies in Medieval Religion and Culture 20); Cordula Nolte, „‘Behindert’, beeinträchtigt, ‘bresthafftigen leibs’ im Mittelalter: Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 28 (2009), S. 9-20; Homo debilis. Behinderte - Kranke - Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters , hg. von Cordula Nolte, Korb 2009 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 3); Phänomene der ‘Behinderung’ im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne , hg. von Cordula Nolte, Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8); Bianca Frohne, Leben mit ‘kranckhait’. Der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne , Affalterbach 2014 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 9). 10 Ähnliche Erzählkerne legt die literaturwissenschaftliche Traumaforschung zur neuesten Literatur frei: Traumaerzählungen besitzen als Nukleus die Schilderung von plötzlichen und/ oder katastrophalen Ereignissen, die von den Figuren als überwältigend empfunden werden und auf die diese oft zeitversetzt und wiederholt mit extremen Affekten reagieren. Diese werden als gewaltsames Eindringen in die Seele empfunden: Cathy Caruth, Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History , Baltimore/ London 1996, S. 11. Zum Begriff ‘Erzählkern’ vgl. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik , Tübingen 2007, S. 29-34, bes. S. 31. 206 Sonja Kerth mit Angst, Schrecken, lähmender Trauer, Ohnmacht und unkontrolliertem Zorn? Zu denken ist dabei nicht nur an Krieger, sondern auch an alte Menschen, Frauen und Kinder. Diese Gruppen werden in der mittelalterlichen Literatur generell stärker mit negativen Emotionen verbunden. 11 Als Traumaerzählung sehe ich Schilderungen durch Figuren oder den Erzähler an, in denen dargestellt wird, dass Krieg und Gewalt zu bleibenden, als bedrohlich und unkontrollierbar empfundenen Störungen im Inneren von Figuren führen. Diese Störungen machen es ihnen temporär oder bleibend unmöglich, die eigene Existenz im Rahmen der Handlung sinnvoll und gesellschaftlich anerkannt weiterzuführen. Sie treten nach Abschluss der Kampfhandlungen und Gewaltakte auf, kehren immer wieder und verlangen nach Strategien zur Linderung und Heilung. 12 Ich verstehe Traumaerzählungen dabei nicht als ahistorisches narratologisches Phänomen im Sinne eines Archetypus. Vielmehr gehe ich mit Rudolf Käser davon aus, dass Gesellschaften „auf pathogene Irritation mit immer wiederkehrenden, strukturierten, wenn auch variabel anpaßbaren Informationsverarbeitungsmustern“ reagieren. 13 Es scheint somit bei vormodernen Traumaerzählungen der von Annette Gerok-Reiter vorgestellte Fall vorzuliegen, dass in mittelalterlicher Literatur (noch) nicht konzeptualisierte Emotionen (bzw. Emotionsbündel 14 ) entworfen werden. Völlig beliebig dürfe die Konzeptualisierung allerdings nicht sein, denn die Verschiebungen, Ergänzungen und Neuentwürfe der Literatur seien nicht unbegrenzt, sondern nur innerhalb des Rahmens möglich, den der historisch vermittelte literarische Diskurs zulasse. Seinen Normen, die von „Zeit, kulturellem Kontext und Gattungsvorgaben“ abhängen, bleiben die ästhetischen Repräsentationen stets unterworfen, was insbesondere die Verwendung von Angst- und Ohnmachtsdarstellungen beschränkt. 15 Traumaerzählungen sind demnach Teil historisch-gesellschaftlicher Diskurse, in denen erörtert wird, wie eine Gesellschaft mit den Folgen umgeht, die das Erleben extremer Gewalt besonders in Kampf und Krieg hat. Sie besitzen Konstruktcharakter und werden von Dichtungen besonders nachdrücklich repräsentiert, da diese als ästhetische Phänomene in der Lage sind, 11 Vgl. dazu besonders Gerok-Reiter (wie Anm. 7); Helmut Brackert, „ der lac an riterschefte tôt . Parzival und das Leid der Frauen“, in: Ist zwîvel herzen nâchgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag , hg. von Rüdiger Krüger, Jürgen Kühnel und Joachim Kuolt, Stuttgart 1989 (Helfant Studien S 5), S. 143-163, hier S. 144f. Vgl. zuletzt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Aleida Assmann, Karolina Jeftic und Friederike Wappler, „Einleitung“, in: Rendezvous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in den Künsten , hg. von dens., Bielefeld 2014 (Erinnerungskulturen/ Memory Cultures 4), S. 9-23. 12 Vgl. „Traumatherapie“, in: Pschyrembel (wie Anm. 2), S. 846; Kerth (wie Anm. 8). 13 Rudolf Käser, „Wie und zu welchem Ende werden Seuchen erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung“, in: IASL 29 (2006), S. 200-227. 14 Zum Begriff ‘Emotionsbündel’ siehe Rüdiger Schnell, Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions , 2 Bde., Göttingen 2015, Bd. 1, S. 202 und 224-227. 15 Vgl. Annette Gerok-Reiter, „Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Epik“, in: Das Mittelalter 12.1 (2007), S. 127-143, hier S. 128; Schnell (wie Anm. 14), bes. S. 597f., 608, 771 u. ö.; Annette Gerok-Reiter, „ angest/ vorhte literarisch: Möglichkeiten und Grenzen der Emotionsforschung zwischen Text und Kontext“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2010), S. 15-22, zu literarischen Sonderbedingungen, Sonderräumen und Sondernormen bes. S. 16. Eine grundsätzliche Neubewertung von Krieg und Gewalt im Medium Literatur ist mit mittelalterlichen Traumaerzählungen sicher nicht verbunden. Aber es bleibt zu beachten, dass allein die Vorstellung eines Traumas ein geistiges Umfeld voraussetzt, in dem nicht völlig selbstverständlich hingenommen wird, dass Gewalt unhinterfragbar ist: Martina Kopf, Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen. Assia Djebar und Yvonne Vera , Frankfurt a. M. 2005 (Wissen & Praxis 134), S. 17. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 207 eine fiktionale Identifikation und emotionale Katharsis hervorzurufen: 16 Menschen, die aufregende, packende oder furchteinflößende Filme oder Bücher rezipieren, können davon u. U. vorübergehend traumatisiert werden, wenn sie die Emotionen, die sie in realen Situationen erleben würden, mit den fiktionalen Situationen verbinden. 17 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Trauma sollen Wolframs von Eschenbach Parzival und Willehalm sowie die Karlmeinet-Kompilation untersucht werden. I Orgeluse In Wolframs von Eschenbach Parzival wird Orgeluse nach der Tötung ihres Ehemanns und ihrer eigenen Inhaftierung durch König Gramoflanz, der ihre Liebe erzwingen will, zur Männerhasserin. Sie instrumentalisiert Ritter für ihre Rache, nimmt deren Verletzung und Tod billigend in Kauf oder provoziert sie sogar und überschüttet ihren neuesten Begleiter Gawan mit Spott und Schmähungen. Durch Gawans Liebe und Anteilnahme, aber auch durch seine kämpferischen Leistungen überwindet sie ihren Hass und wird schließlich zu seiner liebenden Ehefrau. Der skizzierte Handlungsverlauf legt es nahe, die Figur Orgeluse mit seelischer Verwundung infolge sexuell motivierter Gewalt zu verbinden; entsprechend hat die Forschung ihr für eine höfische Dame völlig aus der Norm fallendes Verhalten teilweise psychopathologisch gedeutet. 18 Aber auch dort, wo keine psychologische Interpretation vorgenommen wurde, hat man auf das Widersprüchliche und Unerklärliche hingewiesen, das die Figur ausmache. 19 Beides ist Teil einer Erzählstrategie, die erste Hinweise auf eine Traumaerzählung 16 Jeffrey Alexander, „Towards a Theory of Cultural Trauma“, in: Cultural Trauma (wie Anm. 4), S. 1-30, hier S. 15. 17 So Smelser (wie Anm. 4), S. 40, vgl. Alexander (wie Anm. 16), S. 8; Kopf (wie Anm. 15), S. 10; zur mittelalterlichen Literatur vgl. z. B. Ackermann und Ridder (wie Anm. 8); Harald Haferland, „Psychologie und Psychologisierung: Thesen zur Konstitution und Rezeption von Figuren. Mit einem Blick auf die historische Distanz“, in: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17.-19.2.2011 , hg. von Florian Kragl und Christian Schneider, Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 91-117. 18 Streng nach medizinischem Modell urteilt Haferlach (wie Anm. 6); stärker in literaturwissenschaftlichem Kontext Gisela Zimmermann, „Untersuchungen zur Orgeluseepisode in Wolfram von Eschenbachs Parzival “, in: Euphorion 66 (1972), S. 128-150, hier S. 131; Sonja Emmerling, Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des Parzival. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell , Tübingen 2003 (Hermaea, N. F. 100), bes. S. 103-110, 129-131 und 148-150 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur); Robert Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im ‘Nibelungenlied’ und in Wolframs von Eschenbach ‘Parzival’ , Frankfurt a. M. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 6), S. 186-195 und 197-199. 19 Kritisch zur psychologischen Deutbarkeit der Figur z. B. Joachim Bumke, „Geschlechterbeziehungen in den Gawanbüchern von Wolframs Parzival“, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 38/ 39 (1994), S. 105-121, hier S. 110-112; Martin Baisch, „Orgeluse - Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival “, in: Schwierige Frauen - schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters , hg. von Alois Haas und Ingrid Kasten, Bern u. a. 1999, S. 15-33, hier S. 16f.; Gerhard Wolf, „Ein Kranz aus dem Garten des Gramoflanz. Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Mythos und Literatur der Gauvain-Gawan-Handlung des Perceval / Parzival . Reale, literarische und symbolische Grenzen“, in: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposion des Mediävistenverbandes 14.-17.3.2005 in Frankfurt/ O. , hg. von Ulrich Knefelkamp und Kristian Bosselmann-Cyran, Berlin 2007, S. 21-36, hier S. 34f. Vgl. zum Folgenden auch Kerth (wie Anm. 4), S. 276-283. 208 Sonja Kerth gibt: 20 Orgeluses verbales und körpersprachliches Verhalten wird zunächst verrätselt, und der Erzähler kontextualisiert es dann als emotionalen Vorgang in ihrem herze , der auf (noch) unerklärte Weise Orgeluses zorn gegen Männer ausgelöst habe. Gleichzeitig entschuldigt er dieses Verhalten aber auch: 21 swer nu des wil volgen mir, der mîde valsche rede gein ir. 516,5 niemen sich verspreche, ern wizze ê waz er reche, unz er gewinne küende wiez umb ir herze stüende. […] 11 swaz si hât gein Gâwân in ir zorne missetân, ode daz si noch getuot gein im, die râche ich alle von ir nim. ( Parzival , 516,3-14) Nur eine Innenschau könnte Klarheit über Orgeluses Motive verschaffen, diese wird an dieser Stelle aber nicht geboten. 22 So bleibt der Eindruck einer so attraktiven wie boshaften Dame, die Schlimmes verursacht und über die es viel zu erzählen gäbe. Den Impuls dazu hat Wolfram von Chrétien de Troyes erhalten. 23 Chrétiens Orgueilleuse (‘Stolze’) von Norgres weist zwar signifikante Unterschiede in der Figurenkonstitution 24 und der Zielrichtung ihres Handelns 20 In ähnlichem Zusammenhang spricht Udo Friedrich von „Todeserzählungen“: Udo Friedrich, „Erzählen vom Tod im Parzival . Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter“, in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven , hg. von Harald Haferland u. a., Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 385-414, hier S. 397. 21 Textausgabe: Wolfram von Eschenbach , Parzival , mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/ New York 1998. 22 Zur lange Zeit ausschließlich externen Fokalisierung Orgeluses vgl. Friedrich M. Dimpel, „ er solts et hân gediuhtet nider . Wertende Erzähleräußerungen in der Orgeluse-Handlung von Wolframs Parzival “, in: Euphorion 105 (2011), S. 251-281, hier S. 258; zum analytischen Erzählen im Parzival vgl. Frauke Schumacher, Die erzählte Welt als Spiegel. Reflexionen des analytischen Erzählens im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach , Diss. Bremen 2014 (http: / / elib.suub.uni-bremen.de/ edocs/ 00104595-1.pdf; letzter Zugriff 19.12.2017), zu Orgeluse bes. S. 188-202; zu Wolframs „Szenenregie“, eine Figur mit nicht begründetem Schmerz auftreten zu lassen, und der Inszenierung von Gefühlsumschwüngen Rüdiger Schnell, „Narration und Emotion. Zur narrativen Funktion von Emotionserwähnungen in Chrétiens Perceval und Wolframs Parzival “, in: Wolfram-Studien 23 (2014), S. 269-331, hier S. 313-318. 23 Textausgabe: Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal/ Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/ Deutsch , übersetzt und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649). 24 Die pucele wird nicht als Herzogin bezeichnet, der Getötete war nicht ihr Ehemann, sondern ihr ami , und das Fragment bricht ab, ohne eine Ehe zwischen Gauvain und der Stolzen in die Wege zu leiten. Dass Chrétien eine Liebesbeziehung geplant hatte, lässt sich aber nicht ausschließen: Es ist davon die Rede, dass Gauvain die pucele attraktiv findet (V. 6699-6701), und vor dem Sprung über die Gefährliche Furt bekundet Gauvain, alles nur Mögliche für die Gunst der pucele tun zu wollen (V. 8472-8477; vgl. Emmerling [wie Anm. 18], S. 133, Anm. 158). Von einer Soldatenhure und Landstreicherin (so Marianne Wynn, „Orgeluse. Persönlichkeitsgestaltung auf Chrestienschem Modell“, in: German Life and Letters 30 [1976/ 1977], S. 127-137, hier S. 130) zu sprechen, geht m. E. am Text vorbei. Vgl. auch den relativierenden Kommentar von Erdmuthe Döffinger-Lange, Der Gauvain-Teil in Chrétiens Conte du Graal. Forschungsbericht und Episodenkommentar , Heidelberg 1998 (Studia Romanica 95), S. 206. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 209 auf. 25 Beide eint aber die Tatsache, dass der Bruch normgerechter höfischer und weiblicher Verhaltensweisen durch die Erfahrung extremer Gewalt motiviert wird und dass die Zusammenhänge im Rahmen von Figurenbzw. Erzählerrede erläutert werden. Im Perceval wird die so hübsche wie bösartige pucele , die Ritter wie Gauvain ins Unglück stürzen will, ebenfalls als Opfer sexuell motivierter Gewalt dargestellt, und auch sie ändert Redeweise und Verhalten nach dem Bericht über ihre Erlebnisse radikal. Orgueilleuses Aggressivität, ihre extreme Abscheu vor körperlichen Berührungen (bes. V. 6840-6861, 6880-6891) 26 und ihre selbstzerstörerische Sehnsucht danach, durch ihre Handlungen und Reden einen Ritter dazu zu provozieren, dass er sie töte (V. 8954-8959), lassen die pucele als Opfer andauernder seelischer Verwundung und ihre Worte als Traumaerzählung erscheinen. 27 Chrétiens Perceval -Fragment berichtet nicht, dass die pucele durch Gauvains Zuwendung und Liebe vollständig geheilt wird, 28 aber sie wird durch die Reintegration in die höfische Gesellschaft mit einer positiven Lebensprognose versehen: Seit der Episode an der Gefährlichen Furt wird Orgueilleuse nicht mehr als male pucele , sondern nur noch als pucele oder bele pucele bezeichnet, 29 und ihr letzter Auftritt findet am Hof von Roche de Canguin statt, wo sie willkommen geheißen wird, wenn auch um Gauvains willen (V. 8999-9002). Wolfram mildert einige Spitzen der Figurendarstellung ab, schwächt etwa die Anklänge an ‘Wahnsinn’ und die extremen Reaktionen auf drohende körperliche Berührungen ab. Gleichzeitig räumt er der Orgelusehandlung viel mehr Umfang ein und verstärkt vor allem die Aspekte Heilung und Linderung durch Zuwendung und Anteilnahme beträchtlich. Grundsätzlich scheinen mir Chrétiens und Wolframs Schilderungen aber Ausdruck desselben erzählerischen Anliegens zu sein: durch Verrätselung und Überspitzung Interesse an Figuren zu wecken, die durch Gewalterfahrung zeitweise nicht mehr in der höfischen Gesellschaft ‘funktionieren’ und von der Täterrolle in die des Opfers überführt werden. Als besonders undurchschaubar und aggressiv präsentiert sich Orgeluse, nachdem Gawan ihr die Geschichte des Urjans erzählt hat. Sie übt nicht nur harsche Kritik an der Begnadigung des Frauenschänders, sondern kündigt ihrerseits Maßnahmen gegen ihn an: Die Umwandlung der Todesstrafe in eine Ehrenstrafe sei eine ‘schiefe’ Rache, und sie selbst werde als vogt (529,2; 10) das Recht in die Hand nehmen, weil die Männer versagten. Auf Heidnisch (also unverständlich für Gawan und die Rezipienten) gibt sie Malcreatiure einen Auftrag, der Lischoys Gwelljus in den Zweikampf mit dem Vergewaltiger Urjans schickt - zumindest reitet der Ritter 25 So ist die pucele weniger auf die Bestrafung/ Tötung ihres Erzfeindes aus als auf eine Art von suicide by cop , also darauf, eine Situation herbeizuführen, in der sie von einem eigens dafür instrumentalisierten Bewaffneten getötet wird (Horst Brunner, mündlich). Den Wunsch, auch andere Ritter zu schädigen, teilen beide Figuren. 26 Döffinger-Lange (wie Anm. 24), S. 206, 216f., weist darauf hin, dass die Figur darin starke Anklänge an den Narcissus-Mythos aufweise. 27 Gleichzeitig wird die seelische Verwundung auch in die Nähe von ‘Wahnsinn’ gerückt und damit zumindest an der Textoberfläche konventioneller als bei Wolfram pathologisiert: Mais de mon premerain ami, / Quant mors le desevra de mi / Ai si longuement esté fole / Et de si estolte parole / Et si vilaine et si musarde […] (V. 8947-8951; ‘Nach dem Tod meines ersten Freundes hingegen verlor ich lange Zeit den Verstand, redete unverschämt und betrug mich so gemein und verrückt […]’). 28 Es gibt weder lange Gespräche noch Beweise liebevoller Zuneigung durch den Ritter wie im Parzival , sondern allein die herausragenden ritterlichen Taten Gauvains führen dazu, dass Orgueilleuse über ihre Erlebnisse spricht: Döffinger-Lange (wie Anm. 24), S. 218f., vgl. auch S. 298 und 316. 29 Ebd., S. 207. 210 Sonja Kerth später Gringuljete, hat ihn also Urjans abgenommen und diesen vielleicht auch getötet (540). 30 Orgeluses großes Interesse an einer harten Bestrafung eines Frauenschänders wird an dieser Stelle nicht erläutert, genausowenig wie Malcreatiures Vorwurf, Gawan entführe seine Herrin (520,20). Beides deutet voraus auf eine Traumaerzählung, in der Entführung und sexuell motivierte Gewalt (neben der Tötung Cidegasts) eine zentrale Rolle spielen. Diese Hintergründe werden erst nach Gawans Waffengang mit dem Turkoyten klarer, der den letzten Eignungstest vor der Hauptaventiure an der Gefährlichen Furt darstellt. Orgeluse gibt einen ersten Hinweis auf ihre seelische Wunde, als sie Gawan am Kranz-Baum mitteilt: hêrre, jenen stam / den heiet der mir freude nam (601,25f.). Dass es sich um einen bedeutungsvollen, emotional aufgeladenen Erinnerungsort handelt, zeigen auch ihre Worte, dass ihre reise hier zu Ende sei (602,1). Statt zu spotten, weint Orgeluse, als Gawans Pferd nicht richtig auf der anderen Seite ankommt und ins Wasser stürzt. Dies alles deutet auf eine emotionale Schlüsselszene hin. 31 Bevor die Herzogin von Logroys ihre Geschichte erzählt, gibt der Erzähler jedoch Gramoflanz die Gelegenheit, Gawan (und den Rezipienten) seine Sicht der Orgeluse-Geschichte wiederzugeben. Gramoflanz bagatellisiert dabei zunächst den Vorfall, indem er ihn in den Kontext von Liebeshändeln stellt. Er, Gramoflanz, habe die Aventiure von Lît marveile nicht bestehen können, weil ihm der Frieden mit Clinschor und der Krieg mit einer Dame dazwischen gekommen seien - einer Dame, die den Sieg der Liebe behalten habe und trotzdem ihre Wut an ihm auslasse. Er berichtet Gawan dann aus der Perspektive des gescheiterten Minneritters über die Ereignisse um die gezielte Tötung Cidegasts im eigens dafür angezettelten Krieg, Orgeluses Entführung und ihre Gefangensetzung (605,27-606,13). Gramoflanz versucht, Solidarität mit Gawan gegen Orgeluse herzustellen. Einerseits misslingt dies, weil das Ausmaß der schrecklichen Situation durch seine Worte doch deutlich wird und Orgeluses Rachewunsch legitimiert, der eben nicht nur auf Bosheit und Aufbegehren gegen das patriarchalische Gesellschaftssystem beruht. 32 Andererseits entlastet sich Gramoflanz erfolgreich durch seine Geschichte und wird im weiteren Verlauf des Parzival nicht länger als Totschläger und Frauenräuber präsentiert, sondern als geläuterter, wieder liebender Partner für Itonje, dessen ritterliches Ansehen nicht dauerhaft zerstört ist. Durch Gramoflanz’ Worte sind sowohl Gawan auf intradiegetischer Ebene als auch das Publikum vorbereitet, als Orgeluse vor Gawan auf die Knie fällt und weinend zu erzählen beginnt. Ihr schlechtes Benehmen bringt sie explizit mit ihrer inneren Schädigung in Verbindung, deren ungeheueres Ausmaß dieses rechtfertige: gein swem sich krenket mîn sin, der solz durch zuht verkiesen. ine mac niemêr verliesen freuden, denne ich hân verlorn 30 Vgl. zur Szene z. B. Elisabeth Lienert, „Zur Diskursivität der Gewalt in Wolframs Parzival “, in: Wolfram- Studien 17 (2002), S. 223-245, hier S. 238; Scheuble (wie Anm. 18), S. 332-341; Sarah Westphal-Wihl, „Orgeluse and the Trial for Rape at the Court of King Arthur: Parzival 521,19 to 529,16“, in: Arthuriana 20 (2010), S. 81-109; Dimpel (wie Anm. 22). Als männlich konnotiert bezeichnet Martin Baisch Orgeluses Handeln und ihre Redeweise: Baisch (wie Anm. 19), S. 27. 31 Rüdiger Schnell, „Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität“, in: ZfdPh 127 (2008), S. 79-102, hier S. 84. 32 Vgl. auch Baisch (wie Anm. 19), S. 19, 33. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 211 612,30 an Cidegast dem ûz erkorn. […] 613,27 ich was sîn herze, er was mîn lîp: den vlôs ich flüstebærez wîp. ( Parzival , 612,26-30; 613,27f.) Ihre spöttischen Worte erklärt die Herzogin nun als Teil einer Prüfung (614,3 und 7), ob sie Gawan ihre Liebe antragen könne: Weil der sich als der ellensrîche (614,11) erwiesen habe, sei dies nun möglich. 33 Als Gawan Orgeluse, anders als bei früherer Gelegenheit, nun ohne Protest aufs Pferd heben und an sich drücken darf, kommentiert der Erzähler diese Veränderung eigens als Anerkennung: des dûht er sie dâ vor niht wert (615,18). Auf Trauma hin lesbar wird Orgeluses Geschichte auch durch Wiederholung, wie im Verlauf ihres Berichts deutlich wird: Orgeluses Wunde brach schon mehrfach wieder auf, und sie wurde selbst zur Täterin aus zorn und haz , als sie eine Reihe von Rittern für ihre Rache in Dienst nahm. So verursachte sie anderen und sich selbst neuen Kummer. 34 Statt durch Rachevollzug ihr Leid zu beenden, wurde auch der Gralskönig Anfortas in ihrem Dienst verwundet. Dadurch brach die seelische Wunde wieder auf und vergrößerte sich noch: in mîme dienste erwarb er sêr. glîchen jâmer oder mêr, 616,25 als Cidegast geben kunde, gab mir Anfortases wunde. nu jeht, wie solt ich armez wîp, sît ich hân getriwen lîp, alsolher nôt bî sinne sîn? etswenn sich krenket ouch der mîn, 617,1 sît daz er lît sô helfelôs, den ich nâch Cidegaste erkôs zergetzen unt durch rechen. ( Parzival , 616,23-617,3) Trotzdem betrieb Orgeluse ihr Racheunternehmen weiter mit großen Ritterhorden und unter hohen Kosten; wer nicht für Sold kämpfte, den habe sie um der Liebe willen kämpfen lassen, ohne jedoch je Lohn zu verheißen. Ihr Plan sei auch stets aufgegangen bis auf ein Mal, als ein Roter Ritter ihr Angebot auf lant und […] lîp (619,3) abgewiesen habe. Durch die Einschätzung dieser Ablehnung als swaere (619,6) und durch Orgeluses Bemerkung, sie halte ihre Minne durch die Zurückweisung für geschwächt und abgewertet (619,15-19), wird auch die Begegnung mit Parzival mit der Traumaerzählung verknüpft. Mit Orgeluses zunehmender Fähigkeit, ihre seelischen Verletzungen zu artikulieren, beginnt die Liebesbeziehung mit Gawan. 35 Der Erzähler berichtet, dass beide sich immerfort ansehen müssen, und es finden immer mehr körperliche Berührungen statt, die Orgeluse zuvor unterbunden hatte: Gawan darf die Herzogin zum zweiten Mal aufs Pferd heben, später nimmt der Ritter öffentlich Orgeluses Hand, und diese lässt sich von Arnive verpflichten, die 33 Vgl. Zimmermann (wie Anm. 18), S. 133. 34 Vgl. Emmerling (wie Anm. 18), S. 103f. 35 Ebd., S. 152. 212 Sonja Kerth Nacht mit Gawan mit liebender pflege (640,24) zu verbringen, deren Heilsamkeit für Gawan der Erzähler breit und süffisant beschreibt (643f.). Orgeluses Heilung ist aber noch nicht abgeschlossen, obwohl König Artus ihren neuen Liebhaber Gawan öffentlich weit über Cidegast stellt (650,16-18). Die alte Wunde bricht noch zwei weitere Male auf: bei der erneuten Begegnung mit Parzival und beim Aufeinandertreffen mit ihrem Erzfeind Gramoflanz. Als sie Parzival küssen muss, lehrt dies Orgeluse pîn und scham (696,8 und 12), und kurz danach äußert sie verbliebene Ressentiments gegen den Ritter (697,16-20). Ihr Zorn gegen Gramoflanz wird zwar als im Schwinden dargestellt, aber als sie ihn durch suone (729,19) küssen muss, kommen ihr die Tränen, was der Erzähler als Zeichen von triuwe (729,24) gegenüber dem toten Cidegast positiv beurteilt. 36 An Orgeluse werden schwere seelische Verwundung und deren Folgen, der Wandel von Zorn und haz in Trauer und schließlich neues Liebesglück unter dem Einfluss von emotionaler Zuwendung und in langen Gesprächen mit Gawan dargestellt. 37 Diese Vorgänge werden im Inneren der Figur, im herze , angesiedelt, haben aber auch eine gesellschaftliche Dimension, da Orgeluse von Gawan und König Artus öffentlich als Opfer von Unrecht und Gewalt anerkannt wird und sie die Möglichkeit des ergetzens erhält. Dies bezieht sich allerdings nur auf die Tötung Cidegasts; dass Gramoflanz Orgeluse gefangensetzte (und möglicherweise sexuelle Gewalt anwendete), wird nicht weiter thematisiert. 38 Sehr aufmerksame Rezipienten konnten sich allerdings vielleicht an Orgeluses anfängliches Sträuben gegen körperliche Berührungen und ihre Ankündigung, rigoros gegen den Frauenschänder Urjans vorzugehen, erinnern und diese auf die Gefangensetzung beziehen. II Willehalm Eine mehrfach aufbrechende seelische Wunde eines Kämpfers schildert der Willehalm Wolframs von Eschenbach. Auch hier verbindet sich die Verletzung mit dem gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen: Willehalms Neffen Vivianz, der in der ersten Schlacht von Alischanz fällt. Er wird aber nicht Opfer unrechter Gewalt, sondern stirbt nach heroischen, selbst gesuchten Kämpfen gegen die Muslime als Märtyrer. Willehalm findet den Sterbenden nach der verlorenen Schlacht, beklagt ihn, spricht ihm nach der Beichte Trost zu und reicht ihm eine geweihte Hostie (59,26-69,1). 39 Um sein eigenes Leben zu schützen, muss er den Leichnam 36 Zum Verhältnis von Trauer und Treue aus sprachlicher Perspektive vgl. Simone Schultz-Balluff, „‘ûf mîner triwe jâmer blüet’. Trauer und ‘triuwe’ - Zum Zusammenspiel zweier Konzepte“, in : Sprache der Trauer. Verbalisierungen einer Emotion in historischer Perspektive , hg. von Seraina Plotke und Alexander Ziem, Heidelberg 2014, S. 123-173. 37 Zimmermann (wie Anm. 18), S. 135, hat nachgezählt, dass die Gespräche bis zur Liebeserfüllung mit 688 Versen die zweitlängsten Dialoge nach dem Parzival-Trevrizent-Gespräch darstellen. Viel kürzer sind die Dialoge zwischen Gauvain und der pucele bei Chrétien; vgl. dazu Emmerling (wie Anm. 18), S. 104, Anm. 93, und Zimmermann (wie Anm. 18), S. 129. 38 Vgl. Lienert (wie Anm. 30), S. 238f., die auch darauf verweist, dass sich immer wieder ausgerechnet Frauen mit (mutmaßlichen) Frauenschändern solidarisch erklären: Itonje und Bene mit Gramoflanz, Ginover mit Urjans. Zu nennen wäre auch die amie des Urjans, die ihm beim Betrug an Gawan hilft. Eine Vergewaltigung Orgeluses während der Haft erwägt auch Friedrich M. Dimpel, „Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival“ , in: ZfdPh 120 (2001), S. 39-59, hier S. 46; vgl auch Westphal-Wihl (wie Anm. 30), S. 98-100. 39 Textausgabe: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar , hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliodiu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 213 dann unbestattet zurücklassen und vor den siegreichen gegnerischen Truppen fliehen, nicht ohne den grôz unprîs dieses Handelns zu beklagen (71,16). Zwar reagiert Willehalm später heroenkonform mit Rache, als er im Gedenken an Vivianz den bereits wehrlosen Perserkönig Arofel trotz dessen eindringlicher Bitte um Schonung tötet (79,25-80,1; 80,16-26; 81,11f.). Die seelische Wunde schließt sich durch die Rachehandlung jedoch nicht; Vivianz’ Verlust und die Unmöglichkeit, ihn ehrenvoll zu bestatten, prägen die weitere Darstellung Willehalms mit. 40 Am Ende seiner Flucht vom Schlachtfeld von Alischanz trägt das von Arofel erbeutete Pferd den zerschundenen und demoralisierten Markgrafen, der die erbeutete Prachtrüstung des Gegners trägt, nach Orange. Hier wird er vom Schmerz über den erlittenen Verlust überwältigt: Alêrste twanc in jâmers nôt / umb sînes werden heres tôt / und Vîvîanses, sînes neven (89,1-3). Die optischen Signale veranlassen Gyburg und den Kaplan in den Zinnen der Burg, das Tor verschlossen zu halten: das fremde Pferd, die fremde Rüstung und vor allem die einsame Rückkehr ohne Mitkämpfer - all dies macht es unmöglich, Willehalm zu erkennen. Erst eine Befreiungsaktion von 500 gefangenen Christen und der Blick auf Willehalms alte Nasenverletzung klären seine Identität und verschaffen ihm Einlass. 41 Auf der Handlungsebene vermag Willehalm die Auslöschung seiner Identität rückgängig zu machen. Dies geschieht jedoch um den Preis einer zerstörten Verbindung von Repräsentation und Emotion: 42 Die Trauer 43 und Verzweiflung des Markgrafen werden verborgen hinter der erfolgreichen Befreiung von Gefangenen, die das ‘normale’ Funktionieren des Kriegs- und Landesherrn vorgaukeln. Das Erlebte hinter sich zu lassen, gelingt Willehalm so freilich nicht, auch wenn er bei Gyburg über Vivianz’ Verlust klagen kann (93,25-94,4). 44 Die Zuwendung der Markgräfin in der sich anschließenden Liebesszene deutet einen Weg aus der seelischen Verwundung an: Es entsteht eine heilsame Emotionsgemeinschaft, wie sie sich immer wieder in mittelalterlicher Dichtung findet, wenn erfolgreiche Trauerarbeit vorgeführt wird. 45 Liebe und Sexualität erscheinen neben Gottes Beistand als Mächte, die einen Menschen sogar in einer Extremsituation wie Krieg zum heilen, vollständigen Menschen machen können. thek des Mittelalters 9). Vgl. zur Stelle zuletzt Hubertus Fischer, „Tod unter Heiden“, in: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters , hg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner und Viola Wittmann, Berlin 2011 (bayreuther forum transit 10), S. 135-147, hier S. 140-142; Martin H. Jones, „Vivianz, der reuige Schächer und das gute Sterben im Willehalm Wolframs von Eschenbach“, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag , hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin/ Boston 2011, S. 118-131. 40 Vgl. zum Folgenden auch Kerth (wie Anm. 8); Ackermann und Ridder (wie Anm. 8). 41 Eine früher im Kampf erworbene körperliche Deformation dient als Erkennungszeichen, weil der Held nicht mehr anders zu erkennen ist (91,27-92,5). Für den Hinweis danke ich Björn Reich. 42 Vgl. Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma , Baltimore/ London 2001, S. 42: Arbeit am Trauma bedeute, die zerstörte Verbindung zwischen Repräsentation und Gefühl wiederherzustellen. 43 Vgl. Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters , Berlin/ New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8). 44 Zur Möglichkeit, traumatische Erinnerungen zu integrieren durch (An-)Sprache und eine heilende zwischenmenschliche Beziehung, vgl. Kopf (wie Anm. 15), S. 10 und 43. 45 Vgl. Jutta Eming, „Trauern helfen. Subjektivität und historische Emotionalität in der Episode um Gahmurets Zelt“, in : Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters , hg. von Martin Baisch u. a., Königstein/ Ts. 2005, S. 107-121. Tomas Tomasek, „Überlegungen zum truren im Tristan Gottfrieds von Straßburg“, in: LiLi 114 (1999), S. 9-20, hier S. 13, deutet die mit dem trûren verbundenen Gebärden wie gemeinsames Weinen bzw. das weinend alleine Fortgehen im Rahmen des gesellschaftlichen Codes als Zeichen der Solidarität bzw. der Isolation. Ersteres sehe ich als Gegensatz zu Trauma, letzteres als verwandte Konzeption. 214 Sonja Kerth Die zweite Liebesszene zwischen Willehalm und Gyburg, nachdem der Markgraf vom Königshof zurückgekehrt ist, hebt noch expliziter den trostspendenden und kompensatorischen Charakter der Erotik hervor: Beiden Ehepartnern wird nach Aussage des Erzählers in der Umarmung all das vergolten, was der Kampf auf Alischanz ihnen an ihren Verwandten geraubt hatte (279,6-12). Die aus der Vereinigung resultierende Freude kann sich allerdings nicht ganz durchsetzen gegen das Leid: Alle Schätze des Orients und die Gaben des Grals könnten den Verlust nicht ausgleichen, den Willehalm auf Alischanz erlitten hat. Kann es Gyburgs Liebe? Der Erzähler sagt erst ja, relativiert aber gleich wieder: Ihre Minne gibt Willehalm solche Hilfe, dass die Trauer des Markgrafen sich mit Freude vermischt (280,9). In der Kemenate kann Liebe Erleichterung und Entschädigung für Verluste schaffen und seelische Wunden heilen. Die Welt draußen ist dagegen geprägt von Krieg, Gewalt und vom Tod. So klagt Willehalm kurz darauf auf dem Schlachtfeld, dass Gyburgs Minne ihn nicht vollständig entschädigen könne für die erneuten Verluste an Mitkämpfern: manegen sperkraches dôn 456,15 hân ich gehôrt umb ein wîp, diu nû leider mînen lîp mac dirre vlust ergetzen niht. ( Willehalm , 456,14-17) Während und nach der zweiten Schlacht von Alischanz tritt die Wunde wieder zutage, als der Markgraf mit dem Verlust des jungen Kriegers Rennewart konfrontiert wird, der Vivianz’ Stelle als Schützling und herausragender Kämpfer eingenommen hat und plötzlich verschwunden ist. Dieser Verlust reißt gleichsam einen Teil von Willehalms Körper fort: Mit Rennewart sei ihm die rechte Hand abhanden gekommen, das Ruder, der Segelwind (453,18f.; 452,20). Willehalm ist sich dabei durchaus bewusst, dass die alte Wunde wieder aufgebrochen ist, wenn er den Verlust Rennewarts explizit in Bezug setzt zur ersten Schlacht auf Alischanz und zum Verlust der Neffen Vivianz und Mile: Mîle unde Vîvîanz, / duo ich iuch und al mîn her verlôs, / sô grôze vlust ich dâ niht kôs (454,12-14). In seiner Not wendet sich der Markgraf an Gott, der allein Trost und Hilfe schenken könne, weil die Ehefrau es nicht vermochte. 46 Die Verluste, die der Krieg hervorruft, erweisen sich damit als stärker als die heilende Wirkung ehelicher Minne: diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz (456,4f.). 47 Liebe und Fürsorge zeigen in der Schlussszene des Willehalm dann aber erneut ihr Potenzial: Am Tag nach Rennewarts Verschwinden ermahnt Bernart von Brubant Willehalm zur Mäßigung seiner Trauer und Klagen. Der Verlust Rennewarts stellt für Bernart vor allem ein militärisches Problem dar, das sich aber lösen ließe, wenn Rennewart gefangen wurde und die Christen geeignete Tauschobjekte in ihre Hand bringen können. Voraussetzung dafür ist aber, dass Willehalm sich auf die Kriegsbahn zurücklenken lässt und seine lähmende Trauer hinter sich lässt. Für Willehalm bedeutet dies erneut, äußere Repräsentation und emotionale Ver- 46 Dieser Aspekt wird allerdings nicht weiter vertieft; vgl. zu theologischen Vorstellungen, seelische Verwundung zu heilen, Mary K. K. Yearl, „Medicine for the Wounded Soul“, in: Wounds in the Middle Ages , hg. von Anne Kirkham und Cordelia Warr, Farnham, Surrey/ Burlington, Vermont 2014, S. 104-128. 47 Auch Ackermann und Ridder (wie Anm. 6), S. 97 und 99f., sehen in der Szene das Wiederaufbrechen einer Wunde und ein traumatisches Erleben. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass viele Vivianz-Reminiszenzen nicht Teil von Willehalms Traumaerzählung sind, sondern im Kontext von Kampfmotivation und Rachewunsch stehen. Zur Totenklage um Rennewart vgl. auch W. Günther Rohr, „Willehalms maßlose Trauer“, in: LiLi 114 (1999), S. 42-65. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 215 fasstheit zu spalten. Emotional zählt für ihn vor allem, dass er seine liebsten Kämpfer Vivianz und Rennewart und mit ihnen sein Glück verloren habe: 459,30 ôwê tac und ander tac! 460,1 Ein tac, dô mir Vîvîans wart erslagen ûf Alischans […] 11 gestern was mîn ander tac. von den beiden ich wol sprechen mac, daz mîn vreude ist verzinset dran, swaz der mîn herze ie gewan. ( Willehalm , 459,30-460,14) Gleichzeitig soll er aber die Rolle des entschlossenen, zuversichtlichen Anführers einnehmen, der den Sieg sichert und zukünftige Angriffe abwehrt. Als er dem wertvollsten Faustpfand für eine Auslösung Rennewarts, König Matribleiz von Skandinavien, gegenübersteht, deutet sich doch noch ein Weg aus der seelischen Verletzung an, der Willehalms Liebe und sein Bedürfnis nach Totenfürsorge aufgreift: Der Markgraf bietet dem König an, alle toten Verwandten Gyburgs aufbahren und in die Heimat zu ehrenvoller Bestattung schicken zu lassen. Diese noble Geste, in der man auch einen Widerhall von Gyburgs Reden vor dem Fürstenrat sehen kann, verweist auf die Szene nach Vivianz’ Sterben zurück: Zumindest Gyburgs königlichen Verwandten vermag Willehalm die Bestattung zukommen zu lassen, die er Vivianz nicht gewähren konnte. 48 Willehalms Traumaerzählung besitzt nicht dieselbe Prägnanz und Geschlossenheit wie die der Orgeluse (soweit das angesichts des Fragmentstatus des Willehalm abzuschätzen ist). Dafür sind neben Gattungstraditionen 49 auch Genderusancen mit verantwortlich: Körperliche und seelische Schwäche, Furcht, Ohnmacht sowie lähmende Trauer und Kontrollverlust werden in epischen Texten generell seltener mit Männern in der Blüte ihrer Jahre in Verbindung gebracht als mit Frauen und alten, beeinträchtigten Menschen. 50 Trotzdem scheint es mir berechtigt, die Figur Willehalm mit der Vorstellung von Trauma in Verbindung zu bringen, die Wolfram gegenüber seiner Vorlage, der Aliscans , 51 profiliert: Die französische Chanson de 48 Ähnlich Fischer (wie Anm. 39), S. 143. Fischer stellt zur Diskussion, dass das Sargwunder, durch das die gefallenen Christen in prächtige Sarkophage gelegt wurden, die fehlende Totensorge Willehalms gegenüber Vivianz ausgleichen solle. Dies bestätige noch einmal, „wie unerträglich die Wunde gewesen sein muss, die dieser unversorgte Leichnam hinterließ“ (S. 144-146, Zitat S. 146). Durch die Schaffung von memoria , die die Gegensätze zwischen den Kampfparteien überwinden könne, scheine es möglich, eine neue transkonfessionelle Gemeinschaft zu begründen. „Ob diese freilich zustande kommt, bleibt dem Publikum als Denk-Möglichkeit überlassen“ (S. 139). Einen anderen Akzent setzt Jones (wie Anm. 39), S. 126f., der darauf aufmerksam macht, dass Willehalm Vivianz bestens für seinen Weg ins Paradies versorgt, indem er ihm die letzte Kommunion geradezu aufdrängt. Hier sind aber zwei unterschiedliche Aspekte angesprochen: Seelsorge bzw. Bestattung der Toten, die neben dem Schutz vor Tierfraß der ehrenvollen memoria dient. 49 In der Heldenepik findet der trauernde Krieger in der Regel Trost in Rache und Halt in der Gemeinschaft der Kämpfer, zu der hier noch die liebende und geliebte Ehefrau tritt. Vgl. Sonja Kerth, „Versehrte Körper - vernarbte Seelen. Konstruktionen kriegerischer Männlichkeit in der späten Heldendichtung“, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (2002), S. 262-274. 50 Vgl. Gerok-Reiter (wie Anm. 7); Kerth (wie Anm. 4), bes. S. 287-292 (zu Gurnemanz und Anfortas). 51 Da die Aliscans in verschiedenen Versionen vorliegt und Wolframs genaue Vorlage nicht bekannt ist, stehen die folgenden Überlegungen unter einem gewissen Vorbehalt. Die zitierte Fassung M gilt als die- 216 Sonja Kerth geste verbindet die Figur des Grafen viel weniger mit einer bleibenden, immer wieder aufbrechenden seelischen Wunde, obwohl auch hier Guillelme seinen Neffen nach dessen Tod nicht ehrenvoll bestatten kann und nachhaltig um ihn trauert. Zuschreibungen emotionaler Versehrung finden sich vor allem angesichts des sterbenden Neffen: Guillelme kündigt seine lebenslange Trauer an (V. 790f.), sein Herz versagt (V. 998; vgl. auch V. 837f.), wenig später taumelt er wegen des Schmerzes (V. 848-851). Auch auf dem Weg nach Orange ist der Graf voll Trauer, aber er macht sich hier vor allem Sorgen, dass Guiborc verrückt vor Leid werden könnte (V. 1768-1771, vgl. V. 842-845). Wie im Willehalm klagt der Graf zudem unmittelbar nach Viviens Sterben, er müsste es sich als Feigheit anrechnen lassen, wenn er den Toten zurückließe, statt ihn in Orange ehrenvoll zu begraben (V. 1002-1012; anders dann V. 1037-1040). Häufiger wird sein Leid aber gattungstypisch mit dem Rachewunsch verbunden (z. B. V. 2648, 2884, 4958 52 ). Das Zurücklassen des Leichnams thematisiert er später nur noch zweimal, beide Male im Kontext der Rache: So wirbt Guillelme mit Hinweis auf den zurückgelassenen Vivien um Aymeris Unterstützung (V. 2884). Vor dem Aufbruch zur zweiten Schlacht auf Aliscans erklärt der Graf Guiborc lachend, er wolle die Feinde für Viviens Tod und das daraus resultierende Leid teuer bezahlen lassen: Cer lor cuid vendre la mor de Vivïant / Q’eu lasay mort de suz l’erbe en l’Archant. / Qant lo garpi, mult ai lo cor dolant (V. 4207-4209: ‘Ich denke, ihnen den Tod Viviens teuer zu verkaufen, den ich tot auf der Wiese auf dem Archant zurückgelassen habe. Seit ich ihn verlassen habe, tut mir mein Herz gar weh’). 53 Der Verfasser gibt Guillelme am Ende die Gelegenheit, den Neffen doch noch zu begraben (ob Wolfram dies im Sinn hatte, bleibt offen). So haben nicht Leid und Ohnmacht das letzte Wort, sondern beide können auf Handlungsebene abgeschlossen werden: Nach der zweiten Schlacht auf Aliscans findet Guillelme an einem Tümpel Viviens Leichnam, lässt ihn im Beisein vieler Ritter zwischen zwei Schilden einschließen und belement (V. 6881: ‘schön’) begraben. Er weint beim Weggehen, viele seiner Krieger werden ohnmächtig. Dann marschiert das Heer, gleichsam revitalisiert, A grant esploit (V. 6886: ‘mit großem Eifer’) zum Lager. Durch die Episode mit dem armen Mann, der seine Kriegsschäden im Bohnenfeld beklagt, wird die jenige der edierten Handschriften, die dem Willehalm an nächsten steht: La versione franco-italiana della Bataille d’Aliscans: Codex Marcianus fr. VIII [= 252] , hg. von Günther Holthus, Tübingen 1985 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 205); Aliscans. Das altfranzösische Heldenepos nach der venezianischen Fassung M , eingeleitet und übersetzt von Fritz P. Knapp, Berlin/ Boston 2013, zum Verhältnis des Willehalm zu Aliscans -Handschriften vgl. bes. S. 21. Vgl. auch Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien , Heidelberg 2008, S. 142-145; Gillian M. Humphreys, Wolfram von Eschenbach’s ‘Willehalm’. Kinship and Terramer. A Comparison with the M Version of ‘Aliscans’ , Göppingen 1999 (GAG 657), bes. die synoptische Gegenüberstellung der Handlung, S. 13-67. 52 Knapp (wie Anm. 51) bessert gegen die Handschrift, die hier einen sicheren Fehler aufweist, vgl. die Anmerkung zur Stelle. 53 Analog benutzt Deramé die emotionale Bindung und Guillelmes Trauer oder Schmach, den Neffen unbestattet zurückgelassen zu haben, zu einer Aufreizung: Perduz avez Vivïen lo vaylant, / De soç cel arbre gist mort sur un estant. / Culvert traÿte, ja l’amïez vos tant! / Vien si lo vayne a ton acerin brant. / […] Froiz soit lo cor qi vet acoardant! (V. 5875-5880: ‘Verloren habt Ihr Vivien, den kampfstarken. Unter jenem Baum am Tümpel liegt er tot. Verräterischer Schurke, Ihr liebtet ihn ja doch so sehr! Komm und räche ihn mit deinem stählernen Schwert! […] Kalt sei das Herz, das treulos wird! ’). diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 217 Szene grotesk-schwankhaft durch Renoarts Heldentaten abgeschlossen, ohne dass nochmals auf die Trauer des Grafen oder deren Linderung 54 eingegangen würde. III Karl der Große Mein drittes Beispiel ist der Frankenkaiser Karl der Große. Die Schlacht von Roncesvalles repräsentiert ein kulturelles Trauma, das auch in Geschichtsschreibung und bildender Kunst Spuren hinterlassen hat und über Jahrhunderte hinweg immer wieder aufgegriffen wurde. 55 Bereits in Einhards biographischem Bericht Vita Caroli Magni wird die Niederlage von Roncesvalles als Ereignis inszeniert, das zu einem schweren, andauernden Bekümmernis Karls führte. Als Grund für die Trauer des Kaisers wird die Unmöglichkeit genannt, das Geschehen zu rächen - dies belaste noch heute (also in der frühen Herrscherzeit Ludwigs des Frommen) das Selbstverständnis der Franken. Die literarische Arbeit an der Rolandsage gibt Karl dem Großen dann bekanntlich Gelegenheit zur Rache, die z. B. das Rolandslied des Pfaffen Konrad im Rahmen der Paligan-Schlacht schildert. Doch die negativen Emotionen trûren , jâmer , leit bleiben. Sie sind nun aber vor allem durch Karls Trauer um Roland und die Pairs motiviert. Der Rachevollzug und Brechmundas Ermahnungen, Roland sei als Märtyrer bei Gott, lassen Karl dann Trost finden und zu alter Stärke und Tatkraft zurückkehren. 56 Ihren Höhepunkt findet die Transformation des Trauergrundes in der wohl im 14. Jahrhundert in Aachen entstandenen Karlmeinet-Kompilation . Hier behält die lähmende Trauer um die Gefallenen das letzte Wort bis zum Tod des Frankenkaisers. 57 Der Erzähler berichtet, dass Karl nach dem Spanienfeldzug ins Reich zurückgekehrt sei: 58 54 Auch die Begegnungen zwischen Guillelme und Guiborc stellen keine intimen, heilenden Trost- und Liebesszenen dar wie im Willehalm , auch wenn beide mit- und umeinander trauern und ihre Liebe beschwören. 55 Vgl. z. B. Andreas Hammer, „Erinnerung und memoria in der Chanson de Roland und im Karl “, in: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext , hg. von Susanne Friede und Dorothea Kullmann, Heidelberg 2012 (GRM-Beihefte 44), S. 237-260; Mathias Herweg, „Ronceval und Montauban: Muster von Niederlagen und ihre Erinnerungsfunktion in deutschsprachigen Romanen des 15./ 16. Jahrhunderts“, in: Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen , hg. von Horst Carl u. a., Berlin 2004, S. 27-39; Edith Feistner und Michael Neecke, „Vom ‘Überlesen’ der Niederlage: Das Rolandslied und seine Rezeption im Deutschen Orden“, in: Kriegsniederlagen , S. 15-26. 56 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch , hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993 (RUB 2745), V. 8436-8594 und 8641-8661. Vgl. Urban Küsters, „Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer“, in: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters , hg. von Gert Kaiser, München 1991, S. 9-75, hier S. 25-30; Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum , Tübingen/ Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 54), S. 272-280. Vgl. aber auch das Schlussbild der Chanson de Roland mit dem Bart raufenden, weinenden Kaiser, der die Mühsal seines Lebens beklagt und nicht zu neuer Stärke findet ( Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig , Übersetzung und Kommentar von Wolf Steinsieck, Nachwort von Egbert Kaiser, Stuttgart 1999 [RUB 2746], V. 4000f.). 57 Vgl. zuletzt Anne-Katrin Federow, „Male Bonding in der Rolandslied-Bearbeitung des Karlmeinet . Heldenepische Konstruktionen von Männerfreundschaft im Kontext von Konflikt und Klage“, in: ZfdPh 134 (2015), S. 3-27, hier S. 25f. 58 Karl Meinet , hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (BLVS 45), A534,45-535,2. Für ihre Hilfe bei der Übersetzung danke ich Jana Jürgs. 218 Sonja Kerth A534,45 Do dyt zo ende was gescheyt, Karlle enbleyff do langer neit Ind reyt zo Aichen in de stat Myt syme volck vngelat Ind bleyff dar vil na 50 Achter eyn zwey iaer Ind suchelde vil sere. Dat quam van dem beswere, Dat soult ir verstaen, Synt dat hey hadde infaen 55 In Hyspanien also groessen schaden, So entwart hey nye entladen Trurens noch iamerheyt. Hey enhedde alle zyt we ind leyt, Als hey dar an gedachte 60 Off as man eme do vane sachte. Ouch vynden wyr beschreuen, Dat hey seder alle syn leuen Nye en wart van synne vro, Want hey hadde verloren also 65 Van guden luden, as en duchte, Dat hey sich erkoueren neit enmochte. Alsus was in groessem beswere Karlle der edel keysere A535,1 So lang bis got van hemelrich In[-] van hynne woulde hauen […]. ( Karlmeinet , V. A534,45 - A535,2) (‘Als dies geschehen war, blieb Karl dort nicht länger und ritt mit seinem bedrohlichen Kriegsvolk in die Stadt Aachen und blieb dort über ein, zwei Jahre und war schwer krank. Das kam von der Trübsal, das sollt ihr verstehen, seitdem er in Spanien so großen Schaden empfangen hatte. Da wurde er nie befreit von Trauer und Jammer. Deswegen spürte er immer Weh und Leid, wenn er daran dachte oder wenn man ihm davon etwas sagte. Auch finden wir geschrieben, dass er seitdem sein ganzes Leben lang niemals in seinem Gemüt froh wurde, denn er hatte an so hervorragenden Leuten einen solchen Verlust erlitten, wie er meinte, dass er sich nicht davon erholen konnte. So war Karl, der edle Kaiser, in großer Beschwernis, bis Gott im Himmel ihn von dort weg haben wollte […].’) Als Grund für die Krankheit wird die schmerzliche, immer wieder zurückkehrende Erinnerung an die Niederlage bei Roncesvalles und den Tod der Pairs genannt. Damit wird ein Innenraum gezeigt, der Karl als von schweren emotionalen Belastungen ( truren , iamerheyt , we , leyt , beswere ) gekennzeichnet darstellt. Die Erzählung über Karls Lebensende, für die keine Vorlage bekannt ist, weist damit ebenfalls Anklänge an Trauma auf in der Darstellung als innere Lähmung und im Wiederaufbrechen der seelischen Wunde, die der Verlust der Pairs verursachte. Im Vergleich zu Wolframs Orgeluse und Willehalm ist die Innenschau aber noch stärker begrenzt, und die Traumaerzählung durch den Erzähler beschränkt sich weitgehend auf das Konstatieren der Emotionen und die kausale Verbindung zum Tod der Kämpfer. diu lücke ist ungeheilet, / die mir jâmer durh’ez herze schôz 219 Es ist zudem auch eine andere Lesart der Schlussbranche der Karlmeinet-Kompilation möglich, wie Bernd Bastert zeigt: Es finde sich im Text eine ansteigende Linie der sanctitas , die in Karls Apotheose münde. Wegen seiner großen Leiden für die Christenheit und seiner zahlreichen Stiftungen sei der Kaiser in den Orden der Heiligen aufgenommen worden. Damit stelle sich der Text, so Bastert, zu anderen Chanson de geste -Bearbeitungen in den Nideren Landen im 14. Jahrhundert, in denen Karls sanctitas im verbreiteten Bild als Sachsenapostel gründet, das in Aachen sein „Epizentrum“ habe. 59 Wenn zu den guten Taten und den heiligmäßigen Leiden um die Christenheit nicht nur die Stiftungen und der aktive Kampf gehören, sondern auch die andauernde Trauer um die Pairs, dann würde es sich bei der Schilderung von Karls Krankheit nicht um eine Traumaerzählung handeln, sondern um ein hagiographisches Erzählmuster. Gegen eine ausschließlich hagiographische Deutung der letzten Branche der Karlmeinet-Kompilation lassen sich aber Argumente anführen: Es wird Karls weltliches Herrscherleben präsent gehalten, wenn ausführlich über die Nachfolgeregelung und das ‘politische Testament’ berichtet wird (A535,4-33). 60 Mehrfach wird in der Schlusspartie an das frühere Heroentum des Kaisers erinnert: Er sei von seiner Größe her fast ein Riese gewesen, habe einen kühnen Blick besessen und bei Zornausbrüchen furchteinflößend gewirkt (A539,17-44). Der Kaiser habe einen heroischen Appetit gehabt (A539,53-60) und einen Gegner mit einem Schwabenstreich entzweigeschlagen wie ein Ei (A540,14-17). In Chansons de geste und sog. ‘Spielmannsepen’ gehen Heldentum und Heiligkeit nicht selten eine enge Verbindung ein. 61 Das Ende der Karlmeinet-Kompilation unterscheidet sich allerdings von anderen Texten dadurch, dass Karl in seinen letzten Jahren ausschließlich Trauer und (Gemüts-)Krankheit zugeschrieben werden (A534,51f.). Die letzten Zeilen des Kompilators gelten dann aber doch der Bekräftigung der Heiligkeit des Kaisers: Dar vmb deynde hey got vlisslich / Ind is by eme ewelich / Ind vmmerme aen ende (A540,46-48: ‘Darum diente er Gott mit Eifer und ist ewig bei ihm für alle Zeit ohne Ende’). Somit erweist sich die Erzählung von Karls Krankheit als ambivalent und offen für verschiedene Deutungen: als Darstellung eines heiligen leidenden 59 Bastert (wie Anm. 56), S. 338-340, das Zitat S. 340. 60 Vgl. auch Edith Feistner, „Karl und Karls Tod: Das Rolandslied im Kontext des sog. Karlmeinet “, in: Wolfram-Studien 9 (1989), S. 166-184, hier S. 172; Bernd Bastert, „Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter. Die Karlmeinet-Kompilation zwischen Oberdeutschland und den Nideren Landen “, in: Schnittpunkte. Deutsch- Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter , hg. von Angelika Lehmann-Benz, Ulrike Zellmann und Urban Küsters, Münster u. a. 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 125-143, hier S. 128f., zum ‘politischen Testament’ zuletzt Bastert (wie Anm. 56), S. 100-102. 61 Vgl. z. B. Wolfgang Haubrichs, „‘Labor sanctorum’ und ‘labor heroum’. Zur konsolatorischen Funktion von Legende und Heldenlied“, in: Funktionen außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tagung Greifswald 18.-20.9.1992 , hg. von Christa Baufeld, Göppingen 1994 (GAG 603), S. 27-49; Michael Heintze, König, Held und Sippe. Untersuchungen zur Chanson de geste des 13. und 14. Jahrhunderts und ihrer Zyklenbildung , Heidelberg 1991 (Studia Romanica 76), bes. S. 69-73; Corinna Biesterfeldt, „Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt“, in: Wolfram-Studien 18 (2002), S. 211-231, bes S. 228f.; dies., Moniage - Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu „Kaiserchronik“, „König Rother“, „Orendel“, „Balaam und Josaphat“, „Prosa-Lancelot“ , Stuttgart 2004, S. 149f. Anders ist dies bei Legenden in mittelalterlichen Legendarien, wo die Heiligen als demütige Werkzeuge Gottes dargestellt werden und ihr weltliches Leben viel stärker ausgeblendet ist; vgl. dazu Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation , Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 23, 138. 220 Sonja Kerth Königs in der Nachfolge Davids, 62 aber auch als Traumaerzählung, die die lähmende Trauer um die Verstorbenen als bleibende seelische Wunde und Krankheit deutet. IV Fazit Die untersuchten Texte geben in je unterschiedlicher Weise den Blick auf seelische Verwundungen frei, die temporär oder dauerhaft als unüberwindbar und lähmend dargestellt sind und immer wieder aufbrechen. Die Worte und Verhaltensweisen der betroffenen Figuren erscheinen als außergewöhnlich und erklärungsbedürftig. Diese Erklärungen werden durch die Figuren selbst oder durch den Erzähler gegeben und bringen explizit Emotionen wie Trauer, Verzweiflung, Hass, Wut und Ohnmacht in Verbindung mit vergangenen Erlebnissen extremer Gewalterfahrung und dem Verlust geliebter Menschen. Die Stolze von Norgres und Orgeluse werden als Opfer eines mörderischen Frauendienstes dargestellt, der sie seelisch verletzt bis hin zum ‘Wahnsinn’. Willehalm wird mehrfach mit dem Verlust geliebter junger Krieger konfrontiert und dadurch immer wieder aufs Neue im Inneren verwundet. Karl erscheint als krank vor Trauer und Leid durch die lähmende Erinnerung an die lange zuvor verlorenen Pairs. Die hier als Traumaerzählungen bezeichneten Narrative zeigen aber auch Wege auf, diese Verletzungen zu heilen oder zumindest zu lindern: vor allem durch Gespräche, Zuwendung und Liebe durch Minne- und Ehepartner sowie durch Gott, durch Integration in die höfische Gemeinschaft und Handlungsspielräume. Mittelalterliche Erzählungen über bleibende und wiederkehrende Verletzungen im Inneren von Figuren können keine direkte Antwort liefern auf die Frage, ob Trauma in der Vormoderne existierte. Sie geben aber Hinweise darauf, dass im Medium Literatur die Folgen von Krieg und Gewalt als seelische Verletzungen vor- und darstellbar waren. 63 Dies nähert sie an an das, was heute als ‘Trauma’ bezeichnet wird. Eine Rückkoppelung an den Autor oder die Primärrezipienten, die zumindest teilweise selbst Kriegeradlige und deren familia gewesen sein dürften, ist nicht nachzuweisen. Sie ist aber auch nicht auszuschließen, denn die Erkenntnis, dass die Versprachlichung von Emotionen diese sozial macht, das Bewusstsein über ihre Existenz, Form und Bedeutung steigert und eventuell die Rezipienten affiziert, 64 gilt auch für mittelalterliche Traumaerzählungen. Sie lassen sich daher in Zusammenhang bringen mit kulturellem Trauma, das dominante Bewertungen von Gewalttätigkeit, Wut, Trauer, Furcht, Ohnmacht und Verzweiflung zumindest ein Stück weit relativiert. 62 Feistner (wie Anm. 60), S. 176. 63 Vgl. allgemein Armin Schulz, „Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionalitätsdebatte“, in: PBB 128 (2006), S. 472-495, hier S. 475f.; Schnell (wie Anm. 14), S. 694. 64 Gabriele Müller-Oberhäuser, „Gender, Emotionen und Modelle der Verhaltensregulierung in den mittelenglischen Courtesy Books“, in: Machtvolle Gefühle (wie Anm. 6), S. 27-51, hier S. 30; Andrea Sieber, „Die angest des Herkules. Zum Wandel emotionaler Verhaltensmuster in Trojaromanen“, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities. Selected Papers from the International Conference, September 6-8, 2002, University of Illinois Urbana/ Champaign , hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin/ New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 222-234, hier S. 230-232; vgl. aus narratologischer Sicht auch Friedrich Michael Dimpel und Hans Rudolf Velten, „Sympathie zwischen narratologischer Analyse und Rhetorik - Einleitung“, in: Techniken von Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme , hg. von dens., Heidelberg 2016 (Studien zur Historischen Poetik 23), S. 9-29, hier S. 9, 16f. Versehrtheit 221 Versehrtheit Formen und Funktionen eines Motivs in der frühen Lyrik Annette Gerok-Reiter [L]iep âne leit mac niht sîn ( MF 39,24): 1 Dietmars Leitsatz mittelalterlich-höfischer Minnevorstellungen verbindet Minne grundsätzlich mit mhd. leit . Mhd. leit kann, wie Wolfgang Mohr gezeigt hat, seinen älteren Verwendungsformen nach auf eine Beeinträchtigung von außen verweisen in der Form von ‘Beleidigung’, ‘Unehre’, ‘Schande’. 2 Hieran ist jedoch im Kontext des zitierten Dietmar-Satzes wohl nicht zu denken. Eher ließe sich ein physisch verursachter Schmerz, der ebenfalls ins semantische Spektrum von leit gehört, erwägen. 3 Insofern mhd. leit jedoch bereits seit Otfrid auch eine psychische Verletzung, einen „tiefen seelischen Schmerz“ indiziert, 4 wäre Minne nach Dietmars Leitsatz auch und vielleicht vor allem mit einer inneren, gleichsam introvertierten Versehrung verbunden. Changierend in Auffassung wie Ausdruck zwischen konkreter Wunde bzw. Verwundung und seelischem Schmerz wird Liebesschmerz mhd. denn auch wiederholt eingeholt in der Vokabel herzesêr(e) . 5 Minne als 1 Zitiert nach: Des Minnesangs Frühling , unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte , 37., revidierte Auflage (mit 1 Faksimile), Stuttgart 1982. Die folgenden Zitate sind, sofern nicht anders angegeben, ebenfalls dieser Ausgabe entnommen. 2 Vgl. zur Semantik von leit in dieser Hinsicht den Überblick bei Friedrich Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den grossen Epen der staufischen Zeit , Bern/ München 3 1964 (Bibliotheca Germanica 1), S. 10-12; siehe auch die pointierte Zusammenfassung zu den Bedeutungsschichten des Begriffs von Wolfgang Haubrichs, in diesem Band. 3 Bereits in ahd. Zeit sind, so Haubrichs (wie Anm. 2), S. 32, „Zusammenstellungen mit sêr und smerza […] häufig“. 4 Maurer (wie Anm. 2), S. 75. 5 Vgl. zum Begriff sêr Haubrichs (wie Anm. 2), S. 23-31. Resümierend für die Entwicklung vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen hält Haubrichs fest, S. 34: „Die Strategien der semantischen Fortentwicklung sind Entkonkretisierung wie im Falle von harm , sêr und leid , auch Metaphorisierung wie bei kumber und allgemein Emotionalisierung, die erst die Entstehung einer intellektuell differenzierten Terminologie, aber auch das Spiel mit den sich überlappenden Grenzen der Bedeutung ermöglicht“. Die Untrennbarkeit der erst nachcartesianisch getrennten Bedeutungsfelder von psychischem Leid und physischem Schmerz betont in antiker Perspektive Martin von Koppenfels, „Schmerz. Lessing, Duras und die Grenzen der Empathie“, in: Grenzwerte des Ästhetischen , hg. von Robert Stockhammer, Frankfurt a. M. 2002 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1602), S. 118-145, hier S. 122. Doch auch die Moderne trennt nicht (mehr) strikt physischen und psychischen Schmerz; vgl. etwa: Horst-Jürgen Gerigk, „Schmerz als literarisches Thema. Entwurf einer Typologie der Möglichkeiten, Schmerz literarisch darzustellen“, in: Schmerz in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Il dolore nella scienzia, arte e letteratura , hg. von Elena Agazzi und Klaus Bergdolt, Hürtgenwald 2000 (Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur 6), S. 138-146; bezogen auf literarische Beispiel der Neuzeit und Moderne resümiert Gerigk: „Schmerz als literarisches Thema kann als körperliche oder seelische Wunde veranschaulicht werden oder als körperliche und see- 222 Annette Gerok-Reiter physische und/ oder psychische ‘Versehrtheit’, die nach Heilung verlangt: Das ist die grundlegende Minnecodierung, die sich vom arturischen Roman bis zum frühneuhochdeutschen Prosaroman, von den Anfängen des Minnesangs bis zu Oswald zieht. Diese Codierung ist bekanntlich im 12. Jahrhundert keineswegs neu, sondern bereits in antiken und mittellateinischen Kontexten reich belegt: ein kulturell und anthropologisch übergreifender, weithin erfolgreicher Beschreibungstopos. Wonach ist somit zu fragen? Minne als physische und psychische Verletzung: Das Interessante liegt in dem ‘und’. Gemäß der historischen Semantik von leit bzw. sêr 6 dürfen wir dieses ‘und’ in Bezug auf Zeugnisse des 12. und 13. Jahrhunderts guten Gewissens setzen. Denn zwischen einem homo interior und homo exterior lässt sich im 12. und 13. Jahrhundert noch nicht streng trennen, 7 weil sich ‘Innen’ und ‘Außen’ als „Leitdifferenzen“ 8 erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert als solche festschreiben. Dennoch möchte ich dem ‘und’ zwischen physischer und psychischer Verletzung seine Selbstverständlichkeit wieder ein wenig nehmen, möchte die Genese bzw. Umgewichtung des ‘und’ vielmehr als Index und Signum kultureller Veränderungen auffassen, die jeweils in ihrer Variabilität und ihren historischen Nuancen herauszuarbeiten sind. Denn vom jeweils vorliegenden Text, ja von einzelnen Textpassagen aus muss, so meine ich, immer wieder neu gefragt werden: Was erlaubt es in der Rezeption, das eine mit dem anderen grundsätzlich gleichzusetzen, d. h. physisch und psychisch erfahrenes leit gleichermaßen resultativ auf die Lexik und Semantik von ‘Verletzung’ und ‘Versehrtheit’ zu beziehen? Ist diese Äquivalenz im Sinn des Textes und Kotextes? Wo und wie differenziert dieser möglicherweise doch? Liegt der Schwerpunkt auf dem physischen oder liegt er auf dem psychischen Aspekt? Dies lenkt den Blick auf die jeweiligen sprachlichen Repräsentationen und ihren Referenzstatus. 9 D.h. spricht der jeweilige Text lediglich metaphorisch, 10 wenn er Minne mit ‘Verletzung’ korreliert? Oder gehen Literalsinn und metaphorisches lische Schmerzensäußerung . Aus diesen vier grundsätzlichen Möglichkeiten der Veranschaulichung von Schmerz ergeben sich vielfältige Kombinationsmöglichkeiten“ (S. 141; Hervorhebungen im Original). 6 Zur weitgehenden Identität schon bei Otfrid vgl. Maurer (wie Anm. 2), S. 75. 7 Vgl. zur Programmatik der Relation vor allem: Joachim Bumke, „Höfischer Körper - Höfische Kultur“, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche , hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M./ Leipzig 1999, S. 67-102. Gleichwohl ringen die weltlichen wie geistlichen Textzeugnisse um Differenzierungen. Siehe dazu dens., Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkennen im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach , Tübingen 2001 (Hermaea, N. F. 94), S. 15-27; Annette Gerok-Reiter, Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik , Tübingen/ Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51), insbesondere S. 37-42, sowie die Beiträge im Sammelband Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters . XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005 , hg. von Burkhard Hasebrink u. a., Tübingen 2008, hier insbesondere Nigel F. Palmer, „ Herzeliebe , weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‘Einwohnen im Herzen’ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta“, S. 197-224, Elke Brüggen, „Die Wort gewordene Frau. Zur Vertextung ‘weiblicher’ Selbstreflexion in Reinmars Lyrik“, S. 225-265, sowie Stefanie Schmitt, „Werbung und Selbsterforschung. Zur Beschreibung der inneren Befindlichkeit in provenzalischen und mittelhochdeutschen Minnekanzonen“, S. 247-265. 8 Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft , Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 225f. 9 Nur über die sprachlichen Repräsentationen ist es möglich, sich den historischen Phänomenen zu nähern; so auch dezidiert: Iris Hermann, Schmerzarten. Prolegomena zu einer Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse , Heidelberg 2006 (Reihe Siegen 151), S. 58-61; methodisch grundlegend ist die von ihr verfolgte Analysebewegung von der „Frage: Wie nimmt der Text den Schmerz wahr, zu der Überlegung: Wie gestaltet das Schmerzvolle die Ästhetik des Textes? “ (S. 11). 10 Zweifelsohne ist das Thema Liebe vielfach nur metaphorisch einzuholen: siehe Julia Kristeva, „Liebe. Das Feld der Metapher“, in: Grenzwerte des Ästhetischen (wie Anm. 5), S. 74-86. Versehrtheit 223 Sprechen in historischer Perspektive 11 ineinander über? Zu fragen ist somit zunächst nach den jeweiligen sprachlichen Ausdrucksformen, den bevorzugten Möglichkeiten der Codierung des Ge- und Betroffenseins durch die Minne. 12 Welches Spektrum an Lexemen und Topoi innerhalb einer Verletzungssemantik bietet die Tradition in Bezug auf das „Ereignis“ 13 weltlicher Minne? Um erste Anhaltspunkte über dieses Spektrum zu erhalten, sind zunächst im Überblick einschlägige Beispiele vor Augen zu führen, die nicht die mittelhochdeutsche Lyrik direkt betreffen, jedoch in ihrem Umfeld anzutreffen sind: Welche Vorstellungen der Korrelation von Verletzung und Liebe bieten die prägenden Liebeskonzeptionen an, die im 12. und 13. Jahrhundert aus der Antike, der mittellateinischen Tradition oder dem volkssprachigen Roman bekannt waren? Angesichts der Fülle an Material kann der Überblick hier nur kursorisch und subsumierend verfahren (I). Vor diesem Hintergrund ist dann funktional komparatistisch, also nicht in genetischer Perspektive zu fragen: Werden in der frühen mittelhochdeutschen Lyrik Minne und Verletzung vergleichbar relationiert (II)? Der Ansatz beim frühen Minnesang ergibt sich semiotisch wie forschungsgeschichtlich. Semiotisch: Etabliert sich in Bildern und Metaphern die Korrelation von Minneerfahrung und Verletzungserfahrung bereits in den ersten Zeugnissen lyrischen Sprechens, die uns in deutscher Sprache überliefert sind? Forschungsgeschichtlich: Während der Roman und die spätere Minnelyrik wiederholt und mit deutlichem Vorzug auf ihr Verletzungs- und Gewaltpotenzial hin untersucht wurde, 14 blieb diese Frage für den 11 Dass in historischer Perspektive gerade in diesen Zusammenhängen von anderen Voraussetzungen auszugehen ist, als die Moderneforschung vielfach unreflektiert setzt, betonen Jutta Eming und Claudia Jarzebowski, „Einführende Bemerkungen“, in: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit , hg. von dens., Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), S. 7-11; so seien in Mittelalter und Früher Neuzeit Worte nicht nur als psychisch ‘verletzend’ einzuschätzen, „sondern konnten eventuell auf gleicher Ebene wie physische Gewalt behandelt und wahrgenommen werden“ (S. 8). 12 Vgl. zu den „Spannungsverhältnisse[n]“, die den „Begriff ‘Ausdruck’ als ambivalentes Modell der Vermittlung von Unmittelbarkeit kennzeichnen“ und die nicht nur im Feld der Mystik Geltung beanspruchen dürfen: Susanne Köbele: „‘Ausdruck’ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ‘emphatischen Ästhetik’ der Mystik“, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters , hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin/ New York 2007, S. 61-90, hier S. 71. 13 Stefan Seeber und Markus Stock, „Schmerz in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur: Bemerkungen zu einem schwierigen Feld“, in: Schmerz in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. von Hans-Jochen Schiewer, Stefan Seeber und Markus Stock, Göttingen 2010 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 4), S. 9-20, nennen „Ereignisbezogenheit“ als einen der wesentlichen „Faktoren bei der Schmerzthematisierung in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten“ (S. 15). Sie richten sich damit gegen die These von Scarry, „Schmerz habe kein […] Objekt in der äußeren Welt“ (S. 15f.), Schmerz sei durch „objectlessness“ im Sinn einer „complete absence of referential content“ gekennzeichnet: Elaine Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World , Oxford/ New York 1985, S. 162. 14 Vgl. Erika Kohler, Liebeskrieg. Zur Bildersprache der höfischen Dichtung des Mittelalters , Stuttgart 1935 (Tübinger germanistische Arbeiten 21), wobei hier die Lyrik vor Morungen und Reinmar relativ umfassend einbezogen wird (S. 38-51); Werner Hoffmann, „Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik“, in: Liebe als Krankheitt. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters , hg. von Theo Stemmler, Tübingen 1990, S. 221-253; Torsten Haferlach, Die Darstellung von Verletzung und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten , Heidelberg 1991: zum Minnesang: S. 124-129, wobei die frühe Minnelyrik - Dietmar - nur in einem Satz erwähnt wird, zur Spruchdichtung: S. 126-129; Will Hasty, „ Wâfenâ, wie hat mich minne gelâzen! On Gewalt and its Manifestations in the Medieval German Love Lyric“, in: Colloquia Germanica 26 (1993), S. 5-15; ders., Art of Arms. Studies of Aggression and Dominance in Medieval German Court Poetry , Heidelberg 2002 (zum Minnesang S. 21-30; zur frühen Minnelyrik S. 23); Beate Kellner, „Gewalt und Minne. 224 Annette Gerok-Reiter frühen Minnesang bisher in erstaunlicher Weise peripher. 15 Schließlich sollen die Ergebnisse, die aus der Analyse der frühen lyrischen Zeugnisse zu gewinnen sind, mit der Verletzungsthematik im Sang der Hohen Minne konfrontiert werden (III). Verfolgt werden dabei zwei Leitfragen: Lassen sich über Traditionen und Transformationen der Verletzungssemantiken Wandlungen in der jeweiligen Auffassung von Liebe und ihrer Konzeption erkennen? Und: Welche literarhistorische Position nimmt dabei insbesondere der frühe Minnesang ein? I Vergleichsperspektiven - kursorisch Prägnante Relationen von Minne und Versehrung in der Spannweite von physischer bis hin zu psychischer Verletzung werden im 12. und 13. Jahrhundert vor allem anhand von drei Liebeskonzepten codiert bzw. diskutiert: Minne als passio , als Naturtrieb oder als wân . Das wohl einflussreichste Konzept ist das sich aus der Antike herleitende passio -Konzept. Es versteht Liebe als überwältigendes, in erster Linie sinnlich affizierendes Geschehen, das von außen unwiderstehlich ansetzt und eine tiefgreifende ‘Verwundung’ zufügt, die sich als haltloses Begehren ausbreitet. Fokussiert wird mit diesem Konzept nicht nur, aber meist Liebe im Moment der Liebesentstehung. Für die unterschiedlichen Aspekte des Konzepts stehen verschiedene Topoi zur Verfügung, die sich mit nachhaltiger Wirkung im europäischen Kontext durchgesetzt haben: Den Aspekt der unwiderstehlichen Überwältigung von außen repräsentieren insbesondere die Personifikationen von Cupido/ Amor und Venus sowie Frau Minne und deren Tätigkeiten, prägnant etwa zusammengeführt im Bild des pfeilversendenden Cupido/ Amor, aber auch in der Metapher vom ‘Siegeszug’ der Venus oder der Frau Minne. 16 In diesen Bereich gehört eine ausgefeilte Kampf- oder auch Jagdmetaphorik, gehören Kategorien wie Sieg und Niederlage, Gewinner und Opfer (eine Semantik, die sich vielfach bis heute erhalten hat: man ‘erliegt’ der Liebe, man ist dem Liebesgefühl gegenüber ‘wehrlos’, die Liebe hat ‘gesiegt’ etc.). Den Aspekt tiefgreifender Verwundung und sexueller Attraktion vertreten darüber hinaus die Topoi der Minne als Krankheit, der nichts entgegenzusetzen ist. Ebenso prominent ist der Topos eines Brandes, der gelegt wird. Die Wirkungen von Pfeil, Kampf, Jagd, Krankheit oder Brand sind dieselben: Sie führen zur Versehrung, deutlich gefasst als konkrete Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen“, in: PBB 119 (1997), S. 33-66; Cornelia Herberichs, „Auf der Grenze des Höfischen. Gewalt und Minnesang“, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen , hg. von ders. und Manuel Braun, München 2005, S. 341-363. 15 In der Regel sparen einschlägige mediävistische Monographien oder Sammelbände zum Thema mit literaturwissenschaftlichem Fokus die mittelalterliche Lyrik weitestgehend aus: Blutige Worte (wie Anm. 11); Schmerz in der Literatur des Mittelalters (wie Anm. 13) Martina Feichtenschlager, Entblößung und Verhüllung. Inszenierungen weiblicher Fragilität und Verletzbarkeit in der mittelalterlichen Literatur , Göttingen 2016 (Aventiuren 11); immerhin ein Beitrag zur Lyrik findet sich in Gewalt im Mittelalter (wie Anm. 14). Die Aussparung gilt auch im Forschungsfeld von Wunde und Schmerz im Kontext der christlichen Passiokultur, etwa: Caroline Walker Bynum, Christian Materiality: An Essay on Religion in Late Medieval Europe , New York 2011. Forschungen zur Literatur der Moderne bieten schließlich allenfalls knappe Exkurse zu Antike oder Mittelalter, vgl. Hermann (wie Anm. 9) (Schwerpunkt 19./ 20. Jahrhundert); Roland Borgards, Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner , München 2007 (Schwerpunkt 18./ 19. Jahrhundert), Anne-Rose Meyer- Eisenhut, Homo dolorosus. Körper-Schmerz-Ästhetik , Paderborn 2011 (Schwerpunkt 18./ 19. Jahrhundert). 16 Zur Bildgebung siehe Rüdiger Schnell, Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur , Bern/ München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 24 (allgemein zu Darstellungstopoi von Minne) und S. 410-413 (zu Amor und Fortuna), sowie Hildegard Keller, „ Die gewaltaerinne minne . Von einer weiblichen Großmacht und der Semantik von Gewalt“, in: ZfdPh 117 (1998), S. 17-37. Versehrtheit 225 körperliche Verletzung, als ‘Wunde’. In der Wunde entzündet sich ein vehementes sexuelles Begehren bzw. dieses stellt die eigentliche ‘Entzündung’ dar. Weil die Wirkungen auf dasselbe zielen, können die Bildbereiche der unterschiedlichen Topoi ohne Weiteres auch ineinander überführt werden. Die angeführten Topoi verdeutlichen, dass das passio -Modell nachdrücklich Minneentstehung mit Imaginationen körperlich-konkreter Verletzung korreliert. Die mittellateinische Lyrik greift diese Topoi, insbesondere die Brandmetaphorik, inflationär auf. Als Beispiel können folgende Ausschnitte aus dem Dialoglied Carmina Burana 70: Estatis florigero tempore dienen. Sie zeigen, wie der Geliebte versucht, sein Begehren in Worte zu fassen und die Geliebte zu überzeugen, das Begehren zu stillen: 17 4a ‘Ignem cecum sub pectore longo depasco tempore, qui vires miro robore toto diffundit corpore. 4b Quem tu sola percipere, si vis, potes extinguere […]’ 5b ‘Sed et ignem, qui discurrit per precordia, fac extinguat alia! ’ 6a ‘Ignis, quo crucior, immo quo glorior, ignis est invisibilis. 6b Si non extinguitur, a qua succenditur, manet inextinguibilis. 7a Est ergo tuo munere me mori vel me vivere.’ ( Carmina Burana 70) (‘4a Blind wütendes Feuer in der Brust / hege ich lange Zeit, / es lässt mit wundergleicher Kraft / sein Brennen im ganzen Leibe spüren. 4b Nur du kannst es, wenn du es in dich aufnehmen willst, löschen […].’ 5b ‘So lasse denn das Feuer, das in deinen Eingeweiden rast, / eine andere löschen! ’ 6a ‘Das Feuer, das mich quält, / aber zugleich erhöht, / dieses Feuer ist unsichtbar. 6b Wird es nicht von dir gelöscht, / von der es entzündet wurde, / so lässt es sich nie wieder löschen. 7a Es liegt also in deiner Hand, ob ich sterbe oder lebe! ’) Zahlreich sind auch die Varianten des passio -Modells im mittelhochdeutschen Roman. Als Beispiele für den Brand- und Kampftopos seien Passagen aus Veldekes Eneasroman und Gottfrieds Tristan angeführt. In Veldekes Eneasroman küsst Eneas’ Sohn Ascanius Dido und wird damit zum Medium des Liebesbrandes, den Venus verursacht und initiiert: 18 17 Zitiert nach: Carmina Burana , Bd. 1: Text , 2. Die Liebeslieder , hg. von Otto Schumann, Heidelberg 2 1971, S. 36- 39. Übersetzung nach Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen , hg. von Heinz Bergner, Bd. 1: Die mittellateinische Lyrik , hg. von Paul Klopsch und Dietmar Rieger, Stuttgart 1983 (RUB 7896), S. 155 und 157. 18 Zitiert hier wie im Folgenden nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch , nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, hg., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort versehen von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303). 226 Annette Gerok-Reiter 38,5 gezogenlîche er zû ir gienk, mit den armen her si umbevienk, si kuste in an sînen munt: des wart si zû der stunt vaste bestricket. 10 in ir wart erquicket der minnen fûr vile heiz, dâ luzel ieman umbe weiz, den ez nie gebrande. die starken minne sande 15 diu gotinne Vênûs frouwen Dîdôn ze hûs, dâ si ir selber umbe vergaz. Ênêas bî ir saz do si also brinnen began. ( Eneasroman , V. 38,5-19) Auch Gottfried arbeitet in seinem Tristan mit der Brandmetaphorik, so z. B. in Bezug auf die Eltern Tristans, Riwalin und Blanscheflur: 19 1115 ez ergienc in rehte, als man giht: ‘swâ liep in liebes ouge siht, daz ist der minnen viure ein wahsendiu stiure’. ( Tristan , V. 1115-1118) Bei Tristan und Isolde übernimmt der Minnetrank die Funktion, Minne als überwältigende Macht von außen zu repräsentieren, der gegenüber der einzelne wehrlos ist. Dies verdeutlicht der Erzähler unmissverständlich, indem er zur Erklärung auf die tradierten Kampfmetaphern von Belagerung, Überwältigung, Sieg und Niederlage zurückgreift und diese in einem Handlungsszenario dramatisiert: Nu daz diu maget unde der man, Îsôt unde Tristan, den tranc getrunken beide, sâ 11710 was ouch der werlde unmuoze dâ, Minne, aller herzen lâgærîn, und sleich z’ir beider herzen în. ê si’s ie wurden gewar, dô stiez s’ir sigevanen dar 11715 und zôch si beide in ir gewalt […]. ( Tristan , V. 11707-11715) Das zweite, breit tradierte Konzept, das nicht zwingend, sondern je nach Ausprägung, Perspektive und Wertung mit ‘Verletzung’ verbunden ist, ist das Konzept von Liebe als Naturtrieb. Liebe als Naturtrieb arbeitet weniger mit Imaginationen einer überwältigenden Macht von außen, 19 Zitiert hier wie im Folgenden nach: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold , hg. von Walter Haug und Manfred Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, Frankfurt a. M. 2011 (Bibliothek des Mittelalters 19). Versehrtheit 227 daher auch weniger mit dem Bild der Liebesursache als von außen zugeführter Verletzung. Gearbeitet wird mit einer anderen Macht. Nicht das Außerordentliche nimmt sich sein Recht, wie es im passio -Modell die Personifikationen der Venus oder des Amor oder Gefahren wie Brand oder Krankheit repräsentieren. Hier ist es der eigene Naturtrieb, der agiert, und dieser ist qua der ihm zugeschriebenen ‘Natürlichkeit’ von vornherein im Recht. Was ex natura im Recht ist, 20 darf erfüllt werden. Darin liegt die Leichtigkeit dieses Modells: Liebe als sexuelles Gewinnspiel, das die Dramatik, die in der Metaphorik der ‘Verwundung’ aufgerufen ist, tendenziell unterläuft. Allerdings kennt dieses Gewinnspiel - etwa in der Tradition der Pastourelle - auch Verletzungen, die aber - im Unterschied zum passio -Modell - gegendert sind. Wenn die weibliche Partnerin ihrem ‘Naturtrieb’ nicht folgt, ist Vergewaltigung erlaubt. So etwa im Carmen Buranum 185: Anonym, Ich was ein chint sô wolgetân ; angeführt werden die Strophen 2, 4, 9: 21 2 Ia wolde ih an die wisen gan, flores adunare, do wolde mich ein ungetan ibi deflorare. Hoy et oe! maledicantur thylie iuxta uiam posite! 4 Er graif mir an daz wize gewant valde indecenter, er fu o rte mih bi der hant multum uiolenter. Hoy et oe! maledicantur thylie iuxta uiam posite! 9 Er warf mir ůf daz hemdelin, corpore detecta, Er rante mir in daz purgelin cuspide erecta. Hoy et oe! maledicantur thylie iuxta uiam posite! ( Carmina Burana 185) (‘2 Ich wollte über die Wiesen gehen, um einen Strauß zu pflücken, da lüstete es einen üblen Kerl, mich dort zu entjungfern. Ach und weh! Verflucht seien die Linden, die am Wegrand stehen! 4 Er griff nach meinem weißen Gewand auf höchst unanständige Weise; er zog mich an der Hand fort mit brutaler Gewalt. Ach und weh! Verflucht seien die Linden, die am Wegrand stehen! 9 Er schob mein Hemdlein hoch, so dass ich unten entblößt war, und erstürmte meine kleine Burg mit aufgestelltem Spieß. Ach und weh! Verflucht seien die Linden, die am Wegrand stehen! ’) 20 Vgl. die ausführliche Diskussion, auch der Legitimation, bei Schnell (wie Anm. 16), S. 286-321, 413-451. 21 Zitiert nach: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen , mit den Miniaturen und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13). 228 Annette Gerok-Reiter In Variation lässt sich dieses Modell etwa auch bei Veldeke finden. Es liegt der Schilderung von Eneas’ Inbesitznahme von Dido während des Jagdausflugs zugrunde. Veldeke kombiniert es dabei mit dem Personifikationsmodell sowie der Jagd- und Kampfmetaphorik, hier jedoch nicht, um die Dramatik des Ereignisses zu steigern, sondern um den Eindruck der ‘natürlichen’ und damit unabweislichen Folgerichtigkeit des Geschehens zu unterstützen: her begreif si mit den armen. 63,10 do begunde ime irwarmen al sîn fleisch und sîn blût. dô heter manlîchen mût, dâ mite gwan er di oberen hant; der frouwen her sich underwant. […] und er legete sie dar nider, alsez Vênûs geriet: sine mohte sich erweren niet. 25 her tete ir daz her wolde, […] 36 daz tier was rehte getriben. sô der man sô schûzet daz her sîn genûzet, sô liebet ime diu vart. ( Eneasroman , V. 63,9-14; 22-25; 36-39) Die Verletzung - von der allenfalls, aber auch nicht durchgehend in weiblicher Perspektive zu sprechen ist -, wird, so lässt sich resümieren, in diesem Modell nicht an die Liebesentstehung gebunden, sondern an die - in männlicher Perspektive - Liebeserfüllung. Es muss nicht in jedem Fall zu einer Verletzung, einem Übergriff kommen und ein solcher verletzender Übergriff wird - wiederum im Unterschied zum passio -Modell - in der Regel eher ‘kleingeschrieben’, d. h. metaphorisch entschärft oder moralisch umbesetzt. Das dritte Modell imaginiert Liebe als wân , als Blindheit, als Selbstverlust: Dieses Konzept, das sich vielfach mit dem ersten überlagert, fokussiert nicht den Minneanfang, auch nicht die Erfüllung, sondern die Folgen einer Minne, der sich Widerstände auf Dauer entgegenstellen. Es begegnet nicht nur, aber besonders eindringlich im mittelalterlichen Roman. Auch dieses Konzept arbeitet mit Vorstellungen körperlicher Versehrtheit. Die Diversität der imaginierten körperlichen Folgen ist in diesem Modell sicherlich am größten. Sie reicht von lediglich körperlichen Einschränkungen (etwa der Blindheit) über Formen der Selbstentfremdung bis hin zu radikaler körperlicher Selbstdestruktion oder dem Liebestod. 22 Körperliche und mentale Folgen bzw. Beschreibungsmodi gehen dabei oftmals ineinander über, lassen sich in diesem Modell am wenigsten trennen. Auch hier seien nur ein paar wenige Beispiele genannt: Tristrant etwa, der als Kranker verkleidet und gezeichnet bei Isalde auftaucht ( Tristrant , V. 7026- 22 Zum Motiv in Epik und Lyrik vgl. paradigmatisch: Christian Kiening, „Ästhetik des Liebestods. Am Beispiel von Tristan und Herzmaere“, in: Das fremde Schöne. Ästhetische Dimensionen mittelalterlicher Literatur , hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin/ New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 171-193; sowie Christoph Huber, „Liebestod im Minnesang Heinrichs von Morungen“, in: Filologia Germanica 3 (2011), S. 135-159. Versehrtheit 229 7033), der Schläge und Schmähung hinnehmen muss (V. 7040-7045), der an seiner Krankheit zugrundegeht, der aber zugleich den Liebestod stirbt (V. 9380-9390); 23 oder Iwein, der nackt, dreckig, selbstentfremdet, ‘asozial’ umherirrt ( Iwein , V. 3201-3367). 24 Prominent wird dieses Modell auch in der Lyrik vertreten, so z. B. bei Walther von der Vogelweide, Saget mir ieman, waz ist minne (L 69,1), wenn sich das Sprecher-Ich am Ende als augen- und ohrenlos inszeniert: wê, waz rede ich ôrlôser und ougen âne? / swen die minne blendet, wie mac der gesehen? (L 69,27f.). 25 Am radikalsten spielt das Modell der Ich-Dissoziation wohl Frauenlob in Lied 6 (XIV,26-30) durch: 26 III,1 Ich suchte mich, da vant ich min da heime nicht. ich wante, ein ding daz wolte mich töten gar mit lüste. 5 lip, wa was ich do? (Lied 6, V. III,1-5) Die drei Modelle zeigen drei unterschiedliche Formen von Verletzung. Verbindendes Moment bei aller Diversität ist jedoch, dass Verletzung hier primär körperlich codiert wird. Die körperliche Referenz kommt vorrangig durch Topoi zustande, die physische Versehrung und Gewalt (Brand, Jagd, Krankheit, Vergewaltigung, Verwahrlosung etc.) indizieren. Über die Relation von Minne und gewaltsam-körperlicher Versehrung wird im Regelfall ein deutlich dramatisierendes Moment maßgeblich. Funktion der körperlichen Beschreibungsmodi ist weiter die Darstellung einer überwältigenden Erfahrung, die - zumindest in den ersten beiden Konzepten - primär sexuell konnotiert ist. Verletzung erscheint in den Beispielen zudem, folgt man den jeweiligen Darstellungen, nicht lediglich als eine Begleiterscheinung der Liebe, nicht als periphere Beschreibungszutat. Die jeweilige sprachliche Codierung der Verletzung wird vielmehr, so die These, als semiotisches Medium genutzt, um über sie eine jeweils spezifische Art von Minne zu konstituieren und zu charakterisieren. 27 Vor dem Hintergrund dieser These gewinnt die Frage nach dem Verletzungs-Modell des frühen Minnesangs ihr Gewicht. Lassen sich hier ähnliche Lexeme, Bilder und Metaphern finden wie in den aufgezeigten Kontexten? Oder gibt es hier, am Anfang der deutschsprachigen lyrischen Überlieferung, signifikante Abweichungen? 23 Eilhart von Oberge, Tristrant , hg. von Franz Lichtenstein, Straßburg 1877 (Quellen und Forschungen 19). 24 Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein , hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6). 25 Hier wie im Folgenden zitiert nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche , 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/ New York 1996. 26 Hier wie im Folgenden zitiert nach: Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder , auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau, 2 Bde., Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, 119-120, 232), hier Bd. 1, S. 571. 27 Erst über die sprachliche Codierung wird somit „[t]he Interface of Biology and Culture“ in Bezug auf die Relation von Verletzung/ Schmerz und Minne greifbar und möglicherweise auch erst kulturell wirksam; vgl. Pain and its Transformations. The Interface of Biology and Culture , hg. von Sarah Coakley und Kay Kaufmann Shelemay, London 2007. 230 Annette Gerok-Reiter II Verletzung ‘light’? Betrachtet man die Formen der Minne und der Versehrung im frühen Minnesang, so ist auf den ersten Blick festzuhalten, dass man auf dramatische körperliche Verwundungen, wie sie die vorgestellten drei Modelle mit ihren spezifischen Personifikationen oder Topoi bereithalten, nicht trifft. Auch ein gewaltsamer sexueller Übergriff im Sinn der Pastourelle oder ein verwahrlost herumirrender Liebender, Iwein vergleichbar, begegnen nicht. Dies ist zunächst ein erstaunlicher Befund. Gibt es überhaupt Verletzungen? Es gibt sie. Den folgenden Überlegungen liegt dabei das Korpus der frühen Lieder vom Kürenberger bis Kaiser Heinrich zugrunde, die anonymen oder ungesicherten Lieder wurden - vorsichtshalber - ausgeschlossen. 28 Die Basis bilden dabei diejenigen Strophen, die nicht von Freude und Zuversicht zeugen, sondern deren Thema oder Kontrapunkt deutlich das Leid bildet oder die doch zumindest Leid (mit-)thematisieren. Da jedoch bei der Durchsicht vor allem die Schnittstellen, Übergänge und Gewichtungen zwischen einer physischen und gegebenenfalls einer psychischen Verletzung in den Blick genommen werden sollen, grenze ich nochmals ein und beziehe zunächst nur diejenigen Leidkundgebungen ein, die einen direkten oder doch zumindest indirekten Verweis auf eine körperliche Schädigung beinhalten. 29 Nur diese Selektion ermöglicht einen plausiblen Vergleich mit den bisher aufgezeigten Beschreibungsmodellen. Wie also spielen Leid, Schmerz und körperliche Versehrtheit im frühen Minnesang zusammen? Es lassen sich zunächst drei Formen der Relation festmachen, die von einer vierten flankiert werden und durch eine fünfte zu ergänzen sind. Ich unterscheide körperliche Leid- und Schmerzäußerungen (1) von Äußerungen über gewaltsame Inbesitznahme und Dissoziation (2) und schließlich Äußerungen, die das Motiv des Liebestodes aufgreifen (3). Tendenziell sind diese Äußerungsformen durch einen zunehmenden Versehrungsgrad des Liebenden oder der Liebenden gekennzeichnet. Die vierte Form fokussiert verletzende Aggression gegen Dritte und setzt somit auf einer anderen Ebene an (4). Zu konfrontieren ist der Befund schließlich mit Verletzungen, die nicht durch Lexeme, sondern nur durch den Kotext angezeigt sind, jedoch zu den wichtigsten Zeugnissen gehören (5). 1. Körperliche oder doch körperlich konnotierte Leid- und Schmerzäußerungen äußern sich in der einfachen Formulierung, dass die Minne wê tue. Dieses körperlich konnotierte wê , das in jedem semantisch unspezifizierten owê noch mitschwingt - echoartig aufgenommen 28 Vgl. Jens Haustein, „Minnesangs Vorfrühling? Zu MF 3,1-6,31“, in: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik. Festschrift für Helmut Tervooren , hg. von Johannes Spicker in Zusammenarbeit mit Susanne Fritsch, Gaby Herchert und Stefan Zeyen, Stuttgart 2000, S. 21-31. Die Problematik der Korpusidentität des frühen Minnesangs erläutert eingehend Maximilian Benz, „Minnesang diesseits des Frauendienstes und der Kanzonenstrophe“, in: PBB 136 (2014), S. 569-600. Eine umfassende Analyse der frühen Lyrik bietet Anna Sarah Lahr, Diversität als Potential. Eine Neuperspektivierung des frühesten Minnesangs , Diss. Tübingen 2017 [erscheint voraussichtlich 2020]; zum Korpus: Kap. 3, zur Emotionsdarstellung: Kap. 6.3. Zu den Dietmarliedern vgl. die differenzierten Reflexionen von Simone Leidinger, Dietmar von Aist: Vielschichtige Poetik. Studien zu einer literarhistorischen und forschungsgeschichtlichen Standortbestimmung , Heidelberg 2019 (Studien zur historischen Poetik 30). 29 Eine bloße Leidäußerung ( leit , sorge , kumber etc.) sehe ich somit nicht in jedem Fall als Zeugnis von ‘Verletzung’ und ‘Versehrtheit’ an. Versehrtheit 231 und weitergetragen -, 30 dieses wê tuon setzt Minne und körperlichen Schmerz in ihren Wirkungen gleich und suggeriert im Umkehrschluss damit für beide eine analoge, d. h. eine körperliche Ursache. Ebendies lässt die Minne als Folge einer körperlichen Versehrung erscheinen. So heißt es beim Kürenberger MF 8,25-30: ‘Ez hât mir an dem herzen vil dicke wê getân, / daz mich des geluste, des ich niht mohte hân / noch niemer mac gewinnen. daz ist schedelîch. / […]’ . Die Konkretion des Liebesschmerzes, der mit dem physischen Schmerz enggeführt wird, verrät die Präposition an : an dem herzen , nicht in : ‘ an ’ zielt auf das Herz als konkreten Teil des Körpers, nicht auf eine metaphorische Qualität. So wie etwas an dem arme , an dem fuoze weh tun kann, so kann auch das ungestillte Begehren ( daz mich des geluste, des ich niht mohte hân ) an dem herzen Schmerz verursachen. Ebenso verweist der Kommentar daz ist schedelîch wohl sehr konkret auf einen Schaden, der durch das unerfüllte Begehren zugefügt wird, wie es etwa der medizinische Diskurs von Galen (2. Jahrhundert), Paulus von Aegina (7. Jahrhundert) über Avicenna (11. Jahrhundert) bis zu Bernardus de Gordinio (13./ 14. Jahrhundert) diskutiert. 31 Ebenso bezogen auf die sinnliche Liebesübereinkunft, jedoch stärker in der Schwebe zwischen körperlicher Vergegenwärtigung und Vermittlung durch die Erinnerung, heißt es beim Burggrafen von Regensburg MF 17,1-4, 32 nun aus weiblicher Perspektive: ‘swenne ich dar an gedenke, daz ich sô güetlîchen lac, / verholne an sînem arme, des tuot mir senede wê.’ Entsprechend ließen sich die Beispiele fortsetzen, die in der Formulierung des Wehtuns vor allem die schmerzlich empfundene körperliche Distanz zur Geliebten einfangen, z. B. bei Dietmar, MF 32,13-16: Seneder vriundinne bote, nu sage dem schoenen wîbe, / daz mir âne mâze tuot wê, daz ich sî sô lange mîde , oder Dietmar MF 36,11-13, Verse, die fast wie eine Antwort klingen: ‘sol ich ime lange vrömede sîn, / ich weiz wol, daz tuot ime wê. daz ist diu meiste sorge mîn.’ Entsprechend auch der Botenbericht, Dietmar MF 38,20: im tuot sîn langez beiten wê . Gleichwohl diese Wendungen häufig auftreten, kommt es jedoch nur einmal zum gesteigerten Ausdruck des wunden Herzens und zur expliziten Einordnung des Leids in den semantischen Raum der Krankheit: Krank ist das Herz als ‘Liebeskörper’. Dieser muss ‘geheilt’ werden, wie der Burggraf von Regensburg MF 16,15-22 thematisiert: Ich lac den winter eine. wol trôste mich ein wîp, vore si mir mit vröiden [ ] kunde die bluomen und die sumerzît. daz nîden merkaere. dêst mîn herze wunt. ez enheile mir ein vrowe mit ir minne, ez enwirt niemêr gesunt. Bezogen auf die zuvor genannten Liebesmodelle zeichnen sich somit durchaus Parallelen ab, aber ebenso Unterschiede. Liebe, insbesondere das unerfüllte Begehren, wird als etwas beschrieben, das wehtut oder verwundet. Der Beschreibungscode nutzt damit Lexeme, die eine körperliche Schmerzempfindung oder einen körperlichen Gesundheitszustand als 30 Zur Funktion von Interjektionen vgl. Robert Schoeller, „ Ahî -Effekte. Zur Interjektionalisierung vormoderner Texte“, in: Historische Räume. Erzählte Räume. Gestaltete Räume. Festschrift für Leopold Hellmuth zum 65. Geburtstag , hg. von Georg Hofer, dems. und Gabriel Viehhauser, Wien 2015, S. 41-62. 31 Haferlach (wie Anm. 14), S. 120-123. 32 Zur Diskussion um den Autornamen vgl. Lahr (wie Anm. 28), Kap. 3.5.2. 232 Annette Gerok-Reiter Modus der Liebe nahelegen. Doch dieser Modus bleibt nur angedeutet, wird in der Regel nicht konkretisiert oder ausgebaut. Dadurch bleibt die Semantik relativ unausgeprägt und undramatisch mit der Kehrseite, dass sie sich auf die Möglichkeit einer metaphorischen Analogie für den seelischen Schmerz hin öffnet. 33 2. Die zweite Kategorie beinhaltet Lexeme, die eine stärkere Anspannung repräsentieren. Dabei geht es um tendenziell gewaltsame Inbesitznahme oder Übergriffe, wiederum mit deutlich körperlicher Referenz. Hierher gehören Wendungen, die vom betwungenen herzen sprechen: MF 19,10f. thematisiert den lîp, / Der betwungen stât ; bei Dietmar stêt daz herze des Sängers in ir gewalt ( MF 38,1); an anderer Stelle konstatiert der Sänger, daz mich ein edeliu vrowe hât genomen in ir getwanc (Dietmar MF 38,33). Ebenso heißt es in Dietmar MF 40,15: Betwungen was daz herze mîn . Ob mit der gewaltsamen Inbesitznahme eine dezidierte Verletzung verbunden ist, bleibt jedoch offen. Deutlicher lässt sich in Richtung einer körperlichen Versehrung denken, wenn Leib und Herz voneinander getrennt werden. Registriert wird dies als außerordentliches Geschehen, so in Dietmar MF 35,2-4: wie senelîche sî mich lie! / si hât daz herze mir benomen, daz geschach mir ê von wîben nie . 34 Den Besitzerwechsel kann nicht nur das herze , sondern auch der lîp vollziehen, so wie Dietmar MF 40,19-21 zeigt: Wart âne wandel ie kein wîp, / daz ist si gar, der ich den lîp / hân gegeben vür eigen . Die Gewaltsamkeit äußert sich über die Metaphorik des Raubes ( si roubet mich der sinne mîn , MF 40,22) und wenige Zeilen über die Charakterisierung des Verlustes ( MF 40,27-29): Waz bedorfte des ein wîp, / daz ich sô gar dur sî den lîp / verlôs und al mîn sinne? Die Überwältigungssemantik erinnert an die Kampf- und Eroberungsmetaphorik des passio -Modells, bleibt aber wiederum moderater. Das entwendete Herz oder der Raub von Leib und Sinnen korrespondiert, insbesondere durch die Betonung des Zusammenschlusses von lîp […] und al mîn sinne , der Motivik des Selbstverlusts, doch zu einer ausgestalteten Verwirrung oder einem ausführlich demonstrierten Identitätsverlust wie bei Hartmann oder Frauenlob kommt es nicht. 3. Innerhalb der dritten Kategorie, Darstellungen des Minnetodes, findet sich eine eher spielerische Variante, die mehr Wert auf den Gedanken des Wieder-Lebendigwerdens als auf den Tod legt, bei Meinloh MF 13,11-13. Nachdem der Sänger seine Dame in höchsten Tönen gelobt hat, bekräftigt er sein Lob mit der Formulierung: sturbe ich nâch ir minne / und wurde ich danne lebende, sô wurbe ich aber umbe daz wîp. Umgekehrt konstatiert der Sänger im Lied Sît sî wil, daz ich von ir scheide des Burggrafen von Rietenberg ( MF 19,34-36): senfter waere mir der tôt, / danne daz ich ir diene vil, / und si des niht wizzen wil. Entsprechend formuliert der Sänger in Dietmar MF 34,27-29, solle er von seiner Dame getrennt sein, des waen ich mîn leben niht lange stê. / ich verdirbe in kurzen tagen, mir tuot ein scheiden alsô wê. Durch die Dame formuliert, findet sich das Motiv bei Dietmar MF 36,3f . Wenn ihre Liebe nicht beantwortet würde, ‘sô taete sanfter mir der tôt, / liez er mich des geniezen niet.’ In schrittweiser Steigerung wird das Todesmotiv in Dietmar MF 32,9-12 vom Gegensatz 33 Ähnlich moderat und schwebend zwischen körperlichem und seelischem Ausdruck verfährt auch etwa die Beschreibung Dietmar MF 37,21f. angesichts des Zweifels der Liebenden an der Gegenliebe ihres Geliebten: ‘jârlanc trüebent mir ouch / mîniu wol stênden ougen.’ 34 Das Herz kann sich jedoch auch selbständig auf den Weg machen. So heißt es in dem Dietmar zugeschriebenen, aber in A und C unter Lutolt von Seven überlieferten Lied Ich suohte guoter vriunde rât ( MF Lied XVI, S. 69): swie ungnaedic sî mir sî, / sô enwil iedoch daz herze mîn niender anders danne dar. / Ez hât mich gar dur sî verlân / und wil ir wesen undertân (Str. 2, V. 3-6). Versehrtheit 233 zwischen der Welt und dem Einzelnen, Ruhe und Schlaflosigkeit über die vergebliche Frage um Rat bis zum Vorwurf gegenüber Gott aufgebaut. Es ist, so weit ich sehe, einer der ersten ausgereiften Belege für das Motiv des Liebestodes in mittelhochdeutscher Lyrik: Sô al diu welt ruowe hât, sô mac ich eine entslâfen niet. daz kumet von einer vrowen schoene, der ich gerne waere liep. an der al mîn vröide stât. wie sol des iemer werden rât? joch waene ich sterben. wes lie si got mir armen man ze kâle werden? Da die Frage wie sol des iemer werden rât? , die nach einem Ausweg aus der Vergeblichkeit sucht, Gegenliebe erwarten zu dürfen, ohne Antwort bleibt, glaubt der Sänger, aus Kummer zu sterben, bekräftigt in der verzweifelten Frage nach dem Sinn des Geschehens, eine Frage, die zugleich durch die Anklage Gottes die Tiefendimension des Liebesleids aufzeigen soll. Konkret droht auch die Dame in Kaiser Heinrich MF 4,39, kumest du mir niht schiere, sô verliuse ich mînen lîp. Und der Sänger-Kaiser in Heinrichs Lied Ich grüeze mit gesange nutzt das Motiv in MF 5,37-6,1 versiert, um plausibel zu machen, dass die Liebe ihm mehr wert sei als alle seine Herrschaft: Er sündet, swer des niht geloubet, daz ich möhte geleben manigen lieben tac, ob joch niemer krône kaeme ûf mîn houbet; des ich mich ân si niht vermezzen mac. Das Motiv des Liebestodes authentifiziert die Ernsthaftigkeit der Minne. Zugleich aber zeigen die Beispiele, dass die Ernsthaftigkeit auf eine leichte Weise, fast spielerisch, vermittelt wird: Gebunden an den Konjunktiv, ein waenen , eine Bedingung, deren Ausgang nur die Zukunft zeigen kann, oder ein persuasives Gedankenspiel ex negativo , bleibt das Motiv lediglich hypothetische Überlegung, dramatisierendes Moment, ohne doch eigentlich dramatisch zu sein. 4. Zu einer deutlich aggressiven Verletzung, allerdings lediglich im Optativ, kommt es nur zweimal: Beide Male richtet sich diese gewaltsame Aggression gegen die huote bzw. eine undefinierte Gruppe der anderen, ausgesprochen vom weiblichen Part: Vehement wünscht die vrowe in Meinlohs Strophe MF 13,14 den merkaeren wegen ihrer üblen, verleumderischen Nachrede: ‘staechen si ûz ir ougen! ’ ( MF 13,24). Und beim Burggrafen von Regensburg MF 16,12-14 würde die Dame sich auch nicht durch den Tod der Gegner davon abbringen lassen, den von ihr Erwählten zu lieben: ‘und laegen sî vor leide tôt, / ich wil ime iemer wesen holt. si sint betwungen âne nôt.’ Vergleicht man mit den zuvor vorgestellten Minnemodellen und deren Repertoire an Bildern und dramatisierenden Elementen, so lässt sich einerseits sagen, dass die sprachlichen Repräsentationen für das Minnegeschehen vielfach im bekannten semantischen Feld von Verwundung, Krankheit und Heilung bleiben. Und doch zeigen sich signifikante Unterschiede, die auf eine Veränderung, ein geringeres Ausspielen der „gewalttätige[n] imagines agentes “ 35 zurückzuführen sind. So fehlt die Verbildlichung der Verwundung durch einen verletzenden Pfeil, es fehlen Amor und Venus, es fehlen ebenso die Topoi von Kampf und 35 Scott E. Pincikowski, „Schmerzvolle Erinnerungen: Schmerz, Gedächtnis und Identität in der deutschen Literatur des Mittelalters“, in: Schmerz in der Literatur des Mittelalters (wie Anm. 13), S. 23-49, hier S. 25. 234 Annette Gerok-Reiter Jagd, vor allem aber von Feuer, Brand und sich ausbreitender Entzündung vollkommen. Eben dadurch erscheint die Verletzung weniger greifbar-körperlich, auch weniger heftig, weniger plötzlich, weniger aggressiv. Im Vordergrund steht damit offensichtlich nicht das Eruptive, das haltlose Begehren, die agonale Gemengelage von Kampf und Niederlage. Die Verletzung beschreibt denn auch nicht den Ausbruch der Liebe oder die Folgen eines sexuellen Übergriffes, sondern meist die anhaltende Mühsal des Voneinander-Entfernt-Seins. Eine dramatische Höhenkurve ist nicht zu finden: Minne also gleichsam ‘ light ’, als Teil eines „Zivilisationsprozesses“, der mit einem affektgeleiteten Zwang, mit der Erfahrung einer dramatischen Destruktion oder mit der Durchsetzungsfreude des Naturtriebs bricht, so Norbert Elias, 36 d. h. Minne auf gefällig-kompatibler Schmerz-Grundstufe? Keine umwerfende Macht? Nur „reizende[s] Tändeln“, wie es Tieck - für den gesamten Minnesang - geltend machte? 37 Wissen die Sänger des frühen Minnesangs also nicht, was im Eneasroman bereits festgeschrieben ist: Verwunderung und Unmaß - daz is der rehten minnen art (64,22)? Dem scheint nicht so. Denn die Frauenstimme in Dietmars Lied MF 35,16 Der winter waere mir ein zît äußert 36,1f. deutlich und 36,3f. gefolgt von dem oben bereites zitierten Motiv des Liebestodes: ‘Ez waere mir ein grôziu nôt, / wurde er mir âne mâze liep.’ 5. Wie also ist eine solche Minne zu verstehen, die einerseits âne mâze agiert, daher durchaus verletzt, Schmerz zufügt, Herz und Leib trennt, ‘weh tut’, und bei der andererseits in den Äußerungen die Affektübermacht nicht ausgespielt wird, die Formulierungen des Schmerzes die Topoi des Feuers nicht aufrufen, keine Jagd, kein Kampf, kein völliger Selbstverlust stattfinden? Möglich ist, dass unterschiedliche Bildungstraditionen eine Rolle spielen, d. h. dass für die Sänger des frühen Minnesangs eine weitgehend von der Antike geprägte und über die Ovidrezeption vermittelte Metaphorik z.T. (noch) nicht zugänglich war oder eine Ausdrucksweise im genus sublime nicht passend erschien. 38 Möglich ist auch, dass Affektkontrolle als höfisches und herrschaftliches ‘Kulturprogramm’ hier mitschwingt. 39 Wichtiger jedoch erscheint ein Grund, der nicht mit Bildungs- oder Stilmustern, aber auch nicht durch den Gedanken einer Intensitätsrestriktion des Empfindens einzuholen ist. Gemeint ist vielmehr eine veränderte Art der Minneerfahrung, für die bereits in der frühesten Lieddichtung nach Ausdrucksmöglichkeiten gesucht wird. Diese veränderte Minneerfahrung speist sich aus dem Wissen, dass Begehren, Sexus, erotische Überwältigung nur einen Teil der Minneerfahrung ausmachen (oder ausmachen sollen), der durch eine seelische Erfahrung zu ergänzen ist, was den Schmerz nicht mindert, sondern in intrikater Weise umfassender macht. Verbunden mit dieser veränderten Minneerfahrung ist das Bemühen, 36 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen , 2 Bde., um eine Einleitung vermehrte 5. Auflage, Frankfurt a. M. 1978. Zur Kritik aus Sicht der mediävistischen Gewaltforschung vgl. Herberichs (wie Anm. 14), S. 12f. 37 Ludwig Tieck, „Vorrede“, in: Minnelieder aus dem Schwaebischen Zeitalter , neu bearbeitet und hg. von Ludwig Tieck, Berlin 1803, Nachdruck Hildesheim 1966, S. I-XXX, hier S. XI. Zu den Traditionslinien dieser Beurteilung vgl. Annette Gerok-Reiter, „Dû bist mîn, ich bin dîn ( MF 3,1) - ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse“, in: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen - Literatur - Mythos , hg. von Manfred Eikelmann und Udo Friedrich, Berlin 2013, S. 75-115, hier S. 79. 38 Vgl. Schnell (wie Anm. 16), S. 41f., S. 318. 39 Vgl. Rüdiger Schnell, „Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter“, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche , hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1994, S. 103- 133, hier S. 109-114. Versehrtheit 235 Sprache und Bilder zu finden, die die Minnebetroffenheit des Einzelnen in seiner seelisch-leiblichen Einheit darzustellen vermögen. Der Beschreibungsmodus der Versehrtheit bleibt auch hier der entscheidende Index für die Intensität der Erfahrung, aber es ist hier eine Versehrtheit aufgerufen, die in ihrer Spezifik sehr viel stärker auf das Changieren zwischen körperlicher und psychischer Verletzung zielt, wie die Lexik und Semantik der angeführten Beispiele des frühen Minnesangs zeigen. Am deutlichsten tritt diese veränderte Perspektivierung ebendort zutage, wo die Lexik der Verletzung oder Versehrtheit gar nicht auftaucht, die Semantik in modifizierter Form gleichwohl. Zu verweisen ist etwa auf Dietmar von Aist, Ez stuont ein vrouwe alleine ( MF 37,4): Ez stuont ein vrouwe alleine und warte über heide unde warte ir liebes, sô gesach si valken vliegen. ‘sô wol dir, valke, daz du bist! du vliugest, swar dir liep ist, du erkiusest dir in dem walde einen boum, der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, den erwelten mîniu ougen. daz nîdent schoene vrouwen. owê, wan lânt si mir mîn liep? joch engerte ich ir dekeines trûtes niet! ’ Das Signalwort der vorletzten Zeile, owê , sowie die nachfolgende ebenso rechtende wie hilflose Frage, wan lânt si mir mîn liep? , die von einem ebenso hilflosen Ausruf abgeschlossen wird, joch engerte ich ir dekeines trûtes niet! , indizieren die Verletzung der vrouwe , der aus Neid und Missgunst ihre Liebe nicht gelassen wird. Das wê verweist damit von dem körperlichen Schmerz unerfüllten Begehrens in eine andere Richtung, die Richtung einer grundsätzlichen, alle Seiten der Sprecherin betreffenden Erschütterung und Versehrtheit. Den Blick auf diese umfassende Versehrtheit eröffnen bereits die ersten drei Zeilen: Sie zeigen die vrouwe alleine stehend, wartend, Ausschau haltend über die Heide, in der sich nur der Falke, aber nicht der Geliebte zeigt, eine Szenerie, die ihre Suggestivkraft durch die Doppelung des Verbs warten erlangt sowie durch die rhythmische Verlangsamung durch die klingende Kadenz von héidè und líebès , möglicherweise unterstützt durch die Nebenhebung auf der Endsilbe von warte in V. 3: und(e) wártè ir líebès . Was sich hier ausdrückt in den Valeurs von Szenerie und Rhythmus, ist die Semantik eines ‘schmerzhaft’ unausgefüllten Raumes der Einsamkeit, der Ungewissheit und des Sehnens. Das Bild der alleine stehenden, ins Ungewisse hinein wartenden, sich sehnenden Frau kehrt in Variationen im frühen Minnesang wieder. Vergleichend verweise ich auf Swenne ich stân aleine ( MF 8,17) des Kürenbergers: 40 40 Verwiesen sei hier auch auf das unter Niune überlieferte Lied MF 3,17, das meist zum frühen Minnesang gezählt wird oder doch eine Imitation dessen darstellt: ‘Mich dunket niht sô guotes noch sô lobesam / sô diu liehte rôse und diu minne mîns man. / diu kleinen vogellîn / diu singent in dem walde, dêst 236 Annette Gerok-Reiter ‘Swenne ich stân aleine in mînem hemede, unde ich gedenke an dich, ritter edele, sô erblüet sich mîn varwe, als der rôse an dem dorne tuot, und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot’. Zu nennen wären hier weiter etwa die Strophen MF 7,19: Leit machet sorge, vil liebe wünne oder auch das Falkenlied MF 8,33: Ich zôch mir einen valken mêre dann ein jâr (ggf. auch aus männlicher Perspektive). Benachbart sind aber auch die Haltungen des erinnernden Eingedenkens (vgl. MF 34,3-18) oder des erinnernden Sehnens, meist verbunden mit einem trûren […], / des ich mich niht gemâzen kan ( MF 35,22f.), bei denen deutlicher auch die männliche Perspektive einbezogen wird. Aufgespannt ist jeweils ein Distanzraum, der das Begehren durchaus einschließt, zugleich jedoch von weit mehr erzählt: von Kommen oder Nicht-Kommen des oder der Geliebten, von einer Begegnung, die auch ausbleiben könnte, damit von einer noch nicht bestätigten Erwähltheit oder Nicht-Erwähltheit. Diese Ungewissheit schmerzt nicht nur wegen des ungestillten Begehrens, schmerzt somit nicht nur konkret und auf eine definierte Ursache bezogen, sondern zeigt die Liebenden in einem grundsätzlichen, einem habituellen Status der Verletzlichkeit. Diese Verletzlichkeit, die die einzelne konkrete Versehrtheit nicht ausschließt, sondern sie einbegreift, ist Preis und Signum des höfischen Minnecodex und damit des Gewinns, sich im höfischen Modus vom Minnezwang von außen gelöst zu haben, 41 Minne vielmehr als Resultat einer gegenseitigen freien personalen Entscheidung zu imaginieren. Denn diese Freiheit schließt das Risiko der personalen Absage mit ein, eine Absage, die, indem sie physisch und psychisch ansetzt, doppelt, ja allumfassend verletzen könnte. 42 Minne wird damit zu einem Konzept, das nicht mehr nur oder vorrangig körperlich inszenierte Verletzung und Überwältigung im Akt des Verliebens imaginiert und diskutiert, sondern darüber hinaus eine grundsätzliche Verletzlichkeit in den Blick rückt, die den einzelnen neu und anders definiert - ihn auf sich zurückwirft - und das Spektrum der Möglichkeiten, Versehrtheit zu denken, maßgeblich erweitert. 43 Oder anders menegem herzen liep. / mir enkome mîn holder geselle, ine hân der sumerwunne niet.’ Vgl. zur Strophe und ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung im Rahmen von Minne, Verletzbarkeit und Identität: Annette Gerok-Reiter, „Ästhetik der Polyphonie. Der frühe deutschsprachige Minnesang als Austragungsort kultureller Diversität“, in: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext , hg. von Ingrid Kasten und Laura Auteri, Berlin/ Boston 2017, S. 29-47, hier insbesondere S. 38-42. 41 Zu Recht weist Schnell (wie Anm. 16) in seinem Kapitel „Die sogenannte Frühhöfische Minne“, S. 225-240, eine Trennung von frühhöfischer Minne, verstanden als „Liebe von außen“, und höfischer Minne, verstanden als „Liebe von innen kommend“, im Sinn einer zeitlich strikten Abfolge entschieden zurück (S. 239f.). 42 Hier ließe sich an Scarrys These von der Objektlosigkeit des Schmerzes anknüpfen (siehe Anm. 13), die wiederum zur Auffassung des Minneschmerzes als Melancholie vermittelt: vgl. Seeber und Stock (wie Anm. 13), S. 17; Haferlach (wie Anm. 14), S. 121. Der damit „einhergehende Widerstand“ kann jedoch in der Gegenbewegung auch zu einem gesteigerten „Selbstentwurf “ führen: Seeber und Stock, S. 15. 43 Weitere interessante Anschlussstellen an die moderne Schmerzforschung ergeben sich von hier aus über Scarry hinaus. So betont David Le Breton, Schmerz. Eine Kulturgeschichte , übersetzt von Maria Muhle, Timo Obergöker und Sabine Schulz, Zürich/ Berlin 2003, dass der ‘totale’ Schmerz, der gegenüber dem ‘akuten’ und ‘chronischen’ Schmerz abzugrenzen sei, als Äußerung der Gesamtpersönlichkeit im Zusammenspiel von Körper und Seele zu verstehen ist und daher „innere Kräfte, von denen er [der Mensch] nichts ahnte“, enthülle (S. 251f.). Ebenso Borgards (wie Anm. 15): „Das Leben, seine Erregung, deren Hemmung und der Schmerz bilden eine unzertrennliche Einheit“ (S. 129); ausgegangen wird infolgedessen Versehrtheit 237 formuliert: (Leidvolle) Minneerfahrung wird über den Aspekt grundsätzlicher Verletzlichkeit zum Ausdruck einer personal konturierten Identitätserfahrung. Das ist, so könnte man sagen, der entscheidende kulturhistorische Beitrag des frühen Minnesangs innerhalb der Minnedebatte. 44 III Hoher Sang - Wâfenâ Welche Verletzungssemantik zeigt vor dieser Folie der Liedtypus des Ich-Liedes der Hohen Minne? Die Antworten sollen paradigmatisch am Beispiel: Friedrich von Hausen, Wâfenâ, wie hat mich minne gelâzen ( MF 52,37) entwickelt werden: I Wâfenâ, wie hat mich minne gelâzen! diu mich betwanc, daz ich lie mîn gemüete an solhen wân, der mich wol mac verwâzen, ez ensî daz ich genieze ir güete, Von der ich bin alsô dicke âne sin. mich dûhte ein gewin, und wolte diu guote wizzen die nôt, diu wont in mînem muote. II Wâfenâ, waz habe ich getân sô ze unêren, daz mir diu guote ir gruozes niht engunde? sus kan si mir wol daz herze verkêren. daz ich in der werlte bezzer wîp iender vunde, Seht, dêst mîn wân. dâ vür sô wil ichz hân, und wil dienen <…> mit triuwen der guoten, diu mich dâ bliuwet vil sêre âne ruoten. III Waz mac daz sîn, daz diu welt heizet minne, vom Schmerz nicht als „Gegenbegriff, sondern als Grundgefüge des Lebens“ (S. 84). Poesie übernehme auf dieser Basis die Aufgabe einer „nicht begrenzenden, sondern totalisierenden Verhandlung des Schmerzes“ (ebd.). „Vitalität, Leben und Schmerz“ werden in diesem Ansatz enggeführt: vgl. die Rezension von Sandra Poppe, „Ansätze zu einer Kulturgeschichte des Schmerzes“, in: KulturPoetik 9.1 (2009), S. 137-146, hier S. 143. Unterschiede zu den Artikulationen des frühen Minnesangs bestehen jedoch sicherlich auf der Ebene der ‘Temperierung’: So geht es bei den Artikulationen der grundsätzlichen Verletzlichkeit im frühen Minnesang gerade nicht um das „Unüberhörbare, das Unübersehbare“ des Schmerzes oder gar des Schmerzenschreis, verstanden als „Phänomen einer radikalisierten Erhabenheit“ (Hermann [wie Anm. 9], S. 11). Die Artikulation der Verletzlichkeit in den Liedern des 12. Jahrhunderts verläuft eher ‘leise’ und indirekt. Gleichwohl steht sie wirkmächtig chauvinistischen Erfolgskonzepten und -rezepten gegenüber, wie sie sich - je nach Lesart - beim Kürenberger, MF 10,17, finden: Wîp unde vederspil diu werdent lîhte zam. / swer sî ze rehte lucket, sô suochent sî den man. / als warb ein schoene ritter umbe eine vrouwen guot. / als ich dar an gedenke, sô stêt wol hôhe mîn muot. Vgl. dazu Gerok-Reiter (wie Anm. 40), S. 35-37. 44 Dass die „physiotheologische Wende“, so Poppe (wie Anm. 43), S. 142, die für die Positivierung des Schmerzes in erheblichem Ausmaß mitverantwortlich sein dürfte, bereits in althochdeutscher Zeit ansetzt und wesentliche Transformationen in mittelhochdeutscher Zeit erfährt, bleibt dabei in der Regel in der Moderneforschung ungesagt bzw. im produktiven Rekurs ungenutzt. Siehe dazu: Karl F. Morrison, „Framing the Subject: Humanity and the Wounds of Love“, in: Studies on Medieval Empathies , hg. von dems. und Rudolph M. Bell, Turnhout 2013, S. 1-58. 238 Annette Gerok-Reiter und ez mir tuot sô wê ze aller stunde und ez mir nimet sô vil mîner sinne? ich wânde niht, daz ez iemen enpfunde. Getorste ich es jehen, daz ich ez hête gesehen, dâ von mir ist geschehen alsô vil herzesêre, sô wolt ich dar an gelouben iemer mêre. IV Minne, got müeze mich an dir rechen! wie vil dû mînem herzen der vröiden wendest! und möhte ich dir dîn krumbez ouge ûz gestechen, des het ich reht, wan du vil lützel endest An mir sölhe nôt, sô mir dîn lîp gebôt. und waerest du tôt, sô dûhte ich mich rîche. sus muoz ich von dir leben betwungenlîche. In dem Lied finden sich die für den frühen Minnesang bereits herausgearbeiteten Leid- und Verletzungselemente. Die Leidthematik dominiert: nôt (I,7 und IV,5), kein gruoz (II,2), Verlust der vröiden (IV,2) bieten die maßgeblichen Linien. Der Schmerzensaufruf wê erscheint modifiziert im zweifachen Aufruf: Wâfenâ (I,1; II,1). Das Sprecher-Ich sieht sich unmissverständlich geschlagen und verletzt ( diu mich dâ bliuwet vil sêre âne ruoten , II,7). Minne, so heißt es weiter, tuot sô wê ze aller stunde (III,2), sie führe zu herzesêre (III,6). Das Sprecher-Ich sieht sich betwungen (I,2 und IV,7), sein Herz ist verkêre[t] (II,3), dem wân (I,3) ausgesetzt, durch die Dame alsô dicke âne sin (I,5, auch III,3). Der personifizierten Minne wünscht es den Tod: und waerest du tôt, sô dûhte ich mich rîche (IV,6). Gewaltaggression nicht gegen die Dame oder die huote , aber gegen die personifizierte Minne macht sich Luft: und möhte ich dir dîn krumbez ouge ûz gestechen, / des het ich reht (IV,3f.). Die Motive ähneln weitgehend denjenigen im frühen Minnesang, dennoch erscheint dreierlei deutlich verändert gegenüber den bisherigen Beispielen: 1. Zusammenführung der Motive: Im frühen Minnesang finden sich die einzelnen Semantiken nur verstreut, gehäuft bei Dietmar, aber keineswegs zusammengebunden in einem Lied. Das heißt, was der frühe Minnesang punktuell an disparaten Verletzungen aufruft, sporadisch exploriert, wird bei Friedrich von Hausen in einem einzigen Lied zusammengeführt bzw. wird als Variationen über ein Thema entfaltet. 2. Radikalisierung der Aspekte: Auffallend ist dabei auch, dass die einzelnen verletzenden Elemente in ihrer Radikalität zunehmen. Hierzu trägt zum einen die Doppelung der Motive bei: Zweimal ist vom betwungenen herzen , zweimal von der nôt , zweimal vom Verlust der Sinne, dreimal von Verletzung und Schmerz die Rede. Verdeutlichend wirkt aber auch die extremere Umsetzung der einzelnen Motive: so im konkreten Bild des Geschlagenwerdens in Str. II, so in der Mutation des Schmerzensaufrufs wê zum - wiederum zweifachen - Aufruf wâfenâ , ein Aufruf, der Schmerz, Erschrecken und Kampfansage zugleich bedeutet. Damit wird in Strophe I und II denn auch vorbereitet, dass die Verletzung nicht nur einseitig geduldet wird, sondern sich diese Art Minne auch in Gegenaggression wenden kann, die vor nichts zurückschreckt: Minne als erbitterter Kampf, der nicht nur Verletzungen zufügt, sondern auf Leben und Tod geführt wird. Versehrtheit 239 3. Diskursivierung des Themas: Erst in der Zusammenführung und Verdeutlichung wird die Leid- und Verletzungsthematik damit zu einem expliziten Thema, ja Konzept. Dieser konzeptuelle Anspruch wird sichtbar etwa in der strukturellen Rahmung durch das Motiv des betwungenen herzens (I,2 und IV,7), das nicht nur das Leitthema angibt, sondern auch in der Rahmung die Ausweglosigkeit des Liebenden formal umsetzt. Deutlich wird dies weiter im genau gestuften Aufbau des Liedes, das von einer zunächst personalen Beschreibung des erfahrenen Leids und der erfahrenen Verletzungen (Str. I und II), über einen verallgemeinernden Zugriff, der die welt zum Abgleich der eigenen Erfahrungen ins Spiel bringt (III,1), schließlich zur direkt angesprochenen personifizierten Minne führt, deren Gegenüber es erlaubt, nun den Aggressionen freien Lauf zu lassen. Insbesondere in der Diskursivierung in Str. III zeichnet sich dabei ab, dass das wê tuon nun nicht nur als Schmerz und Verletzung punktuell benannt, sondern dieses personale wê tuon als eigentlicher Inhalt des allgemeinen Begriffs der Minne und damit auch als entscheidende Minnedefinition reflektiert wird: Waz mac daz sîn, daz diu welt heizet minne, / und ez mir tuot sô wê ze aller stunde (III,1f.). 45 Verhandelt wird damit ein Konzept, das minne grundsätzlich, qua definitionem , mit Verletzung, ja mehr noch mit Agonalität und Gewalt verbindet. Walther wird sich, argumentativ auf Augenhöhe, gegen eben dieses Konzept wehren: Minne ist minne, tuot si wol (L 69,5). Was sich bei Friedrich von Hausen abzeichnet, ist kein Einzelfall. Cornelia Herberichs hat in einem dichten Aufsatz ausführlich Gewaltinszenierungen im Minnesang der hochhöfischen und späthöfischen Zeit, insbesondere in Liedern der Hohen Minne, in ihren verschiedenen Formen vorgestellt und analysiert. Dabei hat sie plausibel machen können, wie „intrikat sich die Beschreibungssprache des Minnesangs mit jener der Gewalt verstricken kann“. 46 So sei eine „auffällig häufige und zumeist kunst- und anspruchsvoll verdichtete Präsenz der Gewalt zu konstatieren“. 47 Im Vergleich mit den zuvor vorgestellten Verletzungssemantiken wird die „verdichtete Präsenz der Gewalt“ noch deutlicher. Denn fokussiert wird im Ich-Lied der Hohen Minne nicht nur oder nicht vorrangig die Verletzung durch die ‘Entzündung’ körperlichen Begehrens, auch nicht oder nicht nur die grundsätzliche Verletzlichkeit des Liebenden. Die Verletzungssemantik verschiebt sich vielmehr nochmals gravierend. Zum einen: Das Begehren wird zwar weiter im Topos der Verletzung gefasst. Doch die Verletzung durch nicht erfülltes Begehren wird mit einer zweiten Verletzung konfrontiert, derjenigen der Dame, die - so will es das Minneparadox, wie Reinmar es entwirft ( MF 165,10) - selbst erniedrigt würde, würde es zur Erfüllung kommen. Die darin sich abzeichnende Rücksichtnahme auf die Verletzung der Dame doppelt den Verletzungsfokus und hierarchisiert ihn zu ihren Gunsten. Dies mag das erstaunliche Phänomen erklären, dass der in anderen Kontexten geradezu allgegenwärtige Topos des Liebesbrandes, der in der Regel aus männlicher Perspektive entwickelt wird, nicht nur im frühen 45 Mit der diskursiven Konzeptualisierung, die Dietmars Sentenz liep âne leit mac niht sîn ( MF 39,24) einleitet, nicht aber selbst leistet, beginnt wohl auch erst die Korrelation von Leidbzw. Schmerzerfahrung mit dem Thema der Unsagbarkeit, eine Korrelation, die den hochhöfischen Sang vielfach durchzieht. Vgl. paradigmatisch zur Relation von Schmerz/ Leid und Unsagbarkeit für die ältere Literatur Christina Lechtermann, „Funktionen des Unsagbarkeitstopos bei der Darstellung von Schmerz“, in: Schmerz in der Literatur des Mittelalters (wie Anm. 13), S. 85-104, für die neuere Literatur von Koppenfels (wie Anm. 5). 46 Herberichs (wie Anm. 14), S. 351. 47 Ebd., S. 362. 240 Annette Gerok-Reiter Minnesang fehlt, sondern auch im hochhöfischen Minnesang mit seiner gesteigerten Dramatik nicht prominent aufgegriffen wird 48 - nicht bis zu den ‘Blümern’. 49 Zum anderen kommt es zu einer Pluralisierung der Gegner und damit auch auf diesem Weg zu einer Intensivierung des agonalen Aspekts. Zwar treten ein verletzender Amor oder eine siegreiche Venus im Ich- Lied der hohen Minne nur vereinzelt auf. Doch bleibt das Bild des Aggressors von außen in Form der personifizierten Minne oder Pfeile versendenden Dame vielfach bestehen 50 - auch bei Friedrich von Hausen. Zusätzlich verläuft das Kampffeld nun aber auch immer wieder aggressiv zwischen dem Werber und der Dame, der guoten, / diu mich dâ bliuwet vil sêre âne ruoten ( MF 52,37; II,7); die sogar, etwa bei Morungen, zur toeterinne ( MF 147,7) werden kann - ein Kampffeld, das bekanntlich ebensolche verletzenden Gegenreaktionen provoziert (vgl. Walther L 72,31). Und schließlich kämpft der Liebende nun auch und vor allem gegen sich selbst. Der komplexen Vielfalt der Gegner mögen die ausgefeilten Tropen von Kampf und Krieg (Zweikampf, Gerichtskampf etc.) entsprechen, die der hochhöfische Minnesang, wie Herberichs betont, ausprägt. 51 Drittens wird das Changieren zwischen physischer und psychischer Verletzung vielfach aufgelöst, geht es explizit um eine psychische Versehrung, wie das Lied Friedrichs von Hausen unmissverständlich formuliert: Die Verletzung geschieht âne ruoten (II,7). Dass zur Beschreibung der psychischen Verletzung gleichwohl auf eine Lexik und Semantik zurückgegriffen wird, die dem physischen Bereich angehört, verweist darauf, dass die psychische Verletzung ebenso ernst genommen sein will wie die physische. Und schließlich: Heilung ist in diesem System nicht mehr möglich, allenfalls in der Transformation der heillos verletzenden Situation in den Gesang und im Gesang. IV Fazit Ich fasse thesenartig zusammen. Eine größere Studie müsste die bisherigen Ergebnisse auf breiterer Basis evaluieren. 1. Minne und Verletzung stehen phänomenologisch wie semiotisch in engster Relation. Nicht die süeze der Minne, sondern die Art der Verletzung konturiert, so scheint es, die Spezifik der jeweiligen Minne. Selbstdisziplinierung als Zurückdrängung von Gewalt und Übergriffigkeit bilden so nur eine Seite des vielschichtigen Phänomens höfischer Minne. Keineswegs können sie, wie Herberichs zu Recht betont, „als das per se ‘Ausgeschlossene’ bezeichnet werden“. 52 Vielmehr bestätigt sich vom frühen Minnesang her, was Beate Kellner 48 Ich danke Lucas Eigel, der mich auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht hat. 49 Krankheits- und Brandmetaphorik kombiniert etwa Frauenlob eindringlich im Lied Mir ist ein wip (XIV,26-30), um zu verdeutlichen, wie der smerze der Minne wirkt: Der hat mir brende / so behende / an mins herzen pin gebrant, / des hat ein siuche sich erhaben: / swaz ich von brenden ie bevant, / daz ist an sender arebeit / gein solchen brenden wol begraben (Frauenlob [wie Anm. 26], Lied 6, I,11-17). 50 Herberichs (wie Anm. 14), S. 343 und ebd., Anm. 10. 51 Vgl. ebd., insbesondere S. 348-358. Herberichs führt die reiche Kampf- und Kriegsmetaphorik auf die „unmittelbare Erfahrungswelt der Sänger“ zurück (S. 349) in Anlehnung an Kohler (Anm. 14), S. 2 und 180. Dass man sich dabei jedoch auch beständig auf ganz anderer Ebene bewegt, nämlich in campum verborum , zeigt die Auseinandersetzung von Magister und Nonne um die Zeilen: du bist mîn, ich bin dîn (vgl. Gerok-Reiter [wie Anm. 37], S. 33f.), Albrecht von Johansdorf ( MF 93,12) oder die sog. Walther-Reinmar-Fehde. 52 Herberichs (wie Anm. 14), S. 363. Versehrtheit 241 für Morungen und Herberichs für den hochhöfischen und späthöfischen Sang konstatiert haben: Die Varianten der Verletzungsdarstellungen eröffnen der Minnesangforschung „Wege ins Zentrum der Minnediskurse“. 53 2. Über das Verletzungsmotiv wird in den literarischen Zeugnissen grundsätzlich die außerordentliche Intensität der Liebeserfahrung codiert, die - so die Grundbedeutung der dabei verwendeten Topoi - vor allem als übermächtige körperliche Affizienz verhandelt wird. Liebe erscheint in dieser Codierung durchgehend âne mâze. 3. An den Verschiebungen innerhalb der Verletzungssemantik lassen sich im Detail dann jedoch durchaus Unterschiede erkennen, die auf historische Differenzierungen von Minnemodellen und ihren anthropologischen Implikaten verweisen. Fasst das passio -Modell, wie es immer wieder im mittelhochdeutschen Roman aufgegriffen wird, Liebe als verletzende physische Gewalt - vermittelt insbesondere durch den Brandtopos -, so hält der frühe Minnesang physische und psychische Verletzungen von vornherein in der Schwebe. Dazu gehört auch, dass er Vorstellungen akuter Verletzung durch ein haltloses Begehren in Vorstellungen einer habituellen Verletzlichkeit transferiert, ein Fokussierung, die zur Auffassung von Minne als Affekt und Trieb eine Alternative anbietet: Minne wird zur vielschichtigen Emotion, die lîp wie muot umfasst. 54 Das Ich-Lied der Hohen Minne arbeitet mit fast allen Ausdrucksregistern, verstärkt jedoch auffallend Gewaltvorstellungen des Agonalen. Es deckt damit die prekäre Rückseite des Höfischen in einer ‘Verletzungsvielfalt’ auf, deren aporetische Wunden nurmehr im Gesang zu heilen sind. 53 Kellner (wie Anm. 14), S. 37; Herberichs (wie Anm. 14), S. 362f. 54 Vgl. Lahr (wie Anm. 28), Kap. 6. leitlîche blicke 243 leitlîche blicke Sehen und Liebeskrankheit bei Heinrich von Morungen Jan Stellmann ‘Sehen’ und ‘Liebeskrankheit’ sind zentrale Kategorien des Minnesangs um 1200. Für beide gelten die Lieder Heinrichs von Morungen als herausragende Beispiele. Vielzitiert ist Ingrid Kastens Diktum einer „Poetik des schouwens “, die den „Anblick der Frauenschönheit und ihre[ ] Wirkung auf den Mann“ als zentrale Elemente in Morungens Lyrik identifiziert. 1 Ebenso unstrittig dürfte sein, dass unter allen „Lyrikern vor Walther von der Vogelweide […] Morungen derjenige [ist], in dessen Liedern der Bildbereich der Liebeskrankheit den größten Umfang einnimmt“. 2 Allerdings ist der Zusammenhang beider Kategorien bei Morungen noch nicht eingehend untersucht worden, 3 was hier unter Einbezug des medizinischen Konzepts der Liebeskrankheit, wie es Constantinus Africanus durch Übersetzungen aus dem Arabischen dem 1 Ingrid Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts , Heidelberg 1986 (GRM Beihefte 5), S. 307. Im Paradigma des Visuellen lassen sich zentrale Forschungsbeiträge zu Morungen zusammenfassen, vgl. etwa Christopher Young, „Vision and Discourse in the Poems of Heinrich von Morungen“, in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag , hg. von Mark Chinca u. a., Tübingen 2000, S. 29-51; Christoph Leuchter, Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen , Frankfurt a. M. 2003 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 3), S. 125-165; Christoph Huber, „Ekphrasis-Aspekte im Minnesang. Zur Poetik der Visualisierung bei Heinrich von Morungen mit Blick auf die Carmina Burana und Walther von der Vogelweide“, in: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst , hg. von Martin Baisch und Beatrice Trînca, Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 83-104; Hartmut Bleumer, „Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen“, in: ZfdPh 129 (2010), S. 321-345. Paradigmatisch (auch) für das Paradigma des Visuellen ist das Narzisslied . Vgl. jüngst Das Narzisslied Heinrichs von Morungen. Zur mittelalterlichen Liebeslyrik und ihrer philologischen Erschließung , hg. von Manfred Kern, Cyril Edwards und Christoph Huber unter Mitarbeit von Elisabeth Skardarasy und Barbara Strübler, Heidelberg 2015 (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 4). 2 Werner Hoffmann, „Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik“, in: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters , hg. von Theo Stemmler, Mannheim 1990 (Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters 2), S. 221-257, hier S. 231. 3 Vgl. aber die thematisch einschlägige Studie von Beate Kellner, „Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen“, in: PBB 119 (1997), S. 33-66. Kellner interpretiert Morungens Lieder mithilfe der Kategorie der ‘Gewalt’, deren „Semantik“ sie erstens ‘anthropologisch’ „im Kontext von Körper- und Wahrnehmungskonzepten“ und zweitens ‘pragmatisch’ „im Hinblick auf die Konstitution der Sprecherrolle, besonders der Ich-Rolle“ (ebd., S. 37) untersucht. Im ersten Schritt thematisiert sie den Zusammenhang von Sehen und gewaltsamer Verletzung (bes. ebd., S. 37-41), erwähnt allerdings die mittelalterliche Konzeption der Liebeskrankheit, auf die es mir ankommt, nicht. Indem sie „exkursartig“ (ebd., S. 42) auf das mittelalterliche Wissen von Körperkonzepten und Theorien optischer Wahrnehmung eingeht (bes. ebd., S. 41-44), gibt sie gleichwohl eine entscheidende Anregung, die hier weiterverfolgt werden soll. 244 Jan Stellmann lateinischen Westen vermittelt hat, geleistet werden soll. Morungens Lieder zeigen eindrücklich, dass gerade die ubiquitären Blickwechsel zwischen Ich und Dame vielfältige Verletzungen - bis hin zum drohenden Tod des Ichs - verursachen (I). Diese Verletzungen lassen sich als Zeichen der Liebeskrankheit interpretieren und mit einigen Symptomen des medizinischen Krankheitsbildes amor hereos parallelisieren (II). Um aber die spezifische Verbindung von Sehen und Krankheit medizinisch zu erfassen, ist die Liebeskrankheit als umfassendes Konzept zu begreifen, in dem die Versehrungen der Liebe mit einer pneumatischen Wahrnehmungstheorie verbunden sind (III). 4 Ein knapper Ausblick versucht abschließend zu zeigen, dass der Zusammenhang von Sehen und Liebeskrankheit zudem eine poetologische Dimension besitzt. Denn Morungens Ich singt nicht, obwohl, sondern weil es verletzt ist (IV). I Das Sehen verursacht die Liebe. 5 Eine spätestens seit Ovid topische Metapher dafür ist das ‘Entzündetwerden’. Wenn es in der dritten Strophe des Elbenlieds heißt: Mich enzündet ir vil liehter ougen schîn, / same daz viur den durren zunder tuot ( MF 126,24f.), 6 lässt sich daraus schließen, dass auch für Morungen die Liebe durch das Sehen der Dame entsteht. Unter dieser Voraussetzung erscheint es als folgerichtig, dass das Ich vröude [‘Freude, Liebesglück’] empfindet, wenn es die Dame ansieht: 7 swenne ich sî an sihe, sô lachet ir daz herze mîn ( MF 140,17). 8 Die Normalität (und auch Normativität) dieses Zusammenhangs fasst Morungen in einem Konditionalgefüge, das nahelegt, auf das Sehen der Dame folge notwendig die vröude . Zuweilen kann allerdings der Versuch, den Mechanismus aufrecht zu erhalten, sein Misslingen herbeiführen, wofür das Narzisslied einstehen mag: alsô dâhte ich iemer vrô ze sîne, / dô ich gesach die lieben vrouwen mîne ( MF 145,6f.). Dass aber der Mechanismus dennoch Gültigkeit beanspruchen darf, belegen diejenigen Stellen, die einen Übergang aus einem leid- oder 4 Vgl. Giorgio Agamben, Stanzen. Wort und Phantasma in der abendländischen Kultur , übersetzt von Eva Zwischenbrugger, Zürich 2012 [italienisch zuerst Turin 1977 und 1993; deutsch zuerst Berlin 2005]. Agambens Rekonstruktion einer vormodernen ‘Pneumo-Phantasmologia’, ohne die mittelalterliche Liebeslyrik nicht zu verstehen sei, hat vor allem Hans Jürgen Scheuer für die germanistische Mediävistik fruchtbar gemacht. Von den zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen vgl. nur Hans Jürgen Scheuer, „Die Wahrnehmung innerer Bilder im ‘Carmen Buranum’ 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik“, in: Das Mittelalter 8 (2003), S. 121-136; Archäologie der Phantasie. Vom ‘Imaginationsraum Südtirol’ zur longue durée einer ‘Kultur der Phantasmen’ und ihrer Wiederkehr in der Kunst der Gegenwart , hg. von Elmar Locher und Hans Jürgen Scheuer, Innsbruck u. a. 2012 (essay & poesie 26). 5 Vgl. Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur , Bern/ München 1985, S. 241-274. 6 Ausführlicher entfaltet MF 139,3-10 diesen Zusammenhang. Die Lieder werden zitiert nach: Des Minnesangs Frühling [ MF ], unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte , 38., erneut revidierte Auflage […], Stuttgart 1988. Für Nachwort und Kommentar sei auf die Einzelausgabe Heinrich von Morungen, Lieder. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren, Stuttgart 3 2003 (RUB 9797), verwiesen. 7 Morungen lässt (allerdings seltener) das Ich auch vröude empfinden, wenn es etwas von der Dame hört. Siehe MF 126,1; 139,19-25; 141,32-36. 8 Weitere Beispiele: MF 130,37f.; 131,15f.; 132,1f.; 140,36-38; 141,10-14; 142,19-25 (Sehen im letzten Fall metaphorisch bezogen auf innere Werte). Überindividuell-allgemeingültig formuliert die als unecht geltende Zusatzstrophe zu Lied XII: Von ir schoene kumt, swaz iemen vröiden hât ( MF 132,27). leitlîche blicke 245 sorgenvollen in einen fröhliche(re)n Zustand ans Sehen der Dame knüpfen, 9 so z. B. die erste Strophe von Lied XXXI ( MF 144,17-23): Hât man mich gesehen in sorgen, des ensol niht mêr ergân. wol vröiwe ich mich alle morgen, 144,20 daz ich die vil lieben hân Gesehen in ganzen vröiden gar. nu vliuch von mir hin, langez trûren! ich bin aber gesunt ein jâr. Einmaliges Sehen der Dame entlässt das Ich aus seinen sorgen und soll das trûren vertreiben; mehr noch: Es garantiere ein Jahr lang tägliche vröide 10 und damit zugleich ‘Gesundheit’. Die behauptete außergewöhnliche Wirksamkeit dieser ‘Therapie’ macht auch verständlich, warum das Ich an anderer Stelle ein exklusives ‘Anschauungsrecht’ beansprucht ( MF 131,33-38). Grundsätzlich stellt allerdings vröude , die durch den Blick des Mannes auf die Dame generiert wird, nur die eine Variante dar. Denn allgemein lassen sich in Morungens Œuvre zwei dominante Blickrichtungen unterscheiden: Der Blick geht entweder vom männlichen Ich zur Dame oder umgekehrt von der Dame zum Ich. 11 Schon die eingangs zitierten Verse aus dem Elbenlied bedeuten eigentlich, dass der Blick der Dame zum Verlieben führt: Mich enzündet ir vil liehter ougen schîn ( MF 126,24). Entsprechend könnte vröude auch dann entstehen, wenn die Dame das Ich ansieht. Von dieser Möglichkeit macht Morungen jedoch keinen (expliziten) Gebrauch. Stattdessen radikalisiert er den Grundmechanismus, wenn das Ich die Dame auffordert, es anzusehen, weil es sonst zu sterben drohe: Vrowe, wilt du mich genern, / sô sich mich ein vil lützel an ( MF 137,10f.). 12 Nur der Blick der Dame kann das Leben retten. Dieser ‘therapeutischen’ Funktion entspricht, dass das Ich in der umgekehrten Blickrichtung durch das Ansehen der Dame gesunden kann. Das verdoppelte Sehen der Dame - sie sehen und von ihr gesehen werden - erscheint so zunächst fast uneingeschränkt positiv. 13 Aus diesem deduktiven Mechanismus, dass aus dem Sehen der Dame vröude bzw. Lebenserhaltung resultiere, ergibt sich ex negativo , dass das Nicht-Sehen der Dame zum Gegenteil führen muss: Wenn, erstens, das Ich seine Dame nicht (mehr) sieht, verfällt es ins trûren ; wenn, zweitens, die Dame das Ich nicht, wie gefordert, ansieht, verursacht sie, dass seine lebensbedrohliche Liebeskrankheit dauerhaft wird. Diese zweite Möglichkeit hat Morungen augenscheinlich nicht ausgestaltet. Auch die erste Möglichkeit findet sich nur selten. Gemäß der zu Anfang skizzierten Metaphorik der Entflammung 9 Siehe auch MF 129,14-24. 10 Der Bezug des Adverbiale in ganzen vröiden ist uneindeutig: Es kann den Zustand der Dame bezeichnen oder durch Redundanz die Aussage des Ichs ( wol vröiwe ich mich ) bekräftigen. In Lied XXIV erscheint die Formulierung in sô ganzen vröiden ( MF 140,21) eindeutig bezogen auf das männliche Ich. 11 Vgl. Regina Töpfer, „Sehen und gesehen werden. Die Blickregie im Minnesang Heinrichs von Morungen“, in: Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie , hg. von Manfred Kern, Heidelberg 2014 (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 53-79, hier S. 57-65. Das Publikum, das oft ‘mitsieht’, klammere ich aus. 12 Siehe auch MF 134,25-28 und 137,17f. Vgl. dazu Christoph Huber, „Liebestod im Minnesang Heinrichs von Morungen“, in: Filologia Germanica 3 (2011), S. 135-159, hier S. 140. 13 Das Narzisslied führt paradigmatisch die negativen Folgen eines vröude -induzierten Begehrens vor. Übermäßige vröude wie in MF 126,5 und 126,13-15 ist mindestens ambivalent. 246 Jan Stellmann kühlt sich die Liebe ab und lässt so die vröude in Schmerz und Leid umschlagen, wenn das Ich die Dame nicht (mehr) sieht: und ir vremeden krenket mir daz herze mîn / same daz wazzer die vil heize gluot ( MF 126,26f.). Abgesehen von diesen direkt auf den bereits zitierten Beginn der dritten Strophe des Elbenlieds folgenden Versen nutzt Morungen auch die erste Möglichkeit, Nicht-sehen und Leid zu koppeln, so gut wie nicht. 14 Umso häufiger begegnen stattdessen leitlîche blicke , ein schmerzbringendes, verwundendes Sehen. 15 Lied IX macht die Dame zur gefährlichen rouberîn , 16 die alle Länder heimsuchen will und die sehenden Männer gefangen nimmt. Dabei fungieren ihre Tugendhaftigkeit und Schönheit als schmerzbringende Waffen ( MF 130,15-18): 130,15 Daz machent alle ir tugende und ir schoene, die mengem man tuont wê. der sî an siht, der muoz ir gevangen sîn und in sorgen leben iemer mê. ‘Wer sie ansieht, muss ihr Gefangener sein und für immer in Furcht leben’ - der apodiktische Ton lässt wieder an einen Mechanismus denken, der sich zwangsläufig vollzieht: Aufs Sehen folgen Schmerz und Gefangenschaft. In der zweiten Strophe berichtet das Ich ausführlicher von seiner eigenen Erfahrung mit der rouberîn ( MF 130,20-30): 130,20 In den dingen ich ir dienstman und ir eigen was dô, dô ich sî dur triuwe und dur guot an sach, dô kam si mit ir minnen an 25 und vienc mich alsô, dô si mich wol gruozte und wider mich sô sprach. Des bin ich an vröiden siech und an herzen sêre wunt; und ir ougen klâr diu hânt mich beroubet gar 30 und ir rôsevarwer rôter munt. Sein Schauen hat alle weiteren Schritte verursacht: Der Blick des Ichs führt zum ‘Überfall’ durch die minne (zu) der Dame - und dann zu Schmerz und Verwundung. Beides wird in medizinischer Terminologie begriffen; das Ich leidet an einer metaphorischen ‘Liebeskrankheit’, die Geist ( an vröiden siech ) und Körper ( an herzen sêre wunt ) betrifft. Der Schluss des Liedes nimmt nochmals die Metaphorik von Raub und Liebeskrieg auf. ‘Beraubt’ haben das Ich die ‘glänzenden Augen’ und der ‘rosenfarbene rote Mund’ der Dame, also ihre schoene , die in der ersten Strophe als Kriegswaffe ausgewiesen worden war. Mit beinahe derselben medizinischen Begrifflichkeit wie Lied IX beschreibt das einstrophige Lied XIX, dessen erste Verse oben den rettenden Blick der Dame exemplifiziert haben ( MF 137,10f.), die Folgen des männlichen Blicks auf die Dame ( MF 137,10-16): 14 Vgl. noch MF 129,22f.: ê was si verborgen. / dô muost ich sorgen. 15 Vgl. Hoffmann (wie Anm. 2), S. 231. 16 Vgl. Erika Kohler, Liebeskrieg. Zur Bildersprache der höfischen Dichtung des Mittelalters , Stuttgart/ Berlin 1935 (Tübinger germanistische Arbeiten 21), zu Morungen S. 57-67. leitlîche blicke 247 137,10 Vrowe, wilt du mich genern, sô sich mich ein vil lützel an. ich enmac mich langer niht erwern, den lîp muoz ich verlorn hân. Ich bin siech, mîn herze ist wunt. 15 vrowe, daz hânt mir getân mîn ougen und dîn rôter munt. Als siech bezeichnet sich das Ich, sein Herz sei verwundet, verantwortlich dafür die eigenen Augen und der rote Mund der Dame. Hinausgehend über die Aussage in Lied IX, die entsprechend variiert wird, ist die ‘Liebeskrankheit’ in Lied XIX lebensbedrohlich. Eine andere Variation desselben Zusammenhangs bietet Lied XIV, in dem eine Verschwörung zwischen dem Herzen des Ichs, der Schönheit der Dame und der Minne den tôt der vröuden des Ichs bewirkt haben soll ( MF 134,6f.). Obwohl vom Blick des männlichen Ichs hier nicht die Rede ist, setzt doch das Sprechen über die Schönheit der Dame voraus, dass sie gesehen worden ist. Während die Schönheit der Dame in Lied XVI dem Ich den Verstand ( MF 135,21f.) raubt, zeichnet die erste Strophe von Lied XVII zunächst die blühende Schönheit der Dame mit Blumenmetaphern, um dann festzustellen: daz was der ougen wunne und des herzen tôt ( MF 136,8). Schließlich stellt Morungen in Lied XXV dem Publikum die geliebte Dame in ihrer Schönheit ausdrücklich vor Augen: Seht an ir ougen und merkent ir kinne / seht an ir kele wîz und prüevent ir munt ( MF 141,1f.). Die Hypotyposis 17 dient dazu, die Verwundung des Ichs zu plausibilisieren ( MF 141,3-7): Si ist âne lougen gestalt sam diu minne. mir wart von vrouwen so liebez nie kunt. 141,5 Jâ hât si mich verwunt sêre in den tôt. ich verliuse die sinne. genâde, ein küniginne, du tuo mich gesunt. Hier tritt die ganze Ambivalenz hervor, die aus dem Sehen der Schönheit der Dame folgt. Sie ist dem Ich das ‘Angenehmste’, beraubt es zugleich der Sinne und verwundet es tödlich. Entsprechend kann nur die verletzende Dame die Verwundung des Ichs heilen. In immer neuen Anläufen, bei denen sich die Begriffe immer wieder neu kombinieren - einmal folgt der tôt der Freuden, dann des Herzens, einmal ist die Freude siech , dann das Ich usw. -, variiert Morungen die leidvollen Konsequenzen, die das Sehen der schönen Dame für das männliche Ich hat. Aufs Ganze gesehen ergibt das eine unauflösliche, ja paradoxe Ambiguität der oppositiven Wirkungen der Freude und des Leids, die durch den männlichen Blick auf die Dame im Ich hervorgerufen werden. 18 Auch bei Umkehrung der Blickrichtung bleiben die Konsequenzen im Grunde unverändert. 19 Der Blick der Dame, zu dem sie vom Ich manches Mal aufgefordert wird, kann retten - er bewirkt jedoch an anderer Stelle Schmerz und Verwundung, ist genauso leitlîche wie sein Komplement vonseiten des Ichs. In Lied III führen die Blicke der Dame mittelbar zur Klage: 17 Vgl. dazu jetzt Christoph Huber, „Zur Bildlichkeit in Morungens Narzisslied“, in: Das Narzisslied (wie Anm. 1), S. 105-127, hier S. 108f. und 112f. 18 Vgl. Töpfer (wie Anm. 11), S. 58. 19 Vgl. Hoffmann (wie Anm. 2), S. 231f. 248 Jan Stellmann <Gênt> ir wol liehten ougen in daz herze mîn, / sô kumt mir diu nôt, daz ich muoz klagen ( MF 125,1f.). Ein Blick aus ihren Augen in sein Herz bringt nôt , und Not macht erfinderisch. 20 Zumindest kann hier - ich greife vor - der Zusammenhang von Sehen und Leid poetologisch verstanden werden: ohne den Blick der Dame keine Liebesqual, ohne Leid in der Liebe kein Lied von der Liebe. Motiviert mag diese poetologische Dimensionierung dadurch sein, dass die Dame mit ihrem Blick ins Herz des Ichs eindringt, was sie auch im abschließenden Beispiel für den verletzenden weiblichen Blick, in der ersten Strophe von Lied XXVI ( MF 141,15-25), tut: 141,15 Mich wundert harte, daz ir alse zarte kan lachen der munt. ir liehten ougen diu hânt âne lougen 20 mich senden verwunt. Diu brach alse tougen al in mîns herzen grunt. dâ wont diu guote vil sanfte gemuote. 25 des bin ich ungesunt. Dem freundlichen Lächeln der Dame steht die Verwundung des Ichs gegenüber, das sich schmerzlich sehnt. Verwundet haben es die strahlenden Augen der Dame, die - wohl als Blick - ins Herz des Ichs eingedrungen ist, wo sie jetzt wohnt. Daher ist das Ich krank ( ungesunt ). In der Rückschau zeigt sich, dass Morungen die leidvollen Folgen des Sehens vielfach wiederholt und variiert. Sieht das Ich die Dame, kann daraus entweder Freude oder Schmerz resultieren, und richten sich die Blicke der Dame (in der Aufforderung) auf das Ich, können sie Rettung oder (im Extremfall) Tod bedeuten. Dadurch ergeben sich komplementäre Möglichkeiten der Zusammenstellung. So verbindet etwa Lied XIX den ‘rettenden’ Blick der Dame mit dem leidvollen Blick des Ichs. Prozessual formuliert: Für Morungen beginnt das Leiden der Minne, wenn das Ich die Dame schaut oder die Dame das Ich ansieht; Linderung des Leidens schafft - similia similibus 21 - nur seine Ursache: die Wiederholung des Blicks. 20 Hinter dem Sprichwort steht die durchaus ernstgemeinte Beobachtung, dass nôt das (poetisch artikulierte) klagen motivieren, aber auch in schweigendes trûren münden kann, wenn das klagen (etwa von der Dame) untersagt wird. Schon Ferdinand Michel, Heinrich von Morungen und die Troubadours. Ein Beitrag zur Betrachtung des Verhältnisses zwischen deutschem und provenzalischem Minnesang , Straßburg/ London 1880 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 38), S. 88, wies darauf hin, dass trûren eine „stille Trauer“ bezeichnet, die dem klagen gerade entgegengesetzt ist. Programmatisch führt das MF 132,11-18 vor. Umgekehrt stellt Morungen immer wieder nôt und klage zusammen: MF 127,14f.; 133,15; 140,27f. Von der nôt nicht sprechen zu können ( MF 135,31f.), ist die Ausnahme; die Regel lautet: diz ist ein nôt, diu mich sanges betwinget ( MF 133,27). Vgl. auch Kellner (wie Anm. 3), S. 39. 21 Das weist auf Ovid, der die Krankheit heilen will, die er (mit der Ars amatoria ) selbst verursacht hat; vgl. P. Ovidius Naso, Remedia amoris. Heilmittel gegen die Liebe. Lateinisch/ Deutsch , übersetzt und hg. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2011 (RUB 18903), V. 43f. Den Grundsatz der Homöopathie zitiert dazu Hermann Funke, „Liebe als Krankheit in der griechischen und römischen Antike“, in: Liebe als Krankheit (wie Anm. 2), S. 11-30, hier S. 13-16. leitlîche blicke 249 II Die durch den Blick begonnene Liebe bringt Leid mit sich. Darüber, dass diese Einsicht nicht vom Minnesang und erst recht nicht von Morungen erfunden worden ist, besteht kein Zweifel. Umso fraglicher ist, woher genau der deutsche Minnesang um jene Einsicht, die er im Versuch, sie zu widerlegen, fortwährend aufs Neue bestätigt, weiß. Genauer: Woher nimmt Morungen die Liebeskrankheit? 22 Wenn ich im Folgenden mit dem medizinischen Konzept der Liebeskrankheit eine von der Forschung eher vernachlässigte Antwort vorschlage, dann bedarf dieser Vorschlag zum einen der Begründung und zum anderen der Einschränkung. Zunächst kann man auf die Frage nach dem ‘Woher’ der Liebeskrankheit verschiedene Antworten geben (und das ist in nuce Einschränkung und Begründung zugleich). Diese überschneiden sich zum Teil mit Antworten auf die übergeordnete Frage nach der Genese des deutschsprachigen Minnesangs. 23 So ließe sich erstens auf den Einfluss der Troubadourbzw. Trouvère-Dichtung hinweisen, 24 zweitens auf die Vorbildlichkeit der mittellateinischen Liebeslyrik. 25 Drittens können Anregungen aus dem geistlichen Bereich angenommen werden. 26 Viertens muss man festhalten, dass um 1200, d. h. zu der Zeit, als Morungen wirkte, 27 die Liebeskrankheit bereits ein Klischee war, das generisch zum Lied der Hohen Minne dazugehörte. 28 Fünftens könnte man sagen, Morungen sei, wie die höfische Literatur in der aetas Ovidiana überhaupt, von Ovid beeinflusst, 29 der in vielen Formen die krankmachenden Folgen der Liebe beschreibt. 30 Ovid ist das Stichwort für einen ernstzunehmenden Einwand gegen eine Verbindung literarischer Liebeskrankheit mit der medizinischen Theorie. Es erscheint auf den ersten Blick viel naheliegender, dass Morungen seine Darstellung der Liebeskrankheit aus der literarischen Tradition, mithin von Ovid, übernommen hat, als dass er sie aus dem eher esoterischen medizinischen Diskurs importiert hätte. 31 Allerdings beruht dieser Einwand auf der Annahme, dass die Liebeskrankheit bei Morungen nur eine einzige Vorlage haben kann. Das greift zu kurz. 22 Methodisch firmiert diese Art literaturwissenschaftlichen Fragens als ‘Literatur und Wissen’; vgl. exemplarisch den Systematisierungsversuch von Tilmann Köppe, „Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen“, in: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge , hg. von dems., Berlin/ New York 2011 (linguae & litterae 4), S. 1-28. 23 Vgl. Günther Schweikle, Minnesang , Stuttgart/ Weimar 2 1995 (Sammlung Metzler 244), S. 73-79. 24 Vgl. Michel (wie Anm. 20), S. 87-99; Theodor Frings und Elisabeth Lea, „Das Lied vom Spiegel und von Narziß. Morungen 145,1. Kraus 7. Minnelied, Kanzone, Hymnus. Beobachtungen zur Sprache der Minne. Deutsch, Provenzalisch, Französisch, Lateinisch“, in: PBB (Halle) 87 (1965), S. 40-200, hier S. 138-143 u.ö. 25 Vgl. Hennig Brinkmann, Entstehungsgeschichte des Minnesangs , Halle a.d. Saale 1926 (Buchreihe der DVjs 8), S. 143-149. 26 Vgl. Ct 2,5 und 5,8: quia amore langueo (zitiert nach: Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem , hg. von Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart 5 2007). Vgl. dazu Mary F. Wack, Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries , Philadelphia 1990, S. 18-24. 27 Vgl. Tervooren (wie Anm. 6), S. 208-212. 28 Dazu Schweikle (wie Anm. 23), S. 173: „Die meisten dieser Lieder [der Hohen Minne, J.S.] kulminieren in der variationsreichen Ausgestaltung der seelischen Not, des Leids, der Hoffnungslosigkeit des Werbenden: Solcher Minnesang ist Leidsang . Zentralwörter sind leit , riuwe , nôt , kumber , swære , arebeit “. Siehe auch den Beitrag von Annette Gerok-Reiter in diesem Band. 29 Vgl. Herbert Kolb, Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik , Tübingen 1958 (Hermaea, N. F. 4), S. 290-305, bes. S. 293-295. 30 Vgl. Funke (wie Anm. 21), S. 15-20. 31 Für entsprechende Anmerkungen danke ich Frank Fürbeth. Vgl. ähnlich Hoffmann (wie Anm. 2), S. 251-253. 250 Jan Stellmann Zunächst kann der Einwand auch umgedreht, Ovid zum Steigbügelhalter der medizinischen Konzeption der Liebeskrankheit erklärt werden: Nur weil man sich auf die Autorität Ovids berufen konnte, hat sich das medizinische Konzept der Liebeskrankheit überhaupt durchsetzen können. 32 Literarischer und medizinischer Diskurs sind gleichermaßen - zudem gemäß der je eigenen Epistemologie - zu berücksichtigen. 33 Entsprechend halte ich es für wesentlich plausibler, das Zusammenwirken einer Reihe von Einflüssen anzunehmen, die zur Gestaltung der Liebeskrankheit bei Morungen beigetragen haben. So, wie der Minnesang insgesamt nicht durch „monokausale Theorien“ erklärt werden kann 34 und wie sich ‘die’ höfische Liebe durch eine Vielfalt heterogener Liebeskonzepte (und Liebesdarstellungen) auszeichnet, 35 reicht es nicht hin, die Liebeskrankheit nur auf Ovid (oder umgekehrt nur auf die medizinische Theorie) zurückzuführen. Verschiedenste Traditionslinien kommen zusammen, werden weitergedacht, neu kombiniert, umgeschrieben usf. 36 Resümierend ist von einer wechselseitigen Beeinflussung der medizinischen, literarischen, religiösen usw. Diskurse auszugehen. 37 Vermutlich machen erst wechselseitige Offenheit und reziproke Verstärkung unterschiedlichster Diskurse verständlich, warum die höfische Liebe - inklusive Liebeskrankheit - im 12. Jahrhundert zum zentralen Thema weltlicher Lyrik in der Volkssprache wird. 38 Angesichts der skizzierten und leicht zu vermehrenden 39 Vielzahl an Angeboten für den Ursprung der Liebeskrankheit wollen die folgenden Ausführungen keine Antwort mit ausschließlichem Geltungsanspruch geben. 32 Vgl. Wack (wie Anm. 26), S. 15: „Ovid’s erotic poetry thus proved a locus for interchange beween medical and literary views of love, and its authority no doubt contributed to the swift acceptance of the Arabic medical tradition“. 33 Folgt man Ortrun Riha, ließe sich sogar sagen, dass Ovids Beschreibungen vom Leiden an der Liebe erst durch einen „Impuls[ ] von ärztlicher Seite“ zur Krankheit geworden sind. Ortrun Riha, „Psychosomatische Dichtung oder: Von der Metapher zur Krankheit“, in: Körper/ Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft , hg. von Angelika Corbineau-Hoffmann und Pascal Nicklas, Hildesheim u. a. 2002 (Echo. Literaturwissenschaft im interdisziplinären Dialog 1), S. 95-113, hier S. 103. Zu Ovid siehe ebd., S. 107: „Seine [Ovids, J. S.] Heldinnen und Helden leiden, aber werden nicht krank; die Krankheitsentität als solche war ja auch noch nicht beschrieben“. 34 Stattdessen ist, so Schweikle (wie Anm. 23), S. 77, mit einer „Vielzahl von Faktoren“ zu rechnen. 35 Vgl. Schnell (wie Anm. 5), bes. S. 18-52. 36 Vgl. nochmals Tervooren (wie Anm. 6), S. 201: „Morungen empfängt seine Anregungen aus den Liedern der Troubadours und Trouvères, er kennt die heimische Lyrik und lernt vor allem auf formalem Gebiet von den rheinischen Sängern. […] Er schöpft aber auch aus der geistlichen Lyrik: Anklänge an Mariendichtung hört man überall in seinen Liedern. Nachhaltig beeinflußt scheint er auch durch die Antike zu sein. Bei keinem Minnesänger findet man soviel Ovidianisches wie bei ihm“. Siehe auch Hoffmann (wie Anm. 2), S. 230. 37 Vgl. für Medizin und Literatur etwa Agamben (wie Anm. 4), S. 113f.; Riha (wie Anm. 33). 38 Ähnlich Rüdiger Schnell, „Die ‘höfische Liebe’ als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und Mentalitätsgeschichte“, in: Poetica 23 (1991), S. 374-424, hier S. 423: „Vielleicht lag die Faszination der ‘höfischen Liebe’ gerade in der vielgestaltigen Offenheit des Diskurses“. 39 Etwa um die Thesen, der Minnesang sei eine „ekklesiogene Kollektivneurose“ oder Ausdruck leidvoller biografischer Erfahrung. Vgl. zum ersten Ulrich Müller, „Die Ideologie der hohen Minne: eine ekklesiogene Kollektivneurose? Überlegungen und Thesen zum Minnesang“, in: Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter , hg. von dems., Göppingen 1986 (GAG 440), S. 283-315; zum zweiten Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone , Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10), S. 189-216. Auch der höfische Roman, insbesondere Veldekes Eneasroman , muss als zentral für die Vermittlung von Konzepten der Liebeskrankheit und als vorbildlich für ihre Gestaltung gelten. Vgl. nur Hoffmann (wie Anm. 2), S. 221-227. leitlîche blicke 251 Erstmals begegnet die Liebeskrankheit als medizinischer Begriff im 2. Jahrhundert bei Galen, der aus einem ‘literarischen’ Narrativ das fortan maßgebliche Krankheitsbild ‘herausliest’. 40 Dem westlichen Mittelalter wird das damit verbundene Konzept auf Umwegen über die arabische Medizin vermittelt. Im 11. Jahrhundert übersetzt der aus Tunesien stammende Mönch Constantinus Africanus im Benediktinerkloster von Montecassino u. a. zwei medizinische Traktate, das ‘königliche Buch’ ( Kitāb al-malakī ) von ‘Alī ibn al-ʽAbbās al-Maǧūsī und ein medizinisches Handbuch für die Reise ( Zād al-musāfir ) von Ibn al-Ğazzār. 41 Beide Übersetzungen, die unter den Namen Pantegni ( Pantéchne ) und Viaticum kursieren, enthalten Kapitel zur ‘Liebeskrankheit’, 42 die von Constantinus bzw. einigen Schreibern amor hereos genannt wird. 43 Die Pantegni umfasst einen theoretischen und einen praktischen Teil; im ersten finden sich Ätiologie und Symptomatik der Liebeskrankheit, 44 im zweiten die Therapie. 45 Das Viaticum schnürt dies in ein einziges Kapitel zusammen. 46 Weil die Pantegni und das Viaticum sehr schnell weite Verbreitung in ganz Europa gefunden haben, können Constantinus’ Ausführungen zum amor hereos als das für die Zeit um 1200 maßgebliche medizinische Konzept der Liebeskrankheit verstanden werden. 47 40 Vgl. Riha (wie Anm. 33), S. 103-105. Zur medizinischen Tradition der Liebeskrankheit siehe ferner Hjalmar Crohns, „Zur Geschichte der Liebe als ‘Krankheit’“, in: Archiv für Kulturgeschichte 3 (1905), S. 66-86; John L. Lowes, „The Loveres Maladye of Hereos“, in: Modern Philology 11 (1913/ 1914), S. 491-546; Adelheid Giedke, Die Liebeskrankheit in der Geschichte der Medizin , Düsseldorf 1983; Hans Schadewaldt, „Der Morbus amatorius aus medizinhistorischer Sicht“, in: Das Ritterbild in Mittelalter und Renaissance , hg. vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1985 (Studia humaniora 1), S. 87-104; Wack (wie Anm. 26); Bernhard D. Haage, „‘Amor hereos’ als medizinischer Terminus technicus in der Antike und im Mittelalter“, in: Liebe als Krankheit (wie Anm. 2), S. 31-73. 41 Vgl. allgemein Constantine the African and ‘Alī ibn al-ʽAbbās al-Maǧūsī, The Pantegni and Related Texts , hg. von Charles Burnett und Danielle Jacquart, Leiden u. a. 1994 (Studies in Ancient Medicine 10); Raphaela Veit, „Quellenkundliches zu Leben und Werk von Constantinus Africanus“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59 (2003), S. 121-152. 42 Mangels einer kritischen Gesamtedition im Folgenden zitiert nach der Ausgabe der Schriften des Isaak Israeli, Opera omnia Ysaac , Lyon 1515 (online verfügbar über urn: nbn: de: urmel-3d74e9c4-1d3e-441f-bd3f- 5167f77800414 [letzter Abruf 16.9.2019]), die im zweiten Teil die Pantegni enthalten (bei der Pantegni beginnt nach 226 Blättern die Zählung neu bei 1; ich setze daher vor die jeweilige Blattzahl eine ‘II’ und nenne zusätzlich Buchnummer und Kapitelzahl). Die Theorica pantegni liegt auch als Transkription einer heute in Helsinki aufbewahrten Handschrift aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts vor: Constantinus Africanus, Theorica pantegni. Facsimile and Transcription of the Helsinki Manuscript (Codex EÖ.II.14) , hg. von Outi Kaltio in Verbindung mit Heikki Solin und Matti Haltia, Helsinki 2011 (online verfügbar unter http: / / urn.fi/ URN: ISBN: 978-952-10-7055-6 [letzter Zugriff 5.9.2017]) Das Kapitel zur Liebeskrankheit aus dem Viaticum wurde von Mary Wack kritisch ediert und ins Englische übersetzt: Constantinus Africanus, Viaticum I,20, in: Wack (wie Anm. 26), S. 186-193. Deutsche Übersetzungen von Zitaten aus Constantinus’ Werken stammen von mir, J. S.). 43 Lowes (wie Anm. 40), bes. S. 521-524, deutet hereos als ‘barbarische’ Ableitung von griechisch érōs . Siehe auch Haage (wie Anm. 40), S. 33f. Eine eingehende Erörterung der handschriftlichen Schreibvarianten bei Wack (wie Anm. 26), S. 182-185. Vgl. auch Agamben (wie Anm. 4), S. 153-167. 44 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.42v ( lib. theor. IX, cap. viii). 45 Ebd., Bl. II.99v ( lib. pract. V, cap. xxi). 46 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42). 47 Zur handschriftlichen Verbreitung des Viaticum vgl. Wack (wie Anm. 26), S. 47-50; zur Relevanz im Kontext der sogenannten ‘Renaissance des 12. Jahrhunderts’ ebd., S. 32: „Through the Viaticum Constantine gave Western physicians, patients, and readers a theoretical framework and a technical vocabulary with which to discuss passionate love“. 252 Jan Stellmann Auf der Suche nach möglichen Anregungen für Morungens Lieder beginne ich bei Ätiologie und Symptomatik. Constantinus versteht unter amor hereos eine ‘Krankheit, die mit dem Gehirn zusammenhängt’. 48 Sie wird näher beschrieben als ‘starkes Begehren mit unmäßigem Verlangen und Schwermut’. 49 Liebe wird definiert als seelischer Affekt: Amor est confidentia anime suspitiosa in re amata et cogitationis in eadem assiduitas (‘Liebe ist argwöhnische Zuversicht der Seele gegenüber der geliebten Sache und beharrliches Denken an dieselbe’). 50 Als körperliche Ursache der Liebeskrankheit nennt Constantinus die Notwendigkeit, überflüssige Säfte abzuführen. Darum wird zum Coitus geraten - egal, mit wem. 51 Zu den Symptomen, die man im Grunde schon bei Galen finden kann, 52 gehören: hohle Augen (wegen maßlosen Nachdenkens), die sich, auf der verzweifelten Suche nach dem, was sie begehren, andauernd schnell bewegen; schwere Augenlider; eine gelbe Farbe der Augen wegen der Bewegung der Körperhitze, die aus der Schlaflosigkeit folgt; ein harter, unnatürlicher Puls. 53 Ohne Behandlung kann sich die Liebeskrankheit zur lebensbedrohlichen Melancholie entwickeln. 54 Die Therapie sucht vor allem die unmäßigen Gedanken ( nimiae cogitationes ) zu verhindern. Dabei sollen der Genuss von Wein, Musikhören, Konversation mit guten Freunden, die Rezitation von Poesie, der Anblick heller, wohlriechender und fruchtvoller Gärten mit klarem Gewässer (d. h. eines locus amoenus ), der Umgang mit schönen Menschen, wohltemperierte Bäder sowie das Gespräch mit dem Liebeskranken helfen. 55 Auf den ersten Blick spielen all diese Details in ihrer Gesamtheit für Morungen keine herausgehobene Rolle. Er scheint nicht „den amor hereos im medizinischen Sinne dar[zu]stellen, denn es fehlt […] der pathologische Zug des realen medizinischen nosologisch bei Galen u. a. fixierten Terminus amor hereos “. 56 Auch die Therapie sei in Morungens Liedern kein Thema; allenfalls fänden sich, so die Forschung, vereinzelte Symptome. 57 48 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 186, Z. 1: Amor qui et eros dicitur morbus est cerebro contiguus . Wack (wie Anm. 26), S. 298 (Anm. zur Stelle), zufolge ist contiguus hier als continuus zu verstehen. 49 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 186, Z. 2f. 50 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.42v ( lib. theor. IX, cap. viii). 51 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 188, Z. 8-12. Vgl. Haage (wie Anm. 40), S. 46f. 52 Vgl. Giedke (wie Anm. 40), S. 17-21. 53 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 188, Z. 17-24. 54 Ebd., Z. 28-32. Die finnische Handschrift der Theorica pantegni (wie Anm. 42), Bl. 148r-149r ( lib.theor. IX, cap. vii), behandelt Melancholie und amor hereos gemeinsam in einem Kapitel. Vgl. zur Nähe von Liebeskrankheit und Melancholie Wack (wie Anm. 26), S. 40. Zu Constantinus’ Melancholie-Traktat siehe Rudolf Creutz und Walter Creutz, „Die ‘Melancholia’ bei Konstantinus Africanus und seinen Quellen. Eine historisch-psychiatrische Studie“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 97 (1932), S. 244-269. 55 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 190, Z. 33-55; Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.99v ( lib. pract. V, cap. xxi). 56 Haage (wie Anm. 40), S. 38. Die Abwesenheit des vollständigen Krankheitsbildes erklärt wohl die insgesamt geringe Beachtung, die Morungen in altgermanistischen Beiträgen zur Liebeskrankheit und zur verwandten Melancholie erfährt. Diese bleiben oft auf die Epik beschränkt; siehe z. B. Katharina Philipowski, „ Minne als Krankheit“, in: Neophilologus 87 (2003), S. 411-433; Hartmut Kugler, „Liebeskrankheit im mittelalterlichen Roman - Einige Beobachtungen unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz“, in: Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen , hg. von Frank Stahnisch und Florian Steger, Wiesbaden 2005 (Geschichte und Philosophie der Medizin 1), S. 181-195. Zur Melancholie exemplarisch: Walter Blank, „Wolframs Parzival - Ein ‘melancholicus’? “, in: Melancholie in Literatur und Kunst , hg. von Udo Benzenhöfer, Hürtgenwald 1990, S. 29-47. 57 Vgl. Hoffmann (wie Anm. 2), bes. S. 229f. und 251-253; Torsten Haferlach, Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen leitlîche blicke 253 Allerdings wäre dies allein schon bemerkenswert, zumal die Möglichkeit einer freien, auch metaphorischen Gestaltung medizinischer Symptome in Betracht zu ziehen ist. 58 An der Verwundung des Ichs zeigt sich zunächst die Aufschichtung ganz unterschiedlicher Semantiken und Diskurse. Wenn es heißt: Jâ hât si mich verwunt ( MF 141,5), dann kann darin eine Äußerung gesehen werden, die sich zwanglos aus der Lebenswelt einer adligen Kriegerkultur ergibt. 59 Verursachen die Blicke der Dame die Wunde, kann weiterhin eine „verblaßte Metapher“ 60 für Amors Pfeile angenommen werden. Nicht zuletzt spielen vielleicht religiöse Konnotationen herein. 61 Zugleich klingt bei einem metaphorischen Verständnis der Verwundung des Herzens aber auch die Liebeskrankheit an - neben, in und unter dem lebensweltlichen, mythologischen und religiösen Register. Liebeskrankheit heißt dann im medizinischen Sinn zunächst: heftiges Begehren und beständiges, unmäßiges Denken an die Geliebte. Morungen dichtet übers senen 62 und verdâht sîn . 63 Das Ich betrachtet die Dame in seinem Herzen noch gerner danne ich solde ( MF 125,7). Was Constantinus suspitiosa confidentia und assiduitas cognitionis nennt, kehrt bei Morungen als hügender ( MF 125,30), tumber ( MF 135,5; 136,1), minneclîcher ( MF 143,14) und schließlich gerender ( MF 145,32) wân wieder. Dass weiterhin der amor hereos eine ‘Geisteskrankheit’ ist, die das Denkvermögen stört, greift Morungen auf in seinen Variationen der Aussage: ich verliuse die sinne ( MF 141,6). 64 Dabei kommen spezifisch medizinische Begriffe zum Einsatz: genâde, ein küniginnne, du tuo mich gesunt ( MF 141,7). Das Ich bezeichnet sich etwa nicht einfach als ‘freudlos’, sondern als an vröuden siech ( MF 130,26); es ist selbst siech ( MF 137,14) und ungesunt ( MF 141,25). 65 Ferner gehören die Symptome einer ‘Depression’ zur Liebeskrankheit, wofür Morungen die (aus Topik und Medizin zu begründenden) Begriffe swaere , ungemach , leit , trûren u. a. hat. 66 Auch Ausdrücke des Schmerzes ( smerze , kumber , wê tuon ) sind häufiger Bestandteil der Klagelieder. 67 Die Aussage, das Ich sei tödlich verletzt, die Dame gar eine ‘Mörderin’, 68 mag vor allem hyperbolisch sein. 69 Sie ergibt jedoch vor dem Hintergrund der lebensgefährlichen Melancholie, zu der sich die Liebeskrankheit Aspekten , Heidelberg 1991, S. 124-126. 58 Vgl. Riha (wie Anm. 33), bes. S. 106. Siehe auch die grundsätzliche Überlegung zu Morungens ‘irreduziblen’ Metaphern bei Kellner (wie Anm. 3), S. 44. 59 Vgl. Hoffmann (wie Anm. 2), S. 230 u. ö. 60 Ebd., S. 244. 61 Vgl. den Beitrag von Christoph Huber in diesem Band. 62 Vgl. MF 128,18; 131,2; 133,4; 143,5. 63 Das Nachdenken erscheint meist positiv, so in MF 125,22, 139,23 und 140,37. Deutlich negativ sind MF 132,11 und 147,17. 64 Weiteres: MF 129,25-27; 135,20-22; 138,35; 140,7; 141,35. Vgl. Hoffmann (wie Anm. 2), S. 235: „Daß die Minne sie ihrer ‘sinne’ oder ‘witze’ (ihres Verstandes) beraubt habe, äußern mehrere Minnesänger […]. In solchen Fällen kann man wohl auch für die Lyrik den Begriff des amour pathologique heranziehen“. 65 Vgl. ferner die Hyperbolik in MF 142,15-18. Auch der rätselhafte sieche ( MF 137,8), der verbotenes Wasser trinkt, kann als Liebeskranker verstanden werden, der seine von der huote verborgene Geliebte ansieht. 66 Vgl. für swaere : MF 124,31; 125,35; 137,17; 139,18; 143,15; 145,20; für ungemach : MF 131,20 (Frauenstrophe); 132,27; 145,5; für leit : MF 131,29; 132,22; 132,27; 133,22 und 25; 143,15; 143,19; für trûren : MF 123,21; 139,22 (negiertes trûren ); 147,23 ( trûric ); 132,12; 132,26. 67 Vgl. für smerze : MF 146,7; für kumber : MF 127,16; 134,13; 138,17; 139,17; 140,34; 141,27; für wê tuon / wê sîn : MF 134,14; 136,12; 138,4 und 9; 140,35; 146,10. 68 Vgl. MF 126,22; 129,32-35; 133,14; 137,12f.; 137,18; 139,15; 139,32; 141,5f.; 141,37-39; die Dame als Mörderin: MF 147,4-8. 69 Vgl. Huber (wie Anm. 12), S. 141; zur umstrittenen Deutung von Lied XXXIV ebd., S. 151-154. 254 Jan Stellmann auswachsen kann, auch einen medizinischen Sinn. Das gleiche gilt für die erwogene Selbsttötung ( MF 125,3f.). Zu diesen zahlreichen Entsprechungen von Morungens lyrischer Inszenierung der Liebeskrankheit mit der medizinischen Symptomatik kommen zwei strukturelle Übereinstimmungen bei der Therapie. Genaugenommen verursacht zunächst die Negation einer möglichen Therapie die Krankheit: Weil das Ich-Lied der Hohen Minne generisch den Coitus ausschließt, muss das starke Begehren fast zwangsläufig zur Liebeskrankheit führen. 70 Morungens Ich verwahrt sich ausdrücklich gegen die Unterstellung, häufig Geschlechtsverkehr gehabt zu haben - was vermutlich als angeratenes Therapeutikum für die Liebeskrankheit, von der es singt, allgemein bekannt gewesen ist: 71 swer mich ruomes zîhen wil, vür wâr, der sündet sich. / Ich hân sorgen vil gepflegen / und den vrouwen selten bî gelegen ( MF 128,28-30). Weiterhin kann cum grano salis die ganze Institution des Minnesangs als ein einziges, gewiss recht aufwändiges Therapeutikum gegen die Liebeskrankheit (die paradoxerweise selbst erzeugt ist - auf Gattungsebene wie in der Selbstaussage 72 ) verstanden werden. Denn zur Therapie gehören die Rezitation von Gedichten, das Hören von Musik sowie die Konversation mit Freunden und damit drei zentrale Aspekte, durch die sich der Minnesang als Wort- und Klangkunst wie als intertextuelle und soziale Praxis auszeichnet. 73 Der Minnesang soll, mit anderen Worten, vröude und hôhen muot restituieren. Und so rät Constantinus nachdrücklich, um eine gefährliche Melancholie zu vermeiden: die Gedanken zu heben und das Gemüt erleichtern. 74 Minne ist wahrlich kein Kinderspiel, 75 sondern gleichsam eine Gruppentherapie für Liebeskranke. 76 III Für die Verbindung der Liebeskrankheit mit dem Sehen bei Morungen setze ich nochmals neu an mit der Frage, welche Sehtheorie Morungen seiner ‘Poetik des schouwens ’ zugrunde legt. Beate Kellner zufolge ist nicht zu entscheiden, ob Morungen Platons Extramissionstheorie oder die aristotelische Intramissionstheorie, wie sie der arabische Gelehrte Alhazen an den lateinischen Westen vermittelt hat, verwendet. Immerhin tendierten die Lieder zur Intramissionstheorie. 77 Chronologisch liegt jedoch gerade der gegenteilige Schluss nahe. Kellner sagt 70 Vgl. Riha (wie Anm. 33), S. 106f. 71 Vgl. auch Ovid, Remedia amoris (wie Anm. 21), V. 399-404. 72 Morungen spricht von einer nôt, die ich selbe mir geschaffet hân ( MF 140,28), und von sanfte tuonder swaere ( MF 125,35). 73 Die ersten beiden Therapievorschläge widersprechen Ovids Warnung vor dem Genuss von Musik und (Liebes-)Dichtung. Vgl. Remedia amoris (wie Anm. 21), V. 753-766. Musik hilft dagegen schon in der Bibel gegen ‘Melancholie’, als David den scheidenden König Saul durch sein Harfenspiel aufheitert: vgl. I Sm 16,14-23. 74 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 188, Z. 28-30: Unde si non eriosis succuratur ut cogitatio eorum auferatur et anima leuigetur, in passionem melancolicam necesse est incidant . 75 Vgl. MF 138,5. 76 Vgl. schon Kolb (wie Anm. 29), S. 294: „Eine ganze Skala von Ausdrücken des körperlichen Leidens bezeichnet die sich physisch auswirkende Macht der unwiderstehlichen Minne, und so fix und fertig sind dem Dichter mitunter die Symptome zur Hand, daß ihre Aufreihung sich anhören kann wie die Selbstdiagnose eines Kranken, der von seinem Leiden mehr weiß als selbst sein Arzt, wie die Pathologie eines Süchtigen, der seine Krankheit eigens erfindet, nur um in den Genuß einer Medizin zu gelangen“. 77 Kellner (wie Anm. 3), S. 44. Vgl. auch Huber (wie Anm. 1), S. 89, Anm. 19. leitlîche blicke 255 selbst, dass „[b]is etwa 1200 […] die platonische Sehtheorie dominant“ war. 78 Demgegenüber hat Alhazens Werk, das die Optik revolutionieren sollte, David C. Lindberg zufolge erst in der „zweiten Hälfte des [13., J. S.] Jahrhunderts“ 79 zu wirken begonnen, genauer bei Albertus Magnus. 80 Dieser Befund spricht dafür, dass Morungen - wenn überhaupt - auf die platonische Extramissionstheorie zurückgegriffen hat. 81 Kellner hat das gesehen (aber genau anders herum gedeutet), wenn sie schreibt, dass die Sehtheorie „den wahrnehmenden Sänger zum Empfänger der von der Dame ausgehenden Augenstrahlung macht“. 82 Platon entwickelt seine Sehtheorie im Timaios : 83 Wenn das Feuer der Augen diese verlässt, verbindet es sich mit dem ihm verwandten Feuer, das man Tageslicht nennt, zu einem einzigen Körper, der sich geradeaus von den Augen entfernt. Trifft dieser feurige ‘Sehstrahl’ auf einen Gegenstand, leitet er den Eindruck zur Seele weiter, was Platon dann visuelle Wahrnehmung nennt. 84 Diese Theorie konnte man Platon direkt oder der platonischen Naturphilosophie des 12. Jahrhunderts entnehmen; 85 oder man blieb bei Constantinus Africanus, 86 der von der platonischen Sehtheorie ausgeht und einige Details hinzufügt, die sich im Hinblick auf Morungen als relevant erweisen werden. Zunächst bekräftigt er, dass die ‘Natur’ der Sehkraft ‘feurig’ ist. 87 Dann unterscheidet er drei Eigenschaften des Feuers: Flamme, Röte und Glanz ( flamma, rubor et splendor ). Die Augen besitzen von diesen Qualitäten nur den Glanz. 88 Schließlich vergleicht er den Sehstrahl mit dem Glanz der Sonne. 89 Morungen bezeichnet die Augen der Dame häufig als lieht und spricht zudem vom schîn , der von der Dame ausgeht. Der schîn kann verstanden werden als der splendor des Sehstrahls, der die liehten (‘feurigen, strahlend hellen’) Augen verlässt. So sieht der liehte schîn der Dame das Ich güetlîch an mit ir spilnden ougen ( MF 139,6f.). Verständlich wird die Stelle nur, wenn man die in der platonischen Sehtheorie angelegte Trennung von Augenfeuer und Auge, dessen jenes sich als Werkzeug bedient, voraussetzt. Noch deutlicher als die liehten ougen verweisen die 78 Kellner (wie Anm. 3), S. 42f. 79 David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler , übersetzt von Matthias Althoff, Frankfurt a. M. 1987 [englische Originalfassung Chicago/ London 1976], S. 190. 80 Vgl. Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter , München 1985, Bd. 1, S. 51-79, bes. S. 70 und 79. 81 Vgl. auch den Beitrag von Racha Kirakosian in diesem Band. 82 Vgl. Kellner (wie Anm. 3), S. 44 (Hervorhebung von mir, J. S.). 83 Platon, Timaios. Griechisch/ Deutsch , Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn, Stuttgart 2009 (RUB 18285); Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus , hg. von Jan H. Waszink, London/ Leiden 2 1975 (Plato Latinus 4). 84 Vgl. Platon (wie Anm. 83), 45b-d. 85 Vgl. etwa Calcidius (wie Anm. 83), S. 41f. (Text) und 248-259 (Kommentar); Adelard of Bath, Conversations with his Nephew. On the Same and the Different, Questions on Natural Science and On Birds , hg. und übersetzt von Charles Burnett unter Mitarbeit von Italo Ronca, Pedro Mantas España und Baudouin van den Abeele, Cambridge u. a. 2006 [Paperback; Erstausgabe 1998], S. 134-145; Wilhelm von Conches, Philosophia , hg., übersetzt und kommentiert von Gregor Maurach unter Mitarbeit von Heidemarie Telle, Pretoria 1980, S. 108f. 86 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.17r ( lib. theor. IV, cap. xi). Vgl. die Schrift über die Augen: Der ‘Liber de oculis’ des Constantinus Africanus , Übersetzung und Kommentar von Dominique Haefeli-Till, Zürich 1977 (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen 121). Diese Übersetzung beruht auf einer neueren Ausgabe; ich benutze den abweichenden lateinischen Text der Opera omnia Ysaac (wie Anm. 42), Bl. II.172r-178r. 87 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.17r ( lib. theor. IV, cap. ix): Virtus visus subtilior est aliis [sc. virtutibus ] . Quippe cum eius natura sit ignea. Vgl. Lindberg (wie Anm. 79). 88 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.17r ( lib. theor. IV, cap. x): oculi solum de igne splendorem habent . 89 Vgl. Constantinus, Liber de oculis (wie Anm. 42), Bl. II.173v ( cap. viii). 256 Jan Stellmann blicke ihrer liehten ougen ( MF 124,39) auf den Sehstrahl, der die Augen der Dame verlässt. 90 So liegt das Feuer als Vergleich auf der Hand, um noch einmal die Verse des Elbenlieds zu zitieren: Mich enzündet ir vil liehter ougen schîn, / same daz viur den durren zunder tuot ( MF 126,24f.). Der Vergleich der Wirkung des ‘feurigen’ Blicks der Dame mit der Entflammung trockenen Zunders drängt sich geradezu auf - erstens, weil die Entflammung ein literarisches (ovidianisches) Klischee ist, zweitens aber auch, weil der Sehstrahl ‘feurig’ ist. Literarische Tradition und medizinisches Detailwissen verbinden sich in einer elementaren Trope zur höchsten Anschaulichkeit. Überdies wird die Dame oft mit der (ebenfalls feurigen 91 ) Sonne verglichen; 92 sie sieht das Ich an - sicut splendor solis : 93 unde siht mich an reht als der sunnen schîne ( MF 138,38). Soweit zur Augenstrahlung, die von der Dame ausgeht. Über die Sehstrahlen des männlichen Ichs sagt Morungen auf den ersten Blick nichts. Wie der erste Teil gezeigt hat, bilden die Blicke vom Mann zur Dame regelrecht ein Medium - mit Hartmut Bleumer gesprochen: eine „Kontaktkategorie“ 94 -, durch das dem Ich seine Verwundung im Inneren zugefügt wird. Genau das kann nun, ähnlich einer Argumentation Wilhelms von Conches, 95 als Beleg für die Sehstrahlen genommen werden: Der vom Ich ausgesendete Sehstrahl berührt die schöne Dame und transferiert den Eindruck zurück zum Ich, wobei eine ständige Verbindung qua Augenfeuer besteht. Die steoretype Affizierung und Verwundung des Herzens 96 lässt sich noch besser erklären, wenn man von einem pneumatischen System ausgeht, wie es sich bei Constantinus Africanus findet: 97 Der Körper sei von verschiedenen spiritus durchdrungen: dem spiritus naturalis , der in der Leber entsteht, 98 dem spiritus spiritualis , der, vom Herzen ausgehend, den ganzen Körper belebt, 99 und dem spiritus animalis , der aus der Verfeinerung des spiritus spiritualis hervorgeht und im Gehirn für die Sinneswahrnehmung verantwortlich ist. 100 Der weiter spezialisierte spiritus visualis , der die Augen verlässt und mit den Sinneseindrücken - dies bereits bei Platon - zur Seele zurückkehrt, hat letztlich seinen Ursprung im Herzen. 101 Auf pneumatischem Weg kann so der Blick des Ichs die Verletzung seines Herzens verursachen. 90 Siehe MF 125,1; 126,32; 141,18. 91 Vgl. Honorius Augustodunensis, De imagine mundi , in: PL 172 (1854), Sp. 115-188, hier Sp. 139A. 92 Vgl. MF 123,1; 124,35-40; 129,20; 134,37-135,5; 136,30; 136,35; 138,38; 144,24f. und 30. An der Sonne, die auch Mariensymbol ist, ließe sich abermals die Schichtung verschiedener Anspielungshorizonte nachvollziehen. Vgl. zur ‘Sonne Maria’ Frings und Lea (wie Anm. 24), S. 113-116 u.ö. 93 Constantinus, Liber de oculis (wie Anm. 42), Bl. II.173v ( cap. viii). 94 Bleumer (wie Anm. 1), S. 328. 95 Vgl. Wilhelm von Conches (wie Anm. 85), S. 108: Cuius rei [dass der Sehstrahl zu den Gegenständen gelangt, sie ‘berührt’ und dann zum Auge zurückkehrt, J. S.] haec est probatio, quod ex visu alicuius lippientis saepe eandem contrahimus infirmitatem. Et unde hoc, nisi quod visuali spiritu ad corruptum oculum perveniente corrumpitur revertensque oculos corrumpit? 96 Vgl. MF 124,39f.; 125,1; 126,32f.; 127,1. 97 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.14v-18r, bes. Bl. II.17v (einschlägig ist das vierte theoretische Buch über die virtutes des Körpers, besonders Kap. xix: De spiritibus ). Vgl. Agamben (wie Anm. 4), S. 127-141; Charles Burnett, „The Chapter on the Spirits in the Pantegni of Constantine the African“, in: Constantine the African (wie Anm. 41), S. 99-120. 98 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.15r-15v ( lib. theor. IV, cap. ii). 99 Ebd., Bl. II.16r ( lib. theor. IV, cap. v). 100 Ebd., Bl. II.16v-17r ( lib. theor. IV, cap. ix). 101 Ebd., Bl. II.17v ( lib. theor. IV, cap. xix). leitlîche blicke 257 Morungens grundsätzliche Kenntnis dieses pneumatischen Systems könnte Lied XXVII zeigen, in dem das Ich auf unklar bleibende Weise verletzt wird, als es der Dame von seiner rasenden Liebe berichtet ( MF 141,37-142,4): 141,37 Si hât mich verwunt rehte aldurch mîn sêle 142,1 in den vil toetlîchen grunt, dô ich ir tet kunt, daz ich tobte unde quêle umb ir vil güetlîchen munt. Die Formulierung, die Dame habe das Ich ‘geradewegs durch die Seele’ verwundet, lässt die Seele als pneumatisches Medium erscheinen, durch das man zu einem ‘tödlichen Grund’ vorstoßen kann. In der Tat diskutiert Constantinus Africanus mit Berufung auf ‘gewisse Philosophen’, ob der spiritus cerebri (d. h. der spiritus animalis ), der verfeinert aus dem spiritus spiritualis des Herzens hervorgeht, mit der Seele ( anima ) identisch oder ihr Instrument sei. Dabei bevorzugt er die erste Option. 102 Morungens sêle könnte an die pneumatische anima des Constantinus bzw. seinen spiritus cerebri angelehnt sein, zumal er dessen Entstehungsort fundamentum nennt, 103 worauf sich dann Morungens grunt beziehen würde. 104 Tödlich wäre eine durch den spiritus cerebri bzw. die anima hindurch erfolgende Verwundung des Herzens, das nämlich seinerseits fundamentum der Lebenskraft ( virtus spiritualis ) ist. 105 Im Rahmen der skizzierten pneumatischen Theorie sind schließlich auch die weiteren Ausführungen zur Liebeskrankheit im Viaticum zu sehen, die sich auf den ersten Blick nicht in medizinische Kategorien fügen lassen. Hjalmar Crohns nennt sie „eine Art philosophischer Erklärung über die Erscheinung der Liebe, welche einen eigentümlichen orientalischen Beigeschmack hat“. 106 Gemeint ist folgende Definition, die Constantinus gibt: 107 Est autem magnum desiderium cum nimia concupiscentia et afflictione cogitationum. Unde quidam philosophi dicunt: Eros est nomen maxime delectationis designatiuum. Sicut autem fidelitas est dilectionis ultimitas, ita et eros delectationis quedam est extremitas. 102 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.17v ( lib. theor. IV, cap. xviii): Dicunt autem quidam philosophi quia hic spiritus cerebri eadem est anima et ipsa sit corporea. Alii vero dicunt quod anime sit instrumentum et hi animam fatentur esse incorpoream: quorum intentio priore est melior. Dies lehnen die Theologen, die im 12. Jahrhundert Constantinus rezipieren, ab, etwa Wilhelm von St.-Thierry, De natura corporis et animæ , in: PL 180 (1855), Sp. 695-726, hier Sp. 702: Hunc autem spiritum spiritualem quidam philosophi animam esse dicebant, qui corpoream animam esse volebant. Sed falsum est. Vgl. dazu Burnett (wie Anm. 97). 103 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.16v ( lib. theor. IV, cap. ix): Virtutis animalis habitationem et fundamentum constat esse cerebrum. 104 Damit sollen der grunt -Metapher weitere, etwa religiöse Konnotationen nicht abgesprochen werden. Vgl. nur Xenja von Ertzdorff, „Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ‘Herz’ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts“, in: ZfdPh 84 (1965), S. 6-46, zum grunt S. 37f. 105 Constantinus, Pantegni (wie Anm. 42), Bl. II.16r ( lib. theor. IV, cap. v): Virtus ergo spiritualis est illa quae viuificat; cuius fundamentum est cor. 106 Crohns (wie Anm. 40), S. 71 mit Anm. 2. Crohns bezieht sich hier auf die arabische Vorlage des Viaticum , verzeichnet aber ebd., S. 75, die Übereinstimmung zwischen arabischem und lateinischem Text. 107 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 186, Z. 2-7. 258 Jan Stellmann Die Liebeskrankheit ist ein ‘starkes Begehren’ mit ‘unmäßigem Verlangen’ und ‘Trübsal im Denken’ - das wurde bereits genannt. Einige Philosophen, zu denen mit einiger Sicherheit Platon zu zählen ist, verstünden die erotische Liebe ( eros ) als einen ‘Begriff, der den höchsten Genuss bezeichnet. Wie die Treue eine äußerste Liebe ist, so ist die erotische Liebe eine Extremform des Genusses’. Treffsicher fängt dieses ‘Philosophenzitat’ die zentrale Spannung des Minnesangs zwischen Freude und Leid ein. Für Morungen ergibt sich daraus eine weitergehende Deutungsmöglichkeit: Auch die Stellen, Strophen und Lieder, in denen das Ich von seiner vröude singt, gehören medizinisch gesehen zur Liebeskrankheit dazu. 108 Noch spezifischer lässt sich das Ganze auf Morungen münzen, wenn man die zweite, wohl eher psychisch zu nennende Ursache für Liebeskrankheit heranzieht: 109 Aliquando etiam eros causa pulchra est formositas considerata. Quam si in sibi consimili forma conspiciat, quasi insanit anima in ea ad uoluptatem explendam adipiscendam. Sowie die Seele eine sich selbst ähnliche Form betrachtet - man denke an das Narzisslied -, wird sie gleichsam verrückt nach ihr, um die Erfüllung ihrer Lust zu erlangen. Ausgelöst werden kann die Liebeskrankheit also auch durch die Betrachtung von Schönheit ( pulchra formositas considerata ), Betrachtung freilich im doppelten Sinn: Gemeint ist ein intensives Beschauen und Bedenken der ‘schönen Schönheit’. 110 Das Sehen ist somit nicht nur causa amoris , sondern auch causa morbi . Morungens Formel dafür lautet: leitlîche blicke . Das Sehen ist die Liebeskrankheit, schmerzvoll sind die Blicke, und eine Vorlage dafür stellt die medizinische Theorie bereit. IV Schließlich bietet das medizinische Konzept der Liebeskrankheit auch dafür, dass Morungens Lieder über das rechte Minnen und Singen reflektieren, einen Anhaltspunkt, wenn die lyrische Produktion selbst als Fortsetzung des unablässigen Nachdenkens über die Geliebte verstanden wird. Für jemanden, der nur dur sanc […] ze der welte ( MF 133,20) geboren ist, gibt es keine bessere Gattung als das Lied der Hohen Minne, das im ständigen Beschreiben und Vergegenwärtigen der schönen Dame sowie im maßlosen Nachdenken über die Geliebte immer von Neuem eine Liebeskrankheit hervorbringt, die nur durch immer weiteres Singen und Dichten therapeutisch einzuhegen ist. Einen möglichen Einwand gilt es mit Blick auf das Lied Leitlîche blicke noch auszuräumen: Maniger der sprichet: ‘nu sehent, wie der singet! / waere ime iht leit, er taete anders danne sô.’ ( MF 133,21f.). Solchem Skeptiker, der die wechselseitige Bedingtheit von therapeutisch-freudebringendem Gesang und innerem Liebesschmerz nicht versteht, antwortet Morungen: der mac niht wizzen, waz mich leides twinget ( MF 133,23). Dies leit ist nichts anderes als die unerfüllte Liebe zur Dame, die das Ich nicht erhört, die nicht sein Gemüt erhebt - im Gegenteil: Dô ich 108 Vgl. dazu auch MF 132,19-26. 109 Constantinus, Viaticum I,20 (wie Anm. 42), S. 188, Z. 13-16. 110 Vgl. Andreas aulae regiae capellanus/ königlicher Hofkapellan, De amore/ Von der Liebe. Libri tres/ Drei Bücher , Text nach der Ausgabe von Emil Trojel, übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Fritz P. Knapp, Berlin/ New York 2006, S. 6: Amor est passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus […] . leitlîche blicke 259 in leide stuont, dô huop sî mich gar unhô ( MF 133,25). Der Ausweg besteht darin, lyrisch produktiv zu werden. 111 Das wiederum auszusprechen, impliziert einen Wechsel von der Handlungsebene, der die Liebeskrankheit zugehört, zur poetologischen Reflexion, der zufolge das therapeutische Singen auf Ereignisse der Handlungsebene antwortet: 112 diz ist ein nôt, diu mich sanges betwinget ( MF 133,27). Morungen inszeniert den durchs Sehen verursachten Schmerz als poetische Motivation, was er zugleich poetologisch offenlegt. Dieser Zusammenhang konnte, so lässt sich abschließend resümieren, mit dem mittelalterlichen Konzept der Liebeskrankheit neu perspektiviert werden. Die Liebe ist Verletzung und Krankheit, die sehend herbeigeführt und nachdenkend verstetigt wird, wobei das therapeutische Singen zwar der vröude (des Sängers und seiner Hörer) dient, letztlich aber nicht auf völlige Heilung zielen darf. Die Kategorien ‘Sehen’ und ‘Liebeskrankheit’ führen somit nicht einzeln, sondern nur gemeinsam zu Morungens Poetologie: Die Verletzungen, die sich das Ich beim Werben um die Dame zuzieht, gehen ihm durch seine Augen buchstäblich zu Herzen und legen dort den Grund seines Singens. 113 111 So bereits Kasten (wie Anm. 1), S. 326: „Demnach wäre der Prozeß der literarischen Produktion selbst für Morungen das eigentliche remedium gegen das Leid, das aus unerfüllbarem Liebesverlangen, aus dem Bewußtsein des tot es niens , entsteht“. 112 Vgl. zur Differenzierung von Handlungsebene und Reflexionsebene Annette Gerok-Reiter, „Sprachspiel und Differenz. Zur Textur von Minnesangs Ende in Frauenlobs Lied 6“, in: ‘Texte zum Sprechen bringen’. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler , hg. von Christane Ackermann und Ulrich Barton unter Mitarbeit von Anne Auditor und Susanne Borgards, Tübingen 2009, S. 89-105, hier S. 90f. 113 Für die anregende Diskussion danke ich herzlich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des XXIV. Anglo- German Colloquium, für weitere wertvolle Hinweise und Kritik Marion Darilek und Corinna Sauter sowie den Herausgeberinnen und dem Herausgeber dieses Bandes. Hadlaubs beißende Dame 261 Hadlaubs beißende Dame Minnesang und vagina dentata Annette Volfing Hadlaubs Lied II schildert einen ungewöhnlichen Vorgang. 1 Das Sprecher-Ich ist in seinem Versuch, um die geliebte Dame zu werben, auf die Unterstützung seiner Mäzene angewiesen. Zunächst scheint alles gut zu verlaufen: Die Mäzene sind in der Lage, in der Weise Druck auf die Dame auszuüben, dass sie sich damit einverstanden erklärt, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu treffen, und sogar seine Hand hält. Doch ganz unerwartet schlägt die Situation um und die Dame beißt in die Hand, die sie eben noch hielt. In seinem weiteren Verlauf berichtet das Lied, wie die Mäzene darauf beharren, dass die Dame dem Sprecher-Ich ein Geschenk macht, und es endet schließlich mit einer umfangreichen laudatio auf die Mäzene, die namentlich genannt werden. Beißen verletzt einen Gegner oder ein Opfer auf ganz eigene Art. Der Dame in Hadlaubs Lied gelingt es nicht, eine reale Verletzung zu verursachen, aber ihre Geste stellt doch einen, wenn auch ziemlich erfolglosen, Versuch dar, den Körper des Liebhabers zu versehren. Ihre Geste ist ein zweifacher Skandal: Als Frau sollte sie niemanden körperlich verletzen, und als Mensch sollte sie nicht beißen. Der vorliegende Aufsatz hat als Ziel, eine neue Interpretation anzubieten, die auf der Kontextualisierung dieser Geste basiert und die im Lied implizite Kunst- und Geschlechterpolitik deutlich macht. Die Analyse entwickelt sich in drei Schritten. Zuerst wird das allgemeine Unbehagen beim Beißen eines anderen Menschen skizziert; dann wird eine geschlechtliche Dimension eingeführt, mit einer Darstellung des in der abendländischen Kultur verbreiteten Motivs der vagina dentata ; und schließlich kehrt der Fokus auf Hadlaub zurück. Der Mensch mag nicht über die mächtigen Kiefer und scharfen Zähne vieler Tiere verfügen, aber sein Biss hat doch ein erhebliches Schadenspotenzial. In der westlichen Kultur wird Beißen trotzdem nicht mit Kampftechniken wie Schlagen, Ringen, Treten oder Stechen gleichgesetzt. Aggressives Beißen erwachsener Menschen wird als anomales Verhalten eingestuft - und in mittelalterlicher Sicht als höchst unhöfisch. Es markiert die Abweichung von rationalem, menschlichen Verhalten: Tiere beißen naturgemäß, aber auch Kinder, 2 Geistes- 1 Die Schweizer Minnesänger , nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und hg. von Max Schiendorfer, Bd. 1: Texte , Tübingen 1990, S. 316-319; ebenso Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers , hg. von Max Schiendorfer, Zürich/ München 1986, S. 14-21. 2 Ein extremes Beispiel kindlichen Beißens findet sich im mittelenglischen Sir Gowther (in: Six Middle English Romances , hg. von Maldwyn Mills, London 1973, S. 148-168), in welchem der Protagonist als Baby die Brustwarze der Mutter abbeißt (V. 124-129), später aber diese und andere böse Taten bereut. Siehe Mary E. Shaner, „Sir Gowther (Advocates Ms. 19.3.1)“, in: Medieval Literature for Children , hg. von Daniel T. 262 Annette Volfing kranke, 3 die kulturell Anderen 4 und die von Dämonen Besessenen. 5 Auf der anderen Seite benutzen literarische Texte manchmal beißende Tiere für die Grauzone im Mensch-Tier-Bereich. Unter außergewöhnlichen Umständen kann ein Tier auf eine Weise beißen, die Vernunft und Moral demonstriert - also genau die Eigenschaften, die normalerweise Menschen zugeordnet werden. 6 Der Hund von Antiochien ist ein Beispiel für ein treues Tier, das den Mord an seinem Herrn mit seinen Zähnen rächt. 7 Noch berühmter ist der Werwolf-Protagonist in der Bisclavret von Marie de France, der das Verbrechen seiner untreuen Ehefrau aufdeckt, indem er ihr die Nase abbeißt. 8 Die Tabuisierung aggressiven Beißens ist eng mit dem legitimen Einsatz der Zähne zum Essen verbunden und damit mit der Angst vor beabsichtigtem oder unbeabsichtigtem Kannibalismus. Das Szenario, in dem Menschenfleisch böswillig als scheinbar harmloses Gericht serviert wird, findet auch in der mittelalterlichen Welt ein Echo - insbesondere im Schulterbiss , Kline, New York 2003, S. 299-322; Anna Chen, „Consuming Childhood: Sir Gowther and National Library of Scotland MS Advocates 19.3.1“, in: Journal of English and Germanic Philology 111 (2012), S. 360-383. 3 Margery Kempe ( The Book of Margery Kempe , hg. von Barry Windeatt, Woodbridge 2004) war nach der Geburt eines Kindes owt of hir mende (Kapitel 1, S. 54). Ein Symptom dafür war der Umstand, dass sie sich so tief in die eigene Hand biss, dass sie eine permanente Narbe davontrug: sche bot hir owen hand so vyolently that it was seen al hir lyfe aftyr (Kapitel 1, S. 55). Margery ist später in der Lage, einer anderen gemütskranken Frau zu helfen, die einen ähnlichen Hang zum Beißen entwickelt hat (Kapitel 75, S. 327-329). 4 Sebastian Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages: German Comic Tales 1350-1525 , Oxford 2008, S. 148 (Bezug nehmend auf Hans Folz): „Biting […] is evidently conceived to be symptomatic of the most bestial behaviour and thus reserved for the extreme denigration of social character-types such as Jews“. 5 Von Teufeln wurde gemeinhin angenommen, dass sie die Verdammten beißen oder sogar verschlingen. Siehe z. B. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit , nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text , besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990 (MTU 100), III,21, S. 101: Den wocherer naget er [d. h. Lucifer] ane underlas und verwisset im, das er nie barmherzig wart. Caroline Walker Bynum, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200-1336 , New York 1995, lenkt die Aufmerksamkeit auf die vielerorts zu findenden ikonographischen Motive der Hölle als Mund (S. 148; 192f.; 293; Abb. 10, 12, 13, 15, 27, 28, 32) und der Verdammnis als Verdauungsprozess (S. 119; 307; Abb. 3, 6, 16, 30, 31). Was Sir Gowthers bösartige Angriffe auf die Brustwarzen seiner Mutter betrifft (siehe Anm. 2), sind diese nicht nur mit seiner Unreife zu erklären, sondern durch den Umstand, dass er von einem Dämon gezeugt wurde. 6 Zu Tieren und Rationalität siehe Gillian Clark, „The Fathers and the Animals: The Rule of Reason? “, in: Animals on the Agenda: Questions about Animals for Theology and Ethics , hg. von Andrew Linzey und Dorothy Yamamoto, Urbana 1998, S. 67-79; Peter G. Sobol, „The Shadow of Reason: Explanations of Intelligent Animal Behaviour in the Thirteenth Century“, in: The Medieval World of Nature: A Book of Essays , hg. von Joyce E. Salisbury, New York/ London 1993, S. 109-128. 7 Die Geschichte des Hundes von Antiochien wird von Ambrosius ( Hexameron 6,4,24, in: PL 14 [ 2 1882], Sp. 251) und Gerald von Wales ( Itinerarium Kambriae et Descriptio Kambriae , in: Giraldi Cambrensis opera , Bd. 6, hg. von James F. Dimock, London 1868 [Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 21], hier 1,7, S. 127f.) überliefert; vgl. Susan Crane, Animal Encounters: Contacts and Concepts in Medieval Britain , Philadelphia 2013, S. 61-63. Zur ähnlichen Geschichte des Hundes von Montargis siehe John Aberth, An Environmental History of the Middle Ages: The Crucible of Nature , London 2013, S. 174f. 8 Marie de France, Bisclavret , in: Marie de France, Les Lais de Marie de France , hg. von Jean Rychner, Paris 1983 (Classiques Français du Moyen Age 93), S. 117-133. Von der umfangreichen Sekundärliteratur siehe besonders Crane (wie Anm. 7), S. 42-68; Emma Campbell, „Political Animals: Human/ Animal Life in Bisclavret and Yonec “, in: Exemplaria: A Journal of Theory in Medieval and Renaissance Studies 25 (2013), S. 95-105; Alison Langdon, „The Nose Knows: Encountering the Canine in Marie de France’s Bisclavret “, in: Enarratio 18 (2014), S. 49-62. Hadlaubs beißende Dame 263 dem verlorenen Text von Chrétien de Troyes, der vermutlich eine Bearbeitung des Pelops-Mythos darstellt, 9 und im Herzmære Konrads von Würzburg (und in seinen französischen Vorläufern), in dem ein Mann seine Frau dadurch straft, dass er ihren Geliebten tötet und ihr sein Herz auftischt. 10 Das Risiko des Kannibalismus war ein Bereich von theologischem und scholastischem Belang, da diese Praxis nach damaliger Auffassung die Frage nach der eigenen Identität problematisierte und ein Hindernis für die Auferstehung der Toten darstellte. 11 In diesem Zusammenhang stellt der Empfang der Eucharistie einen Sonderfall dar; Caroline Walker Bynum argumentiert sogar, dass das Sakrament als das genaue Gegenteil des Kannibalismus (d. h. der physischen Einverleibung menschlichen Fleisches durch einen anderen Menschen) zu sehen sei. 12 Während also dem Zerbeißen der Hostie nichts Sündiges oder Unangemesses anhaftet, 13 stellen mittelalterliche Texte diesem Akt gelegentlich profanere oder sogar kriminelle Formen des Beißens gegenüber. Johannes Chrysostomus stellt eine Analogie zwischen dem profanen Liebesbiss und dem Zerbeißen der Hostie her, 14 während eine merkwürdige Episode im Leben des Hugo von Lincoln beschreibt, wie Hugo seine Zähne benutzt, um einen Teil einer Reliquie der heiligen Maria Magdalena zu stehlen. 15 Er versucht zunächst 9 Chrétien de Troyes, Cligès , hg. von Alexandre Micha, Paris 1957, zählt le mors de l’espaule zu seinen Werken (V. 4). 10 Konrad von Würzburg, Das Herzmære , in: Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmäre , hg. von Edward Schröder, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke, Stuttgart 1968 (RUB 2855/ 2855a), S. 66-99. Zu den Quellen siehe Ursula Schulze, „Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst im ‘Herzmære’“, in: Mediævalia Litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag , hg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb, München 1971, S. 451-484. Zu diesem narrativen Motiv im weiteren europäischen Zusammenhang siehe Julia Bohnengel, Das gegessene Herz. Eine europäische Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert: Herzmære - Le cœur mangé - Il cuore mangiato - The eaten heart , Würzburg 2016 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 74). 11 Vgl. James E. Cross, „The Dry Bones Speak - A Theme in Some Old English Homilies“, in: Journal of English and Germanic Philology 56 (1957), S. 434-439; Bynum (wie Anm. 5), bes. S. 41-43 und 101-114; Philip L. Reynolds, Food & the Body. Some Peculiar Questions in High Medieval Theology , Leiden 1999. Siehe auch den Beitrag von Timothy Jackson im vorliegenden Sammelband. 12 Bynum (wie Anm. 5), S. 41: „The fact that we eat God in the Eucharist and are truly fed on his flesh and blood is a paradoxical redemption of that most horrible of consumptions: cannibalism“. 13 Siehe Marily McCord Adams, Some Later Medieval Theories of the Eucharist. Thomas Aquinas, Giles of Rome, Duns Scotus, and William Ockham , Oxford 2010, S. 260, zum angeblichen Problem, „that the faithful literally eat the flesh of Christ the way they might consume a piece of chicken or lamb“. Unbehagen bei diesem Gedanken führte bei Thomas von Aquin und anderen zu einer Unterscheidung zwischen den Species oder Zeichen der Eucharistie, die verzehrt werden, und dem realen Körper und dem realen Blut Christi, die intakt bleiben. „Neither of the things signified - not the true Body and Blood of Christ and not the mystical body of Christ - is literally broken by the hands of the priest or torn by the teeth of the faithul“ (S. 266). 14 Johannes Chrysostomus, Homelia 24 in Epistola primam ad Corinthios , in: PG 61 (1862), Sp. 197-206, hier Sp. 204: Hoc corpus dedit nobis et tenendum et comedendum, quod intensæ dilectionis fuit. Eos enim quos ardenter amamus, etiam sæpe mordemus. Ideo Job amorem famulorum, qui circa illum erant ostendens dicebat, illos ipsum vehementer amantes dixisse: Quis nobis det de carnibus suis ut impleamur (Job. 31. 31)? Sic et Christus dedit nobis carnes suas ut impleamur, ad majorem nos amicitiam attrahens . Vgl. Joseph Wawrykow, „The Heritage of the Late Empire: Influential Theology“, in: A Companion to the Eucharist in the Middle Ages , hg. von Ian C. Levy, Gary Macy und Kristen van Ausdall, Leiden/ Boston 2012 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 26), S. 59-91, hier S. 73. 15 Magna Vita Sancti Hugonis - The Life of St Hugh of Lincoln , hg. von Decima L. Douie und David H. Farmer, Oxford 1985, Kapitel XIV, Bd. 2, S. 169f. Zur dieser Episode siehe Peter Dinzelbacher, „Die Realpräsenz der 264 Annette Volfing mit einem Messer durch den Knochen zu schneiden, aber nachdem dies fehlschlägt, beißt er stattdessen ein Stück ab. Augenzeugen reagieren entsetzt und vergleichen sein Verhalten mit dem eines Hundes, aber Hugo argumentiert, dass sich dieser Akt in nichts davon unterscheide, wie er normalerweise mit seinen Lippen und Zähnen den Leib des Herrn empfange. Der Akt des Beißens - oder Essens - eines anderen Menschen ist grundsätzlich auch mit Fragen von Begierde, Sexualität und Gender verbunden. Im Herzmære schlägt das grausame Verhalten des Mannes fehl, gerade weil die körperliche Einnahme des Geliebten zu einer Quelle der erotischen Erfüllung für die Ehefrau wird - auf eine Weise, die gewisse eucharistische Obertöne hat. 16 In einem nicht-kannibalistischen Kontext stellt das sanfte (oder weniger sanfte) Beißen zumindest in klassischen und frühchristlichen Schriften einen anerkannten Bestandteil des erotischen Repertoires dar. Wie bereits erwähnt, kommentiert Johannes Chrysostomus die Neigung Liebender, sich gegenseitig zu beißen, und Ovid spricht in den Amores von sichtbaren Liebesbissen. 17 Während ausdrückliche Verweise auf Liebesbisse in der mittelalterlichen Kultur selten sind, lässt sich ein Bild im Codex Manesse dahingehend interpretieren. Das Autorenbild für Wernher von Teufen zeigt zwei Liebende, die gemeinsam ausreiten, während das Pferd des Ritters liebevoll in die Mähne des Pferdes der Dame beißt. 18 Während sich der Akt des Beißens somit auf die ihm gemäße Tierdomäne beschränkt, dehnt die enge Verbindung - ja Parallelität - zwischen den Liebenden und den Pferden das erotische Beißen als Möglichkeit auf die Welt der menschlichen Liebe aus. Diese Technik der Verwendung eines Tieres, um menschliches Beißen darzustellen, ist auch ein Merkmal des Hadlaub-Autorenbilds im Codex Manesse, wie im Folgenden noch diskutiert wird. 19 Der Akt des Beißens während des Geschlechtsverkehrs kann auch negativ als ein Zeichen für Kontrollverlust konnotiert werden, oder als eine tückische und bösartige Form der weiblichen Sexualität, die nicht nur vorübergehende oder bleibende Spuren auf dem Körper hinterlässt, 20 sondern bisweilen zum Verlust von Gliedmaßen führt. Die implizite Verknüpfung von monströser Weiblichkeit mit Kastration durch Beißen findet sich bereits im hethitischen Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen“, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart , hg. von dems. und Dieter R. Bauer, Ostfildern 1990, S. 115-174, hier S. 115; Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart , München 1994, S. 164. 16 Siehe Christian Kiening, „Ästhetik des Liebestodes“, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters , hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 171-193, bes. S. 187. 17 Ovid, Amores , Text, Prolegomena and Commentary , Bd. 1: Text and Prolegomena , hg. von James C. McKeown, Liverpool 1987 (ARCA Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 20), 1,7,41f.: aptius impressis fuerat liuere labellis / et collum blandis dentis habere notam ; 3,14,33f.: cur plus quam somno turbatos esse capillos / collaque conspicio dentis habere notam? 18 Codex Manesse (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848), Bl. 69r: http: / / digi.ub.uni-heidel berg.de/ diglit/ cpg848/ 0133 (letzter Zugriff 11.4.2018). 19 Codex Manesse, Bl. 371r: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg848/ 0737“ \t „_blank (letzter Zugriff 11.4.2018). 20 Heine projiziert auf den Hintergrund des Mittelalters seine Vision einer leidenschaftlichen Frau, deren Biss eine bleibende Narbe verursacht: Am Ende der Schlacht bei Hastings kann Edith Schwanenhals ihren gefallenen Geliebten nur an den Spuren der Bisse identifizieren, die sie ihm selbst zugefügt hatte: Auf seiner Schulter erblickt sie auch - / Und sie bedeckt sie mit Küssen - / Drey kleine Narben, Denkmäler der Lust, / Die sie einst hinein gebissen ( Schlachtfeld bei Hastings , in: Heinrich Heine, Sämtliche Werke 3.1. Düsseldorfer Ausgabe: Romanzero. Gedichte. 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Text , hg. von Frauke Bartelt und Alberto Destro, Hamburg 1992, S. 22-25, hier S. 25, V. 109-112). Hadlaubs beißende Dame 265 Lied von Kumarbi ( Das Lied vom Ursprung ). 21 Als der Gott Kumarbi die Genitalien seines Rivalen Anu abbeißt und verschluckt, wird er mit einer Reihe von neuen, mächtigen Gottheiten geschwängert. Auch wenn der kastrierende Biss eine erfolgreiche Aggression seitens eines Alpha-Mannes gegenüber einem anderen darstellt, haben die Handlung selbst - und der folgende Schritt der Einverleibung der abgebissenen Genitalien - den Effekt, Kumarbi zu effeminieren, indem sie aus dem Krieger eine Mutterfigur machen. Auf der metonymischen Beziehung zwischen Mund und Vagina beruht das archetypische Motiv der vagina dentata , der gezähnten Vagina, die beim Geschlechtsverkehr den Penis abbeißt. 22 Dieses Motiv ist in einem breiten Kreis von Kulturen von Asien bis Nordamerika nachgewiesen. Eine Variation des Motivs, wobei die Zähne nicht versteckt, sondern sichtbar sind, findet sich in der klassischen Antike in der Ikonographie des Seeungeheuers Skylla, aus deren Unterleib mehrere scharf gezähnte Hundeköpfe wachsen. 23 Am anderen Ende des Zeitenspektrums stellt das Motiv die zentrale Prämisse für Teeth , eine Öko-Horror-Komödie von Mitchell Lichtenstein aus dem Jahr 2007. 24 Die Protagonistin des Films, Dawn, hat eine Vagina, die es ihr erlaubt, Körperteile (Finger, Zunge oder Penis) zahlreicher Männer abzutrennen, deren missbräuchliches Verhalten eine Bedrohung für sie, für andere Frauen und für die Umwelt im Allgemeinen darstellt. Nachdem Dawn eine Reihe von Schurken, von ihrem treulosen Freund bis zu einem unprofessionellen Gynäkologen, ins Jenseits befördert hat, endet der Film mit der Andeutung, dass sie ihren Kampf als vigilante Öko-Feministin fortführen wird. 25 In der mittelalterlichen Literatur hat das Motiv der vagina dentata seine größte Relevanz in den Gattungen der fabliaux und mæren . Le jugement des cons z.B. ist eins von mehreren fabliaux , die weibliche Genitalien soweit personifizieren, dass sie essen, trinken und sprechen. 26 Drei Schwestern müssen hier das Alter ihrer Vagina ( con ) angeben, um die Liebe des jungen 21 CTH (= Catalog der Texte der Hethiter) 344: http: / / www.hethport.uni-wuerzburg.de/ txhet_myth/ partitur. php? xst=CTH%20344&prgr=%C2%A7%205&lg=DE&ed=“ \t „_blank (letzter Zugriff 13.1.2019). 22 Vgl. Barbara Creed, The Monstrous-Feminine. Film, Feminism, Psychoanalysis , London/ New York 1993, S. 105-121; Sarah A. Miller, „Monstrous Sexuality: Variations on the Vagina Dentata “, in: The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous , hg. von Asa S. Mittman und Peter J. Dendle, Farnham 2012, S. 311-328; Marianne Hopman, Scylla: Myth, Metaphor, Paradox , Cambridge 2012, bes. S. 138-141; Michelle A. Gohr, „Do I Have Something in my Teeth? Vagina Dentata and its Manifestations within Popular Culture“, in: The Moral Panics of Sexuality , hg. von Breanne Fahs, Mary L. Dudy und Sarah Stage, Basingstoke 2013, S. 27-43. Das Motiv der vagina dentata findet sich auch in mehreren zeitgenössischen Romanen wieder: Neal Stephenson, Snow Crash , London 1993, S. 50: „She’s not afraid; she’s wearing a dentata“; Ben Aaronovitch, Moon over Soho , London 2011, z. B. S. 80: „St John Giles was a putative Saturday-night date rapist whose career was, literally, cut short in a club when a woman, or at least something that looked like a woman, bit his penis off - with her vagina“. 23 Ovidii Nasonis Metamorphoses , hg. von Richard J. Tarrant, New York 2004, 14,59-67, S. 412; Hopman (wie Anm. 22); Miller (wie Anm. 22), S. 318f. 24 Vgl. Miller (wie Anm. 22), S. 324f.; Gohr (wie Anm. 22), S. 28f.; Roland Finger, „Biting Back: America, Nature and Feminism in Teeth“, in: Eco-Trauma Cinema , hg. von Anil Narine, New York 2015, S. 134-145. 25 Finger (wie Anm. 24), S. 142: „In the film’s closing scene, Dawn as a hitch-hiker tries to exit the automobile of a dirty old man, who symbolizes the antiquated cultural roots of male corruption. This driver of a gasguzzling Cadillac thinks that he can take advantage of this young woman, and he tries to give the idea that he is sexy with his snake-like tongue. Will Dawn bite off this man’s tongue, his fingers, his nose or his penis? “ 26 Le Jugement des Cons , in: Nouveau Recueil Complet des Fabliaux , Bd. 4, hg. von Willem Noomen und Nico van den Boogard, Assen/ Maastricht 1988, Nr. 23, S. 23-33. Vgl. E. Jane Burns, Bodytalk: When Women Speak in Old French Literature , Philadelphia 1993, S. 54f. 266 Annette Volfing Mannes zu gewinnen, in den sie alle drei verliebt sind. Die erste Schwester sagt, dass ihr con älter sei als sie, denn er habe einen Bart, aber sie selbst noch nicht. Die zweite sagt, dass ihr con jünger sei als sie, weil er, anders als das Mädchen selbst, noch nicht lang Zähne habe (V. 134f.: Que j’ai les denz et granz et lons / Et mes cons n’en a encor nus ). Die dritte sagt, ihr con sei jünger als sie, weil er immer noch sauge und sie nicht mehr. Die Antwort der zweiten Schwester - mit der ominösen Andeutung, allen cons würden früher oder später gefährliche Zähne wachsen - ist eindeutig eine Referenz auf das Motiv, das den Gegenstand dieser Betrachtungen darstellt. Wenn mittelhochdeutsche mæren das Motiv der vagina dentata aufgreifen, dann tendenziell mit der Sichtweise, dass der Vagina generell keine echten Zähne wachsen. Rachsüchtige Frauen müssen daher der Natur nachhelfen, indem sie scharfe Fremdkörper verwenden - wie etwa im Fall des Mädchens in Spiegel und Igel , das sich den Stachel eines Igels in ihre Vagina einführt: eine unangenehme Überraschung für den Mann, der sie zuvor mithilfe eines Spiegels glauben machte, ihre Geschlechtsteile würden in Flammen stehen. 27 In anderen Texten wird auf das Motiv eher indirekt angespielt, wenn die Erzählung sich vorgeblich mit den realen, sich im Mund befindlichen Zähnen beschäftigt. In Kaufringers Die Rache des Ehemannes bringt eine Ehefrau ihren Mann durch einen Trick dazu, sich völlig gesunde Zähne ziehen zu lassen, um diese ihrem Geliebten, einem Priester, zu schenken. 28 Als der Ehemann die Situation schließlich durchschaut, übt er eine zweifache Rache. Er kastriert den Priester und lässt diesen nur unter der Bedingung am Leben, dass er sich bei der angemessenen Bestrafung der untreuen Ehefrau zum Instrument des Ehemannes macht: Wenn die Frau bei der nächsten Umarmung ihre Zunge in seinen Mund einführe, solle er sie abbeißen. Laut Ralph Tanners Interpretation steht die Zunge für die Sprache, d. h. für jene typisch weibliche Redegewandtheit, die es der Frau überhaupt erst ermöglichte, ihren Mann zu täuschen. 29 Diese Episode involviert aber auch eine Form von Geschlechtertausch, die die faktische gender -Zugehörigkeit der Protagonisten beiseite lässt und den Akt der Kastration implizit als archetypisch weiblich darstellt: Da der Priester die phallische Zunge der Frau abbeißt, wird sein Mund zu einer vagina dentata . 30 Die Anweisungen des Ehemannes sind so konzipiert, dass nicht nur die Frau bestraft, sondern auch die bereits vollzogene Effeminierung des einst so virilen Priesters in den Vordergrund gestellt wird. - In Virgils Zauberbild dagegen gehört der beißende Mund (der mit der bocca della verità assoziiert wird) nicht einem menschlichen Wesen, sondern zu 27 Hans Rosenplüt [? ], Spiegel und Igel , in: Hanns Fischer, Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts , München 1966 (MTU 12), Nr. 15a/ b, S. 124-133; vgl. Ingeborg Glier, „‘Der Spiegel’ und ‘Spiegel und Igel’“, in: 2 VL , Bd. 9, Berlin/ New York 1995, Sp. 91-94. Für ein modernes Äquivalent einer Frau, die zu diesem Mittel greift, siehe Ingmar Bergmanns Film Viskningar och rop ( Schreie und Flüstern ) aus dem Jahr 1972, in dem eine Ehefrau Glasscherben in ihre Vagina einführt, während sie darauf wartet, dass ihr Mann zu ihr ins Bett kommt; vgl. Creed (wie Anm. 22), S. 107. 28 Heinrich Kaufringer, Die Rache des Ehemannes , in: Heinrich Kaufringer, Werke , hg. von Paul Sappler, Bd. 1: Text , Tübingen 1972, Nr. 13, S. 140-153. 29 Ralph Tanner, Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200-1600) , Würzburg 2005, S. 374. 30 Udo Friedrich, „Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählers bei Heinrich Kaufringer“, in: IASL 21 (1996), S. 1-30, hier S. 9, weist auf frühere Beispiele feminisierten Verhaltens aufseiten des Priesters hin (z. B. sein Bestehen auf einen Liebesbeweis der Dame): „Der Erwartungsbruch ist also abgeleitet aus der ‘verkehrten Welt’ der Geschlechterbeziehung“. Für weitere Beispiele von Geschlechtertausch in mittelhochdeutschen Mären siehe Andrea Schallenberg, Spiel mit den Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen , Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 7), S. 354-403, bes. S. 355-378. Hadlaubs beißende Dame 267 einem mechanischen Konstrukt. 31 Er stellt ein soziales Korrektiv zur Bestrafung sexueller Vergehen dar, indem er gehörnten Ehemännern Hörner sprießen lässt, aber auch die Finger derer abbeißt, die Meineid schwören. Wie Dawn in Teeth - und im Gegensatz zum Ehemann oder dem Priester in Kaufringers Erzählung - blutet er weder selbst, noch trägt er Schaden davon. Seine Reaktionen auf Fehlverhalten sind somit unpersönlich und objektiv und stehen über jedwedem persönlichen Rachemotiv. In seiner strafenden Rolle kann er als eine Art Höllenmund (im Kleinformat) betrachtet werden, der manchmal als die ultimative vagina dentata interpretiert wird. 32 Diese Einstellungen zum weiblichen Biss liefern teilweise auch einen Kontext für die Interpretation von Hadlaubs Lied II. 33 Das Lied beschreibt, wie das Sprecher-Ich die Dame von Kind auf liebt, ohne dass sein Liebesdienst je belohnt worden wäre. Es ist hier sinnvoll, durchweg zwischen dem Sprecher-Ich als Liebhaber (mit seiner emotionalen Involviertheit) und als Erzähler (wenn er über vergangene Erfahrungen reflektiert und in der Rolle des Vermittlers auftritt) zu unterscheiden. Der Erzähler ist sich der Feindseligkeit der Dame durchaus bewusst, der Liebhaber sieht dagegen den Kontakt mit ihr tendenziell in einem positiven Licht. Während der Liebhaber bei der Dame zunächst auf taube Ohren stößt, ist er erfolgreicher, wenn es darum geht, bei seinen Mäzenen Mitleid auszulösen: daz wart erbarmide herren, dien wartz kunt, / daz ich nie mit rede ir was gewisen bî (I,5f.). Durch die Intervention der Mäzene kommt es zu einem Treffen zwischen dem Liebhaber und seiner Dame in aller Öffentlichkeit. Ihre Haltung ihm gegenüber bleibt jedoch gänzlich abweisend: II,1 Swie ich was mit hôhen herren komen dar, doch was si gar hert wider mich. Si kêrt sich von mir, do sî mich sach, zehant: von leid geswant mir, hin viel ich. (II,1-4) Als der Liebhaber aus Schmerz über die Ablehnung in Ohnmacht fällt, richten ihn die Mäzene wieder auf und legen die Hand der Dame in die seine: Die herren huoben mich dar, dâ si saz / unde gâben mir balde ir hant in mîn hant. / do ich des bevant, dô wart mir baz (II,5-7). Er fällt jedoch schon bald erneut in Ohnmacht. Im Nachhinein kommentiert der Erzähler, dass die Mäzene die Dame nie dazu hätten bewegen können, seine Hand zu halten, hätte sie nicht befürchtet, für seinen Tod verantwortlich gemacht zu werden: 31 Virgils Zauberbild , in: Fischer (wie Anm. 27), Nr. 46, S. 388-390. Vgl. Frieder Schanze, „Virgils Zauberbild“, in: 2 VL , Bd. 10, Berlin/ New York 1999, Sp. 381-384; Dorothea Ackermann, Gewaltakte - Disziplinapparate. Geschlecht und Gewalt in mittel- und frühneuhochdeutschen Mären , Diss. Würzburg 2007, S. 144-147. 32 Creed (wie Anm. 22), S. 106; zur Hölle als Mund im Allgemeinen siehe Anm. 5. 33 Zu diesem Lied siehe Johannes Hadlaub. Lieder und Leichs , hg. und kommentiert von Rena Leppin, Stuttgart/ Leipzig 1995, S. 128-139; Ursel Fischer, Meister Johans Hadloub. Autorbild und Werkkonzeption der Manessischen Liederhandschrift , Stuttgart 1996, S. 79-90; Volker Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub“, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995 , hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 200-210, bes. S. 204-206; Andrea Rapp, „ Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn . Zur Deutung des Hundes in Hadlaubs Autorbild im Codex Manesse“, in: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter , hg. von Sabine Obermaier, Berlin/ New York 2009, S. 207-232. 268 Annette Volfing III,1 Mich dûchte, daz niemen möchte hân erbetten sî, daz sî mich frî nôt hæte getân, Wan daz si vorchte, daz si schuldig wurde an mir: ich lag vor ir als ein tôt man 5 Und sach si jæmerlich an ûz der nôt. (III,1-5) Angesichts des mitleiderregenden Zustandes des Liebhabers gibt die Dame nach und überlässt ihm ihre Hand. Sie findet sogar einige sanfte Worte für ihn, während sein Arm auf ihrem Schoß ruht. Doch dann - hat er ihre Hand zu fest oder zu lange umklammert? - beißt sie ihn plötzlich und unerwartet in die Hand: Do hâte ich ir hant sô lieblich vaste, gotte weiz, / dâ von si beiz mich in mîn hant (V,1f.). Obwohl sie ihm nur vorübergehend leichte Schmerzen zufügt, war es eindeutig ihre Intention, ihn zu verletzen. Dennoch ist die Erfahrung für ihn eine genussvolle: Si wânde, daz ez mir wê tæt, do frœte ez mich: so gar suozze ich ir mundes bevant. V,5 Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn, des mir wê tet, daz sô schiere zergangen was. mir wart nie baz, des muoz wâr sîn! (V,3-7) Es mag vielleicht überraschen, dass der Akt des Beißens ohne unmittelbare Auswirkungen bleibt: Die Mäzene rügen die Dame nicht, aber sie sind auch noch nicht mit ihr fertig. Jetzt verlangen sie, sie solle dem Liebhaber einen persönlichen Gegenstand als Minnepfand übergeben. Im Rahmen des Minnedienstes wird die Übergabe eines solchen Gegenstandes (z. B. eines Rings, eines Ärmels oder eines Unterkleides) in der Regel als Teil der Belohnung für einen bereits geleisteten Minnedienst ausgelegt. Aus der Sicht des Mannes ist der entscheidende Vorteil eines solchen Geschenks, dass es die formelle Anerkennung eines wie auch immer gearteten erotischen Anspruchs durch die Frau signalisiert. Der Mangel an Begeisterung seitens der Dame, die genötigt wird, einen solchen Vorschuss zu leisten, ist greifbar. Sie entscheidet sich dafür, sich von einem nadelbein (Nadelbüchslein) zu trennen, aber anstatt es auf die erwartete schickliche Weise zu übergeben, wirft sie es ihm einfach hin. Wiederum findet der Liebhaber an der Handlung Gefallen (VI,4: in süezzer ger balde ich ez nam ), die Mäzene aber sind nicht zufrieden: Sie heben das Nadelbüchslein auf, geben es der Dame zurück und bestehen darauf, dass sie es noch einmal übergibt, und dieses Mal auf angemessene Weise (VI,5f.: Si nâmen mirz und gâbenz ir wider dô / und irbâten sî, daz sî mirz lieblîch bôt ). Wie zu erwarten, ist der Liebhaber ein weiteres Mal entzückt (VI,7: in sender nôt wart ich sô frô ) und verfällt in eine umfangreiche laudatio der Mäzene. Drei ganze Strophen sind der namentlichen Nennung historisch belegter Personen aus der Zürcher Aristokratie gewidmet (VII-IX). 34 Während das Lied die Fürsprecher des Liebhabers zunächst als herren bezeichnet, wird jetzt deutlich, dass einige von ihnen weiblich sind (VII,1: Von Zürich diu vürstin ; VIII,3f.: da wâren ouch bî / edil frowen, hôhe pfaffen, ritter guot ). Gegen Ende des 34 Für die im Lied namentlich genannten Personen siehe Herta-Elisabeth Renk, Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift , Stuttgart 1974 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 33), S. 19-104; Max Schiendorfer, „Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadlaub (SMS 2). Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten Manessekreises“, in: ZfdPh 112 (1993), S. 37-65; Hans-Jochen Schiewer, „Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300“, in: Oxford German Studies 22 (1993), S. 21-54, hier S. 22-24. Hadlaubs beißende Dame 269 Liedes kommt der Sprecher auf die Schönheit der Dame zurück und auf das große Vergnügen, das ihm das Halten ihrer Hand bereitet hat (X-XII). Die letzte Strophe (XIII) ist erneut dem Mäzenatentum gewidmet, diesmal dem Lob Bischof Heinrichs von Klingenberg. Historisch gesehen handelt es sich bei den genannten Personen nicht um eine politisch miteinander verbundene Gruppe, und es ist unwahrscheinlich, dass sie jemals alle an einem Ort versammelt waren oder an einem Projekt, wie es im Lied beschrieben wird, mitgewirkt hätten. 35 Laut Volker Mertens stellt das Lied vielmehr ein ideales Publikum dar, was gleichzeitig impliziert, dass die gemeinsame Freude an Minnedienst und Minnesang eine wichtige Rolle im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt spielt. 36 Die in diesem Lied beschriebenen Ereignisse - in denen keine Körperteile abgetrennt und keine Wunden zugefügt werden - mögen weit von der grausamen Welt von Mythos, fabliau und mære entfernt scheinen. Zugegebenermaßen ist Hadlaubs narrative Welt nicht immer eine vornehme Gesellschaftskomödie: Wie Martina Backes gezeigt hat, wird an anderer Stelle auch sexuelle Aggression thematisiert, insbesondere in Lied III, wo offen die Vergewaltigungsphantasien des Sprechers zum Ausdruck kommen. 37 Dennoch ist Lied II intertextuell in erster Linie mit höfischen Erzählungen verbunden. Einige der Motive leiten sich möglicherweise von Flore und Blanscheflur ab. 38 Der Biss selbst sei laut Mertens „das Wörtlichnehmen einer sprichwörtlichen Redensart aus Hartmanns ‘Iwein’, daß nämlich die Dame den Helden nicht beiße ( mîn vrouwe enbîzet iuwer niht , V. 2269)“. Davon abgesehen stellt ein realer Biss für eine Dame jedoch eine markante Abweichung von den Normen höfischen Verhaltens dar; er steht als unerhörtes Ereignis im Mittelpunkt dieses novellenartigen Liedes und führt zu einer ganz anderen zwischenmenschlichen Dynamik als derjenige zwischen den Liebenden in Flore und Blanscheflur . Es gibt außerdem zwar mehrere Entsprechungen zwischen Hadlaubs Dame und Laudine, da beide unter erheblichem sozialen Druck stehen, einen unwillkommenen Liebhaber zu akzeptieren. 39 Für Laudine wäre es aber undenkbar, wie Hadlaubs Dame zu handeln. Während Lunetes Kommentar selbst das Risiko eines metaphorischen Bisses negiert, berichtet das Lied von der schockierenden Tatsache eines realen Bisses. Hadlaubs narrative Lieder werden häufig auf der Folie von Ulrichs von Lichtensteins Frauendienst gelesen, der ebenfalls mit der Literalisierung und Konkretisierung von Tropen der höfischen Liebeslyrik spielt. 40 Beide Autoren stellen die höfische Minne als ein Gesellschaftsspiel 35 Siehe Schiendorfer (wie Anm. 34). 36 Mertens (wie Anm. 33), S. 204: „Hadlaub will keinen real existierenden ‘Manessekreis’ darstellen, sondern eine ideale Einheit der politischen Führungsschicht Zürichs in der Kunst“. 37 Martina Backes, „ Wer wolte mich des wenden? Literarische Geltungsansprüche im Werk Hadlaubs“, in: Wolfram-Studien 21 (2013), S. 349-363. 38 Renk (wie Anm. 34), S. 168-179. Mertens (wie Anm. 33), S. 204, listet die gemeinsamen Elemente folgendermaßen auf: „die Kinderliebe […], der übersensible Liebhaber, das Geschenk des Nadelbüchsleins (bei Blanscheflur ist es ein Griffel)“. Christine Putzo, Konrad Fleck, ‘Flore und Blanscheflur’. Text und Untersuchungen , Berlin 2015 (MTU 143), S. 7, Anm. 18, bezeichnet diese Verbindung allerdings als „sehr vage“. 39 Hartmann von Aue, Iwein , hg. von Ludwig Wolff nach dem Text von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, Berlin 7 1968, V. 1889-1970. Für die Nötigung von Laudine siehe Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik in Hartmanns Iwein , Berlin 1978 (Beihefte zur ZfdPh 3). 40 Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst , hg. von Franz V. Spechtler, Göppingen 1987 (GAG 485). Zu den Affinitäten zwischen Hadlaub und Ulrich siehe Ursula Peters, Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung , Göppingen 1971 (GAG 46), S. 206-208; Mertens (wie Anm. 33). Zur Inszenierung des Minnediensts in Hadlaubs Schriften siehe auch Volker Mertens, „Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: Fragmente eines 270 Annette Volfing dar, das die kollektive Inszenierung von zunehmend aufwendigen Szenarien beinhaltet. Es bestehen markante Affinitäten zwischen ‘Happenings’ wie Ulrichs Venusfahrt und der im zweiten Hadlaub-Lied beschriebenen Szene, in der eine Gruppe prominenter Persönlichkeiten mit dem Liebhaber einen Komplott schmiedet, um ein tableau vivant des belohnten Liebesdienstes zu erwirken. 41 Es lässt sich auch argumentieren, dass der Liebhaber aus Hadlaubs Lied II, der sich euphorisch beißen und verhöhnen lässt, starke masochistische Züge an den Tag legt 42 und in einer Linie mit Ulrichs Protagonisten steht, der sich nicht nur derben komödiantischen Demütigungen unterwirft, sondern auch die Verstümmelung seiner eigenen Hand initiiert. 43 Während Ulrichs Fingeramputation als ein Akt der Selbstkastration gelesen werden kann, 44 vertritt dieser Aufsatz die These, dass das Beißen der Hand in Hadlaubs Lied II eine besondere Variante des vagina dentata -Motivs darstellt. Obwohl der kraftlose Biss der Dame das Opfer weder erschreckt noch verletzt, wird die Aggressivität ihrer Handlung allen außer vielleicht dem Liebhaber selbst deutlich. Daneben besteht eine symbolische Verbindung zwischen den Zähnen und dem nadelbein , das später im Lied erwähnt wird. Nadeln und andere scharfe Gegenstände können, wie im Fall von Spiegel und Igel , Zähne repräsentieren. Die Entscheidung der Dame, sich von ihrem nadelbein zu trennen (anstatt von einem anderen, als Minnepfand angemesseneren Gegenstand), lässt ihre Reue erzwungen erscheinen. Im Gegensatz zu Kaufringers Die Rache des Ehemannes werden in diesem Text keine Zähne gezogen, aber die Übergabe dieser scharfen Gegenstände stellt die nächste Stufe des kollektiven Projektes der Mäzene dar - die Abneigung der Dame gegen den Liebhaber zu ignorieren und sie dazu zu zwingen, die ihr zugeschriebene Rolle im tableau , das um sie herum aufgebaut wird, zu akzeptieren. Insofern es die missliche Lage einer Frau beschreibt, die nicht in der Lage ist, Diskurses über die Liebe“, in: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987 , hg. von Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson und Hans-Hugo Steinhoff, Paderborn 1988 (Schriften der Universität- Gesamthochschule Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 49-65; Max Schiendorfer, „Das ‘konkretisierte’ Minnelied. Inszenierter Minnesang. Johannes Hadlaub: Ach, mir was lange “, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter , hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 864), S. 251-267. 41 Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst (wie Anm. 40), V. 470-985. 42 Renk (wie Anm. 34), S. 169. Ein Hang zum Masochismus aufseiten des Liebhabers ist für die Konstruktion des klassischen Minnediensts auf jeden Fall grundlegend; vgl. Harald Haferland, Hohe Minne: Zur Beschreibung der Minnekanzone , Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10), S. 282, Anm. 7. 43 Zu Ulrichs Selbstverstümmelung (der Operation am Mund und der Amputation des Fingers) siehe Christian Kiening, „Der Autor als ‘Leibeigener’ der Dame - oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im ‘Frauendienst’ Ulrichs von Liechtenstein“, in: Autor und Autorschaft (wie Anm. 33), S. 211-238, hier S. 220-230; vgl. auch ders., Zwischen Körper und Schrift: Texte vor dem Zeitalter der Literatur , Frankfurt a. M. 2003 (Fischer Taschenbuch 15951), S. 202-222. 44 Vgl. Ursula Liebertz-Grün, „Minne. Ambivalenzen, Intertextualität, Satire“, in: Ulrich von Liechtenstein. Leben - Zeit - Werk - Forschung , hg. von Sandra Linden und Christopher Young, Berlin 2010, S. 135-161, hier S. 145. Sonja Glauch, „Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte“, in: Historische Narratologie - Mediävistische Perspektiven , hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 149-185, hier S. 178, zieht Parallelen zwischen Ulrichs abgehacktem Finger und der Kastration Abelards. Andrea Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein - ein Transvestit? Überlegungen zur Geschlechterkonstruktion im ‘Frauendienst’ Ulrichs von Liechtenstein“, in: manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‘Körper’ und ‘Geschlecht’ in der deutschen Literatur des Mittelalters , hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 342-369, hier S. 368, legt nahe, dass der in den Rollen des klassischen Minnesangs implizite Rollentausch („Orientierung an der Frau“ und „Sublimierung des Begehrens“) allemal der Kastration des Mannes gleichkommt. Hadlaubs beißende Dame 271 persönliche Grenzen aufrecht zu erhalten und sich selbst vor Übergriffen zu schützen, beschreibt das Lied effektiv den Fall einer ‘gescheiterten’ vagina dentata . Nach dieser Lesart lässt sich das Hinwerfen des nadelbein nicht als eine mürrische Entschuldigung für transgressives Verhalten interpretieren, sondern eher als eine Geste der Frustration darüber, dass der Biss derart folgenlos bleibt. Kurzum: Die (symbolischen) Zähne sind des Aufbewahrens nicht wert. Durch das Eingreifen der Mäzene verliert die Dame ihren privilegierten Status als Mensch. Ihr Status wird nicht nur fast auf den eines Tieres reduziert, sie wird auch einer Behandlung wiederholter Unterwerfung unterzogen, die an das Zähmen und Abrichten einer wilden Kreatur erinnert. Im Codex Manesse wird diese Strategie der Animalisierung im doppelten Autorenbild, das narrative Elemente der Lieder I und II aufgreift, durch die enge Assoziation der Dame mit einem kleinen Hund hervorgehoben. 45 Die Illustration von Lied I zeigt den Liebhaber, der sich als Pilger verkleidet der Dame mit einem Brief nähert, während die Illustration zu Lied II darstellt, wie er zu Füßen der Dame ohnmächtig zu Boden sinkt, während die beiden von Mäzenen angespornt werden (vgl. Abb. 1). In beiden Abbildungen trägt die Dame einen kleinen schwarz-weißen Hund. Während kleine Hunde auch an anderen Stellen im Codex Manesse auftreten, impliziert die exponierte Stellung des Tieres in diesen beiden Bildern eine Bedeutung, die über die eines eleganten Accessoires hinausgeht. In der Abbildung zu Lied II sitzt der Hund auf dem Schoß der Dame, mit seiner Schnauze ganz in der Nähe der Hand des Liebhabers. 46 Das ikonographische Motiv eines Hundes - oder Hundekopfes -, der ganz deutlich aus dem Unterleib einer Frau herausragt, stellt eine Variation der normalerweise verborgenen Zähne der vagina dentata dar. 47 Wie bereits erwähnt, wachsen dem Seeungeheuer Skylla mehrere Hundeköpfe aus diesem Teil ihres Körpers. Auch in der Figur der SALIGIA, des ‘Siebenlasterweibes’, im Krumauer Bildercodex 48 stellt der Hundekopf, der der Frau wie eine Art inkorporierter Schoßhund aus dem Unterleib wächst, den sündhaften Hang zu den inhaltlich verwandten Sünden gula und luxuria dar. In allegorischen oder quasi-allegorischen Darstellungen dieser Art wird weniger die böse Überraschung, die den männlichen Partner erwartet, in den Blick genommen als vielmehr die eingefleischte Sündhaftigkeit der weiblichen Figur, deren fleischliche Begierden sie auf das Niveau des Hundes herabsetzen, der zu seinem eigenen Erbrochenen zurückkehrt (Spr 26,11 und 1. Petr 2,22). Im Fall des ‘Siebenlasterweibes’ ist dies ganz offensichtlich. Obwohl das Seeungeheuer Skylla ebenfalls eine Gefahr für andere (vornehmlich Seeleute) darstellt, interpretiert die allegorische Tradition die hervorragenden Köpfe tendenziell als Marker für übermäßigen sexuellen Appetit und weniger als ein verstecktes Kastrationsinstrument. 49 45 Zu den Autorenbildern siehe Rapp (wie Anm. 33). 46 Schiendorfer, Johannes Hadlaub (wie Anm. 1), S. 197, Fischer (wie Anm. 33), S. 51f., und Rapp (wie Anm. 33), S. 226, betonen, dass der Hund in beiden Autorenbildern zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt wurde, wenn auch wahrscheinlich vom Grundstockmaler. 47 Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst (wie Anm. 40), 97,3f. und 103,6-8, liefert ein weiteres Beispiel für die Verflechtung von Mund, Genitalien und Hunden. Siehe Liebertz-Grün (wie Anm. 44), S. 145: „Der operierte Mund erscheint in zweifacher Weise genital, er schwillt an wie eine Keule und wird gefüllt mit grüner Salbe, die nach verwesendem toten Hund stinkt“. 48 Krumauer Bildercodex = Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 370 (ca. 1360), Bl. 155v, abgebildet in: Krumauer Bildercodex. Österreichische Nationalbibliothek Codex 370. Facsimile-Band , Einführung von Gerhard Schmidt, Transkription und deutsche Übersetzung von Franz Unterkircher, 2 Bde., Graz 1967 (Codices Selecti Phototypice Impressi 13), hier Bd. 1, Bl. 155v. 49 Miller (wie Anm. 22), S. 319-324. 272 Annette Volfing Abb. 1: Codex Manesse, Autorbild zu Johannes Hadlaub (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848, Bl. 371r) Hadlaubs beißende Dame 273 Wie alle mittelalterlichen Tiere sind natürlich auch Hunde in ihrer Bedeutung polyvalent; nicht jeder mittelalterliche Schoßhund ist ein Marker für luxuria oder eine Chiffre für weibliche Genitalien. Im Gegenteil kann der Hund einer Dame zur Verteidigung von Ehre und Privatsphäre dienen. In Guillaumes de Machaut Le Jugement dou Roy de Behaigne nähert sich z. B. der Erzähler einem Paar, das in ein Gespräch vertieft ist, und muss feststellen, dass ihn der kleine Hund der Dame in den Mantel gebissen hat. 50 Hier ist der Hund durch die Annäherung des Erzählers aufgeschreckt worden und beschützt auf diese Weise die Privatsphäre der Dame. Hunde symbolisieren jedoch neben Loyalität auch Sinnlichkeit, weshalb Schoßhunde - wie Petitcrü - oft mit verborgener oder unerlaubter Liebe assoziiert werden. 51 Auch wenn der Hundebiss in Le Jugement dou Roy nicht per se erotisch gedeutet werden kann, betrifft der Disput des Paares eine ‘erotische’ Frage, die schließlich dem König zur Entscheidung vorgelegt wird, wer nämlich von ihnen in der Liebe mehr gelitten habe. Der augenfällige Schoßhund, der die höfische Dame begleitet, kann daher eine subtile und schickliche Anspielung auf ihre Sexualität - den ‘inkorporierten Schoßhund’ unter ihren Röcken - darstellen und dem potenziellen Werber Hoffnung machen, anstatt ihn abzuschrecken. Während die versteckte Männerfalle der früheren Beispiele am besten gänzlich zu meiden ist, lässt sich dieser innere Hund durch Schmeichelei und Überredungskunst gewogen stimmen. Letzten Endes steht er wahrscheinlich auf Seiten des Mannes - es kann nur von Vorteil sein, wenn die zu verführende Frau etwas zu gula und luxuria neigt. Tschechows berühmte Kurzgeschichte Die Dame mit dem Hündchen bietet eine anschauliche Parallele aus der neuzeitlichen Literatur. 52 Diese Geschichte handelt von einem permanent untreuen Ehemann, dessen Aufmerksamkeit von einer Dame mit einem kleinen Hund geweckt wird. Es ist der Hund - eine sichtbare, äußere Manifestation der weiblichen Sexualität -, der seine Aufmerksamkeit erregt und ihn dazu bringt, die Dame als seine nächste Eroberung auszuwählen: 53 Schmeichelnd lockte er den Spitz heran und drohte ihm, als er sich genähert hatte, mit dem Finger. Der Spitz begann zu knurren. Gurow drohte ihm noch einmal. Die Dame schaute zu ihm herüber, wandte ihren Blick aber sofort wieder ab. ‘Er beißt nicht’, sagte sie und errötete. ‘Darf ich ihm einen Knochen geben? ’ In dieser Passage rühmt sich der männliche Verführer offensichtlich seiner Fähigkeit, die potenziellen Gefahren, die mit der weiblichen Sexualität verknüpft sind, zu bestehen. Der Liebhaber in Hadlaubs Lied dagegen, glücklos und eher ungeschickt, wird tatsächlich gebis- 50 Guillaume de Machaut, Le Jugement dou roy de Behaigne , in: Guillaume de Machaut, Œuvres , hg. von Ernst Hoepffner, Paris 1908-1921, Nachdruck New York 1965, Bd. 1, S. 57-135, hier V. 1196-1211; vgl. Kathleen Walker-Meikle, Medieval Pets , Woodbridge 2012, S. 93f. 51 Gottfried von Straßburg, Tristan , hg. von Rüdiger Krohn nach dem Text von Friedrich Ranke, 3 Bde., Stuttgart 1980 u. ö. (RUB 4471-4473), V. 15765-16402. Für Personen, die ihre Beziehung geheim halten wollen, können Hunde auch als nützliche Boten fungieren: Für die Handlung von La Chastelaine de Vergi , hg. von René E. V. Stuip, Paris 1970, ist der petit chienet (V. 34) zentral. Zu Haustieren in der mittelalterlichen Literatur im Allgemeinen siehe Walker-Meikle (wie Anm. 50), S. 90-107. 52 Anton Tschechow, Die Dame mit dem Hündchen , in: Anton Tschechow, Die Dame mit dem Hündchen. Erzählungen 1896-1903 , aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky u. a., München 2009, S. 340- 362. 53 Ebd., S. 342. 274 Annette Volfing sen. Dass die Erfahrung ihn dennoch mit Freude erfüllt, scheint zum einen aus dem direkten physischen Kontakt mit dem Mund der Dame zu resultieren und zum anderen, weil jetzt das ‘Tier in ihr’ sichtbar geworden ist. Mit etwas Wunschdenken seinerseits kann ihre Handlung sogar als Liebesbiss zu verstehen sein, ein Merkmal ungezügelter Sexualität: der innere Hund, der von der Leine gelassen wird. Für die objektiven Leser oder Zuhörer ist eine solche Auslegung jedoch unmöglich. Weit entfernt davon, fleischliche Begierde zu empfinden, ist Hadlaubs Dame ablehnend und von dem Minneszenario, das mit ihr als unwilligem Mittelpunkt inszeniert wird, peinlich berührt. Das Ziel der Mäzene ist es nicht, echtes Interesse seitens der Dame zu wecken - ein solches Vorhaben bräuchte sehr viel mehr Fingerspitzengefühl; es würde im Idealfall von einer sensiblen, diplomatischen Person bewerkstelligt und nicht von einer Schar von Fürsprechern. Stattdessen planen sie ein Gesellschaftsspiel, bei dem es letztlich die Dame ist, die schikaniert und gedemütigt wird. Im Gegensatz zur Dame in Le Jugement dou Roy scheint der Dame in Hadlaubs Lied tatsächlich ein kleiner Hund zu fehlen, der zu ihrer Verteidigung zubeißen könnte. Stattdessen muss sie diese Rolle selbst übernehmen, und sie tut es sehr unbeholfen: Im Gegensatz zu Dawn im Film Teeth , die männliche Übergriffe mit rücksichtsloser Effizienz bestraft, ist der Biss dieser Dame einfach - ‘süß’. Die Abbildungen im Codex Manesse wurden häufig dahingehend interpretiert, dass der Hund lediglich ein Stilmittel sei, das dem Künstler erlaube, in schicklicher Weise das Beißen der Geliebten darzustellen zu können - mit anderen Worten, der Hund repräsentiere die Dame. 54 Im Gegensatz dazu argumentiert Andrea Rapp, dass der Hund nicht beißt, sondern leckt, und dass dies im Hinblick auf die eben erfolgte Abfuhr einem gefühlvollen Trostspenden gleich käme. 55 Eine solche Interpretation des Bildes kann nur die völlige Ohnmacht der Dame untermauern: Ihr Schoßhund scheitert nicht nur an seinem Versuch, sie zu verteidigen (weil sein Biss zu oberflächlich ist), er scheint auch ganz offen mit den Mäzenen in deren Verkupplungsplänen gemeinsame Sache zu machen. Dass die Interessen des Liebhabers wie des Publikums im Widerspruch zu denen der Dame stehen, ist im Minnesang nichts Neues. 56 Bereits im klassischen Minnesang übt die Gesellschaft Druck auf die Dame aus, doch ihre Vertreter agieren eher im Verborgenen und nehmen nicht aktiv an den Geschehnissen teil. Hier jedoch sind sie äußerst aktiv - im Manesse-Bild scheint einer der Herren die Dame körperlich in der gewünschten Position festzuhalten, während ein anderer seine Hand in einer Geste der Ermutigung auf den Kopf des Liebhabers legt. Die starke Position des Liebhabers in Hadlaubs Lied basiert auf seiner Beziehung zu den Herren und seiner Fähigkeit, sie zufrieden zu stellen. Letztlich singt der gesamte Text ein Liebeslied an seine Mäzene und feiert das kulturelle Leben in Zürich. Sie sind diejenigen, die umworben werden, vor allem im zweiten Teil des Liedes, während die Dame auf den Status einer widerwilligen Trophäe reduziert wird. Mit der bizarren Unterredung belohnen die Mäze- 54 Siehe Rapp (wie Anm. 33), S. 226, Anm. 53. 55 Siehe ebd., bes. S. 228-231. 56 Der soziale Druck, der auf dem Objekt höfischer Liebe lastet, wird in den Frauenliedern Reinmars von Hagenau deutlich, insbesondere in Dêst ein nôt, daz mich ein man ( MF 195,25); vgl. William E. Jackson, Reinmar’s Women. A Study of the Woman’s Song (‘Frauenlied’ und ‘Frauenstrophe’) of Reinmar der Alte , Amsterdam 1981 (German Language and Literature Monographs 9), S. 274-280. Zur latenten Aggression innerhalb der höfischen Liebe siehe auch Beate Kellner, „Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen“, in: PBB 119 (1997), S. 33-66. Hadlaubs beißende Dame 275 ne die literarische Kompetenz des Sänger-Ichs oder zumindest sein literarisches Potenzial. Die laudatio auf die Gönner, die auf den narrativen Teil des Liedes folgt, zeigt, dass der Sprecher nunmehr verstanden hat, was von ihm verlangt wird, und in der Lage ist, die geforderten literarischen Leistungen zu erbringen. Dies stellt einen anderen Aspekt der Animalisierung der Dame dar. Auch Tiere dienen als Trophäen und Gebrauchsartikel, die ohne Berücksichtigung ihres Wohlbefindens als Geschenke weitergegeben oder auf andere Weise veräußert werden können. In vielen klassischen mittelhochdeutschen Texten wird der Besitz bestimmter Hunde und anderer Tiere zu einem Prestigezeichen: Tiere werden auf der Grundlage von Tapferkeit und Können gewonnen oder eingefordert, und die Bindung zwischen Tier und Besitzer ist nicht unbedingt permanent. Tristan erhält Petitcrü von seinem Freund Gilan; die Kämpfe um Gardaviaz und das Brackenseil sind (insbesondere bei Albrecht) komplex und langwierig; 57 und wenn im Wigalois der Held sich den schönen Hund eines ungehobelten keulenschwingenden Ritters aneignet, untermauert dies die ungeschriebene Berechtigung des Stärkeren und dem höfischen Ideal in höherem Maße Entsprechenden gegenüber dem sozialen Außenseiter. 58 Darüber hinaus haben die beiden berühmtesten mittelhochdeutschen Hunde, Petitcrü und Gardaviaz, einen stark poetologischen Beiklang. Während sie mit zwei spezifischen Liebespaaren verbunden sind, werden sie auch mit der Textualisierung spezifischer Formen der Liebe assoziiert - und der Konflikt um die Besitzansprüche auf das Tier wird durch die Frage überlagert, wer das Recht auf die Frau, auf den Text und auf die literarische Kultur hat, die den Text untermauert. Ganz ähnlich ist die entmenschlichte Dame in Hadlaubs Lied nur Mittel zum Zweck, eine Trophäe. Das eigentliche Anliegen ist die Eigenförderung und das Emporkommen des Erzählers durch eine Allianz mit der gesellschaftlichen Elite Zürichs. Die Geschlechterpolitik in Hadlaubs Lied II wird noch deutlicher im Vergleich mit einer weiteren gebissenen Hand in höfischer Literatur, dieses Mal mit umgekehrten Geschlechterrollen. Hues de Rotelande Ipomedon enthält eine ungewöhnliche Szene, in der der Held versucht, unerwünschte sexuelle Aufmerksamkeiten durch Beißen abzuwehren. 59 Während Ipomedon als Narr verkleidet ist, erweckt er die Liebe der Dame Ismeine. Nicht in der Lage, ihr Verlangen zu zügeln, versucht sie schließlich, in sein Bett zu schlüpfen, worauf er sie zunächst in die Hand beißt und dann sein Schwert zieht. Bis zu einem gewissen Grad ist Ipomedons Verteidigung im Einklang mit seiner Verkleidung, da aggressives Beißen eine mögliche Komponente in der Vortäuschung von Torheit darstellt. Darüber hinaus aber scheint der Text das Agieren des Helden richtig zu heißen. Roberta Krueger stellt eine Komplizenschaft zwischen dem Helden und dem frauenfeindlichen Erzähler fest: 60 57 Vgl. Annette Volfing, Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht’s ‘Jüngerer Titurel’ , New York 2007, S. 51-71. 58 Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text - Übersetzung - Stellenkommentar , Text nach der Ausgabe von Johannes M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin 2005, V. 2204-2348. 59 Hue de Rotelande, Ipomedon , hg. von Anthony J. Holden, Paris 1979 (Bibliothèque française et romane. Série B, Editions critiques de textes 17), V. 8841-8846: Ipomedon la main senti, / Cume desvez se tressailli, / La main prent e met a sa buche, / Si ke a ses denz l’asent e tuche, / Dedenz ses denz avant la boute / Cum si il la vousist manger tute […]. 60 Roberta Krueger, Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance , Cambridge 1993, S. 78; siehe auch dies., „Misogyny, Manipulation, and the Female Reader in Hue de Rotelande’s Ipomedon “, in: Courtly Literature, Culture and Context. Selected Papers from the 5th Triennial Congress of the Internatio- 276 Annette Volfing When Ismeine struggles again with her passion (and Ipomedon brandishes his sword to frighten her away), the narrator inveighs in a twelve-line intervention against the power of love, which is as ingenious and destructive as the women who defeated Adam, David, Solomon and Samson (9099-110). The narrator’s rhetorical jibe, repeating a conventional clerical antifeminist trope, reinforces Ipomedon’s gesture in a dramatization of female passion as uncontrollable and destructive: the male must defend himself vigorously with the pen or the sword against such attacks. Hier haben wir es ausnahmsweise mit einem Biss zu tun, den man als phallisch (und nicht vaginal) bezeichnen kann und der den Beißer nicht effeminiert. Er ist effektiv, ohne monströs zu wirken, ungewöhnlich, ohne zu befremden oder den status quo in Frage zu stellen. Ipomedon gelingt damit das, woran Hadlaubs Dame scheitert - und ohne Abstriche seiner Position innerhalb des normativen Rahmens. Unabhängig davon, ob der Mann die Frau oder die Frau den Mann beißt, in jedem Fall ist es die Frau, die als instinktgetrieben dargestellt wird und somit der Kontrolle und Führung bedarf. Zusammenzufassend lässt sich sagen, dass das menschliche Beißen weithin als eine transgressive und beunruhigende Praxis angesehen wird. In der mittelalterlichen westlichen Kultur resultiert dies zum Teil aus Angst vor Kannibalismus und teilweise aus Assoziationen des menschlichen Mundes mit Intimität und seiner metonymischen Beziehung zur Vagina. Dies bedeutet, dass ein beißender Mann in einigen Fällen als effeminiert angesehen wird. Jedoch ist dies nicht überall der Fall: Männliche Figuren wie Bisclavret und Ipomedon sind in der Lage, zu beißen, ohne dass ihre Männlichkeit an Ansehen einbüßt. Eine beißende Frau dagegen läuft Gefahr, negative Reaktionen auszulösen, die von vorbehaltlosem Entsetzen zu Verachtung und Herablassung reichen. Genauer gesagt eröffnet das Motiv der Frau, die ihren Mund oder ihre Vagina dazu benutzt, einen Mann zu verletzen, drei verschiedene interpretatorische Perspektiven. Die erste ist eng mit der klassischen vagina dentata verbunden, die den unbesonnenen Mann überrascht, weil ihre Zähne verborgen sind. Hier handelt es sich in erster Linie um Angst vor weiblicher Heimtücke, obwohl der Akt des Beißens auch eine Straf- oder Selbstverteidigungsmaßnahme sein kann, was ein legitimes Racheverlangen seitens der Frau reflektiert. Der zweite Ansatz zum weiblichen Beißen konzentriert sich auf den erotischen Aspekt: Die sexuell unersättliche Frau beiße, weil sie ihren Appetit nicht unter Kontrolle habe. Hier ist die Überschneidung von gula und luxuria (wie vom Krumauer Bilderkodex veranschaulicht) besonders einschlägig, wie auch die Entsprechung zwischen weiblichen Genitalien und einem Hund. Während der erste Interpretationsansatz auf Kastrationsängsten aufbaut und die Frau als monströse Gestalt zeichnet, die es zu vermeiden gilt, stellt der zweite Ansatz sie als ungefährlich und für den Mann frei verfügbar dar. Der dritte Ansatz schließlich hat keine sexuellen Obertöne, aber reduziert die Frau durch die Assoziation mit Tieren auf etwas nicht ganz Menschliches. Ihr Beißen signalisiert eine Irrationalität, die ihren Anspruch auf eigenständiges Handeln und Selbstbestimmung zunichte macht. Trotz der fundamentalen Unterschiede zwischen diesen drei Ansätzen ist die These dieses Aufsatzes, dass alle drei für die Interpretation von Hadlaubs Lied relevant sind. Die erste ist insofern relevant, als die Dame versucht, ihre Zähne defensiv zu nutzen. Es ist die Wirkungsnal Courtly Literature Society, Dalfsen 9-16 August 1986 , hg. von Keith Busby und Erik Kooper, Amsterdam 1990, S. 395-410. Hadlaubs beißende Dame 277 losigkeit ihres Bisses, die die Idee rechtfertigt, dass es sich hier um eine Variation auf das Thema der erfolglosen vagina dentata handelt. Aus der Sicht des Liebenden hingegen ist der zweite Ansatz entscheidend: Er findet den Biss erregend; er lässt ihn auf weitere sexuelle Gunst hoffen. Die übergreifende Strategie des Erzählers schließlich ist es, eine Situation zu erschaffen, in der die Frau dazu getrieben wird, sich wie ein in die Enge getriebenes Tier zu verhalten. Dies verstärkt die Vorstellung, dass sie selbst kaum mehr als ein Schoßhund ist, eine Trophäe, die in Anerkennung für besondere Leistungen ganz legitim von einem Eigentümer an den anderen übergeben werden kann. Alle drei diese Ansätze sind frauenfeindlich, aber das besondere an diesem Lied ist die Art, wie es die verschiedenen Ansätze mit paradoxalem Effekt gegeneinander ausspielt. Dies wiederum knüpft nicht nur an Hadlaubs Beschäftigung mit den Elementen von Masochismus und symbolischer Kastration an, die die Gattung Minnesang durchdringen (und insbesondere ihre Narrativierung in Ulrichs Frauendienst ), sondern auch an seinen Umgang mit den poetologischen und selbstreflexiven Aspekten dieser Gattung. In einem Lied, das die erfolgreiche Werbung um die Zürcher Aristokratie zelebriert, ist die Dame nicht mehr das ultimative Objekt der Begierde, sondern eine Trophäe, die in Anerkennung der literarischen Kompetenz des Autors verliehen wird. The Vulnerable Text 279 The Vulnerable Text Verwundbarkeit als anthropologisches und textuelles Phänomen in Wolframs Parzival Michael Stolz Unter dem Titel „Les leçons de la biologie“ beschrieb der Immunologe und Mediziner Jean Claude Ameisen 2007 in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Annales Vorgänge der Apoptose, des programmierten Zelltods im menschlichen Körper. 1 Der Verfasser verwies dabei darauf, dass im menschlichen Körper unabhängig von Außeneinwirkungen ein kontinuierlicher Prozess der Selbstzerstörung von Zellen ablaufe. Diese Autodestruktion aber werde durch körperliche Gegenkräfte gehemmt bzw. kontrolliert, die in Gestalt von in den Nachbarzellen produzierten Botenstoffen, den Proteinen, die Selbstzerstörung der Zellen aufhalten. Leben sei unter dieser Voraussetzung per se kein positives, dem Tod entgegengesetztes Phänomen. Leben könne vielmehr als kontinuierliche Negation eines negativen Ereignisses, genauer: als beständige Hemmung („répression continuelle“) der Selbstzerstörung der individuellen Zelle verstanden werden. 2 Wenn es trotzdem zur Selbstzerstörung von Zellen kommt, werden diese durch neue Zellen ersetzt. Leben ist damit auf der Mikroebene der Zellen ein Prozess ständigen Sterbens und wieder Geborenwerdens: „Être vivant, c’est être, à tout moment, pour partie en train de mourir et pour partie en train de renaître“. 3 Erst wenn dieser komplexe Vorgang im menschlichen Organismus ins Ungleichgewicht gerät, entstehen Krankheiten, die ihrerseits zum Absterben des Individuums führen können. Ameisen beschreibt den programmierten Zelltod sowohl in seinen diachronen als auch synchronen Dimensionen. Unter einer evolutionsbiologischen Perspektive weist er darauf hin, dass die genetischen Spuren von Vorfahren, die in Organismen vorhanden sind, im Laufe der Entwicklungsgeschichte verschwinden. „Nous vivons dans l’oubli de nos métamorphoses“, heißt es an einer Stelle mit Bezug auf einen Vers des französischen Dichters Paul Éluard. 4 Unter einer funktionalen Perspektive stellt Ameisen das Zusammenwirken von Einzelzellen und Nachbarzellen auch als einen quasi gesellschaftlichen Vorgang dar und bringt in diesem 1 Vgl. Jean Claude Ameisen, „Les leçons de la biologie. Nous vivons dans l’oubli de nos métamorphoses … La mort et la sculpture du vivant“, in: Annales 62 (2007), S. 1251-1283 (= 29 e conférence Marc Bloch, Paris, École des Hautes Études en Sciences Sociales, 12 juin 2007). 2 Ebd., S. 1257. 3 Ebd., S. 1261. Ameisen nennt diesen Vorgang auch den ‘kreativen Tod’ („la mort créatrice“) oder, aus der Perspektive des dadurch bewirkten Lebens, „la sculpture du vivant“ - die einem künstlerischen Gestaltungsprozess vergleichbare Formung des Lebens. Vgl. dazu Jean Claude Ameisen, La sculpture du vivant. Le suicide cellulaire ou la mort créatrice , Paris 1999. 4 Ameisen (wie Anm. 1), S. 1254. 280 Michael Stolz Zusammenhang den Begriff der „sociétés cellulaires“ ins Spiel. 5 Die Vorstellung einer sozialen Kontrolle über Leben und Tod 6 erweist sich dabei als höchst problematisch, wenn man sie vom Mikrokosmos der Zellen auf den Makrokosmos des Zusammenlebens von Organismen oder gar menschlicher Gesellschaften überträgt. Ameisen macht diese Dimension bewusst, wenn er vor den Gefahren einer Soziobiologie warnt, die sich von den auf Mikroebene beobachtbaren Naturgesetzen eines programmierten Zelltods leiten lässt. Er erinnert an die desaströsen Ideologien eines Sozialdarwinismus in der Politik des 20. Jahrhunderts und fordert ausdrücklich einen ethischen Zugang, der die in der mikrobiologischen Forschung zutage tretenden Vorgänge in ihrer Eigenart zu verstehen und zugleich kritisch zu hinterfragen sucht. 7 Die berechtigte Frage, was dieser Ansatz mit dem Thema der „Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters“ zu tun habe, lässt sich zunächst damit beantworten, dass Ameisen an maßgeblichen Stellen seines Beitrags einen Begriff der menschlichen ‘Verwundbarkeit’ verwendet, um den es auch im Kontext dieses Tagungsbandes geht. Er gebraucht ihn im Zusammenhang mit der Erläuterung der Wirkweisen der „sociétés cellulaires“ in den menschlichen Organismen und betont, dass der programmierte Zelltod die Existenz jedes Individuums grundsätzlich bestimme: dessen Gefährdung, Hinfälligkeit und eben ‘Verwundbarkeit’: „vulnérabilité“. 8 Im Fazit des Beitrags wird der Begriff dann emphatisch für das entworfene ethische Programm in Anspruch genommen. Unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive ruft Ameisen zur Rekonstruktion eines gemeinsamen humanen Erbguts auf („reconstruire notre commune humanité“) und fordert dabei die Achtung gegenüber der beträchtlichen ‘Verwundbarkeit’ menschlichen Lebens ein: „le respect de l’extraordinaire vulnérabilité de ceux qui nous ont fait naître, de ceux qui nous entourent, et de ceux qui nous survivront“. 9 In diesem Postulat werden historische Dimensionen fassbar, die Ameisens These vom programmierten Zelltod auch für die Geistes- und Kulturwissenschaften anschlussfähig machen. Einen Brückenschlag leistet der Immunologe aber auch in der Weise, dass er seine mikrobiologischen Ausführungen - wie bereits deutlich wurde - mit literarischen und mythologischen Bezugnahmen unterlegt. Neben Zitate von Paul Éluard und anderen Dichtern treten mythische Korrespondenzen, indem etwa Orpheus mit seinem die tödlichen Kräfte der Sirenen übertönenden Gesang als Analogon zu den Hemmvorgängen zellularer Zerstörung dient. 10 Ameisen leistet damit nicht nur eine Annäherung von Natur- und Humanwissenschaften, sondern verdeutlicht in radikaler Weise, dass die Wissenschaftssprache, auch jene der Naturwissenschaften, nicht ohne Metaphern auskommt. 11 Was im deutschsprachigen 5 Ebd., S. 1257 und 1282. 6 Vgl. ebd., S. 1262 u. ö. 7 Vgl. ebd., S. 1282f. 8 „Nous sommes des sociétés cellulaires dont chacune des composantes vit en sursis, et dont aucune ne peut survivre seule. Et c’est de cette précarité même, de cette fragilité, de cette vulnérabilité et de l’interdépendance absolue qu’elles font naître que dépend notre existence en tant qu’individu“ (ebd., S. 1257; Hervorhebung M. St.). 9 Ebd., S. 1283. 10 „Le chant d’Orphée est un chant de vie qui, mêlé au chant de mort, s’y surimpose“ (ebd., S. 1270f.). 11 „La puissance même des concepts que je viens d’évoquer, et la richesse de leurs implications, ont favorisé le déploiement d’un langage scientifique riche de métaphores et de résonances anthropomorphiques“ (ebd., S. 1268). The Vulnerable Text 281 Kontext Hans Blumenberg in seiner Metaphorologie 12 entwickelt hat, exemplifiziert Ameisen an Zitaten des amerikanischen Genetikers Richard Lewontin 13 und des französischen Literaturtheoretikers Maurice Blanchot. Interessant ist dabei besonders Blanchots Aussage, dass das Benennen von Gegenständen und Sachverhalten letztlich immer einen Akt der Gewalt darstelle, bei dem das Bezeichnete, in die Passform eines Namens gebracht, auch zu einem Gutteil verdrängt werde. 14 Mit diesem selbstreflexiv-selbstkritischen Zug in Ameisens Argumentation aber sind Belange des Sprachlichen berührt, die der Renaissance-Forscher Thomas M. Greene explizit unter dem Begriff des vulnerable text behandelt hat. 15 Greene bezieht sich dabei auf textuelle Vorgänge in einer literarischen Kultur, die dem in der Moderne entwickelten Originalitätsbegriff noch keine Priorität einräumt. Es geht ihm um Sprache, die Gewalt ausübt, und die, in Texte geronnen, ihrerseits der Verletzbarkeit ausgesetzt ist. Dabei werden vier Funktionen von ‘Vulnerabilität’ eines literarischen Textes unterschieden, nämlich (1) die Geschichtlichkeit seines sprachlichen Zeichensystems, (2) der dialogische Charakter von Texten (ihr intertextueller Bezug auf andere vorausgehende und zeitgenössische Texte), (3) die eben mit Ameisen und dem Blanchot-Zitat erwähnte Referentialität von Zeichen und Bezeichnetem sowie (4) die in diesem Zusammenhang ebenfalls relevante Figurativität und Metaphorizität der Sprache. 16 Damit kommen grundlegende hermeneutisch bedingte Sachverhalte in den Blick, die den Text der ‘Verwundbarkeit’ aussetzen: (1) Zeitlich-räumliche Distanz kann einen Text sprachlich, kontextuell und konzeptionell unverständlich machen und damit seine Integrität angreifen; Greene verweist auf das Beispiel der Parodie, der Texte unter veränderten Kontextbedingungen ausgesetzt sind. (2) Dialogizität bedingt (im Bachtin’schen Sinne) die Einmischung fremder Stimmen in den Text und erzeugt damit intertextuelle Spannungen: „Intertextuality imposes vulnerability“. 17 (3) Die referentielle Funktion der Sprache geht im literarischen und besonders im poetischen Text mit dem Risiko einher, dass das Bezeichnete vom Bezeichnenden nicht erreicht wird, dass der Akt des Bezeichnens scheitert; die ‘Vulnerabilität’ des Textes besteht mithin darin, dass er Unsagbares aussagt oder aber diese Unsagbarkeit thematisiert, sie ausstellt. (4) Eng damit verbunden ist die Eigenart der figurativen Rede, in der eine bewusste Abweichung vom konventionellen Bezeichnen vorliegt; namentlich in der sprachlichen Metapher wird, so Greene, der Literalsinn eines Wortes oder Wortgefüges ‘verletzt’. Greenes Rede vom vulnerable text unterliegt freilich ebenfalls dieser Gefährdung, denn die behauptete ‘Verwundbarkeit’ ist ja ihrerseits nichts anderes als eine Metapher, welche die Anfälligkeit von 12 Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie , Frankfurt a. M. 1998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1301). 13 Vgl. Richard Lewontin, The Triple Helix. Gene, Organism, and Environment , Cambridge, Mass./ London 2000, bes. S. 4, in französischer Übersetzung zitiert bei Ameisen (wie Anm. 1), S. 1268. 14 „Nommer est cette violence qui écarte ce qui est nommé pour l’avoir sous la forme commode d’un nom“ (Maurice Blanchot, Le livre à vénir , Paris 1959, S. 43, zitiert bei Ameisen [wie Anm. 1], S. 1268). 15 Vgl. Thomas M. Greene, The Vulnerable Text. Essays on Renaissance Literature , New York 1986, darin bes.: „Rescue from the Abyss. Scève’s Dizain 378“, S. 99-115. Greene entwickelt seinen Ansatz an einem der zehnzeiligen Gedichte ( Dizains ) des französischen Dichters Maurice Scève (um 1500-um 1564), in dem das Paradox einer ‘fruchtbringenden Wunde’ ( féconde blessure ) thematisiert wird. Dabei ergibt sich ein auffälliges Analogon zu Ameisens Konzept der „mort créatrice“ (vgl. oben, Anm. 3). 16 Vgl. Greene (wie Anm. 15), S. 100-103. 17 Ebd., S. 102. 282 Michael Stolz Texten für historische Distanzierung, intertextuelle Vielstimmigkeit, referentielles Abgleiten und figurative Deformationen bezeichnet. Nach diesem Einstieg ist zu fragen, wie sich die Konzepte einer anthropologischen ‘Verwundbarkeit’, gewonnen aus Ansätzen der Biologie und Medizin, und einer textuellen ‘Verwundbarkeit’, gewonnen aus sprach- und literaturwissenschaftlichen Kategorien, miteinander in Beziehung setzen und auf ein konkretes Textbeispiel anwenden lassen. Zu diesem Zweck soll - wie im Titel angekündigt - auf Wolframs Parzival rekurriert werden, wobei als Intertext auch der Titurel mit einzubeziehen ist. Beide Dichtungen könnten von Ameisen geradezu musterhaft als literarische Illustration seiner „Leçons de la biologie“ herangezogen werden. Der Parzival und mit ihm der Titurel bieten eine schier endlose Reihe von Opfergestalten auf, Ritter zumeist, die im kriegerischen Frauendienst und in den damit einhergehenden Kämpfen zugrunde gehen. 18 Mitunter eröffnen sich aus diesen tödlichen Fehden für andere, etwa die siegreichen Gegner, auch neue Lebenschancen. Paradigmatisch im Sinne der auf diese Weise gezeichneten ‘Verwundbarkeit’ ist die zentrale Figur des Gralkönigs Anfortas, der auf einer Minnefahrt für Orgeluse zwar nicht getötet, aber durch einen vergifteten Speer an den Schamdrüsen so sehr verwundet wird, dass er einem andauernden Siechtum anheimfällt. Kein noch so raffiniertes Medikament oder Wundermittel kann Anfortas heilen, am Sterben hindert ihn allein die lebenserhaltende Macht des Grals (vgl. 480,27-29). 19 Die großen Schmerzen, die Anfortas dabei erduldet, werden von einer besonderen Planetenkonstellation ausgelöst. Der Wortlaut der handschriftlichen Überlieferung weist hier eine ‘Präsumtivvariante’ auf, indem Anfortas’ Leiden entweder auf den König selbst oder - synekdochisch - auf dessen Wunde bezogen werden: dar an des küneges smerze lac bzw. dar an der wunden smerze lac (483,16). 20 Dieses textkritische Beispiel zeigt, wie die Schmerzen einmal auf die Figur des Gralkönigs und einmal auf dessen Wunde fokussiert werden. Die in der Überlieferung dokumentierten ‘Präsumtivvarianten’ tasten auf ihre Weise die ‘Integrität’ 18 Vgl. zur Forschungssituation allgemein den Überblick bei Bernd Schirok, „ Parzival V. Perspektiven der Interpretation“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch , hg. von Joachim Heinzle, 2 Bde., Berlin/ Boston 2011 [Studienausgabe in einem Band: Berlin/ Boston 2014], S. 411-439; zur Thematisierung von „Gewalt, Krieg, Tod und Leid“ ebd., S. 432f., und ders., „ Parzival IV. Themen und Motive“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch , S. 366-403, hier S. 377-383, sowie Sonja Kerth, „ sîme volke er jâmers gap genuoc . Der im Kampf versehrte Herrscher in Wolframs von Eschenbach Parzival “, in: Phänomene der ‘Behinderung’ im Alltag. Bausteine zu einer ‘Disability History’ der Vormoderne , hg. von Cordula Nolte, Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8), S. 189-211, hier S. 193; aus der Perspektive des Titurel Stephan Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“, in: Wolfram von Eschenbach, Titurel , hg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin 2003, S. 3-24, hier S. 11. 19 Alle Stellen und Zitate aus dem Parzival hier und im Folgenden (sofern nicht anders angegeben) nach Wolfram von Eschenbach, Parzival , nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8.1/ 2). Vgl. zu den vergeblichen Heilungsversuchen auch Schirok, „ Parzival IV. Themen und Motive“ (wie Anm. 18), S. 397. 20 Vgl. zum Begriff der ‘Präsumtivvariante’ und zur Stelle Karl Stackmann, „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“, in: Festschrift Jost Trier zum 70. Geburtstag , hg. von William Foerste und Karl H. Borck, Köln/ Graz 1964, S. 240-267, hier S. 263, mit der Vermutung, dass „womöglich eine Überschneidung mehrerer vom Autor selbst herrührender Fassungen zum Auftreten [solcher] Präsumtivvarianten führt“; zum Kontext der Stelle siehe den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 690f. (mit weiterer Literatur). The Vulnerable Text 283 des Textes an, indem sie Alternativen der Wahrnehmung bzw. Darstellung des körperlichen Leidens vor Augen führen. Inhaltlich anders geartet als das Leiden des Anfortas ist das Schicksal der Sigune, die ihren toten Geliebten Schionatulander betrauert und in den vier Begegnungen mit Parzival einem zunehmenden körperlichen Verfall ausgesetzt ist. 21 Während Anfortas’ Siechtum zuletzt in eine wunderbare Heilung, ausgelöst durch Parzivals Mitleidsfrage, führt, mündet jenes der Sigune in den Tod. Die in den Organismen ablaufende Autodestruktion und deren gelingendes oder auch scheiterndes Hemmnis, wie es Ameisen beschreibt, ließe sich auf einer figurativen Ebene auch an der Anfortas- und Sigune-Handlung im Parzival treffend veranschaulichen. Diese Konstellation der Todesnähe, bezogen auf das familiäre Geflecht der Grals- und der Artussippe, wird zugleich in den beiden Titurel -Bruchstücken thematisiert, die in dialogischer Spannung mit dem Parzival stehen. Aufgrund ihrer gegenseitigen Bezogenheit und des daraus für die Rezipienten resultierenden Textwissens, vergegenwärtigen Wolframs Parzival und Titurel eine allgegenwärtige Todesbedrohung, bei welcher der Tod nur aufgeschoben ist. Der Fragmentcharakter des Titurel verweist dabei in seiner hier besonders deutlich fassbaren Fragilität auf ein textliches Phänomen, das auch dem Parzival -Roman eigen ist. Der Blick auf die Überlieferung lässt letzteren mehr und mehr als ein dichterisches Produkt erkennen, das an bestimmten Stellen seine textuelle Machart offenbart - eine Machart, die ganz offenbar in Schüben vor sich gegangen ist, durchsetzt von Arbeitspausen und produktiven, vielleicht auch existentiellen Krisen. 22 Die Vulnerabilität betrifft hier also nicht nur den Textinhalt, sondern auch die Textproduktion, dies sowohl im Parzival als auch im Titurel . Offenbar versuchte der Dichter des Parzival die dem Gegenstand und dem fragilen Arbeitsprozess eigenen Defizite durch die Einbringung einer Ethik zu bewältigen, die besonders im neunten Buch, anlässlich der Einkehr Parzivals bei dem Einsiedler Trevrizent, fassbar ist. Dem seit dem Prolog evozierten Makel des zwîvels (verstanden als ‘Entzweiung’, als ‘Zerrissenheit’), der sich besonders an Parzival, aber auch an anderen Figuren des Romans offenbart, werden dort die Remedien der triuwe (verstanden als ‘Aufrichtigkeit’, ‘Verbundenheit’, ‘Liebe’) und der kiusche (verstanden als ‘selbstbeherrschtes, lauteres Wesen’) entgegengesetzt, wie Hubert Herkommer in einer Studie dargelegt hat. 23 Der Einsiedler Trevrizent vermag Parzival auf den rechten Weg zurückzulenken, weil er selbst als ehemaliger Minneritter die existentiellen Nöte und Abgründe dieses Standes nur zu gut kennt: „Nur wo der Arzt selbst getroffen ist, wirkt er. ‘Nur der Verwundete heilt’“, heißt es diesbezüglich bei Herkommer in Anlehnung 21 Vgl. stellvertretend Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“ (wie Anm. 18), S. 6f.; sowie (jeweils mit weiterer Literatur) Michael Stolz, „Medieval Canonicity and Rewriting. A Case Study of the Sigune-figure in Wolfram’s Parzival “, in: Variants 7 (2008), S. 75-94; ders., „Cousine sous le chêne - Sigune sur le tilleul. Réflexions sur la réécriture médiévale“, in: Formes et difformités médiévales. Hommage à Claude Lecouteux , hg. von Florence Bayard und Astrid Guillaume, Paris 2010, S. 407-419. 22 Vgl. Michael Stolz, „Von der Überlieferungsgeschichte zur Textgenese. Spuren des Entstehungsprozesses von Wolframs Parzival in den Handschriften“, in: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. von Rudolf Bentzinger, Ulrich- Dieter Oppitz und Jürgen Wolf, Stuttgart 2013 (Beihefte zur ZfdA 18), S. 37-61. 23 Vgl. Hubert Herkommer, „Der zerrissene Held und seine Heilung im Gespräch. Parzivals Einkehr beim Einsiedler Trevrizent“, in: ‘Was ist der Mensch? ’ Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. Wolfgang Lienemann zum 60. Geburtstag , hg. von Michael Graf, Frank Mathwig und Matthias Zeindler, Stuttgart 2004 (Forum Systematik. Beiträge zur Dogmatik, Ethik und ökumenischen Theologie 22), S. 137-161, hier bes. S. 142, 147 und 149-152. 284 Michael Stolz an Carl Gustav Jung. 24 Ameisens Anliegen, dem im Körper ablaufenden Zelltod im Rahmen eines ethischen Anspruchs beizukommen, ihn wenn nicht zu verhindern, so doch zu verstehen und zu hinterfragen, ließe sich mit dem ethischen Programm, wie es im neunten Buch des Parzival entwickelt wird, durchaus vermitteln. Im Titurel ist das freilich anders; aus der Perspektive der beiden Bruchstücke bietet die Todesbedrohung, der die Gralssippe und Gahmurets Familie ausgesetzt sind, keine Aussicht auf Heilung. 25 Das bislang dargelegte Ineinandergreifen einer anthropologischen und textlichen Vulnerabilität soll im Folgenden an einigen ausgewählten Textbeispielen vertieft werden. Als Ausgangspunkt dient dabei eine Analyse von Auszügen der Ither-Episode im Parzival , einer beispielhaften Szene, in welcher der brutale Tod einer Figur (Ithers) zugleich die physische Existenz einer anderen (Parzivals) begünstigt. Im Anschluss daran sollen einige intratextuelle Bezüge im Parzival unter Aspekten der ihrerseits fragilen Textgenese betrachtet werden. Zuletzt ist dann der Titurel mit seiner intertextuellen und damit (im Sinne Greenes) ‘vulnerablen’ Spannung zum Parzival anhand einiger ausgewählter Strophen in den Blick zu nehmen. Die Dreißiger 155 und 157 der Ither-Episode sind im Anhang in einer Fassungsedition abgedruckt, wie sie derzeit im Rahmen des Parzival -Projekts erarbeitet wird. 26 Gemäß dem aktuellen Forschungsstand lassen sich vier Textfassungen unterscheiden, wobei die Fassungen *D und *m (auf der linken Seite) sowie *G und *T (auf der rechten Seite) in ihrem Profil jeweils näher zusammengehören. Alle vier Fassungen sind wohl in relativer Autornähe noch im 13. Jahrhundert entstanden. Ihre Ausprägung in der Frühphase der Parzival -Überlieferung dürfte unter anderem mit der Vortragssituation in Zusammenhang stehen, bei der ein durchaus bereits schriftlich fixierter Text gegenüber unterschiedlichen Hörerkreisen Wandlungen erfahren hat. Man könnte auch bezüglich dieser Wandlungen von Dialogizität, Intertextualität oder - im Sinne Greenes - von Vulnerabilität sprechen. Die jeweils in Handschriften des 13. Jahrhunderts (bzw. bei *m ab dem 14. Jahrhundert) fassbaren Textversionen haben sich dann in der späteren Überlieferung in ihrer Textgestalt verfestigt. 27 Ohne an dieser Stelle auf allzu viele editorische Details eingehen zu können, sei darauf hingewiesen, dass in den Editionstexten im Anhang die den einzelnen Fassungen zugeordneten Handschriften jeweils in einer Leiste unterhalb der konstituierten Fassungstexte angegeben sind. Darunter befinden sich zwei Apparate, einer, der materielle Besonderheiten wie Initialen anführt, und ein zweiter, der die aussagerelevanten Binnenvarianten der einzelnen Fassungen verzeichnet. Varianten, die zwischen den Fassungen bestehen, sind im konstituierten Text fett markiert. Die Verszählung orientiert sich an Fassung *D in der linken Spalte, welcher die Handschrift D, der Codex Sangallensis 857, zugrunde liegt. 28 24 Ebd., S. 152. 25 Vgl. stellvertretend Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“ (wie Anm. 18), S. 6, 10f., 24. 26 Vgl. zu Einzelheiten der Fassungsedition Michael Stolz, „Chrétiens Roman de Perceval ou le Conte du Graal und Wolframs Parzival . Ihre Überlieferung und textkritische Erschließung“, in: Wolfram-Studien 23 (2014), S. 431-478, bes. S. 465-469. 27 Vgl. zum Prinzip der Fassungen, der autornahen Überlieferung und der Verfestigung der Texte Joachim Bumke, Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert , Berlin/ New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]), bes. S. 30-32, 60-68 und 80-84. 28 Vgl. zu den Parzival -Handschriften und ihren Siglen Klaus Klein, „Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften (Wolfram und Wolfram-Fortsetzer)“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch (wie Anm. 18), S. 941-1002, hier S. 943-959, und Stolz (wie Anm. 26), S. 449-452. The Vulnerable Text 285 Ein besonderes Augenmerk sei im Folgenden der Fassung *T in der äußersten rechten Spalte gewidmet. Bei dieser von Robert Schöller eingehend untersuchten Textversion 29 mehren sich zum derzeitigen Erkenntnisstand die Indizien dafür, dass es sich um die älteste der vier in der Edition dargestellten Fassungen handeln könnte. 30 Der normalisierte Text der Fassung *T orientiert sich grundsätzlich an der alemannischen Handschrift T, dem heute in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien aufbewahrten Codex 2708, entstanden vielleicht in Zürich im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Aufgrund eines Vorlagenwechsels bietet die Handschrift T jedoch im vorliegenden Abschnitt einen sehr nahe an dem der (in der dritten Spalte abgedruckten) Fassung *G stehenden Text. 31 Als Textgrundlage von Fassung *T dient deshalb hier die Handschrift U, der ebenfalls in Wien aufbewahrte Codex 2775 in rheinfränkischer Schreibsprache aus dem frühen 14. Jahrhundert. Diesem Sachverhalt wird bei der Fassungsangabe *T in der rechten Spalte oben durch die ergänzende Angabe „(U)“ Rechnung getragen. Dreißiger 155 beinhaltet Parzivals unritterlichen Angriff auf seinen Verwandten Ither, der dabei bekanntlich auf unrühmliche Weise zu Tode kommt und Parzival damit unwillentlich zu seiner roten Rüstung verhilft. 32 In den Versen 6-11 wird beschrieben, wie Parzival mit seinem Wurfspieß ( gabylôt ) Ithers Auge und Genick durchbohrt und ihm damit tödliche Wunden beibringt. Die Fassung *T bietet hier mit zwei Plusversen einen gegenüber den übrigen Fassungen ausführlicheren Text. In Vers 7f. wird zunächst die Stelle an Ithers Rüstung angegeben, auf die es Parzival mit seinem Wurfspieß abgesehen hat: dort nämlich, wo der über dem Schädelschutz ( hersenier ) befindliche Helm mit der zugehörigen Gesichtsplatte ( helm und barbier ) Sehschlitze aufweist. Letztere werden dabei durch das Verbum lochen (wörtlich: ‘Löcher bilden’) versprachlicht. Die beiden Plusverse 8 1 und 8 2 von Fassung *T beschreiben nun Einzelheiten des Angriffs: dô begunde er sîn pflegen / mit schüzzen […] . Was genau damit gemeint ist, bleibt offen. Die Verbalphrase pflegen mit schüzzen könnte sich auf die genaue Planung des Wurfs beziehen; es könnte aber auch ein wiederholtes Schießen (und Wiederherausziehen bzw. Wiederergreifen des Wurfspießes) gemeint sein, das so lange andauert, bis der jugendliche Schütze die Sehschlitze der Gesichtsplatte durchbohrt hat. 33 Anschließend durchdringt die Waffe Augen und Genick: durch diu ougen versneit daz gabelôt / und durch den nac (*T, V. 9f.). Ein Vergleich mit Wolframs Vorlage, Chrétiens de Troyes Roman de Perceval ou Le Conte du Graal , zeigt, dass die Fassung *T hier dem altfranzösischen Prätext näher steht als die übrigen 29 Vgl. Robert Schöller, Die Fassung *T des ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil , Berlin/ New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, N. F. 56 [290]). 30 Vgl. Michael Dallapiazza und Alessandra Molinari, „Wolframs Parzival und das Problem des festen Textes. Die Varianten des Bogengleichnisses“, in: Filologia Germanica 3 (2011), S. 47-70, bes. S. 67; Stolz (wie Anm. 22), S. 46. Die oben, S. 282, erwähnte Präsumtivvariante des küneges smerze (483,16) gehört ebenfalls zu Fassung *T. 31 Der Bereich erstreckt sich über die Verse 36,15-157,24; vgl. Schöller (wie Anm. 29), S. 255-257. 32 Vgl. zu Einzelheiten die Kommentare bei Birgit Eichholz, Kommentar zur Sigune- und Ither-Szene im 3. Buch von Wolframs ‘Parzival’ (138,9-161,8) , Stuttgart 1987 (Helfant Studien S3), S. 202-219, und in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 540f., sowie Schöller (wie Anm. 29), S. 334f. Die folgenden Zitate entsprechen, sofern nicht anders angegeben, der Fassungsedition *D im Anhang. 33 Die erste Möglichkeit bevorzugt Eichholz (wie Anm. 32), S. 204, Anm. 1, die zweite Schöller (wie Anm. 29), S. 335, Anm. 346. 286 Michael Stolz Fassungen. 34 Chrétien beschreibt den Angriff in den drei Phasen des Zielens, Werfens und Treffens: 35 En l’oeil al miex qu’il pot l’avise Et laisse aler le gavelot; Si qu’il n’entent ne voit ne ot, 1115 Le fiert parmi l’oeil el cervel, Que d’autre part del haterel Le sanc et la cervele espant . In einem späteren Bericht über das Geschehen ist sodann ausdrücklich davon die Rede, dass der Spieß durch den Sehschlitz ( ueilliere ) dringt. 36 Während in Wolframs Text das Auftreffen des Spießes auf Ithers Kopf analog zu Chrétien konsequent benannt wird (dies mit dem Verbum versneit bzw. sneit in Vers 9), klingen die von Chrétien berücksichtigten Phasen des Zielens und Werfens nur in den beiden Plusversen 8 1 und 8 2 von Fassung *T an: pflegen mit schüzzen (zu verstehen als Planung bzw. wiederholte Durchführung des Wurfs). Dass es daneben zwischen den Fassungen weitere Unterschiede gibt, sei nur en passant vermerkt: So ist etwa die in *T vorliegende Pluralform ougen (V. 9) in den übrigen Fassungen in den Singular gesetzt. Fassung *G schildert in Vers 8 zudem einen etwas anderen Kampfhergang, denn Parzivals Wurfspieß bohrt sich hier durch eine Stelle der Rüstung, wo Helm und Gesichtsplatte den darunter befindlichen Schädelschutz umschließen: sich lûchent umbe den härsnier . 37 Der Eindruck einer Nähe der Fassung *T zur französischen Vorlage bekräftigt sich in Dreißiger 157. Unterstützt durch den Knappen Iwanet ist Parzival nunmehr damit befasst, die Rüstung des getöteten Ither anzulegen. 38 Er weigert sich dabei, seine groben Bauernstiefel ( ribbalîn , V. 8) abzuziehen, so dass ihm der erstaunte Iwanet die eisernen Beinschienen über die Stiefel streifen muss. Die ersten Verse des Dreißigers 157 beinhalten eine Rede Parzivals, in der dieser darauf besteht, das, was er von seiner Mutter erhalten hat - gemeint ist das Narrenkleid - anzubehalten: ez ergê zuo schaden oder zuo vromen, / des sol wênec von mir komen / durch iemannes drouwen oder bete (*T, Verse 1-4 1 , wobei das in den übrigen Fassungen als Verse 3f. geführte Verspaar fehlt). Die anschließenden Plusverse bringen Iwanets Erstaunen über Parzivals Haltung zum Ausdruck: der vil stolze Ywanete, / er wunderte sich der rede dô / und wart mit Parcifale vrô (V. 4 2 -4 4 ). In Chrétiens Vorlagentext ist dieses Erstaunen - ebenfalls 34 Dazu auch Schöller (wie Anm. 29), S. 335. 35 Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal , hg. von Keith Busby, Tübingen 1993, V. 1112-1117; Übersetzung M. St.: ‘So gut er kann, zielt er auf das Auge und schleudert seinen Wurfspieß. Ehe noch der Ritter den Spieß bemerkt, sieht oder hört, trifft er ihn durch das Auge im Gehirn, so dass hinten am Genick Blut und Hirnmasse herausspritzen’. 36 Et li vallés referi lui / D’un gavelot parmi l’ueilliere (ebd., V. 1234f.). 37 Vgl. dazu Jürgen Kühnel, „Wolframs von Eschenbach Parzival in der Überlieferung der Handschriften D (Cod. Sangall. 857) und G (Cgm 19). Zur Textgestalt des ‘Dritten Buches’“, in: Festschrift für Kurt Herbert Halbach zum 70. Geburtstag am 25. Juni 1972. Arbeiten aus seinem Schülerkreis , hg. von Rose B. Schäfer-Maulbetsch, Manfred G. Scholz und Günther Schweikle, Göppingen 1972 (GAG 70), S. 145-213, hier S. 204; Schöller (wie Anm. 29), S. 334f. Nochmals anders heißt es in der im vorliegenden Abschnitt Fassung *G nahestehenden Handschrift T, dass sich die Angriffsstelle dort befindet, wo sich Helm und Gesichtsplatte vom Kopfschutz ‘lösen’, wie die Variante losten im zweiten Apparat von Fassung *T, V. 8, belegt. 38 Vgl. zu Einzelheiten wiederum die Kommentare bei Eichholz (wie Anm. 32), S. 227-239, und in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 541f., sowie Schöller (wie Anm. 29), S. 335f. The Vulnerable Text 287 im Anschluss an eine Rede Percevals - Anteil eines Erzählerkommentars, in dem dieser eine sprichwörtliche Redensart anführt: ‘Es fällt schwer, einen Narren zu belehren’. 39 Anschließend erwähnt der Erzähler, dass Perceval außer der Rüstung keine weiteren Kleidungsstücke Ithers, wie etwa dessen seidenes Untergewand, anlegen wolle, dies trotz aller Bitten des Knappen Yonet. 40 Diese Bitten sind in Fassung *T - und nur in dieser - im Schlussvers von Parzivals Rede enthalten: durch iemmanes drouwen oder bete (V. 4 1 ). Die Ausweitung zur Alternativformel drouwen oder bete stellt dabei einen Parallelismus zu Vers 1 ( zuo schaden oder zuo vromen ) her. Hinzuweisen ist auch darauf, dass die beiden Eingangsverse in Fassung *T gegenüber den Fassungen *D und *G vertauscht sind (dieser Sachverhalt wird in der Ausgabe durch einen Längsstrich am Rand markiert). In den übrigen Fassungen wird Ywanets Erstaunen ebenfalls festgehalten, nämlich in den an Parzivals Rede anschließenden Versen 3f.: daz dûhte wunderlich genuoc / Ywaneten, der was kluoc (hier zitiert nach Fassung *G). Die angeführten Beispiele zeigen, dass sich der Text von Fassung *T tendenziell näher an der französischen Vorlage bewegt als jener der übrigen Textversionen. Vorausgesetzt, dass *T eine frühe Textfassung darstellt, könnte dies ein Anzeichen dafür sein, dass sich die späteren Überarbeitungen von Chrétien eher entfernen. Im intertextuellen Dialog mit der Vorlage, in den redaktionellen Metamorphosen der Fassungen, beginnt das Profil des französischen Prätextes zu verblassen. Mit der von Greene gewählten Begrifflichkeit ließe sich dieses auf der Ebene der Textbearbeitung bestehende Phänomen auch als ‘Vulnerabilität’ beschreiben. 41 ‘Vulnerabilität’ ist in den vorliegenden Abschnitten aber zugleich thematisch zu greifen, dies in Bezug auf Ithers Körper, den Parzival nicht nur verletzt und tötet, sondern als Leiche auch schändet. In späteren Abschnitten der Dichtung wird die rücksichtslose Wegnahme von Rüstung und Waffen auch als rêroup (‘Beraubung eines Getöteten’) bezeichnet. 42 Auffällig ist, dass in Wolframs Parzival , und zwar in allen Fassungen, Parzivals Einkleidung geradezu als ritterliche Initiation inszeniert wird. Während in Chrétiens Conte du Graal anlässlich von Percevals Einkehr bei Gornemant eine Schwertleite erfolgt (V. 1624-1638), muss Wolframs Parzival bei Gurnemanz nicht mehr zum Ritter geschlagen werden, da er bei der Einkehr, in Ithers Rüstung gekleidet, schon als solcher auftritt (vgl. die Dreißiger 162-164). Namentlich die Umgürtung des Schwerts, wie sie in den Versen 157,22-24 beschrieben wird, kann als „Vorgriff einer Schwertleite“ gelten. 43 Für Wolframs Parzival eröffnet die tödliche Verwundung Ithers also 39 Molt grief chose est de fol aprendre (Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval [wie Anm. 35], V. 1173). 40 Rien fors les armes ne volt prendre / Por proiere que on li face (ebd., V. 1174f.). 41 Sinnstörende Textänderungen finden sich in Binnenvarianten der Fassung *T: so etwa in der kontaminierten Handschrift V (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97, Rappoltsteiner Parzifal ), wo die in den Fassungen *D, *m und *G (und der hier nicht Fassung *T folgenden Handschrift T) begegnenden Verse 157,3f. mit den Versen 157,4 1 -157,4 4 kombiniert werden, was dazu führt, dass Vers 157,4 1 , der Parzivals bis zu Vers 157,2 reichende Rede fortsetzt, isoliert nach dem Erzählerkommentar der Verse 157,3f. steht; vgl. die Fassungsedition auf S. 298 f. sowie Schöller (wie Anm. 29), S. 336. Hinzuweisen ist auch auf die in Handschrift T nach Vers 158,10 begegnende Wiederholung der Verse 157,25-158,10, deren zweite Version dem Wortlaut von Fassungstext *T entspricht und in der Edition als dessen Grundlage gewählt wird (im Apparat mit der Sigle 2 T geführt zur Unterscheidung von 1 T, der den anderen Fassungen entsprechenden ersten Version in Handschrift T); vgl. die Fassungsedition auf S. 298 f. sowie Schöller, S. 125-127. 42 Vgl. 475,5 (Rede Parzivals), 744,15 (als rê in der Erzählerrede); dazu und zum Folgenden den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 541 (mit weiterer Literatur). 43 Vgl. Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. ‘Erec’ - ‘Iwein’ - ‘Parzival’ , München 1975 (Medium Aevum 28), S. 210; sowie Eichholz (wie Anm. 32), S. 230. 288 Michael Stolz ganz neue Lebenschancen, da er sich das Rittertum mit der roten Rüstung nachgerade überzieht. Dieser Vorgang wird in zwei weiteren Plusversen der Fassung *T (12 1 und 12 2 ) hervorgehoben, wenn es heißt, dass Parzival in Ithers Brustpanzer ( den halsperc ) regelrecht schlüpft: dar in sloufte sich der werde . 44 Parzivals neuer Lebensabschnitt generiert sich mithin aus dem brutalen Tod des Verwandten. Unter einem ethischen Blickwinkel wird die dabei aufgeladene Schuld erst im neunten Buch verhandelt, als Trevrizent den Mord an Ither zusammen mit dem Tod der Herzeloyde als Parzivals ‘zwei große Sünden’ ( zwuo grôze sünde ) bezeichnet (499,20). Wir gelangen mit Querverweisen dieser Art (hier vom dritten Buch auf das neunte Buch) zum Thema intratextueller Relationen in Wolframs Parzival , die sich an vielen Stellen ausmachen lassen. In diesem Zusammenhang gilt es darauf hinzuweisen, dass die Überlieferung an solchen Stellen vergleichsweise stabil ist, was freilich auch damit zusammenhängen könnte, dass im Bereich der Bücher 8-11, zu denen das neunte Buch gehört, der Gegensatz zwischen den beiden Hauptfassungen *D und *G weitgehend, wenn auch nicht gänzlich verschwindet. 45 Zugleich deutet sich im Hinblick auf die Textgenese an, dass Wolfram gerade bei wichtigen Themenbereichen wie dem Gral, Anfortas’ Siechtum oder Parzivals Schuld simultan an den Textabschnitten der Bücher 3-6 einerseits und von Buch 9 andererseits gearbeitet haben könnte. 46 Textgenetische Erwägungen dieser Art sind freilich mit vielen Zweifeln behaftet, aber es zeichnen sich in der Parzival -Forschung inzwischen doch einige Grundannahmen ab, die sich zum Teil im Blick auf die Beweglichkeit der Textfassungen von Wolframs Parzival bestätigen lassen. Der französische Germanist Jean Fourquet hat hierzu mit seinen Studien zum Verhältnis von Chrétiens Conte du Graal und Wolframs Parzival wichtige Anstöße geliefert, die in der Altgermanistik bis in die jüngere Zeit diskutiert wurden. 47 Teilnehmer an diesem Fachgespräch waren etwa Arthur T. Hatto, Joachim Heinzle und Eberhard Nellmann. 48 Fourquets Auffassung zur Textentstehung von Wolframs Parzival besagt kurz gefasst, dass Wolfram zunächst an den Büchern 3-6 arbeitete und dafür eine Vorlage von Chrétiens Conte 44 Diese Verse sind aber wohl nicht einer autornahen Textredaktion zuzurechnen, da der Reim werde - gerde (mit der Lenisierung des Dentalsuffixes in gerde ) für die fränkische Mundart Wolframs untypisch ist und auch sonst im Parzival nicht begegnet (für den Hinweis danke ich Kurt Gärtner, Marburg). Das Verspaar 12 1 und 12 2 dürfte eine spätere, nicht dem Bestand einer frühen Fassung *T zugehörige Ergänzung sein. 45 Vgl. zusammenfassend Bernd Schirok, „ Parzival III.1. Die Handschriften und die Entwicklung des Textes“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch (wie Anm. 18), S. 308-334, hier S. 320f. 46 Vgl. Stolz (wie Anm. 22), bes. S. 41-44; und ders., „Dingwiederholungen in Wolframs Parzival “, in: Dingkulturen. Verhandlungen des Materiellen in Literatur und Kunst der Vormoderne , hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin 2016 (Literatur - Theorie - Geschichte 9), S. 267-293, hier S. 288f. 47 Vgl. Jean Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal. Les divergences de la tradition du Conte del Graal de Chrétien et leur importance pour l’explication du texte du Parzival , Paris 1938 (Publications de la faculté des lettres de l’Université de Strasbourg 87), überarbeitete Neuauflage Paris 1966 (Publications de la faculté des lettres et sciences humaines de Paris-Sorbonne. Série „Etudes et Méthodes“ 17); ders., „Die Entstehung des Parzival “, in: Wolfram-Studien 3 (1975), S. 20-27. 48 Vgl. stellvertretend Arthur T. Hatto, „Two Notes on Chrétien and Wolfram“, in: Modern Language Review 42 (1947), S. 243-246; ders., „On Wolfram’s Conception of the ‘Graal’“, in: Modern Language Review 43 (1948), S. 216-222; ders., „On Chrétien and Wolfram“, in: Modern Language Review 44 (1949), S. 380-385; Joachim Heinzle, „Gralkonzeption und Quellenmischung. Forschungskritische Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte von Wolframs Parzival und Titurel “, in: Wolfram-Studien 3 (1975), S. 28-39; Eberhard Nellmann, „Produktive Missverständnisse. Wolfram als Übersetzer Chrétiens“, in: Wolfram-Studien 14 (1996), S. 134-148; ders., „ Parzival (Buch I-VI) und Wigalois . Zur Frage der Teilveröffentlichung von Wolframs Roman“, in: ZfdA 139 (2010), S. 135-152. The Vulnerable Text 289 du Graal benutzte, wie sie in der Version der Perceval -Handschrift R (Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. français 1450) vorliegt. 49 Während dieser Phase dürften zudem Teile von Buch 9 entstanden sein, in denen die erwähnten intratextuellen Bezüge zu den Büchern 3-6 fassbar sind. Spätere Forschungen von Nellmann und anderen 50 ergaben im Hinblick auf Parzival -Zitate in Wirnts von Grafenberg Wigalois (um 1210-1215), dass Wolframs Parzival wohl in einer die Bücher 3-6 umfassenden ‘Teilveröffentlichung’ zirkulierte. Textuelle Erweiterungen des Parzival , die neben den Gawan-Büchern das rätselhafte Gralschwert betreffen, deuten, wiederum gemäß Fourquet, darauf hin, dass sich Wolfram später auf eine andere Chrétien-Handschrift stützte, die eine Fortsetzung des unvollendeten Perceval -Romans ( Continuation Gauvain , lange Redaktion) sowie eine Interpolation zum Gralschwert enthielt. In dieser Phase dürften auch die Bücher 3-6 sowie die bereits vorhandenen Teile von Buch 9 überarbeitet worden sein. Während einer Arbeitspause zwischen der Verfügbarkeit der ersten und der zweiten Chrétien-Handschrift könnten die beiden Gahmuret-Bücher (1-2) und vielleicht auch bereits Teile des Titurel entstanden sein, Texte, die (abgesehen von Anklängen an altfranzösische Dichtungen wie den Bliocadran oder die Erzählung La mule sanz frain ) weitestgehend ohne Vorlagen auskommen. 51 Auf der Basis dieses Forschungsstands sollen nun Einblicke in das neunte Buch des Parzival eröffnet werden, dies mit Bezugnahmen zunächst auf die Bücher 3-6 und anschließend auf die beiden Gahmuret-Bücher 1-2. Dabei soll wiederum die Verbindung einer intertextuellen Vulnerabilität von Textfassungen einerseits und einer anthropologischen Verwundbarkeit der dargestellten Figuren, wie sie eingangs skizziert wurde, eine Rolle spielen. 52 Bei den ersten beiden Beispielen handelt es sich um intratextuelle Entsprechungen zwischen der Rede Sigunes in der zweiten Sigune-Szene, die in Buch 5 unmittelbar auf Parzivals Versagen auf der Gralburg folgt, und Ausführungen Trevrizents in Buch 9. Sigune erläutert dabei gegenüber Parzival die Genealogie der Gralfamilie und den Übergang der Herrschaft von Titurel auf Frimutel: ez brâhte der alte Tyturel / an sînen sun. rois Frimutel, / sus hiez der werde wîgant (251,5-7). Sigune erzählt von Frimutels Tod bei einer Tjoste im Minnedienst für eine nicht näher genannte Dame. Die zwischen den Fassungen bestehende Textvarianz ist gering: In Vers 251,6 wird Frimutel in Fassung *D als künec , in den anderen Fassungen mit dem entsprechenden französischen Titel rois bezeichnet. In Vers 251,10 wird als Veranlasserin der Tjoste zumeist diu minne , in Fassung *G (Handschriften G, I, O, M und diverse Fragmente) dagegen eine künegîn benannt: als im diu minne dar gebôt bzw. als im ein künegîn gebôt . Als 49 Vgl. zur Handschrift, die mit ihrer Entstehungszeit im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts allerdings nicht als unmittelbare Vorlage für Wolfram in Frage kommt, Stolz (wie Anm. 26), S. 432-439 (mit weiterer Literatur). 50 Vgl. Nellmann, „ Parzival (Buch I-VI)“ (wie Anm. 48), bes. S. 135f., 144f. (mit der einschlägigen Literatur); dazu auch Stolz (wie Anm. 22), S. 43f. 51 Vgl. Fourquet, Wolfram d’Eschenbach (wie Anm. 47), bes. S. 4, 73-76 und 148-152. Zu Bezügen der Gahmuret-Bücher auf den Bliocadran Bernd Schirok, „ Parzival V. Perspektiven der Interpretation“ (wie Anm. 18), S. 412; zu jenen des Titurel auf die Erzählung La mule sanz frain des Paien de Maisières Thomas Neukirchen, „ Titurel II. Der Stoff: Vorgaben und Transformationen“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch (wie Anm. 18), S. 446-475, hier S. 446. 52 Die folgenden Zitate bieten den Text, sofern nicht anders angegeben, nach der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19). Abweichender Wortlaut nach einzelnen Fassungen wird gemäß den Angaben einer in Arbeit befindlichen Datenbank des Parzival-Projekts (vgl. S. 284 mit Anm. 26) wiedergegeben; Handschriften, welche den Fassungstext stützen, stehen dabei in Klammern. 290 Michael Stolz Trevrizent im neunten Buch gegenüber Parzival die Vererbung des Gralwappens (der Turteltaube) erläutert, begegnet fast derselbe Wortlaut, wiederum gefolgt von der Erzählung über Frimutels Tod in der Tjoste: 474,10 Tyturel si brâhte dô an sînen sun rois Frimutel: dar unde vlôs der degen snel von einer tjoste ouch sînen lîp. Auch hier ist die zwischen den Fassungen bestehende Textvarianz recht gering. Ganz ähnliche Relationen bestehen bei der Schilderung von Anfortas’ Leiden. In Buch 5 berichtet Sigune über Trevrizents Bruder, den Gralkönig: Anfortas sîn bruoder lent: / der mac gerîten noch gegên / noch geligen noch gestên (251,16-18). Die Fassungen überliefern diesen Wortlaut nahezu einhellig. In Buch 9 sagt Trevrizent selbst dann über Anfortas: er mac gerîten noch gegên, / der künec, noch geligen noch gestên (491,1f.). Die Syntax der Verse 251,17f. und 491,1f. ist nahezu identisch, abgesehen von dem Einschub des Subjekts der künec in Vers 491,2. In Fassung *T (Handschriften T, V) ist in Vers 491,1f. die Abfolge der Reimwörter gestên - gegên gegenüber allen anderen Fassungen - sowie auch jenen in den Versen 251,17f. - vertauscht. Möglicherweise bezeugen hier die übrigen Fassungen in Vers 491,1f. einen Überarbeitungsprozess, bei dem die Abfolge der Reimwörter gegên - gestên jener in Sigunes Rede im fünften Buch angepasst wurde. Damit deutet sich erneut an, dass in Fassung *T Spuren einer älteren Textstufe vorliegen könnten. Weitere Indizien, die diese Vermutung stützen, finden sich in Buch 9. Mit dem Ausfall des Verspaars 460,22f. fehlt in der Rede Trevrizents die berühmte Zeitangabe von viereinhalb Jahren und drei Tagen, die vergangen sind, seit Parzival das letzte Mal in Trevrizents Klause kam. 53 Die allerdings nur in der Leithandschrift T vorliegenden Fehlverse lassen vermuten, dass das für die Handlung wichtige Zeitgerüst erst im Zuge einer Überarbeitung eingebracht worden sein könnte. Ähnlich entfällt - diesmal in sämtlichen Textzeugen der Fassung *T - anlässlich Trevrizents Erzählungen von seinen Minnefahrten das Verspaar 496,7f., in dem der rätselhafte Berg Famorgan (wohl eine Verwechslung mit der Fee Morgane) erwähnt wird, der seinerseits als Ländername im ersten der beiden Gahmuret-Bücher (56,18) begegnet. 54 Hier könnte sich anzeigen, dass die Erwähnung des Berges Famorgan erst im Zuge der Fertigstellung der Gahmuret-Bücher in Trevrizents Rede aufgenommen wurde. In den Versen 498,24-499,8 schildert Trevrizent seine Fahrten durch die Untersteiermark (das heutige Slowenien) und erzählt von einer Begegnung mit dem damals jugendlichen und im Kampf unversehrten Ither. Gemäß Fassung *T berichtet Trevrizent recht knapp, dass Ither dort als 53 Vgl. zur Stelle auch Hans Unterreitmeier, „Literatur und Kalender. Liturgie und Dichtung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: LiLi 20, Heft 80 [1990]), S. 72-92, hier S. 75f.; Herkommer (wie Anm. 23), S. 152f.; mit Blick auf Fassung *T Stolz (wie Anm. 22), S. 48-50 (mit weiterer Literatur). 54 Vgl. zum ‘Namensproblem’ (der Feenname Famorgan war dem zeitgenössischen Publikum durch Hartmann von Aue bekannt) den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 485f. In der mit zahlreichen Nachkorrekturen versehenen Handschrift V ( Rappoltsteiner Parzifal ) ist das Verspaar am Rand nachgetragen und wieder ausradiert. Vgl. zur Stelle auch Schöller (wie Anm. 29), S. 355. The Vulnerable Text 291 Landesherrin seine Vaterschwester Lammire getroffen habe: sîne basen er dâ vant (499,3). 55 In den übrigen Fassungen ist diese Episode zu einer kleinen Minneerzählung ausgebaut, die sich geographisch an der Mündung des slowenischen Greianbaches in die Drau abspielt. Gemäß deren Wortlaut trifft Ither nun nicht mehr seine Vaterschwester, sondern diejenige seines Zuhörers Parzival: dîne basen er dâ vant (Text nach Fassung *G, in *D wohl aufgrund eines Kopierfehlers: dise basen ). Die Einsetzung von Gahmurtes Schwester Lammire als Landesherrin geschieht gemäß dem Text aller Fassungen außer *T (wo das entsprechende Verspaar fehlt) ausdrücklich auf Veranlassung von Parzivals Großvater und Gahmurets Vater: Gandin von Anschouwe / hiez si dâ wesen vrouwe (499,5f.). Die auf diese Weise hergestellte Beziehung zwischen Ither und Parzivals väterlicher Linie lässt den Mord an dem roten Ritter im dritten Buch erst recht frevelhaft erscheinen. In den Fehlversen der Fassung *T (496,7f.: Berg Famorgan; 498,29f., 499,1f., 499,5f.: Minneerzählung von Ither und Lammire mit detaillierten Ortsangaben) könnten sich also Relikte einer älteren Textfassung erhalten haben, die zu einem Zeitpunkt entstand, ehe die ersten beiden Gahmuret-Bücher fertiggestellt waren. Nach diesen Beobachtungen, die mit ihren textgenetischen Implikationen einen in seinen Wucherungen und Schrumpfungen ‘vulnerablen’ Text erkennen lassen, sollen abschließend Wolframs Titurel -Bruchstücke in den Blick geraten. 56 Die mutmaßlich zeitliche Simultaneität dieser strophischen Dichtung zur Anfertigung des Parzival , wie sie Fourquet vermutet hat, 57 lässt sich vorsichtiger auch als hermeneutische Simultaneität deuten. So sieht etwa Walter Haug den Titurel als „geradezu von einem ‘wunden Punkt’ im Parzival her konzipiert“ (gemeint ist Wolframs „Unbehagen“ an der Idealität der Gralswelt), 58 während Christian Kiening und Susanne Köbele in einem Aufsatz über „Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel “ von einer „simultanen Logik“ sprechen, die nicht nur den Bezug des Titurel zum Parzival , sondern auch jenen der beiden Bruchstücke untereinander sowie die darin jeweils wirksame Metaphorik kennzeichne. 59 Das Stichwort der Metaphorik gemahnt dabei an jene Kategorien in Greenes Konzept des ‘vulnerablen Texts’, die auf die Beziehung von sprachlichem Zeichen und Bezeichnetem sowie auf die ‘Verwundbarkeit’ von Sprache im Bereich der figurativen 55 Vgl. zur Stelle auch Schöller (wie Anm. 29), S. 355-357, wo die Verse 498,29-499,2 nach der Fassung *T zugeordneten, kontaminierten Handschrift V ergänzt werden, was jedoch keineswegs zwingend dem Kernbestand der Fassung entsprechen muss. 56 Vgl. zur Forschungssituation den Überblick bei Thomas Neukirchen, „ Titurel IV. Perspektiven der Interpretation“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch (wie Anm. 18), S. 502-522; zu den grundlegenden neuen Ausgaben von Brackert und Fuchs-Jolie (wie Anm. 18) (2003) sowie Bumke und Heinzle (Wolfram von Eschenbach, Titurel , mit der gesamten Parallelüberlieferung des Jüngeren Titurel , kritisch hg., übersetzt und kommentiert von Joachim Bumke und Joachim Heinzle, Tübingen 2006) ebd., S. 516-518. Alle Zitate im Folgenden nach der Studienausgabe von Brackert und Fuchs-Jolie. 57 Vgl. Fourquet, Wolfram d’Eschenbach (wie Anm. 47), S. 149, aber z. B. auch Walter Haug, „Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs Titurel “, in: Wolfram-Studien 6 (1980), S. 8-24, hier S. 10: „[D]ie Titurel -Handlung und -Thematik dürften [Wolfram], als er an den Sigune-Szenen arbeitete, wenigstens in groben Umrissen schon vorgeschwebt haben“. 58 Haug (wie Anm. 57), S. 11. 59 Christian Kiening und Susanne Köbele, „Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel “, in: PBB 120 (1998), S. 234-265, hier S. 237 und 261-263. 292 Michael Stolz Rede abzielen. 60 Wie sich eine solche ‘vulnerable’ Form von Simultaneität gestaltet, sei an einigen Textauszügen aufgezeigt. In der ersten Sigune-Episode des Parzival findet sich ebenfalls in der Rede der Sigune ein sehr lakonischer Hinweis auf das zweite Titurel -Bruchstück, der aus dem Handlungszusammenhang des Parzival kaum verständlich ist: ein bracken seil gap im den pîn (141,16). 61 Mit diesem in der Überlieferung ausgesprochen stabilen Vers verweist Sigune auf das Schicksal des tot in ihrem Schoß liegenden Schionatulander. Diese Bedeutung aber erschließt sich für die Rezipienten allein aus der Kenntnis des Titurel . Der Vers wirkt wie ein aus dem Kontext gerissenes Zitat: Auch ohne Markierungen wie Anführungszeichen oder Kursivdruck, die im neuzeitlichen Buchdruck üblich sind, weist er auf fremde Kontexte, denen er entnommen ist. 62 Ähnliches gilt für Sigunes Bemerkung, dass es unvernünftig war, dem nunmehr toten Schionatulander ihre Liebe zu verweigern: ich hete kranke sinne, / daz ich im niht minne gap (141,20f.). Auch dieser Satz ist bezogen auf den Parzival nur schwer verständlich. Die entstehende Liebe zwischen dem blutjungen Paar wird bekanntlich im ersten, Schionatulanders Aufbruch zur Jagd nach dem Brackenseil im zweiten Titurel -Bruchstück erzählt. 63 Die Jagd selbst aber ist ein gleichermaßen handlungskonstitutives wie metaphorisches Leitmotiv, das in beiden Titurel -Bruchstücken begegnet. 64 Im Kontext der erwähnten Parzival -Verse erscheint der Begriff im Rahmen einer komplexen Satzstruktur, die in der rhetorisch eigenwilligen Figur eines Zeugmas den verrätselten Stil der Titurel -Strophen geradezu evoziert: in unser zweier dienste den tôt / hât er bejagt, und jâmers nôt / mir nâch sîner minne (141,17-19; Hervorhebung M. St.). Blickt man von hier aus auf den Titurel , so fällt auf, dass die Jagdmetaphorik im ersten Titurel -Bruchstück begegnet, als Sigune und Schionatulander darum ringen, die für sie neue Erfahrung der Liebe in Sprache zu fassen. In Strophe 65 verweist Schionatulander auf gebräuchliche Redensarten ( von wîben unt von mannen ), in denen die Liebe als Jägerin umschrieben wird: Die Minne erscheint in diesem diskursiven Feld als Gewalttäterin, die auf Alte wie Junge gleichermaßen ‘zielen’ kann ( schuzlîchen spannen , V. 2), als eine, die ‘mit Gedanken schmerzhaft schießt’ ( mit gedanken sêre schiuzet , V. 3) und alle Lebewesen zielsicher ‘trifft’ ( si triffet âne wenken , V. 4). 65 Die Phasen des Zielens, Schießens und Treffens entsprechen geradezu Angriffsweisen, wie sie in Kampfszenen, etwa anlässlich von Parzivals Attacke auf Ither, bei Chrétien und in der Parzival -Fassung *T geschildert 60 Wohl angeregt von Kiening und Köbele versteht Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“ (wie Anm. 18), S. 21, das Erzählen im Titurel als „simultan […] insofern, als es mit der Verweigerung eindeutiger Sinnbezüge die Gleichzeitigkeit und Gleich-Gültigkeit sprachlich generierter Sinn- und Bedeutungspotentiale und damit die sprachlichen Bedingungen von Erzählen im ganzen wie im Detail freilegt“. 61 Vgl. zur Stelle auch Eichholz (wie Anm. 32), S. 58f.; den Kommentar in der Ausgabe von Nellmann (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 532; und Neukirchen, „ Titurel II. Der Stoff“ (wie Anm. 51), S. 462. 62 Aus neuzeitlicher Perspektive beschreibt Alain Compagnon, La seconde main ou le travail de la citation , Paris 1979, die Zitation als ‘versehrtes Organ’, das den Keim neuen Lebens in sich trägt: „Elle est un organe mutilé, mais elle serait déjà un corps propre, vivant et suffisant: l’animalcule monocellulaire à partir duquel s’explique toute la création“ (S. 31). Er evoziert auch das Bild einer ‘Narbe’ („la joliesse de la cicatrice“): „La citation est une chirurgie esthétique où je suis à la fois l’esthète, le chirurgien et le patient“ (S. 32). 63 Vgl. die Inhaltsanalysen bei Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“ (wie Anm. 18), S. 8-21, und Neukirchen, „ Titurel II. Der Stoff“ (wie Anm. 51), S. 450-465. 64 Vgl. Kiening und Köbele (wie Anm. 59), S. 240f. 65 Vgl. auch ebd., S. 243f. The Vulnerable Text 293 werden. 66 Die hier von Schionatulander metaphorisch gebrauchte Jagd- und Kampfthematik ist damit zugleich rückgebunden an handlungslogische Erzählzusammenhänge des Parzival und Titurel - an die zahlreichen Zweikämpfe, denen auch Schionatulander in der Tjoste mit dem Ritter Orilus erliegt, ohne dass dies im Einzelnen auserzählt wird. Diese simultane Referenz auf die Erzählwelt einerseits und - metaphorisch - auf die in dieser Erzählwelt diskursiv verhandelte Liebe andererseits stellt genau jenes Phänomen dar, das Greene als ‘Verwundbarkeit’ der Sprache, genauer: als ‘Verletzung’ des Literalsinns in der figurativen Rede beschreibt. Im zweiten Titurel -Bruchstück wird diese Vulnerabilität konkret auf einen in den erzählten Handlungsgang eingebundenen Leseakt bezogen. Sigune bekommt das mit Edelsteinen bestickte, gut 20 Meter lange Brackenseil zu fassen, dessen Schriftzüge einen Brief von Clauditte an ihren Geliebten Ehcunat enthalten, in dem die Geschichte von Florie (Claudittes Schwester) und deren Geliebtem Ilinot erzählt wird. Als der Bracke mitsamt der Leine entkommt, folgt Schionatulander der für ihn zuletzt tödlich verlaufenden Fährte des Hundes Gardeviaz. Auffällig sind dabei die zunächst banal erscheinenden Verletzungen, denen das Paar in dieser Szene ausgesetzt ist: Sigune zerschürft sich die Hände, als ihr das Brackenseil entgleitet, was der Erzähler in Strophe 161 wie folgt kommentiert: ih klage der herzoginne blanc linde hende, op daz seil die zerfüere (V. 2). Schionatulander, der vom selben Erzähler eben etwas grotesk in der jägerischen Abart des Fischens gezeichnet worden ist (Strophe 159), zerkratzt sich, so der Eingang von Strophe 166, beim ersten Versuch, den davoneilenden Hund zu fangen, im Dornengestrüpp die nackten Beine: Im wurden diu blôzen bein ganz zerkratzet von den brâmen (V. 1). Die beim Laufen von den am Boden befindlichen Stacheln davongetragenen wunden (V. 2) lassen auch Schionatulander - im rhetorischen Mittel einer figura etymologica - als ‘wund’ erscheinen: man kôs in, baz danne daz erschozen tier, wunden (V. 3). Mit der neuerlichen Jagdmetaphorik wird so geradezu aufdringlich auf den bevorstehenden Tod im Zweikampf vorausverwiesen, der eintreten wird, als sich Schionatulander nach einer Unterredung mit Sigune auf die Suche nach dem Bracken macht. Als Schionatulander zu seinem letzten Gespräch mit Sigune in das Zelt zurückkehrt, blickt er seinerseits auf ihre von der edelsteinbesetzten Hundeleine zerschundenen Handflächen. In Strophe 167 wird der Eindruck, den Sigunes verletzte Hände auf Schionatulander machen, in einer Reihe von Vergleichen beschrieben: ‘als ob’ diese von Reif benetzt wären ( als si wæren berîfet , V. 1), grau, wie die Hand eines Tjostkämpfers ( grâ als eines tiostiurs hant , V. 2). Dabei kommen die Kampfbewegungen geradezu lautmalerisch zum Ausdruck: der Rückstoß, mit dem der Lanzenschaft durch die Hand schleift ( slîfet , V. 2) und beim Kontakt mit der bloßen Haut Geräusche verursacht: der zuschet uber blôzez vel gerüeret (V. 3). Die betrachteten Strophen lassen einen ständigen Wechsel zwischen Handlungsebene und metaphorischer Ebene, hier zwischen der Zerschürfung von Sigunes Hand und der Bildebene eines Tjostkampfes, erkennen, wobei letztere ihrerseits auf den Schionatulander bevorstehenden, aber eben nicht auserzählten Zweikampf vorausverweist. Auf diese Weise wird eine Verschiebung der erzählten Fakten erwirkt. Man kann diese Verschiebung mit dem Begehren der Sigune vergleichen, die den Text auf dem Brackenseil lesen möchte, ohne dass sich dieser Wunsch erfüllt. Dieser kunstvoll inszenierte Aufschub, der ständig zwischen der Fakten- und 66 Vgl. oben, S. 285 f. 294 Michael Stolz Bildebene oszilliert, zeichnet die besondere Erzählkunst des zweiten Titurel -Bruchstücks aus. 67 Man mag diesen Aufschub, diese Uneinholbarkeit des Bezeichneten durch das Bezeichnende, mit Greene eine textuelle ‘Verwundbarkeit’ nennen. Eine solche textuelle ‘Verwundbarkeit’ fände dann zugleich in den auf der Handlungsebene dargestellten Verletzungen eine Entsprechung. Sigunes Begehr nach der Brackenseilinschrift, das, wie die erste Sigune-Szene des Parzival zeigt, in ein Begehren (eine immer währende jâmers nôt , 141,18) nach dem toten Geliebten übergehen wird, macht den Verlust, das Entgleiten eines Textes zum Thema. Es könnte sein, dass sich darin auch die Erfahrung eines Autors reflektiert, dem eine Textvorlage, vielleicht aber auch eine Teilversion seiner eigenen, noch unfertigen Dichtung durch eine Vorveröffentlichung abhanden gekommen ist. Doch müssen pseudo-biographische Erwägungen dieser Art Spekulation bleiben. Unabhängig davon ist allemal das Paradox auffällig, dass das zweite Bruchstück den Verlust einer zu lesenden Textquelle beschreibt, während der Titurel selbst eine solche Textvorlage gerade nicht aufzuweisen scheint. 68 Wenn der Titurel auf diese Weise einerseits zur ‘Originalität’ tendiert, steht er andererseits doch in einer ‘dialogischen Beziehung’ zu Wolframs Parzival und dessen französischer Vorlage, was nach Thomas Greene die ‘Vulnerabilität’ von Texten ausmacht. 69 Damit lässt sich folgendes Fazit ziehen. Ausgehend von Vorgängen im menschlichen Körper, der Autodestruktion und dem programmierten Tod organischer Zellen, wurde im vorliegenden Beitrag unter Einbezug des Ansatzes von Greene versucht, eine Zusammenschau anthropologischer und textueller Vulnerabilität zu leisten. Dieses Vorhaben war an drei Gegenstandsbereichen durchzuspielen: zunächst an der auf inhaltlicher wie textueller Ebene fassbaren Verwundbarkeit in der Ither-Szene des Parzival , sodann an den sich in der Dialogizität von Textfassungen abzeichnenden Spuren der Textgenese und schließlich an der konzeptionellen, vielleicht auch produktionsbedingten Simultaneität, welche die Titurel -Bruchstücke in ihrer besonderen poetischen Machart gegenüber dem Parzival aufweisen. In diesem letzten Fall führen zudem die auf referentieller und metaphorischer Ebene stattfindenden Verschiebungen zu einer semantischen Unbestimmtheit, die den Text des Titurel -Fragments über die ihm eigene Bruchstückhaftigkeit hinaus ‘vulnerabel’ macht. Eine offene Frage bleibt, woran sich eine solche Verwundbarkeit im jeweiligen Einzelfall bemisst. ‘Vulnerabilität’ steht immer auch in Spannung zu ihrem Oppositionsbegriff der ‘Unversehrtheit’. Dabei gilt es Stufungen zu berücksichtigen, Stufungen der ‘Verwundbarkeit’ ebenso wie solche der ‘Unversehrtheit’. Ein im menschlichen Körper programmiert ablaufender Zelltod lässt, solange er funktioniert, den Organismus selbst unversehrt. Nimmt man eine über den individuellen Körper hinausgehende Perspektive ein, ließe sich aber auch sagen, 67 Vgl. auch Kiening und Köbele (wie Anm. 59), S. 258f. 68 Vgl. Fuchs-Jolie, „Eine Einführung“ (wie Anm. 18), S. 8 und 258; vorsichtiger verweist Neukirchen, „ Titurel II. Der Stoff“ (wie Anm. 51), S. 448, auf den „vorgegebene[n] chrestiensche[n] Rahmen, der das ‘Ganze’ als Erfindung relativiert“; zu den Anklängen an die Erzählung La mule sanz frain oben, S. 289 mit Anm. 51. 69 Vgl. Greene (wie Anm. 15), S. 101f., im Zusammenhang mit Gedichtsammlungen: „Every poem […] maintains a dialogic relation with the other poems surrounding it, and also with the antecedent poems of its tradition. This admission of dialogue is an admission of vulnerability“. Vgl. auch Kiening und Köbele (wie Anm. 59), S. 263: „Die Titurel -Stücke […] gewinnen intertextuell Sinn nur in Gemeinschaft mit dem Text, auf den sie sich beziehen, mit dem sie aber nicht verschmelzen“. The Vulnerable Text 295 dass der Tod menschlicher Individuen die großen natürlichen oder kosmischen Abläufe unversehrt lässt. „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen“, heißt es in einer Erzählung von Max Frisch. 70 Es gälte also Grade der ‘Unversehrtheit’ zu definieren, an denen dann auch eine Bestimmung von ‘Vulnerabilität’ ansetzen könnte. 70 Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung , Frankfurt a. M. 1979, S. 103. 296 Michael Stolz Anhang: Edition der Fassungstexte *D 155 Der helt was zornes dræte. er sluog in, daz im wæte vome schafte uˆ zer swarten bluot. Parzival, der knappe guot, 5 stuont al zornic uˆ f dem plaˆn. sı ˆn gabyloˆ t begreif er saˆn. daˆ der helm unt diu barbier sich locheten ob dem hersnier, 8 1 - - - 8 2 - - - durchz ouge in sneit daz gabyloˆ t 10 und durch den nac, soˆ daz er toˆ t viel, der valscheite widersaz. wı ˆbe siufzen, herzen jaˆmers kraz gap Ithers toˆ t von Gaheviez, der wı ˆben nazziu ougen liez. 15 swelhiu sı ˆner minne enpfant, durch die vreude ir was gerant und ir schimpf entschumpfieret, gein der riuhe gecondwieret. Parzival, der tumbe, 20 keˆrten dicke al umbe. er kunde im ab geziehen niht - daz was ein wunderlı ˆch geschiht - helmes snüere noch sı ˆniu schinnelier. mit sı ˆnen blanken handen fier 25 kund ers niht uˆ f gestricken noch sus her ab gezwicken. vil dickers doch versuochte, wı ˆsheit der unberuochte. D az ors unt daz pferdelı ˆn 30 erhuoben einen soˆ hoˆ hen grı ˆn, D 1 Majuskel D 29 Initiale D 3 vome] wome D 13 Gaheviez] Gahevı ˆez D 29 Daz] ÷az nachträglich korrigiert zu: Daz D *m der helt was zornes dræte. er sluoc in, daz ime wæte von dem schafte uˆ zer swarten bluot. Parcifal, der knappe guot, 5 stuont al zornic uˆ f dem plaˆn. sı ˆn gabiloˆ t begreif er saˆn. daˆ der helm und diu barbier sich locheten ob dem hersenier, 8 1 - - - 8 2 - - - durch daz ouge sneit daz gabiloˆ t 10 und durch den nac, daz er lac. toˆ t viel der valscheit widersaz. wı ˆbe siufzen, herzen jaˆmers kraz gap Ichers toˆ t von Gaheviez, der wı ˆben ouge nazzen liez. 15 welhiu sı ˆner minne enpfant, durch die vröude ir was gerant, ir schimpf wart geschumpfieret, gegen der riuhe gecundewieret. Parcival, der tumbe, 20 keˆrte in dicke alumbe. er kunde ime abe ziehen niht - daz was ein wunderlı ˆch geschiht - helmes snüere noch sı ˆniu schinnelier. mit sı ˆnen blanken handen fier 25 kund ers niht uˆ f gestricken noch sus her abe gezwicken. vil dicke es doch versuochte wı ˆsheit der unberuochte. †danne ers† und daz pferdelı ˆn 30 erhuoben einen solhen grı ˆn, m n o 2 in] om. m 3 uˆ zer] vff der o · swarten] swarttem m 4 Parcifal] Parcipfal n 6 begreif] ergreiff n o 7 daˆ] Do m n o · diu] der n 8 sich locheten] Sicheten o · ob] vff n o 9 sneit daz] sin n sneit da o 10 den] den den n · lac] lag vor ir n 12 herzen] hertze n · kraz] craft m tracz o 13 Ichers] ichters n ithers o · Gaheviez] gahiveis m o gahwies n 14 ouge nazzen] nasz ougen n (o) 15 enpfant] enpfang m 17 geschumpfieret] [enps]: entschumppfieret n entschiempfieret o 18 riuhe] ruwe o · gecundewieret] gedondieret n o 19 Parcival] Parcipfal n Parcifal o 20 keˆrte] Derte m · dicke] deck o 21 ziehen] geziehen n o 25 gestricken] gestricket o 27 es] ers n o 29 und] om. o The Vulnerable Text 297 *G der helt was zornes dræte. er sluog in, daz im wæte vome schafte uˆ z der swarten bluot. Parcival, der helt guot, 5 stuont al zornec uˆ f dem plaˆn. zem gabiloˆ te greif er saˆn. daˆ der helm und diu barbier sich luˆ chent umbe den härsnier, 8 1 - - - 8 2 - - - durch daz ouge in sneit daz gabiloˆ t 10 unt durch den nac, soˆ daz er toˆ t viel, der velsche widersaz. wı ˆbe siuften, herzen jaˆmers kraz gap Ithers toˆ t von Kaheviez, der wı ˆben nazziu ougen liez. 15 swelhiu sı ˆner minne enpfant, durch die vröude ir was gerant unde ir schimpf enschumpfiert, gein der riwe gecondewiert. Parcival, der tumbe, 20 keˆrt in dicke al umbe. er kunde im abe geziehen niht - daz was ein wunderlı ˆch geschiht - helmsnüere noch diu tschillier. mit sı ˆnen blanken handen fier 25 kunde ers niht abe gestricken noch sus her abe gezwicken. vil dickerz doch versuohte, wı ˆsheit der unberuohte. daz ors und sı ˆn pferdelı ˆn 30 erhuoben einen soˆ hoˆ hen grı ˆn, G I O L M Q R Z Fr36 9 Initiale M · Capitulumzeichen L 15 Initiale I 27 Initiale I O Z Fr36 29 Initiale L 2 im wæte] im vf wate L es im we tette R 3 schafte] schopfe O · swarten] swarte I O L Z · bluot] daz blv o t O 4 Parcival] Parzival G Parzifal I Parcifal O L Z Parzeval M Partzifal Q Parczifal R · helt] chnappe I (M Z) [hed*]: helde R 5 stuont al] Wart also Q · dem] den O M de¯ Q 6 zem] Sin L · greif] begreif L 7 diu] der I M Z daz L · barbier] visier R 8 luˆ chent] lvhten O locherton L lochten M (Q Z) lochrete R · umbe den] ob dem O L R Z uff dem M (Q) · härsnier] barbir R 9 durch daz] Daz durch L · ouge] om. Z · in] im L om. R · daz] sin I der Z 10 soˆ ] also I om. L · toˆ t] lac tot I 11 viel] Wie M om. R · der] daz L · velsche] valsche G O M (Q) valsches I (R L) falscheit Z · widersaz] wider sazt I wider scaz M 12 wı ˆbe] Bibes O (L M) Weyben Q · siuften] schufften M susszen Q · herzen] hercze R · kraz] craft I (R) tratz Q 13 Ithers] iters I Jthers O jhters L (R) Jtersz M ichers Q Z · von] vo G · Kaheviez] gahaviez G Gahafiez I kahaviez O kachaviez M [gahevitz]: gahevietz Q kacheveis R 14 wı ˆben nazziu ougen] wibes avgen naziv O weybes auge nasse Q (R) 15 swelhiu] Welche L (M) Q (R) 16 die vröude ir] der frævde er O der frewde Q in Z 17 enschumpfiert] was entschvmpfieret O 18 gecondewiert] chonduwieret I 19 Parcival] parzival G Parzifal I Parcifal O L Z Partziual M Partzifal Q Parczifal R 20 al] om. I O M Q 21 er] ern I (L M Q Z) · im abe] ab im I in abe L (R Z) · geziehen] zihen Q 23 helmsnüere] Her swur Q Helms schnu o r R · noch diu] om. G noch siniv O (L M Q R Z) · tschillier] sinillir Q schaler R 24 blanken handen] handen blanchen vnd I [bla e nchen]: blanchen [ar*]: armen O wisen henden R · fier] fer R 25 ers] er Q · abe] vf O L (M Q R) Z (Fr36) · gestricken] gestriktten R 26 noch sus] Sust och nit R · gezwicken] gewiken R 27 vil] ÷il O Wie R · dickerz] ditchez G · doch] om. M 28 wı ˆsheit] Mit wı e sheit O Witze L · der] den M · unberuohte] vngebruchte Q 29 sı ˆn] om. I daz L Z 30 einen soˆ ] einem I eine¯ so L M · hoˆ hen] grossen R *T (U) der helt was zornes draˆte. er sluoc in, daz im waˆte vonme schafte uˆ z der swarten bluot. Parcifal, der knappe guot, 5 stuont al zornic uˆ f dem plaˆn. zuo dem gabiloˆ te greif er saˆn. daˆ der helm und diu barbier lochent ob dem hersenier, 8 1 doˆ begunde er sı ˆn pflegen 8 2 mit schüzzen, biz daz den degen durch diu ougen versneit daz gabeloˆ t 10 und durch den nac, soˆ daz er toˆ t viel, der valsches widersaz. wı ˆbe siufzen, herzen jaˆmers kraz gap Ithers toˆ t von Kaheviez, den wı ˆben nazziu ougen liez. 15 welchiu sı ˆner minne enpfant, durch die vröude ir was gerant und ir schimpf entschumpfieret, gein der riuwe gecundewieret. P arcifal, der tumbe, 20 keˆrtin ofte alumbe. er enkunde ez im abe geziehen niht - daz was ein wunderlı ˆch geschiht - helmsnüere, schillier. mit sı ˆnen blanken handen fier 25 kunders niht uˆ f gestricken noch sus her abe gezwicken. dicke er ez doch versuochte, wı ˆsheit der unberuochte. daz ors und sı ˆn pferdelı ˆn 30 erhuoben einen soˆ hoˆ hen grı ˆn, U V W T 1 Majuskel T 4 Majuskel T 7 Majuskel T 15 Majuskel T 19 Initiale U V W T 29 Majuskel T 3 der swarten] [*]: siner swarte V 4 Parcifal] parzifal V (T) Partzifal W 5 dem] den V W 6 dem] seinem W 7 daˆ] Do U W · helm] heln heln V · diu] das W die T · barbier] banier U 8 lochent] sich [lo e s*]: lo e sent V Sich lo e cherten W losten T 8 1 Die Verse 155.8 1 -8 2 fehlen T · pflegen] sere pflegen W 8 2 schüzzen] schiessen W · biz] vnz V · den] der W 9 diu] om. V (W) · versneit] in sneit V [s*]: sneı ˆt im T · daz] sein W 10 und] om. V · soˆ ] om. T 11 viel nider von des kindes craft T · valsches widersaz] valsche widerfart W 12 Vro v wen svften sigehaft T · wı ˆbe] wiben V Weibes W · kraz] zart W 13 Ithers] Jthers U T yters V ythers W · Kaheviez] Caheviez U kahevies V gahafies W 14 den] Der V W (T) · ougen] auge U 15 welchiu] Swelche V [*]: Swelhiv T · enpfant] erfant V 16 die vröude ir] der vroude T 17 und ir schimpf] Vil ir schinphes V 19 Parcifal] PArzifal U V T PArtzifal W 20 ofte] [*]: dicke V dicke T 21 er enkunde ez] Ern kondes V (W) 23 schillier] [*]: noch schillier V noch schellier T 25 kunders] Kunde er W kvnderz T · uˆ f] ab W 26 sus] om. T · gezwicken] gewikken V 27 dicke] vil [*]: dicke T · er ez] ers V T 28 der unberuochte] dar vmb ru o chte U (V) 30 erhuoben] hv o ben T · soˆ hoˆ hen] solhen T 298 Michael Stolz *D 157 des sol vil weˆnic von mir komen, ez geˆ ze schaden oder ze vromen.« daz duˆ hte wunderlı ˆch genuoc Iwanet, der was kluoc. 4 1 - - - 4 2 - - - 4 3 - - - 4 4 - - - 5 iedoch muoser im volgen. ern was im niht erbolgen. zwoˆ liehte hosen ı ˆserı ˆn schuoht er im über diu ribbalı ˆn. sunder leder mit zwein borten 10 zweˆne sporen dar zuo gehoˆ rten. er spien im an daz goldes werc. eˆ er im büte daˆ r den halsberc, 12 1 - - - 12 2 - - - er stricte im umbe diu schinnelier. sunder twaˆle vil harte schier 15 von vuoz uˆ f gewaˆpent wol wart Parzival mit gerender dol. Doˆ iesch der knappe mære sı ˆnen kochære. »ich enreiche dir dechein gabyloˆ t. 20 diu ritterschaft dir daz verboˆ t«, sprach Iwanet, der knappe wert. der gurte im umbe ein scharpfez swert. daz leˆrt ern uˆ z ziehen und widerriet im vliehen. 25 doˆ zoˆ ch er im dar naˆher saˆn des toˆ ten mannes kastelaˆn. daz truoc bein hoˆ ch und lanc. der gewaˆ pent in den satel spranc, ern gerte stegreifes niht, 30 dem man noch snelheite giht. D 17 Majuskel D 4 Iwanet] Jwanet D 21 Iwanet] Jwanet D *m ez geˆ ze schaden oder ze vromen, des sol vil weˆnic von mir komen.« daz duˆ hte in wunderlı ˆch genuoc, Iwaneten, der was kluoc. 4 1 - - - 4 2 - - - 4 3 - - - 4 4 - - - 5 iedoch muos er ime volgen. er enwas im niht erbolgen. zwoˆ liehte hosen ı ˆserı ˆn schuohet er ime über diu ribbalı ˆn. sunder leder mit zwein borten 10 zweˆne sporen dar zuo gehoˆ rten. er spien ime an des goldes werc. eˆ er ime daˆ r büte den halsberc, 12 1 - - - 12 2 - - - er stricket ime umbe diu schinnelier. sunder twaˆle harte schier 15 von vuoze uˆ f gewaˆpent wol wart Parcifal mit gernder dol. doˆ iesch der knappe mære sı ˆnen kochære. »in reiche dir kein gabiloˆ t. 20 diu ritterschaft dir daz verboˆ t«, sprach Iwanet, der knappe wert. er gurt ime umbe ein scharpfez swert. daz leˆrte er in uˆ z ziehen und widerriet ime vliehen. 25 doˆ zoˆ ch er im dar naˆher saˆn des toˆ ten mannes kastelaˆn. daz truoc bein hoˆ ch und lanc. gewaˆ pent er in den satel spranc, er engerte stegreifes niht, 30 dem man noch snelheit giht. m n o 1 ez] E n o · ze vromen] fromen n o 2 des] Das n o · von] vor m 3 daz] Doch o · in] om. n o 4 Iwaneten] Jwanetten m Jwaneten n o 5 muos] [mith]: miu o s m 7 liehte] lichte n (o) · ı ˆserı ˆn] [ysen]: yserrin m 8 schuohet] Schu o che het m 11 des] das o · werc] wert m n o 12 büte] bitte m n 13 schinnelier] schiemelier o 14 twaˆle] om. n 16 mit] nit o 17 iesch] [sc*]: hiesch m hesch n 19 in reiche] Jch einreche o 21 Iwanet] jwanet m n o 24 vliehen] das fliehen o 25 dar] her n do o 26 des toˆ ten] Das daten o 27 bein] in n o 29 engerte] engert n · stegreifes] stegereiff n o 30 man] manne n · snelheit] slnelheit m manheit n o The Vulnerable Text 299 *G des sol vil weˆnec von mir komen, ez geˆ ze schaden oder ze vrumen.« daz duˆ hte wunderlı ˆch genuoc Ywaneten, der was kluoc. 4 1 - - - 4 2 - - - 4 3 - - - 4 4 - - - 5 iedoch muoser im volgen. er was im niht erbolgen. zwuo liehte hosen ı ˆserı ˆn schuohter über diu ribbalı ˆn. sunder leder mit zwein borten 10 zweˆne sporen dar zuo gehoˆ rten. er spien im umbe daz goldes werc. eˆ er büte im den halsberc, 12 1 - - - 12 2 - - - er stricte im umbe diu tschillier. sunder twaˆl wart harte schier 15 V on vuoze uˆ f gewaˆpent wol Parcival mit gernder dol. doˆ iesch der knappe mære sı ˆnen kochære. »ich reiche dir nehein gabiloˆ t. 20 diu ritterschaft dir daz verboˆ t«, sprach Ywanet, der knappe wert. er gurte im umbe ein scharfez swert. daz leˆrt ern uˆ z ziehen unde widerriet im vliehen. 25 doˆ zoˆ ch er im dar naˆher saˆn des toˆ ten mannes kastelaˆn. daz truoc bein hoˆ ch und lanc. doˆ er gewaˆ pent in den satel spranc, er gert stegereife niht, 30 dem man noch snelheite giht. G I O L M Q R Z Fr36 15 Initiale G 17 Initiale I 1 Versfolge 157.2-1 L · des] Das R · vil] om. O L M Fr36 2 ez] Das R · geˆ] si I erge O (Fr36) gen R 3 duˆ hte] duht in I (R) 4 Ywaneten] y˙ waneten G Juuanet I Jwaneten O M Jwanet L Ywanen Q Jwan R iwanet Fr36 · der was] der was so O den knappen L wan er was Q der wan R 6 was] en wasz M (Q) 7 liehte] ly´ chte L (M Q) · hosen ı ˆserı ˆn] hosen isenin I (O L R) isen hosen isner: : Fr36 8 schuohter] Schvte er O (L M) Schvrtzter Z · über] im vber O L (M R) Z in vber Q · diu ribbalı ˆn] das Rabilin R 9 sunder] Vnter Q 10 sporen] spor I · dar zuo] druber I die dar zu R · gehoˆ rten] horten I O (Fr36) 11 umbe] an L om. M · daz] des R · goldes werc] Goltwerc I (O Q) goldes wert R 12 eˆ er büte im] er bot im dar I (L M Q) vnde bot im dar O E er Im but R E er bvte im dar Z 13 stricte] stræich O · umbe] om. I an O L Q da dy M · tschillier] schinckelier L schallier R 14 wart] om. L 15 von] vor I · vuoze] vu e zen I fleisze Q · uˆ f] om. M 16 Parcival] Parzival G M Parzifal I R Parcifal O Z Wart Parcifal L Partzifal Q 17 doˆ ] Da M Doch Z · iesch] hiesz Q 19 ich] ichn I (L M Z) · nehein] dehain I (O R) kein L (Z) icheyn M dikein Q 20 verboˆ t] Gebot I (O R Z) 21 Ywanet] iuuanet I Jwanet O (L) ywan Q Jwan R 22 er] Der O (M) Q R Z · im] om. Q 23 leˆrt ern] lert in I lerte er in L (M R) 24 Vnd wider in die scheid ziechen R 25 doˆ ] Da M (Z) · im] in I · dar] do R · naˆher] nach I R nahet Q [*hen]: -*- Z 26 Den Rotten castilan R · des] Dest O 28 doˆ er gewaˆpent] do er I Gewaffent er O (L M Q R) Der gewappent Z 29 gert] en gerte M (Q Z) 30 dem] den I · noch] om. Q nach Z *T (U) ez ergeˆ zuo schaden oder zuo vromen, des sol weˆnec von mir komen - - - - - - 4 1 durch iemannes dröuwen oder bete.« 4 2 der vil stolze Ywanete, 4 3 er wunderte sich der rede doˆ 4 4 und wart mit Parcifale vroˆ . 5 sus muos er im volgen. er was im niht erbolgen. zwoˆ liehte hosen ı ˆserı ˆn schuoht er über diu ribbalı ˆn. sunder leder mit zwein borten 10 zweˆne sporn, die daˆ zuo hoˆ rten, spien er im umb diu goldes werc. dar naˆ ch boˆ t er im den halsperc; 12 1 dar in sloufte sich der werde. 12 2 dar naˆch, als er gerde, striht er im umb diu schillier. sunder twaˆl wart harte schier 15 von vuozen uˆ f gewaˆpent wol Parcifal mit gernder dol. doˆ iesch der knappe mære den sı ˆnen kochære. »ich enreiche dir dekein gabiloˆ t. 20 diu rı ˆterschaft dir daz verboˆ t«, sprach Ywanet, der knappe wert. er gurt im umb ein swert. daz leˆrte er in uˆ z ziehen und widerriet im vliehen. 25 doˆ zoˆ ch man im dar naˆher saˆn des roˆ ten rı ˆters kastelaˆn. daz truoc bein hoˆ ch und lanc. gewaˆ pent er in den satel spranc, daz er stegereifes gerte niht, 30 daˆ man noch snellekeite giht. U V W T 3 Initiale T 7 Majuskel T 11 Majuskel T 25 Majuskel 1 T 1 Versfolge 157.2-1 T · ergeˆ] geˆ T 2 weˆnec] vil wenic T 3 Daz dvhte in (om. T) wunderlich (wunderliclich T) gnv o g V (T) 4 ywanete (jweneten T) der waz klv o g V (T) 4 1 Die Verse 157.4 1 -4 4 fehlen T · dröuwen] [dro]: dreuwen U dro v V (W) 4 2 vil] om. W · Ywanete] y˙ wanete V ywanette W 4 3 wunderte] wundert V 4 4 Parcifale] Parzifale U (V) partzifale W 5 sus] ie doch T 7 liehte] liehten V · ı ˆserı ˆn] eisenin W 8 schuoht er] [striht*]: strihter im V schv o hterm T · diu] die T 10 die] om. T · hoˆ rten] gehorten W 11 spien er] Splen er U Er spien T · diu] die von U [*]: die V das W (T) · werc] om. U 12 er boˆ t im daˆr den halsperc T · den] das W 12 1 Die Verse 157.12 1 -12 2 fehlen T 12 2 gerde] begerde V 13 striht er im] er strictim T · diu] deie V die T 14 wart] war U · harte] [*]: do V om. W 15 vuozen] fu o ße W (T) 16 Parcifal] parzifal V Partzifal W 17 iesch] hies V · mære] vire W 18 den] om. T 19 dir] die U · dekein] dehein V T keinen W 20 dir] [*]: dir V om. W · verboˆ t] [*]: verbot V 22 gurt im] gurte im W (T) · swert] scharpfes swert V (T) 25 Versdoppelung 157.25-158.10 ( 2 T) nach 158.10; Fassungstext *T nach 2 T mit Lesarten der vorausgehenden Verse ( 1 T) im Apparat T · man] er 1 T U V W · im] in W · naˆher] [nahen]: naher V 26 roˆ ten] toten 1 T 27 lanc] land W 29 ern gerte stegereffes niht 1 T · stegereifes] stegereife U 30 daˆ] dem 1 T (V) Do U W · noch] ou´ ch W Personen- und Werkregister 301 Personen- und Werkregister Aachen---217, 218, 219 Aaronovitch, Ben---265 Abelard---270 Adam---58, 65, 66, 67, 131, 144, 276 Adamus Scotus---111 Adelard von Bath---255 Adelung, Johann Christoph---17 Aelred von Rievaulx, De institutione inclusarum---68, 69, 74 Agatha, Hlg.---134 Agatha von Catania, Hlg.---115 Agnes von Böhmen, Hlg.---127 Alanus ab Insulis---147 Compendium Anticlaudiani---147 Planctus Naturae---147 Albanus, Hlg. ---117 Alban von Mainz---118 Albert II. Krummendieck---97, 99 Albertus Magnus---92, 255 Albrecht, Der jüngere Titurel---275 Albrecht von Johansdorf---240 Albucasis---177 Alexius, Hlg. ---95, 96 Alhazen---254, 255 Alī ibn al-ʽAbbās al-Maǧūsī---251 Aliscans---215, 216, 217 Alkuin, Johanneskommentar---26, 66 Ambrosius, Hexameron---262 Andreas Capellanus, De amore---91, 258 Antidotarium Nicolai---182 Antiochia---116, 262 Antonius, Hlg. ---96 Antwerpen---97 Aosta---160, 162, 163 Apollonius von Rhodos, Argonautika---89 Aristoteles---254 Arndes, Hans---99, 107 Arndes, Steffen---99, 105, 107, 108, 109 Priester Arnold, Loblied auf den heiligen Geist---59 Arnulf von Löwen, Ad singula membra Christi patientis---74, 75, 76 Ars chirurgica---176 Asterius, Hlg. ---115 Athenagoras---149 Athis und Prophilias---52 Das Auge---91 Augsburg---83, 97 Augsburger Stadtbuch---45, 47, 48 Augustinus, Aurelius---59, 66, 91, 132, 143, 149, 150 De civitate Dei---66, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149 Confessiones---93, 189 Frau Ava Das Jüngste Gericht---55, 140, 142, 148 Leben Jesu---56 Avicenna---231 Avignon---177 Bamberger Arzneibuch---35, 36, 43 Barbara, Hlg. ---12, 112, 115, 116, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138 Bartholomäus---43, 44, 178 Basel---163 Beck, Leonhard---171 Becket, Thomas---115 Bellinzona---167 Benediktbeurer Gebet zum Messopfer---56 Bergmann, Ingmar---266 Berliner Weltgerichtspiel---140, 142 Bern---167, 168 Bernardus de Gordinio---231 Bernhard von Aosta, Hlg. ---162 Bernhard von Clairvaux---68, 71, 74, 79 Hohelied-Predigten---9, 69, 70, 71, 80, 93 Berthold von Holle, Crâne---22 Bibel---10, 12, 18, 19, 20, 24, 26, 31, 32, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 75, 78, 79, 80, 88, 92, 93, 95, 98, 100, 102, 104, 105, 106, 111, 115, 118, 130, 133, 134, 136, 137, 139, 141, 144, 145, 148, 151, 156, 191, 249, 254, 263, 271 302 Personen- und Werkregister Bible moralisée---66 Birgitta von Schweden---11, 98, 100, 101, 102, 103, 104, 106, 108 Openbaringe---100, 102, 103, 104, 105, 106 Revelationes---100, 101, 102, 103, 104, 105, 106 Blasius, Hlg. ---116 Bliocadran---289 Bloomingdale (Ill.)---127 Boehm, Balthasar---120, 121, 122, 124, 125, 126 Boek der Episteln und Evangelien---95 Boek van der medelydinghe Marien---99, 107, 108 Bonaventura---10, 72, 74 Borgognoni, Teodorico---177, 182 Borgognoni, Ugo---177 Botte der gotlichen miltekeit---10, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94 Bozen---155 Brandis, Matthäus---99 Breslau (Wrocław) ---129 Brügge---97 Brüggemann, Dietrich---127 Brüssel---163 Bruni, Leonardo---154, 164, 165, 166, 171 Bruno von Longoburgo---177, 182 Brunschwig, Hieronymus---179 Cirurgia---179 Destillierbücher---179 Burggraf von Regensburg---231, 233 Burggraf von Rietenberg---232 Burgkmair, Hans---171, 172 Buxtehude, Dietrich---75 Cäcilia, Hlg. ---117 Calcidius---256 Canossa---154, 158 Carmina Burana---225, 227 Catania---185 Celsus, Aulus Cornelius---176 Chanson de Roland---217 La Chastelaine de Vergi---273 Chrétien de Troyes---51 Cligès---263 Le mors de l’espaule---262, 263 Perceval---208, 209, 212, 220, 285, 286, 287, 288, 289, 292, 294 Christina, Hlg. ---123 Claudius, Hlg. ---115 Clemens von Alexandrien---127 Commentaria in hierarchiam coelestem---92 Commune sanctorum---124 Constantinus Africanus---13, 243, 244, 251, 252, 253, 255, 256, 257 Liber de oculis---255, 256 Pantegni---176, 251, 252, 255, 256, 257 Viaticum---251, 252, 254, 257, 258 Continuation Gauvain---289 Crüger, Johannes, Praxis pietatis melica---75 Cyprian---127 La dame escoillee---198, 199 Danzig (Gdańsk)---97 David---148, 220, 254, 276 Der deutsche Macer---178 Deutsches salernitanisches Arzneibuch---178 Deutz---114 Deventer---163 Dietmar von Aist---221, 223, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 238, 239 Dietrich II. Arndes---98 Dietrichs Flucht---35, 36 Dionysius, Hlg. ---115, 117, 127, 128 Dionysius Areopagita---118 Dionysius von Paris---118 Dioskurides---188 Dorothea, Hlg. ---119 Le Dran, Henry François---181 Ebner, Christine, Engelthaler Schwesternbuch---55 Ebner, Margareta---84, 86, 88 Eichstätt---74, 120 Eilhart von Oberge, Tristrant---44, 228, 229 Einhard, Vita Caroli Magni---217 Elisabeth, Hlg. ---22 Elsässische Predigten---139, 140, 141, 142 Éluard, Paul---279, 280 Die Erlösung---140, 141, 143, 148 Eutin---97 Eva---65, 66, 67, 131 Personen- und Werkregister 303 Ezechiel---148 Felicitas, Hlg.---113 Felicitas und ihre Söhne, Hlg.---113 Ferrara---121 Filibert, Hlg.---125 Fleck, Konrad, Flore und Blanscheflur---269 Fleming, Paul---17 Foligno---99 Folz, Hans---262 Meister Francke---129 Franziskus, Hlg.---11, 128 Frauenlob (Heinrich von Meißen) ---90, 229, 232, 240 Freidank, Bescheidenheit---140, 143 Friedrich von Hausen---237, 238, 239, 240 Frisch, Max, Der Mensch erscheint im Holozän---295 Frisner, Andreas---123 Frugardi, Roger---176, 177, 179, 180, 183 Galen---188, 231, 251, 252 Gallus, Hlg.---125 Gelasius---126 Genf---163 Georg, Hlg.---126 Gerald of Wales, Itinerarium Cambriae et Descriptio Cambriae---262 Gerhardt, Paul---74, 75, 76 Gertrud von Helfta, Legatus divinae pietatis---10, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93 Gesta abbatum Trudonensium---154, 160, 161, 162 Die gezähmte Widerspenstige---191, 192, 193 Ghotan, Bartholomäus---99, 100, 101, 102, 105, 109 Gilbertus Anglicus, Compendium medicinae---178 Giovanni da Vigo---184 Goar, Hlg.---125 Gottfried von Straßburg, Tristan---33, 44, 51, 91, 213, 225, 226, 273, 275 Gottsched, Johann Christoph---17 Graduale Svecicum---99 von Graefe, Carl Ferdinand---185 Graf Rudolf---50, 55 Grashove, Johann---107 Gregor der Große---105, 111 Hohelied-Kommentar---70 Gregor VII., Papst---158 Gregor von Nyssa---145 Guibert von Nogent---111, 126 Guillaume de Machaut, Le Jugement dou Roy de Behaigne---273, 274 Guy de Chauliac, Chirurgia magna---177, 179, 182 Hadlaub, Johannes---14, 261, 264, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277 Haimo von Auxerre---68, 69, 74 Haly Abbas, Liber regalis---176 Hannibal---153 Hans von Gersdorff, Feldbuch der Wundarznei---178, 179, 181, 182, 183, 184 Der Arme Hartmann, Rede vom Glauben---28, 140, 142, 143, 145 Hartmann von Aue---290 Der arme Heinrich---136 Iwein---51, 52, 229, 230, 232, 269 Hastings---264 Der Heiligen Leben---11, 12, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137 Heine, Heinrich---264 Heinrich IV., röm.-dt. Kaiser---154, 158, 159, 160 Heinrich [VI.], röm.-dt. Kaiser---230, 233 Heinrich der Elsässer, Reinhart Fuchs---28 Heinrich von Freiberg, Tristan---50 Heinrich von Hesler, Apokalypse---140, 141, 143, 144, 145, 146, 149, 150 Heinrich von Klingenberg---269 Heinrich von Melk Priesterleben---21 Von des todes gehugede---29 Heinrich von Mondeville---177 Heinrich von Morungen---13, 14, 90, 223, 240, 241, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259 Heinrich von Neustadt 304 Personen- und Werkregister Apollonius von Tyrland---204 Gottes Zukunft---140, 141, 142, 145, 147, 148, 149, 150 Heinrich von Pfalzpaint, Wundarznei---182, 185 Heinrich von Veldeke, Eneasroman---51, 225, 226, 228, 234, 250 Heliand---18, 19, 32 Heliopolis (Baalbeck)---135 Bruder Hermann, Das Leben der Gräfin Yolanda von Vianden--- 52 Hermann von Fritzlar, Heiligenleben--- 42, 54 Herodes--- 20 Herrand von Wildonie, Die treue Gattin--- 91 Herrnhaag--- 77 Herrnhuter Gesangbuch--- 77, 78, 79, 80 Heymerick, Arnold--- 154, 163, 166, 173 Epistola Ludovici de Confluencia de successu Romani itineris--- 163, 164 Hieronymus--- 141 Hieronymus Lauretus--- 66, 69 Hildegard von Bingen--- 124 Hildesheim---22 Hilduin von Paris---118 Hiob---17 Hippocrates---179, 188 Die Hochzeit---56 Die Höhenflüge der Seele---71, 73, 74 Homer, Ilias---204 Honorius Augustodunensis De imagine mundi---256 Elucidarium---141, 146, 148, 150 Hue de Rotelande, Ipomedon--- 275, 276 Hugo von Langenstein, Martina--- 140, 141, 142, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 150 Hugo von St. Viktor, Didascalion--- 92 Ibn al-Ǧazzār--- 251, 257 Ignatius von Antiochien--- 105 Innsbruck--- 155 Irenäus--- 143 Isaak Israeli---251, 255 Jacobus Bergamensis--- 121 Jacobus von Mailand--- 72 Jacobus de Voragine, Legenda aurea--- 92, 112, 113, 115, 116, 117, 118, 123, 126, 141 Jenaer Martyrologium--- 35, 36, 54 Jerusalem--- 103, 133 Jesus Christus--- 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 32, 33, 35, 36, 39, 42, 44, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 111, 112, 113, 115, 117, 118, 121, 125, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 136, 138, 139, 141, 148, 150, 195, 196, 263 Johannes Baptista, Hlg.---115, 116, 117, 120, 129 Johannes Chrysostomus, Homelia---118, 263, 264 Johannes Evangelista, Hlg.---85, 86, 94, 102, 103, 108 Johannes von Wackerzeele, Legenda beatissimae virginis Barbarae---122 Johannes XXIII., (Gegen-)Papst---154, 164, 166, 167, 173 Johann von Neumarkt---72 Jonas---149 Jordanus von Quedlinburg---105, 122, 123 Joseph---148 Judas Iskariot---92 Le jugement des cons---265, 266 Julianus Apostata, Hlg.---113 Julianus Hospitator, Hlg.---113 Julianus von Le Mans, Hlg.---113 Julian von Brioude, Hlg.---113 Julius II., Papst---184 Kain---25 Karl der Große---48, 217, 218, 219, 220 Karlmeinet---207, 217, 218, 219, 220 Katharina, Hlg.---116, 119, 123, 127, 128, 129, 133 Kaufringer, Heinrich, Die Rache des Ehemannes---190, 266, 267, 270 Kempe, Margery---262 Kiev---127 Kilian, Hlg.---114 Kleve---163 Personen- und Werkregister 305 Koberger, Anton---127, 128 Köln---97, 114, 122, 133, 163 Pfaffe Konrad, Rolandslied---49, 217 Konrad von Würzburg, Herzmære---263, 264 Konstanz---154, 164, 166 Der Kürenberger---230, 231, 235, 236, 237 Kuttenberg (Kutná Hora)---127 Pfaffe Lambrecht, Alexander (Vorauer Alexander)---50 Lampert von Hersfeld, Annales---154, 158, 159, 160, 166 Lanfrank von Mailand---177, 179 Larrey, Dominique Jean---181 Laurentius, Hlg.---114, 115, 127, 134, 137 Lazarus, Hlg.---115 Leben des Hugo von Lincoln---263, 264 Legende der heiligen Trutta---83 Leipzig---85, 176 Leysersche Predigten---57 Lichtenstein, Mitchell---265, 267, 274 Lied von Kumarbi (Das Lied vom Ursprung)---265 Die Lilie---53 Linzer Antichrist---57, 140, 142, 143, 145, 150 Livinus, Hlg.---116 Locatellus, Bonetus---123 Lorscher Arzneibuch---182 Love, Nicholas---150, 151 Lucca---177 Lucia, Hlg.---127 Lucidarius---140, 141, 143, 146, 148, 149, 150 Ludolf von Sachsen, Vita Christi---9, 71 Ludwig der Fromme---217 Ludwig von Koblenz---163 Lübeck---11, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 109 Lüneburg---73, 97 Luidger, Hlg.---125 Luther, Martin---76 Lutolt von Seven---232 Lyon---112, 251 Märterbuch---123 Magdeburg---99, 107 Mailand---129 Mainz---99, 117 Margaretha, Hlg.---116, 119 Margaretha von Antiochien, Hlg.---116 Maria, Hlg.---11, 28, 60, 61, 68, 72, 73, 88, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 112, 115, 124, 125, 133, 195, 250, 256 Maria Magdalena, Hlg.---24, 25, 103, 107, 263 Maria von Burgund---169 Marie de France, Bisclavret---262, 276 Master of the St. Lucy Legend---133 Matthias, Hlg.---92, 115 Maximianus, röm. Kaiser---121 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser---169, 171, 172, 173 Theuerdank---13, 154, 169, 170, 171, 172, 173 Mechthild von Hackeborn, Liber specialis gratiae---82 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit 27, 28, 83, 93, 262 Meffret von Meißen, Hortulus reginae---122, 125, 126 Meinloh von Sevelingen---232, 233 Mentelin, Johannes---31 Meran-Untermais---12 Methodius---149 Millstätter Predigtsammlung---56 Missale Coloniense---114 Missale Lubicense---99 Missale Romanum---112 Montecassino---251 Montpellier---177 München---17 Münchener Weltgerichtspiel---140, 146 Münchener Wundsegen---44 Münster---119 Muleysen---117 Muspilli---140, 150 Napoleon Bonaparte---181 Nazareth (PA)---77 Neon, Hlg.---115 Nibelungenlied---33, 50 Niccoli, Niccolò---164 Nicolaus de Landau---122 306 Personen- und Werkregister Nikolaus von Frankfurt---123 Nikolaus von Jeroschin, Kronike von Pruzinlant---17 Nikomedia (Izmit)---129, 135 Niune---235 Noah---66, 67 Notke, Bernt---97 Nowgorod---97 Nürnberg---11, 12, 83, 97, 115, 122, 123, 127, 129 Katharinenkloster---124 Marienbuch---124 Opitz, Martin---17 Opportuna, Hlg.---125 Origenes---115, 127, 132 Ortolf von Baierland, Arzneibuch---178, 180, 181, 182, 183, 185, 186, 187 Oswald von Wolkenstein---222 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch---19, 20, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 32, 33, 58, 221, 222 Otto von Freising, Weltchronik---153 Ovidius Naso, Publius---234, 244, 249, 250, 256 Amores---264 Ars amatoria---248 Metamorphosen---117, 265 Remedia amoris---248, 254 Paien de Maisières, La mule sanz frain---289, 294 Panthaleon, Hlg.---117 Paré, Ambroise---178, 184 Paris---118, 177, 178 Passional---113, 123 Paulus, Hlg.---92, 117, 118 Paulus von Aegina---231 Perpetua, Hlg.---113 Perugia---99 Peter von Koblenz---163 Petrus, Hlg.---26, 32 Petrus Damiani---84 Petrus von Mailand, Hlg.---117 Petrus de Natalibus, Catalogus sanctorum---112, 113 Physiologus---20, 21 Pirckheimer, Willibald, De bello Suitense sive Eluetico---169 Pius II., Papst---163 Platon---85, 92, 254, 255, 256, 258 Politeia---189 Timaios---255 Plinius der Ältere, Naturalis historia---183, 188 Prag---127, 128, 181 Prager Predigtentwürfe---55 Prisca, Hlg.---116 Prüler Steinbuch---43 Quidam erat miles dives---195 Quintinus, Hlg.---116 Quirinus, Hlg.---116 Rabanus Maurus---111, 126 Rebdorf (Augustinerchorherrenstift)---120, 124 Rede von den 15 Graden---59 Reinmar der Alte---223, 239, 240, 274 Restopolis (Etroubles)---160, 161, 162 Reval (Tallinn)---97 Revocatus, Hlg.---113 Rheinfränkische Marien Himmelfahrt---61 Rheinisches Marienlob---60 Rhetorica ad Herennium---111 Rolle, Richard---72 Rom---118, 127, 154, 160, 163, 266 Roncesvalles---217, 218 Rosenplüt, Hans Der fünfmal getötete Pfarrer---190 Spiegel und Igel---266, 270 Rudolf, Abt von Saint-Trond---154, 160, 161, 162, 163, 164 Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart---30, 31 Ruprecht von Freising, Freisinger Rechtsbuch---46, 47, 48 De sacramentis christianae fidei---92 Saint-Rhémy---160 St. Anselmi Fragen an Maria---107, 108 St. Pauler Predigten---60 St. Trudperter Hohes Lied---59 Personen- und Werkregister 307 Salomon---276 Salomons Haus---58 Samson---276 Satirus, Hlg.---113 Saturninus von Africa, Hlg.---113 Saturninus von Rom, Hlg.---113 Saturninus von Toulouse, Hlg.---113 Saul---254 Savinianus von Troyes---117, 118 Scève, Maurice---281 Schäuffelein, Hans Leonhard---171 Schilling, Diebold---167, 168 Schodoler, Werner---167 Schwabenspiegel---45 Sebaldus, Hlg.---123, 129 Sensenschmidt, Johann---123 Seuse, Heinrich---86, 88 Shakespeare, William, The Taming of the Shrew---191 Sibote, Frauenerziehung---193, 196, 197, 198, 199, 200, 201 Siegfried der Dorfer, Frauentrost---193, 194, 195, 196 Siegmund von Birken---75 Simeon---61, 104 Sir Gowther---261, 262 Snell, Johann---99 Speculum ecclesiae---140, 143 Speygel der leyen---106, 107 Steinbach, Christoph Ernst---17 Stephanus, Hlg.---127 Stephenson, Neal---265 Stimulus amoris---67, 72, 73, 74, 79 Stockholm---99 Straßburg---31, 83, 123 Straßburger Alexander---48 Der Stricker, Die eingemauerte Frau---192, 193, 194, 195, 200, 201 Summa theologiae---65, 66 Tagliacozzi, Gaspare---185 Tatian---19, 32 Tauler, Johannes, Predigten---53, 54, 57, 71, 122 Tertullian---116, 135, 143, 149 Ps.-Tertullian, Adversus Marcionem---67 Thekla, Hlg.---115 Theodosia, Hlg.---116 Theonestus, Hlg.---117 Theonilla, Hlg.---115 Thomas von Aquin---263 Thomas von Kempen, Orationes et meditationes de vita Christi---11 Tours---179 Treitzsaurwein, Marx---171 Tschechow, Anton, Die Dame mit dem Hündchen---273 Ulrich der Johanniter, Hoheliedpredigt---71, 73 Ulrich von Liechtenstein---90, 91 Frauendienst---269, 270, 271, 277 Ulrich von Richental, Chronik des Konstanzer Konzils---154, 166, 167 Ursula, Hlg.---114, 119, 124 Utrecht---163 Vadstena---100 Väterbuch---140, 142 Venedig---123, 127, 176 Verona---164 Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi---71 Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale---123 Vinzenz von Zaragoza, Hlg.---115 Virgils Zauberbild---266, 267 Von dem jungesten tage---140, 143 Vorauer Bücher Moses---26 Vorauer Sündenklage---57 Walther von der Vogelweide---229, 239, 240, 243 Weber, Karl Julius---17 Wenzeslaus I. von Böhmen---127, 128 Priester Wernher, Driu liet von der maget---60 Wernher vom Niederrhein, Die vier schiven---59 Wernher von Teufen---264 Der Wilde Alexander---89, 90 Wilhelm von Conches, Philosophia---255, 256 Wilhelm von St.-Thierry---257 Wilhelm von Saliceto---177 Williram von Ebersberg, Hohelied-Kommentar---57, 68, 69, 74 Wirnt von Grafenberg, Wigalois---29, 30, 275, 289 Wolfram von Eschenbach---288, 289 Parzival---13, 14, 15, 33, 44, 45, 48, 51, 52, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 215, 218, 220, 279, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 296, 297, 298, 299 Titurel---14, 15, 282, 283, 284, 289, 291, 292, 293, 294 Willehalm---13, 33, 207, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 220 Würzburger Polizeisätze---35, 36 Xanten---163 Yperman, Jan---178 von Zinzendorf, Christian Renatus---78 von Zinzendorf und Pottendorf, Nikolaus Ludwig---76, 77, 78, 79, 80 Zobel, Jörg, Die faule Frau---193, 194, 200 Zürich---268, 269, 274, 275, 277, 285 Züricher Arzneibuch---43 Züricher Predigten---59, 140, 143, 148 Handschriftenregister 309 Handschriftenregister Aachen, Domarchiv, G 20---123 Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 146---35 Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 157---124 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1062---35 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Grimm 196---52 Bern, Burgerbibliothek, Mss. h.h. I.3---168 Braunschweig, Stadtbibliothek, Fragm. 36---50 Breslau/ Wrocław, Biblioteka Uniwersytecka, Cod. R 347---57 Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, ms. 7917 120 Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 72---196 Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. A 323---73 Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. M 68---196 Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Ms. B. R. 226 (früher Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Codex Magliabechianus germ. VII 9. 33. Perg.)---50 Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 97---51 Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 876---58, 61 Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 4° Cod. ms. philol. 184: VII---50 Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 269---83 Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Ms. I 81---59, 60 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 113---42 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 357---232 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848 (Codex Manesse)---232, 264, 271, 272, 274 Helsinki, Finnische Nationalbibliothek, Cod. EÖ.II.14---251, 252 Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, FB 1519/ IX---60 Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, FB 32001---196 Jena, Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. Bos. q. 3---35 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 63---50 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 97 (Rappoltsteiner Parzival)---287, 290, 291, 297, 299 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 738 (Lassberger Handschrift oder Codex Lüzelheimeri)---45 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Georgen 63---166 Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6/ 19---56 Köln, Historisches Archiv GB 8 o 3---122 Krakau/ Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. germ. quart. 484---56 Krakau/ Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Berol. Ms. germ. quart. 846---52 Leipzig, Universitätsbibliothek, Cod. 720---57 Leipzig, Universitätsbibliothek, Cod. 827---82, 83 Linz, Landesbibliothek, Hs. 33---57 Lüneburg, Ratsbucherei, Ms. Theol. Quart. 15---122 Luxemburg, Bibliothèque nationale de Luxembourg, Ms. 860---52 Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek, KB Msc. 31 fol.---123 310 Handschriftenregister Montecassino, Klosterbibliothek, Cas. 97---182 München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichsstadt Augsburg, Lit. Nr. 32 (Dauerleihgabe in Augsburg, Stadtarchiv)---45 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6---123 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51---51 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 92---43 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1115---122 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4337---120, 121, 122, 125 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5292---93 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 536---43 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4616---56 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23374---44 München, Stadtarchiv, Zimelie 1---46 München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (= Cim. 4) (‘Würzburger Liederhandschrift’)---35 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 1338---55 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 18065---60 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. IV, 43---123 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. IV, 79---123 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. allemand 243---123 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. français 1450---289 Prag/ Praha, Knihovna pražské metropolitní kapituly [Bibliothek des Metropolitankapitels] (früher Bibliothek des Domkapitels), Nr. 1696/ 6---55 Prag/ Praha, Strahovská knihovna [Bibliothek des Klosters Strahov], Cod. DG IV 17---59 Raudnitz/ Roudnice nad Labem, Lobkowiczká knihovna [Fürstlich Lobkowitz’sche Bibliothek], Ms. VI Fc 29 (früher Prag, Schloss Nelahozeves)---181 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1361---196, 198 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 1263---122 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857---44, 284, 296, 298 St. Paul im Lavanttal, Stiftsbibliothek, Cod. 109/ 3 (olim Ms. 27.5.26)---60 Straßburg, Bibliothèque du Séminaire protestant, C. V. 16. 6 4°(‘Straßburger-Molsheimer Handschrift’) [verbrannt]---48 Straßburg, Bibliothèque de la Ville, ohne Sign. [verbrannt]---49 Thorn/ Toruń, Biblioteka Uniwersytecka, Rps 10/ 1---196 Tongern, Onze-Lieve-Vrouw-Kerk, Cod. 63---123 Tongern, Onze-Lieve-Vrouw-Kerk, Cod. 64---123 Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276---50, 55, 56, 57, 59, 65 Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 287---123 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 233---20 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 370 (Krumauer Bildercodex)---271, 276 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2554---66 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2687---58 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2708---285, 286, 287, 290, 297, 299 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2719---59 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2744---53 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2775---285, 297, 299 Handschriftenregister 311 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885---196 Wien, Osterreichische Nationalbibliothek, Cod. 3044---167 Wiesbaden, Landesbibliothek, Hs. 68---53 Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 58---43, 59 ISBN 978-3-7720-8654-0 ISBN 978-3-7720-8654-0 Wie gehen mittelalterliche literarische Werke und Sachtexte mit körperlicher und mentaler (Un-)Versehrtheit um? Die modernen Begri e „Verletzungen“ und „Unversehrtheit“ erö nen ein emenfeld, dessen lexikalisch-semantische Aufarbeitung im vorliegenden Sammelband erstmalig versucht wird. Darüber hinaus bieten die interdisziplinären Beiträge philologische, theologische und medizinhistorische Ansätze mit Schwerpunkten auf den Bereichen Religion, Krieg und Kampf sowie minne. Es zeigt sich, dass geistliche Werke des Mittelalters eine eigentümliche Mischung von Hinweisen enthalten, die Verletzung etwa im Sinne der physischen Folter der Heiligen bejahen, und solchen, die Unversehrtheit positiv werten. Auch im weltlichen Bereich kann Verwundung einerseits als Auszeichnung, andererseits aber als Schmach gedeutet werden - sowohl in physischer, kriegerischer Auseinandersetzung als auch im seelischen minne-‚Kampf‘. Der Sammelband bietet so ein facettenreiches Bild des mittelalterlichen Umgangs mit der anthropologischen Grundkonstante der Verwundbarkeit des Menschen.