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Affektivität und Mehrsprachigkeit

2019
978-3-7720-5657-4
A. Francke Verlag 
Marion Acker
Anne Fleig
Matthias Lüthjohann

Affektivität und literarische Mehrsprachigkeit sind vielfach miteinander verknüpft, Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Die historisch wirkmächtige und bis heute verbreitete Norm der Einsprachigkeit weist vor allem der Muttersprache eine hohe affektive Bedeutung zu. Ihre sichere ,Beherrschung' gilt vielfach als Voraussetzung für Autorschaft und literarisches Schreiben, ,gebrochenes' Deutsch als Provokation des literarischen Betriebs. Die Infragestellung solcher Normen zeigt daher, wie eng Sprache und Affektivität verbunden sind. Dies gilt nicht nur für die soziale Praxis, sondern auch für die Theorie. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat diese Beziehung lange ignoriert und die Repräsentation von Affekten und Gefühlen in den Mittelpunkt gerückt. Dagegen stellt der Sammelband erstmals zur Diskussion, inwiefern sich gerade mehrsprachige Literatur durch die Darstellung, den Vollzug und die Reflexion sprachlicher Affektivität auszeichnet. Er verbindet die Einsichten und Befunde der Mehrsprachigkeitsphilologie mit unterschiedlichen Forschungsansätzen zur Affektivität des literarischen Textes, die von psychoanalytischen Theorien über das Feld der Erinnerungs- und Gedächtnistheorie bis zu den jüngeren affect studies reichen. Mit Hugo Ball, Paul Celan, Herta Müller, Feridun Zaimoglu, Yoko Tawada, Marica Bodrozic, Katja Petrowskaja und Tomer Gardi sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.

Affektivität und Mehrsprachigkeit Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Mainz) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 1 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert mit freundlicher Unterstützung von: © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8657-1 (Print) ISBN 978-3-7720-5657-4 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0093-5 (ePub) Inhalt Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Affektivität und Mehrsprachigkeit - Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Affekt und Sprachkritik Till Dembeck Eine Kulturpolitik des Affekts? Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada - mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure . . . . . 49 Jürgen Brokoff „Viersprachig verbrüderte Lieder in entzweiter Zeit“. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan . . . . . . . . . 73 Marion Acker Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Claudia Hillebrandt Mehrsprachigkeit hören. Zur Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Rike Schefflers Loop-Gedicht „Honey, I’m Home“ . . . . . . . . . . . . . 103 Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit Robert Walter-Jochum „Kanakster“ vs. „Ethnoprotze“. Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Sandra Vlasta „Was ist ihre Arbeit hier, in Prosa der deutschsprachige Sprach? “ Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Tomer Gardis Roman broken german . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6 Inhalt Monika Schmitz-Emans Schrift-Passionen. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Monika L. Behravesh „Wortebeben“ im Echoraum der Erstsprache. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern . . . . . . . . . 179 Emotion und Erinnerung Esther Kilchmann Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse. Wechselseitige Beziehungen in der Psychoanalyse und in der Prosa von Marica Bodrožić . . . . . . . . . . . . . 199 Annette Bühler-Dietrich Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen: Katja Petrowskajas Vielleicht Esther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Lena Wetenkamp „Gefühlsalphabete“. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Susanne Zepp Geschichte in Sprachen. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Affektivität und Mehrsprachigkeit - Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Affekt und Sprache sind eng miteinander verknüpft; Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Schon die alltägliche Rede vom ‚Sprachgefühl‘ bringt diese Verbindung deutlich zum Ausdruck, lässt aber auch Ambivalenzen und Spannungen anklingen. Das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit ist - so eine der Grundannahmen dieses Bandes - durch Verflechtungen charakterisiert, die sowohl die soziale Praxis als auch die Theorie betreffen. Sie sind gleichzeitig durch eine Spannung bestimmt, die einende und trennende Merkmale aufweist. So scheint das Gefühl für die Sprache, insbesondere das der sogenannten Muttersprache, einerseits selbstverständlich gegeben zu sein, andererseits muss es erlernt werden: Ein Gefühl für eine Sprache zu entwickeln, schließt ein Nähe- und Vertrauensverhältnis ein; es meint, sich in einer Sprache ‚einzurichten‘ oder in ihr ‚anzukommen‘. Wird das Sprachgefühl dagegen irritiert, weil ‚falsche Töne‘ stören oder Distanz hervorrufen, kann gerade dadurch Reflexion angestoßen werden. In jedem Fall bedeutet Mehrsprachigkeit eine Herausforderung für ‚das‘ Sprachgefühl. Stehen Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen in Austausch miteinander, erhält die Rede vom Sprachgefühl noch einmal andere Akzente: sei es als autoritäre Geste, die Anspruch auf Besitz und Deutungshoheit im Namen der ‚eigenen‘ Sprache oder gar der Muttersprache erhebt, sei es als neugieriges Gespür für Nuancen und Bedeutungsschichten, die ansonsten überhört werden. Schon die alltägliche Begriffsverwendung macht daher deutlich, dass das vermeintlich ‚eigene‘ Sprachgefühl so individuell nicht ist, sondern ein weitreichendes soziales Phänomen darstellt. 1 1 Zum Sprachgefühl und seinen verschiedenen Bedeutungsfacetten als Gefühl für Sprache, Gefühl in Sprache und Gefühl durch Sprache siehe die Einleitung von Miriam Langlotz, 8 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Sprachkompetenz und Sprachgefühl bestimmen wesentlich über gesellschaftliche Teilhabe, sie regeln Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu Kultur und Öffentlichkeit, im Fall der Literatur auch den Zugang zum literarischen Feld und die Anerkennung als Autorin oder Autor. Die dem zugrunde liegenden Normen und Standards sind nicht nur selbst affektiv hoch besetzt, sie affizieren - in ästhetischer, politischer und sozialer Hinsicht - auch das Spiel oder den Bruch mit den Regeln, wie unlängst Tomer Gardi in seinem Roman broken german vorgeführt hat. 2 Doch sind Affektivität und Mehrsprachigkeit nicht nur über Fragen der Zugehörigkeit miteinander verbunden. Die in diesem Band versammelten Analysen zeigen anhand der Texte von Rose Ausländer, Hugo Ball, Marica Bodrožić, Paul Celan, Hélène Cixous, Georges-Arthur Goldschmidt, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar, Katja Petrowskaja, Rafik Schami, Rike Scheffler, Yoko Tawada und Tristan Tzara, um nur einige zu nennen, dass literarische Sprache in hohem Maße affektiv geprägt ist und selbst affektive Wirkungen entfaltet. Dies gilt für ihre Beziehung zur jeweiligen Biographie der Autorinnen und Autoren, zur lebensweltlichen Umgebung und ihren kulturellen wie gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch bezogen auf literarische Traditionen, Formen und Öffentlichkeiten. Das Wechselverhältnis von affektivem Gehalt und affektiver Wirkung bestimmt einzelne Worte oder Sätze ebenso wie die Entscheidung für die jeweilige Literatursprache und Reflexionen über die Sprachmischung oder den vollzogenen Sprachwechsel. Mit Affektivität und Mehrsprachigkeit rücken darüber hinaus zwei Forschungsfelder in den Blick, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben, 3 obwohl - oder gerade weil - ihr jeweiliger Gegenstand keineswegs klar konturiert ist. Mehrsprachigkeit, Vielsprachigkeit, Zweisprachigkeit, Multilingualismus, Plurilingualismus, Translingualismsus, Heteroglossie, Exophonie, Code-Switching Nils Lehnert und Susanne Schul. In: Dies. u. a. (Hrsg.): SprachGefühl. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen nur scheinbar altbekannten Begriff. Frankfurt am Main u. a. 2014, S.-9-25. 2 Zu Tomer Gardi vgl. den Beitrag von Sandra Vlasta in diesem Band. 3 Für beide Felder liegen inzwischen gründlich orientierende Handbücher vor. Das Handbuch Literatur und Mehrsprachigkeit bietet einen weitere Forschungen anregenden Überblick über den erreichten Forschungstand und eine systematisierende Bestandsaufnahme der Ergebnisse; das Handbuch Literatur & Emotionen kann als grundlegende Einführung in die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung gelten und liefert einen breiten historischen Überblick. Vgl. Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017; vgl. von Koppenfels, Martin/ Zumbusch, Cornelia (Hrsg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin/ Boston 2016. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 9 - die Begriffsliste der Mehrsprachigkeitsforschung ist lang. 4 Die Vielzahl der Begriffe samt ihrer verschiedenen Bedeutungskomponenten verweist auf große Unterschiede in der mehrsprachigen Produktion von Literatur, ihren Bedingungen und ihren Formen, aber ebenso auf Unterschiede in ihrer Rezeption. Die Uneindeutigkeit ist jedoch weniger ein Ergebnis der (vor allem in der Germanistik noch jungen) Forschung als vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet: Mehrsprachigkeit ist ein schwer zu fassendes Phänomen mit einer langen Geschichte und einer erkenntnistheoretischen Reichweite, die die Bedingungen ihrer Erforschung einbeziehen muss. Insbesondere die Herausbildung der Nationalphilologien hat wesentlich dazu beigetragen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur in der europäischen Moderne an einem begrenzten Sprachraum und an einem einsprachigen Kanon orientiert war. Obwohl sich definitorisch kaum angeben lässt, was ein einsprachiger Text ist, 5 blieb literarische Mehrsprachigkeit in den monolingualen Philologien ein Randphänomen oder gelangte erst gar nicht in den Blick. Auch die Unterscheidung von Affekt, Affekten, Affektivität, Gefühl, Emotion und Emotionalität hat es in sich; die Liste der Begriffe ist zwar nicht ganz so lang, ihre Unterscheidung fällt aber umso schwerer und reicht gleichfalls an die Voraussetzungen ihrer Untersuchung heran. Konsens zumal der deutschsprachigen Forschung ist, dass die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Gefühle eng miteinander verwoben sind. Darüber hinaus wurde nicht nur das Sprachgefühl, sondern insbesondere die Sprache der Gefühle als Sprache des modernen Subjekts wesentlich durch Literatur geprägt. 6 Während der enge Zusammenhang von literarischer Sprache und Gefühl also unbestritten ist, stellt sich das Verhältnis von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität als sehr viel kontroverser dar. So trägt die Verbindung von Sprache und Gefühl um 1800 wesentlich zur Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalfall der Moderne bei, der an die Naturalisierung der ‚Muttersprache‘ gebunden ist. Dieser Normalfall ist selbst affektiv aufgeladen: Die Muttersprache erscheint einerseits als abgeschlossener, vermeintlich natürlicher Ort ‚wahrer‘ 4 Einen ersten Versuch der Systematisierung literarischer Mehrsprachigkeit hat Georg Kremnitz vorgelegt, der aus linguistischer Perspektive textinterne und textübergreifende Mehrsprachigkeit unterscheidet. Vgl. ders.: Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Wien 2004. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal Valentijn Vermeer für seine Überlegungen und Recherchen zum Thema Mehrsprachigkeit und für die gute Zusammenarbeit danken. 5 Vgl. Dembeck, Till/ Parr, Rolf: Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-9-14, hier S.-10. 6 Vgl. dazu ausführlicher Lehmann, Johannes F.: Geschichte der Gefühle. Wissensgeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte. In: Koppenfels/ Zumbusch (Hrsg.), Handbuch Literatur & Emotionen, S.-140-157. 10 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Gefühle, auf der anderen Seite schließt die Einsprachigkeitsnorm Autorinnen und Autoren, deren sogenannte Muttersprache nicht Deutsch ist, aus dem traditionellen Gegenstandsbereich und dem Kanon der Deutschen Philologie aus. 7 Um sprachliche Phänomene historischer, kultureller und sozialer Differenz überhaupt untersuchen zu können, musste die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung die Vorstellung unverstellter Gefühle, von Natürlichkeit und Unmittelbarkeit zunächst zurückweisen. Im Zuge des linguistic turn wurde die Vermitteltheit und diskursive Prägung literarischer Texte betont, die nicht zuletzt die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz in Frage stellt, die in der Norm der Muttersprache stets präsent ist. Im Anschluss daran nahm die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung seit den 1990er Jahren vor allem die Repräsentation von Emotionen und ihre sprachliche Codierung und Inszenierung in den Blick. Gegenüber diesen Ansätzen ist der Begriff der Affektivität - wie ihn die angloamerikanischen affect studies in den letzten Jahren eingeführt haben - anders konturiert: Er zielt in kritischer Absetzung von diskursanalytischen Ansätzen im Zeichen des Kultur-als-Text-Paradigmas auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die „Sinnlichkeit des Sozialen“ 8 . Wahrnehmung und gesellschaftliche Ordnung stehen demnach in einem Wechselverhältnis, das sowohl diskursiv vermittelt als auch an das sinnlich-affektive Erleben rückgebunden ist. Dabei liegt die Betonung auf ‚Wechselverhältnis‘: Erkenntnisleitend ist die Annahme, Sprache und literarische Texte als Ausdruck, Vollzug und Reflexion dieser Sinnlichkeit des Sozialen zu begreifen. Die Unterscheidung von Affekten und Emotionen, die auch in den folgenden Beiträgen keineswegs immer trennscharf und auch nicht einheitlich ist, ist so gesehen weniger eine Frage des Untersuchungsgegenstands als vielmehr der Herangehensweise und der theoretischen Perspektivierung. 7 Vor diesem Hintergrund ist auch die affektive Rahmung mehrsprachiger Literatur bei der Analyse zu reflektieren - und die Einsprachigkeit der Germanistik, die sowohl in der Mehrsprachigkeitsals auch der Affektforschung als Rezeptionssperre wirken kann. Auf die Überwindung solcher Sprachbarrieren als Forschungsdesiderat hat auch Till Dembeck hingewiesen. Vgl. ders.: Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-125-166, hier S.-161f. 8 Damit sind die affect studies Teil einer breiteren Perspektivverschiebung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die diesen Aspekten einen zentralen Platz in der Konzeptualisierung des Sozialen zuerkennen und Emotionen und Gefühle, Materialität und Körperlichkeit zu Gegenständen ihrer Forschung machen. Einen weitreichenden Überblick dazu bieten Hanna Katharina Göbel/ Sophia Prinz (Hrsg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld 2015. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 11 1 Die Perspektive der Mehrsprachigkeit „Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben, aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit […].“ 9 Mit dieser Aussage reflektiert Herta Müller eine Form der Mehrsprachigkeit, die auf den Entstehungskontext bezogen ist, im literarischen Text selbst aber nicht unmittelbar hervortritt. Im Anschluss an die Studie von Guilia Radaelli zum Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann lässt sich hier von einer „latenten“ Form der Mehrsprachigkeit sprechen, die im Gegensatz zu „manifester“ Mehrsprachigkeit dadurch charakterisiert ist, dass „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind“ 10 . Um diese auf den ersten Blick „einsprachige Oberfläche“ 11 untersuchen zu können, hat Radaelli ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung von manifesten sowie latenten Formen von Mehrsprachigkeit entwickelt. Ihr zufolge besteht manifeste Mehrsprachigkeit entweder aus einem Sprachwechsel oder einer Sprachmischung, die unterschiedliche Qualitäten und Markierungen aufweist und auf unterschiedlichen Ebenen (syntaktischer, lexikalischer usw.) wirksam ist, sodass „an der Oberfläche des Textes mehrere Sprachen auftauchen“ 12 . Dagegen sei ein Text latent mehrsprachig, wenn wie im Falle Müllers andere Sprachen zwar ‚mitschreiben‘, diese aber an der Oberfläche nicht wahrnehmbar werden. Eine solche Form der Mehrsprachigkeit meint beispielsweise auch Marica Bodrožić, wenn sie ihre Erstbzw. Muttersprache als ein aus der Tiefe herauftönendes „Unterpfand“ 13 bezeichnet. Weitere latente Formen von Mehrsprachigkeit bilden Verweise auf andere Sprachen, die Eingliederung von einer oder mehreren Sprachen in die Literatursprache 14 sowie Sprachreflexionen. Die jeweilige Bedeutung von manifester oder latenter Mehrsprachig- 9 Müller, Herta: Heimat ist das was gesprochen wird. Blieskastel 2001, S.- 21. Zu diesem Zitat vgl. auch den Beitrag von Jürgen Brokoff in diesem Band. 10 Radaelli, Giulia: Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin 2011, S.-61. Radaelli unterscheidet zwischen dem mehrsprachigen Gesamtwerk eines Autors, der Literatur in zwei oder mehreren Sprachen verfasst hat, und dem „mehrsprachige[n] Einzelwerk“ (ebd., S.-17). 11 Ebd. 12 Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, S.- 61 u. S.- 62f. Zur Bestimmung von Sprachwechsel und Sprachmischung auch in historischer Perspektive vgl. außerdem Dembeck, Till: Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Ders./ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-125-166. 13 Bodrožić, Marica: Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. Frankfurt a. Main 2007, S.- 11. Zu Bodrožić vgl. die Beiträge von Monika L. Behravesh und Esther Kilchmann in diesem Band. 14 Vgl. Blum-Barth, Natalia: Einige Überlegungen zur literarischen Mehrsprachigkeit, ihrer Form und Erforschung - zur Einleitung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6/ 2 (2015), S.-11-16, hier S.-13. Blum-Barth spricht von „Inkorporierung“ (ebd.). 12 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann keit, zu der Radaelli auch das Auftreten von Sprachvarietäten und erfundenen Sprachen zählt, lässt sich jedenfalls nicht von vorneherein bestimmen, sondern ist vielmehr das Ergebnis der konkreten Interpretation, die immer den Entstehungskontext des Textes und den historischen Status der jeweiligen Sprachen einbeziehen muss. 15 Wie die jeweilige Sprachwahl letztlich zustande kommt und welche Folgen sie für den jeweiligen literarischen Text hat, 16 ist zweifellos eine Frage, die auch bezogen auf Affekte und Emotionen von Bedeutung ist und in auffällig vielen Poetik-Vorlesungen zum Gegenstand expliziter Reflexion wird. Die sprachbiographischen Erkundungen, die die mehrsprachige Textproduktion aus Sicht der Autoren und Autorinnen beleuchten, haben sich inzwischen als unentbehrliches, wenn auch nicht unproblematisches Arbeitsmittel der Mehrsprachigkeitsforschung etabliert. 17 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit als soziales Phänomen eine Perspektive erfordert, die textanalytische und autorpoetische Fragestellungen aufeinander bezieht. Gerade in ihren vielfältigen Formen wird der spezifisch affektive Gehalt literarischer Mehrsprachigkeit kenntlich. Ziel dieses Bandes ist es daher, das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit erstmals zu konturieren, bislang disparate Forschungsfelder in produktiven Austausch miteinander zu bringen und neue theoretische Perspektiven zu entwickeln. Philologie der Mehrsprachigkeit Mit dem Begriff der Mehrsprachigkeit ist - über die hier aufgeführte, analytische Unterscheidung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, von Sprachwechsel und Sprachmischung hinaus - vor allem eine grundlegende sprachtheoretische Perspektive aufgerufen. Sie hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt und wird seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unter dem Stichwort einer Philologie der Mehrsprachigkeit verhandelt. 18 Mehrsprachigkeit beschreibt hier nicht mehr einen Sonderfall oder eine spezielle Konstellation, die es gegenüber dem vermeintlichen Normalfall der Ein- 15 Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, S.-70. 16 Vgl. Kremnitz, Mehrsprachigkeit, S.-254. 17 Vgl. dazu den Beitrag von Lena Wetenkamp und das Gespräch mit Terézia Mora in diesem Band. 18 Vgl. grundlegend für diese neuere Philologie der Mehrsprachigkeit Dembeck, Till: Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit. Zur Einführung. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.- 9-38. Einen detaillierten Überblick über die Forschungsperspektiven in diesem Feld bieten die Beiträge in Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 13 sprachigkeit zu erklären gelte. Vielmehr ist im Anschluss an Michail Bachtin, der in gewissem Sinne als Vorläufer der Mehrsprachigkeitsphilologie erscheint, davon auszugehen, dass das „gesellschaftliche Leben des Wortes“ 19 immer mehr als eine Sprache involviert. Ob in der Redevielfalt des Alltags, im vielfältigen Schriftverkehr oder in der Literatur: Mehrsprachigkeit ist der modus operandi des Sprechens und Schreibens und impliziert eine andauernde Bewegung, die sich linguistischen Normen durchaus entzieht und gerade im literarischen Text immer neue Formen ausprägt. 20 Erst vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass es eine, und nur eine Sprache geben soll, als das spezifische sprach- und literaturpolitische Paradigma der europäischen Moderne erkennbar. 21 Im Umkehrschluss stellt die Perspektive der Mehrsprachigkeit damit nicht nur die Abgrenzung einzelner Sprachen in Frage, sie hinterfragt auch die normative Zuschreibung von Gattungs- und Geschlechtergrenzen sowie von Autorschaftskonzepten, die die ‚Beherrschung der Muttersprache‘ zu einer Grundbedingung erklären. 22 Die kritische Auseinandersetzung mit dem nationalen Monolingualismus bildet für die Philologie der Mehrsprachigkeit einen wichtigen Einsatzpunkt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die praktischen und sozialen Aspekte der sprachlichen Kommunikation, denn wie schon Benedict Anderson in seiner Studie zur Entstehung von Nationalstaaten als Imagined Communities gezeigt hat, spielt gerade die Praxis einer geteilten Schrift- und Drucksprache eine herausragende Rolle für die Prozesse des nation building : Die Schriftsprache lässt einen geographisch umrissenen Vorstellungsraum der Gemeinschaft 19 Vgl. Bachtin, Michail: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Übers. v. dems. u. Sabine Reese. Frankfurt a. Main 1979, S.-154-300, hier S.-154. 20 Der literarische Text kann in diesem Zusammenhang selbst als anderes Sprechen, als „Heraustreten aus der Stimme“ verstanden werden. Zur Anderssprachigkeit der Literatur vgl. Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert: Die Unselbstverständlichkeit der Sprache. In: Dies. (Hrsg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007, S.-7-27, hier S.-21. 21 Zu dieser modernetheoretisch folgenreichen Einsicht gibt es mittlerweile eine breite Literatur, vgl. an dieser Stelle nur Bonfiglio, Thomas Paul: Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker. Berlin 2010; Gramling, David: The Invention of Monolingualism. New York 2016. Zur Semantik der Muttersprache vgl. Ahlzweig, Claus: Muttersprache - Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen 1994. 22 Vgl. Fleig, Anne: Shared Feelings in the Writings of Emine Sevgi Özdamar. Moving Between Languages or Analyzing Translingual Literary Texts. In: Antje Kahl (Hrsg.): Analyzing Affective Societies. New York 2019 [im Druck] sowie Acker, Marion/ Fleig, Anne: Die Aufrichtigkeit der Mehrsprachigkeit. Autofiktion, Autonarration oder das Konzept dialogischer Autorschaft bei Yoko Tawada. In: Sonja Arnold u. a. (Hrsg.): Sich selbst erzählen. Autobiographie - Autofiktion - Autorschaft. Kiel 2018, S.-19-36. 14 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann entstehen, der wiederum modellbildend für die moderne Idee der Nation wirkt. 23 Bis in die Gegenwart ist der Nexus von Sprache und Politik in hohem Maße affektiv aufgeladen; über ihn können Gefühle der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft ebenso wie der Nicht-Zugehörigkeit bis hin zum Hass mobilisiert werden. Dass sich auch die Entwicklung der Geisteswissenschaften in diesem Spannungsfeld vollzieht und vollzogen hat, liegt auf der Hand. Gerade die Geschichte der Germanistik zeigt, dass ihre Gegenstände und Traditionen stets im Zeichen der Nationalgeschichte systematisiert und gedeutet wurden, sodass sich in Analogie zu den Sozialwissenschaften von einem ‚methodologischen Nationalismus‘ sprechen lässt. 24 Literaturen jenseits des Imaginären der Nation waren aus dem deutschsprachigen Kanon lange ausgeschlossen, während sich in den englischsprachigen humanities die Verbindung zur Geschichte des nationalen Imaginären durch die Formierung der postcolonial studies schon seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat. 25 Die Ausarbeitung eines differenzierten Verständnisses der Funktion und Bedeutung, die der Institution der Nationalliteratur in diesem Prozess zukommt, kann in diesem Zusammenhang als das Verdienst der noch jungen Mehrsprachigkeitsphilologie gelten. Zu einer maßgeblichen Referenz wurde Yasemin Yildiz’ (englischsprachige) Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur und ihre These einer postmonolingual condition. 26 Yildiz arbeitet darin zunächst heraus, wie sich im poetologischen Diskurs um 1800 eine Konfiguration etabliert, die sie als monolinguales Paradigma beschreibt. Die Vorstellung von einer souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ wird innerhalb dieses Diskurses zur Bedingung literarischer Autorschaft: Gefühle und Emotionen, so hält etwa Herder fest, können in der Dichtung nur von einem Muttersprachler adäquat ausgedrückt werden. 27 Vor dem historischen Hintergrund einer Norm der Einsprachigkeit untersucht Yildiz anhand der Lektüre mehrsprachiger Texte 23 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. Revised Edition. London 2006. 24 Vgl. zum Einsprachigkeitsparadigma der Nationalphilologie den differenzierten Beitrag von Dembeck, Till/ Mein, Georg: Postmonolingual schreiben? Zum Jargon der Philologie. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/ 2 (2012), S.-133-147. 25 Vgl. eine frühe Publikation in dieser Richtung: Gelbin, Cathy S./ Konuk, Kader/ Piesche, Peggy (Hrsg.): AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland. Königstein/ Taunus 1999, sowie in jüngerer Zeit: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart 2017. 26 Vgl. Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012. 27 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung [1967]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. I. Hrsg. v. Ulrich Geier. Frankfurt am Main 1985, S.-367-539. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 15 von Franz Kafka über Yoko Tawada bis hin zu Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu, wie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine postmonolinguale Tradition herausbildet, die Mehrsprachigkeit dezidiert ins Zentrum ihrer jeweiligen Poetik stellt - und damit ‚jenseits der Muttersprache‘ verortet werden kann, auch wenn das Präfix ‚post‘ darauf hinweist, dass die Norm der Einsprachigkeit ihr Bezugspunkt bleibt. Yildiz’ Textauswahl und auch ihre theoretische Fragestellung sind dabei neben der jungen Mehrsprachigkeitsdiskussion in erster Linie eng mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Interkulturalität und Transkulturalität verbunden. Auch die Literatur, die im vorliegenden Band untersucht wird, lässt sich häufig beiden Begriffen zuordnen. Anstatt die Perspektive der Mehrsprachigkeit gegen ältere (und neuere) Bezeichnungen wie die der Migrationsliteratur, der interkulturellen oder der transkulturellen Literatur scharf abzugrenzen, bestehen hier vielmehr grundlegende Gemeinsamkeiten. So hat der Begriff der Migration in der theoretischen Debatte zu einer Infragestellung der Selbstverständlichkeit nationalstaatlicher Zugehörigkeit geführt: Migration in historischer Perspektive als ein grundlegendes Charakteristikum gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne zu begreifen, vollzieht dabei eine ähnliche Denkbewegung wie Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt der Analyse historischer Einsprachigkeit zu nehmen: In beiden Fällen wird die Vorstellung nationaler Homogenität als scheinbar unhintergehbare Norm historisch situiert und relativiert. Auch in der kulturtheoretischen Debatte kann diese Bewegung erkannt werden. Besonders der Begriff der Transkulturalität macht kulturelle Praktiken als immer schon vielfach geteilte, verstrickte und verflochtene verständlich: Erst vor dem Hintergrund dieser kulturellen Hybridisierung werden Phänomene, wie etwa die deutsche Bühnenaussprache oder die britische Standardaussprache, die Perceived Pronunciation , zu spezifischen Konstellationen, deren Entstehung nicht selbstverständlich ist, sondern der historischen Untersuchung bedarf. Wie bereits angedeutet, ist auch für die Philologie der Mehrsprachigkeit eine solche Veränderung der Blickrichtung auf Sprache von zentraler Bedeutung. Anstatt von der Vorstellung einer in sich geschlossenen Sprache auszugehen, die sich erst später und auch nur eventuell mit anderen Sprachen verbindet und so rein additiv in der Summe Mehrsprachigkeit ergäbe, konzeptualisiert sie die soziale Praxis der Sprache notwendigerweise als plural und hybrid. Jenseits von langue und parole: Für eine Pragmatik der Mehrsprachigkeit Besonders eindringlich hat Jacques Derrida die Vorstellung einer einheitlichen Sprache zurückgewiesen und in seinem Essay Le monolingualisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) die These vertreten, dass die Muttersprache niemals 16 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann zum eigenen Besitz werden könne, weil sie immer eine Spur des Anderen, des Fremden in sich trage: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir.“ 28 Derrida verbindet mit der Muttersprache divergierende affektive Qualitäten wie Geborgenheit und Vertrautheit, aber auch Kultiviertheit und guten Geschmack, die die Ambivalenz im Fremdwerden der Muttersprache hervorheben. Dass die Muttersprache gleichsam zur Sprache der Mutter wird, 29 dass sie aus vielfachen Gründen zu einer fremden Sprache wird, kann für literarische Mehrsprachigkeit als charakteristisch gelten. 30 Das individuelle Fremdwerden der Muttersprache aus historischen und politischen Gründen, wie es in den folgenden Beiträgen anhand verschiedener Beispiele analysiert wird, ist jedenfalls systematisch vom nationalen Diskurs über die Muttersprache um 1800 abzugrenzen; ihre jeweiligen affektiven Besetzungen wären noch weiter zu untersuchen. An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass vom Diskurs über Sprache nicht umstandslos auf die soziale Praxis des Sprechens und Schreibens geschlossen werden kann. 31 Umgekehrt gilt, dass einsprachige Praktiken die Konzeption von Mehrsprachigkeit bereichern können, indem sie das der Alltagswelt enthobene System der langue auf zweifache Weise neu perspektivieren. Weder Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit noch Diskurs und alltägliche Redevielfalt stehen einander einfach gegenüber; es kommt vielmehr darauf an, die ‚Anderssprachigkeit‘ (Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer) der Mehrsprachigkeit hervorzuheben, die in der Differenz zur Einsprachigkeit nicht aufgeht, sondern in ihrer Pluralität gedacht werden muss. Vor diesem Hintergrund erscheint es daher auch verfehlt, dem einheitlichen Sprachsystem und seinen Normen die Vorstellung einer anarchischen, regellosen und in jedem Falle subversiven Redevielfalt der Alltagswelt gegenüberzustellen. Damit würde die abstrakte Ebene der langue wieder nur mit der pragmatischen Ebene der parole kontrastiert und letztlich der Monolingualismus befördert: Das erkenntnistheoretische Privileg käme dann immer noch dem 28 Derrida, Jacques: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. Übers. v. Michael Wetzel. München 2003, S.- 11. Dass Derridas Lektüre selbst dabei von einer gewissen „Obsession“ mit der Norm zeugt, hat Rey Chow herausgearbeitet. Vgl. dies.: Derrida’s Legacy of the Monolingual. In: Dies.: Not Like a Native Speaker. On Languaging as a Postcolonial Experience. New York 2014, S.-19-33. Zu Derrida vgl. auch den Beitrag von Susanne Zepp in diesem Band. 29 Vgl. Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer, Die Unselbstverständlichkeit der Sprache, S.-11. 30 Vgl. dazu Heimböckel, Dieter: Einsprachigkeit - Sprachkritik - Mehrsprachigkeit. In: Dembeck/ Mein (Hrsg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, S.-135-156. 31 Davies, Winifred V. u. a. (Hrsg.): Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke. Tübingen 2017. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 17 geschlossenen Systemcharakter der Sprache zu, während Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Norm erschiene, wenn auch als eine Abweichung, die politisch oder ästhetisch prämiert wird. Eine solche Gegenüberstellung trägt zur Verklärung der Mehrsprachigkeit und einem einseitigen ‚Hype um Hybridität‘ bei, während sie soziale Differenzen weitgehend ausblendet. 32 Dass beispielsweise die potentielle Erlernbarkeit einer allgemeinen, verbindlichen Norm eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist und dass sprachliche Standardisierung Gleichheit ermöglichen kann, droht bei der bloßen Gegenüberstellung von Monolingualismus und Mehrsprachigkeit aus dem Blick zu geraten. Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, ist es hilfreich, diejenigen Dimensionen der Sprache zum Ausgangspunkt zu machen, die quer zu Monolingualismus und Mehrsprachigkeit verlaufen. Die Betonung der Pragmatik in der Mehrsprachigkeitsphilologie geht in diese Richtung: Dass Sprache vollzogen wird, notwendig verkörpert und sozial ist, gilt nämlich sowohl für die monolinguale Norm als auch für Mehrsprachigkeit. Als soziale Praktiken können sie auf einer Ebene begriffen werden, ohne dass dabei Machteffekte nivelliert werden: Praktiken der Standardisierung, mit Bachtin: die „zentripetalen Kräfte der Sprache“ 33 , stehen mit mehrsprachigen Praktiken, den „zentrifugalen Kräften“ 34 , in einem spannungsvollen, zuweilen hierarchischen Verhältnis - sprach- und sozialtheoretisch sind sie aber nicht auf zwei völlig verschiedenen Ebenen angesiedelt, wie der Gegensatz von langue und parole suggeriert. 35 Eine ähnlich transversale Perspektive auf Sprache wird auch durch den Begriff der Affektivität befördert. Dass Sprache sinnlich und sozial ist und notwendigerweise auf irgendeine Weise verkörpert wird, kurz: dass sie eine eminent affektive Dimension hat, gilt für ihre mehrsprachige ebenso wie für einsprachige Artikulation. Der folgende Abschnitt ist dieser Dimension und ihrer theoretischen Konzeptualisierung gewidmet. 32 Vgl. hierzu die Intervention von Gramling, David: Zur Mehrsprachigkeitsforschung in der interkulturellen Literaturwissenschaft. Wende, Romanze, Rückkehr? In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7/ 1 (2016), S.-135-150. 33 Bachtin, Das Wort im Roman, S.-164: „Die Kategorie einer einheitlichen Sprache ist der theoretische Ausdruck der historischen Prozesse sprachlicher Vereinheitlichung und Zentralisierung, ein Ausdruck der zentripetalen Kräfte der Sprache. Die einheitliche Sprache ist nicht gegeben, sondern immer ein Projekt und steht in jedem Augenblick des sprachlichen Lebens der tatsächlichen Redevielfalt gegenüber.“ 34 Bachtin konzipiert dieses Verhältnis explizit als ein agonales und verbindendes: Das Wort ist ein „Angriffspunkt“ beider Kräfte und gerade dadurch ist jede „Äußerung zugleich an der ‚Einheitssprache‘ (den zentripetalen Kräften und Tendenzen) und gleichzeitig an der sozialen und historischen Redevielfalt (den zentrifugalen, differenzierenden Kräften) beteiligt“ (Ebd., S.-165f.). 35 Zu Ferdinand de Saussures langue -Konzept vgl. den Beitrag von Till Dembeck in diesem Band. 18 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann 2 Die Perspektive der Affektivität Sprache bringt Gefühle zum Ausdruck und ruft ebensolche hervor. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, denn die „mitunter babylonisch anmutende diskursive Vielfalt“ 36 des historischen Affekt- und Emotionsdenkens stellt die Literaturwissenschaft vor erhebliche Herausforderungen, die die methodische und theoretische Heterogenität ihrer multidisziplinären Forschungsansätze noch verstärkt. Da sich der Emotionsbegriff Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch zufolge gegenüber dem historisch älteren Begriff des Affekts durchgesetzt hat, 37 firmiert das seit den 1990er Jahren (wieder-)erwachte Interesse der Literaturwissenschaft an Gefühlen, ihrer sprachlichen Thematisierung und Präsentation, Produktion und Rezeption, unter dem Schlagwort eines emotional turn . 38 Emotional turn Gegenüber den älteren, autorzentrierten Verfahren der hermeneutischen Einfühlung war es Konsens der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung im Zeichen von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass sich Gefühle stets vermittelt artikulieren und historisch geprägt sind. So ist die Aufwertung des emotiven Gehalts der Literatur durch diskursanalytische Ansätze allererst ermöglicht worden, indem sie einen intersubjektiv nachvollziehbaren Zugang zu literarischen Konstruktionen von Gefühlen und Emotionen eröffnet haben. Gleichzeitig wurden in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung zunehmend empirisch orientierte, psychologische und neurowissenschaftliche Ansätze relevant. 39 Die wirkungsmächtigen Entwicklungen der neuro- und kognitionswissenschaftlichen Forschungen haben nicht nur in einer ganzen 36 Koppenfels, Martin von/ Zumbusch, Cornelia: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Handbuch Literatur & Emotionen, S.-1-38, hier S.-3. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Anz, Thomas: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. literaturkritik.de im Dezember 2006. http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_ id=10267 (08.09.2018). Von einer Wieder entdeckung der Gefühle lässt sich insofern sprechen, als das Nachdenken über emotionale Wirkungsprinzipien bis in die antike Rhetorik und Poetik zurückreicht. „[W]ährend die Hermeneutik und die Einfühlungsästhetik des langen 19. Jahrhunderts selbstverständlich nach emotionalen Gehalten fragten, stellt die jahrzehntelange Ausblendung der Emotionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die eigentliche Anomalie dar.“ Koppenfels/ Zumbusch, Einleitung, S.-17. 39 Der von 2007 bis 2012 geförderte Cluster „Languages of Emotion“ an der Freien Universität Berlin, ein gemeinsames Projekt von Geisteswissenschaftlern, Psychologen und Hirnforschern, kann dafür als beispielhaft gelten. Für einen in drei Phasen gegliederten Überblick in fachgeschichtlicher Perspektive vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S.-10-12. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 19 Reihe von Disziplinen, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der Emotionen beigetragen und eine Infragestellung der Dichotomie von Rationalität und Gefühl unterstützt. 40 Als neue Leitdisziplinen der Emotionsforschung haben sie aber auch von verschiedenen Seiten Widerspruch hervorgerufen. 41 Sigrid Weigel hat sich mit der „Renaissance der Gefühle in den gegenwärtigen Neurowissenschaften“ befasst und dabei aus kulturwissenschaftlicher Sicht bedenkenswerte Einwände formuliert, die insbesondere der Sprach- und Geschichtsvergessenheit der Neurowissenschaften gelten. 42 Die Frage, um was es sich bei der „Entdeckung der Gefühle“ durch die Hirnforschung eigentlich handele, stellt sich ihr geradezu als ein Problem der Mehrsprachigkeit, sprich: „der Termini und ihrer Übersetzungen zwischen verschiedenen Registern (Fachsprachen und Nationalsprachen), als Problem der Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte dessen, was dabei mit dem Wort Gefühl benannt wird, aber auch als Frage nach der Rolle der Sprache für die Gefühle, genauer für die Übersetzung psycho-physischer Vorgänge in kulturell codierte und symbolische Bedeutungen, oder anders gesagt, der Schwelle zwischen soma und sema .“ 43 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist der Rekurs auf neurowissenschaftliche Ansätze auch deshalb problematisch, weil damit zumeist die Vorstellung verknüpft ist, Emotionen seien universale, kulturübergreifende, anthropologische Konstanten. Gerade mit Blick auf die mehrsprachige (Gegenwarts-) Literatur ist jedoch deren soziokulturelle Bedingtheit und historische Variabilität hervorzuheben. Exemplarisch für diese kulturwissenschaftliche Perspektive halten Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter grundlegend fest: „Emotionen sind immer nur über Sprache und andere Formen kultureller 40 Vor allem die Publikationen des amerikanischen Neurologen Antonio R. Damasio haben zur Popularisierung der Hirnforschung beigetragen. 41 Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter zufolge ist „allein der Wechsel der Zuständigkeit bezüglich der Definitionsmacht über die Emotionen […] aufschlussreich: Waren die Leitwissenschaften in der europäischen Geschichte lange Zeit Philosophie, Rhetorik, Theologie und Medizin, sind es heute die Psychologie und allen voran die Neurowissenschaften.“ Hammer-Tugendhat, Daniela/ Lutter, Christina: Emotionen im Kontext. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2010), S.-7-14, hier S.-11. 42 Weigel, Sigrid: Pathos - Passion - Gefühl. Schauplätze affekttheoretischer Verhandlungen in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. In: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, S.- 147- 172, hier S.- 147. Eine ähnliche Warnung vor einer voreiligen Übernahme neurowissenschaftlicher Theorien und Methoden drückt sich auch in Ruth Leys Kritik am affective turn aus. Vgl. Leys, Ruth: The Turn to Affect. A Critique. In: Critical Inquiry 37/ 3 (2011), S.-434-472. 43 Weigel, Pathos - Passion - Gefühl, S.-149. 20 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Repräsentationen ausdrückbar und vermittelbar […], wie sie ihrerseits durch Sprache und Repräsentationen (Codes) geformt werden. […] Emotionen sind immer nur näherungsweise bzw. ‚übersetzt‘ zugänglich und können nicht von ihrer kulturell geformten Vermittlung abgelöst werden.“ 44 Für die germanistische Literaturwissenschaft ist besonders die Studie von Simone Winko hervorzuheben, die Emotionen als einen „ eigenständigen Kode “ begreift, der „zugleich selbst kulturell kodiert ist“ 45 . Winko unterscheidet in ihrer Analyse lyrischer und poetologischer Texte um 1900 zwischen der Thematisierung von Emotionen und der Präsentation von impliziten Emotionen: Mit dem Begriff der Thematisierung werden Propositionen in einem Text bezeichnet, „die sich auf Emotionen beziehen und die meist explizit formuliert, oftmals aber auch nur umschrieben werden“ 46 . Unter Präsentation hingegen versteht Winko die „sprachliche Gestaltung von Emotionen“, also sprachliche Bezugnahmen auf Emotionen, die „keine Propositionen über Emotionen, sondern die Emotionen selbst“ 47 vermitteln. Mit ihrer Ausarbeitung eines systematischen Beschreibungs- und Analyseinstrumentariums hat Winko für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung Ähnliches geleistet wie Radaelli für die Mehrsprachigkeitsforschung. 48 Wie diese kurzen Schlaglichter deutlich machen sollten, hat sich die germanistische und kulturwissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum mit dem Thema Emotionen in den letzten Jahren intensiv befasst. Diese Auseinandersetzung stand - zusätzlich motiviert durch die neurowissenschaftliche Konjunktur des Themas - in einem zeichentheoretischen Rahmen: Sie zielt vornehmlich auf die historische Genese sowie die Vermitteltheit von Emotionen und ihre Kontingenz. 44 Hammer-Tugendhat/ Lutter, Einleitung, S.- 9. In der emotionsgeschichtlich orientierten Mediävistik wurde das Verhältnis von Emotion und deren zeichenhafter (literarischer) Repräsentation und Codierung bereits intensiv debattiert. Vgl. Kasten, Ingrid: Einleitung. In: Dies./ C. Stephan Jaeger (Hrsg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Berlin/ New York 2003, S. XIII-XXVIII. Zur historischen Genese von Gefühlen und ihrer Vermittlung von der europäischen Antike bis ins 20.- Jahrhundert vgl. auch Benthien, Claudia/ Fleig, Anne/ Kasten, Ingrid (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln 2000. 45 Winko, Kodierte Gefühle, S.-109 [Herv. i. Orig.]. 46 Weiter heißt es: „Unter diesen Typ fallen z. B. Aussagen über das Wesen oder die Eigenschaften und Funktionen von Emotionen im Allgemeinen und von einzelnen Emotionen im Besonderen, die Figuren oder die Erzählinstanz eines Textes äußern. Ebenso zählt das Sprechen über ihren angemessenen oder unangemessenen Ausdruck dazu und nicht zuletzt die explizite Zuschreibung von Gefühlszuständen“. Winko, Simone: Über die Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Berlin/ New York 2003, S.-329-348, hier S.-338f. 47 Ebd., S.-339. 48 Nachfolgende Studien wie etwa die Dissertationsschrift von Claudia Hillebrandt haben dieses Instrumentarium noch weiter verfeinert. Vgl. Hillebrandt, Claudia: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel. Berlin 2011. Vgl. auch den Beitrag von Hillebrandt in diesem Band. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 21 Affective turn Der Begriff der Affektivität, wie er im Titel des vorliegenden Bands auftaucht, ist gegenüber dieser Forschungslinie durchaus anders konturiert: Inspiriert von den englischsprachigen affect studies , die in der Germanistik bislang kaum rezipiert wurden, soll mit ihm eine spezifische Perspektive auf Gefühle, Emotionen und Affekte zum Ausdruck gebracht werden, die über den kultursemiotischen Zugang hinausweist. Für die Unterscheidung von Emotions- und Affektforschung heißt das: Nicht der Text- und Zeichencharakter von Emotionen steht im Vordergrund der Analysen, sondern die Affektivität der Zeichen und Texte selbst, die sich in sprachlichen Bildern, im Klang, in der Schrift oder im Satzbau zeigen. In Abgrenzung zum heute geläufigen Begriff von Affekt als „Bezeichnung für starke Regungen“, mit einer „klare[n] Bedeutungstendenz in Richtung des emotional Negativen“ 49 , geht diese Perspektive auf ein grundlegend relationales Verständnis von Affekten und Emotionen zurück. Eingeleitet wurde diese neuere Diskussion des Affektbegriffs durch zwei programmatische Aufsätze aus dem Jahr 1995: Zum einen „Shame in the Cybernetic Fold“ 50 von Eve Kosofsky Sedgwick und Adam Frank sowie zum anderen „The Autonomy of Affect“ 51 von Brian Massumi. Während erstere das Anliegen verfolgen, die Affekttheorie des amerikanischen Psychologen Silvan Tomkins in die humanities einzuführen und sich dabei dezidiert gegen deren habitualisierten Anti-Biologismus richten, greift letzterer auf eine durch Spinoza und Deleuze inspirierte Denktradition zurück, um ‚Affekt‘ von ‚Emotion‘ zu unterscheiden. In Massumis Vorstellung folgen Affekte und Emotionen „different logics and pertain to different orders“ 52 . Massumi begreift den Affekt als präreflexive, vor- oder über-individuelle, nicht-sprachlich strukturierte („not semantically or semiotically ordered“ 53 ) Intensität, die eine gewisse Autonomie besitzt und nie restlos in kulturellen Codes und Bedeutungen aufgehen kann. Emotionen sind Massumi zufolge als „unvollständige[r] Ausdruck eines Affekts“ 54 zu verstehen. Das heißt, Emotionen sind Affekten stets nachgelagert. Die Emotion ist das Ergebnis einer Transformation: Sie ist gewissermaßen der Affekt im Aggregatzustand seiner Bändigung („capture“). 49 Koppenfels/ Zumbusch, Einleitung, S.-3. 50 Sedgwick, Eve Kosofsky/ Frank, Adam: Shame in the Cybernetic Fold. Reading Silvan Tomkins. In: Critical Inquiry 21/ 2 (1995), S.-496-522. 51 Massumi, Brian: The Autonomy of Affect [1995]. In: Ders.: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation. Durham/ London 2002, S.-23-45. 52 Ebd., S.-27. 53 Ebd., S.-24. 54 Massumi, Brian: Bewegungen navigieren. Brian Massumi im Interview mit Mary Zournazi. In: Ders.: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Mit einem Vorwort von Erin Manning. Übers. v. Claudia Weigel, S.-25-68, hier S.-28. 22 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Als ein weiterer Schritt in der Formierung des Feldes kann The Affect Theory Reader gelten, der 2010 von Gregory J. Seigworth und Melissa Gregg herausgegeben wurde und wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser neuen Forschungsrichtung versammelt: Sara Ahmed, Lauren Berlant, Patricia T. Clough, Anna Gibbs, Lawrence Grossberg, Kathleen Stewart, Nigel Thrift - um nur einige zu nennen. Seigworth und Gregg versuchen in ihrer eher essayistischen Einleitung ihr Anliegen zu formulieren. In Form einer Aufzählung rekapitulieren sie die immense Bandbreite des schillernden Affekt-Begriffs und seiner verschiedenen Bestimmungen als „excess, as autonomous, as impersonal, as the ineffable, as the ongoingness of process, as pedagogic-aesthetic, as virtual, as shareable (mimetic), as sticky, as collective, as contingency, as threshold or conversion point, as immanence of potential (futurity), as the open, as a vibrant incoherence that circulates about zones of cliché and convention, as the gathering place of accumulative dispositions“ 55 . Die Liste verdeutlicht, dass sich unter der Bezeichnung affect studies heterogene Konzepte versammeln, die kein kohärentes Gesamtbild erzeugen. Welches „Versprechen“ 56 , um im emphatischen Duktus des Affect Theory Readers zu bleiben, hält der Affekt-Begriff also für die Literaturwissenschaft bereit? Autorinnen wie Sara Ahmed oder Lauren Berlant unterziehen in ihren Studien die Idee des Glücks oder des sogenannten ‚guten Lebens‘ einer kulturwissenschaftlichen Analyse und erhellen ihre Verwobenheit mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und heteronormativen Strukturen. 57 Ann Cvetkovich befasst sich mit Emotionen wie Depression und „feeling bad“ und macht dabei das Politische im vermeintlich Privaten sichtbar. 58 Dem transformativen Potenzial affektiver Dissonanz geht das Konzept der „affektiven Solidarität“ ( affective solidarity ) von Clare Hemmings nach. 59 Das Konzept des belonging thematisiert die emotionale Dimension von Zugehörigkeiten im Kontext von transkultureller Mobilität und globalen Migrationsprozessen. 60 Eine ganze Reihe von Untersuchungen widmet sich der Rolle von Emotionen und Affekten in der Arbeitswelt des gegenwärtigen Kapitalismus: angefangen vom Konzept der affective labour , 55 Gregg, Melissa/ Seigworth, Gregory J.: An Inventory of Shimmers. In: Dies. (Hrsg.): The Affect Theory Reader. Durham/ London 2010, S.-1-25, hier S.-9. 56 Ebd. 57 Ahmed, Sara: The Promise of Happiness. Durham/ London 2010; Berlant, Lauren: Cruel Optimism. Durham/ London 2011. 58 Cvetkovich, Ann: Depression. A Public Feeling. Durham/ London 2012. 59 Hemmings, Clare: Affective Solidarity. Feminist Reflexivity and Political Transformation. In: Feminist Theory 13/ 2 (2012), S.-147-161. 60 Mattes, Dominik/ Kasmani, Omar/ Acker, Marion/ Heyken, Edda: Belonging. In: Jan Slaby/ Christian von Scheve (Hrsg.): Affective Societies - Key concepts. New York 2019, S.-300-309. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 23 wie es Michael Hardt und Antonio Negri entworfen haben, über Melissa Greggs Buch Work’s Intimacy (2011) und die Studie Affektives Kapital (2016) von Otto Penz und Birgit Sauer bis hin zu Rainer Mühlhoffs Dissertationsschrift Immersive Macht (2018). 61 Diese Beispiele illustrieren die gesellschaftskritische Reichweite des Affekt-Begriffs und sie zeigen zudem, dass weite Teile der affect studies aus der feministischen Theoriebildung hervorgegangen sind. 62 Vor dem Hintergrund der poststrukturalistisch dominierten Debatte um die primär diskursive Konstruktion von Geschlecht bietet der Affektbegriff eine neue Perspektive, die die soziale und historische Bedingtheit von Geschlecht (wieder) mit Fragen nach seiner Materialität und Körperlichkeit verbinden kann. Die von Deleuze und Massumi geprägte Unterscheidung von unmittelbarem Affekt und diskursiven Emotionen wird in diesem Kontext daher häufig hinterfragt oder gänzlich zurückgewiesen. So unterscheidet Ahmed etwa bewusst nicht zwischen beiden Begriffen, sondern geht im Anschluss an postkoloniale Theorie und Phänomenologie von einem kontinuierlichen Verhältnis aus. Affekt versteht sie als eine Dynamik, die Körper auf bestimmte Weise orientiert und den historischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen entsprechend ungleich wirksam ist; stets werden „some bodies more than others“ 63 affiziert. Die Schlaglichter auf die neuere Affektforschung verdeutlichen aber auch, dass nur wenige Arbeiten aus dem Bereich der affect studies explizit der Frage sprachlicher bzw. literarischer Affektivität nachgehen. Fokussiert wird vielmehr auf jene Dimensionen des Sozialen, die sich sprachlicher Repräsentation entziehen. Zumindest in ihren Anfängen haben die affect studies Sprache und Affekt als Gegensätze konzeptualisiert und sich damit gegen die dominante Vorstellung der rein diskursiven Konstruktion von Identität und Kultur gewandt. Affekte, so die Behauptung, „do not operate through the structures of language, discourse and meaning“ 64 . Mit ihr ging allerdings eine erhebliche Vereinfachung einher, denn im ‚Jenseits der Sprache’ wurde affect nicht selten zu einem „magi- 61 Hardt, Michael/ Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main/ New York 2002; Gregg, Melissa: Work’s Intimacy. Cambridge 2011; Penz, Otto/ Sauer, Birgit: Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben. Frankfurt am Main/ New York 2016; Mühlhoff, Rainer: Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault. Frankfurt am Main/ New York 2018. 62 Auch die erste, umfassende deutschsprachige Einführung in das Feld der affect studies ist an der Schnittstelle zur Geschlechterforschung situiert. Vgl. Baier, Angelika u. a. (Hrsg.): Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie. Wien 2014. 63 Ahmed führt das besonders in einem neuen Nachwort aus, das eine kritische Reflexion und einen Überblick über die neuere Affektforschung bietet, vgl. dies.: The Cultural Politics of Emotion [2004]. Edinburgh 2014, S.-204-233. Die Formulierung „some bodies more than others“ durchzieht Ahmeds gesamtes Werk. 64 Blackman, Lisa/ Venn, Couze: Affect. In: Body & Society 16/ 1 (2010), S.-7-28, hier S.-11. 24 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann cal term“ 65 , der aus dem ‚postmodernen Zeichenwald‘ herausführen sollte und - maßgeblich an Gilles Deleuze und Félix Guattari anschließend - die Produktivität von Intensitäten und forces of encounter betonte. Sprache läuft demgegenüber immer Gefahr, auf ihre zeichenhaften und semantisch bedeutenden Aspekte reduziert zu werden. Die problematische Annahme einer „Sprachunabhängigkeit der Affekte“ 66 , deren historischer Genese Weigel nachgeht, wird damit von den affect studies teilweise selbst fortgeschrieben. Dies gilt auch für den performativ selbstwidersprüchlichen, rhetorischen Topos der Unsagbarkeit: Affektstudien kommunizieren (angeblich) Nicht-Kommunizierbares, versuchen aber im Medium der Sprache, Nicht-, Vor- oder Außersprachliches zu vermitteln. 67 Affect Studies und germanistische Emotionsforschung: Für ein Denken in Relationen Affekttheoretische Ansätze und germanistische Emotionsforschung scheinen vor diesem Hintergrund zunächst schwer vereinbar zu sein: Ein erster Grund hierfür liegt in der Aufmerksamkeit der affect studies für Phänomene jenseits der Reichweite des linguistic turns. Die Betonung der Materialität und Körperlichkeit von Affektivität ist eine Herausforderung, für die die poststrukturalistisch-semiotisch geprägte Germanistik nicht gut ausgerüstet ist. Ein zweiter Grund resultiert aus der Sprachskepsis seitens der affect studies , deren Entstehung vor dem Hintergrund des Überdrusses an „theories of signification“ 68 zu sehen ist und damit gewissermaßen selbst affektiv motiviert ist. Dass Sprache relational ist, dass sie auch in ihrer Repräsentationsfunktion affektive Bewegungen vollzieht und in Gestalt von Klang und Schrift 69 über eine ihr eigene Materialität und Körperlichkeit verfügt, rückt damit aus dem theoretischen Horizont der Debatte. In diesem Kontext ist auch die Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion in den affect studies zu situieren. Auf der einen Seite wird mit dem Affekt die Dynamik, Intensität und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks gefasst, der sich der Versprachlichung entzieht. Dem ist die Emotion entgegengesetzt, die eine Überführung dieser Intensität in geregelte, normierte diskursive Bahnen bedeutet. Dass eine solche Konzeptualisierung die 65 Grossberg, Lawrence: Affect’s Future. Rediscovering the Virtual in the Actual. In: Seighworth/ Gregg (Hrsg.), Affect Theory Reader, S.-309-338, hier S.-315. 66 Weigel, Pathos - Passion - Gefühl, S.-167. 67 Zu den methodischen Herausforderungen, die damit einhergehen, vgl. Wetherell, Margaret: Affect and Emotion. A New Social Science Understanding. London 2012. 68 Massumi, Autonomy of Affect, S.-27. 69 Zur affektiven Dimension von Schrift vgl. den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 25 Literaturwissenschaft vor methodologische Schwierigkeiten stellt und den Weg zu ihrem sprachlich konstituierten Gegenstand eher verstellt als ebnet, kann kaum verwundern. Es handelt sich um eine wechselseitige Rezeptionssperre, die dazu geführt hat, dass eine größere Auseinandersetzung mit den affect studies in der Germanistik bislang ausgeblieben ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Affektivität und Sprache bzw. Mehrsprachigkeit überhaupt zu stellen, bedeutet vor diesem Hintergrund eine zweifache Herausforderung: Weder soll Affektivität als vor-diskursives Geschehen, als ein, wie kritische Stimmen monieren, „homogenisierte[s] Auffanglager für alles Nicht-Sagbare begriffen werden“ 70 , noch ist es wünschenswert, hinter die Einsichten in die kulturelle und soziale Prägung, Codierung und mediale Vermitteltheit von Emotionen und Gefühlen zurückzufallen. Vielmehr soll zum einen der Impuls aufgenommen und nach der Affektivität und Materialität sprachlicher Vollzüge gefragt werden. In diesem Sinne meint der Begriff der Affektivität eine fundamentale Dimension der Sprache. Damit vollzieht er durchaus eine ähnliche Denkbewegung wie der oben skizzierte Mehrsprachigkeitsbegriff: Affektivität und Mehrsprachigkeit fokussieren nicht so sehr distinkte, isolierbare Affekte oder Sprachen, sondern das relationale und immer schon plurale Sprachgeschehen selbst. Zum anderen gilt es, für die historische Bedingtheit und Strukturiertheit dieser Vollzüge sensibel zu bleiben und das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Geschichte der Gefühle voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund können auch einzelne Affekte und Emotionen wie beispielsweise Hass oder Schmerz als Verdichtungen und Konkretisierungen eines notorisch diffusen Geschehens begriffen werden, die spezifische Formen der mehrsprachigen Artikulation involvieren. 71 Im Sinne einer solchen Verbindung von affect studies und literaturgeschichtlich orientierter Emotionsforschung soll abschließend ein gemeinsamer Grundzug herausgestellt werden, der weitere Theorie- und Forschungsperspektiven eröffnen könnte: das Denken in Relationen, d. h. das Denken von dynamischen Wechselverhältnissen. Ihm zufolge werden Materialitäten und Zeichen durch ihre vielfachen Beziehungen allererst hervorgebracht, statt ihnen vorauszugehen. So steht die Relationalität der Zeichen im Zentrum der diskurswissenschaftlichen Methode; ihr anti-essentialistischer Impetus erlaubt es, Gefühle und Emotionen jenseits der Einfühlungshermeneutik auf einer überindividuellen Ebene zu untersuchen. Auch die affect studies verorten Emotionen und Affekte nicht 70 Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/ Berlin 2007, S.-17. 71 Vgl. dazu die Beiträge von Robert Walter-Jochum und Annette Bühler-Dietrich in diesem Band. 26 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann im Inneren eines Individuums. Sie begreifen Emotionen und Affekte weder als Zuständlichkeit oder Befindlichkeit noch als Besitz oder Eigenschaft eines Subjekts, sondern als ein Geschehen, das sich in sozialen Räumen zwischen „Körpern jeglicher Art“ 72 abspielt und sie mithervorbringt. Damit verlagert sich der Akzent von der Betonung der zeichentheoretischen Differenz zur Betonung von materiell-körperlichen Wechsel- und Wirkverhältnissen. Sprache ist davon nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: Im „gesellschaftlichen Leben des Wortes“, so lässt sich im Anschluss an Bachtins Überlegungen zur Redevielfalt und gegen die sprachskeptischen Teile der affect studies argumentieren, affizieren Wörter einander gegenseitig und bilden dabei Obertöne und Resonanzen. In diesem relationalen Kräftefeld gewinnen sie ihre Bedeutung und Kontur. Die Rede ebenso wie das einzelne Wort steht damit immer in einer Pluralität von Beziehungen; auch das einzelne Wort ist konstitutiv mehrstimmig. Wie im Abschnitt zur Mehrsprachigkeit bereits angedeutet, präfiguriert Bachtin damit einen Perspektivwechsel, der für die Philologie der Mehrsprachigkeit zentral ist: Mehrsprachigkeit und Mehrstimmigkeit werden nicht als Abweichung, sondern die einsprachige Norm als eine historisch besonders wirkmächtige Konfiguration begriffen; allerdings eine, die neben und im Widerstreit mit anderen steht und damit selbst Teil einer pluralen Sprachwirklichkeit ist. Im Lichte der affect studies lässt sich Bachtin als ein Theoretiker der affektiven Relationalität der Literatur neu lesen. Jenseits des Stichworts der Intertextualität rückt die agonale Beziehungsdynamik der Sprache, die seiner Theorie zugrunde liegt, in den Fokus - und damit auch die klangliche und sinnlich-materielle Dimension literarischer Sprache. Bachtin kann sich in diesem Sinne als ein Schlüssel unter anderen erweisen, um die vielfältigen Formen und Ausgestaltungen des Verhältnisses von Affektivität und Mehrsprachigkeit zu untersuchen. 3 Zu den Beiträgen Die Beiträge des Bandes nähern sich diesem Verhältnis aus unterschiedlichen Perspektiven, die ihnen zugrundeliegenden Texte umfassen verschiedene Genres, die von Lyrik über poetologische Essays und Sprachbiographien bis hin zu Romanen und Romanexperimenten reichen. Die Wahl der Gattung bedingt maßgeblich die jeweilige Gestaltung von literarischer Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Es haben sich drei Schwerpunkte herauskristallisiert, die mit den skizzierten theoretischen Fragen korrespondieren, und die dem Band seine 72 Slaby, Jan/ Mühlhoff, Rainer/ Wüschner, Philipp: Affektive Relationalität. Umrisse eines philosophischen Forschungsprogramms. In: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen / Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge. Bielefeld 2016, S.-69-108, hier S.-85 [Herv. i. Orig.]. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 27 Struktur geben: Affekt und Sprachkritik, Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit sowie der Zusammenhang von Emotion und Erinnerung. Den Auftakt bildet ein am 2. November 2017 geführtes Gespräch mit der Autorin und Büchner-Preisträgerin Terézia Mora, das sich auf Grundlage ihrer Salzburger Poetik-Vorlesung Der geheime Text (2016) und ihrem Roman Das Ungeheuer (2013) mit der Rolle der Mehrsprachigkeit für ihr eigenes Schreiben und dem Schreiben ihrer Protagonistin Flora auseinandersetzt. Wie der Strich in Das Ungeheuer deutlich markiert, führt ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit keineswegs zu mehr Verständnis; außerdem macht er sichtbar, dass mehrsprachiges Schreiben an gesellschaftliche Hierarchien gebunden ist. Die Beiträge der ersten Sektion beschäftigen sich mit der Frage, wie und auf welche Weise mehrsprachige Literatur selbst Sprache verhandelt. Sprachreflexion und Sprachkritik können nicht nur generell als prominente Merkmale moderner Literatur gelten, sie spielen insbesondere in mehrsprachigen Texten eine zentrale Rolle. Ob und wie sprachkritische Verfahren dabei von mehrsprachigen Verfahren abzugrenzen sind oder ob mehrsprachige Literatur per se sprachreflexiv oder gar sprachkritisch verfährt, wird in diesem Abschnitt diskutiert. Mit Blick auf die Einsprachigkeitsnorm und die Muttersprachensemantik im Diskurs moderner Autorschaft geht es darüber hinaus um die Frage, ob es spezifische Sprachpolitiken der Mehrsprachigkeit gibt und wie diese gegenüber dem affektiv hochbesetzten Monolingualismus positioniert sind. Diese nicht zuletzt politische Dimension literarischer Arbeit an der Sprache analysiert Till Dembeck am Beispiel des Zürcher Dada. In historischer Perspektive stellt er die künstlerische Auseinandersetzung mit der Muttersprachensemantik in den Gedichten von Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara sowie Hugo Ball in Beziehung zu den epochemachenden linguistischen Theoremen Ferdinand de Saussures. Dembeck arbeitet minutiös heraus, dass zwischen den Sprachpolitiken der Dadaisten ebenso zu unterscheiden ist wie zwischen Saussures originalen Überlegungen und der späteren, monolingual ausgerichteten langue -Linguistik. Er weist damit nicht nur auf unbekannte und unerwartete Berührungspunkte zwischen diesen beiden wirkmächtigen Sprachexperimenten hin, sondern zeigt auch, was eine Kulturpolitik des Affekts auszeichnen könnte. Anhand lyrischer Texte der sogenannten Bukowiner Literatur untersucht Jürgen Brokoff die Bedeutung historisch-politischer und kultureller Konstellationen für eine Poetik der Mehrsprachigkeit. Im Zentrum seines Beitrags stehen Gedichte von Paul Celan und Rose Ausländer, deren affektive Dimensionen angesichts der Erfahrung der Shoah im Spannungsfeld von Verständigung und Entzweiung, Zweisprachigkeit und Einmaligkeit der Dichtung verortet werden. Mit vergleichenden Seitenblicken auf den Sprachkritiker Fritz Mauthner, den 28 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann Lyriker Oskar Pastior und die Autorin Herta Müller zeigt Brokoff, dass Überlagerungen, Konkurrenzen und Verflechtungen mehrerer Sprachen ein ebenso konflikthaftes wie produktives Potential zu entfalten vermögen. Die Ambivalenzen der Mehrsprachigkeit im Werk Herta Müllers arbeitet Marion Acker heraus. Die Sprachkritik und das fundamentale Misstrauen gegenüber der Repräsentationsfunktion der Sprache, das sich in Müllers Texten artikuliert, verbindet sie mit den Ansätzen der affect studies . Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Müller spezifische autofiktionale Versatzstücke, Szenen und dicht beschriebene zeit-räumliche Arrangements textübergreifend ihr gesamtes Werk charakterisieren, untersucht Ackers Beitrag die affektive Wirkung dieser sich wiederholenden Re-Präsentation und die Rolle, die sie in Müllers literarischer Verhandlung von Zugehörigkeit und insbesondere Nicht-Zugehörigkeit spielt. Demgegenüber setzt Claudia Hillebrandt mit ihrer emotionswissenschaftlichen Analyse eines Loop-Gedichts Rike Schefflers, dessen Performance die elektronische Bearbeitung der Stimme involviert, einen anderen Akzent: Zwischen Sprache und Emotionen analytisch zu trennen, sei für die emotionswissenschaftliche Erforschung von Literatur unerlässlich. Entsprechend schlüsselt Hillebrandt Schefflers Gedicht in ihrer Interpretation exemplarisch nach verschiedenen Verfahren der literarischen Präsentation von Emotionen auf. Damit formuliert sie nicht nur wichtige Rückfragen an die Mehrsprachigkeitsphilologie, sondern schlägt auch ein differenziertes Modell für die emotionswissenschaftliche Untersuchung von Lyrik vor. Wenn gerade anhand literarischer Mehrsprachigkeit besonders deutlich wird, dass Affekt und Sprache nicht voneinander getrennt werden können, dass sie sich vielmehr auf komplexe Weise bedingen und ineinandergreifen, wie die Beiträge der ersten Sektion unter Beweis stellen, hat das wichtige Implikationen für die Theoretisierung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Ob sich die literarische Artikulation von Zugehörigkeit dabei über kulturelle Schreibpraktiken oder Schriftbildtraditionen, in der literarischen Gestaltung urbaner Räume oder in der Verwendung einer um Drastik bemühten Sprache ausdrückt - die literarische Artikulation von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit vollzieht sich notwendigerweise in der Verbindung von Affekt und Sprache. Den auf diese Dynamiken der Zugehörigkeit bezogenen, zweiten Themenschwerpunkt unseres Bandes eröffnet Robert Walter-Jochum. Sein Beitrag analysiert eine markante affektive Form des Sprechens, nämlich die Hassrede. In Feridun Zaimoglus frühen Texten erkennt Walter-Jochum nicht nur eine produktive Form der Aneignung von fremdenfeindlichem und rassistischem hate speech , sondern auch eine Form der Subjektbildung, für die der Affekt des Hasses geradezu konstitutiv ist. Indem er Zaimoglus Texte in den Kontext der Debatten um den Begriff der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ rückt, leistet er Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 29 auch einen theoretischen Beitrag zur sozialen Dimension der Affektivität der Literatur. Sandra Vlasta untersucht in ihrem Beitrag über Tomer Gardis Roman broken german , der jüngsten Publikation, die in diesem Band behandelt wird, eine Form der literarischen Mehrsprachigkeit, die in ihrem bereits titelgebenden Bruch mit dem Standarddeutsch einige Ähnlichkeiten zu Zaimoglus frühen Texten aufweist. Vlasta zeigt, wie die auf mehreren Ebenen thematisierte Mehrsprachigkeit in Gardis Text emotionale Verbindungen schafft. Sie arbeitet damit einen Aspekt des Romans heraus, der Zaimoglus’ Sprachexperimenten durchaus entgegensteht: Denn bei Gardi werden urbane Nicht-Orte, wie Call Shops oder Internetcafés, in ihrer Mehrsprachigkeit zu Orten empathischer Begegnung. Im Unterschied zu individualistischen Ansätzen der Emotionsforschung hält Vlasta fest, dass broken german damit die Möglichkeit eröffnet, Gefühle der Zugehörigkeit über kulturelle und sprachliche Differenzen hinweg zu teilen. Am Beispiel von Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami und Yoko Tawada geht Monika Schmitz-Emans der Frage nach dem Zusammenhang von Affektivität und (Fremd-)Schriftlichkeit nach und rückt somit eine spezifische Dimension von Sprache in den Blick, der mehrsprachige Literatur auffällig viel Aufmerksamkeit widmet: ihre sinnliche Materialität. Diese kann - wie schon die Doppeldeutigkeit des titelgebenden Terminus der „Schrift-Passionen“ hervorhebt - sowohl innerfiktional als auch hinsichtlich ihrer rezeptionsästhetischen Wirkung widersprüchliche, zwischen Faszination, Irritation oder auch Aversion changierende Gefühle hervorrufen. Schmitz-Emans führt verschiedene direkte und indirekte „Formen des literarischen Kalküls mit fremder Schrift“ vor Augen und erörtert deren affektiv-emotionale Potenziale im Zusammenhang mit dem Leit-/ Leid-Thema der Texte, Liebe und Passion. Als „eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache“ bezeichnet die Autorin Marica Bodrožić ihren Essay „Sterne erben, Sterbe färben. Meine Ankunft in Wörtern“, welcher im Zentrum von Monika Behraveshs Beitrag steht. In ihrer Textanalyse kann sie, hierin an Schmitz-Emans anschließend, die Verortung affektiver Wirkungspotenziale in der Materialität von Sprache nachweisen. Einen wichtigen Aspekt bildet dabei die Verschränkung von autobiographischer Rückschau und poetologischer Reflexion in Bodrožićs Auseinandersetzung mit ihrem Erwerb der deutschen Sprache. In diesem Zusammenhang gelingt es Behravesh, linguistische Ansätze wie das Konzept der linguaculture oder den Begriff des Spracherlebens, insbesondere die ihm inhärente affektiv-emotionale Komponente, für die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit produktiv zu machen. Mit Bodrožićs Prosa befasst sich auch der Beitrag von Esther Kilchmann, nun jedoch in einer anderen, den dritten Themenkomplex eröffnenden Blickrichtung. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von Mehrsprachigkeit 30 Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann und Sprachwechsel im Kontext von Erinnerungsprozessen, die zunächst unter theoretischem Gesichtspunkt erörtert wird. Der Beitrag zeichnet erstmalig die Geschichte dieser Frage in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts nach. Auf dieser Grundlage analysiert er die mehrsprachige Erinnerungspoetik im Werk von Bodrožić und zeigt dabei auf, dass Sprachwechsel einerseits als Medium der Verdrängung fungiert, andererseits aber auch therapeutische Funktion besitzt, die zugleich zum produktiven Antrieb des Schreibens wird. Annette Bühler-Dietrich beschäftigt sich ebenfalls mit psychoanalytischen Ansätzen; der theoretische Ertrag ihres Beitrags resultiert aus der gewinnbringenden Verknüpfung von Affektkonzeptionen unterschiedlicher Provenienz. An den Affektbegriffen der Psychoanalyse und der an Spinoza und Deleuze/ Guattari anschließenden Traditionslinie der affect studies interessiert Bühler- Dietrich weniger ihr spezifisches Spannungsverhältnis, vielmehr stellt sie über den Schmerz als tertium comparationis ihr verbindendes Element heraus. Am Beispiel von Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) analysiert sie den engen Zusammenhang von Sprache, Affekt und Erinnerung. Mehrsprachigkeit deutet sie als einen Weg, Verlustschmerz zu artikulieren und zu balancieren. Der Beitrag von Lena Wetenkamp schließlich untersucht den polyphonen Raum der Mehrsprachigkeit bei Ilma Rakusa. Entlang der Sprachbiographie der Autorin analysiert Wetenkamp den Zusammenhang von Sprach-, Affekt- und Erinnerungsräumen. Gleichzeitig reflektiert sie den literaturwissenschaftlichen Umgang mit poetologischen, an der Schnittstelle von Autobiographie, Sprachreflexion und Produktionsästhetik angesiedelten Texten, die sie als eine von verschiedenen möglichen Formen der Diskursivierung von Mehrsprachigkeit begreift. Während Wetenkamps Beitrag die Subjektivität affektiver Besetzungen verdeutlicht, fokussiert Susanne Zepp auch die überindividuelle Dimension autobiographischer Geschichtserfahrung. Am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous geht sie der These nach, dass das Nachdenken über die Wahl der Sprache zum Modus der jeweiligen sprachlichen Reflexion von historischer Erfahrung wird. Beiden Beiträgen ist ein zentraler Befund gemeinsam: Die Affektivität von Sprache kann sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren, sie reicht bis in das einzelne Wort in all seine Schichten hinein. Spricht Rakusa von „aufgeladenen Teilchen“, die mit Erinnerungen und Assoziationen verknüpft sind, so stellt die Reflexion des einzelnen Wortes als „Trägermaterial von Affekten“ den zentralen Berührungspunkt zwischen Hélène Cixous und George-Arthur Goldschmidt essayistischen Texten dar. Insgesamt verdeutlicht Zepps Beitrag eine Annahme, die für den gesamten Band leitend ist: nämlich die der Relationalität von Affektivität, „die im Kontext von Sprache und Geschichte wirksam wird“. Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive 31 Danksagung Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die vom 2.-bis 4.-November-2017 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat und vom Teilprojekt „Geteilte Gefühle. Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ des Sonderforschungsbereichs 1171 Affective Societies veranstaltet wurde. Wir möchten uns bei allen herzlich bedanken, die uns eine Diskussion unserer Arbeit und diesen Band ermöglicht haben: An erster Stelle danken wir den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Bereitschaft, sich auf die hier umrissenen Herausforderungen so engagiert eingelassen zu haben. Dem Sonderforschungsbereich gilt unser doppelter Dank: Zum einen für die organisatorische Hilfe, zum anderen für den intensiven interdisziplinären Austausch, dem wir viele theoretische Impulse verdanken. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sei für die Ermöglichung unserer Forschungsarbeit sowie die Finanzierung der Tagung und Publikation gedankt. Dem Francke-Verlag und insbesondere Tillmann Bub danken wir für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Dass wir mit diesem Band die neue Reihe „Literarische Mehrsprachigkeit“ eröffnen dürfen, ist uns eine besondere Freude. Unser Dank gilt daher auch Till Dembeck und Rolf Parr als Initiatoren und Herausgebern dieser Reihe. Schließlich möchten wir uns bei Larissa Hesse für ihre Hilfe und Sorgfalt beim Redigieren der Beiträge bedanken. „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig In ihrer Poetik-Vorlesung Der geheime Text (2016) reflektiert die zweisprachig aufgewachsene Autorin Terézia Mora ihren Weg von einer Sprache in die andere. 1 Dieser Weg bildet nicht nur die Grundlage ihrer Autorschaft, sondern hat auch sichtbare und unsichtbare Spuren in ihren Texten hinterlassen. Anhand dieser Spuren verfolgt Der geheime Text verschiedene Formen und Funktionen der literarischen Mehrsprachigkeit, die Verfahren der Intertextualität und der Übersetzung einschließen. Das gegenwärtige Interesse der Literaturwissenschaften am Thema der Mehrsprachigkeit hat die Autorin in ihrer an der Universität Salzburg gehaltenen Vorlesung explizit begrüßt, da es die Möglichkeit biete, mit anderen Sprachen auch andere Geschichten in den hegemonialen Diskurs einzuspeisen und unbekannte Sätze ‚weiterzuverteilen‘. 2 In Moras Roman Das Ungeheuer (2013) ist es Flora, die in ihren tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, ihrem ‚geheimen Text‘, die Sprache wechselt und Sätze weiterverteilt. Dabei wird deutlich, inwiefern verschiedene Sprachen Erinnerungen und Gefühle, aber auch literarische Formen prägen. Dass ‚teilen‘ immer auch ‚trennen‘ bedeutet, wird im Text durch den horizontalen Strich kenntlich, der jede Seite durchzieht. Er markiert die sichtbaren und unsichtbaren Spuren von Mehrsprachigkeit, die nicht nur Darius Kopp als Leser von Floras Dateien, sondern auch die Leser und Leserinnen von Moras Roman vor erhebliche Herausforderungen stellen. Zur Eröffnung der Tagung haben wir diskutiert, welche Rolle der Sprachwechsel für das Schreiben von Terézia Mora spielt, worin der ‚geheime Text‘ besteht und wer oder was das ‚Ungeheuer‘ ist? Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem Gespräch, das am 2. November 2017 an der Freien Universität Berlin stattfand. 1 Vgl. Mora, Terézia: Der geheime Text. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung. Wien 2016. 2 Vgl. ebd., S.-8, Anm. 3. 34 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig Anne Fleig: In ihrer Salzburger Poetik-Vorlesung sagen Sie: Schreiben beginnt mit der Beobachtung der Sprache. Ich denke, diese Beobachtung setzt einen bestimmten Abstand voraus. Wie hängt dieser Abstand mit Ihrer Zweisprachigkeit zusammen? Inwiefern entsteht daraus der ‚geheime Text‘? Terézia Mora: Ich mache das nicht rituell: Ich bin Autorin und jetzt beobachte ich mal meine Sprache. Es ist vielmehr immer schon mein Hobby gewesen, auch, als ich noch keine Schriftstellerin war. Insofern entwickeln Sie dann eine gewisse Routine, bevor Sie anfangen zu schreiben. Welche Rolle spielt die Zweisprachigkeit beim Schreiben? Die Anwesenheit einer zweiten Sprache war insbesondere bei meinem ersten Buch Seltsame Materie (1999) für mich sehr spürbar. Das sind Erzählungen in einem einsprachig deutschsprachigen Buch, die ihren Ursprung aber in Ungarn haben, sie nähren sich aus Material, das ich aus Ungarn mitgebracht habe, und entweder deswegen, oder weil es mein erstes Buch war, haben sich beim Schreiben immer ungarische Wörter aufgedrängt. Und da musste ich zum Beispiel wahnsinnig aufmerksam sein, was ich da mache und das ist mir auch nicht überall gelungen, muss ich sagen. Manchmal habe ich auch danebengegriffen. Ich musste mich für ein deutsches Wort entscheiden und heute würde ich mich für ein anderes entscheiden. Aber beim zweiten Buch war das bereits, wie ich finde, überwunden, da konnte ich schon mehr so machen, wie ich es wollte. Aber das ist eher eine Frage der Erfahrung als Autorin - oder würden Sie sagen, das ist eine Frage des Sprachwechsels oder der zwei Sprachen? Ich würde durchaus sagen, das hat etwas mit der Erfahrung als Autorin zu tun. Bevor ich mein erstes Buch schrieb, habe ich schon ein wenig deutsche Literatur auf Deutsch gelesen, aber mitgebracht hatte ich hauptsächlich Literatur, die entweder Ungarisch im Original oder ins Ungarische übersetzt war. Ich kann mich deutlich an Momente des Sprachwechsels erinnern. Ganz einfaches Beispiel: Den „Panther“ von Rilke habe ich zuerst auf Ungarisch übersetzt gelesen, und ich fand das ganz toll. Und dann habe ich das Original kennengelernt und das Interessanteste war, dass das Original jede Übersetzung, so schön sie auch war, sofort weggefegt hat. Und seitdem weiß ich nicht mehr, wie es auf Ungarisch war, ich weiß nur noch das Original. Zwischen meinem ersten und dem zweiten Buch habe ich bewusst vieles, was ich vorher in der Übersetzung kannte, im deutschen Original nachgelesen oder ich habe deutsche Übersetzungen von durch mich hoch geschätzter internationaler Literatur, z. B. den Ulysses gelesen, um zu wissen, wie sich Literatur „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 35 auf Deutsch überhaupt liest. Offenbar war ich der Meinung, dass das notwendig war, bevor ich selbst weiter deutschsprachige Literatur schrieb. In Wahrheit ist das natürlich überhaupt nicht notwendig. Aber ich fühlte mich so besser vorbereitet. Ich fand Ihre Formulierung mit dem Sehen, dass Sie gesagt haben, „man beobachtet die Sprache“, auch deswegen interessant, weil Sehen dabei auf spezifische Weise eine Rolle spielt. Es gibt von Herta Müller eine berühmte Formulierung, dass in jeder Sprache andere Augen sitzen. Und ich dachte … Interessant, dass es Augen sind und nicht Ohren, ja. Genau darauf zielt meine Frage. Das ist spontan jetzt schwierig - „andere Augen“ … nicht unbedingt, ich würde eher auf die Ohren gehen … Herta Müller hat damit ja zum Ausdruck bringen wollen, dass man durch jede Sprache seine Umwelt mit anderen Augen wahrnimmt. Und vom Sehen ist sie zurückgegangen auf Augen und schon haben wir ein außergewöhnliches Bild. Das ist etwas, was Zweisprachige häufig machen! Du untersuchst das einzelne Verb, gehst dann zurück auf das Hauptwort, vergleichst es wieder mit anderen Sprachen und dann sagst du, ah interessant. Aber ich bin tatsächlich bei Ihnen auf das Hören gekommen, denn Sie bringen immer wieder Lyrik als Beispiel. Auch jetzt in dieser Situation haben Sie als Beispiel Rilkes „Panther“ gewählt. Würden Sie mir nicht zustimmen, dass Sie immer wieder auf Lyrik zu sprechen kommen? Es ist so, wenn man in Ungarn zur Schule gegangen ist, zumindest bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, denn nur darüber kann ich mich verbindlich äußern, hat man gelernt, dass die Lyrik alles ist. Man lernt wahnsinnig viele Gedichte von ‚unseren Dichtern‘ in ungarischen Schulen, das ist ganz wichtig. Und sie werden tatsächlich damit sozialisiert, weniger mit Prosa. Die Prosa, die wir zu meiner Zeit in der Schule lesen mussten, war unglaublich öde. Historische Romane. Und nicht aus literarischen, sondern aus historischen Gründen. Solange ich in die Schule ging, haben wir es nicht bis zur Gegenwartsliteratur geschafft, also zu den spannenden Sachen. Dabei ist in den siebziger Jahren mit der ungarischen Prosa etwas Phänomenales passiert. Man nennt das auch das Péter-Paradigma, weil recht viele Autoren Péter mit Vornamen hießen: Péter Esterházy, Péter Nádas, Péter Lengyel, Péter Hajnóczy. Die ganzen Péters, 36 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig und noch andere, die nicht Péter hießen, haben da was Tolles gemacht, was es bis dahin nicht gab. Ich musste mir es dann selber erlesen, in der Schule gab es dazu keinen Zugang. Deswegen ist es wahrscheinlich auch so, dass ich, wenn ich beim Schreiben auf eine Schicht zugreife, was ganz spontan passiert, ich meist bei den länger und tiefer verankerten Dingen lande, also bei der Lyrik. Die später verinnerlichte Prosa liegt darüber, auf einer neueren, einer bewussteren, weniger spontanen Ebene. Ich hatte für mich die Lyrik mit dem Hören und dem Klang verbunden. Und da stellt sich natürlich die Frage: Inwiefern geht es Ihnen um diesen Klang, diese Materialität der Sprache? Ich muss sagen, die Prosa, die ich mag, ist auch sehr rhythmisch. Einen Esterházy-Satz können sie gar nicht monoton vor sich hinsagen, weil der ganze Satz sehr musikalisch ist. Eine Frage, die uns sehr beschäftigt, und die auch mit Klang und Materialität zu tun hat, ist, inwiefern Sprache das Vermögen hat, Dinge oder Welt fremd zu machen? Das hat auch mit Affekten zu tun und Empfindung. Was heißt es für Sie, eine Sprache zu spüren? Wichtig ist vor allem: welche Art von Literatur spricht mich an. Ich würde das tatsächlich als sinnliches Erlebnis beschreiben. Es ist so, dass ich auf Sachen, die ich gut oder schlecht finde, körperlich reagiere. Es kann buchstäblich passieren, dass man einen Text zum Kotzen findet. Das ist kein Zufall, uns allen geht das so. Ich kann mich erinnern, wie ich einmal versucht habe, einen Text auf Ungarisch zu machen. Mein allererster literarischer Text war eine Erzählung mit dem Titel Durst , ich war 26 Jahre alt, und er war auf Deutsch. Wenn man mehrsprachig ist, taucht ja immer wieder die Frage nach diesem Moment auf, wo man sich entschieden hat, in einer der beiden Sprachen zu schreiben. Und abgesehen davon, dass ich in Deutschland lebte, und dass es widersinnig gewesen wäre, für einen deutschen Literaturwettbewerb auf Ungarisch zu schreiben, stellt sich die Frage: Was passiert mit dem Material, wenn du anfängst auf Deutsch zu schreiben und hättest du es auch auf Ungarisch machen können? 15 Jahre später habe ich die Probe aufs Exempel gemacht und versucht, Durst auf Ungarisch zu schreiben, es wenigstens anzufangen. Wobei das natürlich keine gute experimentelle Situation war, denn 15 Jahre später ist man ja nicht mehr an demselben Punkt. Man kann also nicht mehr herausfinden, was wirklich passiert wäre, hätte man es damals auf Ungarisch geschrieben. Tatsache ist, dass es jetzt, später, überhaupt nicht ging. Schon beim zweiten Satz auf Ungarisch hatte ich das Gefühl, ganz unsicher „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 37 zu sein, obwohl ich mittlerweile schon einige Erfahrungen als Autorin gesammelt hatte. Während ich damals, als blutige Anfängerin, mit dem Deutschen ein ganz anderes, ganz sicheres Gefühl hatte. Da dachte ich schon nach dem ersten Satz, „Großvater trinkt“, ja, das ist es, von hier aus sehe ich die ganze Erzählung vor mir. Während das Ungarische ebenso deutlich nirgendwo hinführte. Wenn Sie jetzt am Schreibtisch sitzen oder wo immer Sie auch schreiben, klingt dann noch die ungarische Sprache im deutschen Schreiben mit? Durchaus an manchen Stellen, also dort, wo das Deutsche sehr dünn wird. Was heißt das? Wo mein Deutsch dünn wird, kommt das Ungarische herein. Mitunter tut sich beim Schreiben eine Lücke im Satz auf, weil mir nur das ungarische Wort einfällt. Warum ist das eine Lücke? Weil an dieser Stelle das Deutsche fadenscheinig ist oder das Ungarische sehr stark ist. Warum ist es stark, kommt dann die Frage. Warum kommt an dieser Stelle das ungarische Wort herein? Überprüfe: Inwiefern unterscheidet es sich von dem nächstmöglichen deutschen Wort? Kannst du das dann nehmen, ja oder nein? Du musst natürlich ein deutsches Wort nehmen, aber welches nimmst du? Das Ungarische ist im Grunde genommen eine Störung, aber auch eine Hilfe, denn offensichtlich befindest du dich im Satz an einem Punkt, wo für dich eine Frage entsteht. Du kannst sie nicht spontan beantworten, du musst darüber nachdenken. Also mache ich das. Das Ungarische ist auch jedes Mal präsent, wenn es inhaltlich evoziert wird, wenn zum Beispiel die Figur Ungarin ist oder die Behauptung aufgestellt wird, sie würde auf Ungarisch scheiben. Mein Roman Das Ungeheuer enthält beispielsweise zwei Texte: Einmal den Text eines trauernden Ehemannes, der Deutscher ist, und einmal die nachgelassenen Aufzeichnungen seiner verstorbenen ungarischen Ehefrau Flora, die diese Aufzeichnungen auf Ungarisch verfasst hat. Wir wissen nicht genau, weshalb, aber wir können es uns denken: Weil das ihre geheime Sprache ist. Für mich als Autorin stellte sich daraufhin die Frage: In welcher Sprache schreibst du jetzt Floras Texte? Es wird am Ende zwar ein deutschsprachiges Buch sein, aber es wäre schlau, die Texte zuerst auf Ungarisch zu schreiben. Das ist ein sehr spannender Moment, weil ich ein paar Monate vorher die Erfahrung gemacht habe, dass ich immer noch nicht auf Ungarisch schreiben kann. Das hat mich dann dazu veranlasst, einen halben Roman auf Ungarisch zu schreiben. Ich wusste, dass Das Ungeheuer schwierig werden würde, aber ich wollte, dass sich die beiden Texte radikal voneinander unterscheiden. Floras Text sollte tatsächlich etwas komplett anderes sein und dazu habe ich meine nicht 38 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig mehr so gut beherrschte Muttersprache benutzt. Es kostete mich Blut, Schweiß und Tränen. Häufig fing ich an, auf Ungarisch zu schreiben, merkte jedoch: Das ist nicht Ungarisch, du übersetzt gerade! Ich habe das Schreiben in solchen Momenten dann immer radikal unterbrochen. Es war furchtbar! Schließlich habe ich mich aber mit Floras Text durchgequält und das hat tatsächlich dazu geführt, dass der Text weniger literarisch wurde oder besser gesagt, dass der Text privater und inoffizieller wirkt. Als ich damit fertig war, kam die nächste Herausforderung: Der Text sollte einsprachig deutsch sein und das heißt, dass der ungarische Text ins Deutsche gebracht werden musste, darauf achtend, dass ich ihn nicht verbessere. Das war ein wahnsinnig spannender Prozess. Das Ungeheuer ist das Buch, in dem ich das Ungarische ganz bewusst und ganz massiv eingesetzt habe, um einen speziellen deutschen Text zu erhalten. Sie haben jetzt schon viel von Ihrem Verfahren erklärt, das auf Zweisprachigkeit beruht. Wie verhält sich das zur Frage des Originals, die wir vorhin am Beispiel Rilke diskutiert haben? Und inwiefern ist die Frage des Originals an Einsprachigkeit gebunden? Ich schätze, für Sie als Germanistin ist die Frage wichtig, was das Original ist. Ich als Autorin kann sagen: Ich bestimme jetzt einfach mal, was das Original ist, nämlich das einsprachige Buch, das hier erschienen ist, und das Ungarische ist das, was als Hilfstext benötigt worden ist, um das Original zu erstellen. Die Frage wird dann nochmal kompliziert, wenn man bedenkt, dass es eine ungarische Übersetzung von diesem Buch gibt. Ich sagte dem ungarischen Verlag und der Übersetzerin, ich möchte, dass sie das deutsche Original nimmt und ins Ungarische übersetzt. Das heißt, es hätte dann sozusagen zwei ungarische Versionen gegeben. Das hat man aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Erstens sicherlich aus Geldgründen. Und zweitens wollte sich die Übersetzerin vermutlich nicht in die Lage bringen lassen, in der ihre ungarische Version mit meiner hätte verglichen werden können. Deswegen ist die ungarische Ausgabe jetzt so, dass oben die Version der Übersetzerin ist und unten meine ursprüngliche. Ich weiß nicht, wie das wirkt, ich schaue mir das nicht an. Obwohl ich die Gründe des Verlags und der Übersetzerin verstehe, bin ich mit dieser Lösung nicht sehr glücklich. In der ungarischen Ausgabe steht jetzt das Ungarisch zweier Personen. Mich interessiert diese Frage auch, weil die ungarischen Dateien auf Ihrer Homepage zu lesen sind und wir den Flora-Text in „Das Ungeheuer“ in Dateien haben. Ihr Ehemann trauert um sie und setzt sich mit ihrem Nachlass, das heißt ihren Tagebuchdateien auf einem Laptop, auseinander. Und was heißt das für uns? Halten wir das Original in den Händen oder gehören dazu auch die Dateien auf der Homepage? „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 39 Ich habe die Form der Datei deswegen gewählt, weil es sehr fragmentarisch sein sollte. Und wenn es im Text heißt, das steht in der Datei so und so, dann unterbricht es erstens den Lesefluss noch einmal, und zweitens hat der Ehemann keine andere Möglichkeit als die Reihenfolge danach festzulegen, wann die Datei zuletzt geändert wurde. Deshalb ist das garantiert nicht die Reihenfolge, in der sie ursprünglich geschrieben worden sind. Außerdem gibt es eine ganz lange Datei, in der Flora Träume gesammelt hat, die über mehrere Jahre gehen. Das heißt, unter dem Strich ist die Chronologie ganz anders, weil natürlich auf einem Rechner einzelne Dateien ganz anders liegen, als wenn ein langer Text als eine Datei da liegt. Wobei man da auch sagen muss, dass auch Darius Kopps Text bei mir in einer Datei steht und auch dort ist Seite-318 eventuell älter als Seite-1. Sie wissen ja nicht, wie das zeitlich entstanden ist, aber es präsentiert sich Ihnen als Einheit, während Floras Text, noch dazu durch die auf Ungarisch belassenen Überschriften, erstens immer wieder unterbrochen wird und zweitens nochmal unterbrochen wird, weil die Aufschrift unverständlich ist. Das ist ein ungarisches Wort und entweder Sie verstehen es oder auch nicht. Ich glaube, theoretisch ist der ungarische Hilfstext schon Teil des Originals, in etwa so, wie die Apokryphen Teil der Bibel sind. [Lesung aus Das Ungeheuer ] Wir haben vor der Veranstaltung darüber gesprochen, dass der Text zweigeteilt ist. Sie haben gleich gesagt, dass Sie den Darius lesen wollen, aber jetzt auch nochmal vor dem Hintergrund der zwei Sprachen: Was trägt der Teil unter dem Strich? Ich verweise hier noch einmal auf den Begriff Apokryphen. Das, was unter dem Strich steht, ist Floras Version, und zwar nur über ihr eigenes Leben. Vielleicht haben das auch schon einige von uns miterlebt. Der Partner hat ein Tagebuch und erwähnt einen darin nicht. Das kommt relativ häufig vor. So auch hier. In ihrem Tagebuch geht es ausschließlich um sie selbst, um ihre Vergangenheit, ihre Mutter, ihre Großmutter, ihr Leben noch vor Darius Kopp, als alleinstehende Ausländerin im Kulturbereich, und alles, was da passiert, ist relativ furchtbar. Wobei es ziemlich alltäglich ist. So leben wir. In einem Jammertal. Der eine reagiert so darauf, der andere so. Flora so, dass sie zunehmend depressiv wird. Sie versucht Sinnvolles zu tun, in diesem Fall, Übersetzungen zu machen, aber sie bringt nichts zu Ende und schließlich scheitert sie auch, was den Rest ihres Lebens und ihre Krankheit anbelangt. Es geht irgendwann fast nur noch um die Krankheit, die gegen Ende mit dem Verlust der Sprache einhergeht, sie redet immer, immer weniger, und je weniger Sprache da ist, umso weniger Leben ist da, bis am Ende alles zerfällt und nichts mehr da ist. Was unten passiert, ist also, 40 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig dass jemand dem Tod entgegengeht, der Vernichtung, der Nicht-Existenz, und das sieht man daran - so zumindest meine Intention -, dass die Sprache immer gebrochener, zerbrochener wird. Und Darius oben sortiert sich immer mehr, seine Sprache ist nicht so schwankend, die ist relativ gleichbleibend, das passt eher zu seiner Figur. Er ist ganz anders gestrickt. Ich fand es interessant beim Zuhören, dass das Stück, was Sie vorgelesen haben, mit dem Bild des Fadens endet. Der Lebensfaden verlangt einen konsistenten Text, das ist auch der Erzählfaden, und das ist das, was reißt oder was lange zu reißen droht und dann auch gerissen ist. Meine Frage zielt darauf, inwiefern die Vorstellung eines linearen Erzählens im Text unter dem Strich unterbrochen ist. Natürlich. Nicht nur das Dateiformat, worüber wir schon gesprochen haben, sondern auch weil es ganz unterschiedliche Texte sind. Ich habe mich tatsächlich dazu entschlossen, das so fragmentarisch zu machen, aber ich dachte mir: insbesondere bei so einem Text muss es eine minimale Entwicklung doch geben, es ist eh schon schwierig genug zu lesen. Deswegen gibt es auch in diesen Fragmenten, auch trotz der zeitlichen Intransparenz (siehe oben: wann ist welche Datei entstanden) einen nachvollziehbaren zeitlichen Ablauf. Am Anfang der Aufzeichnungen war Flora um die 20, am Ende, als sie gestorben ist, ist sie 30+. Das heißt, die Figur verändert sich ein bisschen und die Krankheit schreitet fort, und das gibt dann eine kleine Bewegung in den Texten, die ansonsten viel um sich selbst kreisen. Bei Lesungen lese ich deswegen immer nur Darius Kopp, weil es bei ihr schwierig ist, einen Bogen vorzulesen. Bei ihm passiert A und dann B und bei ihr passiert nicht wirklich was. Ein bisschen was passiert, aber es sind immer nur so punktuelle Sachen, die Bögen sind viel länger, man kann im Laufe einer Lesung nicht wirklich weiterkommen. Ich habe mich gefragt, was eigentlich das Ungeheuer ist. Das Ungeheuer steht für die voranschreitende Depression der Protagonistin Flora. Aber könnte man auch sagen, dass der Strich das Ungeheuer ist? Dieser Strich, der anzeigt, dass Flora keinen Platz im Haupttext des Lebens hat? Ich habe mehrere Vermutungen oder Gedanken dazu, was das Ungeheuer ist. Die möchte ich aber nicht sagen, denn das wäre ja blöd. (Publikum lacht.) Die Interpretation mit dem Strich würden Sie aber nicht von sich weisen, oder? „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 41 Nein, das würde ich nicht von mir weisen. Hauptsächlich kommt das Ungeheuer aber aus einem Gedicht von Ágnes Nemes Nagy, einer großartigen, bereits verstorbenen ungarischen Dichterin. Das ist ein ganz gruseliges Gedicht, und natürlich ist das Ungeheuer zum einen die Krankheit, die Flora abtrennt von der Welt der Gesunden, aber auch ihr Status und ihr Nicht-Klarkommen. Durchaus ist das Ungeheuer etwas, das in Flora wohnt und das Flora umbringt. Aber ich weise auch in Zusammenhang mit der me too -Debatte darauf hin - Achtung, Spoiler! -, dass auch oben etwas ist, dass auch Darius Kopp vielleicht nicht ganz un-ungeheuerlich ist. Durchaus könnte auch er das Ungeheuer sein. Natürlich ist er das nicht von Anfang bis Ende und immer. Aber hauptsächlich ist das Ungeheuer, von dem hier die Rede ist, das von Ágnes Nemes Nagy, wovon bisher niemand etwas weiß, aber ich habe es Ihnen jetzt erzählt. Ich habe mal die Wortbedeutung von ‚Ungeheuer‘ nachgeschlagen und dabei herausgefunden, dass das, was nicht geheuer ist, auch das ist, was nicht zum Hauswesen gehört, also kein Zuhause hat. Oh! Tatsächlich! Das erinnert mich an ‚das Unheimliche‘. Genau! Aber das Wort ‚geheuer‘ ist heute nicht mehr üblich. Ja, das erkennen wir nicht so gut wie das ‚Heim‘ im ‚Unheimlichen‘. Danke, jetzt weiß ich es und ich kann es beim nächsten Mal einsetzen. Ja, das heißt nicht-beheimatet sein und keinen Ort haben. Auch dieser Ort unter dem Strich ist ja eben kein Ort oder vielleicht auch ein heimlicher Ort und heimlicher Text. Oh, sehen Sie, wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich den Text auch „Der heimliche Text“ nennen können. Jetzt ist es „Der geheime Text“. [Lesung aus Das Ungeheuer ] Kann hier jemand Ungarisch? (Nein aus dem Publikum.) Schade. Sonst hätte ich Ihnen noch das Grusel-Gedicht auf Ungarisch vorgelesen. Dazu muss man folgendes sagen, apropos der ‚geheime Text‘: Als ich in Salzburg war, dachte ich, das ist ja Österreich, das ist quasi nebenan und es werden bestimmt ungarische Studenten da sein. Ich hielt meinen ersten Vortrag mit zahlreichen ungarischen Einsprengseln und sie fielen in diesen Raum hinein, fielen vor meine Füße und verendeten, denn niemand in dem Raum konnte Ungarisch. 42 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig Und da ist es mir klargeworden, wie müssen meine einsprachigen deutschen Texte mit geheimen Zitaten auf den einsprachigen deutschen Leser wirken? Nämlich genau so: dass das nicht klingt. Ich weiß jetzt tatsächlich nicht, was Sie lesen, wenn Sie das lesen, weil ich es selbst ganz anders lese. Aber ich kann natürlich die Fremdheit wahrnehmen und kann darüber auch Betrachtungen anstellen. Natürlich, das können Sie schon … Es ist schon mühsam, vor allem durch die Unterteilung. Es ist eine Herausforderung, diesen Text zu lesen, nicht nur weil er unendlich traurig ist an vielen Stellen, sondern weil er wirklich im praktischen Sinne schwer zu lesen ist. Das würde ich schon sagen, aber weniger wegen des Ungarischen als tatsächlich dieser ganz ungewohnten Trennung. Aber ich hoffe, Sie haben die Seite dann nicht so gelesen: immer von oben nach unten. Nein, nein. Was sehr auffällig ist bei der Flora, der wirklich nichts geschenkt wird und die sich auch viele schwere Gedanken dazu macht, dass Sie hier gleichzeitig das erste Mal eine weibliche Figur stark machen, die all diese Lasten tragen muss. Sie haben ja, als Sie anfingen zu schreiben, gesagt, komisch, irgendwie schreibe ich immer Männer, und jetzt ist da diese Flora und schreibt auch noch selbst. Und dann muss sie das alles tragen. Ich weiß nicht, ob sie das stark macht. Ich meine, ich nehme eine weibliche Person und zerstöre sie. Im Übrigen habe ich mit weiblichen Figuren angefangen, aber es waren Kinder, und das ist was vollkommen anderes als eine erwachsene weibliche Figur zu haben. Sie hat durchaus ihre Stärke, indem sie es schafft, präsent zu sein. Auch mit Verweigerung kann jemand natürlich sehr präsent sein. Ich fühle mich ein wenig schlecht, dass ich jemanden zerstöre, aber es muss jemand zerstört werden. Sie hat sich dafür besser angeboten als er. Außerdem ist es eine Trilogie und Darius muss demzufolge alle drei Teile überleben oder zumindest die ersten zwei. Ich vermute auch, dass es mit ihm eigentlich nicht gut ausgehen kann, aber das ist nur eine Spekulation. Da wir aber jetzt über die Frage sowohl der Mehrsprachigkeit als auch der Mehrstimmigkeit, die sich durch diese Aufteilung ergibt, gesprochen haben, würde ich die Frage nach dem Geschlecht der Figur auch nochmal vor „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 43 diesem Hintergrund anbringen wollen. Weil sie ja eine schweigende Figur ist und schreibt dieses Tagebuch. Tief in ihrem Inneren, glaube ich, wäre sie gerne Schriftstellerin. Sie haben gesagt, sie arbeitet oder versucht als Übersetzerin zu arbeiten, aber man kann es an einigen Stellen durchaus so verstehen, dass sie selber schreibt. Und sie liest auch interessanterweise Literatur von anderen Autorinnen. Ja klar, sie ist eine Leserin, das muss man sagen. Sie liest sehr viel, sie liest aber eben auch forciert andere Schriftstellerinnen, das ist ja nicht selbstverständlich. Auch die Lyrikerin, die sie genannt haben, ist dafür ein Beispiel, es gibt andere. Haben Sie schon mal überlegt, was das bedeutet, dass Flora durch die Tagebuchform auf die autobiographische Schiene fällt? Was wiederum auch ein Klischee…. … ach so, ob das sozusagen die weibliche Form ist, ob die Biographie, das Tagebuch, ob das den Frauen so zugeschriebene Formen sind? Meine Herangehensweise ist beim Schreiben eine viel zu pragmatische, als dass ich Angst vor Klischees haben könnte. Oder mir diese erlauben könnte. Ich habe mir gesagt: wir brauchen hier die hinterlassenen Texte einer toten Figur, was haben wir da für Möglichkeiten? Dann entschied ich mich für diese Möglichkeit, das heißt diese Dateien, die manchmal tagebuchartig sind und manchmal nicht. Ich mache mir in dem Moment keine Gedanken darum, ob das gut zu einer Frau passt. Die Figur war nun einmal weiblich. Natürlich hätte es auch die Möglichkeit gegeben, das fällt mir jetzt erst ein, Floras geheimen Roman zu schreiben. Dann hätten wir zwei Romane in einem. Der hätte immer noch fragmentiert sein können. Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Vielleicht bin ich feministisch nicht gut genug geschult dafür. Oder, wer weiß. Man kann darüber unmöglich eine sinnvolle Aussage treffen. Sie hätte auch einen Roman schreiben können? Sicher, aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir uns damit abfinden, dass eine andere Frau, nämlich ich, einen Roman geschrieben hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Verfahrensweise wäre, eine weibliche Figur um Gottes Willen nichts machen zu lassen, was man gemeinhin dem Weiblichen zuordnet. Das würde die Figur und das ganze Erzählen, das würde die Autorin unnötig einschränken, und das wollen wir doch nicht? Ich denke, sowohl Männer als auch Frauen schreiben Tagebücher. Sind es nicht sogar Tagebücher von Männern, die wir als literarische Tagebücher rezipieren? 44 „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig Ja, aber vor dem Hintergrund der Frage, ob Frauen überhaupt Kunst produzieren, vor diesem Hintergrund ist es tendenziell zuerst das autobiographische Schreiben, das ihnen zugebilligt wird. Ich glaube, das ist seit einer Weile nicht mehr so. Tatsächlich hieß es lange, Frauen sind Lyrikerinnen in Ungarn. Ágnes Nemes Nagy wurde vorgeworfen, sie würde zu wenig weiblich schreiben, sie würde über ihr Frausein nicht schreiben, alles Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Prosa-Autorinnen, die es heute in Ungarn gibt, sind heftig und so krass, das ist unglaublich. An die ich jetzt denke, die kennt man hier natürlich alle nicht, man kennt hier die Männer mit den schönen Haaren. Die ungarischen Autorinnen sind unglaublich radikal, sehr feministisch, sehr körperlich, sehr provozierend, und ich muss sagen, mir bleibt jedes Mal die Spucke weg. Ich würde mich das nicht trauen. Aber ich muss mich das auch nicht trauen, weil ich Romane schreibe. Tatsächlich. Die radikalsten ungarischen Autorinnen schreiben nicht die langen Romane, sie nutzen andere, kürzere und amorphere Formen. Meine letzte Frage dazu wäre vielleicht, inwiefern diese Geschlechterhierarchie auch nochmal bezogen auf die Sprachenhierarchie, die es ja offensichtlich gibt, reflektiert wird oder wie das miteinander zusammenhängt. Gewisse Sachen kann man nicht. Wenn man einen Roman schreibt unter dem Strich durch die Mitte der Seite, dann hat man ein Oben und Unten, egal was unten hinkommt, das ist dann immer das Sublative. Es ist so, dass unter dem Strich die Frau ist und die Ausländerin, die von vielen nicht verstandene Sprache, ja, es ist halt unten. Sie können nicht alle an einem Ort sein. Ich kann dazu Folgendes sagen, ich habe mich für die radikale Linie entschieden und nicht für die andere Lösung, die es auch gegeben hätte, sozusagen ihn und sie abwechselnd zu haben. Dann würde es ja so aussehen, als wäre alles auf einer Ebene. Ich habe mich ganz offensichtlich nicht dafür entschieden. Und ich habe das für mich so formuliert: Ich habe mich dagegen entschieden, ihre Texte zwischen seine zu schieben, was bedeutet hätte, seine sind der Haupttext und ihre sind dazwischengeschoben, was aber hauptsächlich damit zu tun hat, dass die Frau tot ist. Der, der lebt, ist immer dominant, weil er seinen Text noch sprechen und weiterschreiben kann. Er hat, solange er lebt, unendliche Möglichkeiten, seinen fortzusetzen, während ihrer fertig ist, da gibt es nichts mehr. Ich habe mich dafür entschieden, ihr einen Rahmen zu geben, eine Linie, die er nicht überschreiten kann, ich wollte nicht, dass der Text der Toten sich einfügt, er sollte ‚aus der Unterwelt heraus‘ nerven. So kann er sich immer melden, während du versuchst, oben ‚in Ruhe‘ etwas zu lesen. Unten passiert irgendetwas und fordert dich damit heraus, dich dazu zu verhalten. Und selbst wenn „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 45 du dich dazu entscheidest, es zu ignorieren, hast du dich dazu entschieden, es zu ignorieren, und du weißt, dass du dich dazu entschieden hast, also hast du den Text unten doch nicht ganz ignoriert. Auch wenn unten gerade nichts steht, was zwischendurch auch vorkommt, registrierst du das mit dem peripheren Sehen, und auch dieses Nichts ist etwas. Wie würde ich es darstellen, wenn es zwei Männer wären oder zwei Frauen? Es wäre immer so, dass dem, der unten ist, unterstellt würde, dass er der Unterdrückte ist, natürlich, und der, der oben drauf sitzt, ist halt immer der Dominante. Aber natürlich gehört jetzt auch dazu, dass ich in Deutschland einen Roman auf Deutsch geschrieben habe, wo der deutsche Text oben ist und der Übersetzte unten. Das ist hier auch die Situation, weil meine Hauptsprache, in der ich schreibe, die deutsche ist, also ist sie oben. „Der geheime Text“ - Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig 47 Affekt und Sprachkritik Eine Kulturpolitik des Affekts? Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada - mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure Till Dembeck Es ging hoch her in Zürich 1916, als Dada im Cabaret Voltaire erfunden wurde. Glaubt man den einschlägigen Berichten der Beteiligten, so lösten die künstlerischen Experimente, die dort zur Vorführung kamen, in einem unerwarteten Maße affektive Reaktionen aus. Bereits am 26. Februar, also nicht einmal einen Monat nach Eröffnung, notiert Hugo Ball: „Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen.“ 1 Am 11. April endet die Ankunft einer „Gesellschaft holländischer Jungs“ mit dem allgemeinen Ausbruch einer Tanzwut, die „sich bis auf die Straße“ fortsetzt; 2 und am 3. Juni gerät Emmy Hennings Tochter Annemarie bei einer Soiree „ob all der Farben und des Taumels außer Rand und Band.“ 3 Es ist zugleich klar, dass man es bei Dada mit einer Bewegung zu tun hat, die in vielerlei Hinsicht mit dem sogenannten ‚Einsprachigkeitsparadigma‘ bricht, dem in der Forschung bescheinigt wird, in engem Verbund mit Kulturpolitiken der Nationalisierung das gesamte 19.-Jahrhundert geprägt zu haben. Was läge also näher als die Frage, inwiefern die literarische Mehrsprachigkeit von Dada und die affektive Wirkung der Bewegung etwas miteinander zu tun haben: Wenn die affektive Wirkung eines der Ziele des Unternehmens ist - stellt dann Mehrsprachigkeit schlicht eines der poetischen Mittel dar, es zu erreichen, oder bemüht man sich vielmehr darum, die Affektivität von Sprache(n) selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken? 1 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit [1927]. Zürich 1992, S.-80. 2 Ebd., S.-90. 3 Ebd., S.-97. 50 Till Dembeck Diesem Problemkomplex möchte ich mich im Folgenden widmen, ausgehend von der Frage, wie sich Dada zur Semantik der Muttersprache verhält, die eine enge affektive Beziehung zwischen Sprecherinnen und ihren Sprachen unterstellt. Die genauere Auseinandersetzung mit drei Dada-Gedichten aus dem Jahr 1916 soll die These plausibilisieren, dass Mehrsprachigkeit gezielt eingesetzt wird, um vor-muttersprachliche und daher in besonderer Weise affektbezogene sprachliche Kreativität freizusetzen. Um die Spezifik des Zugangs von Dada zu Affekt und Mehrsprachigkeit zu erläutern, werde ich u. a. auf ein Schweizer Parallelunternehmen der Jahre 1915/ 16 zu sprechen kommen, nämlich die Kompilation des Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure durch Charles Bally und Albert Sechehaye in Genf. Das ursprüngliche Anliegen Saussures, wie man es seinen Notizen entnehmen kann, ist nämlich an eben jener vor-muttersprachlichen Kreativität interessiert, die auch Dada anzapfen möchte. Aus fachpolitischen Gründen wird diese Facette des Saussure’schen Denkens aber im Cours getilgt. Der Kontrast zwischen der Programmatik der Cours -Edition und dem seltsam konsequenzlosen Treiben in Zürich lässt besonders gut erkennen, was die von Dada anvisierte Kulturpolitik des Affekts auszeichnet. 1 Dada und die Semantik der Muttersprache Die sich dem Dada zuordnenden Künstler haben von Beginn an mehr als nur eine Sprache verwendet und das eigene Tun vor dem Hintergrund eines internationalen Netzwerks gesehen. 4 Nicht zuletzt haben die ersten Dada-Manifeste durchweg die plurivalente ‚Sprachigkeit‘ der Bezeichnung ‚Dada‘ hervorgehoben, also, wie man in Robert Stockhammers Terminologie formulieren kann, ihre Zugehörigkeit zu mehr als nur einer langue . 5 Hugo Ball beansprucht in seinem Tagebuch die Autorschaft der Bezeichnung, die er folgendermaßen erläutert - und entsprechende Passagen finden sich danach bei anderen Autoren: „Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“ 6 Man hat es also mit einer erklärtermaßen infan- 4 Zur Mehrsprachigkeit Dadas vgl. vor allem Kilchmann, Esther: Alles Dada oder: Mehrsprachigkeit ist Zirkulation der Zeichen. In: Till Dembeck/ Anne Uhrmacher (Hrsg.): Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit. Methodische Erkundungen. Heidelberg 2017, S.-43-62. 5 Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert: Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache. In: Dies. (Hrsg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007, S.-7-27, hier S.-26. 6 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S.-14; vgl. auch Balls Tagebucheintrag vom 11.4.1917: „Fürs deutsche Wörterbuch. Dadaist: kindlicher, donquichottischer Mensch, der in Wortspiele und grammatikalische Figuren verstrickt ist.“ Ebd., S.- 154. Im „Eröffnungs-Manifest, Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 51 tilen Lautfügung zu tun, wenn sie auch alles andere als unschuldig ist, sondern eher „zeugungsfroh“. Es liegt vor diesem Hintergrund geradezu auf der Hand, so folgenreiche von Dada ‚erfundene‘ poetische Techniken wie die sogenannte ‚Lautpoesie‘ oder das Simultangedicht als Verfahren zur Freisetzung von sprachlicher Kreativität zu deuten, die vor die Prägung durch Muttersprachlichkeit, und überhaupt durch Sprachigkeit, zurückgehen sollen. 7 Um hier noch klarer zu sehen, lohnen sich einige grundsätzliche Erinnerungen mit Blick auf den Begriff der ‚Muttersprache‘. In der jüngeren Forschung wird das Einsprachigkeitsparadigma - so die Bezeichnung von Yasemin Yildiz 8 - als Zusammenführung der (mindestens) folgenden Annahmen beschrieben: 1. Sprechen geschieht normalerweise in genau einer Sprache im Sinne von langue , also eines Sprachsystems, das es erlaubt zu entscheiden, was eine korrekt geformte Äußerung ist und was nicht. 2. Sprecher besitzen normalerweise genau eine Muttersprache, die sowohl mit der Sprache ihrer Erstsozialisation als auch mit der Sprache der Nation identisch ist, der sie angehören. 3. Muttersprachler beherrschen ihre Muttersprache und gelten als deren Verkörperung sowie auch als originärer Motor ihrer Weiterentwicklung bzw. ihrer kreativen Verwendung. Einbegriffen ist hier, dass der Muttersprachler ein untrügliches Gefühl für seine Sprache hat und ihr - denn es handelt sich ja um die Sprache, die die Mutter repräsentiert - auf einzigartige Weise affektiv verbunden ist. Keine sogenannte Fremdsprache kann diese Bindung ersetzen. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen zu erläutern, woher diese Semantik stammt und welche Wirkmächtigkeit sie wann wo genau gehabt hat. Als ihre Urheber werden, halb zu Recht, halb zu Unrecht, immer wieder Dante und Her- 1. Dada-Abend. Zürich, 14. Juli 1916“ heißt es: „Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutets Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Ruecken runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: ‚Ja, wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir‘. Und so weiter.“ In: Karl Riha (Hrsg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart 2015, S.-30. 7 Dieser Gedanke findet sich immer wieder in der Forschung, so zum Beispiel in der sehr aufschlussreichen Studie von Wilke, Tobias: Da-da: „Articulatory Gestures“ and the Emergence of Sound Poetry. In: Modern Language Notes 128 (2013), S.- 639-668. Wilke bezieht die Entstehung der dadaistischen Lautpoesie auf die linguistische und entwicklungspsychologische Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und weist darauf hin, dass dort reduplizierende Lautfolgen in der Tat als (vorsprachiger) Einsatzpunkt sprachlicher Artikulation beschrieben wurden. 8 Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012, S.-2. Zum folgenden vgl, auch Gramling, David: The Invention of Monolingualism. New York u. a. 2016. 52 Till Dembeck der gehandelt. Dazu gibt es genug Forschung, vor allem von Thomas P. Bonfiglio und David Martyn. 9 Es ist wichtiger zu sehen, welche Spannung der Begriff der ‚Muttersprache‘ im Rahmen des Einsprachigkeitsparadigmas überdeckt: Diejenige nämlich zwischen der vermeintlichen Natürlichkeit des Spracherwerbs und der Tatsache, dass die Überführung der Erstsozialisierungssprache, also der eigentlichen Muttersprache, die man auch als ‚dada‘-Rede bezeichnen könnte, in eine kodifizierte nationale Standardsprache ganz erheblicher kultur- und sprachpolitischer Maßnahmen bedarf. So betrachtet handelt es sich bei der Semantik der Muttersprache um ein Narrativ, das in doppelter Art und Weise dazu dient, an entscheidender Stelle Komplexität unsichtbar zu machen: Die Anstrengungen von Spracherwerb und schulischer Standardisierung, die jeweils als Zusammenspiel von Nachahmungs- und Korrekturversuchen mit grundsätzlich unwahrscheinlichen Erfolgsaussichten zu beschreiben wären, kommen nicht vor. Stattdessen erscheint Sprache mit Blick auf die einzelne Sprecherin als eine Kompetenz, die natürlich und komplikationsfrei aus dem Familienzusammenhang erwächst, mit Blick auf die Sprechergruppe - lies: die Nation - aber als Organismus, in dem und durch den sich das gemeinschaftliche Leben ebenso komplikationslos fortentwickelt. Beides scheint darauf abzuzielen, gesellschaftliche Kohäsion auch angesichts einer Gesellschaftsstruktur zu ermöglichen, die auf funktionaler Differenzierung, Selbstorganisation und massenmedialer Informationsvermittlung aufbaut - lauter Faktoren, die der emotionalen Bindung des Einzelnen an Gesellschaft eigentlich eher zuwiderlaufen. Und affektive Kohäsion, so könnte man vermuten, erleichtert wiederum die Durchsetzung zweckrationaler Motivation (‚für das Vaterland‘ zum Beispiel). 10 Damit ist nichts anderes gesagt, als dass das Narrativ ‚Muttersprache‘ affektive Bindung durch die systematische Ausblendung eines ebenfalls, allerdings auf ambivalente Weise, affektträchtigen Geschehens erkauft. Vor diesem Hintergrund wäre der affektive Durchbruch von Dada in die Vor-Muttersprachlichkeit - oder: die eigentliche ‚dada‘-Muttersprachlichkeit - als Befreiung von diesen Ausblendungsmaßnahmen zu beschreiben oder zumindest als deren Dekonstruktion, als Versuch, die Kulturpolitik des Einsprachigkeitsparadigmas außer Kraft zu setzen. Entsprechend lassen sich zumindest Hugo Balls programma- 9 Bonfiglio, Thomas P.: Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker. New York 2010; Martyn, David: Es gab keine Mehrsprachigkeit bevor es nicht Einsprachigkeit gab. Ansätze zu einer Archäologie der Sprachigkeit (Herder, Luther, Tawada). In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-39-51. 10 Zum Zusammenhang von Muttersprachlichkeit, Einsprachigkeitsparadigma und Nationalismus vgl. Thiesse, Anne-Marie: La création des identités nationales: Europe xviiiexxe siècle [1999]. Paris 2001; Leerssen, Joep: National Thought in Europe: A Cultural History. Amsterdam 2006. Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 53 tische Erläuterungen zu seinen Lautgedichten verstehen, die er laut Tagebuch dem Vortrag von „gadji beri bimba“ vorausgeschickt hat: Man verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. 11 Die „innerste Alchimie des Wortes“ bzw. der Sprache ( langage ) bezeichnet ganz offenkundig eine Form sprachlicher Kreativität, die jeder Muttersprachlichkeit vorausgeht. In den Lautgedichten möchte Ball die Kreativität dieser „Buchstaben-Alchimie“, so schreibt er später an Hans Arp, „mit der emotionalen Zeichnung zusammenbringen“ 12 . 2 Exkurs: Die Kulturpolitik der langue-Linguistik Spätestens an dieser Stelle ist ein Einspruch fällig. Denn wenn es in der derzeitigen Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit eine Art „transzendentales Abschlusssignifikat“ (Georg Stanitzek) gibt, auf das alle Deutungen zulaufen, dann ist es immer die Behauptung, die jeweils behandelten Beispiele stellten eine Subversion des Einsprachigkeitsparadigmas dar. 13 Ich möchte dafür plädieren, hier genauer hinzusehen. Denn es macht nicht nur einen gewaltigen Unterschied, wer wann und wo das Einsprachigkeitsparadigma zu unterlaufen versucht, sondern auch, wie genau dies geschieht. Es gibt sehr viele Formen literarischer Mehrsprachigkeit, und sie stehen in sehr vielen unterschiedlichen Verhältnissen zu den kulturpolitischen Programmen, denen die Texte, in denen man sie findet, womöglich folgen. Um diese Vielfalt in den Blick zu bekommen, muss man umstellen - und zwar von Einzelsprachphilologie, die davon ausgeht, dass Texte normalerweise in einer Sprache geschrieben sind, auf Mehrsprachigkeitsphilologie, die im Gegenteil davon ausgeht, dass es in jedem Text eine gewisse Bandbreite sprachlicher Vielfalt zu entdecken und zu deuten gibt. Nur dann kann man erkennen, dass literarische Mehrsprachigkeit sich keineswegs gleichbleibt. 14 11 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S.-106. 12 Brief vom 22.11.1926 an Hans Arp, wiedergegeben im Kommentar zu Ball, Hugo: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. der Hugo-Ball-Gesellschaft. Bd.- 1: Gedichte. Hrsg. v. Eckhard Faul. Göttingen 2007, S.-218. 13 Mit Blick auf Dada argumentiert auf diese Weise beispielsweise Olsson, Jesper: Speech Rumblings. Exile, Transnationalism and the Multilingual Space of Sound Poetry. In: Axel Englund/ Anders Olsson (Hrsg.): Language of Exile. Migration and Multilingualism in Twentieth-Century Literature. Oxford 2013, S.-183-200, bes. S.-186-191. 14 Vgl. ausführlich Dembeck, Till: Multilingual Philology and Monolingual Faust . Theoretical Perspectives and a Reading of Goethe’s Drama. In: German Studies Review 41/ 3 54 Till Dembeck Ich werde das mögliche Vorgehen einer solchen Mehrsprachigkeitsphilologie im Folgenden am Umgang mit einigen der eher mehrsprachigen Texte des Zürcher Dada illustrieren. Bevor ich dies tue, möchte ich aber zur Schärfung des Arguments noch etwas mehr Kontext bieten - eben dazu dient mein Seitenblick auf das Geschehen in Genf. Denn auch Saussures Unternehmen verhält sich ambivalent zur Semantik von Mutter- und Nationalsprache. Dabei besteht ein charakteristischer Unterschied zwischen der Argumentation, die man aus Saussures Notizen rekonstruieren kann, und derjenigen, welche die Herausgeber des Cours aus Vorlesungsmitschriften fabriziert haben. 15 Die Notizen und den Cours eint die Ablehnung eines organologischen Modells von Sprache. 16 Hatte die sprachhistorische Tradition des 19. Jahrhunderts die Einzelsprachen als Quasi-Organismen bestimmt, deren Wandel sich ebenso problemlos wie unmittelbar beschreiben ließ, so sahen Saussure und seine Erben ein, dass die ‚Tatsachen‘ der Sprache niemals schlicht gegeben sind und dass jede Analogie zu organischen Vorgängen verfehlt ist. 17 Aus dieser Einsicht aber schlussfolgerten sie, wie insbesondere Ludwig Jäger nicht müde geworden ist zu betonen, sehr unterschiedliche Dinge. Saussures Notizen drehen sich zu einem großen Teil um die Frage, wie Sprache überhaupt beschrieben werden kann. Problematisch erscheint ihm unter anderem, dass zwar einerseits der Sprachwandel, dem sich der Großteil der Sprachforschung des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte, erklären kann, woraus sich gegebene Sprachstrukturen entwickelt haben; dass andererseits aber diese ‚Erklärung‘ nichts darüber aussagt, wie wirkliche Sprecher mit ‚ihrer‘ Sprache (2018), S.- 567-588; diese Grundidee liegt auch dem von Rolf Parr und mir herausgegebenen Handbuch zugrunde: Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017. 15 Die Hinwendung zu Saussure ist dadurch motiviert, dass sich am Kontrast zwischen dem Saussure der Notizen und dem Saussure des Cours unterschiedliche zeitgenössische Optionen des Umgangs mit Sprachigkeit und sprachlicher Kreativität ausweisen lassen. Wenn man den Schwerpunkt nicht auf literarische Mehrsprachigkeit legt, ist es ebenso naheliegend, den Parallelen zwischen Dada und der zeitgenössischen Experimentalphonetik und Entwicklungspsychologie nachzugehen, wie dies Wilke tut (vgl. Wilke, Da-da). 16 In deutscher Übersetzung sind die Notizen erhältlich in Saussure, Ferdinand de: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Hrsg. u. übers. v. Johannes Fehr. Frankfurt am Main 2003 [fortan unter der Sigle: LS], und ders.: Die Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Ludwig Jäger. Übers. v. Elisabeth Birk/ Mareike Buss. Frankfurt am Main 2003 [WS]. Zum de Saussure der Notizen vgl. ausführlich Fehr, Johannes: Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie. Ein einleitender Kommentar. In: LS, S.-15-226, sowie Jäger, Ludwig: Ferdinand de Saussure zur Einführung. Hamburg 2010. 17 In den Notizen formuliert Saussure, schon „die ersten und nicht weiter <ableitbaren> Entitäten, mit denen sich der Sprachwissenschaftler beschäftigen kann“, seien „das Ergebnis einer <verborgenen> Operation <des> Geistes.“ (WS, S.-82) Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 55 umgehen. 18 Die Beschreibung des Zustands ( status ) der Sprache hat so betrachtet mit der Beschreibung der Geschichte der Sprache ( motus ) nichts zu tun, obwohl die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens, die im status zu suchen sind, und die Sprachgeschichte zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sind. 19 Wenn Saussure betont, in historischer Perspektive sei keinesfalls ein wie auch immer natürliches Wachstum, sondern in erster Linie der schiere Zufall die treibende Kraft, so liegt das daran, dass er gerade das Sprechen ( parole ) in seiner jeweiligen situativen Spezifik für den Sprachwandel verantwortlich macht: 20 Das Sprechen greift zwar auf la langue als Bedingung seiner Möglichkeit zurück, ist aber zugleich selbst Bedingung der Möglichkeit für deren Reproduktion 21 und kann sie jederzeit verändern - ohne dass die Sprecher dies wiederum jemals planen könnten. 22 Die Einheit der Sprache erweist sich damit als paradoxe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität: 23 Weil man immer weiter spricht, verändert sich die Sprache. Sprache ist zu ihrer Fortsetzung dauernd auf „Identitätsurteil[e]“ 24 der Sprecherinnen angewiesen, die (synchron) auf ein Gegebenes verweisen, das sie zugleich (diachron) womöglich modifizieren. Der Cours hat diese Argumentation - laut Jäger: in grober Verfälschung des ‚echten‘ Saussure - in ein äußerst erfolgreiches Beschreibungsmodell von Sprache umgebaut. 25 Ist es in den Notizen eine Eigenschaft der Sprache selbst, dass sie an jeder Stelle zugleich auf die diachrone und die synchrone Dimension bezogen ist - es heißt etwa, die „Natur der Sprache“ sei „von Grund auf doppelt“ 26 -, werden diese beiden Dimensionen im Cours zu bloßen Perspektiven, die der Sprachforscher auf seinen Gegenstand werfen kann. 27 Natürlich findet 18 Vgl. LS, S.-285-295, besonders prägnant S.-287f. 19 Vgl. z. B. LS, S.-329-331. 20 „Alle Veränderungen […], seien es phonetische oder grammatische <analogische>, entstehen einzig und allein in der Rede […]. Es gibt keinen Moment, in dem das Subjekt den geistigen Schatz […] der Sprache [langue], <den es in sich trägt>, einer Überprüfung unterziehen würde und in dem es in aller Ruhe neue Formen […] hervorbringen würde, die es / sich vornimmt / verspricht / , in seiner nächsten Rede […] ‚unterzubringen‘. Jede Neuerung entsteht durch Improvisation im Sprechen (und geht von dort entweder in den <inneren> Schatz […] des Hörers oder in den des Sprechers ein, sie entsteht aber somit im Zusammenhang der gesprochenen Sprache […].“ (WS, S.-160) 21 „[D]ie Sprache [findet] <im Akt> des Sprechens [¼] gleichzeitig ihre Anwendung sowie ihre <einzige und> stete Quelle“ (WS, S.-164). 22 Saussure benutzt hierfür das Bild eines „gänzlich absurden und unintelligenten [Schach-] Spieler[s] […], wie es der Zufall der phonetischen und anderen Ereignisse ist“ (LS, S.-309). 23 Vgl. bereits Saussures Genfer Antrittsvorlesung (LS, S.-251). 24 LS, S.-298; vgl. auch die Formulierung, es liege die „Identität einer Form in der Identität ihrer Gebrauchsweisen“ (WS, S.-91). 25 Vgl. Jäger, Ferdinand de Saussure, S.-164-190. 26 LS, S.-310. 27 Vgl. Jäger, Ferdinand de Saussure, S.-175-180. 56 Till Dembeck sich auch in den Notizen die Behauptung, die Sprachwissenschaft zerfalle notwendig in zwei Disziplinen; 28 für den Saussure der Notizen geht es aber eher darum, dass aus Einsichten in die Synchronie nichts für die Diachronie folgen darf - und vor allem nicht umgekehrt. Der Saussure der Notizen ist sich durchgängig bewusst, dass die unterschiedliche Bestimmung der sprachlichen Tatsachen nach synchroner bzw. diachroner Perspektive ein „Nachdenken über eine Grundlage“ 29 erforderlich macht. Das heißt: Man darf nicht davon ausgehen, dass der ‚eine‘ Gegenstand langue unproblematisch aus zwei Perspektiven betrachtet werden könne, wie es die auf den Cours zurückgehende Linguistik tut - wäre dies möglich, so der Saussure der Notizen, so wäre die Linguistik „eine ziemlich einfache Wissenschaft“ 30 . Dennoch konstituieren diese beiden Perspektiven aber auch nicht schlicht zwei unterschiedliche Gegenstände. Die langue bleibt eine durch und durch paradoxale Bezugsgröße. Entsprechend ist für den Saussure der Notizen la langue als Gegenstand der synchronen Sprachwissenschaft keinesfalls einfach zu beobachten: Sie hat als soziale Tatsache keinen festen Ort, an dem sie auffindbar wäre. 31 Sie muss zwar durchgängig als konkret wirksam, als soziale Tatsache vorgestellt werden, ist aber dennoch nur durch die Herauslösung aus dem sozialen Zusammenhang zu erschließen. 32 Diese Einsicht Saussures wird in der Bearbeitung der Vorlesungsmitschriften durch Bally und Sechehaye überdeckt. Vor allem aber hat die auf dem Cours aufbauende Linguistik das Problem, das sich daraus ergibt, weitgehend ausgeblendet, indem sie den Begriff der langue in erster Linie auf Einzelsprachen bezogen und diese wiederum als ‚abgelöst‘ von jeder soziokulturellen und historischen Bindung betrachtet hat. Der Saussure der Notizen spricht aber nicht zufällig durchgängig von la langue - und eben nicht von une langue oder von langues im Plural. 33 Er denkt keinesfalls daran, der synchronen Sprachwissenschaft die Aufgabe zu geben, auf der Grundlage entweder von Korpusanalysen oder von muttersprachlicher Introspektion die unterschiedlichen langues 28 Es heißt etwa in den Notizen, „die Linguistik“ sei „eine doppelte Wissenschaft“, LS, S.-312. Vgl. z. B. auch LS, S.-341. 29 WS, S.-155. 30 Ebd. 31 Einerseits verortet de Saussure die langue im Kopf der Sprecher: „Daher ist der Ort des Wortes […] allein der Geist, der ebenfalls der Ort ist, <an dem es> seinen Sinn <hat>“, WS, S.-151; andererseits ist sie zweifellos „eine soziale Tatsache“ (LS, S.-283). Die soziale Existenz der langue , die Tatsache, dass sie auf ihre Weitergabe ausgerichtet ist, sorgt zugleich für ihre Veränderlichkeit. 32 Vgl. hierzu Fehr, Saussure, S.-75-94; ebd., S.-109-116. 33 Vgl. hierzu Stockhammer, Robert: Zur Konversion von Sprachigkeit in Sprachlichkeit (langagification des langues) in Goethes Wilhelm Meister-Romanen. In: Critical Multilingualism Studies 5/ 3 (2017), S.-13-31, hier S.-16, Anm. 2. Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 57 jeweils ‚an und für sich‘ zu rekonstruieren, die Sprecherinnen benutzen, um einzelsprachige parole zu produzieren. 34 Eher hätte la langue , auf Saussures Notizen aufbauend, auch als etwas Nicht-Einsprachiges gedacht werden können, etwa so, wie sich Jacques Derrida die „Einsprachigkeit des Anderen“ vorstellt - als singuläre, aber in sich vielgestaltige Sprachfähigkeit des Einzelnen (in diesem Sinne: „Einsprachigkeit …“), die zugleich vollständig auf die Einflussnahme der sehr unterschiedlichen Sprechweisen vieler anderer Sprecher zurückgeht (in diesem Sinne: „… des Anderen“ 35 ). Saussures skrupulöses Nachdenken über die Doppelstruktur der Sprache fällt im Cours dem Willen zur Etablierung der Disziplin zum Opfer. Die Einsicht in die unhintergehbare Komplexität des jederzeit wandelbaren, sich selbst stabilisierenden Geschehens ‚Sprache‘ führt zwar zur Verabschiedung des organologischen Modells der vormaligen historischen Sprachwissenschaft, nicht aber zur Verabschiedung des Narrativs Muttersprache. Im Gegenteil: Die Muttersprache ist der feste Grund, auf den sich die langue -Linguistik problemlos beziehen zu können glaubt - gleich, ob dies durch die Beobachtung von Sprechern oder durch die Introspektion muttersprachlicher Linguisten selbst geschieht. Das heißt aber: Ihren Status als Wissenschaft erkauft sich die langue -Linguistik durch das Absehen von der dada-Muttersprache, also der im Ausprobieren von Identitätsurteilen stets neu Bedeutung produzierenden sozialen Tatsache ‚Sprache‘. Sie vollzieht damit einen Akt der Ausblendung, der demjenigen stark ähnelt, auf dem die Semantik der Muttersprache aufruht. Die langue -Linguistik ist, sprachpolitisch betrachtet, ganz wesentlich Disziplinierung: Sie legt die Völker auf ihre Sprachen fest und ist damit in einem basalen Sinn ein koloniales Projekt. 36 Der originale Saussure hingegen steht fasziniert vor dem von der langue -Linguistik ausgeblendeten vor-sprach igen Geschehen und möchte es, als die eigentliche Quelle sprachlicher Kreativität, sichtbar machen und begreifen. 37 34 Der wahrscheinlich folgenreichste Eingriff in den Text des Cours ist laut Jäger die freie Erfindung des Schlusssatzes, der diese ‚Ablösung‘ des langue -Begriffs zementiert: „Der einzige und eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft ist die Betrachtung der Sprache an und für sich allein.“ Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar. Hrsg. v. Peter Wunderli. Tübingen 2013, S.-440f.; vgl. hierzu Jäger, Ferdinand de Saussure, S.-180-183. 35 Vgl. Derrida, Jacques: Le Monolinguisme de l’autre. Paris 1996. 36 Diese Verwendung des Worts ‚kolonial‘ schließt lose an Derridas Überlegungen zur Nähe von Kultur und Kolonialismus an (ebd., S.- 68). Für die langue -Linguistik findet sich ein ähnlich scharf formuliertes Argument bei Makoni, Sinfree/ Pennycook, Alastair: Disinventing and (Re)Constituting Languages. In: Critical Inquiry in Language Studies 2/ 3 (2005), S.-137-156. 37 In seiner vehementen Saussure-Kritik, die sich auf den Saussure des Cours bezieht, verweist Jurij M. Lotman darauf, dass die langue -Linguistik sprachliche Kreativität nicht erklären kann. Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie 58 Till Dembeck Er ist damit eine Art unbewusster und unerkannter theoretischer Wegbereiter von Dada - denn Dada geht es darum, diese Quelle sprudeln zu lassen. 3 Dada als mehr Sprachigkeit Nun also endlich zu diesen Quellen. Meine Auswahl trifft drei relative bekannte Gedichte, die allesamt der Anfangsphase von Dada Zürich entstammen. Und ich beginne mit dem Simultangedicht „L’amiral cherche une maison à louer“ 38 („Der Admiral sucht ein Haus zur Miete“) von Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara, das für den gleichzeitigen Vortrag in drei Sprachen, Deutsch, Englisch und Französisch, geschrieben wurde und am 31. März 1916 seine Uraufführung erlebte. Die ‚Partitur‘ des Gedichts wurde in der Zeitschrift Cabaret Voltaire vom Juni 1916 abgedruckt: 39 Abb. 1 der Kultur. Übers. v. Gabriele Leupold/ Olga Radetzkaja. Frankfurt am Main 2010, S.-13-16. 38 Die Übersetzungen aus dem Französischen Simultangedicht sind von mir. Sie sind gegenüber dem Original, dessen syntaktische Konstruktionen teils unklar sind, etwas geglättet. 39 Cabaret Voltaire 1, Juni 1916, S.-6f. Dieses Gedicht wird in der Forschung gerne gezeigt, aber selten gelesen - vgl. z. B. Olsen, Speech Rumblings, S.-189. Ein besonders eklatantes Beispiel für eine Nicht-Lektüre des Gedichts liefert Jones, Dafydd W.: Dada 1916 in Theory. Practices of Critical Resistance. Liverpool 2014, S.-152-174 - ein über 20-seitiges Kapitel ‚über‘ „L’amiral cherche“, das an keiner Stelle auf den Wortlaut des Gedichts eingeht! Die einzige mir bekannte etwas ausführlichere Lektüre bietet Nenzel, Reinhard: Kleinkarierte Avantgarde. Zur Neubewertung des deutschen Dadaismus. Der frühe Richard Huelsenbeck. Sein Leben und sein Werk bis 1916 in Darstellung und Interpretation. Bonn 1994, hier S.-249-264. Nenzel widmet sich nur der Stimme Huelsenbecks und interpretiert das Gedicht etwas einseitig als Darstellung eines gescheiterten Bordellbesuchs des Admirals. Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 59 Etwas leichter zu lesen ist der Text, wenn man ihn nach Einzelstimmen umschreibt (wobei im Folgenden das „intermède rythmique“ („rhythmisches Zwischenspiel“) weggelassen ist): HUELSENBECK Ahoi ahoi Des Admirals gewirktes Beinkleid schnell zerfällt Teerpappe macht Rawagen in der Nacht und der Conciergenbäuche Klapperschlangengrün sind milde ach verzerrt in der Natur chrza prrrza chrrrza prrrza chrrrza prrrza Wer suchet dem wird aufgetan Der Ceylonlöwe ist kein Schwan Wer Wasser braucht find […] im Kloset zumeistens was er nötig hätt ahoi iuché ahoi iuché Find was er nötig hätt O süss gequollnes Stelldichein des Admirals im Abendschein uru uru uro uru uru uro uru uru uru uro pataclan patablan pataplan uri uri uro Der Affe brüllt die Seekuh bellt im Lindenbaum der Schräg zerschellt taratata taratata tatatata in Joschiwara dröhnt der Brand und knallt mit schnellen Peitschen um die Lenden Im Schlafsack gröhlt der alte Oberpriester und zeigt der Schenkel volle Tastatur L’amiral a rien trouvé JANCO, chant Where the honny suckle wine twines itself arround the door a swetheart mine is waiting patiently for me I can hear the weopour will arround arround the hill my great room is mine admirabily confortably Grandmother said I love the ladies […] I love the ladies I love to be among the girls and when it’s five o’clock and tea is set I like to have my tea with some brunet shai shai shai shai shai shai shai shai Every body is doing it doing it doing it Every body is doing it doing it see that ragtime coupple over there see that throw there shoulders in the air She said the raising her heart oh dwelling oh oh yes yes yes yes yes yes yes yes yes yes yes oh yes oh yes oh yes oh yes yes yes oh yes sir L’amiral a rien trouvé TZARA Boum boum boum Il déshabilla sa chair quand les grenouilles humides commencèrent a brûler j’ai mis le cheval dans l’âme du serpent à Bucarest on dépendera mes amis dorénavant et c’est très intéressant les griffes des morsures équatorial Dimanche: deux éléphants Journal de Genève au restaurant Le télégraphist assassine […] la concièrge qui m’a trompé ella a vendu l’appartement que j’avais loué Dans l’eglise après la messe le pécheur dit à la comtesse: Adieu Mathilde Le train traine la fumée comme la fuite de l’animal blessé aux intestins ecrasés Autour du phare tourne l’auréole des oiseaux bleuillis en moitiés de lumière visant la distance des batteaux Tandis que les archanges chient et les oiseaux tombent Oh! mon cher c’est si difficile La rue s’enfuit avec mon bagage à travers la ville Un métro mèle son cinéma la prore de je vous adore etait au casino du sycomore L’amiral a rien trouvé Wie wird hier Mehrsprachigkeit genutzt, bzw. genauer: Was ist das kulturpolitische Programm dieses Gedichts? Es ist nicht ganz einfach, das abzuschätzen, man muss, angesichts der fehlenden offenkundigen Kohärenz der Darstellung, auf Spurensuche gehen. Sowohl der Titel als auch die von allen drei Sprechern zugleich und auf Französisch ausgesprochene Schlussformel „L’amiral a rien trouvé“ („Der Admiral hat nichts gefunden“) weisen darauf hin, dass es durchaus so etwas wie eine Geschichte gibt: Der Admiral sucht ein Haus zur Miete, 60 Till Dembeck hat aber bis zum Schluss nichts gefunden. Den Grund teilt womöglich die französische Stimme mit: „Le télégraphist assassine la concièrge qui m’a trompé ella a vendu l’appartement que j’avais loué“ („Der Telegraphist hat die Concièrge umgebracht, die mich betrogen hatte; sie hat die Wohnung verkauft, die ich gemietet hatte“). Dabei bleibt unklar, was genau den Telegraphisten zum Mord an der verräterischen Concierge bewegt hat - vielleicht ein Befehl des Admirals? Ansonsten sind diejenigen Teile des Gedichts, die aus gebräuchlichen Worten des Deutschen, Englischen und Französischen bestehen, nur lose an das Geschehen um den Admiral gebunden. Dennoch gibt es weitere Hinweise: Die deutsche Stimme spricht vom „Stelldichein des Admirals im Abendschein“, die englische Stimme, auch wenn sie den Admiral nicht erwähnt, handelt überwiegend von der Liebe des Sprechers zu den Frauen, die ihn allerorten erwarten („a swetheart mine is waiting patiently for me“), und die französische Stimme berichtet vom Abschied eines Sünders ( pécheur ), der zumindest im gesprochenen Französisch auch ein Fischer ( pêcheur ) sein könnte und berufsbezogen in eine gewisse Nähe zum Admiral rückte, von einer Frau: „Adieu Mathilde“. Es gibt zahlreiche Anspielungen auf die Seefahrt bzw. auf nur Seefahrern erreichbare exotische Länder, und auch auf ein ausschweifendes Leben, wie man es Seefahrern vielleicht gerne nachsagt: Exotische Tiere werden erwähnt - ein „Ceylonlöwe“, eine „Sehkuh“, zwei Elefanten („deux éléphants“) und ein „Affe“ - sowie, mit weniger maritimen oder exotischeren Assoziationen behaftet, Frösche („grenouilles“), ein Pferd („cheval“), das in die Seele einer Schlange („serpent“) gesteckt wurde; die Perspektive öffnet sich auf ein Lokal, in dem „ragtime“ getanzt wird sowie auf „Joschiwara“, das damalige Rotlichtviertel von Tokyo; es ist die Rede von Äquatorialgegenden („équatorial“) und etwas wird als ‚Bug‘ (fr. „prore“) bezeichnet. Ein längerer Satz der französischen Stimme gegen den Schluss des Gedichts spricht dann auch explizit von Schiffen und von einem Leuchtturm: „Autour du phare tourne l’auréole des oiseaux bleuillis en moitiés de lumière visant la distance des batteaux“ („Um den Leuchtturm dreht sich der Heiligenschein der Vögel, die zur Hälfte von dem Licht gebläut sind, das die Entfernung der Schiffe anpeilt“). Ebenfalls im französischen Text gibt es einige Hinweise auf Gewalt - neben dem mordenden Telegraphisten ist von „les griffes des morsures“ die Rede, also von den ‚Krallen der Bisse‘, von „Brand“ und „Peitschen“ sowie von fallenden Vögeln („Tandis que les archanges chient et les oiseaux tombent“ - „Während die Erzengel scheißen und die Vögel fallen“); in einem gewagten Vergleich wird der Rauch, den ein Zug hinter sich herzieht, verglichen mit dem „Zerlaufen des verletzten Tiers in zermalmte Gedärme“ („Le train traine la fumée comme la fuite de l’animal blessé aux intestins ecrasés“). Neben Japan, Ceylon und allgemein den Äquatorialgegenden wird noch Bukarest erwähnt, und im französischen Text ist abschließend die Rede von verlorenem Gepäck Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 61 (bzw. Gepäck, das die Straße selbst dem Sprecher wegnimmt). Alles in allem ein Assoziationsraum, der die Hauptperson in ein Geschehen von triebhafter Unterhaltung und mehr oder weniger latenter Gewalt versetzt. Insofern ist es vielleicht auch kein Wunder, dass in allen drei Sprachen - und vor allem im „intermède rythmique“ - die semantisierten Ausdrücke immer wieder nicht semantisierten (oder zumindest nur sehr schwach semantisierten) Lautfolgen weichen, sei es in der Wiedergabe von teils maritim assoziierten Ausrufen („Ahoi ahoi“ bzw. „ahoi iuché ahoi iuché“, später „Oh! “ und „oh oh yes yes“ usw.), sei es lautmalerisch, mit militärischen und/ oder musikalischen („Boum boum boum“ bzw. „Yabomm“, „taratata taratata tatatata“) oder auch mit eher leiblich-animalischen Assoziationen („chrza prrrza chrrrza prrrza chrrrza prrrza“ bzw. „uru uru uro uru uru uro uru uru uru uro pataclan patablan pataplan uri uri uro“, vielleicht auch „shai shai shai shai shai shai shai shai“). Alles in allem passt auch dies zum Bild des verdorbenen Abenteurers auf Wohnungssuche. 40 Auf der Ebene der Lautlichkeit, auf die sich die Aufmerksamkeit nicht nur angesichts dieser lautmalerischen Elemente richtet, sondern auch deshalb, weil zu vermuten steht, dass sie beim tatsächlichen Vortrag des Textes schnell in den Vordergrund treten würde, weil man die Worte nicht mehr versteht, lassen sich weitere Strukturen ausmachen. So tendiert die Stimme von Huelsenbeck dazu, in mehr oder weniger alberne Paarreime zu verfallen, etwa: „Wer Wasser braucht find […] im Kloset zumeistens was er nötig hätt“ - eine Sprechweise, die aber auch die anderen Stimmen teils übernehmen: „and when it’s five o’clock and tea is set I like to have my tea with some brunet“, heißt es bei Janco, und Tzara reimt: „Dans l’eglise après la messe le pécheur dit à la comtesse“ („In der Kirche nach der Messe sagt der Sünder zu der Comtesse“). Darüber hinaus finden sich aber auch lautliche Interferenzen zwischen den unterschiedlichen Stimmen, und zwar erstens durch die Überblendung einzelner einander ähnlicher Laute, die zugleich oder leicht zeitversetzt ausgesprochen bzw. gesungen werden, zweitens durch die Überlagerung lautlich ähnlicher Silben und drittens durch stark zeitversetzten Reim. So häufen sich in der Überlagerung von „Klapperschlangengrün“, „arround“ und „dépendra“ r-Laute, oder es werden in „taratata taratata“, „see that throw“ und „visant la“ ein deutsches t, ein englisches th und ein französisches s parallel gesetzt. So erklingt zugleich mit „Beinkleid“ auf Englisch „wine twines“ und (fast) zugleich mit „schnellen“ das englische „dwelling“. In der Interaktion zwischen der deutschen und der englischen Stimme findet sich auch die bereits zitierte, weit auseinandergezogene 40 Im Einzelnen unterscheiden sich die drei Stimmen recht deutlich: Führt Huelsenbeck in seinen albernen Reimen immer wieder das Kippen des scheinbar Zivilisierten ins Verdorbene vor und Janco eher eine gewisse ironische Sentimentalität, entfaltet Tzara viel stärker noch als Huelsenbeck eine zunehmend absurde Bildlichkeit. 62 Till Dembeck sprachübergreifende Reimfolge: „Kloset“, „hätt“, „set“ und „brunet“. Darüber hinaus finden sich an mehreren Stellen ‚eye rhymes‘, also identische Buchstabenfolgen, die aber unterschiedlich ausgesprochen werden (engl. „me“ / fr. „l’ame“, dt. „Seekuh“ / engl. „see“). Es ist klar, dass nicht zuletzt in diesen Interferenzen - es lassen sich noch viel mehr davon finden - der Reiz des Simultangedichts liegt. Entsprechend heißt es in Tzaras dem Gedicht beigegebener „Note pour les bourgeois“ („Notiz für die Bürger“), das Prinzip des Gedichts liege „dans la possibilité que je donne à chaque écoutant de lier les associations convenables. Il retient les élément caractéristiques pour sa personalité […], restant toujour dans la direction que l’auteur a canalisé“ 41 („in der Möglichkeit, die ich jedem Hörer gebe, die ihm angemessenen Assoziationen herzustellen. Jeder nimmt sich die Elemente heraus, die seiner Persönlichkeit entsprechen […], bleibt dabei aber im Rahmen der Pfade, die der Autor vorgezeichnet hat“). Es geht also programmatisch um die Aktivierung einer sprachlichen Kreativität, die sich aus der lautlichen Überschneidung unterschiedlicher Formen von Sprachigkeit speist, der aber sowohl durch das angedeutete Geschehen als auch durch die konkreten lautlichen Verbindungen zwischen den drei Stimmen und Sprachen eine Richtung (ein ‚Kanal‘) vorgegeben ist. Deshalb kann man in dem Gedicht eine konkretere kulturpolitische Strategie erahnen: Dass während des U-Boot-Kriegs in den Sprachen dreier Kriegsparteien das verdorbene Leben eines Admirals evoziert wird, lässt zumindest vermuten, dass die potentiell zu erreichende Affizierung der Rezipienten tatsächlich jene auch in der Muttersprachlichkeit begründete strukturelle Ausblendung triebhafter und schmerzlicher, selbstregulierter Lebensprozesse aufheben soll, die wiederum für die zweckrationale Herstellung von Kriegsbereitschaft entscheidend ist. Es wird ein Blick hinter die Oberfläche von Admiralsuniform und Einsprachigkeit geboten, der diese untergründigen Triebkräfte an die Oberfläche zurückholt und die auf dem Gegensatz der Sprachigkeiten aufruhende Zweckrationalität scheinhaft werden lässt. Gerade der gedruckte Text des Simultangedichts, 42 der, anders als der Vortrag, mobil genug war, um die Schweiz zu verlassen und in die Territorien der Kriegsparteien einzudringen, kann so womöglich als subtiler, aber doch sehr konkreter Versuch zur Untergrabung der Kriegsmoral gewertet werden. Richard Huelsenbecks bruitistisches Gedicht „Ebene“, das erste der 1916 publizierten Phantastischen Gebete des Autors, nimmt gleichfalls auf den Krieg 41 Tzara, Tristan: Note pour les bourgeois. In: Cabaret Voltaire 1, Juni 1916, S.-6f. 42 Zur Differenz zwischen dem vorgetragenen Simultangedicht und seiner gedruckten Partitur vgl. Kilchmann, Esther: Im Cabaret der Zeichen. Sprachexperiment und Sprachpolitik im Zürcher Dada. In: Ursula Amrein/ Christa Baumberger (Hrsg.): DADA. Performance & Programme. Zürich 2017, S.-127-144. Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 63 Bezug, ist allerdings auf eine ganz andere Art und Weise mehrsprachig als das Simultangedicht, wobei mit dem Hinweis darauf, dass hier unterschiedliche Sprachen in einer Stimme miteinander abwechseln, analytisch gesehen noch relativ wenig gewonnen ist. 43 Ebene Schweinsblase Kesselpauke Zinnober cru cru cru Theosophia pneumatica die große Geistkunst = poème bruitiste aufgeführt zum erstenmal durch Richard Huelsenbeck DaDa oder oder birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum oder Bohraufträge für leichte Wurfminen-Rohlinge 7,6 cm Chauceur Beteiligung Soda calc. 98/ 100 % Vorstehund damo birridamo holla di funga qualla di mango damai da dai umbala damo brrs pffi commencer Abrr Kpppi commence Anfang Anfang sei hei fe da heim gefragt Arbeit Arbeit brä brä brä brä brä brä brä brä brä sokobauno sokobauno sokobauno Schikaneder Schikaneder Schikaneder dick werden die Ascheneimer sokobauno sokobauno die Toten steigen daraus Kränze von Fackeln um den Kopf sehet die Pferde wie sie gebückt sind über die Regentonnen sehet die Paraffinflüsse fallen aus den Hörnern des Monds sehet den See Orizunde wie er die Zeitung liest und das Beefsteak verspeist sehet den Knochenfraß sokobauno sokobauno sehet den Mutterkuchen wie er schreiet in den Schmetterlingsnetzen der Gymnasiasten sokobauno sokobauno es schließet der Pfarrer den Hó-osenlatz rataplan rataplan den Hóosenlatz und das Haar steht ihm au-aus den Ohren vom Himmel fä-ällt das Bockskatapult das Bockskatapult und die Großmutter lüpfet den Busen wir blasen das Mehl von der Zunge und schrein und es wandert der 43 Huelsenbeck, Richard: Phantastische Gebete [1916]. Berlin 2 1920, S.- 7f. Ausführlichere Interpretationen dieses Gedichts finden sich bei Engel, Manfred: Wildes Zürich. Dadaistischer Primitivismus und Richard Huelsenbecks Gedicht „Ebene“. In: Jörg Robert/ Friederike Felicitas Günther (Hrsg.): Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S.- 393-419, hier S.- 411-418, und bei Nenzel, Kleinkarierte Avantgarde, S.-357-422. 64 Till Dembeck Kopf auf dem Giebel es schließet der Pfarrer den Hó-osenlatz rataplan rataplan den Hóosenlatz und das Haar steht ihm au-aus den Ohren vom Himmel fällt das Bockskatapult das Bockskatapult und die Großmutter lüpfet den Busen wir blasen das Mehl von der Zunge und schrein und es wandert der Kopf auf dem Giebel Dratkopfgametot ibn ben zakalupp wauwoi zakalupp Steißbein knall- Blasen verschwitzt hat o Pfaffengekrös Himmelseverin Geschwür im Gelenk balu blau immer blau Blumenpoet vergilbt das Geweih Bier bar obibor baumabor botschon ortitschell seviglia o ca sa ca ca sa ca ca sa ca ca sa ca ca sa ca ca sa Schierling in Haut gepurpur schwillt auf Würmlein und Affe hat Hand und Gesäß O tscha tschipulala o ta Mpota Mengen Mengulala mengulala kulilibulala Bamboscha bambosch es schließet der Pfarrer den Hó-osenlatz rataplan rataplan den Hóosenlatz und das Haar steht ihm au-aus den Ohren Tschupurawanta burruh pupaganda burruh Ischarimunga burruh den Hó-osenlatz den Hó-osenlatz kampampa kamo den Hó-osenlatz den Hó-osenlatz katapena kamo katapena kara Tschuwuparanta da umba da umba da do da umba da umba da umba hihi den Hó-osenlatz den Hó-osenlatz Mpala das Glas der Eckzahn trara katapena kara der Dichter der Dichter katapena tafu Mfunga Mpala Mfunga Koel Dytiramba toro und der Ochs und der Ochs und die Zehe voll Grünspan am Ofen Mpala tanó mpala tanó mpala tanó mpala tanó ojoho mpala tanó mpala tanó ja tanó ja tanó ja tanó o den Hó-osenlatz Mpala Zufanga Mfischa Daboscha Karamba juboscha daba eloé Grob lässt sich das Gedicht in drei Teile einteilen, die eine je spezifische Form des Umgangs mit Sprachvielfalt zeigen. Der erste Teil (Vers 1 bis 10) ist eine Art programmatische Einleitung. Es wird Auskunft darüber gegeben, womit man es zu tun hat: mit „Theosophia pneumatica“, „große[r] Geistkunst“, einem „poème bruitiste“ („Kesselpauke“! ) vom Dada Huelsenbeck, das sich in das Zeichen von Fasnacht („Schweinsblase“, Utensil der badisch-alemannischen Fasnacht) und Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 65 rohem Unsinn („Zinnober cru cru cru“) stellt und dabei das Kriegsgeschehen bzw. die Kriegsindustrie (und ihre Gewinne) als Hintergrund aufruft - es ist von „Bohraufträge[n]“ für die Wurfminenproduktion, von einer „Beteiligung“ und von einem Stoff die Rede, der im Ersten Weltkrieg für die Dekontamination nach Giftgasangriffen benutzt wurde. 44 Bevor diese Passage in die auf Deutsch und Französisch geäußerte Aufforderung (? ) anzufangen mündet, moduliert sie die Sprachigkeit der Wörter, aus denen sie zusammengesetzt ist. Der lautmalerische Anteil des Kinderreims „birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum“ wird romanisiert zu „birridamo“ und leitet in eine Abfolge romanisch klingender Wörter über, deren Sinn sich nicht recht zu verfestigen scheint. Damit wird im Bereich des nicht-semantisierten Lautmaterials eine Art graduelle oder auch ambivalente Sprachigkeit erzeugt - eine Gradation, die den krassen Gegensatz zwischen den durch die involvierten Sprachen konnotierten Kriegsparteien konterkariert. 45 Der zweite Teil des Gedichts (Vers 11 bis 38) arbeitet größtenteils mit deutschsprachigem Material, das teils in den Bereich der nicht oder nur schwach semantisierten Klanglichkeit überführt wird („brä brä…“, „sokobauno“). Einzige Ausnahmen sind hier das englische, aber im Deutschen eingebürgerte „Beefsteak“ und die französische Onomatopöie „rataplan“. Mit Emanuel Schikaneder wird der Autor des Librettos zu Mozarts Zauberflöte aufgerufen - vielleicht motiviert durch die Tatsache, dass sich Schikaneder als Theatermacher mit spektakulären, auf Effekt wie Affekt zielende Produktionen einen Namen machte, bevor er kurz vor seinem Tod geisteskrank wurde. Sodann evoziert die fünffach wiederholte Aufforderung „sehet“ Krieg und körperliche Versehrtheit (Tote mit „Kränze[n] von Fackeln um den Kopf“, „Knochenfraß“), Weltuntergang („Paraffinflüsse“, die „aus den Hörnern des Monds“ fallen), den irritierend-verstörenden Umgang mit menschlicher Körperlichkeit („sehet den Mutterkuchen wie er schreitet in den Schmetterlingsnetzen / der Gymnasiasten“), eine schwer kategorisierbare Naturkonstellation (der zeitunglesende See) - und mit den trinkenden Pferden eine völlig alltägliche Szene. Man hat es meines Erachtens mit einer Art Kontrafaktur expressionistischer Verfahren zur Ästhetisierung von Krieg und Apokalypse zu tun, wie sie sich besonders prominent bei Georg Heym, August Stramm oder Georg Trakl finden, genauer: einer Reflexion auf die dort betriebene oder zumindest beschriebene (an-)ästhetische Überhöhung des Geschehens ins Kosmische: Die Wahrnehmung der körperlichen Konkretion von „Knochenfraß“ und „Mutterkuchen“ scheint so gedämpft, dass sie dem Anschein nach 44 Vgl. Engel, Wildes Zürich, S.-114f. 45 Diese schwankende Sprachigkeit des schwach semantisierten Materials im Gedicht konstatiert auch Engel, Wildes Zürich, S.-114. 66 Till Dembeck völlig unproblematisch in poetische Bildlichkeit (Zauberflöte! ) integriert werden kann. Die (an-)ästhetisch ausgeblendete Differenz zwischen gewalt- und triebhaftem, körperlichem Geschehen einerseits und dessen kulturpolitischer Überhöhung andererseits wird allerdings im Folgenden ihrerseits zum Gegenstand der Betrachtung - hier wird gewissermaßen der Gestus der vorangehenden Verse selbst unterlaufen. Dies geschieht mittels einer mehrfach wiederholten Szene, die sich aus einem Pfarrer, einem „Bockskatapult“, einer Großmutter und einem schreienden Wir zusammensetzt. Der Pfarrer erscheint in einer durch die im Text angezeigte Vortragsweise besonders hervorgekehrten Körperlichkeit („Hó-osenlatz“ 46 , „Haar […] a-aus den Ohren“), deren Kontrast zu seiner vorgeblichen Würde ein Klappern verursacht („rataplan rataplan“); an Stelle einer Wurfmine befördert das Bockskatapult sich selbst durch die Luft; die ebenfalls vormals immer ehrwürdige Großmutter wird nur noch mit ihrem Busen in Verbindung gebracht; und das Schreien des Wir wie auch die surreale Tätigkeit des Kopfs (er „wandert […] auf dem Giebel“) sind vielleicht nur die Reaktion auf dieses Auseinanderfallens von kultivierter, in die zweckrationale Organisation der Gesellschaft eingefügter Fassade und dem Triebleben im Hintergrund. 47 Der dritte Teil des Gedichts (Vers 39 bis 67) setzt dieses ‚Thema‘ fort, indem er teils abstoßende Körperlichkeit aufruft: „Steißbein knall- / blasen / verschwitzt hat o Pfaffengekrös […] Geschwür im Gelenk“, heißt es, und später: „Schierling in Haut gepurpur schwillt auf Würmlein und Affe hat Hand / und Gesäß“. Auch auf Suchtverhalten kommt der Text zu sprechen: „blau immer blau […] Bier bar“. Diese Körperlichkeit steht weiterhin im Kontrast zum zivilisierten Personal („Pfaffe“, „Blumenpoet“) - ähnlich, wenn der tierische „Eckzahn“ in die Nähe des „Dichter[s]“ gerückt wird. Diese Kontrastierung findet ihren Höhepunkt kurz vor dem Ende des Gedichts in den Worten „Dytiramba toro und der Ochs und der Ochs“, in denen eine Form der poetischen Begeisterung mit dem Kinderreim des Beginns („birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum“) in Verbindung gebracht wird: Der Dithyrambus als Erscheinungsform kulturkonstitutiver Rituale wird mit tierischem Wahnsinn („toro“ bzw. „Ochs“ verhalten sich ganz und gar artuntypisch) bzw. mit konsequenzlosem kindlichem Unsinn in eins gesetzt - was allerdings vielleicht insofern durchaus passend und insofern weniger kontrastiv ist, als der Dithyrambus sich den Wahn ja immer schon zunutze macht. 46 Im Erstdruck von 1916 fehlt allerdings der Akzent auf der ersten Silbe von „Hó-osenlatz“ (vgl. Engel, Wildes Zürich, S.-413). 47 Engel bezeichnet die im gesamten zweiten (und auch teils im dritten) Teil des Gedichts zu konstatierenden Verfahren einer Kontrastierung der „[b]ürgerliche[n] Lebens- und Wertewelt“ mit „Tabuvokabular“ (Engel, Wildes Zürich, S.- 416) und apokalyptischer Bildlichkeit als „Schock- und Groteskmontage“, von der sich die ebenfalls vorkommende „[a]bstrakte Konstruktionsmontage“ unterscheiden lasse (S.-417). Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 67 Es scheint mir kein Zufall, dass gerade in diesem dritten Teil des Gedichts eine starke Einmischung exotischer Lautfügungen und Afrikanismen zu beobachten ist: Zahlreiche pränasalierte Konsonanten sowie die annähernde Gleichverteilung von Vokalen und Konsonanten sollen wohl ‚afrikanisch‘ anmuten und sind es teilweise tatsächlich. 48 Der Schlussteil des Gedichts vollzieht so zunehmend auch auf der Ebene von Lautlichkeit und Sprachigkeit, was der Mittelteil durch die Exposition des Geschehens um Pfarrer, Großmutter usw. bildlich entwirft: die Einebnung von Hierarchien, wie sie für die kriegführenden Parteien konstitutiv waren, im Sinne eines literarischen Primitivismus. So lässt sich der Titel „Ebene“ verstehen: Es geht um den Versuch einer Verflachung der Zivilisationsarchitektur und ihren Sinndimensionen. 49 Die Anklänge an eine Poetik des Primitivismus stellen dann den Versuch dar, kulturkonstitutive, allenfalls affektiv gesteuerte, insgesamt aber ihrer Selbstorganisation überlassene sprachliche Kreativität freizusetzen - wie sie dann womöglich in der Aufführungssituation auch ausgelebt werde konnte. Dabei bleibt aber die Auflösung des Affekts in Unverbindlichkeit und Unsinn - „birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum“ - entscheidend. Es handelt sich keineswegs um eine anti-moderne Form des Primitivismus, sondern um eine solche, der die für das Modernebewusstsein konstitutive zeitliche Dichotomie zwischen Moderne und Vormoderne schlicht gleichgültig ist: Es geht weder darum, zurück vor eine fatale Epochenschwelle, noch darum, über die verdorbene Gegenwart hinaus zu gelangen. In Balls „Totenklage“, einem der Lautgedichte, in denen der Autor, wie bereits zitiert, angeblich „in Bausch und Bogen auf die […] verdorbene und unmöglich gewordene Sprache“ 50 verzichtet, ist ebenfalls eine Botschaft aus Afrika eingeschrieben. 48 Viele Wörter in dem Gedicht sind, wie Michael White hervorgehoben hat, schlicht afrikanische Ortsnamen; White, Michael: Umba! Umba! Andersklang, Gleichklang. In: Ralf Burmeister/ Michaela Oberhofer/ Esther Tisi Francini (Hrsg.): dada Afrika. Dialog mit dem Fremden. Zürich/ Berlin 2016, S.- 165-171. „Umba“ ist ein Fluss in Afrika (S.- 165), „Mpota, Kampampa, Katapena und Mfunga“ sind „ebenfalls die Namen ostafrikanischer Orte“ (S.- 170). Zu den Afrikanismen in der Lyrik des Dada vgl. auch Hélène Thiérard: Negergedicht, Lautgedicht? Jedem das eigene Fremde. In: Ebd., S.-22-28. 49 So Engel, Wildes Zürich, S.-418. Eine andere Deutung ergibt sich aus der Nähe des Titels „Ebene“ zu dem französischen Wort für Ebenholz, ébène , das nicht nur zeitgenössisch afrikanische Kunst assoziiert. 50 Ball, Gedichte, S.- 71 (Erstdruck in De Stijl Nr.- 85/ 86, Leiden 1928). Balls Lautgedichte sind die wahrscheinlich am ausführlichsten interpretierten literarischen Texte des Dada. Zum Entstehungshintergrund und zu Vorbildern bzw. zum konzeptuellen Hintergrund vgl. Riha, Karl: Übers Lautgedicht. In: Sprache im technischen Zeitalter 53-56 (1975), S.- 260-285, hier S.- 260-270. Speziell zum Einfluss anarchistischen Denkens auf Balls Entwicklung der Lautpoesie vgl. van den Berg, Hubert: Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zürich und Berlin. Heidelberg 1999, S.- 258-264. Jürgen Brokoff interpretiert 68 Till Dembeck Totenklage Ombula Take Biti Solunkola tabla tokta tokta takabla taka tak tabula m’balam tak tru - ü wo-um biba bimbel o kla o auwa kla o auwa kla- auma o kla o ü kla o auma klinga- o - e-auwa ome o-auwa klinga inga M ao- Auwa omba dij omuff pomo- auwa tru-ü tro-u-ü o-a-o-ü mo-auwa gomun guma zangaga gago blagaga szagaglugi m ba-o-auma szaga szago szaga la m’blama bschigi bschigo bschigi bschigi bschiggo bschiggo goggo goggo ogoggo a-o-auma Balls Lautgedichte von 1916/ 17 als Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der „Entmachtung“ des Ich zu Beginn des 20. Jahrhunderts (ders.: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, S.-519). Ball wähle gegenüber der zeitgenössischen Alternative zwischen „Selbstverhärtung“ (ebd., S.-518, Brokoff zitiert hier Sloterdijk) und „Selbstversenkung“ (ebd., S.-519) ein Verfahren der Sprachreinigung: „Das dadaistische Lautgedicht bildet […] nicht nur den Prozess des Sinnverlustes sprachkünstlerisch ab, sondern erteilt zugleich allen Versuchen, den verloren gegangenen Sinn zu regenerieren und wiederauferstehen zu lassen, eine Absage.“ (Ebd., S.-527) Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 69 Das erste Wort des Gedichts, „ombula“, lässt sich, den Angaben der neuen kritischen Ausgabe zufolge, 51 mit dem Verb „omboleza“, Suaheli für ‚beklagen‘, ‚betrauern‘, in Verbindung bringen, und auch einige der weiteren Worte aus dem Suaheli, die in dieser Ausgabe verzeichnet sind, passen zu einer Totenklage, etwa „taka“, ‚wollen, wünschen, verlangen‘ in Verbindung mit „m’balam“, das nach dem Wort ‚mbali‘, ‚weit, entfernt‘ klingt, und „omba“, ‚bitten, beten, beschwören‘. Dem Auftakt der „Totenklage“, der von einer hohen Dichte afrikanischen und anderen außereuropäischen Sprachmaterials gekennzeichnet ist, folgt eine Fortsetzung, die in ihrer Lautmalerei dem Deutschen alles in allem recht nahe steht. Das beginnt mit der Einführung eines deutschen Umlauts in „tru - ü“, setzt sich fort in der Anspielung auf den Schweizer Ort Auw unweit von Zürich und mündet in ein ausgedehntes Spiel mit den Silben „kla“, „o“, „au“ und „kling“, die, der Titel legt es nahe, als buchstäblich im Hals steckenbleibende ‚Klage‘, als Klage- und Schmerzlaute sowie als ebenfalls abbrechendes ‚klingen‘ interpretiert werden können. Nach einer kurzen Wiederaufnahme der afrikanischen Tonspur durch „omba“ geht das Gedicht in eine Passage über, deren Sprachigkeit weniger klar ist. Anklänge an deutsche Wörter finden sich allenfalls in „blagaga“ - einer Kombination von Morphemen, die Belanglosigkeit bzw. Verrücktheit assoziieren - und gegen Ende in dem sechsmal wiederholten Morphem „bschi“, bevor die Klage zum Schluss in ein Jandl’sches ‚ogottogottogott‘ überzugehen scheint. Anders als in Ernst Jandls berühmtem Gedicht aber hat dieser Schluss nach meinem Dafürhalten nichts Komisches an sich. Im Gegenteil scheint sich mir hier der Gestus der im Hals steckengebliebenen Klage in affektiv verstärktem Modus zu wiederholen. Die Reduktion der immerhin noch gut assoziierbaren Morpheme auf ein phonemisches Minimum signalisiert, ja, verkörpert Zorn und Verzweiflung. Dieser Rückgang auf die affektive Ebene - erklärtermaßen ging es Ball ja bei seiner „Buchstaben-Alchimie“, um die „emotional[e] Zeichnung“ - ist es letztlich, der auch die sprachübergreifende Struktur des Gedichts motiviert: Die sprachliche Reduktion des Einzelsprachlichen angesichts überwältigenden Affekts erzeugt eine gewisse Übergängigkeit zwischen den Sprachen - d. h., die Affektivität greift hier die Grundlagen der Einzelsprachigkeit selbst an. Es geht insofern vielleicht weniger um die Umsetzung einer primitivistischen Poetik, sondern eher um den Appell an vorsprachlich oder protosprachliche Gemeinschaft und Spiritualität. 52 51 Ball, Gedichte, S.-223. 52 Wilke weist in seiner Interpretation des ersten Lautgedichts Hugo Balls, „gadji beri bimba“ (ders., Da-da, S.- 653-659) darauf hin, dass die Reduktion von Lautgedichten auf das in irgendeiner Weise semantisierbare Material unzureichend ist, weil dadurch die artikulatorische Bewegung, die gerade Balls Gedichte ins Zentrum ihres Interesses stellen, ausge- 70 Till Dembeck In seiner kulturpolitischen Schlagrichtung unterscheidet sich Balls Gedicht so von den bisher betrachteten Texten. Auch hier geht es zwar um die Aktivierung der Triebkräfte sprachlicher Kreativität, aber der Text ist zugleich sehr viel mehr ‚Ausdruck‘, wenn auch nicht-semantisierter: Er versucht nicht nur, den Affekthaushalt der Rezipienten freizusetzen bzw. zu befreien, sondern appelliert zugleich an bestimmte Affekte, die wiederum in vor-sprachige Sprache gefasst werden sollen. Diese konkrete Orientierung auf ein neues Ziel hin, die sich ihren Konsequenzen nicht, wie bei Huelsenbeck, durch den Rückzug in den Unsinn verweigert, ist vielleicht auch allgemein ein Moment, in dem sich Ball von seinen Mitstreitern, von deren Aktivitäten er sich ja auch schon kurze Zeit später distanzierte, unterscheidet. 4 Dada als Kulturpolitik Alles in allem scheinen für die Kulturpolitik von Dada folgende Punkte entscheidend zu sein - unter der Voraussetzung, dass die hier in den Blick genommenen Texte einigermaßen repräsentativ sind: Erstens wehren sich die Texte gegen die Einschränkungen und die kulturpolitischen Konsequenzen von Einzel- und Muttersprachlichkeit und streben eine Aktivierung von Sprachkreativität an, die in den Bereich der dada-Muttersprachlichkeit zurückgeht. Dieses Streben richtet sich zweitens gegen die nicht nur für die Semantik der Muttersprache, sondern insbesondere auch für die kriegführenden Nationen charakteristische Ausblendung der Differenz zwischen triebhafter Selbstorganisation (nebst zugehöriger Gewalt und zugehörigem Leiden) und Zweckrationalität. In diesem Zusammenhang werden drittens unterschiedliche Formen literarischer Mehrsprachigkeit ausgetestet, die Sprachigkeiten kontrastieren, graduieren oder ganz auflösen. Im Einzelnen bestehen klare Unterschiede zwischen den Texten: Das Simultangedicht bezieht sich sehr unmittelbar auf die Bigotterie des Militärs, relativiert durch klangliche Interferenzen zwischen den Sprachen die Eindeutigkeit der Sprachzuordnung und dekonstruiert so die Bedingungen der Möglichkeit von Kriegsbereitschaft. Mit anderen Techniken erreicht Huelsenbecks Gedicht eine ähnliche Verunsicherung der Sprachigkeiten, betreibt aber unter anderem durch die Nutzung von Afrikanismen eine primitivistische Verflachung der für die Moderne kennzeichnenden Kulturhierarchien, die allerdings ihrerseits in den Unsinn zurückgenommen wird. Diese Selbstrelativierung im Zeichen des blendet wird. In der Tat ist die Bewegung vom schwächer Semantisiertem ins stärker Semantisierte charakteristisch für Balls Lautgedichte (und auch für „Totenklage“), und man kann diese Bewegung schon dann, wenn man keine polyvalente Sprachigkeit konstatiert (was Wilke allerdings auch tut! ), als Reflexion auf proto-sprachliche Operationen deuten. Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada 71 Unsinns fehlt wiederum bei Ball, dessen Poetik des Lautgedichts, wie gesehen, zwar auf einen ‚Rückzug‘ ausgerichtet ist, aber gerade darin an eine konkretere, bestimmte Affektstruktur appelliert. 53 Ball ist wahrscheinlich derjenige Vertreter des Dada, der noch am ehesten mit einer positiven Form von Kulturpolitik in Verbindung gebracht werden könnte - also mit konkreten Zielen und Programmen, denen sich die anderen konsequent verweigern. Von Beginn an gibt es diesen Kontrast zwischen Ball und den übrigen Mitgliedern des Zürcher Dada, die in ihrer Abwehrhaltung gegenüber jeder Form von Pathos und Bedeutsamkeitsgesten weitergehen und sich klarer gegen jegliche kulturpolitische Hypostasierung von Signifikanz stellen. Damit soll der in der Forschung verbreiteten Tendenz, das Alleinstellungsmerkmal von Dada gegenüber anderen Avantgarden in der absoluten Gegnerschaft zu Kunst und Kultur zu sehen und dem Dada so kulturpolitischen Nihilismus zu unterstellen, nicht das Wort geredet sein. 54 Die konstruktive Dimension des Dada, wie sie beispielsweise auch Huelsenbecks, Tzaras und Jancos Schaffen prägt, sollte man nicht unterschlagen - immerhin geht es allen diesen Künstlern um die Entzündung von Kreativität. 55 Dennoch muss man sehen, dass Dada zugleich ostentativ darauf verzichtet, kulturpolitische Konsequenzen aus dem eigenen Tun und Schaffen abzuleiten. So hat die Freisetzung sprachlicher Kreativität bei Huelsenbeck, Tzara und anderen zwar durchaus eine Form des ‚ursprünglicheren‘ Umgangs mit Sprache zum Ziel, dies aber entspringt weder - und hier bin ich bei Ball dann nicht so sicher - dem Wunsch nach kultureller Regression, noch lässt es sich in irgendeine Form von Ursprünglichkeitspathos übersetzen. Was die Autoren des Dada vermeiden wollen, ist, dass aus den qua Dada erweckten Affekten und der ihnen inhärenten Kreativität konkrete Kulturpolitik abgeleitet wird, wie das beispielsweise für viele Formen des Expressionismus der Fall gewesen ist. Dem verweigert man sich - und darin besteht der vierte und wichtigste Punkt von Dada als Kulturpolitik: Man will zwar Affekte erzeugen, diese aber, anders, als das gerade im Namen des Muttersprachennarrativs geschieht, weder nutzen noch mit ihnen identifiziert werden. Dada will 53 Wilke kommt allerdings zu dem Schluss, bei Ball (und allgemein in der Lautpoesie) gehe es nicht um einen „‚actual‘ return to primary, pre-linguistic stage“, sondern um eine „secondary poetic reflection on an empirical origin in which the contours of human speech arise“ (ebd., S.-665). 54 Vgl. z. B. Korte, Hermann: Die Dadaisten. Reinbek bei Hamburg 1994. 55 Van den Berg, der im Detail die Wechselbeziehungen zwischen den Protagonisten des Dada und dem politischen Anarchismus rekonstruiert, sieht in der Selbstdarstellung vieler Vertreter der Dada (vor allem Huelsenbecks) als Nihilisten eine nachträgliche Verfälschung (ders.: Avantgarde und Anarchismus, S.-438-441); er kommt umgekehrt zu dem Schluss, dass Dada keinesfalls auf die Negation von Kunst, Kultur und Sinn aus, sondern „primär ein konstruktives Projekt gewesen“ sei (ebd., S.-445). 72 Till Dembeck die Kreativität, verzichtet aber auf kulturpolitische Konsequenz. Wenn es Dada um die Provokation von Affekten geht und dazu auf Bereiche jenseits von Sprachigkeit zugegriffen wird, dann ist die eigentliche Pointe aber doch die, dass zugleich programmatisch ausgeschlossen wird, dass daraus etwas folgen könnte. Vielleicht liegt darin zumindest der Ansatz einer Erklärung für die Tatsache, dass die jeweiligen Dada-Bewegungen so kurzlebig gewesen sind bzw. in Bewegungen aufgegangen sind, die ein sehr viel dezidierteres kulturpolitisches Programm vertreten haben - wie zum Beispiel der Surrealismus. Jedenfalls aber liegt in Dadas Verzicht auf kulturpolitische Konsequenz eine gewisse Parallele zu Saussure. Nicht nur war die Geste des Rückzugs und des Verzichts auf kultur- oder wissenschaftspolitische Konsequenz für Saussure als Person charakteristisch. Vielmehr scheint de Saussures Konzentration auf die Beschreibung der Grundmechanismen sprachlicher Kreativität ihn geradewegs in den wissenschaftlichen Vorruhestand geführt zu haben. Er konnte la langue zwar als kreativen und vielleicht sogar als potentiell mehr- oder vor-sprachigen Mechanismus denken, leitete daraus aber kein operationalisierbares Forschungsprogramm ab. Die langue -Linguistik hat genau dies getan - aber eben um den Preis einer Hypostasierung des Muttersprachlers mit all seinen kulturpolitischen Begleiterscheinungen. Es wäre zu diskutieren, ob die Ummünzung der Impulse, die Dada gegeben hat, in konkrete Kulturpolitik durch anschließende Avantgarden ähnliche Einseitigkeiten zur Folge gehabt hat. „Viersprachig verbrüderte Lieder in entzweiter Zeit“. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan Jürgen Brokoff 1 Einleitende Bemerkung Für die Reflexion von Elementen einer ‚Poetik der Mehrsprachigkeit‘ wäre neben der theoretischen Betrachtung des Zusammenhangs von Literatur und Mehrsprachigkeit und einer diesbezüglichen Begriffsbildung die Bedeutung historisch-politischer Konstellationen zu ermessen, in die literarische Mehrsprachigkeit eingebunden ist. Es geht dann um die Überlagerungen, Konkurrenzen und Verflechtungen mehrerer Sprachen, die ein gleichermaßen konflikthaftes wie produktives Potential zu entfalten vermögen. Das Nebeneinander, Gegeneinander und Ineinander der Sprachen bildet eine relationale Struktur. Diese spezifiziert sich zeitlich wie räumlich, letzteres vor allem in regionaler Hinsicht. Dabei sind Formen der Konkurrenz und des Konflikts zweier Sprachen in Grenzlagen (etwa in Kärnten oder im Elsass) von Gemengelagen mit mehr als zwei Sprachen zu unterscheiden. Mit Blick auf die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts sind hier unter anderem die sogenannte Prager deutsche Literatur bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten 1939 und die Literatur deutschsprachiger Juden in der Bukowina bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anzuführen. Bevor auf Texte von Rose Ausländer und Paul Celan eingegangen wird, die sich zumindest in Teilen in die Konstellation der Literatur der Bukowina und deren Struktur der Mehrsprachigkeit einfügen lassen, ist ein Zitat an den Anfang zu stellen, das dem Kontext der Literatur der deutschsprachigen Prager Juden entstammt. Der Schriftsteller und Sprachphilosoph Fritz Mauthner (1849-1923), der als Sohn einer jüdischen Gelehrten- und Kaufmannsfamilie in Prag aufgewachsen ist 74 Jürgen Brokoff und wichtige Werke zur Sprachkritik verfasst hat, schreibt 1918 in seinen Erinnerungen : [M]ein Sprachgewissen, meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner „Vorfahren“ zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. 1 Mauthner differenziert hinsichtlich der Funktionen der drei Sprachen und weist diese als Soziolekte aus: „Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung“, „Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen“, „ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments“. 2 An Mauthners Beschreibung fallen zwei Aspekte auf. Erstens, dass er die mitgeführten Sprachen „Leichen“ nennt. Sind sie, ließe sich fragen, eines natürlichen Todes gestorben oder gewaltsam zu Tode gekommen? Und zu Gunsten welcher anderen Sprache? Obwohl dies unklar bleibt, zeigt der Gebrauch des Wortes „Leiche“ eine affektiv aufgeladene Atmosphäre an, die mit dem in Prag am Ende des 19. Jahrhunderts stattfindenden „Sprachenstreit und Kulturkampf“ 3 zusammenhängt. Mauthner schreibt im Jahr 1918, dass er „heute noch aufheulen“ 4 könnte, weil er auf einer vom Tschechischen umgebenen Sprachinsel des Deutschen und in der schwierigen Lage assimilationsbereiter Juden aufgewachsen sei, die aus kulturellen Gründen die deutsche Sprache gewählt haben. Er sei ohne die „Kraft und die Schönheit einer Mundart“ 5 groß geworden. So formuliert kein neutraler Beobachter, sondern ein von „Sprachenstreit und Kulturkampf“ affizierter Teilnehmer. In anderem Zusammenhang spricht Michail Bachtin später in seiner an der Dialogizität orientierten Poetik der Sprachen-, Stimmen- und Redevielfalt von der „dialogisch erregte[n] und gespannte[n] Sphäre der fremden Wörter“ 6 und betont ebenfalls die affektive Dimension der Polyphonie. Zweitens ist an Mauthners Beschreibung auffällig, dass er die „Leichen“ der Sprachen Deutsch, Tschechisch und Hebräisch „in [s]einen eigenen Worten“ herumträgt. Es geht also um latent anwesende Formen von Mehrsprachigkeit. Der Hinweis auf die in den Worten ‚leichenhaft‘ verborgene Mehrsprachig- 1 Mauthner, Fritz: Erinnerungen. Bd.-1: Prager Jugendjahre. München 1918, S.-51. 2 Ebd., S.-32. 3 Schlaffer, Heinz: Kulturelle Bedingungen der deutschsprachigen Prager Literatur. In: Marino Freschi (Hrsg.): Saggi di Letteratura Praghese. Neapel 1987, S.-55-67, hier S.-57. 4 Mauthner, Erinnerungen, S.-32. 5 Ebd. 6 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Übers. v. dems. u. Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S.-154-300, hier S.-169. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan 75 keit bezieht sich erkennbar nicht auf manifeste Formen von Mehrsprachigkeit, wie sie etwa durch das abwechselnde Schreiben von Texten in verschiedenen Sprachen (‚Sprachwechsel‘), durch das situative Umschalten zwischen verschiedenen Sprachen ( code switching ) oder durch die Integration fremdsprachiger Elemente in die zugrunde gelegte Sprache (‚Anderssprachigkeit‘) entstehen. 7 Vielmehr lässt sich annehmen, dass damit subkutane, unsichtbare, implizite Formen einer in sich mehrsprachig verfassten Sprache gemeint sind. Mit dieser in sich mehrsprachig verfassten Sprache kommen Literatur und Poesie ins Spiel. Zwei Zitate von Autoren der Gegenwartsliteratur, deren Werke aus den Kontexten der rumäniendeutschen Literatur erwachsen sind, mögen dies verdeutlichen. Die Schriftstellerin Herta Müller, die ihre Texte von Beginn an auf Deutsch verfasst, hat darauf hingewiesen, dass in diesen deutschsprachigen Texten das Rumänische „mitschreibe“: Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist. 8 Diese Formulierung lässt sich mit einer Denkfigur von Ausländer in Beziehung setzen, derzufolge die Sprache das federführende Subjekt ist und nicht ein Individuum, das die Sprache als Mittel zum Zweck benutzt. 9 Eine ‚Poetik der Mehrsprachigkeit‘, die aufgrund der vielfältig beteiligten Sprachen in sich plural ist, lässt sich, zweitens, an einem Zitat aus Oskar Pastiors Poetikvorlesung Das Unding an sich von 1994 verdeutlichen. Auch hier geht es um implizite Mehrsprachigkeit, die - wenngleich nur in ‚Spurenelementen‘ nachweisbar - Bedingung des literarischen Schreibens ist: Warum nicht […] die Schiene der Einsprachigkeit durchbrechen? Warum eigentlich nicht bedenkenlos und ohne Rücksicht auf die Philologen diese eingefahrene und, weil man doch mehr im Kopf hat, immer auch zensierende literarische Gewohnheit lyrisch beiseiteschieben und alle biographisch angeschwemmten Brocken und Kenntnisse anderer Sprachen, und seien es auch nur Spurenelemente, einmal quasi gleichzeitig herauslassen? Konkret, wie ich zu sagen pflege: die siebenbürgisch-sächsische Mund- 7 Vgl. umfassend zum Thema: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017. 8 Müller, Herta: Heimat ist das was gesprochen wird. Blieskastel 2001, S.- 21. Zu Herta Müller vgl. den Beitrag von Marion Acker in diesem Band. 9 So heißt es beispielsweise im Gedicht „Nicht vergessen I“: „Heute / hat ein Gedicht / mich wieder erschaffen […] Es hat mich / nicht vergessen / kam zurück zu mir / und schrieb sich / in meine Worte“. Ausländer, Rose: Gedichte. Hrsg. v. Helmut Braun. Frankfurt am Main 2001, S.-264 und im poetologischen Text „Alles kann Motiv sein“ heißt es: „Warum ich schreibe? Weil Wörter mir diktieren: schreib uns.“ Ausländer, Rose: Alles kann Motiv sein. In: Dies., Gedichte, S.-7-12, hier S.-7. 76 Jürgen Brokoff art der Großeltern; das leicht archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch; angelesenes Französisch, Englisch … alles vor einem mittleren indoeuropäischen Ohr … […]. 10 Die affektive Qualität dieser Poetik ist im Durchbrechen der Routinen und Gewohnheiten von Einsprachigkeit zu erkennen, also in einer kämpferischen Sprachgeste, die durchaus gewaltsame Züge besitzt. Pastior stellt sich damit in eine Tradition, die etwa die Mehrsprachigkeit literarischer Übersetzungen als das Aufbrechen der Grenzen von Einsprachigkeit versteht. So heißt es in Walter Benjamins berühmter Abhandlung Die Aufgabe des Übersetzers von 1923, dass der Übersetzer die „morschen Schranken der eigenen Sprache bricht“ 11 und deren Grenzen dadurch erweitert. Gemessen an der forcierten Experimentalästhetik eines Pastior, der im Gedichtband Mein Chlebnikov die russische und deutsche Sprache vereint, dessen Gedichte in den 1980er Jahren verborgene rumänische Sprachsplitter als Form der Ideologiekritik an der Ceaușescu-Diktatur einsetzen, und der in seinem Gesamtwerk ein Pluriversum schwirrender Mehrsprachigkeit evoziert und in Szene setzt, nehmen sich die Texte der Lyrikerin Rose Ausländer vergleichsweise traditionell aus. Aber hier soll es auch nicht um die Suche nach möglichst avancierten Formen von Mehrsprachigkeit gehen, sondern um die Erkundung der Grundlagen von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten einer bestimmten historisch-politischen und kulturellen Konstellation. Von hier aus lässt sich, bei allen sonstigen Unterschieden, eine Verbindung zwischen der Lyrik von Ausländer und Celan herstellen. 2 Rose Ausländer Die 1901 in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, als Rosalie Scherzer geborene Rose Ausländer, ist eine wichtige Stimme der Literatur nach Auschwitz, der Literatur über die Shoah. Ihre Gedichte sind bereits einer ausführlichen poetologischen Lektüre unterzogen worden. 12 In einem erstmals 1976 veröffentlichten Prosatext entwirft Ausländer ein Erinnerungsbild von Czernowitz. In ihren Augen ist Czernowitz nach der Ermordung der jüdischen Bevölkerung 10 Pastior, Oskar: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main 1994, S.-66-67. 11 Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Tableux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. IV/ 1. Hrsg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972, S.-7-65, hier S.-19. 12 Vgl. Lehmann, Annette Jael: Im Zeichen der Shoah. Aspekte der Dichtungs- und Sprachkrise bei Rose Ausländer und Nelly Sachs. Tübingen 1999. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan 77 eine „versunkene Stadt“, eine „versunkene Welt“. 13 Celan nennt in seiner Rede zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises von 1958 die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz eine „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“ 14 . Das Präteritum macht deutlich, dass es sich um die unwiderrufliche Auslöschung einer ganzen Kultur handelt, die der „Geschichtslosigkeit anheimgefallen“ 15 sei. In den einleitenden Passagen von Ausländers Erinnerungsbild fallen besonders zwei Adjektive und eine Passage zur Sprachensituation in Czernowitz auf. Die Stadt wird gleich im ersten Satz „entlegen“ 16 genannt. Von wo aus wird diese Aussage getroffen? Offenbar von einem angenommenen Zentrum aus, dem Czernowitz als Rand erscheint. Und die Stadt wird „buntschichtig“ 17 genannt, was auf die wechselseitige Durchdringung der verschiedensprachigen Kulturen verweist. Daran schließt sich die folgende Passage an: Die verschiedenen Spracheinflüsse färbten natürlich auf das Bukowiner Deutsch ab, zum Teil recht ungünstig. Aber es erfuhr auch eine Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen. Es hatte seine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinandergriffen und dem Wortlaub, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten. 18 Bei aller positiven Konnotation, die die Intaktheit der vor dem Terror der Nationalsozialisten und der Shoah ineinandergreifenden Kulturen und deren bereichernden Einfluss auf die Worte betrifft, ist die Vorstellung einer „Oberfläche des Sprechbaren“ und des darunter liegenden Wurzelwerks, das nicht sprechbar ist, mithin sprachenlos, stumm bleibt, bemerkenswert. Ruht demnach die Mehrsprachigkeit, die, wenn der Begriff sinnvoll ist, irgendeine Form der ‚Sprachigkeit‘ impliziert, 19 auf Verhältnissen, Relationen jenseits der Sprache und des Sprachlichen auf? Darauf wird im Verlauf der Überlegungen zurückzukommen sein. Es hat mit dem zu tun, was Celan „das Geschehene“ und das „Geschehen“ nennt. 20 13 Ausländer, Rose: Erinnerungen an eine Stadt. In: Dies.: Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Helmut Braun. Frankfurt am Main 1991, S.-7-10, hier S.-10. 14 Celan, Paul: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. III. Hrsg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert. Frankfurt am Main 1983, S.-185-186, hier S.-185. 15 Ebd. 16 Ausländer, Erinnerungen an eine Stadt, S.-7. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Vgl. Gramling, David: Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-35-44. 20 Vgl. Celan, Paul: Edgar Jené und der Traum vom Traume. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. III, S.-155-161, hier S.-156; Celan, Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S.-186. 78 Jürgen Brokoff Die Erinnerung an die ineinandergreifenden Kulturen und deren Einfluss auf das Sprechbare wird von Ausländer auch lyrisch gestaltet. Im Gedicht mit dem Titel „Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg“ findet sich die folgende Strophe: Vier Sprachen verständigen sich verwöhnen die Luft 21 Die Rede von den sich verständigenden Sprachen in Czernowitz erinnert an eine Zeit der Übereinkunft, die durch den Zusatz „vor dem Zweiten Weltkrieg“ klar markiert wird. Danach kann von solcher Verständigung nicht mehr die Rede sein. Im Gedicht „Czernowitz. ‚Geschichte in der Nußschale‘“ ist denn auch in der Gestalt eines Paradoxons vom Schweigen „in fünf Sprachen“ 22 die Rede. Im bekannten Gedicht „Bukowina II“ taucht die Formulierung von den vier Sprachen, womit das Rumänische, Deutsche, Ukrainische und Jiddische gemeint sind, wieder auf: Landschaft die mich erfand wasserarmig waldhaarig die Heidelbeerhügel honigschwarz Viersprachig verbrüderte Lieder in entzweiter Zeit Aufgelöst strömen die Jahre ans verflossene Ufer. 23 Auch hier kommt in der Aussage von der Verbrüderung der Lieder eine komplizierte Situation zum Ausdruck. Denn ungeachtet der in der letzten Strophe thematisierten Auflösung der Zeiteinheit der Jahre und dem im Partizip „verflossen“ angezeigten Konturverlust der einstmaligen Flusslandschaft, der mit der Vorstellung von Vergänglichkeit einhergeht, wird die vorangehende dritte Strophe von einer Koinzidenz des semantisch Entgegengesetzten bestimmt. Die 21 Ausländer, Rose: Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg. In: Dies., Gedichte, S.- 32-33, Z.-9-11. 22 Ausländer, Rose: Czernowitz. „Geschichte in der Nußschale“. In: Dies., Gedichte, S.- 28- 29, Z. 7. 23 Ausländer, Rose: Bukowina II. In: Dies., Gedichte, S.-17-18. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan 79 von Liedern vollzogene Verbrüderung findet „in“ entzweiter Zeit statt, scheint also der gegenläufigen geschichtlichen Entwicklung zu trotzen. Diese Reflexion des Gegenläufigen setzt sich in der Überlegung fort, dass in vielen Gedichten Ausländers Wort und Sprache als ein Bereich ausgewiesen werden, der der schreibenden Instanz - und nicht nur ihr - das Überleben sichert: „Schreiben war Leben. Überleben“ 24 . Wort und Sprache sind ein Bereich, der die von der entzweiten Zeit ausgehende Verzweiflung überdauert, wenn auch nicht unversehrt. Im Altersgedicht „Hoffnung IV“ befördert das „aus der Verzweiflung / geborene[] Wort“ die zugestandenermaßen „verzweifelte[] Hoffnung, / daß Dichten / noch möglich sei“ 25 . Und in einem der letzten Gedichte „Tröstung II“ heißt es: „Denk daran / wir haben / ein Königreich geerbt / aus Worten / das überlebt.“ 26 Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses aus Worten bestehende Königreich dem mehrsprachigen Kosmos der „versunkenen Stadt“ Czernowitz entstammt und aufgrund der Erinnerung an die dort stattgefundene Vereinigung der Sprachen und Verbrüderung der Lieder in sich mehrsprachig ist. Der Aspekt des Gemeinschaftsbildenden, der die Vorgänge der Vereinigung und Verbrüderung verbindet, weist dabei auf die soziale Dimension des von Ausländer ins Auge gefassten Sprachgeschehens hin. Dieses besitzt in der „Verbrüderung“ unverkennbar eine affektive Qualität. 3 Paul Celan Der Weg Paul Celans von Czernowitz nach Paris verläuft nicht geradlinig, sondern auf „Umwegen“. 27 Die vom Terror der Nationalsozialisten und den Umbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg erzwungene Migration führt ihn, der überlebt hat, nach der Ermordung seiner Eltern in den Lagern der Nazis zunächst nach Bukarest, wo er Gedichte in rumänischer Sprache schreibt, und dann nach Wien, wo er seine ersten beiden Bücher veröffentlicht. Im Sommer 1948 kommt er in Paris an, wo er bis zu seinem Freitod im Jahr 1970 wohnt. Celan und Ausländer sind sich erstmals in den 1940er Jahren in dem von SS-Truppen besetzten Czernowitz begegnet. Nach dem Krieg besucht Ausländer, die von 1950 bis 1961 in New York lebt und englischsprachige Gedichte schreibt, Celan 1957 in Paris. 24 Ausländer, Rose: Alles kann Motiv sein, S.-10. 25 Ausländer, Rose: Hoffnung IV. In: Dies., Gedichte, S.-272, Z. 2-5. 26 Ausländer, Rose: Tröstung II. In: Dies., Gedichte, S.-329-330, Z. 11-15. 27 Vgl. dazu die Äußerung Celans aus der Bremer Literaturpreisrede von 1958: „Die Landschaft, aus der ich - auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? -, die Landschaft aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein.“ Celan, Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S.-185. 80 Jürgen Brokoff Danach schreibt Ausländer Gedichte wieder in deutscher Sprache und verzichtet fortan auf den Reim. Bevor Celan im Jahr 1952 erstmals wieder deutschen Boden betritt, um an einem Treffen der Gruppe 47 teilzunehmen, und bevor sein Gedichtband Mohn und Gedächtnis erscheint, ist er den Worten seines Biographen Wolfgang Emmerich zufolge ein „Niemand: staatenlos, besitzlos, arbeitslos, namenlos.“ 28 Im März 1949 berichtet Celan in einem Brief an den Zürcher Max Rychner, der als Redakteur der Schweizer Zeitung Die Tat im Februar 1948 einige Gedichte von Celan veröffentlicht, von seiner Lebenssituation in Paris: […] ich muß am Ende dieses Briefes sagen, daß es mir nicht gelungen ist, das zu sagen, was ich sagen wollte, und zwar, daß ich sehr einsam bin, und mir keinen Rat weiß mitten in dieser wunderbaren Stadt, in der ich nichts habe als das Laub der Platanen. 29 Die Einsamkeit hat mit der Ermordung der Eltern und der schwierigen Beziehung zu Ingeborg Bachmann zu tun, aber auch mit dem stockenden Beginn seiner literarischen Karriere. Celans erstes Buch Edgar Jené und der Traum vom Traume erscheint 1948 in Wien, als er die Stadt bereits in Richtung Paris verlassen hat. Der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen , der ebenfalls 1948 nach der Übersiedlung nach Paris in Wien erscheint, enthält so viele Druckfehler, dass sich Celan von Paris aus gezwungen sieht, den Band zurückzuziehen. Immerhin erscheinen im Frühjahr 1948, neben den Gedichten in der von Rychner redigierten Zeitung Die Tat siebzehn Gedichte in einer Wiener avantgardistischen Zeitschrift. 30 Die erste Publikation von Celans Gedichten im deutschen Sprachraum wird in der Zeitung Die Tat von einer falschen Redaktionsnotiz begleitet: Paul Celan ist ein junger Rumäne, der, in einem Dorf rumänischer Sprache aufwachsend, durch merkwürdige Fügung Deutsch erlernt hat und in unsere Dichtung hineingezogen wurde. Auf eigene, auffallend schöne Weise hat er seine Stimme in ihrem Chor erhoben, in dem ursprünglich fremden Element wiedergeboren als ein Dichter. 31 Celan stellt in einem Brief an Rychner klar, dass er das Deutsche nicht als fremde Sprache habe erlernen müssen und verkompliziert im selben Atemzug seine 28 Emmerich, Wolfgang: Paul Celan. Reinbek bei Hamburg 1999, S.-82. 29 Unveröffentlichter Brief vom 3. März 1949. Zitiert nach: Allemann, Beda: Max Rychner - Entdecker Paul Celans. Aus den Anfängen der Wirkungsgeschichte Celans im deutschen Sprachbereich. In: Jens Stüben/ Winfried Woesler (Hrsg.): „Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde“. Acta-Band zum Symposion „Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945“. Darmstadt 1994, S.-280-292, hier S.-287. 30 Zu Celans Wiener Zeit vgl. den instruktiven Band: Großens, Peter/ Patka, Marcus G. (Hrsg.): ‚Displaced‘. Paul Celan in Wien 1947-1948. Frankfurt am Main 2001. 31 Die Tat vom 7. Feb. 1948. Zitiert nach: Rychner, Max: Bei mir laufen Fäden zusammen. Literarische Aufsätze. Kritiken. Briefe. Hrsg. v. Roman Bucheli. Göttingen 1998, S.-399. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan 81 Aussage: „Deutsch ist meine Muttersprache, und doch mußte ich deutsche Gedichte als ein Verbannter schreiben.“ 32 Die Entscheidung des von den Sprachen Rumänisch, Jiddisch, Ukrainisch und Deutsch umgebenen Dichters, trotz des Geschehenen und Erlittenen Gedichte auf Deutsch zu schreiben, wird in den Gedichten selbst thematisch, so schon im frühen Gedicht „Nähe der Gräber“, das 1944 entstanden ist, nachdem Celan von der Ermordung erfahren hat: Kennt noch das Wasser des südlichen Bug, Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug? Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten, wie leise dein Herz deine Engel gelitten? Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden, den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten? Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab Den Hügel hinan und den Hügel hinab? Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? 33 Die Infragestellung des deutschen Reims in der letzten Strophe des Reimgedichts lässt sich im Sinne eines pars pro toto auf die deutsche Sprache insgesamt beziehen. Nimmt man die Infragestellung nicht nur in Bezug auf den Dialog mit der ermordeten Mutter, sondern auch mit Blick auf die Entscheidung ernst, Gedichte in deutscher Sprache „als ein Verbannter“ schreiben zu müssen, so ist dies auch für den späteren Wohnort Paris als Ort des Schreibens relevant. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob deutsche Gedichte in einer deutschsprachigen oder in einer fremdsprachigen Umgebung geschrieben werden. Insofern ist Paris gerade in Celans unausgesetzter Entscheidung, auf Deutsch zu schreiben, stets gegenwärtig. In das Deutschsprachige der Gedichte Celans ist das Französischsprachige des Wohn- und Schreiborts Paris als erste und wichtigste Bedingung eingegangen. Es handelt sich um eine latente Form der Mehrsprachigkeit, die im Sinne einer Mehr-als-Einsprachigkeit zu verstehen ist. Der damit verbundene Zwang, Gedichte „in der Sprache der Mörder“ 34 aus einer Position der existentiellen und sprachlichen Exterritorialität schreiben zu müssen, lässt sich als ein stummer, verschluckter Affekt verstehen, der auf 32 Zitiert nach: Allemann, Max Rychner, S.-285. 33 Celan, Paul: Nähe der Gräber. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. III, S.-20. 34 Wichner, Ernest/ Wiesner, Herbert (Hrsg.): In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz, Bukowina. Ausstellungsbuch. Berlin 1993. 82 Jürgen Brokoff der „Oberfläche des Sprechbaren“ 35 , um Ausländers Formulierung aufzugreifen, nirgends sichtbar oder hörbar wird. Die Poetik des in sich mehrsprachig verfassten Gedichts ist bei Celan eine andere als bei Ausländer. Während bei Ausländer die Mehrsprachigkeit des einstmals Vereinigten und Verbrüderten zumindest in der Erinnerung des lyrischen Worts anwesend ist, wird bei Celan die Sprache des Gedichts ungeachtet seiner mehrsprachigen Verfasstheit in Mitleidenschaft gezogen. Dies reflektiert bereits Celans erste Buchpublikation Edgar Jené und der Traum vom Traume , die äußerlich eine Würdigung des Wiener surrealistischen Malers Jené ist, im Kern aber zentrale Aspekte von Celans Poetologie enthält. 36 Die Reflexion betrifft insbesondere den Begriff des „Geschehenen“, das als ein „das Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes“, als ein „starker Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung“ bezeichnet wird. 37 Aus dieser Verwandlung resultiert eine grundlegende Veränderung der Sprache: Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte […] weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten - was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben! 38 Spätestens, wenn im Kontext dieser Stelle von der „Asche ausgebrannter Sinngebung“ 39 die Rede ist, wird deutlich, dass der Bezugspunkt der Rede von der wesensverändernden Kraft des Geschehenen und der Grund für das Stöhnen der unter Unaufrichtigkeit und Lüge leidenden Worte die Erfahrung der Shoah ist, die in der Geschichte der Menschheit eine tiefgreifende Zäsur bedeutet. In Celans Antwort auf eine Umfrage der Pariser Librairie Flinker von 1958 heißt es: Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. 40 35 Ausländer, Erinnerungen an eine Stadt, S.-7. 36 Vgl. dazu Brokoff, Jürgen: Der frühe Paul Celan und die europäische Avantgarde. In: Stephanie Bung/ Susanne Zepp (Hrsg.): Migration und Avantgarde. Paris 1917-1962. Berlin 2019 [im Druck]. 37 Celan, Edgar Jené und der Traum vom Traume, S.-156. 38 Ebd., S.-157. 39 Ebd. 40 Celan, Paul: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958). In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. III, S.-167-168, hier S.-167. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan 83 „Nicht mehr die Sprache sprechen“ können, die zuvor vielleicht noch möglich schien. Im selben Jahr beschreibt Celan in seiner Bremer Literaturpreisrede den Weg, den die Sprache stattdessen zu gehen hat: Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem. 41 Die Notwendigkeit, dass die Sprache durch das „Geschehen“ hindurchgehen muss und verändert wieder hervortritt, zeigt an, dass Welthaltigkeit und Wirklichkeitsbezug in Celans Poetik eine wichtige Rolle spielen. Vom Engagement absoluter Poesie 42 hat zu Recht Marlies Janz gesprochen. Zugleich deutet sich in der Ambivalenz, dass die Sprache zutage tritt und keine Worte hergibt für das, was geschah, eine Unverfügbarkeit des Geschehens für und durch die Sprache an. Relativiert sich damit die Bedeutung der Sphäre der Sprache, zu der ja auch Mehrsprachigkeit (und deren Poetik) gehört? Der von Celan verwendete Begriff des Geschehens und des Geschehenen könnte in diese Richtung gelesen werden. Geschehen ist etwas anderes als Geschichte, etwa in der strukturalen Erzähltheorie, wo das Geschehen als sinnindifferentes Ereignis verstanden wird, dem erst durch die sprachliche Konstruktion einer Geschichte als narrativer Zusammenhang Sinn gegeben wird. Eingedenk der Formulierung Celans von der „Asche ausgebrannter Sinngebung“, die im Text von 1948 in engster Verbindung mit den Erkenntnisbedingungen des Sprechenden steht, ließe sich die These aufstellen, dass die Sphäre der Sprache vom Geschehen selbst, das jegliche Sinngebung zerstört hat, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies betrifft auch die Frage der Mehrsprachigkeit. 1961 antwortet Celan auf eine zweite Umfrage der Pariser Librairie Flinker , die dem „Problem der Zweisprachigkeit“ gewidmet ist, lapidar: „An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht.“ 43 Was in Celans kurzer Stellungnahme folgt, ist eine ziemlich unwirsche Bemerkung über die „Doppelzüngigkeit“ und die „freudige Übereinstimmung mit dem Kulturkonsum“. 44 Die in solchen Kontexten entstehenden Wortkünste wissen sich, so Celan mit einer kritischen Spitze gegen die 41 Celan, Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S.-185f. 42 Vgl. Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt am Main 1976. 43 Celan, Antwort auf eine Umfrage, S.-175. 44 Ebd. 84 Jürgen Brokoff Konjunkturen des Literaturbetriebs, „polyglott und polychrom“ 45 zu etablieren und in Szene zu setzen. Als Gegenbegriff zu der von ihm abgelehnten „Zweisprachigkeit in der Dichtung“ bringt Celan nicht etwa Einsprachigkeit ins Spiel, was vor dem Hintergrund der skizzierten Poetik einer in sich mehrsprachig verfassten Lyrik auch absurd wäre, sondern einen anderen Begriff. Er schreibt: „Dichtung - das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache.“ 46 Der Begriff des „Einmaligen“, der von Celan mit dem Zusatz des Schicksalhaften versehen wird und offenkundig poetologisch zu verstehen ist, lässt sich mit Jacques Derridas Celan-Lektüre in Beziehung setzen. Ohne auf die gerade zitierte Stelle bei Celan zu verweisen, beginnt Derrida seine Analyse des Gedichts „Schibboleth“ mit einer Erörterung der zeitlichen Bestimmung des Wortes „Mal“ (frz. fois ). 47 Auf die zweite Bedeutung des Wortes „Mal“, das im Deutschen auch ‚Zeichen‘, ‚Fleck‘ und ‚verfärbte Hautstelle‘ im Sinne eines ‚Wundmals‘ meint, geht Derrida interessanterweise nicht ein. Ob diese zweite Bedeutung für Celans Dichtungsbegriff des „schicksalhaft Einmalige[n]“ entscheidend ist und damit erneut ein Fingerzeig auf das der Sprache und Dichtung unverfügbare Geschehen gegeben ist, durch das Sprache und Dichtung selbst in Mitleidenschaft gezogen werden, wäre zumindest zu erwägen. Dann trüge die in sich mehrsprachig verfasste Dichtung Celans, die sich von marktgängigen und kulturindustriellen Formen des Polyglotten und Polychromen zu unterscheiden sucht, unauslöschlich Spuren einer Verletzung oder Verwundung in sich, die auf der „Oberfläche des Sprechbaren“ 48 nirgends manifest würde. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Vgl. Derrida, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 1986, S.-9. 48 Ausländer, Erinnerungen an eine Stadt, S.-7. Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller Marion Acker „Ich traue der Sprache nicht.“ 1 Herta Müllers Schreiben bewegt sich im Spannungsfeld vieler Sprachen und ist zugleich von einem tiefgreifenden Misstrauen gegenüber der Sprache und ihrer Repräsentationsfähigkeit gekennzeichnet. Ein Misstrauen, das - wie die Forschung hinlänglich konstatiert hat - in der Tradition moderner Sprachskepsis steht und biographisch fundiert ist. So richtig die Feststellung ist, dass Müllers Sprachmisstrauen in Erfahrungen der Diktatur gründet, 2 so wenig lässt es sich doch darauf reduzieren. Wie ich anhand des poetologischen Essays „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001) zeigen möchte, konstituieren sich Sprachzweifel und Misstrauen bereits im Erfahrungsraum einer „alleenigen“ Kindheit, mithin in einer affektiven Konstellation, die im Vollzug ihrer Wiederholung stets aufs Neue entworfen und aktualisiert wird. Der Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten Abschnitt soll es darum gehen, Krise und Kritik der Repräsentation in ihrer engen Verschränkung mit Dynamiken der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu betrachten. In Auseinandersetzung mit Ansätzen der affect studies gehen die drei darauffolgenden Abschnitte den ambivalenten Bewegungen nach, die Müllers repräsentationskritische Poetik charakterisieren. Zentral ist die These, dass die Kritik sprachlicher Repräsentation keine Verabschiedung derselben bedeutet, sondern Müllers Poetik vielmehr zwischen Repräsentation und Unmittelbarkeit, Distanz und 1 Müller, Herta: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. In: Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München 2011, S.-96-109, hier S.-98. 2 Vgl. etwa Jung, Werner: Kein Ort. Nirgends. Herta Müllers Poetik der Ortlosigkeit nebst einigen Bemerkungen zur Poetik des Raumes allgemein. In: Andrea Benedek u. a. (Hrsg.): Interkulturelle Erkundungen. Leben, Schreiben und Lernen in zwei Kulturen. Frankfurt am Main u. a. 2012, S.-349-359, hier S.-354. 86 Marion Acker Nähe, Dynamik und Struktur changiert und aus dieser Spannung ihre spezifische Produktivität bezieht. 1 Leiden an der „Lücke“: Krise und Kritik der Repräsentation Müllers Sprachskepsis kommt in beispielhafter Weise in ihrem poetologischen Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ zum Ausdruck, welcher anhand verschiedener Lebensstationen die Sprachbiographie der Autorin nachvollzieht. Er beginnt mit folgender, in der dörflichen Welt der Kindheit angesiedelten Passage: In der Dorfsprache - so schien es mir als Kind - lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücke, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere. 3 Die Passage exemplifiziert ein Verhältnis der Distanz zur Dorfsprache und Dorfgemeinschaft, deren „stumme[s] Einverständnis […] mit den Dingen“ das Kind offenbar „nicht mehr zu teilen“ 4 vermag oder vielleicht eher: noch nie zu teilen vermochte. In Michail Bachtins Terminologie gesagt, spricht die Ich-Instanz in Müllers Essay auf der Höhe eines sprachreflexiven, „galileischen Sprachbewußstseins“ 5 , das im Gegensatz zum naiv-unmittelbaren Sprachempfinden der „meisten Leute“ steht und die Vorstellung eines „absoluten Konnexes“ 6 , einer geschlossenen Einheit von Zeichen und Bezeichnetem durchbricht. Schon gleich zu Beginn des Essays wird damit, noch vor aller expliziten Thematisierung von Mehrsprachigkeit, ein reflexives Sprach- und Differenzbewusstsein ausgestellt, das von der Einsicht in die Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit geprägt ist und sich im weiteren Verlauf des Textes zu einer radikalen Skepsis gegenüber der Sprache und ihrer Repräsentationsfähigkeit verdichtet. Als Folge und Produkt von Entzweiung initiiert die „Lücke“ eine repetitive Bewegung der Verfehlung, die jene Trennung perpetuiert, die sie aufzuheben 3 Müller, Herta: In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main 2008, S.-7-39, hier S.-7. 4 Meier, Lars: „Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt“. Herta Müllers Kleist-Preis- Rede als Grundlage ihrer Poetik. In: Anne Fleig/ Christian Moser/ Helmut J. Schneider (Hrsg.): Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkriptionen. Freiburg i.Br. 2014, S.-181-197, hier S.-187. 5 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Übers. v. dems. u. Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S.-154-300, hier S.-215. 6 Ebd., S.-253. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 87 trachtet. Die „Lücke“ klafft immer wieder von Neuem auf. Noch im Versuch ihrer Überwindung bestätigt sich die Kluft zwischen Ich, Sprache und Welt, die durch die Reflexion auf Sprache allererst hervorgebracht wird: Der Name „Milchdistel“ sollte wirklich die stachlige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber der Name war der Pflanze nicht recht, sie hörte nicht drauf. Ich versuchte es mit erfundenen Namen. „Stachelrippe“, „Nadelhals“, in denen weder „Milch“ noch „Distel“ vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf. 7 Die Suche nach dem „richtigen Namen“ 8 liest sich als eine Reminiszenz an Platons berühmten Kratylos -Dialog, der um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit kreist und damit den Beginn der abendländischen Sprachkritik markiert. Müller geht es jedoch weniger um das sprachphilosophische Problem als solches, als vielmehr um die mit ihm verknüpfte Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit: 9 Im Versuch, die Pflanzen mit ihren richtigen Namen anzureden, artikuliert sich ein Bedürfnis nach Relationalität und Verbundenheit, eine Sehnsucht nach Übereinstimmung, die sich als prinzipiell unstillbar erweist und das „Fremdeln verursacht als Folge mißratener Nähe“ 10 . Die existenziell konnotierte „Lücke“ verweist auf die Erfahrung einer grundlegenden Inkongruenz; sie bezeichnet ein Moment, da „etwas differenziert, etwas zerschnitten“ 11 wird und evoziert somit eine ‚Krise‘ im etymologischen Sinne des Wortes. Krise und Kritik der Repräsentation erfahren durch Mehrsprachigkeit eine deutliche Zuspitzung: Es ist nicht wahr, daß es für alles Worte gibt. Auch daß man immer in Worten denkt, ist nicht wahr. Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, habe keine gefunden, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- oder Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können. Oft ist es 7 Müller, Augen, S.-11. 8 Vgl. Platon: Kratylos. Griechisch/ Deutsch. Übers., kommentiert u. hrsg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 2014. 9 Zu dieser Dynamik vgl. Acker, Marion/ Fleig, Anne: „Der Schein des Dazugehörens“. Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen. In: Dagmar Freist/ Sabine Kyora/ Melanie Unseld (Hrsg.): Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen. Räume - Materialitäten - Erinnerungen. Bielefeld 2019, S.-153-168. 10 Müller, Augen, S.-15. 11 Schmitz-Emans, Monika: Die Sprache der modernen Dichtung. München 1997, S.- 45. - Wie ‚Kritik‘ leitet sich ‚Krise‘ vom altgriechischen Verb krínein her, das so viel wie ‚scheiden‘, ‚trennen‘ bedeutet. 88 Marion Acker das Entscheidende, über das nichts mehr gesagt werden kann, und der Impuls, darüber zu reden, läuft gut, weil er daran vorbeiläuft. 12 Das Zitat macht deutlich, dass Müllers Sprachzweifel durch Mehrsprachigkeit, wenn nicht erzeugt, so doch bestätigt und verstärkt wird. 13 Mehrsprachigkeit wird hier gerade nicht mit einem ‚Mehr‘ an Ausdrucksmöglichkeiten assoziiert, 14 sondern hebt einen grundlegenden Mangel von Sprache überhaupt hervor. Sie forciert Sprachreflexion und -kritik, indem sie zu Vergleichen anregt und die Kontingenz 15 sprachlicher Zeichen beleuchtet - dies ist übrigens eine Einsicht, die nicht nur die jüngere (insbesondere fremdsprachendidaktische) Forschung unter Begriffen wie ‚Sprachbewusstheit‘, ‚Sprachbewusstsein‘ oder language awareness diskutiert, sondern auch schon Bachtin formuliert hat. Seiner These zufolge befördert Mehrsprachigkeit ein distanziert-kritisches, „Vorbehalte machende[s] Verhältnis“ 16 zur eigenen Sprache als zu einer unter vielen, sie bewirkt eine Pluralisierung und Verunsicherung von Wahrnehmungsweisen, mehr noch verleiht sie ein Gespür für „die Grenzen der Sprache als solcher“ 17 . Einmal mehr artikuliert sich in der rhetorischen Figur der Verneinung eine Sehnsucht nach Entsprechung und Übereinstimmung. Dabei besteht hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprache und innerer Wirklichkeit offenbar die gleiche Kluft wie zwischen Sprache und externer Wirklichkeit: „Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache […].“ 18 Die Annahme einer Diskrepanz von Sprache und Gefühl und die damit einhergehende Infragestellung der Möglichkeit authentischen Selbstausdrucks rekurriert auf einen traditionsreichen Topos sprachkritischer Überlegungen, der 12 Müller, Augen, S.-14. 13 Vgl. Weissmann, Dirk: Die verschiedenen Augen der Sprache(n). Zur Rolle von Muttersprache und Mehrsprachigkeit bei Herta Müller. In: Jens Christian Deeg/ Martina Wernli (Hrsg.): Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur. Würzburg 2016, S.-177-191, hier S.-184. 14 Anders verhält es sich z. B. bei Ilma Rakusa, die Mehrsprachigkeit als eine additive Erweiterung und Bereicherung ihres sprachlichen Repertoires erfährt und deren Verhältnis zur Sprache im Vergleich zu Müller weitaus weniger von Misstrauen und Skepsis geprägt zu sein scheint. Vgl. dazu den Beitrag von Lena Wetenkamp in diesem Band. 15 Vgl. Müller, Augen, S.-27. 16 Bachtin, Wort im Roman, S.-177. 17 Ebd., S.-212. - Diesen Zug ins Grundsätzliche hat auch Adorno in seinem apologetischen Essay „Wörter aus der Fremde“ (1959) betont: Die Konfrontation mit fremder Sprache mache darauf aufmerksam, wie es um alle Wörter bestellt sei - sie hebt die grundlegende Mangelhaftigkeit von Sprache hervor. Vgl. Adorno, Theodor W.: Wörter aus der Fremde. In: Ders.: Noten zur Literatur II. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1974, S.-216-232, hier S.-221. 18 Müller, Augen, S.-14. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 89 auch von anderen Autorinnen der mehrsprachigen Gegenwartsliteratur aufgegriffen wird. So bemerkt beispielsweise Yoko Tawada: Die meisten Wörter, die aus meinem Mund herauskamen, entsprachen nicht meinem Gefühl. Dabei stellte ich fest, dass es auch in meiner Muttersprache kein Wort gab, das meinem Gefühl entsprach. Ich hatte das nur nicht so empfunden, bis ich in einer fremden Sprache zu leben anfing. 19 Indessen verharrt keine der beiden Autorinnen in der Position, dass sich ‚Inneres‘ nie angemessen in Sprache ausdrücken lässt. Die Erfahrung der Sprachkrise erhält vielmehr eine produktive Wendung: Sie wird zum kreativen Impuls des Schreibens und zum Ausgangspunkt einer sprachschöpferischen Dynamik, die von der Suche nach dem passenden Wort getrieben wird. Der Mehrsprachigkeit kommt dabei eine ambivalente Rolle zu. Einerseits macht sie die Lücken und Löcher im Sprachgewebe sichtbar. Sie führt die Diskrepanz zwischen außersprachlicher Erfahrung und sprachlichen Zeichen verstärkt vor Augen und arbeitet somit einer prinzipiellen Sprachskepsis zu. Andererseits weist sie einen Weg aus der Krise, indem sie neue Blicke auf die sinnlichen Eigenschaften, die Affektivität und Materialität der Sprache(n) jenseits ihrer - in sprachkritischer Tradition problematisierten - Repräsentationsfunktion eröffnet. 2 Begehren nach Unmittelbarkeit „Sinnlich, frech und überrumpelnd schön“ 20 - mit diesen Attributen sieht Müller das Rumänische ausgestattet. Von der Lebendigkeit dieser Sprache, ihrer sinnlichen Kraft, ihren Bildern und Redensarten, ihrem lexikalischen Nuancenreichtum und ihrer feingliedrigen Skala an Diminutiven von „zynisch bis sentimental“ 21 zeigt sich die Autorin immer wieder fasziniert. So auch in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 2012: Als ich die Sprache gelernt habe, war ich schon 15, es war, als würde ich sie essen. Sie hat mir geschmeckt, ich kann es nicht anders sagen. Die Alltagssprache im Rumänischen ist die schönste. Sie ist vulgär, aber nie ordinär. Das Vulgäre kriegt eine Zärtlichkeit, es entsteht eine Unmittelbarkeit zwischen den Menschen. 22 19 Tawada, Yoko: Das Fremde aus der Dose. In: Dies.: Talisman [1996]. Tübingen 2015, S.-40-45, hier S.-42f. 20 Müller, Augen, S.-24. 21 Müller, Herta: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. München 2014, S.-85. 22 Beyer, Susanne: „Ich habe die Sprache gegessen“. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller über ihre zusammengeklebten Gedichte und über die Macht und das Versagen der Wörter. In: Der Spiegel 35 (2012), S.-128-132, hier S.-130. 90 Marion Acker Müller schildert den Spracherwerb als sinnliche Einverleibung, als genussvollen Vorgang. Dem Rumänischen attestiert sie affektive Qualitäten, die jenseits des semantischen Gehalts der Worte liegen und die Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation aufscheinen lassen. Damit aktualisiert sie eine Denkfigur, wie sie sich in verschiedenen Spielarten durch die Geschichte des Nachdenkens über Sprache zieht. Deren Grundidee besteht darin, dass Sprache (insbesondere die literarische Sprache) ein nicht-, außer- oder vorsprachliches, mithin affektives Potenzial bietet; dass sie qua ihrer Materialität eine Eigenwirklichkeit verkörpert, die nicht auf die Bedeutung der Worte reduzierbar ist, die nicht ‚bloß‘ repräsentiert, bedeutet und bezeichnet. Dieses ‚Andere‘ der Sprache, das in der Sprache selbst anwesend und ihr eigen ist, sieht Müller besonders im Rumänischen verkörpert, vor allem in seiner sinnlich-klanglichen Dimension: Die rumänische Sprache enthalte „Äußerungen jenseits des Sprechens“, „ unmittelbar , wie es Worte gar nicht sein können“ 23 . Im Rumänischen erblickt Müller geradezu das Paradigma einer Sprache affektiver Unmittelbarkeit, welches eine Kritik sprachlicher Repräsentation beinhaltet und zugleich auf Möglichkeiten ihrer Überwindung verweist. Die Erzeugung sprachlicher Unmittelbarkeit erhebt Müller schließlich auch zum Zielpunkt ihrer eigenen Sprachästhetik, der das Rumänische als Fundus und Vorbild dient. Dies illustriert bereits der Titel des Essays „Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel“ (2011), der auf dem Gleichklang von Schnee und Onkel ( nea ) im Rumänischen beruht und somit ein Beispiel für latente Mehrsprachigkeit bietet. Wie Müller ausführt, lässt sie die Sprache selbst affektiv werden, indem sie für intensive Gefühlserlebnisse und Empfindungen, ja für ganze „Geschichten“ ein „direktes Wort“ (er-)findet, dessen Material sich verwandelt und „nicht mehr von einer natürlichen, körperlich starken Empfindung“ 24 zu unterscheiden ist. Beispiel dafür sind Wörter wie „Schneeverrat“ oder „Silberlöffel“ - Sprachbilder und neologistische Wortkompositionen, die das Erlebte nicht abbilden, repräsentieren, sondern eine eigene Wirklichkeit kreieren. In ihnen realisiert sich der Anspruch, „Worte [zu] finden, die im eigenen Mund entstehen“ 25 , und liegt ein widerständiges Potenzial: gegen die genormte, stereotype, durch Wiederholung formelhaft erstarrte Sprache der Diktatur, ihren sinnentleerten und jeglicher Sinnlichkeit beraubten „Floskeln und Fertigteile[n]“ 26 sowie gegen konventionalisierte Formen und Ausdrucks- 23 Müller, Herta: „Welt, Welt, Schwester Welt“. In: Dies., Schnee, S.- 231-243, hier S.- 237 [Herv. MA]. 24 Dies., Immer derselbe Schnee, S.-102. 25 Müller, Herta: In der Falle. Göttingen 1996, S.-37. 26 Müller, Herta: Hunger und Seide. Männer und Frauen im Alltag. In: Dies.: Hunger und Seide. Essays. München 2015, S.-69-94, hier S.-82. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 91 weisen überhaupt, die in ihrer überindividuellen Allgemeinheit das individuelle Gefühl, die Intensität des Erlebten nicht zu fassen vermögen. Die Terminologie der Unmittelbarkeit suggeriert die Aufhebung jener Kluft, welche der Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ umkreist. Sie darf nicht missverstanden werden als Rückfall in vorkritische Naivität oder gar als Rehabilitation einer romantisch-regressiven Sehnsuchtsutopie. Eine solche Utopie ist bei Müller, wenn überhaupt, nur noch „in desillusionierter Form anwesend“ 27 . Zurecht hat die Forschung schon früh darauf hingewiesen, dass „Widerstand gegen die Enteignung der Sinnlichkeit […] das ästhetische und ebensowohl politische Grundmotiv von Herta Müllers Poetik“ 28 bildet. Das Lob der Unmittelbarkeit, das Müller der rumänischen Alltagssprache entgegenbringt, die Wahrnehmung der Sprache in ihrer Materialität und Eigenpräsenz sowie das Beharren auf einem eigenen Idiom sind in diesem Zusammenhang zu verstehen. Vor allem poststrukturalistische und dekonstruktivistische Perspektiven haben die Zeichenvermitteltheit und sprachliche Bedingtheit von Erfahrung betont und somit den Wunsch nach Unmittelbarkeit kritisch attackiert und als illusionär entlarvt. In jüngerer Zeit jedoch erlebt dieser Wunsch und mit ihm Begriffe wie Performativität, Materialität, Ereignis, Präsenz, Evidenz oder eben Affekt eine besondere Konjunktur. Die sogenannten affect studies haben sich seit Mitte der 1990er Jahre in verschiedenen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen etabliert. Sie stehen in einer Reihe von turns , die sich als Gegenreaktion auf die Hegemonie poststrukturalistischer Ansätze verstehen und mit dem Anspruch ausgerufen wurden, Raum zu schaffen „für eine Wiederkehr des Verdrängten“ 29 . Die affect studies rücken jene Dimensionen des sozialen Zusammenlebens in den Vordergrund, die durch die Sprach- und Diskursfixierung des linguistic turn aus dem Blick geraten sind. Sie zielen auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die Sinnlichkeit des Sozialen ab und werden deshalb auch als ein Versuch interpretiert (und kritisiert), Sprache und Repräsentation auszuschalten, um zu einer neuen Unmittelbarkeit zu gelangen. 30 ‚Affekt‘ wird so gleichsam zur Chiffre für ein Begehren, das - ähnlich 27 Apel, Friedmar: Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Müller. In: Norbert Otto Eke (Hrsg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Paderborn 1991, S.-22-31, hier S.-25. 28 Ebd., S.-31. 29 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Version: 1.0. Docupedia-Zeitgeschichte vom 29.03.2010. http: / / docupedia.de/ zg/ bachmann_cultural_turns_v1_de_2010 (14.08.2018). 30 Vgl. Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/ Berlin 2007, S.- 123: „Affekte […] signalisieren eine direkte Verbindung zwischen Körper und Welt.“ Vgl. auch Adorf, Sigrid/ Christadler, Maike: New Politics of Looking? Affekt und Repräsentation. Einleitung. In: Themenheft FKW/ / Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 55 (2014), S.-4-15, hier S.-7. 92 Marion Acker der Müllerschen Suchbewegung, die angesichts der „Lücke“ in Gang gesetzt und durch Wiederholung immer wieder neu initiiert und performativ hervorgebracht wird - Trennung aufheben und Weltnähe stiften soll. Wenn Müller in ihren poetologischen Reflexionen über Mehrsprachigkeit einerseits die These einer sprachlichen Vermitteltheit des Weltbezugs und der Wahrnehmung vertritt, so beharrt sie (in Übereinstimmung mit den affect studies ) andererseits auch darauf, dass nicht alles Sprache ist bzw. es „Bereiche“ gibt, die sich nicht nur einer adäquaten, sondern der sprachlichen Repräsentation überhaupt entziehen. Dem unmittelbaren Erleben stellt sie die sprachliche Repräsentation als etwas Sekundäres und Nachträgliches gegenüber: „Ich kann heute ‚Angst‘ sagen. Und ich kann ‚Freude‘ sagen. Es trifft nicht mehr zu. Ich rede darüber. Ich lebe nicht mehr darin.“ 31 Diese Differenz wird nicht nur poetologisch reflektiert, sondern auch literarisch produktiv gemacht. In der Erzählung „Niederungen“ (1982) beispielsweise findet sie ihre Umsetzung im spannungsvollen Kontrast zwischen einer kindlichen Wahrnehmungsperspektive, die Unmittelbarkeit suggeriert, indem sie sinnliche Eindrücke registriert, aber (noch) nicht begrifflich fixiert und einer retrospektiv-reflektierenden, Distanz signalisierenden Sichtweise auf das Erlebte. Letztere kommt etwa in der Verwendung von Emotionsausdrücken zum Vorschein, die im Dialekt des Dorfes eine Leerstelle bilden - wie zum Beispiel das Wort „Einsamkeit“ 32 . Im Roman Reisende auf einem Bein (1989) weicht das Wahrnehmungs-Ich der „Niederungen“ zwar der Distanz der dritten Person; rekurrente Formulierungen wie „Irene spürte […]“ jedoch verweisen auf einen Wahrnehmungsmodus sinnlicher Unmittelbarkeit, der sich deutender Sinngebung und klassifizierender Einordnung zu entziehen scheint. Der Text thematisiert und inszeniert Momente intensiver Gegenwärtigkeit, die „nicht lückenlos und gleichsam ‚fügsam‘ in etablierten Schemata, Vollzügen und Klassifikationen“ 33 aufgehen und somit die Bruchstelle 34 zwischen Affekt und Emotion sichtbar machen: „Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, 31 Müller, Herta: Wie Wahrnehmung sich erfindet. In: Dies.: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1991, S.-9-32, hier S.-10. 32 Müller, Herta: Niederungen. In: Dies: Niederungen. Prosa. Frankfurt am Main 2011, S.-17-103, hier S.-94. 33 Slaby, Jan/ Mühlhoff, Rainer/ Wüschner, Philipp: Affektive Relationalität. Umrisse eines philosophischen Forschungsprogramms. In: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen / Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge. Bielefeld 2016, S.-69-108, hier S.-87. 34 Zur Annahme einer „affect-emotion-gap“ vgl. White, Daniel: Affect. An Introduction. In: Cultural Anthropology 32/ 2 (2017), S.-175-180, hier S.-177. Zur Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion vgl. auch Gould, Deborah: On Affect and Protest. In: Janet Staiger/ Ann Cvetkovich/ Ann Reynolds (Hrsg.): Political Emotions. New York 2010, S.-18-44, hier S.-27: „An emotion […] squeezes a vague bodily intensity or sensation into the realm of cultural meanings and normativity, systems of signification that structure our very feelings.“ Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 93 was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig gewesen. Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden.“ 35 Wo der Versuch unternommen wird, die Gegenwärtigkeit sinnlicher Eindrücke und Wahrnehmungsvollzüge in ein kategoriales Raster von Begriffen, etwa Emotionstypen, zu überführen, geschieht dies in einer Bewegung von Setzung und Zurücknahme, die einmal mehr die Nicht-Fixierbarkeit affektiven Erlebens verdeutlicht: „Sehnsucht überkam Irene. Und es war keine.“ 36 3 Im Zeichen des Trotzdem: Nähe durch Distanz Lücke, Riss und Spalte sind Programmwörter einer Poetik, die ein immer schon gebrochenes Verhältnis zur Sprache manifestiert, die Ausdrucks- und Repräsentationsfähigkeit der Sprache infragestellt, die Möglichkeit einer Verständigung und Mit-Teilung durch Sprache anzweifelt, dennoch aber an dem Wunsch festhält: „‚Es sagen können‘“ 37 . Den Unzulänglichkeiten der Sprache tritt Müller mit einem entschiedenen ‚Trotzdem‘ entgegen, ihr Schreiben bleibt - bei aller Sprachskepsis - „unabdinglich dem Erlebten verpflichtet“ 38 . Aus diesem Gestus heraus resultiert eine Ambivalenz, die ich mit der Formel Nähe durch Distanz umreißen möchte. Sprachzweifel und -kritik bedingen zwar eine Absage an das Prinzip abbildender Repräsentation und somit auch an ein Verständnis von Autobiographie als einfacher Wiederholung bzw. mimetischer Verdopplung des Erlebten. Das bedeutet jedoch keine Verabschiedung des Wahrheitsgehalts und Wirklichkeitsbezugs der Literatur schlechthin, im Gegenteil: Müller insistiert auf der lebensweltlichen Verankerung ihrer Literatur, welche sich der Wirklichkeit annähert, indem sie sich - scheinbar paradox - von ihr entfernt. Diese Dynamik hat Müller an verschiedenen Stellen beschrieben, exemplarisch seien folgende Zitate angeführt: „Das Gelebte […] ist mit Worten nicht kompatibel. […] Um es zu beschreiben, muß es […] gänzlich neu erfunden werden“ 39 ; „erst durchs Erfinden“ beginnt die „Nähe zur Wirklichkeit“ 40 ; „nur durch völlige Veränderung wird das Gelebte mit Worten so kompatibel, daß ein Satz dem Gelebten wieder ähneln kann.“ 41 Die Infragestellung der Repräsentationsfunktion der Sprache führt also 35 Müller, Herta: Reisende auf einem Bein. Frankfurt am Main 2010, S.-96 [Herv. MA]. 36 Ebd., S.-13. 37 Müller, Augen, S.-15. 38 Weidenhiller, Ute: Das Unsagbare sagbar machen. Herta Müllers doppelbödige Poetik. In: Etudes germaniques 67/ 3 (2012), S.-489-506, hier S.-490. 39 Müller, Herta: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich. In: Dies., König, S.-74-105, hier S.-86. 40 Dies., Immer derselbe Schnee, S.-98. 41 Dies.: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich. Kann Literatur Zeugnis ablegen? In: Text + Kritik 155 (2002), S.-6-17, hier S.-15. 94 Marion Acker nicht zur Verabschiedung, sondern zu einer „Neuformulierung“ 42 des autobiographischen Projekts im Modus der Autofiktion - ein Begriff, den Müller selbst zur Bezeichnung ihrer Texte heranzieht. Im Anschluss an Serge Doubrovsky bedeutet Autofiktion „die Sprache selbst zum Gegenstand der Autobiographie zu erheben“ 43 . Sprache soll nicht ‚nur‘ repräsentieren, sie fungiert nicht nur als Medium, sondern wird selbst zum Thema und Inhalt der Darstellung. Genau hierin, im Blick auf die Sprache selbst, die sich in ihrer Materialität und Eigendynamik dem Autorsubjekt widerständig entgegenstellt, liegt auch die enge Affinität von literarischer Mehrsprachigkeit und Autofiktion begründet. Müller überlässt sich der Eigendynamik des Sprachmaterials - sie nimmt die Wörter nicht in ihren Besitz, sondern lässt sich von ihnen in Besitz nehmen. 44 „Das Spiel der Wörter“ begreift sie, wie es Ralph Köhnen treffend beschrieben hat, als „relationalen Zusammenhang“ und „agonales Geschehen, das sich ereignet, wenn nicht der Schreibende die Sprache bestimmt, sondern ‚wenn einen der Text mit sich nimmt‘.“ 45 Dieser - auch ideologiekritisch motivierte - Verzicht auf autoritäre Machtausübung lässt sich mit Bachtin als eine dialogische Haltung zum Sprachmaterial bezeichnen. Im Gegensatz zum autoritären Gestus monologischer Literatur, welche sich der Sprache im Zeichen der Autorintention bemächtigt und sie dadurch verdinglicht, enthält sich dialogische Autorschaft stimmlicher Dominanz. Sie ist von dem Anspruch geleitet, der Sprache zu ent-sprechen. Nicht Aneignung oder gar Identifikation, sondern die Bewegung „zur Sprache hin und von ihr weg“ 46 , das Wechselspiel von Nähe und Distanz ist das Merkmal dieses nicht-souveränen Konzepts von Autorschaft. 47 Aussagen wie „das machen die Wörter selbst. Das macht der Wortklang“, „das verlangt sich so“ oder „das ergibt sich so“ 48 verdeutlichen Müllers dialogisches Verhältnis zum Sprachmaterial, dessen Dynamik nicht dem Diktat eines vermeintlich souveränen Autorsubjekts unterliegt, sondern eigenen Gesetzmäßig- 42 Gronemann, Claudia: „Autofiction“ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovsky. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 31 (1999), S.-237-262, hier S.-245. 43 Ebd., S.-240. 44 Vgl. Müller, Herta: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis. In: Dies., Schnee, S.- 7-21, hier S.-18. 45 Köhnen, Ralph: Visualität und Textualität. In: Norbert Otto Eke (Hrsg.): Herta Müller Handbuch. Stuttgart 2017, S.-190-200, hier S.-193. 46 Bachtin, Wort im Roman, S.-193. 47 Zum Konzept nicht-souveräner, dialogischer Autorschaft vgl. Acker, Marion/ Fleig, Anne: Die Aufrichtigkeit der Mehrsprachigkeit. Autofiktion, Autonarration oder das Konzept dialogischer Autorschaft bei Yoko Tawada. In: Sonja Arnold u. a. (Hrsg.): Sich selbst Erzählen. Autobiographie - Autofiktion - Autorschaft. Kiel 2018, S.-19-36. 48 Vgl. Müller, Herta: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S.-34, S.-42 u. S.-54. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 95 keiten folgt. Ein Zurück hinter die Erfahrung der Lücke zwischen Wort und Wirklichkeit kann es zwar nicht geben. Durch ihre dialogische Freisetzung jedoch gewinnt die Sprache eine materiale Eigenwirklichkeit, qua derer sie sich vor der Realität behaupten kann. Die dialogische Verzicht- und Distanzhaltung ist somit nicht nur Ausdruck eines Konzepts von Autorschaft, welches die Begrenztheit eigener Verfügungsgewalt anerkennt und reflektiert, sondern bildet auch die Voraussetzung jenes dynamischen Transformationsprozesses, der eine (Wieder-)Annäherung an die Wirklichkeit des Erlebten ermöglicht und den Müller unter Begriffe wie Autofiktion oder Erfindung fasst. Wenn Müller sagt, dass sich „wirklich Geschehenes […] niemals eins zu eins mit Worten fangen“ 49 lässt, sondern im Vollzug seiner Versprachlichung neu geschaffen oder hervorgebracht wird, betont sie damit die Performativität des Schreibens, die sich an der Nahtstelle von Wiederholung und Verschiebung konstituiert und besonders deutlich dort zum Vorschein tritt, wo Müller Ähnliches variantenreich präsentiert. Am Beispiel der von Müller immer wieder aufs Neue entfalteten Geschichte einer „alleenigen“ Kindheit im banatschwäbischen Dorf lässt sich dieses performative Darstellungsverfahren veranschaulichen und unter affekttheoretischem Gesichtspunkt näher untersuchen. 4 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen Wie zur Sprache überhaupt, hat Müller zur Wiederholung ein äußerst zwiespältiges Verhältnis: In ihrem Essay „Hunger und Seide“ (1990) bezeichnet sie die Wiederholung als „die zuverlässigste Methode des Regimes“ 50 - und macht damit darauf aufmerksam, dass die Wiederholung zur Zementierung von Machtverhältnissen beitragen kann. Gleichzeitig bedient sich Müller in ihren Romanen und Erzählungen der Wiederholung als einem subversiven Stilmittel: „Eine diktatorische Technik [wird] zur Kritik an der Diktatur genutzt.“ 51 Wiederholbare sprachliche ‚Fertigteile‘ - Redewendungen, Phraseologismen, Gemeinplätze, Sprichwörter - kommen in ihren Texten auffällig häufig vor. Sie werden im distanzierenden Gestus des Zeigens, im Modus der Vorführung also, „wie die Fundstücke einer fremden Sprache“ 52 präsentiert und damit zur kritischen Disposition gestellt. Das 49 Dies., Kann Literatur Zeugnis ablegen? , S.-15. 50 Dies., Hunger und Seide, S.-75. 51 Meurer, Petra: Diktatorisches Erzählen. Formelhaftigkeit bei Herta Müller. In: Iris Denneler (Hrsg.): Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität. Frankfurt am Main u. a. 1999, S.-177-194, hier S.-194. 52 Bannasch, Bettina: Herrenloses Heimweh. Heimat und Exil in der Prosa Herta Müllers. In: Doerte Bischoff/ Susanne Komfort-Hein (Hrsg.): Literatur und Exil. Neue Perspekti- 96 Marion Acker formelhafte Sprechen kontrastiert einerseits mit der relationalen Dynamik des Sprachmaterials, die sich nur unter der Voraussetzung dialogischer Autorschaft entfalten kann. Andererseits hat Müller vielfach die existenzielle Ankerfunktion formelhafter Wiederholung hervorgehoben. Zu solchen haltgebenden Sätzen zählt beispielsweise die wiederkehrende Frage der Mutter „HAST DU EIN TA- SCHENTUCH? “ 53 , um die Müllers Nobelvorlesung kreist. Als „indirekte Zärtlichkeit“ - „eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht“ 54 - verweist sie auf die spezifischen Emotionsregeln, genauer: expression norms (Arlie Hochschild) der dörflichen Lebenswelt. Müllers zwiespältige Haltung gegenüber der Wiederholung spiegelt den zwiespältigen Charakter der Wiederholung selbst wider, die sich zwischen den Polen von Dauer und Veränderung, Ereignis und Struktur bewegt. 55 Gerade diese oszillierende Ambivalenz ermöglicht es, Brüche wie Kontinuitäten affektiver Erfahrung zu analysieren und binäre Schemata zu dynamisieren. Zumal in den frühen affect studies bildete die Gegenüberstellung von Ereignis und Struktur eine Leitdifferenz, die auch der Unterscheidung von Affekt und Emotion zugrunde liegt. Namentlich Brian Massumi bringt die kreative Offenheit des Affekts in Opposition zur vorgeblichen Immer-Gleichheit von Strukturen. In seinem Verständnis bezeichnet Affekt das schlechthin Einmalige, Singuläre, Ephemere und Ereignishafte, die Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks, eine disruptive Kraft oder Intensität, die Neues hervorbringt, sich jenseits oder außerhalb von Sprache und Diskurs bewegt und damit jeglicher Struktur entgegensteht. 56 Die theoretische Konzeptualisierung von Wiederholung als affektivem Geschehen hingegen eröffnet die Möglichkeit, nach der Hervorbringung und Verfestigung affektiver Dynamiken zu Strukturen zu fragen und sie in ihrer Prozessualität wie Persistenz gleichermaßen zu erfassen. Eine solche Perspektive wurde in der Müller-Forschung bislang nicht eingenommen. Diese hat die „tragende Rolle des Stilmittels der Wiederholung“ 57 ven. Berlin 2013, S.-337-356, hier S.-337. 53 Müller, Teufelskreis, S.-7 [Herv. i. Orig.]. 54 Ebd. 55 Aufgrund ihrer schwankenden Gestalt wird die Wiederholung auch als eine „Kippfigur“ beschrieben. Vgl. Flaßpöhler, Svenja/ Rausch, Tobias/ Wald, Christina (Hrsg.): Kippfiguren der Wiederholung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Frankfurt am Main 2007. 56 Zu einer ausführlicheren, kritisch-differenzierten Auseinandersetzung mit Massumi vgl. Slaby, Jan: Drei Haltungen der Affect Studies. In: Larissa Pfaller/ Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Wiesbaden 2018, S.-53-81. 57 Müller, Julia: Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil. Köln/ Weimar/ Wien 2014, S.-182. - Am systematischsten hat sich Emmanuelle Prak-Derrington mit rhetorisch-stilistischen Wiederholungen bei Müller auseinandergesetzt und dabei auf den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Wiederholung verwiesen. Vgl. Prak-Derring- Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 97 im Werk der Autorin zwar erkannt und sich eingehend mit sprachlichen wie inhaltlichen (motivisch-thematischen) Wiederholungen innerhalb von Müllers Texten befasst; nur wenige Untersuchungen setzen sich jedoch dezidiert und ausführlich mit dem Phänomen textübergreifender Wiederholung auseinander, dem in diesem Abschnitt mein Interesse gilt. Wie es scheint, schöpfen Müllers Texte aus einem begrenzten, relativ stabilen Fundus oder Repertoire von autobiographisch verankerten Themen, Motiven und Konstellationen, die bereits im Frühwerk angelegt sind und geradezu ostentativ wiederholt und variiert werden. Norbert Otto Eke spricht in diesem Zusammenhang von einer permanenten „Weiterführung ‚alter‘ Motive“ 58 und deutet diese als ein Plädoyer gegen das Vergessen. Auch Ernest Wichner sieht die thematische Kontinuität in Müllers Werk von einem ethisch-moralischen Impetus des Sich-Erinnern-Müssens getragen, welcher von der Beharrlichkeit und Charakterstärke der Autorin zeuge. 59 Andere Positionen der Forschungsliteratur und Literaturkritik deuten die Wiederholung als Ausdruck persönlicher Traumatisierung oder kritisieren sie als „Anzeichen einer künstlerischen Stagnation“ 60 . Paola Bozzi hält dem entgegen, dass Müller „in einem gewissen Sinne Autopoiesis [betreibt]“ 61 : Die Autorin lasse sich und ihr Werk aus sich selbst heraus immer wieder neu entstehen. Der textübergreifenden Wiederholung und Variation bestimmter Motive (wie etwa des Taschentuchs oder der Mokkatassen) wurde bislang zumindest punktuell nachgegangen. Darüber hinaus fällt aber auf, dass über Text- und Gattungsgrenzen hinweg auch größere Einheiten, ja ganze ‚Versatzstücke‘ wiederholt, variiert und neu kombiniert werden. Unter diesem Begriff verstehe ich bewegliche, autofiktional geformte, relativ selbstständige und deshalb leicht isolierton, Emmanuelle: Sprachmagie und Sprachgrenzen. Zu Wort- und Satzwiederholungen in Herta Müllers Atemschaukel. In: Helgard Mahrdt/ Sissel Lægreid (Hrsg.): Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller. Würzburg 2013, S.- 133-147; Prak-Derrington, Emmanuelle/ Dias, Dominique: Eine Sprache für das Unsagbare finden. Über lexikalische Wiederholungen in Atemschaukel. In: Dorle Merchiers/ Jacques Lajarrige/ Steffen Höhne (Hrsg.): Kann Literatur Zeuge sein? Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Bern 2014, S.-135-154. 58 Eke, Norbert Otto: Von Taschentüchern und anderen Dingen, oder: Die „akute Einsamkeit des Menschen“. Herta Müller und der Widerspruch. In: Karin Bauer (Hrsg): literatur für leser 34/ 2 (2011), S.-71-81, hier S.-71. 59 Wichner, Ernest: Herta Müllers Selbstverständnis. In: Text + Kritik 155 (2002), S.-3-5. 60 Osterkamp, Ernst: Das verkehrte Glück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.10.1997. www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristik/ herta-mueller-heute-waer-ich-mir-lieber-nicht-begegnet-das-verkehrte-glueck-1873711.html (14.08.2018). 61 Bozzi, Paola: Herta Müller: Sehen schreiben und Schreiben sehen. Zur Poetik der erfundenen Wahrnehmung. In: Alo Allkemper/ Norbert Otto Eke/ Hartmut Steinecke (Hrsg.): Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben. München 2012, S.-107-123, hier S.-110. 98 Marion Acker bare Erzählkomplexe, die sich auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen Thema und Motiv verorten lassen. Wenn Müller von ihrer glücklosen, „alleenigen“ Kindheit im schwäbischen Banat spricht, so evoziert sie damit „ein für ihr gesamtes Werk gültiges Bild“ 62 , das seit den frühen Prosatexten fortlaufend variiert wird. In der Erzählung „Viele Räume sind unter der Haut“ in Barfüßiger Februar (1987) gerinnt der über zwanzig Mal wiederholte Satz „Das Kind, das allein geht […].“ 63 zur festen Formel. Auch die Diktatur-Romane verknüpfen die Themen von Kindheit und Einsamkeit. In Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) übt das Gefühl der Einsamkeit eine geradezu physische Gewalt aus: „Als das Kind zwischen den anderen Kindern im Schulhof stand, war der Fleck an seiner Wange der Griff der Einsamkeit.“ 64 Das Kind in Herztier (1994) fühlt sich oft als „Niemandskind“, allein und „so verlassen wie sonst nichts auf der Welt“ 65 . Die Schilderung des einsamen (im Dialekt „alleenigen“) Kindes, das endlose Tage im Tal bei den Kühen verbringt und dabei unaufhörlich versucht, sich im Bewusstsein der eigenen Differenz seiner Umgebung, den Pflanzen anzunähern, ja sich ihnen anzuverwandeln, ist als autofiktionales Versatzstück in diversen Vorträgen, Essays und Interviews enthalten: So beispielsweise in den Tübinger Poetik-Vorlesungen „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001) und „Der König verneigt sich und tötet“ (2001), in dem Vortrag „Die Insel liegt innen - die Grenze liegt außen“ (2001), in der Nobelvorlesung „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“ (2009), auf der Hör-CD Die Nacht ist aus Tinte gemacht (2009), in dem Gespräch Mein Vaterland war ein Apfelkern (2014) und schließlich auch in der Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale 2017 ( Ein Ausweg nach innen ). Die Wiederholung autofiktionaler Versatzstücke stiftet Verbindungen zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen. 66 Sie erzeugt damit ein fließendes Kontinuum, in dem Wirkliches und Erfundenes voneinander ununterscheidbar werden und welches sich somit als performative Umsetzung von Müllers eigener Vorgabe einer „Untrennbarkeit“ 67 von Leben und Werk begreifen lässt. 62 Vestli, Elin Nesje: „Das Kind, das allein geht“. Kindheit und Kindheitserinnerungen im literarischen Werk Herta Müllers. In: Mahrdt/ Lægreid, Dichtung und Diktatur, S.-81-98, hier S.-97. 63 Müller, Herta: Viele Räume sind unter der Haut. In: Dies.: Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987, S.-50-74. 64 Müller, Herta: Der Fuchs war damals schon der Jäger. Roman. Reinbek bei Hamburg 1992, S.-11. 65 Müller, Herta: Herztier. Roman. Reinbek bei Hamburg 1994, S.-192 u. S.-166. 66 Die Forschung hat daher auch die „rhizomartige“ und „netzartige Verwobenheit“ herausgestellt, durch welche sich Müllers Werk insgesamt auszeichnet. Vgl. Lörincz, Gudrun: Werk und Theorie im Dialog. Grenzüberschreitungen in der Poetologie und Positionierung Herta Müllers. Berlin 2016, S.-41 u. S.-44. 67 Müller, In der Falle, S.-5. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 99 Wenn die Wiederholung einerseits die enge Verflochtenheit von literarischem und poetologischem Diskurs vor Augen führt, so lässt sie andererseits auch Differenzen offenbar werden: Zwar reflektieren auch die literarischen Texte im engeren Sinn Sprachen und Sprachvarietäten innerhalb des Spannungsgefüges von Dialekt und Hochsprache; sie vollziehen diese Reflexion jedoch meist in latenter Form, wie ein Beispiel aus „Niederungen“ zeigt: „Vaters Singen und Mutters Reden vermischen sich. Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen. Beide und alle im Dorf kennen das Wort einsam nicht, wissen nicht, wer sie sind.“ 68 Was hier nur unsichtbar präsent ist, tritt im poetologischen Diskurs an die manifeste Textoberfläche: „Das Wort ‚einsam‘ gibt es nicht im Dialekt, nur das Wort ‚allein‘. Und dieses hieß ‚alleenig‘, und das klang wie ‚wenig‘ - und so war es auch.“ 69 Auch im weiteren Vergleich wird sichtbar, dass die Wiederholung keine identische Reproduktion desselben bedeutet, sondern mit Variation verknüpft ist. Bereits mit dem Akt der Wiederholung selbst, mit der Einbettung des Wiederholten in einen anderen textuellen Zusammenhang, vollzieht sich eine Veränderung. Die autofiktionalen Versatzstücke werden inhaltlich angereichert, assoziativ erweitert, neu kontextualisiert, reinterpretiert. Im konkreten Beispiel lässt sich von einer regelrechten Akkumulation vorwiegend negativ konnotierter Gefühle sprechen: Das Gefühl der Endlichkeit und Vergänglichkeit, des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, Einsamkeit und Verlorenheit oder auch der eigenen Wertlosigkeit verdichten sich zu einem Komplex, der nostalgisch verklärten Kindheitsvorstellungen eine radikale Absage erteilt. Im permanenten Rekurs auf die Kindheit artikuliert sich eine affektive Grunderfahrung, die im Vollzug ihrer Wiederholung fortlaufend aktualisiert und explizit auf den Begriff der (Nicht-)Zugehörigkeit gebracht wird. „Ich wollte dazugehören“ - so lautet denn auch der Leitsatz, der in der Festspielrede Ein Ausweg nach Innen fast refrainartig wiederkehrt. In formaler Hinsicht dient die Wiederholung hier der Rhythmisierung und Strukturierung. Inhaltlich verknüpft sie die räumlichen Lebensstationen, die Müller auch hier wieder abschreitet und erzeugt somit biographische Kohärenz. Die Rede insgesamt erweist sich als eine Montage von Selbstzitaten oder autofiktionalen Versatzstücken; sie arrangiert, kompiliert und variiert Themen, Motive und Konstellationen, die bereits aus anderen Texten Müllers bekannt sind, wie schon die Eingangspassage illustriert: Der Weg ins Tal lief die Dorfstraße hinunter, am Friedhof vorbei. […] Es war immer frühmorgens in den Sommerferien, wenn ich mit den Kühen ins Tal ging. […] Der Weg ins Tal verließ das Dorf, aber noch mehr verließ das Dorf mich. Ich trat in eine andere 68 Dies., Niederungen, S.-94. 69 Dies., Augen, S.-12. 100 Marion Acker Wirklichkeit. Mit den Kühen war man allein. […] Ich weiß nicht, ob ich einsam war, weil ich das Wort nicht kannte. In der Dorfsprache gab es nur das Wort allein. Und im Dialekt heißt das alleinig. Es hat eine Silbe mehr, nimmt sich ein bisschen mehr Zeit und klingt trauriger als allein. […] Ich vergaß das Dorf mit den Menschen, war mit den Füßen und mit dem Kopf jetzt in einem Dorf aus Pflanzen. Hier im Tal waren sie die Bewohner. […] Ich war bis abends eingeschlossen im Dorf der Pflanzen. Ich wollte zu ihnen gehören und inszenierte mit ihnen ein normales Dorfleben. Ich sprach laut mit ihnen, pflückte sie, legte sie nebeneinander, verglich sie, kostete, wie sie schmecken, sortierte sie nach Eigenschaften. 70 Auch dieser Text nimmt seinen Ausgang von der scheinbaren Banalität des kindlichen, durch Wiederholung und Routine („immer“) charakterisierten Alltagslebens. Im Vollzug der erinnernden Wiederholung wird die kindliche (Gefühls-)Topographie erneut vergegenwärtigt, re-präsentiert, um sie abermals auf ihre affektiven Dynamiken im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu befragen. Anders als etwa im Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ wird die in Sprachzweifel und -kritik mündende Erfahrung der „Lücke“ hier zwar nicht ausdrücklich apostrophiert, jedoch implizit evoziert. Denn erst vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wird der Wunsch nach Zugehörigkeit überhaupt formulierbar. Die Wiederholung autofiktionaler Versatzstücke erzeugt beim Rezipienten den Eindruck eines Déja-lu . Dennoch wäre es falsch, die Wiederholung als ein Zeichen der Erschöpfung oder als Ausdruck von Müllers nachlassender Kreativität zu werten und damit einen gängigen Vorwurf der Kritik zu wiederholen. Viel eher handelt es sich um ein werkkonstitutives Prinzip im Oeuvre Müllers, das zur internen Dialogisierung und gattungsübergreifenden Vernetzung ihrer Texte beiträgt. Gemäß der Ambivalenz der Wiederholung ist die Frage nach ihrer Funktion und Wirkung doppelt zu beantworten: Einerseits kommt der Wiederholung eine strukturbildende Kraft zu. Müller selbst deutet die affektive Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit als ein „Muster“, als eine sich in unterschiedlichen Lebenskontexten und wechselnden Umgebungen wiederholende „Formel“ 71 , die ihren Ursprung in der Kindheit nimmt und durchaus aporetische Züge trägt. Andererseits lässt sich die Wiederholung als ein Versuch interpretieren, das ihr inhärente Veränderungspotenzial zu aktivieren, das heißt, 70 Müller, Herta: Ein Ausweg nach innen - Festspielrede zur Eröffnung der Ruhrtriennale 2017 am 19. Aug. 2017. http: / / archiv.ruhrtriennale.de/ 2017/ de/ blog/ 2017-08/ ein-auswegnach-innen-festspielrede-zur-eroeffnung-der-ruhrtriennale-2017-von-herta (14.08.2018) [Herv. MA]. 71 Müller, Herta: Wie kommt man durchs Schlüsselloch? In: Corina Caduff/ Reto Sorg (Hrsg.): Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München 2004, S.-141-148, hier S.-143. Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller 101 Auswege oder Fluchtlinien zu (er-)finden, die eine befreiende Transformation verfestigter Affektstrukturen ermöglichen. 5 Resümee Die Suche nach einem Außersprachlichen, das Müller - im Unterschied zu den affect studies - in der Sprache selbst verortet sieht, die dialogische Wahrnehmung der Sprache(n) in ihrer sinnlich-körperlichen Materialität und aisthetischen Eigenpräsenz sowie die Darstellung unmittelbarer Erlebensvollzüge jenseits normierter Wahrnehmung, kategorialer Einordnung und sprachlicher Konvention weisen verschiedene Wege aus der Krise der Repräsentation. Ihnen zur Seite stellt sich die Wiederholung, die in ihrer performativen Dimension eine durchaus repräsentationskritische Funktion besitzt, jedoch auch verdeutlicht, dass sich Müllers Poetik dem teleologischen Deutungsmuster einer Überwindung oder Aufhebung der Repräsentation verweigert. Die Wiederholung autofiktionaler Versatzstücke aus dem Themenrepertoire einer „alleenigen“ Kindheit hebt die Persistenz affektiver Strukturen hervor; sie macht die krisenhaft besetzte Erfahrung der „Lücke“ stets aufs Neue präsent und stellt somit jenen sprachkritischen Impuls auf Dauer, der durch Mehrsprachigkeit forciert und zum kreativen Antrieb des Schreibens wird. Mehrsprachigkeit hören. Zur Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Rike Schefflers Loop-Gedicht „Honey, I’m Home“ Claudia Hillebrandt Das Gedicht ist ein rhythmisches, verkürztes, klangvoll-musikalisches Sprechen über Welt, in das grundsätzlich alle Sprachlagen geschichtet sein können. Aus dem unvermutete Bilder und Welten auftauchen-- das Gedicht als Sprachspeicher. 1 Die Schichtung von Sprachlagen ist Thomas Kling zufolge schon immer eine Sache der Lyrik gewesen. Dies schließt auch die Schichtung unterschiedlicher Sprach en ein und gilt insbesondere für das Gedicht als gesprochenes Artefakt. Klings emphatische Parteinahme für das gesprochene sprachschichtende Gedicht, für das Gedicht als „Mundraum“ 2 soll den Anstoß geben, eine modalitätsspezifische 3 Perspektive auf Fragen der emotionalen Bedeutung mehrsprachiger Literatur einzunehmen. An einem Beispiel - „Honey, I’m Home“ , einem Loop- 1 Kling, Thomas: Sprachspeicher. In: Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert eingelagert und moderiert von Thomas Kling. Köln 2001, S.-329. 2 Ebd.; Vgl. dazu auch Dembeck, Till: Was ist hier defekt? Sprachdifferenz und Laut in Gedichten Ernst Jandls und Oskar Pastiors. In: Britta Herrmann (Hrsg.): Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst. Berlin 2015, S.-167-190 und Hillebrandt, Claudia: Lyrik als akustische Kunst. In: Nicola Gess/ Alexander Honold (Hrsg.): Handbuch Literatur und Musik. Berlin 2017, S.-338-349. 3 Der Begriff Modalität wird in der neueren Phonologie zur Kennzeichnung der drei medialen Realisationsformen von Sprache als Buchstabe, Gebärde und Laut verwendet. Vgl. Domahs, Ulrike/ Primus, Beatrice: Phonologie in drei Modalitäten. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch Laut - Gebärde - Buchstabe. Boston/ Berlin 2016, S. IX-XX. 104 Claudia Hillebrandt gedicht der Berliner Lyrikerin Rike Scheffler - werden für den Fall des Gedichthörens einige systematische Überlegungen zur Rekonstruktion der emotionalen Bedeutung und zum emotionalen Wirkungspotenzial von mehrsprachiger Hör-Lyrik 4 angestellt. „Honey, I’m Home“ findet sich im letzten Abschnitt „Tides, Loops“ in Schefflers Debütband Der Rest ist Resonanz (2014). 5 Das Motto des Bandes - ein Auszug aus Sapphos Fragment 16 in englischer Übersetzung - kann bereits als Hinweis auf die Mehrsprachigkeit des Bandes verstanden werden, der sowohl deutschals auch englischsprachige Gedichte enthält und Gedichte, die zwischen beiden Sprachen wechseln oder diese mischen: some men say an army of horse and some men say an army on foot and some men say an army of ships is the most beautiful thing on the black earth. but i say it is what you love. sappho 6 6 Sprachklangaspekte haben für die implizite Poetik des Bandes insgesamt eine hohe Relevanz: Der Rest ist Resonanz ist von poesiologischen Reflexionen durchzogen, die ähnlich wie bei Kling insbesondere die akustische Seite von (mehrsprachiger) Lyrik in den Blick nehmen. 7 Wie alle anderen Gedichte aus dem letzten Abschnitt handelt es sich auch bei „Honey, I’m Home“ um ein Gedicht, das als Hör-Lyrik konzipiert ist und das in Der Rest ist Resonanz partiturartig verschriftlicht wurde. Die vorgesehene Darbietungsweise von „Honey, I’m Home“ ist also die des Sprechens. Mimisch-ges- 4 ,Lyrik‘ wird hier im Sinne der Formtheorie der Lyrik als Menge aller Gedichte gefasst. Vgl. zu diesem formtheoretischen Lyrikbegriff z. B. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse [1995]. Stuttgart 2015, S.-20f. Mit Anna Christina Ribeiro wird ,Gedicht‘ folgendermaßen expliziert: „A poem is either (1) a verbal object relationally or intrinsically intended to belong in the poetic tradition, by following, transforming, or rejecting the repetition techniques that have characterized that tradition (nonnaïve poetry-making), or (2) a verbal art object intrinsically intended to involve use of repetition schemes (naïve poetry-making).“ Vgl. Ribeiro, Anna Christina: Intending to Repeat: A Definition of Poetry. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 65/ 2 (2007), S.- 189-201, hier S.-193. 5 Scheffler, Rike: Der Rest ist Resonanz. Gedichte. Berlin 2014, S.-64f. 6 Ebd., S.-4. 7 Zu nennen wären etwa die Gedichte „über nacht sich im schweigen üben“ (ebd., S.- 4), „zügel leichter“ (ebd., S.-27), „es hat sich erledigt“ (ebd., S.-51) oder „zucker, zucker, lange hand“ (ebd., S.-42), in dem gefragt wird: „hörst du, wie gefühle tönen? “ Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Scheffl ers „Honey, I’m Home“ 105 tische Performanceelemente werden nicht notiert und spielen auch in Scheffl ers Vortrag keine wichtige Rolle. 8 Im Folgenden werden allerdings lediglich diejenigen Sprachklangelemente berücksichtigt, über die auf Basis der Schrift fassung und der vorgesehenen Auff ührungsweise Rückschlüsse möglich sind, nicht diejenigen, die Scheffl ers konkrete Sprechung des Gedichts kennzeichnen wie etwa stimmliche Aspekte oder absolute Zeitwerte, Lautstärke etc. Abb. 1 9 Um gleichzeitig mehrere von ihr gesprochene Textelemente zu Gehör zu bringen, verwendet Scheffl er eine Loop -Maschine, die mit live eingesprochenem Sprachmaterial auf verschiedenen Bändern arbeitet. 10 Die unter der Überschrift 8 Lediglich „It is what you love“ aus diesem Abschnitt soll nicht nur gesprochen, sondern explizit auch performt werden. Vgl. ebd., S.-59. 9 Ein von Scheffl er gesprochener Vortrag, hochgeladen am 10.04.2015, kann unter htt ps: / / vimeo.com/ 124603045 (19.01.2018) gesehen und gehört werden. 10 Zur Technik und Ästhetik des Loops vgl. Baumgärtel, Tilman: Schleifen. Zur Geschichte und Ästhetik des Loops. Berlin 2015. 106 Claudia Hillebrandt „beat“ notierten Sätze werden nacheinander auf diese Loop -Maschine aufgesprochen und sofort auch wieder abgespielt, sodass sich die einzelnen, von derselben Stimme gesprochenen Tonspuren überlagern und daraus tatsächlich so etwas wie ein Taktgeber entsteht. Im Anschluss werden auch die drei unter „harmonies“ notierten Gesangslinien, „hell“ intoniert auf dem Vokal „u“, nacheinander eingesungen und mittels der Loop -Maschine wiederholt. Ist dieser polyphone, geloopte Sprachklang einmal aufgebaut worden, folgt der als „narrativ“ übertitelte Teil. Hier werden, anders als im „beat“-Abschnitt, auch vereinzelt suprasegmentale Aspekte, 11 die für das Sprechen wichtig sind, notiert. Zum Abschluss erklingt das „add-on“ 12 . Die unter „Tides, Loops“ versammelten Gedichte bringen Klangelemente verschiedener Art zu Gehör, die gegebenenfalls auch eine emotionale Wirkung entfalten. Im Falle von „Honey, I’m Home“ sind das neben den drei nicht-sprachlichen Gesangslinien hauptsächlich deutschsprachige und kürzere englischsprachige Abschnitte sowie gegen Ende mit Berlinerisch auch eine dialektale Varietät des Deutschen. Damit liegt manifeste Mehrsprachigkeit im Sinne Giulia Radaellis vor, und zwar genauer ein Verfahren des Sprachwechsels. 13 Welchen Beitrag leisten nun diese unterschiedlichen sprachlichen Elemente zur emotionalen Bedeutung des Gedichtes? Da es sich um ein über den Hörsinn zu rezipierendes Gedicht handelt, wird zur Annäherung an eine Antwort ein kleiner Exkurs in die Hörpsychologie notwendig sein, um das Verhältnis von gehörter Mehrsprachigkeit und Emotionalität in seiner Modalitätsspezifik beschreiben zu können. Indem damit wahrnehmungspsychologische Aspekte des Sprach(en)hörens in den Mittelpunkt rücken, nimmt dieser Beitrag also eine modalitätsspezifische und rezeptionsorientierte Perspektive ein, die am Ende der hier vorgelegten Überlegungen auch zu einer wichtigen Unterscheidung zwischen Text- und (intendierter) Rezeptionsebene im Hinblick auf die den Bei- 11 Gemeint sind damit prosodische Merkmale des akustischen Sprachsignals, also solche, die im Gegensatz zu Phonemen nicht einzeln segmentierbar sind, wie z. B. Druck- und Tonhöhenunterschiede, Akzent, Intonation usw. Vgl. Bußmann, Hadumod: Suprasegmentale Merkmale. In: Dies. (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 1990, S.-757. 12 In Schefflers eigener Sprechung endet das Gedicht damit allerdings nicht abrupt. Vielmehr werden nach und nach die Tonspuren reduziert und zunehmend leiser abgespielt, sodass das Gedicht langsam ausklingt. 13 Vgl. Radaelli, Giulia: Literarische Mehrsprachigkeit. Ein Beschreibungsmodell (und seine Grenzen) am Beispiel von Peter Waterhouses „Das Klangtal“. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-157-182, hier S.-165f. Umfassender dargestellt wird Radaellis Analysemodell literarischer Mehrsprachigkeit in Radaelli, Giulia: Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin 2011. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 107 trägen dieses Bandes gemeinsame Frage nach der Affektivität beziehungsweise Emotionalität mehrsprachiger Literatur dienen soll. 14 1 Emotion, Mehrsprachigkeit und Kompetenz Dieser Beitrag geht vom Begriff der Emotion aus. Mit dem Emotionspsychologen Rainer Reisenzein wird ,Emotion‘ hier im Sinne der sogenannten kognitiven Emotionstheorien verstanden als „ein von Glaube und Wunsch verursachtes Lust- oder Unlustgefühl“ 15 . Reisenzeins Bestimmung wird hier gewählt, weil sie alle Komponenten kognitiver Emotionstheorien - Glauben im Sinne von Überzeugungen und Annahmen, Wünsche und die hedonistische Erfahrbarkeit von Emotionen - enthält und damit sichtbar macht, dass es grosso modo die kognitiven Gehalte sind, die eine Unterscheidung und intersubjektive Vermittlung verschiedener Emotionen ermöglichen. Die kognitiven Emotionstheorien haben damit zu einer fruchtbaren Differenzierung innerhalb der interdisziplinären Emotionsforschung beigetragen. Reisenzeins Bestimmung ist außerdem offen für literatur- und kulturwissenschaftliche Spezifikationen der kulturellen und sozialen Faktoren der Emotionsgenese: In der neueren literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung ist verschiedentlich hervorgehoben worden, dass Emotionen auch sprachlich kodiert werden können. 16 Da Annahmen, Überzeugungen und Wünsche nicht bloß individuell verankert, sondern auch durch biologische, kulturelle und soziale Faktoren geprägt sind, sind auch die mit ihnen verbundenen Emotionen bis zu einem gewissen Grad interindividuell nachvollziehbar und damit auch sprachlich vermittelbar. Wissen über Emotionen und Emotionskodes ist somit Teil des kulturellen Wissens einer Gruppe oder Gesellschaft. Bestimmten Sprachstrukturen lässt sich auf Basis dieses kulturellen Wissens außerdem auch ein emotionales Wirkungspotenzial zuschreiben, das Einfluss auf das emotionale Erleben während der Rezeption nehmen kann, aber nicht muss. 17 14 Überlegungen zur Mehrschriftlichkeit hat Monika Schmitz-Emans angestellt. Vgl. Schmitz-Emans’ Beitrag in diesem Band sowie dies.: ,Mehrschriftlichkeit‘. Zur Diversität der Schriftsysteme im Spiegel literarischer Texte. In: Dembeck/ Mein (Hrsg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, S.- 183-208 und dies.: Mehrschriftlichkeit. In: Till Dembeck/ Rolf Parr (Hrsg.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017, S.-221-232. 15 Reisenzein, Rainer: Fantasiegefühle aus der Sicht der kognitiv-motivationalen Theorie der Emotion. In: Sandra Poppe (Hrsg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg 2012, S.-31-63, hier S.-34. 16 Vgl. dazu grundlegend Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S.-84-90. 17 Vgl. Hillebrandt, Claudia: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel. Berlin 2011, S.-47-51 sowie Köppe, Tilmann: Lyrik 108 Claudia Hillebrandt Von Reisenzeins Emotionsbegriff ausgehend stehen im folgenden Abschnitt zwei Fragenkomplexe im Mittelpunkt: Wie funktioniert Sprachhören? Und: Wie lässt sich eine Verbindung zwischen dem Hören von mehrsprachigen Texten und deren emotionaler Bedeutung herstellen? Schon die erste Frage muss im vorliegenden Zusammenhang natürlich differenziert werden, denn im Falle gehörter mehrsprachiger Literatur geht es ja nicht um Sprache im Sinne eines allgemeinen Sprachvermögens, sondern um die auditive Wahrnehmung verschiedener Sprachelemente der parole , die sich verschiedenen Sprachsystemen oder langues zuordnen lassen. Ein solcher Arbeitsbegriff von ,Sprache‘ im Sinne von wie auch immer voneinander abgrenzbaren Einzelsprachen oder Sprachstandards wird hier zum Zweck einer notwendigen begrifflichen Differenzierung verwendet, die erst die Rede von ,Mehrsprachigkeit‘ ermöglicht. 18 Von ,mehrsprachiger Literatur‘ ist im Sinne Radaellis die Rede, wenn es sich um und Emotionen. In: Zeitschrift für Germanistik 22/ 2 (2012), S.- 374-387. Der Begriff des Affektes oder der Affektivität steht je nach Verwendung in unterschiedlichen Relationen zu diesem Emotionsbegriff: Soll er im Sinne der Affektenlehre die unkontrollierbare Heftigkeit eines Gefühls und damit eine bestimmte Form emotionaler Erfahrung betonen, so ist er als Spezifikation dieses Emotionsbegriffs aufzufassen. Dass Emotionen von jemandem auf eine bestimmte Weise, z. B. als unkontrolliert heftiges Widerfahrnis erlebt werden, ist in Reisenzeins Bestimmung in der Kategorie des Lust- oder Unlustgefühls, des hedonischen Tons der Emotion berücksichtigt. Vgl. hierzu auch Hillebrandt, Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten, S.-32. Der Affektbegriff kann allerdings auch als Oberbegriff verwendet werden, unter dem neben Emotionen auch Phänomene wie Stimmungen oder Einstellungen gefasst werden. Vgl. Hogan, Patrick Colm: Affect Studies and Literary Criticism. Oxford Research Encyclopedia of Literature vom Aug. 2016. http: / / literature.oxfordre.com/ view/ 10.1093/ acrefore/ 9780190201098.001.0001/ acrefore-9780190201098-e-105 (30.05.2018). Affektive Phänomene in diesem Sinne, die sich nicht anhand eines kognitiven Gehaltes identifizieren und differenzieren lassen, sind der literaturwissenschaftlichen Analyse allerdings bisher nur begrenzt zugänglich - nämlich mit den Methoden der empirischen Literaturwissenschaft, poetik- oder rezeptionsgeschichtlich oder textbezogen vor dem Hintergrund einer hier nicht übernommenen psychoanalytischen Theorie im Sinne der Affect Theory. Vgl. Hogan, Affect Studies and Literary Criticism. Ein in erster Linie auf Textdaten bezogenes emotionswissenschaftliches Analyseverfahren kann aber immerhin emotionalisierende sprachliche Verfahren und deren Valenz benennen, die das Potential haben, affektiv zu wirken. Ob es möglich ist, diese affektive Wirkung mit im engeren Sinne textanalytischen Mitteln in Zukunft noch genauer und dabei intersubjektiv vermittelbar zu erfassen, wird u. a. davon abhängen, wie sich die interdisziplinäre Forschung zu Stimmungen, emotionalen Einstellungen etc. in den nächsten Jahren weiterentwickelt. Beispielhaft wird unten dazu auf die Forschung zur Lautsymbolik verwiesen. Die Entscheidung für eine emotionswissenschaftliche Ausrichtung dieses Beitrags ist also methodisch-pragmatischen Gründen geschuldet. 18 Einen solchen Arbeitsbegriff von Mehrsprachigkeit setzen voraus Blum-Barth, Natalia: Einige Überlegungen zur literarischen Mehrsprachigkeit, ihrer Form und Erforschung. Zur Einleitung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6/ 2 (2015), S.-11-16 sowie Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 109 einen oder mehrere „mehrsprachige literarische Texte“ handelt, nicht aber schon dann, wenn der Autor beziehungsweise die Autorin mehrsprachig ist. 19 Dem paradox anmutenden Vorschlag, Mehrsprachigkeit ohne eine irgendwie geartete Vorstellung davon zu explizieren, was nicht-mehrsprachige Sprachverwendung sein soll, wie es in der Mehrsprachigkeitsforschung zum Teil geschieht, schließt sich dieser Beitrag nicht an. Die Annahme, dass es verschiedene Formen und Regeln der Sprachverwendung gibt, die sich in irgendwie voneinander abgrenzbare Einzelsprachen unterteilen lassen, erweist sich als sprachlogische Notwendigkeit, um von Mehrsprachigkeit reden zu können. Diese Annahme prägt implizit auch die Praxis der noch jungen literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung, wie sie dieser Band dokumentiert. Bei aller berechtigten Kritik an einzelnen nationalistischen, sprachpuristischen oder anderen historischen Paradigmen von Einsprachigkeit, die in der Mehrsprachigkeitsforschung vorgetragen wurde, droht ein auf dieser Kritik aufbauender entdifferenzierender Mehrsprachigkeitsbegriff, der alle Sprachverwendung zu mehrsprachiger Sprachverwendung erklärt, allumfassend und die Redeweise von Mehrsprachigkeit damit trivial zu werden. 20 Bei der Explikation eines differenzierenden Mehrsprachigkeitsbegriffs, der von der Mehrsprachigkeitsforschung über den von Radaelli eingeführten und hier übernommenen Arbeitsbegriff hinaus erst noch zu erarbeiten wäre, muss aber natürlich bedacht werden, dass Einzelsprachen sich nur standort- und damit interessensgebunden voneinander abgrenzen lassen oder von verschiedenen Formen der Sprachverwendung abstrahierbare Sprachsysteme auch nicht immer in Gänze beschrieben werden können. 21 Aufgrund welcher Zwecksetzungen und unter welchen Voraussetzungen literaturwissenschaftliche Mehrsprachigkeitsforschung Einzelsprachen voneinander unterscheidet oder unterscheiden sollte, bedarf dabei meines Erachtens noch einer eingehenderen Diskussion. Till Dembecks Vorschlag, unterschiedliche Formen von Sprachstandards zu unterscheiden, verstehe ich als Reaktion auf die mangelnde Unterscheidungskraft eines entdifferenzierenden Mehrsprachigkeitsbegriff. 22 Im Anschluss an Klaus W. Hempfer soll hier außerdem Noam Chomskys Unterscheidung von ,Kompetenz‘ und ,Performanz‘ für Linguistik und Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden: Hempfer schlägt vor, diese nicht 19 Vgl. Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, S.-157. 20 Vgl. für einen allumfassenden Mehrsprachigkeitsbegriff Dembeck, Till: Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit. Zur Einführung. In: Ders./ Mein (Hrsg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, S.-9-38, hier S.-23-27. 21 Vgl. zu diesem Problem Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, S.-159f. 22 Vgl. Dembeck, Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit, S.- 23-27; Dembeck, Till/ Parr, Rolf: Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-9-14, hier S.-10 verzichten auf eine Klärung des Begriffs Mehrsprachigkeit. 110 Claudia Hillebrandt wie Chomsky als materiale, sondern als methodologische zu verstehen, die aus der Beobachtung verschiedener Sprachperformanzen auf eine Kompetenz im Sinne eines spezifischen Sprachvermögens schließt, nicht auf ein substanzhaft gedachtes System. 23 Annahmen über Sprachkompetenzen stellen, wie die folgenden Überlegungen wie auch einige andere Beiträge in diesem Band illustrieren, zentrale Elemente bedeutungszuweisender und wirkungsbezogener Hypothesen über Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit dar. 2 Zum Verhältnis von Sprachenhören, Mehrsprachigkeit und Emotion Von diesen begrifflichen Festlegungen ausgehend, sind zunächst verschiedene Fälle des Sprach(en)hörens mit je unterschiedlichen Implikationen für deren emotionale Wirkung zu unterscheiden, die sich grob typologisch etwa folgendermaßen aufteilen lassen: a. Ein Hörer bzw. eine Hörerin hört eine ihm bzw. ihr bekannte und von ihm bzw. ihr verwendete Sprache (mit skalarer Abstufung). b. Ein Hörer bzw. eine Hörerin hört eine erkannte Sprache oder Sprachgruppe, die er bzw. sie aber nicht versteht. c. Ein Hörer bzw. eine Hörerin hört eine ihm bzw. ihr völlig unbekannte Sprache. Je nachdem, vor welchem Hintergrund an Kompetenzen mehrsprachige Literatur präsentiert wird, ergeben sich damit unterschiedliche emotionale Wirkungen des Gehörten, die auf die Kenntnis und die Vertrautheit mit der Sprache und den mit ihrer Hilfe artikulierten, kulturell geprägten Emotionskonzepten zurückgehen. Um dies im Einzelnen zumindest ausschnitthaft zu veranschaulichen, seien hier alle drei Fälle kurz einzeln betrachtet: Im ersten Fall sind eine ganze Reihe von Abstufungen möglich, je nachdem, wie vertraut der Hörer bzw. die Hörerin mit der jeweiligen Sprache ist. So kann man zum Beispiel den Fall des Hörens einer auf Erstsprachlerniveau vertrauten standardisierten Nationalsprache vor Augen haben. In mehrsprachiger Literatur ist der deutlich häufigere Fall vermutlich der, dass mindestens eine der beiden Sprachen etwas weniger vertraut ist als die andere. 24 Und das hat Konsequenzen 23 Vgl. Hempfer, Klaus W.: Performance , Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes. In: Ders./ Jörg Volbers (Hrsg.): Theorien des Performativen. Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2011, S.- 13-41, hier S.- 23f. Zur Unterscheidung von ,Kompetenz‘ und ,Performanz‘ vgl. Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt am Main 1969, S.-15. 24 Auch Dembeck geht davon aus, dass der Grad der Vertrautheit mit der jeweiligen Sprache bzw. die entsprechende Sprachkompetenz relevant sind für die literaturwissenschaft- Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 111 für das Sprachhör- und das Sprachleseverstehen, vor allem für das Verstehen der emotionalen Bedeutung eines Textes. Die emotionale Bedeutung eines Textes lässt sich auch im Falle des Sprachhörverstehens an verschiedenen sprachlichen Phänomenen mehr oder weniger gut erkennen. Dies hat zum einen mit der Art des verwendeten sprachlichen Verfahrens, zum anderen mit der Sprachkompetenz zu tun. Die wichtigsten sprachlichen Verfahren, mit denen Emotionen präsentiert werden können, gibt die folgende Auflistung wieder. 25 Zur Veranschaulichung der einzelnen Kategorien werden Beispiele aus Schefflers Gedicht herangezogen, auf die unten im Analyseteil zurückzukommen sein wird: Lexikalische Benennung Hierunter fallen die prototypischen Emotionswörter (Substantive wie „staunen“, „zorn“, Verben - z. B. erlebensdeklarative Formeln wie „ich fühlte mich x“ oder bestimmte psychische Verben („es gruselt mich“, „jammern“ -, Adjektive und Adverbien) sowie Routineformeln oder Ausdrücke, die stereotyp emotionale Bilder kodieren. Implikation/ Konnotation Physiologische/ mimisch-gestische/ vokal nonverbale Präsentation Diese Aspekte emotionalen Erlebens können mit Worten geschildert und/ oder während der Sprechung ausgedrückt werden und weisen gegebenenfalls auf eine Emotion hin („augenbrauen, / die prüfen zweifel auf gewicht“). Phonetisch-lautliche Präsentation Sprechpausen, Exklamativakzente oder die Lautstärke einer Äußerung können gegebenenfalls auf einen emotionalen Zustand und dessen mögliche Intensität verweisen („-pause- -pause-“, „(gerufen)“, „emphasize the f's“). Lexikalische Präsentation Lexeme, die keine Emotion bezeichnen, können dennoch eine emotionale Konnotation aufweisen. Die emotionale Konnotation ist entweder ko- oder kontextuell markiert. Als Beispiele zu nennen wären aus „Honey, I’m Home“ Ausdrücke wie „madame“, „abstand“, „trotzdem“, „faust“, „honey“ oder „home“. liche Analyse. Vgl. Dembeck, Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit, S.-27. 25 Vgl. dazu ausführlicher Hillebrandt, Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten, S.-78-82. 112 Claudia Hillebrandt Grammatisch-syntaktische Präsentation Bestimmte nicht eingebettete Satzstrukturen oder Satzfragmente verweisen auf eine emotionale Beteiligung, ebenso wie einige intensivierende Genitivkonstruktionen. Ein Beispiel aus Schefflers Gedicht ist der uneingebettete Satz: „that the door to your bedroom was the door to mine“. Bildlichkeit Metaphern, Metonymien, Allegorien, Vergleiche etc. können auf Emotionen verweisen, z. B. „ich ordne uns stühle, nur fürs gefühl“, „wir leben von der faust in den mund“. Rhetorische Präsentation Hierunter fallen die Positionsfiguren, Wiederholungsfiguren, amplificatio , Appellfiguren und andere rhetorische Stilmittel wie z. B. die repetitio „i don't need you in my life. / my life my life my my life“. Situationsbezug Situationen, die prototypisch emotional konnotiert sind, können eine Emotion präsentieren. Die Emotion, auf die sie verweisen, muss unter Berufung auf kulturelles Wissen der jeweiligen Zeit rekonstruiert werden. Die familiär-häusliche Szenerie, die in „Honey, I’m Home“ in verschiedenen Varianten vorgeführt wird, weist entsprechende Konnotationen von bindungs- und konfliktbezogenen Emotionen wie Liebe, Verantwortungsgefühl, Enttäuschung und Wut auf. Intertextualität Ein Text kann auf einen anderen Text verweisen, in dem eine bestimmte Emotion thematisiert oder präsentiert wird, und damit diese Emotion selbst präsentieren. Der titelgebende Phraseologismus „Honey, I’m Home“ etwa ist in der amerikanischen Populärkultur weit verbreitet, z. B. als Titel eines Songs von Shania Twain, 26 und verweist auf ein liebevoll-zärtliches, aber auch hierarchisches Verhältnis zwischen zwei (Ehe-)Partnern, das in der Regel traditionellen Geschlechterhierarchien folgt. 26 26 Twains Song spielt ironisch auf die stereotype Genderperspektive an, die mit diesem Phraseologismus aufgeworfen wird. Der Refrain lautet: „Honey, I’m home and I had a hard day / Pour me a cold one and oh, by the way / Rub my feet, gimme something to eat / Fix me up my favorite treat / Honey, I’m back, my head’s killing me / I need to relax and watch TV / Get off the phone, give the dog a bone / Hey! Hey! Honey, I’m home! “ Twain, Shania: Honey, I’m home . In: Dies.: Come On Over . Mercury Records, 1997. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 113 Viele der impliziten Verfahren der Emotionspräsentation können nur im Zusammenspiel mit anderen erkannt und einer bestimmten Emotion zugeordnet werden. Gegebenenfalls bleibt ihre emotionale Bedeutung aber auch diffus. Wie leicht die emotionale Bedeutung einer Textpassage erkannt werden kann, hängt also zum einen an der Art der sprachlichen Präsentation, zum anderen an der Sprachkompetenz der Rezipientinnen und Rezipienten. Für die potentielle emotionale Wirkung des Gehörten heißt das, dass die Menge und die Differenziertheit der kognitiven Gehalte, die eine emotionale Bedeutung haben beziehungsweise eine entsprechende Wirkung entfalten können, in Abhängigkeit von der Sprachkompetenz und dem damit verknüpften kulturellen Wissen sehr unterschiedlich ausfallen können. Dies gilt nicht nur, aber insbesondere für den Bereich der impliziten beziehungsweise konnotierten emotionalen Bedeutung. Insofern kann es je nach Vertrautheit mit der Sprache auf der Ebene des Sprachhörverstehens durchaus zu einer Reduktion der emotionalen Bedeutung und Wirkung von Sprachelementen kommen, auch wenn im Prinzip die kulturelle Diversität von Emotionswortschätzen eine sozusagen reichhaltigere Ausdruckspalette mehrsprachiger gegenüber einsprachiger Literatur bedingt. Im Falle mehrsprachiger Literatur kommt daher der Unterscheidung von Text- und Rezeptionsseite eine besonders hohe Relevanz zu - und zwar insbesondere der Beantwortung der Frage, an welches Publikum sich ein mehrsprachiger Text jeweils richtet, welches kulturelle Wissen zu seinem Verständnis vorausgesetzt wird, in welchem intendierten Rezeptionskontext er also steht. Für den zweiten Fall, das Hören einer unbekannten Sprache, sind einige Erläuterungen nötig, wie sich das Hören einer bekannten von dem einer unbekannten Sprache unterscheidet. Denn beim Sprachenhören wirken einige hörpsychologische Mechanismen der Sprachverarbeitung, die zwar von der Kenntnis der jeweiligen Sprache abhängen, in ihrer generellen Funktionsweise aber kulturübergreifend weitgehend konstant sind. 27 Für das Sprach(en)hören typisch ist der Verarbeitungsmodus der sogenannten kategorialen Wahrnehmung. 28 Er dient dazu, die Komplexität des akustischen Signals drastisch zu reduzieren, um eine schnelle Informationsverarbeitung zu 27 Vgl. zur Einführung in die Hörpsychologie und die Hörpsychologie der Sprachwahrnehmung Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound. Cambridge, Massachusetts 1990; Goldstein, Bruce E.: Wahrnehmungspsychologie. Der Grundkurs [1980]. Berlin 2007, S.-257-323; Moore, Bryan C. J.: An Introduction to the Psychology of Hearing. 4. Auflage. San Diego 1997; Schröger, Erich/ Kaernbach, Christian/ Schönwiesner, Marc: Auditive Wahrnehmung und multisensorische Verarbeitung. In: Jochen Müsseler (Hrsg.): Allgemeine Psychologie [2002]. Heidelberg 2008, S.-59-100; Warren, Richard M.: Auditory Perception. An Analysis and Synthesis [1999]. Cambridge 2008. 28 Vgl. Goldstein, Wahrnehmungspsychologie, S.-323f. 114 Claudia Hillebrandt ermöglichen, und ist von der Sprachkompetenz abhängig. Kompetenzbasierte kategoriale Wahrnehmung regelt, auf welche Aspekte des akustischen Sprachsignals besonders zu achten ist und welche vernachlässigbar sind. Um dies an einem Beispiel klarzumachen: Zur Unterscheidung der Laute / da/ und / ta/ dient dem Hörapparat vor allen Dingen die Stimmeinsatzzeit, die bei / da/ deutlich kürzer ist als bei / ta/ . Verlängert man die Stimmeinsatzzeit so, dass der / da/ -Laut nach und nach in den / ta/ -Laut übergeht, dann hören zum Beispiel deutschsprachige Probandinnen und Probanden nicht das gesamte Spektrum der sich verändernden / da/ -Laute mit ihren differierenden akustischen Eigenschaften, sondern sie hören zuerst stets ein / da/ und ab einer bestimmten Stimmeinsatzzeit ein / ta/ . Der Verarbeitungsmodus der kategorialen Wahrnehmung scheint weitgehend automatisch und damit unwillentlich aktiviert zu werden und sorgt dafür, dass die präkategorialen Elemente des Sprachschalls bei der mentalen Verarbeitung vernachlässigt werden. 29 Die sinnliche Wahrnehmung des Sprachklangs tritt also in den Hintergrund. Dies geschieht allerdings in Abhängigkeit von der Sprach(en)kompetenz des jeweiligen Hörers bzw. der jeweiligen Hörerin. Ist die Sprache, die gehört wird, nun gar nicht bekannt, greift dieser Modus der kategorialen Wahrnehmung nicht, sondern die präkategorialen Schallelemente des Sprachsignals treten in den Vordergrund. Wird erkannt, um welche Sprache oder Sprachfamilie es sich handelt, trägt neben individuellen Einstellungen auch kulturstereotypes Wissen dazu bei, dass dennoch eine, dann allerdings global auf das Sprachsignal bezogene emotionale Bedeutung zugeschrieben und gegebenenfalls eine dieser korrespondierende emotionale Reaktion hervorgerufen wird. 30 Ist dies nicht der Fall, greifen die allgemeinen Gestaltgesetze der Hörwahrnehmung. 31 Die sinnlichen Eigenschaften der Sprache werden dann bewusst wahrgenommen und können lautsymbolisch mit Bedeutungsaspekten belegt werden, die auch emotional konnotiert sein können. Hierbei handelt es sich allerdings um sehr flüchtige und intersubjektiv nur schwer zu vermittelnde 29 Vgl. Moore, Introduction, S.-288. 30 Wenn man hier außerdem annimmt, dass die Unvertrautheit mit dem Sprachsignal von hoher Relevanz ist, wie Dembeck dies vorschlägt, dann ergeben sich je nach Voreinstellung vermutlich auch weitere emotionale Reaktionen auf die Unvertrautheit des Sprachklangs wie Neugier, Verunsicherung, Wut o.a.m. Vgl. Anm. 24. 31 Vgl. zu einer einflussreichen gestalttheoretischen Modellierung der Hörwahrnehmung Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. In: Allan Basbaum u. a. (Hrsg.): The Senses. A Comprehensive Reference. Volume 3: Audition. Hrsg. v. Peter Dallos/ Donata Oertel. San Diego 2008, S.- 861-870; Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis, 1990; Bregman, Albert S.: Asking the „What For“ Question in Auditory Perception. In: Michael Kubovy/ James R. Pomerantz (Hrsg.): Perceptual Organization. Hillsdale/ New Jersey 1981, S.-99-118. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 115 Aspekte des Sprachhörens. Der ganze Bereich der Forschung zur Lautsymbolik von Sprachklangelementen befindet sich in der Linguistik derzeit noch in der Konstitutionsphase. 32 Zwar gibt es eine Reihe von Belegen, dass lautsymbolische und damit auch emotional konnotierte lautsymbolische Bedeutungsaspekte von Sprachlauten auch intersubjektive und sprach- und kulturübergreifende Anteile aufweisen. 33 Allerdings ist die theoretische Grundlagenarbeit in diesem Bereich bisher noch ganz am Anfang, ebenso die empirische Forschung, die vor der Herausbildung der computergestützten Korpuslinguistik mit eher kleineren Korpora gearbeitet hat und deren Methodik mehr oder weniger valide und oft nicht miteinander vergleichbar war und ist. 34 Es ist also zwar davon auszugehen, dass auch die präkategorialen Elemente des Sprachschalls von Hörern mit lautsymbolisch fundierten, emotional konnotierten Bedeutungsaspekten belegt werden und damit Stimmungen oder auch Emotionen hervorrufen können. Es ist allerdings bisher kaum möglich, deren gegebenenfalls intersubjektiv und in bestimmten Fällen möglicherweise sogar sprach- oder kulturübergreifend geteilten Aspekte zu ermitteln. Die emotionale Bedeutung und das entsprechende Wirkungspotenzial eines unbekannten akustischen Sprachsignals für ein bestimmtes Publikum zu beschreiben ist daher bisher kaum möglich. Für das Ausgangsbeispiel, Schefflers Loopgedicht, ist dieser letzte Fall weniger relevant, geht man davon aus, dass die englischsprachigen und dialektalen Elemente des Gedichtes auch den meisten nicht-erstbzw. dialektsprachlichen Hörerinnen und Hörern im vorgesehenen Rezeptionskontext weitgehend verständlich sein dürften. Trotzdem bedeutet es, dass in der Analyse eine Reihe von hörbaren Elementen der akustischen Faktur von „Honey, I’m Home“ nur unzureichend berücksichtigt werden können. Dies betrifft auch die emotionale Bedeutung der Gesangslinien. 35 32 Vgl. dazu den Forschungsüberblick in Elsen, Hilke: Einführung in die Lautsymbolik. Berlin 2016. Zwar gibt es eine längere Tradition der Erforschung lautsymbolischer Aspekte von Sprache, deren Ergebnisse sind allerdings z.T. statistisch nicht abgesichert und häufig spekulativ. 33 Zu nennen ist hier insbesondere der berühmte Maluma-Takete-Effekt. Vgl. ebd., S.-56-67. 34 Vgl. ebd., S.-11. 35 Vgl. allgemein zur Divergenz der Zuweisung von emotional konnotierten lautsymbolischen Aspekten von Lyrik und Musik im Vergleich: Hillebrandt, Claudia: Lautstruktur und emotionaler Ausdruck. Zur Zuweisung von Ausdrucksqualitäten zur Lautstruktur lyrischer und musikalischer Gebilde aus praxeologischer Perspektive. In: Anna Bers/ Peer Trilcke (Hrsg.): Phänomene des Performativen in der Lyrik. Systematische Entwürfe und historische Fallbeispiele. Göttingen 2017, S.-79-96. 116 Claudia Hillebrandt 3 Sprachenhören, Mehrsprachigkeit und Emotionen in Schefflers „Honey, I’m Home“ Wie lassen sich diese allgemeinen und skizzenhaften Überlegungen zum Sprachenhören nun also auf Schefflers Gedicht beziehen? Aus einer prozessorientierten rezeptionsästhetischen Perspektive lassen sich unter anderem folgende Aspekte festhalten: Geht man davon aus, dass „Honey, I’m Home“ für ein Publikum verfasst ist, das mit der deutschen und auch der englischen Sprache vertraut ist, dann wird zu Beginn durch das akustische Sprachsignal der Modus der kategorialen Wahrnehmung angesprochen werden, dessen Ziel ein Hörverstehen ist. Dass es sich um einen mehrsprachigen Text handelt, wird gleich mit den ersten deutschsprachigen Worten nach dem englischsprachigen Titel deutlich hörbar markiert. Je nach Vertrautheit mit der jeweiligen Sprache und der entsprechenden Voreinstellung kann also schon dieser Sprachwechsel für Hörerinnen und Hörer emotional konnotiert sein. Die einzelnen Sätze werden dem Titel folgend 36 einer vage umrissenen häuslichen Familienszene zugeordnet werden, einer an ein (eventuell kindliches) Gegenüber adressierten Rede einer (erwachsenen) Sprechinstanz. 37 Das Geschlecht der Sprechinstanz wird nicht eindeutig erkennbar, was in der Folge ein Spiel mit Geschlechterstereotypen ermöglicht. Mit der Sprechsituation verbunden werden, wie die Auflistung im zweiten Abschnitt dieses Beitrags gezeigt hat, Emotionen wie Grusel oder Staunen explizit und andere wie Ärger, Angst, Verunsicherung, Gereiztheit implizit präsentiert. Dass die Arbeit im Haushalt gefühlsstabilisierende Wirkung hat, wird nicht präsentiert, sondern vom Sprecher bzw. der Sprecherin selbst thematisiert. Die Szenerie wird also auf der Ebene des Sprachhörverstehens eng mit unterschiedlichen Emotionskonzepten verknüpft, die allerdings überwiegend implizit präsentiert werden und damit stark von der Kenntnis der entsprechenden impliziten sprachlichen Präsentationsweisen abhängen. Die in allen Sätzen genannte oder konnotierte Wut der Sprecherin oder des Sprechers unterstreicht die Brüchigkeit des Familienbildes, das der titelgebende Phraseologismus aufruft. Allerdings sorgen die punktuell eingestreuten Reime schon am Beginn dafür, dass zusätzlich zur kategorialen Wahrnehmung auch eine partielle Wahrnehmung der präkategorialen akustischen Faktur ermöglicht wird. Oder anders gesagt, dass ein Hören des Sprachklangs als Klang, nicht als Träger von Infor- 36 Sprecherinnen und Sprecher des Gedichts werden natürlich außerdem die oben abgedruckte Vortragsbezeichnung kennen, die ebenfalls eine solche Einordnung erleichtert. 37 Die Sprecherbzw. Sprecherinnenfigur wird nur rudimentär entworfen. Die Sprechposition könnte daher auch anders aufgelöst werden und hätte dann eine klar Rollenstereotype bestätigende oder durchbrechende Funktion. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 117 mation befördert wird. Dieser Effekt wird noch dadurch unterstützt, dass sich aus dem Gesagten eben keine kohärente Narration ergibt, sondern eher ein thematisches Feld, das musikmetaphorisch gesprochen als Variation bezeichnet werden könnte: Die im ersten Teil locker aneinandergereihte Folge von häuslichen Situationen wird durch die allen gemeinsame Sprechsituation zwischen einer untergeordneten apostrophierten und einer übergeordneten apostrophierenden Instanz und den gemeinsamen Ortsbezug zusammengehalten. Die Zurückdrängung der kategorialen Wahrnehmung wird dadurch weiter befördert, dass die einzelnen Sätze nicht mehr nacheinander, sondern im Sinne eines Taktgebers polyphon dargeboten werden. Bei der Exposition mit immer gleichem Sprachmaterial verblasst nämlich der Effekt der kategorialen Wahrnehmung zusehends. 38 Wenn dann die Gesangslinien eingeführt werden, bildet dies nur den Schlusspunkt einer Entwicklung, die das Hören immer stärker auf die sinnlichen Anteile des Sprachenhörens umstellt. 39 Mit dem Einsatz des (laut Partitur) „narrativ[en]“ Teils, in dem beide Sprachen gemischt werden, werden wieder verschiedene häusliche Familiensituationen evoziert, allerdings nun stärker auf eine zärtliche Paarbeziehung und deren emotionale Höhe- und Tiefpunkte hin fokussiert, die auch über suprasegmentale Aspekte des Sprachsignals präsentiert werden: Verliebtheit, Wut, Besorgnis, Trauer usw. wechseln sich ab. Interessant ist, dass im Verlauf des Gedichts nicht klar wird, ob eine oder mehrere Sprechpositionen angenommen werden müssen, ob also der Sprecher bzw. die Sprecherin wechselt oder nicht. Diese Vagheit der Sprechsituation arbeitet ebenso wie der Sprachwechsel und die Sprachwiederholung dem Hören von Sprachklang als Sprachklang zu. Der Wechsel zwischen verschiedensprachigen Sprachklangelementen lässt sich in mehrfacher Weise funktional deuten: Mit dem Phraseologismus „Honey, I’m Home“ wird ein Familien- und Geschlechterstereotyp der amerikanischen Populärkultur aufgegriffen. 40 In Verbindung mit dem zu Beginn in deutscher Sprache artikulierten wie auch gebrochenen Stereotyp der überbesorgten Mutter wird damit auch der Eindruck der Transkulturalität eines bestimmten klischierten Familien- und Geschlechterbildes und dessen Scheitern sowie der damit verknüpften Emotionen nahegelegt. Mittels des dialektalen Sprachregisters wird demgegenüber im „add-on“ eine Dämpfung der Emotionalität des voraus- 38 Vgl. Warren, Auditory Perception, S.-203. 39 Emotionale Aspekte der musikalischen Faktur müssen, wie oben bereits angemerkt wurde, aus methodischen Gründen unberücksichtigt bleiben. 40 Vgl. Kendall, Shari: ,Honey, I'm home! ‘ Framing in family dinnertime homecomings. In: Text and Talk 26 (2006), S.- 411-441. Dieses Stereotyp ist auch ikonisch geworden. Die Bildersuche im Internet zu ,Honey, I’m home‘ führt vorwiegend zu Treffern, die einen heimkehrenden Ehemann zeigen. 118 Claudia Hillebrandt gehenden Teiles eingefordert. Etwas vereinfacht ließe sich von einer Gegenüberstellung von emotionalisierten, Stereotype offenlegenden standardisierten Nationalsprachen und nüchternerem ent-emotionalisierenden Dialekt sprechen. Weiterhin lässt sich festhalten, dass spätestens im letzten Abschnitt von „Honey, I’m Home“ die Emotionalität der verwendeten Sprachregister auf der Ebene der präsentierten Emotionskonzepte wie auch auf der Ebene der akustischen Faktur besonders betont und damit hörbar wird. Die deutsch- und englischsprachigen Sprachklangelemente in „Honey, I’m Home“ dienen also einerseits dazu, ein wirkmächtiges sprach- und kulturübergreifendes Familienklischee und dessen emotionale „Kosten“ hör- und verstehbar zu machen. Andererseits ermöglichen sie auch unabhängig davon ein Hören von Sprachklangelementen verschiedener Sprachen in ihrer je unterschiedlichen Klanglichkeit, die auch für sich eine diffus emotionalisierende Wirkung entfalten können. 4 Kurzes vorläufiges Fazit Dieser Beitrag hat erste Überlegungen angestellt, wie Fragen nach der emotionalen Bedeutung und dem Wirkungspotenzial von gehörten Sprachelementen mit Fragen nach dem Hören mehrsprachiger Texte verknüpft werden können. Besonders betont wurde die Relevanz des jeweiligen hörwissensgeschichtlichen Kontextes, in dem ein mehrsprachiger Text steht und der eine Einschätzung erlaubt, wie Hörer diesen Text hören, welche Sprachkompetenzen und welches kulturelle Wissen im Hinblick auf die jeweilige Art der Sprachmischung oder des Sprachwechsels anzusetzen sind, welches intendierte Publikum also Teil der Bedeutungskonzeption des Textes ist. Das emotionale Bedeutungs- und Wirkungspotenzial eines Textes wird durch die Mehrsprachigkeit im Prinzip zwar immer erhöht, denn es ermöglicht den Einbezug weiterer Emotionswortschätze und -präsentationsformen. Gleichzeitig ist aber natürlich zu bedenken, dass dieses Potenzial nur von einem kompetenten Publikum voll erfasst werden kann. Je nach Sprachmischung kann es daher sein, dass eher die sinnlichen Anteile gesprochener Sprache in den Vordergrund treten und eine emotionale oder diffus emotionalisierende Wirkung entfalten, die sich bisher nur schwer intersubjektiv beschreiben lässt, oder aber das sprach- und kulturstereotype Wissen eine globale Reaktion auf ein nicht verständliches Sprachsignal anregt. Als akustisches Signal kann der Sprachwechsel auch die Wahrnehmung der akustischen Eigenschaften des Sprachsignals zurück ins Bewusstsein der Hörerin bzw. des Hörers heben, die diese sonst im Modus der kategorialen Wahrnehmung meist zugunsten des Bedeutungshörens ignorieren. Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Schefflers „Honey, I’m Home“ 119 Viele Aspekte dieser modalitätsspezifischen Perspektive auf mehrsprachige Literatur und deren emotionale Bedeutung und Wirkung konnten hier nur angedeutet werden. So blieben etwa suprasegmentale Aspekte des Sprachsignals weitgehend unberücksichtigt. Auch wurde auf Klangunterschiede zwischen englisch- und deutschsprachigem Sprachsignal nicht genauer eingegangen. Um diese Aspekte der emotionalen Bedeutung mehrsprachiger Literatur in die Analyse zu integrieren, ließen sich insbesondere die Forschung zu Kultur- und damit auch Sprachstereotypen und die allerdings noch ganz in den Anfängen befindliche Forschung zur Lautsymbolik für die Rekonstruktion der emotionalen Bedeutung und des Wirkungspotenzials mehrsprachiger Hör-Literatur fruchtbar machen. Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit „Kanakster“ vs. „Ethnoprotze“. Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu Robert Walter-Jochum 1 Einleitung Die Philosophiestudentin Gönül ist eine der ‚Kanakas‘ 1 , die in Feridun Zaimoglus Koppstoff als Erzählerinnen zu Wort kommen. Im philosophischen Seminar hat sie es, dem ihr zugeschriebenen Bericht zufolge, generell recht schwer, ist sie doch mit den ontologischen Erwägungen der grüblerischen Mitstudierenden konfrontiert: „Mein Dasein, sagt der Deutsche, das reißt mich von all den sekundären Sachen weg“ 2 - es stellt sich als Zustand der Eigentlichkeit dar; eine Gedankenfigur im Anschluss an Heidegger, in der nicht nur Zaimoglu eine Flucht aus den praktischen Umständen der unmittelbaren ‚uneigentlichen‘ Gegenwart in ein Reich raunender Begriffssprache vermutet. Die sprachsensible Heideggersche Philosophie und die sich ihr Widmenden sind jedoch, wie sich zeigt, leicht aus der Ruhe zu bringen: Und das Imperativ, da gibt es diese Ahhs und Ohhs, wenn das Imperativ dahergrölt und sich im Rausch einstimmen kann, dieser falsche Artikel ist übrigens so eine Art Kunstgriff von mir, ich sage das Imperativ, damit diesen öligen Clubphilosophen das 1 Die Begriffe ‚Kanaka‘/ ‚Kanake‘ bzw. das hiervon abgeleitete Wort ‚Kanakster‘ (das ein aus der Kombination der Worte ‚Kanake‘ und ‚Youngster‘ gebildeter Neologismus ist) werden hier verwendet im Anschluss an die Selbstbezeichnungen der Sprechinstanzen in Zaimoglus Texten. Vgl. jedoch zum semantischen Gehalt und der Problematik einer Verwendung dieser in der Fremdzuschreibung zunächst abwertenden Begriffe die folgenden Überlegungen, insb. Anm. 17. 2 Zaimoglu, Feridun: Koppstoff. Kanak Sprak vom Rande der Gesellschaft [1998]. In: Ders.: Kanak Sprak/ Koppstoff. Die gesammelten Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Köln 2011, S.-117-239, hier S.-212. 124 Robert Walter-Jochum Gesicht abrutscht, damit sie diese Gramfärbung, dieses Kummerrot, diesen Richtigstellerdünkel herauskehren können. […] Du als Anatolierin, als kurzbeinige Frau, du mit deinem Abitur, nun gut, das können wir ja irgendwie nachvollziehen. […] Weißt du, das freut mich so höllisch, mit einem falschen Artikel sprengst du Dutzende Telegraphenmasten, die kopfmutierte Philosophie mündet in der Lehrstunde Deutsch für Ausländer. 3 Die Erzählerin erscheint in dieser Darstellung als Figur, die sich über ihre hohe Sprachkompetenz ausweist - sie ist nicht nur nicht diejenige, als die sie von den dünkelhaften Mit-Philosophen angesprochen wird - in erster Linie als „Anatolierin“ und „kurzbeinige Frau“ 4 , der sich die sonstigen am philosophischen Seminar Teilnehmenden überlegen wähnen -, sondern sie vermag es, ein Spiel mit der vermeintlichen Sprachinkompetenz der ‚Kanaka‘ zu spielen, in dessen Rahmen die Sprache selbst in Bewegung kommt und mit ihr die eigene Subjektposition wie auch die Stereotype derjenigen, die ihr begegnen - Stereotype, die kulturell immer wieder beglaubigt werden, wie in Gönüls weiteren Kommentaren im direkten Anschluss deutlich wird: Also meinetwegen dieser Satz: Angst fressen Seele auf, ich glaube, so heißt ein Film von diesem großartigen, na, wie heißt er noch mal, ja, Fassbinder, also so ein Satz jagt mir wirklich Schauder über den Rücken. Ein blöder Ethnoprotz ist das, mein Gott, man müßte diesen Fassbinder wieder ausbuddeln und sein bleiches Gerippe schütteln und ihn fragen, was ihn denn gezwackt hat damals. Schmust er doch mit dem Infinitiv, mit dem Hubba-Hubba-Lall. 5 Die Subjektivität der ‚Kanaka‘ entsteht hier in einem relationierenden Spiel mit der Sprache, den Erwartungen der anderen, der Institution des philosophischen Seminars, der heideggerianischen Philosophie und der identitätsorientierten Populärkultur. 6 Die ‚Kanaka‘ erweist sich so als sprachsensible Figur, die mit 3 Ebd., S.-214. 4 Ebd. 5 Ebd., S.-214f. 6 Insgesamt ist bei Zaimoglu und etwa auch im Hinblick auf die an seine frühen Texte anschließende Bewegung Kanak Attak eine Zurückweisung multikulturalistisch-verständnisvoller Vorstellungen von Identitätspolitiken zu erkennen (die ihrerseits in den hier in Rede stehenden Kontexten natürlich in polemisch verzerrter Form dargestellt und im vorliegenden Fall mit Fassbinders Film verbunden werden). Diesen gegenüber betonen die Sprecherinnen und Sprecher in Zaimoglus Texten das Projekt einer Selbstverortung jenseits einer identitätsorientierten Nische innerhalb einer von langjährigen Migrationsprozessen geprägten Gesellschaft, die einer Art ‚Ghettoisierung‘ der Ingroup in einem eigens für sie hergestellten diskursiven und sozialen Raum, der aber tendenziell abgegrenzt ist, entgegensteht. Insofern ist die Lektüre dieser Texte aus meiner Sicht offen für eine Anknüpfung an Debatten um das Postmigrantische, wie im Folgenden ausgeführt Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 125 verletzender Rede umgeht, ihr in der Gegenrede kreativ und sich selbst sprachlich ermächtigend entgegentritt und die Verletzung zurückgibt, wenn sie etwa den Regisseur als „Ethnoprotz“ und die Kommilitonen als an „ihrer piefigen Innerlichkeit“ klebende „Dröhnköppe“ tituliert. 7 Wie die Zitate zeigen, spielen affektive Aspekte hierbei eine zentrale Rolle - die Rede ist hier vom „Rausch“, vom „abrutschenden Gesicht“, „Gramfärbung“, „Kummerrot“ und vom „Schauder“, der einem bei Fassbinders Titel über den Rücken läuft 8 - die Sprache ist selbst affektiv gestaltet und verweist auf affektive Phänomene. 9 Zaimoglus viel diskutierte Bände Kanak Sprak von 1995 und Koppstoff von 1998 inszenieren am Material der homodiegetischen Erzählungen 24 männlicher und 26 weiblicher Figuren das Bild eines Phänomens sprachlicher Subjektkonstitution in der mehrsprachigen Gegenrede. Die neu geschaffene ‚Kanak Sprak‘ erscheint so als Resultat einer Konstellation, in der sich ‚Kanakster‘ wie ‚Kanakas‘ sowohl als Gruppe wie auch individuell affektiv im Rahmen dieser stets an der Sprache anknüpfenden Auseinandersetzung diskursiv behaupten - eine Auseinandersetzung, die aus meiner Sicht weniger gut unter dem tradierten Begriff der ‚Migrationsliteratur‘ zu fassen ist 10 als unter dem einer ‚postmigrantischen Literatur‘, die gesellschaftliche Verortungs- und Aushandlungsprozesse von Akteuren innerhalb einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft vollzieht und spiegelt. Diese Differenzierung scheint mir insbesondere deshalb geboten, weil die Sprechinstanzen in Deutschland geborene Figuren sind, die zur wird. Die bei Zaimoglu und anderen vorgenommene Positionierung jenseits der Identitätspolitik ist dabei natürlich nicht mit aktuellen (besonders in der sogenannten Neuen Rechten verbreiteten) Angriffen gegen identitätspolitische Denkfiguren gleichzusetzen, sondern dient durchaus dazu, „dass aus einer marginalisierten Perspektive Missstände aufgezeigt werden, die mitten ins Herz der Gesellschaft führen“, so Purtschert, Patricia: Es gibt kein Jenseits der Identitätspolitik. Lernen vom Combahe River Collective. In: Widerspruch - Beiträge zu sozialistischer Politik 69 (2017), S.-15-24, hier S.-20. Vgl. zur aktuellen Debatte um rechte Kritik an Identitätspolitiken auch den Beitrag von Dowling, Emma/ van Dyk, Silke/ Graefe, Stefanie: Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der „Identitätspolitik“. In: PROKLA - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 47/ 3 (2017), S.-411-420. 7 Vgl. Zaimoglu, Koppstoff, S.-215. 8 Ebd., S.-214f. 9 Diese Perspektive auf Zaimoglus Texte folgt der Ausrichtung des Forschungsprojekts „Gefühle religiöser Zugehörigkeit und Rhetoriken der Verletzung in Öffentlichkeit und Kunst“ (Projektleiter: Jürgen Brokoff/ Christian von Scheve) am von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies , in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag entstanden ist. 10 Zur Einordnung Zaimoglus in dieses Feld mit Blick auf Entwicklungen des Literaturbetriebs vgl. etwa Ernst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, hier S.-281-302. 126 Robert Walter-Jochum sogenannten zweiten oder dritten Einwanderergeneration gehören, also selbst keine transnationalen Migrationserfahrungen haben, die Gegenstand der Literatur werden könnten. Der Begriff des Postmigrantischen ist aus dem Kontext des Theaters (insbesondere der Arbeit des Teams um die Intendantin Shermin Langhoff am Berliner Maxim-Gorki-Theater sowie dem Ballhaus Naunynstraße) in die Kultur- und Sozialwissenschaften eingewandert. 11 Erol Yildiz und Marc Hill betonen zu seiner näheren Eingrenzung, dass Migration in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich seit Generationen ein gesellschaftliches Faktum ist, das zunächst anerkannt werden muss. Unter restriktiven Bedingungen haben Migranten und deren Nachkommen ihre eigenen Lebensweisen und Verortungsstrategien entwickelt und wesentlich zur Definition gesellschaftlicher Wirklichkeit beigetragen. Nach der Migration bzw. „Postmigration“ bedeutet in dieser Hinsicht auch, die Geschichte der Migration neu zu erzählen und das gesamte Feld radikal neu zu denken und zwar jenseits des hegemonialen Diskurses. 12 Deutlich wird hier, dass der Begriff einen politisch-utopischen Gehalt besitzt: Die Verwendung des Konzepts des Postmigrantischen zielt im vorliegenden Zusammenhang also darauf ab, die Akteure einer als ‚Migrationsliteratur‘ bezeichneten Literaturströmung nicht in einer so etikettierten Ecke der Minderheitenliteratur festzuschreiben, sondern festzuhalten, dass diese Literatur Themen einer Gesellschaft verhandelt, die bereits über Generationen hinweg von Migration geprägt ist. Insofern setzt sich die Verwendung des Begriffs in Gegensatz zu einem bei Yildiz und Hill mit dem hegemonialen Diskurs verbundenen Paradigma, das von Anforderungen der Assimilation und Integration auf der einen Seite bzw. Gedankenfiguren des Multikulturalismus und verstehender Identitätspolitiken auf der anderen Seite geprägt ist und aus Sicht von Zaimoglu und politischen Akteuren in seiner Nachfolge zur Folge hat, dass die von Yildiz und Hill im Titel ihres Bandes angesprochenen „Parallelgesellschaften“ entstehen, durch die auf einer Differenz zwischen ‚zu integrierenden‘ und ‚bestehenden‘ Bevölkerungsgruppen beharrt wird. Die Verwendung des Begriffs kann problematische Auswirkungen haben, wenn man ihn als verharmlosende Zustandsbeschreibung gebraucht, etwa im Sinne einer Gesellschaft, die sich mit den sozialen Fragen, die mit Migrationsbewegungen verbunden sind, nicht mehr befassen müsste, da sie ja postmigrantisch sei und alle mehr oder weniger unterschiedslos in ihr aufgehoben seien - der politische Gehalt der Formulierung 11 Vgl. etwa Foroutan, Naika u. a.: Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse. Berlin 2015. 12 Yildiz, Erol/ Hill, Marc (Hrsg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld 2014, S.-11. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 127 eines neuen postmigrantischen Paradigmas muss insofern immer mitgedacht werden. 13 Der Begriff erscheint - obwohl zeitlich deutlich später popularisiert - insofern auch treffend für die hier diskutierten frühen Texte Feridun Zaimoglus, da diese sich einer Festlegung auf den Sektor der ‚Migrationsliteratur‘ offensiv entziehen, stellen sie doch in den Mittelpunkt, wie migrantisch codierte Akteure gegen diese Festlegungen angehen und sich eine in der postmigrantischen Gesellschaft zu erarbeitende eigene Positionierung erschreiben. Das Feld von Hassrede und Mehrsprachigkeit 14 ist in diesen Texten der Ort, an dem gleichzeitig poetische Sprache wie performative Selbstbehauptung stattfinden, in Entgegensetzung sowohl gegen eine als ablehnend konstruierte Mehrheitsgesellschaft wie auch die Sphäre der migrantischen Eltern. Insofern nehmen die Sprechinstanzen in Zaimoglus Texten eine in forcierter Weise postmigrantische Position ein, wenn sie sich in der durch Migration geprägten deutschen Gesellschaft in Abgrenzung zu einem Paradigma der Integration bzw. der bleibenden Fremdheit positionieren, dem diese Gegengruppen in der Darstellung der Texte verhaftet bleiben. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Verbindung nachzuzeichnen und in ihrer Bedeutung für das übergreifende Projekt einer Analyse von Affektivität (in) der Literatur herauszuarbeiten. Dazu gehe ich zunächst auf eine sprechakttheoretische Linie ein, mit der die Subjektkonstitution in den Texten zu fassen ist, bevor ich mich der ‚Kanak Sprak‘ im Allgemeinen und dann in der Analyse von Beispielen der Schnittstelle von Hassrede, Mehrsprachigkeit und Subjektkonstitution im Besonderen widme. 13 Vgl. dazu El-Tayeb, Fatima: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld 2016. 14 Zum Begriff der Mehrsprachigkeit besteht eine lebendige Forschung, die hier in ihrer Breite nur unzureichend abgebildet werden kann. Generell ist mit Gilmour und Steinitz davon auszugehen, dass Mehrsprachigkeit als Forschungsparadigma dazu dient, die „complex forces that shape language in the present as they impact upon the production and circulation of literature“ zu verstehen, die etwa durch „accelerated patterns of migration […], the relationship between national and supranational political formations and ideologies; and the transformative effects of transnational flows of culture, capital, electronic media, and technology“ geprägt und vom Paradigma der Einsprachigkeit ausgehend nur unzureichend analysierbar sind. Vgl. Gilmour, Rachael/ Steinitz, Tamar (Hrsg.): Multilingual Currents in Literature, Translation, and Culture. New York/ London 2018, S.- 1. Für die deutsche Diskussion grundlegend: Dembeck, Till: Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit. Zur Einführung. In: Ders./ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-9-38. 128 Robert Walter-Jochum 2 Zaimoglus Kanak-Erzählungen als Gegenrede im Sinne Judith Butlers Zaimoglus Kanak -Monologe können, wie in der Forschung hierzu verschiedentlich bemerkt worden ist, 15 als Musterbeispiel für eine Form der Aneignung von Hate Speech bzw. Excitable Speech 16 in Form einer Gegenrede angesehen werden, die - nach Judith Butler - in der verändernden Wiederholung des Hasswortes, mit dem jemand konfrontiert ist, die eigene Position bestimmt und eine schöpferische Tätigkeit der Person hervorbringt, die verbal verletzt wurde. Zentral ist hierfür die Übernahme des als Schimpfwort gebrauchten Begriffs ‚Kanake‘ 17 als Selbstbezeichnung im Sinne eines „Kritisch ‚Kanak‘“, wie Yasemin Yildiz in Anlehnung an Butlers Kapiteltitel „Critical Queer“ formuliert. 18 Diese „Re-Appropriation“ 19 vollzieht das, was Butler in Hass spricht als „ermächtigende Ant- 15 Vgl. etwa Husemann, Gesa: Vom Sprachrohr der Kanaken zum deutschen Dichter. In: Christoph Jürgensen/ Gerhard Kaiser (Hrsg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken - Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S.-383-404, hier S.-390; Neubauer, Jochen: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur. Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu. Würzburg 2011, S.-462; Matthes, Frauke: „Was deutsch ist, bestimmen wir.“ Definitions of (Turkish-)Germanness in Feridun Zaimoğlu’s Kanak Sprak and Koppstoff . In: Focus on German Studies 14, S.-19-35, hier S.-20; Ernst, Literatur und Subversion, S.-319-323. 16 Vgl. Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/ London 1997. Im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung: Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Übers. v. Kathrina Menke/ Markus Krist. Berlin 1998. 17 Der Begriff stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet zunächst nichts anderes als „Mensch“; im Zuge des Kolonialismus wurde er nach Polynesien überführt und von dort lebenden Völkern als Selbstbezeichnung verwendet. In den deutschen Sprachraum gelangte er als „abwertende Bezeichnung für rassifizierte Gruppen“, die von Kolonialbeamten und ‚-forschern‘ übernommen wurde und entsprechend negative Konnotationen erhielt. Er wurde zunächst - offensichtlich anders, als vielfach wiederholte Begriffsgeschichten es nahelegen, die die Romantik von Seefahrern mit ihrem Respekt gegenüber polynesischen Matrosen beschwören - durchgehend im Kontext eines abwertenden Othering dieser Gruppen gebraucht und verlor im 20.- Jahrhundert seine konkrete lokale Zuschreibung, indem er sich zum Fremdheit signifizierenden, abwertenden Allgemeinbegriff entwickelte. Zu einer kritischen Begriffsgeschichte vgl. El-Tayeb, Undeutsch, S.-65-68 (das Zitat ebd., S.-68); vgl. auch Heine, Matthias: Seit wann hat geil nichts mehr mit Sex zu tun? 100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren. Hamburg 2016, S.-160-168. 18 Vgl. Yildiz, Yasemin: Kritisch „Kanak“. Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimoğlu. In: Özkan Ezli/ Dorothee Kimmich/ Annette Werberger (Hrsg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S.- 187- 205, hier S.-201. Vgl. Butler, Judith: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of „Sex“. New York 1993, S.-223-242. 19 Matthes, „Was deutsch ist, bestimmen wir“, S.-22. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 129 wort“ 20 konzipiert, die auf die verletzende Anrufung reagiert und deren auf sprachliche Vernichtung zielendes Potenzial umdreht und für die Etablierung einer performativen Identität nutzt. Die Gegenrede macht sich dabei zunutze, dass die „gesellschaftliche Existenz des Körpers“ erst dadurch möglich wird, „dass er angerufen wird“. 21 In einer „rituellen Kette“ von „Reinszenierungen und Resignifizierungen“, 22 als die die Folge der 50 ‚Kanak‘-Interventionen angesehen werden kann, wird das Hasswort partiell von seinem verletzenden Charakter gelöst und zur Wurzel einer alternativen sprachlichen Produktion von Subjektivität und agency , in die so in veränderter Form die Verletzung als konstitutives, aber umgedeutetes Merkmal eingeht. Eine wesentliche Rolle kommt hierbei der grundlegenden Anlage der Texte als protokollierte Monologe zu. Die ‚Kanak‘-Sprecherinnen und -Sprecher weisen sich somit quasi bereits allein durch die Gestalt des Textes als Subjekte aus, deren Konstitution sich in erster Linie sprachlich vollzieht. Wenn Subjekt zu werden mit Butler bedeutet, sich in der Sprache zum Erscheinen zu bringen, dann vollziehen die ‚Kanak‘-Texte genau dies, da die Sprecherinnen und Sprecher, wie Jochen Neubauer feststellt, in ihnen „kein stummes Opfer“ darstellen (zu dem sie demnach in der Geschichte der sogenannten Migrationsliteratur immer wieder stilisiert wurden), sondern „sich wortgewaltig in Szene“ setzen. 23 Sie verfügen selbstbewusst über die Sprache und setzen sich damit dezidiert in Kontrast zu einer Sprachverwendung, die in der Pose des Wortesuchens, der übermäßigen Reflexion und der Ausdruckshemmung erstarrt - eine Pose, die in den Texten häufig mit dem universitären Bereich, mit (in der Regel männlichen) ‚profs‘, Studierenden und Dozenten verknüpft ist. 24 In der Forschung zu Kanak Sprak und Koppstoff ist das Phänomen selbstbewussten Sprechens im Sinne der Etablierung einer handlungsmächtigen Subjektivität vielfach verfolgt worden. Allerdings bleibt in den meisten Beiträgen eine kollektive Komponente im Vordergrund, die die ‚Kanakster‘ und ‚Kanakas‘ zu 20 Butler, Hass spricht, S.-10. 21 Ebd., S.-13f. 22 Ebd., S.-26f. 23 Neubauer, Türkische Deutsche, S.-462. 24 Der Zuhälter Cem formuliert das beispielsweise folgendermaßen: „die zeitung kauf ich nur, weil ich’s blattrascheln orntlich schätz, bücher hab ich nich im regal stehn bei mir in der bleibe, aber eben’s aufschlagen und’s blättern von dünnem papier, das gibt mir’s gefühl ein, daß ich’n gescheiter bin oder’n prof, der über seinem kram brütet und ab und zu aus der wäsche glotzt irgendwohin, weil ihm ’s rechte wort zum schreiben fehlt, nun, das is halt auch bei mir ne idylle, die ich mir da eingerichtet, weiterbringen tut’s ja einen ganz und gar nich, es is so ne art luxus, weil denn der magen voll is, weil’s rascheln behagt“. Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft [1995]. In: Ders., Kanak Sprak/ Koppstoff, S.-11-115, hier S.-46. 130 Robert Walter-Jochum pauschal als geschlossene Gruppe adressiert, die eine vermeintlich einheitliche Zielsetzung verfolge und eine gemeinsame Sprache spreche. 25 Tatsächlich ist die Methode der Aneignung des namensgebenden Schimpfwortes der gemeinsame Nenner der einzelnen Protokolle, die sich hingegen vor allem sprachlich, aber auch im Hinblick auf die konkreten Abgrenzungsstrategien gegenüber anderen Kollektiven und Subjektivierungsangeboten deutlich unterscheiden. 26 Insbesondere kann nicht die Rede davon sein, dass eine durchgehend einheitlich verwendete ‚Kanak Sprak‘ die konkreten Texte bestimme - bereits innerhalb von Zaimoglus Erstling ist hier (bei aller sprachlichen Drastik insgesamt) eine behutsame sprachliche Nuancierung zu beobachten, die in Koppstoff noch deutlich stärker ausfällt. Den 50 Texten gelingt also gewissermaßen der Spagat, eine gemeinsame Grundzielsetzung des Ausfüllens und Resignifizierens der Selbstbezeichnung als ‚Kanakster‘ bzw. ‚Kanaka‘ zu vollziehen, obwohl sie in sich hochgradig individuell, ja individualistisch verfahren und 50 verschiedene, zum Teil deutlich in Spannung zueinander stehende Wege dieser iterativen Resignifikation gehen - ein Aspekt, der verdeutlicht, dass die Texte keine identitätspolitische Verengung auf ein konkretes Gruppenverständnis, sondern eine Abkehr von identitätspolitischen Zuschreibungen unter den Vorzeichen einer postmigrantischen Gesellschaftsvorstellung vollziehen. Wenn ich also im Folgenden konkrete Abgrenzungsstrategien, die proaktive Nutzung von Hassrede und Konstellationen von ausgestellter Mehrsprachigkeitskompetenz verfolge, ist im Voraus zu betonen, dass die Beobachtungen insgesamt nie für alle 50 Kurztexte gleichermaßen gelten - die 50 Fälle bilden zusammen genommen eher ein Mosaik verschiedener Strategien, innerhalb dessen differenziert werden muss. 3 Bestand und Sprechakte der ‚Kanak Sprak‘: Affektive Positionierung durch Sprache jenseits des monolingualen Paradigmas Hinsichtlich der Mehrsprachigkeit lassen sich in den Texten zwei Ebenen unterscheiden: die Ebene des Sprachbestands, der sich aus der Gesamtheit der 50 Einzeltexte speist, sowie die Ebene der individuellen sprachlichen Performanz 25 Vgl. etwa Husemann, Vom Sprachrohr der Kanaken zum deutschen Dichter, S.-388; Skiba, Dirk: Ethnolektale und literarisierte Hybridität. In: Klaus Schenk/ Almut Todorow/ Milan Tvrdik (Hrsg.): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen 2004, S.-183-204, hier S.-195 (dort ist in Bezug auf Kanak Sprak von einer „Monofrequenz“ die Rede, die erst in Koppstoff aufgelöst werde). 26 So etwa auch Neubauer, Türkische Deutsche, S.-459. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 131 in den Einzeltexten. Wenn man so will, lässt sich auf Ebene des Gesamtbestands der Texte ein Sprachsystem konfigurieren, das kurz als ‚Kanak Sprak‘ gefasst werden kann (und das die einzelnen Beiträge als Sprechakte in sehr unterschiedlicher Weise aktualisieren). Hier wäre - etwa mit Yasemin Yildiz 27 - darauf hinzuweisen, dass sich in der ‚Kanak Sprak‘ zahlreiche Ebenen überlagern und dass diese also eine brüchige, mosaikartige Synthese aus einer Pluralität von Sprachen, Ethno-, Dia- und Soziolekten und verschiedenen Jargons darstellt. 28 ‚Kanak Sprak‘ vereint so Elemente der deutschen und türkischen (Standard-) Hochsprache, verschiedener - vor allem norddeutscher - Dialekte und Mundarten, sie bezieht jugendsprachliche Elemente ein, bedient sich an anglophonen Floskeln aus Rap und Pop, nutzt aber auch Worte aus dem Hebräischen, dem Jiddischen und tradierte Wendungen eines historischen Rotwelsch. Besonders markant erscheint mir über diese Erträge der benannten Studien hinaus die Tatsache, dass zum hier entstehenden Sprachsystem auch die parodistische oder nachahmende Verwendung spezifischer literatursprachlicher Stile gehört, deren Einbeziehung durch die Sprecherinnen und Sprecher für besondere Versiertheit im Umgang mit der Sprache bürgen kann - genannt wurde schon das Deutsch der Heideggerschen Philosophie, im Text präsent sind aber auch etwa ausgewiesene - und ideologisch in alle Richtungen ausschlagende - Anleihen am Stil Ernst Jüngers, an Sprachschöpfungen Paul Celans und Arthur Rimbauds sowie deutsche und türkische Nachdichtungen der Sprache des Korans oder einer von Orientalismen und Exotismen Gebrauch machenden „weinerlichen Gastarbeiterliteratur“ in einer „blumigen Orientalsprache“, 29 die von Zaimoglu im Vorwort zu Kanak Sprak in abwertender Art und Weise mit dem Schreiben Emine Sevgi Özdamars in Verbindung gebracht wird. 30 Betrachten wir nun die konkrete Aktualisierung dieses vielseitigen Sprachbestands in den Texten, so kommt es zu jeweils spezifischen Mischungen aus diesem ‚Baukasten‘. Tatsächlich sind jedoch Fälle, in denen ein dominant einsprachiges Paradigma bedient würde, das die Mehrsprachigkeit in den Hintergrund treten ließe, praktisch nicht zu beobachten. Die einzelnen Sprechakte von Zaimoglus Sprecherinnen und Sprechern spiegeln damit sehr unterschiedlich zusammengesetzte ‚Mehrsprachigkeiten‘ wider, die deutlich werden las- 27 Vgl. Yildiz, Kritisch „Kanak“, S.-191-200. 28 Vgl. auch Skiba, Ethnolektale und literarisierte Hybridität. 29 Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-17 und 19. 30 Zaimoglu (Kanak Sprak, S.-17) schreibt: „Die ‚besseren Deutschen‘ sind von diesen Ergüssen ‚betroffen‘, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ‚den Spiegel vorhalten‘, und feiern jeden sprachlichen Schnitzer als poetische Bereicherung ihrer ‚Mutterzunge‘“, womit er auf Özdamars Erzählsammlung Mutterzunge anspielt: Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge. Erzählungen. Berlin 1990. Vgl. dagegen zur Schrift-Passion in Özdamars Mutterzunge den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band. 132 Robert Walter-Jochum sen, inwiefern sich das diverse Ausgangsmaterial, das im konkreten Sprechakt aktualisiert wird, in ständiger Überlagerung, Beeinflussung und gegenseitiger Affizierung befindet. Der einzelne Sprechakt erscheint so als relationale Bestimmung einer individuellen Position ausgehend von dem konkret in ihm artikulierten Sprachmaterial, dessen von Spannungen der verschiedenen Codes zueinander geprägter Charakter in aller Regel transparent gehalten wird. 31 Den interessantesten Fall aus der Perspektive der Mehrsprachigkeit bilden sicher solche Texte, die bewusst von den verschiedenen sprachlichen Ebenen Gebrauch machen, diese miteinander in neue, kreative Verbindung bringen und dies zuweilen sogar zusätzlich als intentionales Verfahren des bzw. der Sprechenden ausweisen. Sie zeugen dann von einer spezifischen Mehrsprachigkeitskompetenz der ‚Kanakster‘ und ‚Kanakas‘, die diese von anderen Gruppen abhebt, sei es von der deutschen Mehrheitsgesellschaft oder der Gruppe der Eltern und älterer Familienangehöriger. Anders als es Zaimoglu im Vorwort zu Kanak Sprak glauben macht, wenn er feststellt, der Kanake spreche seine Muttersprache nur fehlerhaft, auch das ‚Alemannisch‘ ist ihm nur bedingt geläufig. Sein Sprachschatz setzt sich aus ‚verkauderwelschten‘ Vokabeln und Redewendungen zusammen, die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen 32 , zeichnen sich seine Sprecherinnen und Sprecher vielfach durch eine besonders bewusste, zwischen den Linien der Hoch- und Gruppensprachen agierende Sprachverwendung aus, die sowohl auf das Selbstbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher wie auch auf den gruppenbezogenen Selbstwert der ‚Kanaken‘ wichtige Auswirkungen hat. 33 Teil der Resignifizierung, die den Begriff des ‚Kanaken‘ betrifft, ist damit die Verschiebung von einer Figur, die zwischen den Sprachen steht und keine so richtig beherrscht, zu einer, die selbstbewusst, kreativ und poetisch mit der Sprache umgeht und im Gegensatz zu den offenbar im monolingualen Paradigma gefangenen Gegenpositionen - ‚Alemannen‘ und Eltern - in der Lage ist, die affektiven Relationen, die durch die Mehrsprachigkeit ausgedrückt werden können, sprachlich zu realisieren und zu durchschauen. 31 Diese stets präsent gehaltene Sichtbarkeit der mehrsprachigen Kombinationsakte dürfte die künstlerisch hergestellte Mehrsprachigkeit von Zaimoglus Sprecherinnen und Sprechern deutlich unterscheiden von alltäglichen Phänomenen der Mehrsprachigkeit. Ernst bezeichnet die Kanak Sprak entsprechend als „subversive Kunstsprache“ und attestiert ihr damit einerseits eine politische Relevanz, betont andererseits aber zu Recht, dass es sich hierbei nicht um die „authentische“ Sprache realer Personen, sondern eine von Zaimoglu kunstvoll gestaltete „hybride“ „Kreolsprache“ handle. Vgl. Ernst, Literatur und Subversion, S.-304-327. 32 Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-18. 33 Diese Perspektive wird in der Forschung an verschiedenen Stellen benannt, vgl. etwa Matthes, „Was deutsch ist, bestimmen wir“, S.-24, sowie Yildiz, Kritisch „Kanak“, S.-193. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 133 In ihren kreativsten Ausformungen ist die ‚Kanak‘-Kultur über das Mehrsprachigkeitsparadigma hinaus mit einem Sprachschöpfertum verbunden, das im Rahmen der ‚Kanak Sprak‘ neue Wendungen schafft, wo die bestehenden Angebote nicht die Kraft zu haben scheinen, das auszudrücken, was gesagt werden muss - mit Roman Jakobson kann man dann davon sprechen, dass die poetische Sprachfunktion in den Vordergrund tritt, wodurch sich eine besondere Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst richtet. 34 Deutlich wird dies etwa in der exzessiven Nutzung von Neologismen, die nicht zuletzt auch soziale Positionsbestimmungen markieren und sprachlich unterstreichen, dass der Rahmen vorgegebener sozialer wie sprachlicher Koordinatensysteme gesprengt werden muss, um das zu sagen, was der Sprecher bzw. die Sprecherin ausdrücken will. Mit ihren Sprachschöpfungen treten ‚Kanakas‘ - „Koppstoff“ 35 tragend oder nicht - als „Liberalkiller“ denen gegenüber, die sie als „Liberalultramild“ kennzeichnen; sie lassen „Weibhärte“ walten, beklagen sich über die „Orientalklatsche“ ihrer Eltern, wettern gegen „Assimilfatmas“, 36 die in fortwährendem Selbsthass daran arbeiten, die eigene Individualität im Mainstream aufzulösen, oder sie imitieren als Paul Celan-Leserinnen dessen enigmatisch anmutende, aber die Sprachverwirrung der Migration aufgreifende Sprechweise: „Den Stammelsprech schmeiß ich in dieses Land Alemania und sage, daß die nach Rache lüstern, Stoppeläugige sind, Beideaugenklappige.“ 37 Ein wesentliches Ziel der Nutzung der ‚Kanak Sprak‘ ist über die Resignifikation hinaus, die Möglichkeiten des persönlichen Ausdrucks sicherzustellen und - in manchen Teilen - so auch eine politische Gruppenbildung zu ermöglichen. ‚Kanak Sprak‘ kann dabei als ‚Klartextsprache‘ wahrgenommen werden, die Phänomene benennbar macht, die aus kulturellen Gründen weder die Elterngeneration noch die deutschsprachige Mehrheitsgesellschaft sprachlich adressieren. Die Klartext-Forderung formuliert auf markante Weise die Ernst Jünger-Leserin und „Verkäuferin in einer Edelboutique“ Şükran: Der Mensch [gemeint ist Jünger] hat ein wirklich vermurkstes Selbstwertgefühl und geht den Leuten mit seinen billigen Merksätzen auf die Nerven. Du kannst einen 34 Vgl. Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921- 1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein/ Tarcisius Schelbert. Frankfurt am Main 1979, S.-83-121. 35 Der Titelbegriff des zweiten Bandes von Zaimoglus „Reportagen“ ersetzt die identitätspolitisch hoch aufgeladene Vokabel des Kopftuchs und entstammt der Erzählung, die der Prostituierten Ayşe zugeschrieben wird: „[I]ch mach die Beine breit in diesem Ratten-Land, ich bin die Aysche-Nutte in diesem Ratten-Land, mit oder ohne Koppstoff, megahurenfett oder dirnendünn, reinmoralisch oder discofesch, hirnstark oder taubdumm, dies und dies oder das und das: Die Faust ist die Einmischung, und die Faust ist die deutsche Festung in meinem scheiß Bauch.“ Zaimoglu, Koppstoff, S.-218. 36 In der Reihe der Zitate: Ebd., S.-123, 126, 141, 166. 37 Ebd., S.-221. 134 Robert Walter-Jochum häßlichen Deutschen von einem lumpigen Basari nicht unterscheiden, beide handeln mit Schrott und Tand. Und ihre Blendung ist durchsichtig […], aber sie schauen wie angesoffene Monokelgrafen in die Ferne, und es ist alles irgendwie recht bedeutsam, bloß nicht auf den Punkt kommen […]. Nein, sie nageln Sätze in die Luft wie: Da war etwas über mich Gewachsenes, das sich meiner Begrifflichkeit verschloß. Bei so was will ich gleich die Klospülung betätigen. […] Du verstehst hoffentlich, was ich meine. Ich will, daß sich Klares ergibt und daß Klares auch Schönes will. 38 In einer besonderen Volte, die eine historische Mehrsprachigkeit reflexiv aufnimmt, formuliert der 18-jährige Packer Büjük Ibo die Notwendigkeit, Klartext zu sprechen und damit nach außen zu treten, gewissermaßen einen Imperativ der sprachlichen Subjektivierung: Jeder hat sein eigen fassong, wenn du willst, und seinen fassong muß man gut stück an die glocke hängen, damit der rest weiß, wo sein spaß aufhört, und das, bruder, is mein handwerk. 39 Bemerkenswert stellt in dieser Formulierung ein postmigrantischer Sprecher die Tatsache aus, dass dieser postmigrantische Zustand der Gesellschaft eine schon viel längere Geschichte hat, als es die Fixierung des Migrationsdiskurses auf die bundesrepublikanische Einwanderungsgeschichte der ‚Gastarbeiter‘ nahelegt. Die Formulierung von der eigenen „fassong“ bezieht sich schließlich auf die dem preußischen König Friedrich II. zugeschriebene (und eine ähnlich extravagante Orthografie aufweisende) Formulierung: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben, das Keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“ 40 , und damit auf das Versprechen der staatlich garantierten Bekenntnisfreiheit im aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts - ausgedrückt in einer prägnanten Mischung der für Friedrich im Alltag gängigeren offiziellen französischen Sprache mit der Muttersprache seiner Untertanen, dem Deutschen. Zur so als postmigrantisch erkennbar werdenden preußischen Gesellschaft gehörte also, wenn man so will, der hiermit durch den Regenten (in Grenzen) gestärkte Katholizismus starker Bevölkerungsgruppen (zumindest in der Anerkennung von deren persönlicher Bekenntnisfreiheit - bei allen Streitpunkten, die Friedrich II. sonst mit der katholischen Kirche entzweiten) ebenso wie der Islam zur Bundesrepublik des Jahres 2010, als der Bundespräsident Christian Wulff dies 38 Ebd., S.-133. 39 Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-41. 40 So der originale Wortlaut in der „Rand-Verfügung des Königs zum Immediat-Bericht des Geistlichen Departements. Berlin 1740 Juni 22: Katholische Schulen und Proselytenmacherei“. In: Lehmann, Max: Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives. 2. Theil. 1740-1747. Leipzig 1881, S.-4. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 135 betonen zu müssen meinte. Bei Zaimoglus Sprecher wird nicht nur die Berechtigung der eigenen „fassong“ behauptet, sondern diese lautstark auszuleben wird gewissermaßen zur Verpflichtung, ohne die eine selbstbewusste, eigenständige Positionierung zwischen den Sprachen und Kulturen undenkbar ist. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang des Klartext-Redens einer affektiven Sprache zu, nicht nur verstanden als Medium des Affektausdrucks, sondern gleichermaßen als affektiv gestaltete und daher entsprechend wirksame Sprache. Sie hat nicht zuletzt die Funktion, jenseits einer argumentativen Rhetorik mithilfe der Ebene des Sprachmaterials affektiv Zugang zu anderen zu finden, 41 wie etwa im sozialen Projekt eines Zusammenschlusses ‚kanakischer‘ Jugendlicher jenseits der stereotypischen Nische des Kleinkriminellen deutlich wird, das der Rapper Ali verfolgt. Die affektiv gestaltete Sprache wird hierfür funktionalisiert: Wir müssen interesse wecken und wir müssen um jeden preis einen rauhen und prächtigen sound bieten, der sie vom sockel haut. Das geht nur, wenn du vorbild bist und dieses altmodische wort tugend schmackhaft machst wie ne olle hostie mit erdbeergeschmack. Wir ködern die kids mit ner rüden etikette, und wenn die zu uns überlaufen, geben die von selbst ihre grundfalsche haltung auf und bleiben sauber und scheißen auf gewalt. 42 Mit dem „rauhen und prächtigen sound“ der Sprache steht die nicht-semantische, materielle Ebene des Sprechens im Fokus - und über diese Ebene wird demzufolge der gruppenbildende Effekt erzielt, der für eine als Bewegung verstandene ‚Kanak‘-Kultur von höchster Relevanz ist. Dass die vermeintliche Gangster-Kultur des Rap eingesetzt wird, um auf die Tugendhaftigkeit der Altersgenossen hinzuwirken, und dass dies ausgerechnet über den Vergleich mit der katholischen Tradition erfolgt (wodurch auch diese in ihrer sinnlich-materiellen, weniger in ihrer spirituellen Dimension ausgestellt wird, denn der Reiz an der Hostie ist hier offensichtlich nicht das durch sie zu erlangende Seelenheil, sondern ihr extravaganter „erdbeergeschmack“), sorgt für die Infragestellung kultureller Stereotypisierungen und positioniert die Akteure in einem postmi- 41 Der Frage, welche Relevanz das konkrete Sprachmaterial eines Sprechakts für die Affektivität von Sprache hat, kommt aus Sicht der Affect Studies eine zentrale Rolle zu. Zu den Konsequenzen dieser Perspektive vgl. Gehring, Petra: Über die Körperkraft von Sprache. In: Steffen K. Herrmann/ Sybille Krämer/ Hannes Kuch (Hrsg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld 2007, S.- 211-228. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes aus interdisziplinärer Perspektive bietet Berg, Anna L./ von Scheve, Christian/ Ural, N. Yasemin/ Walter-Jochum, Robert: Reading for Affect - a Methodological Proposal for Analyzing Affective Dynamics in Discourse. In: Antje Kahl (Hrsg.): Analyzing Affective Societies. Methods and Methodologies. New York/ London 2019 [im Druck]. 42 Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-31. 136 Robert Walter-Jochum grantischen Feld, das hier gleichzeitig als ‚postsemantisch‘ bezeichnet werden könnte, indem es die Ebene der Bedeutungsgenerierung gegenüber der affektiv-sinnlichen Ebene hintanstellt. Die affektive Relationierung verschiedener kultureller Strömungen, die in den Einzeltexten vollzogen wird, ermöglicht, wie die unterschiedlichen Beispiele zeigen, das Beziehen einer jeweils individuellen, aber im selben Spannungsfeld entstehenden eigenen Position, die sich in den Texten von Anpassung an den deutschen Mainstream, Rückorientierung in Richtung der Kultur der Eltern, die Einordnung in eine anarchistische Anti-Kultur, spezifische philosophische und künstlerische (subkulturelle) Positionen bis hin zur Verknüpfung mit feministischen oder queeren Entwürfen von Geschlecht erstreckt. Hinsichtlich des letzteren Punkts ist auffällig, dass die - später entstandenen - weiblichen Positionen in Koppstoff eine deutlich größere inhaltliche wie sprachliche Bandbreite aufweisen, die das Buch zum Dokument einer besonderen ‚Kanaka‘-„Toughness“ 43 macht, die sich mit einiger Leichtigkeit über die vielfach von einem ostentativen Machismo geprägten männlichen Positionen des ersten Bandes hinwegsetzt. 44 4 Ich hasse, also bin ich: Hassrede, Mehrsprachigkeit, Subjektkonstitution Die eigene Positionsbildung wird in den Texten häufig über Strategien vollzogen, die unter dem Schlagwort der Hassrede zusammengefasst werden können. Der Begriff Hassrede ist wissenschaftlich nicht genau definiert und ich verwende ihn hier im Sinne einer verletzenden, herabsetzenden oder herabwürdigenden Rede gegenüber anderen, die in der Regel mit pauschalisierenden, gruppenbezogenen Negativbewertungen operiert. 45 Insofern handelt es sich um einen weiten Begriff von Hassrede, der nicht - wie es sich beispielsweise aus den juristischen Gegebenheiten in den USA ergibt - auf solche Formen der verletzenden Rede begrenzt ist, die zur Gewalt aufrufen. Demgegenüber fasst etwa der Europarat in hier anschlussfähiger Weise als Hassrede 43 So Matthes, „Was deutsch ist, bestimmen wir“, S.-28. 44 Die Tatsache, dass Zaimoglu unter den männlichen Sprechern in Kanak Sprak auch die Transsexuelle Azize zu Wort kommen lässt, signalisiert eine gewisse Abschwächung dieser Machismo-Linie, ohne jedoch die generelle Opposition von zwei Geschlechtern infrage zu stellen - die Überschrift „Fraugeworden“ des Azize zugeschriebenen Texts unterstreicht dies. Vgl. Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-34-37. 45 Vgl. zum gegebenen Zusammenhang etwa die Übersicht über verschiedene Formen und Gegenstandsbereiche der Hassrede auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung: Was ist Hatespeech? (Bundeszentrale am 12.07.2017). www.bpb.de/ 252396/ wasist-hate-speech (07.03.2018). Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 137 jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschließlich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken. 46 Hassrede wird durch die Sprecherinnen und Sprecher bei Zaimoglu rhetorisch eingesetzt, um über die Zurückweisung der in der Bezeichnung als ‚Kanake‘ liegenden Verletzung hinaus die eigene Position sprachlich, sozial, kulturell und genderbezogen zu festigen. In der Hassrede überlagert sich so ein emotionaler Diskurs mit affektiv relationierenden Elementen, die eine individuelle, differenzielle Positionsbestimmung und Subjektkonstitution ermöglichen. Diese erfolgt nicht zuletzt dadurch, dass durch die Zuweisung einer als verachtenswert konnotierten Position an andere Gruppen die eigene Position gesichert wird - eine im Rahmen einer sprachlich-diskursiven Subjektivierung zentrale und erfolgversprechende Strategie, wie etwa Sara Ahmed 47 herausgearbeitet hat. In Bezug auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft äußert sich diese Hassrede in einer Form, die man als Re-Othering 48 bezeichnen könnte, als die in Form einer Revanche stattfindende Herabwürdigung des anderen mithilfe von Stereotypisierungen, die ebenfalls in stark affektiver Form erfolgt. 49 Unter dem Begriff des Othering können diskursive Strategien gefasst werden, mit denen das Fremde als Fremdes eingeordnet, festgelegt und in (meist abwertender) Abgrenzung vom Eigenen verstanden wird. Othering spricht dabei aus der Position der eigenen ‚Normalität‘ heraus und begreift das Eigene als das Normale gegenüber dem Fremden, das von einem Standpunkt der eigenen Überlegenheit aus 46 Europarat - Ministerkomitee: Empfehlung Nr. R (97) 20 an die Mitgliedstaaten über die „Hassrede“. Europarat am 30.10.1997. www.egmr.org/ minkom/ ch/ rec1997-20.pdf (07.03.2018). Zu bemerken wäre hierzu, dass in dieser Definition eine perlokutionäre Dimension von Hass-Sprechakten im Vordergrund steht, die deren Wirkungen jenseits der Sprache betont, während unter der hier vorgeschlagenen Perspektive auch ein illokutionäres Geschehen zu berücksichtigen wäre, das Hassrede als direktes Handeln durch Sprache in den Blick nimmt. 47 Vgl. hierzu Ahmed, Sara: Affective Economies. In: Social Text 22/ 2 (2004), S.-117-139, und dies.: The Cultural Politics of Emotions. Edinburgh 2004. 48 Der Begriff des Othering stammt von Spivak, Gayatari C.: The Rani of Simur. An Essay of Reading the Archives. In: History and Theory 24/ 3 (1985), S.- 247-272. Vgl. auch MacQuarrie, Colleen: Art. Othering. In: Elden Wiebe/ Gabrielle Durepos/ Albert J. Mills (Hrsg.): Encyclopedia of Case Study Research. Bd.-2. Los Angeles 2010, S.-635-639. 49 Ernst schreibt diesen Strategien die Kraft einer „Umkehrung der binären Matrix“ des rassistischen Diskurses zu und operiert dabei auf der Basis von Edward Saids Theorie des Orientalism . Vgl. Ernst, Literatur und Subversion, S.-331. 138 Robert Walter-Jochum als abweichend, inkompatibel und anders ausgewiesen wird. Mit Re-Othering ist hier demgegenüber gemeint, dass aus einer strukturellen Minderheitenposition, die den Sprechenden vom hegemonialen Diskurs zugewiesen wird, eine nach denselben Verfahren der stereotypisierenden Abwertung vorgehende Beschreibung der Mehrheit erfolgt, durch die die hier zu Wort kommende Minderheitenposition gestärkt wird. Diese Abwertung ist so Bedingung für die eigene Positionsbestimmung, sie schert sich nicht um eine treffende und ausgewogene Einschätzung, sondern lebt - ebenso wie die Stereotype gegenüber der eigenen Gruppe, denen sie entgegentritt - von der kraftvoll-brutalen Pauschalität der Behauptung. Ein Beispiel hierfür bildet die Darstellung der „alemannen“ durch den Arbeitslosen Fikret: Ich kann hier voll von der kanzel wider die landeskinder rede halten, doch neu wird’s denen auch man nicht sein, wenn ich dem alemannen attestier, daß er statt ner haut ne glasur hat wie auf’m berliner in der konditorei, und das, was ihm die lider so umfangen, kein aug ist, aber ne illusionskapsel, daß’s teutsche gesicht wie die olle bismarckstatue im park befallen is von sonem ungeistigen grünspan. […] Aber, bruder, der alemanne ist ja gern dozent und mag ne weisheit nach ner anderen in die welt scheißen, nur wenn’s drum geht, mal die eigne personhaltung aufzuknacken und’s madengewimmel rauszulassen, ist er nicht mit von der partie. Der alemanne, bruder, frißt krise, scheißt krise, und steckt dich mit ner grübelmikrobe an, daß es auch in dir man kriselt und scheppert bis zum jüngsten tag. 50 Während hier - wie schon eingangs in der Persiflage der heideggerisierenden Mitstudierenden - das grüblerische Potenzial des Deutschen attackiert wird, stellt der Kfz-Geselle Hassan einen anderen hassenswerten Aspekt in den Mittelpunkt: Folklore is für’n deutschen musikantenstadl oder schlesien-wie-fehlst-du-mir oder’n karatehieb ins kanaken-genick, daß man auch als der letzte prolofucker noch’n kraushaar unter sich weiß. Der deutsche malocher is ne pogromsau, tottreten is für die hier oberster volkssport. 51 Insofern ist zu Recht bemerkt worden, dass in den Texten vielfach eine dezidiert platte Abrechnung mit den ‚Alemannen‘ stattfindet - als Re-Othering muss dies auch so sein, so meine These, um die Abhängigkeit solcher Gruppenkonstruktionen von Stereotypen durchschaubar zu machen. Re-Othering ist damit eine Vorgehensweise, die in Bezug auf sprachliche Ausgrenzungsmechanismen ein reflexives, diagnostisches gesellschaftskritisches Potential hat - anders als das 50 Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-68 und 71. 51 Ebd., S.-73. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 139 Othering , das sich in der Regel der Beschränktheit des eigenen Blickwinkels nicht bewusst ist. Nicht zuletzt über die Linie einer Hervorhebung der eigenen Sprachkompetenz erfolgt die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. So beklagt der Soziologe (! ) Kadir in Bezug auf die Väter der ‚Kanakster‘: Ihre nostalgie ist dumpf, ihr haß wirkt sieben katzenleben lang. Ihr deutsch ist lächerlich, ihr türkisch grob dialekt, ihr vaterland immer noch die ferne türkei, aus der sie mit zwiebelsäcken beladen zurückkehren, als wären in dem ungläubigen land alle reserven aufgebraucht. 52 Der sprachkompetente ‚Kanakster‘ Kadir grenzt sich hier über dieses Merkmal von der Vätergeneration ab, die in stereotyper Weise skizziert wird, durchaus anschließend auch an Stereotype des Mainstreams. Eine wichtige Rolle spielen hierfür die auch im Umfeld dieses Zitats aufgegriffenen Geschlechterrollen der Elterngeneration, die von den eigenen Vorstellungen deutlich abweichen. 53 Im Text der Schülerin Nilgün wird in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Namen eine doppelte Zugehörigkeit deutlich, wobei vor allem eine Abgrenzung zur Geschlechterrolle der Mutter vorgenommen wird: Zu Hause heiße ich Nilgün. Aber draußen nennt mich niemand so. Da bin ich die Nilla. Überhaupt bin ich zu Hause jemand anderes. Das muß so sein. Sonst überlebe ich das nicht. […] Und die Frauen: Ihr ganzes Leben besteht aus kochen, Kinder erziehen und tratschen. […] Das kotzt mich so an. Alles ist falsch, alles verlogen. Aber ich, ich will nicht dazugehören. Da mache ich nicht mit. Ich will da raus. Ich will nicht so werden wie die alle. Ich hab meine eigene Welt da draußen. 54 Hassrede ermöglicht dem Subjekt nach verschiedenen Seiten eine Abgrenzung, die häufig gruppenbezogen und über (hier ausgestellte) Vorurteilsstrukturen vollzogen wird. Affektiven Charakter hat diese Selbstkonstruktion insofern, als sie in der Regel nicht argumentativ verfährt, sondern in der Pauschalisierung zu einer affektiven Bildung von Gruppen führt, die durch das Moment des Hasses zusammengestellt werden - die gleitende Zuordnung einzelner Phänomene zu dieser hassenswerten Gruppe ist dabei ein zentraler Aspekt des Funktionierens von Hassrede, wie Ahmed gezeigt hat. 55 Deutsche Mehrheitsgesellschaft und türkischstämmige Verwandte sind nur zwei der wesentlichen Gruppenbildungen, die über Hassrede erfolgen, andere Sprecherinnen und Sprecher arbeiten 52 Ebd., S.-86. 53 Vgl. ebd., S.-86f. 54 Zaimoglu, Koppstoff, S.-230 und 232. 55 Vgl. Ahmed, Affective Economies, insbesondere S.-121-124. 140 Robert Walter-Jochum sich etwa an der Popliteraturbewegung ab, 56 an deutschstämmigen Punks, 57 an Liberalen, 58 an Politikern im Allgemeinen 59 oder an assimilierten Deutschtürken. 60 Dass die Selbstdefinition über die Abgrenzung im vorgeführten Re-Othering ihre Grenzen hat, wird in einigen Texten jedoch auch deutlich, etwa in der Position, die die Übersetzerin Suzan bezieht und die zu einer programmatischen Vorstellung der Unbehaustheit führt: Wo steht man selbst? Nur n Kritikbeißer zu sein, das bringt’s nicht allein. […] Was da alles aus der Alemanbude rausquillt an Mensch sieht nicht nach Menschenglück aus […]. Was aus der Klassiktürkküche rausdampft, das ist auch nur irgend ne Zeit, die hinter mir liegt […]. Ich setz mich in ne Nische, da sind zehn Verstecke, und in jedem Versteck hundert Baumhöhlen, und in jeder Baumhöhle …, naja, kannst jedenfalls abhaken bei mir von wegen ein einziger Wohnsitz. 61 5 Fazit Die Erzählerfiguren in Zaimoglus Kanak Sprak und Koppstoff breiten unter dem Signum der Aneignung der verletzenden Fremdbeschreibung vom ‚Kanaken‘ ein Panorama sprachlicher Subjektkonstitution aus, die sich mittels und im Medium der Sprache selbst vollzieht. Eines der Kernanliegen der vorgeführten ‚Kanakster‘ und ‚Kanakas‘ ist es, die eigene Mehrsprachigkeitskompetenz auszuweisen und damit eine Position zu beziehen, die sie nicht zwischen den Stühlen, sondern in einer souveränen, von sprachlicher agency geprägten Übersichtsperspektive jenseits der monolingualen Beschränktheit von Mehrheitsgesellschaft und türkischer Verwandtschaft verortet. Viel eher als Vorstellungen der ‚Migrationsliteratur‘ entspricht diese Positionierung dabei einem Sich-selbst-zur-Geltung-Bringen in einer postmigrantischen Gesellschaft - und liegt damit jenseits des Paradigmas der Integration sowie der identitätspolitisch orientierten Paradigmen der bleibenden Fremdheit bzw. kulturellen Prädetermination der eigenen Subjektivität. Die Nische, in der sich diese ‚Kanakster‘ und ‚Kanakas‘ in je eigener Weise verorten, ist eine, die so unter den Bedingungen der postmigrantischen Gesellschaft nur ihnen zugänglich ist, die ihren Lebenserfahrungen und Kompetenzen entspricht, durch die sie sich von tatsächlichen 56 Vgl. Zaimoglu, Kanak Sprak, S.-23. 57 Vgl. ebd., S.-75. 58 Vgl. Zaimoglu, Koppstoff, S.-123. 59 Vgl. ebd., S.-145. 60 Vgl. ebd., S.-176. 61 Ebd., S.-149. Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu 141 Migranten ebenso abheben wie von der Mehrheitsgesellschaft ohne transparenten Migrationshintergrund. Hassrede wird hier in Form eines Re-Othering eingesetzt, um die einsprachigen Gegenfiguren herabzusetzen - wodurch zugleich deutlich wird, dass es sich beim Paradigma des Postmigrantischen nicht um eines handeln muss, in dem konfligierende Selbstverortungen in einem übergreifenden permanenten Konsens aufgehen würden. Re-Othering erfolgt durch die transparente und als simplifizierend ausgestellte Verwendung von Stereotypen, die keinen Anspruch auf einen zutreffenden Referenzbereich haben, sondern vielmehr der affektiven Modulierung der eigenen Position und der Festlegung der Relationen zwischen den so entstehenden Gruppen dienen - eine Differenzierung, die für das Verständnis von Zaimoglus Texten aus meiner Sicht zentral ist, die jedoch in politischen Bewegungen, die sich auf ihn beziehen oder bezogen haben, immer wieder in den Hintergrund geriet. Bei aller Unterschiedlichkeit sind Zaimoglus ‚Kanakster‘ und ‚Kanakas‘ Figuren, die Klartext sprechen, sich im vermeintlichen Wirrwarr der Sprache(n) selbstbewusst und gezielt orientieren und so eine markante Subjektkonstitution in der Mehrsprachigkeit vorführen. Den Herausforderungen der postmigrantischen Gesellschaft begegnen sie durch Abgrenzungsprozesse, die mithilfe von Mitteln der Hassrede die eigene Position sichern und so als berechtigt, überlegen und stark ausstellen. Zaimoglus Texte setzen dazu auf eine enge Verknüpfung von Affektivität und Mehrsprachigkeit, die in ihrer Deutlichkeit paradigmatische Wirkung entfaltet und der nachzugehen sich auch in Bezug auf andere Texte, die hier weniger plakativ verfahren, lohnen dürfte. „Was ist ihre Arbeit hier, in Prosa der deutschsprachige Sprach? “ Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Tomer Gardis Roman broken german Sandra Vlasta Beim 40. Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 hat der israelische Autor Tomer Gardi mit einem Ausschnitt aus seinem Roman broken german für Verwirrung und Diskussionen gesorgt. Diskutiert wurde unter anderem die Frage, ob die Bedingung für die Teilnahme an einem Literaturwettbewerb nicht die Beherrschung der Sprache sein müsste. Denn Tomer Gardi hat seinen ersten Roman auf Deutsch verfasst, einer Sprache, die nicht seine Erstsprache, seine Muttersprache ist. Damit reiht er sich in eine lange Reihe von Schriftstellern ein, wie Adelbert von Chamisso, Joseph Conrad, Elias Canetti, Joseph Brodsky sowie zeitgenössischen Autorinnen und Autoren wie Kazuo Ishiguro, Emine Sevgi Özdamar, Igiaba Scego und vielen anderen. Doch anders als deren Werke ist Gardis Buch in einer Sprache verfasst, die mit dem Romantitel - broken german - bezeichnet werden könnte; es ist ein gebrochenes, fehlerhaftes Deutsch, das das auffälligste Gestaltungsmittel des Textes ist, wie hier zu Beginn des Romans: 1 Drei Kinder steigen von eine U-Bahn aus. Eine heisst Amadou, eine Radili, eine heisst Mehmet. Es ist Sommer. Im U-Bahn steht Mehmet, sein Hand hochgestreckt, hält sich zum Stange. Er hat schwarzes Haar unter sein Arm und sieht, stolz, wie Radili es anschaut. Radili ist dreizehn und Mehmet schon vierzehn und er fragt sich selbst, Radili, wann es bei ihm auch schon anfangen wird mit dem Haar. Dann hält das U-Bahn und 1 In der sprachlichen Gestaltung erinnert das Buch an den Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (London 2007) der chinesisch-britischen Autorin Guo Xiaolu, in dem die chinesische Ich-Erzählerin Z in broken English , in gebrochenem, inkorrektem Englisch, von ihrem Aufenthalt in Großbritannien erzählt, wo sie ein Jahr verbringt, um Englisch zu lernen. 144 Sandra Vlasta Mehmet öffnet die Tür und Radili, von hinten, stosst Mehmet auf eine Frau die da vor dem Tür steht. Sie schreit Mehmet an und dann ist er nicht mehr so Cool mit sein Haar unter seine Ärme und Radili lacht und ränt weg zum Rolltreppe. Mehmet ränt ihm nach und erwischt ihm am anfang von Treppe und schlägt ihm mit Faust auf sein Schulter. Dann ist Amadou auch da und er sitzt auf das schwarzes Gummi Rand als die Rolltreppe die drei zum blauen Licht und Luft hoch nimmt. 2 Tomer Gardi wird 1974 im israelischen Kibbuz Dan geboren. Als Jugendlicher lebt er für drei Jahre in Wien, später studiert er Literatur und Erziehungswissenschaft in Israel und in Berlin. Gardis erstes Buch Stein, Papier: Eine Spurensuche in Galiläa erschien 2011 auf Hebräisch und 2013 in deutscher Übersetzung. 3 Es handelt sich um einen literarischen Essay über die Geschichte des Kibbuz Dan, für den Gardi unter anderem dem Gerücht nachging, dass das örtliche Naturmuseum aus den Steinen eines zerstörten palästinensischen Dorfes erbaut wurde. Das politische Engagement des Autors zeigt sich auch in seiner Herausgeberschaft der Zeitschrift Sedek , die sich mit der Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser auseinandersetzt. Sein zweites Buch, den Roman broken german , verfasste Tomer Gardi auf Deutsch. 4 Darin wird in vorerst scheinbar losen, später jedoch raffiniert verknüpften Episoden von Immigrantinnen und Immigranten in Berlin erzählt, von Treffen mit Freunden in Lokalen und in Call-Shops, von einer absichtlichen Kofferverwechslung, durch die Identität und Identitätsfindung auf überraschende Weise thematisiert werden, von den Nachwehen des Holocaust in Osteuropa und der Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der neuen rechten Szene, von der Aufarbeitung deutsch-jüdischer Geschichte und vielem mehr. Tomer Gardis broken german ist auf mehreren Ebenen mehrsprachig: auf der Autorenebene, wie bereits dargestellt; auf der Ebene der Figuren, der verschiedenen Erzähler und Ich-Erzähler, deren Erstsprache nicht Deutsch ist; im broken German 5 als Sprache, in der erzählt wird - eine ästhetisierte Varietät des Deutschen oder einfach die verschriftlichte Form mündlicher Sprache? Weiterhin in der expliziten 2 Gardi, Tomer: broken german. Graz 2016, S.-5. Unter folgendem Link liest der Autor selbst diesen Ausschnitt sowie weitere Passagen: 3sat Mediathek, Kulturzeit vom 7.12.2016, Video Lesung aus broken german : https: / / www.3sat.de/ mediathek/ ? mode=play&obj=63491 (1.11.2018). 3 Gardi, Tomer: Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa. Zürich 2013. 4 Der Roman wurde mittlerweile auch für das Theater adaptiert ( broken german , Uraufführung 2017 am Schauspielhaus Graz, Regie: Dominic Friedel), die Hörspieladaption ( broken german , SWR 2017, Regie: Noam Brusilovsky) wurde 2017 mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet. 5 Im Folgenden unterscheide ich zwischen broken german als dem Titel des Romans und broken German als der Sprache, in der der Roman verfasst ist. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 145 (oder: manifesten) Mehrsprachigkeit, die sich darüber hinaus im Text findet: neben dem Deutschen sind auch andere Sprachen und deren Sprecher präsent. Schließlich im Metadiskurs über Sprache, über Literatur und Erzählen, der sich durch den Text zieht. Im Folgenden bespreche ich drei Themenkomplexe, die zentral in Gardis Roman und zentral für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Affektivität und Mehrsprachigkeit im Text sind. Die drei Aspekte sind die Sprache - das broken German des Romans; Zugehörigkeit und Identität sowie Orte. Dabei arbeite ich in der Analyse dieser Aspekte heraus, wie, so meine These, Gardi zeigt, dass durch Mehrsprachigkeit emotionale Verbindungen hergestellt werden können und so das Universelle und Verbindende von Gefühlen betont wird. Die drei besprochenen Themenkomplexe sind eng miteinander verbunden, sie werden auf formaler wie inhaltlicher Ebene thematisiert und sie sind eng an die Mehrsprachigkeit sowie an die besondere sprachliche Gestaltung des Werks geknüpft. Sie werden nicht zuletzt über die Sprache beziehungsweise im Kontext von Sprache verhandelt. Und sie haben alle mit Emotionen zu tun - auf der Ebene des Textes mit Gefühlen der Erzähler und der Protagonisten und, auf der Ebene der Rezeption, mit Emotionen, die bei den Leserinnen und Lesern ausgelöst werden. Schließlich aber auch mit den bereits angesprochenen Gefühlen, die in der kritischen Rezeption des Textes deutlich werden. Emotionen definiere ich in diesem Kontext in Anlehnung an Simone Winko, die in ihrer umfangreichen Untersuchung zur Thematisierung und Präsentation von Emotionen in lyrischen und poetologische Texten um 1900 Gemeinsamkeiten von Definitionen aus neurologischer, psychologischer, soziologischer, kultur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive zu einem Emotionsbegriff verbindet. 6 Emotionen sind demnach mentale Phänomene, die auf einer physiologischen Grundlage beruhen; das heißt, dass sie aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen Aktivitäten des Gehirns und dem sensorischen, motorischen und hormonellen System resultieren. Gefühle und deren stärkere, unmittelbarere Form der Affekte (Begriffe, die ich im Folgenden synonym zu Emotionen verwende) sind oft, aber nicht notwendigerweise mit wahrnehmbaren körperlichen Reaktionen verbunden und werden vom Einzelnen unmittelbar erfahren. Als solche identifiziere und analysiere ich sie im Folgenden in Gardis Text. Winko betont, dass Gefühle insofern individuell sind, als die subjektiven Erfahrungen, die der Einzelne im Zustand einer bestimmten Emotion macht, nicht identisch sein müssen; zumal nicht, wenn man diese Erfahrungen über kulturelle Grenzen hinweg vergleicht, denn emotionales Erleben sei kulturell geprägt, zum Wissen einer Kultur gehöre 6 Vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, bes. S.-108-109. 146 Sandra Vlasta das Wissen über die emotionalen Regeln. Im Gegensatz dazu allerdings - und damit entferne ich mich von Winkos Definition - werden in Tomer Gardis Text grundlegende Gefühle wie Angst oder Freude als universell dargestellt und die Möglichkeit, über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg mittels Emotionen an das Gemeinsame und Verbindende anzuknüpfen, wird hervorgehoben. Dabei spielen Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Räume eine wesentliche Rolle: wie im Roman dargestellt wird, können es andere Sprachen und mehrsprachige Kontexte ermöglichen, sich in andere einzufühlen. Zudem stellt Gardi das sprachliche Handeln seiner Protagonisten in den Vordergrund, also die Kommunikation und den Austausch. Die damit erlangte Handlungsfähigkeit ( agency ) der Protagonisten ermöglicht es ihnen, scheinbar geschichts- und identitätslose Orte (Nicht-Orte im Sinne Marc Augés) in Räume (im Sinne Michel de Certeaus) zu verwandeln, in denen nicht zuletzt affektive Verbindungen zwischen Menschen hergestellt werden können. In Gardis Text wird auf diese Weise das emotional verbindende Potential der Sprachen unterstrichen, die es ermöglichen, Erfahrungen (mit)zu teilen. 1 Die Sprache des Romans - broken German In Gardis Roman werden Emotionen und Mehrsprachigkeit unter anderem auf der formalen Ebene der Sprache performiert, das heißt gleichzeitig gezeigt und durchgeführt. Broken german ist in einem inkorrekten Deutsch verfasst, das einerseits das Deutsch der Protagonisten abbildet. Durch ihre Namen - im oben zitierten Ausschnitt z. B. Amadou, Radili, Mehmet - und die spätere Nennung ihrer Muttersprachen werden die Charaktere zusätzlich als ,nicht-deutsch‘, als ,fremd‘ oder ,anders‘ markiert. Wie das Zitat zeigt, wird broken German andererseits aber nicht nur für Dialoge, sondern durchgängig als Erzählsprache verwendet, wobei die Erzählperspektive im Roman vom allwissenden zum Ich-Erzähler wechselt. Gleichzeitig wird durch den Paratext - Informationen über den Autor, Verlagswerbung, Interviews, sein Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Preis - suggeriert, dass broken German das Deutsch des Autors ist; ein Deutsch, das er, wie es immer wieder in Besprechungen und Interviews heißt, während seiner Aufenthalte als Kind und als Student in Wien und Berlin gelernt hat und das sehr von der mündlichen Sprache beeinflusst ist. 7 Gardi selbst sagt kokett: „Ich be- 7 Vgl. z. B. Gschweitl, Claudia: „Wie sagt man auf Deutsch? “ Spracherkundungen mit dem israelischen Schriftsteller Tomer Gardi. Feature in der Sendung „Tonspuren“. In: Radioprogramm Ö1 am 4.2.2018, sowie Lühmann, Hannah: Jeder sollte auf Deutsch schreiben dürfen. In: Welt online vom 18.8.2016. www.welt.de/ kultur/ literarischewelt/ article157738156/ Jeder-sollte-auf-Deutsch-schreiben-duerfen.html (1.11.2018). Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 147 merke meine eigenen Fehler […] gar nicht“ 8 - und hinterfragt damit die Normen der Sprache genauso wie die damit in Zusammenhang stehende Vorstellung von Fehlern. Diese ‚Fehler‘ sind zahlreich: Broken German ist charakterisiert durch Grammatikfehler wie falsche Artikel, falsche Fälle, falsche Präpositionen, durch Fehler in der Orthographie: im oben zitierten Abschnitt z. B. „der/ das Tür“, „der/ das Rolltreppe“, „steigen von eine U-Bahn aus“, „hält sich zum Stange“, „stosst“, „ränt“ etc. Zahlreich sind aber auch die kreativen Momente im Roman broken german , die aus dem mehrsprachigen Kontext und der Sprache broken German entstehen: Gardi erfindet neue Wörter und Begriffe, wo sie ihm fehlen, es entstehen eigenwillige Wortkreationen und stilistische Eigenarten, wie das schwarze Gummi Rand oder die „Tiefen des betonadischen Erde“ 9 , aus denen die Passagiere der U-Bahn kommen. Broken German entwickelt keine alternativen Regeln (wie z. B. Zé do Rocks Ultradoitsh 10 ), sondern bricht (wortwörtlich: eine weitere Ebene des broken German ) mit vielen Regeln des schriftlichen Standarddeutsch: Artikel wechseln im Laufe des Texts, Namen werden mal so, mal so geschrieben (z. B. Fikret, Fikert). 11 Broken German mag eine gebrochene Sprache im Sinne einer nicht perfekt beherrschten Sprache sein. Gleichzeitig bricht es die Sprache auf, bricht mit einigen ihrer Regeln und zeigt, dass hinter der ‚Beherrschung‘ einer Sprache auch Macht steht, deren Legitimität broken German hinterfragt. Zudem ist die Sprache des Romans alles andere als gebrochen, sondern liest sich vielmehr flüssig, was nicht zuletzt ihrer Anlehnung an orale Formen geschuldet ist. Der Text entlarvt außerdem die Illusion der Einsprachigkeit und stellt ihr reale Mehrsprachigkeit gegenüber, die sich auch in der Verwendung von Dialekten, Soziolekten und nichtstandardsprachlichen Varianten zeigt (letztere werden freilich von vielen und nicht zuletzt auch in politischen Debatten nicht als Formen der Mehrsprachigkeit, sondern als Einsprachigkeit wahrgenommen). „Jeder sollte auf Deutsch schreiben dürfen“ 12 , fasst Gardi die zentrale Aussage seines Romans und von dessen Sprache im Interview zusammen und reagiert damit auch auf die Diskussion, die sein Roman beim Ingeborg-Bachmann-Preis ausgelöst hat. Diese drehte sich um Themen wie: Wer darf deutschsprachige Literatur verfassen? Darf auch jemand, der nicht perfekt Deutsch kann, deutsche Literatur schreiben? Darf jemand die Regeln brechen, auch wenn er sie 8 Lühmann, ebd. 9 Gardi, broken german, S.-6. 10 Vgl. Rock, Zé do: fom winde ferfeelt. ain Buch fon Zé do Rock. Berlin 1995. 11 Ein Vergleich des beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesenen Textausschnitts mit der im Roman abgedruckten Version zeigt, dass der Text vor dem Druck noch verändert wurde. So wurden einzelne Wörter umgestellt, Kommata ergänzt oder gestrichen, die Orthographie einzelner Wörter verändert. Es ist daher anzunehmen, dass auch broken german durch ein Lektorat gegangen ist und die angesprochenen ,Inkonsistenzen‘ beabsichtigt sind. 12 Lühmann, Jeder sollte auf Deutsch schreiben dürfen. 148 Sandra Vlasta vielleicht gar nicht (alle) kennt? 13 Aspekte dieser Diskussion kennt man in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft seit den 1980er Jahren aus der Beschäftigung mit der Literatur von Migrantinnen und Migranten. In diesem Bereich war man lange damit beschäftigt, die Literatur von zugewanderten Autorinnen und Autoren einbeziehungsweise zuzuordnen, wobei man sie als separates Korpus behandelt und erst langsam als Teil der deutschsprachigen Literatur verstanden hat. Dieser Prozess hängt eng mit dem prinzipiellen Hinterfragen von Begriffen wie dem einer Nationalliteratur sowie mit der Transnationalisierung literarischer Felder zusammen. Auch Tomer Gardis Roman (sowie er selbst als Autor) hinterfragt die Kategorie der Nationalliteratur als ein Korpus, das an einen spezifischen geographischen und sprachlichen Kontext gebunden ist und zudem für eine Nation steht, ja geradezu zu ihrem Sinnbild wird. Gardi ist ein Autor mit Hebräisch als Erstsprache, der auf Deutsch schreibt, aber in Israel (sowie zeitweise in Berlin) lebt. Außerdem publiziert er nicht in Deutschland, sondern bei einem kleinen, avantgardistischen österreichischen Verlag in Graz, einer Stadt an der deutschsprachigen Peripherie, eine Tatsache, die Gardi selbst hervorhebt: Ein Buch, das in Berlin spielt, könne nicht in Berlin, sondern nur an der Peripherie publiziert werden. 14 Gardi könnte damit als Autor einer ‚kleinen Literatur‘ im Sinne Gilles Deleuzes und Félix Guattaris verstanden werden. 15 Deleuze und Guattari haben ihren Begriff der littérature mineure am Beispiel 13 Die Literaturkritikern Meike Feßmann fragte in der Diskussion um Gardis Text beim Ingeborg-Bachmann-Preis nach den Einwanderungsbedingungen in die Sprache, ausführend, dass es vor zehn Jahren ein Argument gegen die Teilnahme am Wettbewerb gewesen wäre, wenn ein Autor nicht Deutsch kann. Sie verwies darauf, dass z. B. 2013 zwar der gebürtige Brasilianer Zé do Rock in Klagenfurt gewesen sei, dieser aber gestochenes Deutsch spreche und eine Kunstsprache erfunden hätte. Vgl. Zusammenfassung Jurydiskussion Tomer Gardi. Website Ingeborg-Bachmann-Preis Archiv 2016. http: / / bachmannpreis.orf.at/ stories/ 2783362/ (1.11.2018) sowie Video Jurydiskussion Tomer Gardi. Website Ingeborg-Bachmann-Preis Archiv 2016. http: / / bachmannpreis.orf.at/ stories/ 2773156/ (1.11.2018). Im Bewerb 2016 traten neben Tomer Gardi mit Marko Dinić und Selim Özdogan auch andere Autoren an, deren Erstsprache nicht Deutsch ist beziehungsweise die mehrsprachig sind (und auch 2017 nahm die mehrsprachige Autorin Barbi Markovic teil). Die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2016 war mit Sharon Dodua Otoo aus Großbritannien ebenfalls eine Autorin, deren Erstsprache nicht Deutsch, sondern Englisch ist. Auch 2018 ging der Preis an eine Autorin mit anderer Erstsprache, an die gebürtige Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die bislang nur auf Ukrainisch publizierte. Die beiden waren nicht die ersten: Mehrmals wurde der Ingeborg-Bachmann-Preis bereits an Schriftstellerinnen vergeben, die andere Sprachen als Deutsch als Erstsprache sprechen, wie z. B. Emine Sevgi Özdamar (1991), Olga Martynowa (2012) oder Katja Petrowskaja (2013). 14 Vgl. Odeh, Nadja: Broken German: Sprachmigrant Tomer Gardi. SWR 2 Tandem vom 19.5.2017. https: / / www.swr.de/ swr2/ programm/ sendungen/ leben/ swr2-leben-broken-german/ -/ id=660174/ did=22458572/ nid=660174/ am6ezd/ index.html (1.11.2018). 15 Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Kafka - Für eine kleine Literatur [1976]. Berlin 2015. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 149 von Franz Kafka, der in Prag Deutsch schrieb, entwickelt. Wichtiges Kennzeichen einer littérature mineure , mit der die Literatur einer kleinen Gruppe, einer Minderheit beschrieben wird, die sich aber einer der ‚großen‘ Sprache bedient, wie z. B. die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren in Prag, ist ihre Deterritorialisierung, das heißt der Prozess der Auflösung der Bindung an bestimmte geographische Räume. Zudem ist eine littérature mineure eminent politisch (und hat damit eine starke emotionale Dimension), was sich, so Deleuze und Guattari, nicht zuletzt auf formaler Ebene bei der Wahl der Literatursprache zeige. Das gilt auch für den Roman broken german , der durch seine Sprache das, was Yasemin Yildiz das „Paradigma der Einsprachigkeit“ genannt hat, auf den Kopf stellt: 16 Wie Gardi zeigt, kann Literatur eben nicht nur in der einen, der ‚eigenen‘ Sprache (also der Erst-/ Muttersprache) verfasst werden, sondern auch in anderen beziehungsweise in mehreren Sprachen (dass der Titel des Romans englisch ist, ist ein weiterer Hinweis auf die prinzipielle Mehrsprachigkeit von Literatur). Und Literatur kann dabei nicht zuletzt kreativ Sprache neu erzählen, wobei sprachliche Hierarchien von Fremd- und Erstsprache, aber auch von verschiedenen Kompetenzstufen in einer Sprache dadurch in Frage gestellt werden. Gardis Sprache, das broken German , ist wesentlicher Auslöser dieses Hinterfragens, das im Text selbst ebenfalls thematisiert wird. Er, der Ich-Erzähler, sei kein Vladimir Nabokov, der in den USA mit seinem „Masterpiece english“, „dicht und präzis“ 17 , seine Figur Pnin (der nur unzureichend „gebrochene[s] oder zerbrochene[s] English“ 18 spricht) foltere und sich so in die amerikanische Literatur einschreibe. Im Gegensatz dazu sprechen Gardis Erzähler, wie sie es wollen und vermögen, und lassen auch ihre Figuren auf diese Weise Deutsch sprechen, wie es im Text heißt: „Radili und Amadou und Mehmet reden Deutsch aber kein Arien Deutsch sondern ihr Deutsch wie mein Deutsch auch die ich hier schreibe und wie ich die rede.“ 19 Zudem muss die Sprache von Gardis Roman sowie dessen politische Komponente im Kontext jener Teile des Buches gelesen werden, die sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinandersetzen: so wiederholt sich im Laufe des Romans eine Szene, in der ein Mann damit prahlt und gleichzeitig droht, seine Hände in „Judenblut“ getaucht zu haben; einige Kapitel spielen im Jüdischen Museum in Berlin, dessen Dauerausstellung zur deutsch-jüdischen Geschichte im Schnelldurchlauf und in Stichworten passiert wird; das Konzentrationslager Auschwitz wird genannt und es wird auf das schamhafte Vergessen des Juden- 16 Vgl. Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue: The Post-Monolingual Condition. New York 2012. 17 Gardi, broken german, S.-14. 18 Ebd., S.-13. 19 Ebd., S.-6. 150 Sandra Vlasta tums im deutschsprachigen Raum angespielt, das letztlich (wiederum) ein Verdrängen der Juden ist. Weiterhin wird im Roman eine Verbindung hergestellt zwischen dem Nationalsozialismus, der Sprache, dem Sprechen und dem Schreiben nach dem Holocaust sowie der neuen Rechten und den Neonazis, worauf ich im folgenden Abschnitt eingehe. „Die Dellen, die der Text in die deutsche Sprache schlägt, kommen also nicht aus dem Unvermögen des Autors, sondern aus der deutschen Geschichte“ 20 , konstatiert Klaus Kastberger in diesem Zusammenhang. Und er verweist darauf, dass Tomer Gardi sich hiermit in eine literarische Tradition einordnet: auch Paul Celan, Ilse Aichinger, Ernst Jandl, Werner Schwab, Elfriede Jelinek und vielen anderen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren sei angesichts der Geschichte ein Schreiben in einem „guten und ordentlichen Deutsch“ 21 nicht mehr möglich. Die Antwort auf die Frage „Was ist ihre Arbeit hier, in Prosa der deutschsprachige Sprach? “ 22 , die dem Ich-Erzähler während einer Befragung durch die Polizei gestellt wird, geht ebenfalls in diese Richtung. Wenngleich die Antwort an die Polizisten vage ausfällt - der Ich-Erzähler sagt, dass er ein Arbeitsmigrant in der deutschen Sprache sei, dass er nicht so genau wüsste, was genau seine Arbeit sei, dass er das erst im Schreiben herausfinden müsste - gibt er den Leserinnen und Lesern eine deutlichere Antwort: Schriftsteller „machen geschlossene Besenkammer Türe auf“ 23 , heißt es im Text, seine Prosa bezeichnet der Erzähler als „Biosonar. Ich suche die Töne und gehe die nach. […] Ich schreibe in Töne und lasse sie frei in dem Raum. Deutschsprachige. Ein offentliche Raum ist die Sprache.“ 24 Der Erzähler ist auf der Suche nach versteckten, verdrängten Inhalten (die er nicht zuletzt in einer scheinbar ironischen, letztlich aber doch ernsten Szene in Form einer Leiche in der Besenkammer des Berliner Jüdischen Museums findet) und nach den richtigen Tönen. - Hier wird auf die sinnliche Ebene von Schreiben und Sprache und damit auf deren Nähe zu Emotionen verwiesen; dieser sinnliche Aspekt von Sprache wird auch schon durch die Betonung der mündlichen Qualität des broken German unterstrichen. Auf seiner Suche eignet sich der Erzähler die deutsche Sprache an, die er als öffentlichen Raum sieht. Die im Text vorweggenommene Reaktion der Leserinnen und Leser sowie der Kritikerinnen und Kritiker, für die bei Gardi ironischerweise die Polizisten stehen, unterstreicht die affektive Ebene von Sprache und, vor allem, die starke emotionale Reaktion auf Situationen der Mehrsprachigkeit. Das Wahrnehmen des inkorrekten broken 20 Kastberger, Klaus: Wir schaffen das! Zeit-online vom 19.8.2016. www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2016-08/ literatur-migration-tomer-gardi-broken-german (1.11.2018). 21 Ebd. 22 Gardi, broken german, S.-102. 23 Ebd., S.-101. 24 Ebd., S.-109. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 151 German trifft auf Vorstellungen von Einsprachigkeit, die die Polizisten genau wie die Jurymitglieder des Bachmann-Preises und wahrscheinlich einige andere Kritikerinnen und Kritiker sowie Leserinnen und Leser die Frage nach einem Dolmetscher stellen lässt sowie die Frage nach der möglichen Kategorisierung des Erzählers und des Textes - einer Frage, dessen Antwort sich der Roman aber entzieht und damit ebendiese Kategorien hinterfragt. 2 Zugehörigkeit und Identität: Die Darstellung des Zusammenhangs von Affektivität und Mehrsprachigkeit im Roman broken german verhandelt Fragen der Zugehörigkeit und der Identität auf verschiedenen Ebenen im Text. Zudem spielen diese Fragen auch bei der Rezeption des Textes eine Rolle. Dabei zeigen sich Differenzen zwischen der subjektiv empfundenen Zugehörigkeit und Identität und der zugeschriebenen. So fühlen sich die Protagonisten ihrer Umgebung als zugehörig, dieses Gefühl sowie diese Position wird ihnen aber von Teilen ihrer Umwelt abgesprochen. Gleich zu Beginn des Buches werden die drei jugendlichen Protagonisten wegen ihrer Sprache von betrunkenen Skins verfolgt: Von hinten schreit sie dann jemand nach. Hallo ihr! Hallo ihr! Was für Sprache redet ihr da! Radili und Amadou und Mehmet reden Deutsch aber kein Arien Deutsch sondern ihr Deutsch wie mein Deutsch auch die ich hier schreibe und wie ich die rede. […] Ihr da. Was ist das für eine komische Sprache, dass was ihr da redet! Dann hält Radili und sagt dass es Deutsch ist. […] Nein sagt eine. Glatze. Rote Augen von Trink. Nein, sagt er. Das ist kein Deutsch, sagt er. Was WIR reden ist Deutsch, sagt er. Das was WIR reden ist Deutsch. Das was ihr da redet ist kein Deutsch. 25 Radili, Amadou und Mehmet leben in Berlin und kommunizieren auf Deutsch; durch den Akzent in ihrer Sprache werden sie aber als nicht zugehörig ausgegrenzt und, im weiteren Verlauf der zitierten Szene, physisch verfolgt. Die drei Jugendlichen versuchen zuerst, die betrunkenen Rowdies zu ignorieren („Trotzdem sagt jeder sich selbst das es wahrscheinlich nichts ist und reden wir lieber weiter normal.“ 26 ), stehen dann den wütenden Fußballfans jedoch „angstvoll und unheimlich“ 27 gegenüber. Der Bezug auf Sigmund Freuds Konzept des Unheimlichen, also einer Angst, die wir bei der Rückkehr oder dem Wiederauftauchen von etwas Verdrängtem oder etwas Überwundenem empfinden, verweist auf 25 Ebd., S.-6. 26 Ebd. 27 Ebd. 152 Sandra Vlasta die ambivalente Situation der Zugehörigkeit der Protagonisten: 28 wenngleich daheim und „heimlich“, werden sie von anderen (unheimlich wirkenden) in die Positionen der Un-heimlichen gedrängt. Das damit verbundene Gefühl der Angst wird allein von den Ausgegrenzten empfunden. Als nicht zugehörig werden sie vor allem aufgrund ihrer Sprache kategorisiert, einer Sprache, die paradoxerweise Deutsch ist, bestimmten Vorstellungen davon, wie Deutsch zu klingen hat, aber nicht entspricht. Wenngleich die Darstellung der Protagonisten nahelegt, dass sie sich ihrer Umgebung zugehörig fühlen, sind sie nur in mehrsprachigen, multikulturellen Räumen auch von ihrer Umwelt tatsächlich anerkannt, wie zum Beispiel in Amadous Call Shop oder in dem Lokal Zum Roter Faden. Hier fühlen sie sich tatsächlich ident, zugehörig und „heimlich“, worauf ich im letzten Abschnitt dieses Beitrags zurückkomme. Mehrsprachigkeit wird damit normativen Vorstellungen von Sprache entgegengesetzt - während erstere in ihrer Offenheit Zugehörigkeit in verschiedensten Formen ermöglicht, enden zweitere als ‚Arierdeutsch‘ letztlich in Ausgrenzung und Gewalt. Dieses ‚Arierdeutsch‘ erhält im Roman aber einen kleinen Twist, es wird zum „Arien Deutsch“, das zusammengesetzte Substantiv wird in seine Einzelteile zerlegt, die Sprache (Deutsch) getrennt vom ‚Arier‘ und letzterer, ironischerweise, zur ‚Arie‘. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, die Sprache nicht in Regeln festzumachen, sondern klingen zu lassen, ein weiterer Hinweis auf die Möglichkeiten in der Kunst und auf ihre Schönheit, eine Idee, die immer wieder im Roman aufgenommen wird und letztlich auch an dessen Ende steht: „Mach das Buch auf. Fang an zu singen. Zu beten. Und unsere Wörter fliessen und füllen, und die Wörter. Wie sagt man auf Deutsch. Und die Wörter leben. Aufleben. Beleben.“ 29 In einer anderen, zentralen Szene des Romans landen der Ich-Erzähler und seine Mutter in Berlin am Flughafen und nehmen, da ihr eigenes Gepäck nicht angekommen ist, willkürlich zwei Gepäckstücke vom Band. 30 Im Hotel öffnen sie die Koffer und probieren die Kleidungsstücke: Die Mutter hat den Koffer einer jungen Frau aus Eritrea, die Kleidungsstücke sind ihr aber viel zu klein. Der Erzähler hingegen hat die viel zu großen Sachen eines Mannes aus Beirut. Die beiden entscheiden sich zu einem erneuten Tausch, schließlich trägt der Erzähler die Kleider der Frau, die Mutter den Anzug des Mannes. In den schlecht sitzenden, zu großen oder zu kleinen Kleidern der Anderen, Unbekannten sehen der Erzähler und seine Mutter wie „Strohmenschen“ 31 aus, die Vögel ver- 28 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur [1919]. Frankfurt am Main 1963. 29 Gardi, broken german, S.- 140-141. Ich danke Anne Fleig für ihre Anregung zu diesem Punkt. 30 Vgl. ebd., S.-51-56. 31 Ebd., S.-53. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 153 jagen, wie Vogelscheuchen. Sie sind aber auch sinnbildlich Strohmänner, also Menschen, deren Identität eine andere ist: die Mutter in den Männerkleidern eines Unbekannten, der Erzähler in den Frauenkleidern einer Unbekannten, beide in einem Hotelzimmer in einer Stadt, die ihnen, wie aus dem Text zu vermuten ist, nur zum Teil bekannt ist. Dieses Spiel mit Identität, das sich auch im Verschwimmen der Identitäten der Erzählerfigur zeigt, die mal Radili Anuan, mal Abschalom Raucherzone, mal Tomer Gardi heißt/ ist, legt ein postmodernes Identitätskonzept nahe, das Identität als etwas im Fluss, etwas Wandel- und Veränderbares sieht, das man aktiv mitgestalten und verhandeln kann, das aber auch von äußeren Faktoren abhängt. Genauso wie Identität angenommen werden kann, wird sie auch zugeschrieben oder abgesprochen, wie die oben geschilderte Szene zeigt. Zugehörigkeit wird in broken german auch in Bezug auf den Autor verhandelt. So werden die Diskussionen um die Sprachkompetenz von Schriftstellerinnen und Schriftstellern bereits im Text selbst vorweggenommen, wenn es heißt: „Denn was ist ja eine Author ohne Authorität? Und was ist ein Author ohne sein Sprachherrschaft? “ 32 Mehrmals wird das Motiv des Autors als Gastarbeiter angesprochen, so auch in der Erzählung um einen erfolglosen Schriftsteller in einem anderen Land, der versucht, den Verkauf seines Buchs zu fördern, indem er einige Exemplare mit gestohlenen Aufklebern mit der Aufschrift „Goldene Traube Gewinner“ beklebt. 33 Als der Betrug auffliegt, gibt es einen Skandal und der Autor muss fliehen. Er wird „Ein Asyl. Ein Migrant. Ein Gastarbeiter. Ein Fremdarbeiter in die Prosa eine ferne, fremde, andere Sprach.“ 34 Der im Berliner Jüdischen Museum festgehaltene Ich-Erzähler, der vielleicht ident mit dem Skandal-Autor ist, bezeichnet sich ebenfalls als „Arbeitsmigrant in der deutsche Sprache“ 35 . Damit werden die Argumente und Fragen der Kritik vorweggenommen und im Text selbst mögliche Konzepte von Autorschaft im Kontext von Mehrsprachigkeit diskutiert, gleichzeitig werden Konzepte aus der Diskussion um Migration und Literatur ironisiert. Gardi bringt Beispiele aus der Literaturgeschichte (Nabokov als Beispiel für einen Autor mit Sprachherrschaft, siehe oben) genauso ein wie Begriffe aus der aktuellen medialen und politischen Diskussion um Migration und Flucht - Asyl, Migrant, Arbeitsmigrant etc. - und agiert damit ganz im Sinne des im Roman propagierten Konzepts des Schriftstellers als der, der „machen geschlossene Besenkammer Türe auf“ 36 . Durch die von Gardi geöffnete Besenkammer Türe kommen aktuelle Begriffe aus den Medien 32 Ebd., S.-15. 33 Vgl. ebd., S.-62-65. 34 Ebd., S.-65. 35 Ebd., S.-101. 36 Ebd. 154 Sandra Vlasta und der Politik in die Literatur, mit Hilfe derer nicht zuletzt die Bedingungen, die im Literaturbetrieb herrschen, hinterfragt werden. 3 Mehrsprachige (Nicht-)Orte als Heimat Broken german spielt an verschiedenen Orten, einige davon sind mit Marc Augé eher als Nicht-Orte denn als Orte zu bezeichnen: ein Call Shop, der Atatürk Flughafen in Istanbul, ein Hotel in Berlin, das Lokal mit dem Namen „Zum Roter [sic! ] Faden“ 37 . Nach Augé sind Nicht-Orte durch ihre Monofunktionalität gekennzeichnet, durch ihre Austauschbarkeit und durch das Fehlen von Geschichte und Identität. „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“ 38 Augés Nicht-Orte zeichnen sich durch Nicht-Kommunikation aus; anders als an traditionellen (mit Augé: „anthropologischen“) Orten kommt es hier zu keinem Austausch zwischen Personen, auch eine Identifikation ist nicht möglich. Allerdings hält Augé auch die Subjektivität von Nicht-Orten fest: es hängt von der subjektiven Wahrnehmung ab, ob ein Ort als Nicht-Ort oder als Ort wahrgenommen wird. Genau dies wird auch in broken german unterstrichen, denn Orte wie Call Shops, Flughäfen, Hotels und Lokale sind zwar durch Bewegung und Transit gekennzeichnet, gleichzeitig werden sie aber gerade dadurch zu internationalen Orten der Begegnung, die nicht zuletzt durch ihre Mehrsprachigkeit charakterisiert sind. Amadous Call Shop ist so ein Ort; hier treffen sich die Protagonisten und ihre Freunde oft. Hierher kommen auch viele andere, um ihre E-Mails zu lesen, im Internet zu surfen oder um mit Freunden und Verwandten zu telefonieren. Der Call Shop wird zum „wundervolle, zitternde Herz“ 39 , in dessen elektronischen Adern die Wörter der Telefonierenden verreisen. So ist er einerseits ein Nicht-Ort, an dem sich die Menschen „nah an die die weit weg sind und weit weg von die die ihr nah sind“ 40 , befinden. Andererseits fließt das leise Geflüster aus den Kabinen in den Raum des Call Shops und wird zu einem „babylonische Fluss“ 41 : Arabisch, Englisch, Türkisch, Tamil, Französisch, Hausa, Kurdisch, Albanisch, Spanisch, Thai, Tigrinya und „unendliche Arten und Formen von Deutsch“ 42 strömen in den Raum, in dem sich die befreundeten Protagonisten, die ebenfalls verschiedene Muttersprachen sprechen - Franzö- 37 Vgl. z. B. ebd., S.-57. 38 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit [1992]. Frankfurt am Main 1994, S.-121. 39 Gardi, broken german, S.-22. 40 Ebd. 41 Ebd., S.-106. 42 Ebd., S.-23. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 155 sisch, Baule, Yoruba, Englisch, Arabisch, Französisch -, auf Deutsch unterhalten. Sie sprechen kein korrektes Deutsch, sondern broken German , gebrochenes Deutsch, und inmitten all dieser Sprachen sagt Minika, eine aus der Runde, zum Besitzer des Call Shops: Hei Amadou. Weisst du was deine Call Shop ist? Weisst du wo wir jetzt sitzen? Sag mir Minika, sagt Amadou. Sag mir bitte. Was ist mein Call Shop Minika. Wo sitzen wir jetzt. Dein Call Shop, sagt Minika. Dein Call Shop ist das. Das Gebrochenesde. Geb. Nein. Dein Shop ist das Gebrochenes. Dein Shop ist das Gebrochenesdeutschsprachigesraum. 43 Diese Bezeichnung, Gebrochenesdeutschsprachigesraum, wird in der Folge als Zungenbrecher von allen in der Runde so oft und so schnell wie möglich wiederholt, alle finden es lustig. Der Call Shop wird damit einerseits als Ort beschrieben, an dem die Leute nicht mit den tatsächlich vor Ort Anwesenden interagieren, sondern mit Menschen, die weit weg sind. Er ist ein Durchgangsort, der von seiner Funktion bestimmt wird und damit ein typischer Nicht-Ort. Für Radili und seine Freunde hingegen wird er zu einem Ort, der Treffpunkt ist, wo Austausch auch mit den Menschen, die nahe sind, möglich ist und der Identifikation ermöglicht. Im Gebrochenesdeutschsprachigesraum, umgeben von unzähligen Sprachen, fühlen sich die Protagonisten zugehörig und verbunden. Das wird im Text dadurch ausgedrückt, dass sie gemeinsam lachen, von ihrem Leben und Alltag erzählen und in der gemeinsamen Sprache Deutsch beziehungsweise broken German kreativ sind - so erstellen sie spätnachts das „Radili Anuan Lexicon deutsche Alkoholbegriffe“ 44 . Der Nicht-Ort wird auf diese Weise zu einem Raum ( espace ) im Sinne Michel de Certeaus: 45 durch das (sprachliche) Handeln der Protagonisten wird der Ort im Roman wortwörtlich transformiert zum Raum, zum Gebrochenesdeutschsprachigesraum, in dem die Praktiken - das Sprechen, der Austausch - im Vordergrund stehen. Der vermeintliche Nicht-Ort wird so zum Raum, in dem die Protagonisten Handlungsfähigkeit, agency , haben; damit ist er ein gelungenes Beispiel für den tatsächlich „offentliche Raum“, der die deutsche Sprache sein kann, der mehrsprachige und deterritorialisierte Existenzen ermöglicht und in die Sprache „new life beyond ethnic and territorial boundaries“ 46 einbringt. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns [Original: L’Invention du quotidien. 1980]. Berlin 2014, S.-345. 46 Sievers, Wiebke: From Monolingualism to Multilingualism? The Post-Monolingual Condition in the Austrian Literary Field. In: Austrian Studies 26/ 2018 [im Druck]. 156 Sandra Vlasta 4 Zum Abschluss Die Mehrsprachigkeit von broken german hat starke Gefühle auf Rezipientenseite ausgelöst, wie etwa bei der Diskussion beim Ingeborg-Bachmann-Preis, aber auch im positiven Sinn in den zahlreichen zustimmenden Kritiken zum Roman. Gardi eignet sich mit seinem broken German den „offentliche Raum“ 47 der deutschen Sprache an und öffnet ihn gleichzeitig für andere. Er deterritorialisiert die deutsche Sprache und die deutschsprachige Literatur und stellt damit Konzepte wie das einer an ein bestimmtes Territorium gebundenen Nationalliteratur in Frage. Broken german thematisiert außerdem Zugehörigkeit und Identität sowie Identitätskonstruktionen anhand von Sprachvarietäten und Mehrsprachigkeit. Gleichzeitig verhandelt es die Bedeutung, aber auch Stellung und Hierarchie von Sprachen und Sprachvarianten. Diese Aspekte werden zudem in Bezug auf den Roman sowie seinen Autor und seine Position im deutschsprachigen Literaturbetrieb thematisiert, teilweise wird ihre Diskussion bereits im Text vorweggenommen und ironisiert. Schließlich setzt sich der Roman mit der (sprachlichen und tatsächlichen) Aneignung von konkreten Orten auseinander, wobei die Migrantinnen und Migranten in broken german dabei aus Nicht-Orten mehrsprachige Orte machen, die Begegnung und Zugehörigkeit ermöglichen. Einsame und austauschbare Nicht-Orte werden auf diese Weise zu emotional positiv besetzten Räumen, die den Protagonisten Handlungsfähigkeit geben. Im Interview sagt Tomer Gardi, er hoffe, dass sein Buch die deutsche Sprache für die Leserinnen und Leser verfremde und sie sich in der Folge wie Ausländer in der deutschen Sprache und im deutschen Raum fühlen könnten. 48 Damit soll der Roman für die Leserinnen und Leser eine ähnliche Funktion erfüllen wie das Hotelzimmer für den Ich-Erzähler und seine Mutter: Dort können sie spielerisch Identität verhandeln (wenngleich auch über die mögliche reale Identität der echten Kofferbesitzer nachgedacht wird und ihre vielleicht schwierigen Lebenswege) und auch dort „fühlt man sich wie in eine Fremdsprache“ 49 . Nach dieser Poetik können einem fremde Sprachen, aber auch die verfremdete, gebrochene Sprache von broken german die Möglichkeit geben, sich als ein anderer zu fühlen und sich in andere Identitäten hineinzuversetzen. Auf diese Weise ermöglicht Mehrsprachigkeit Empathie, an sich kein Gefühl, aber die Fähigkeit, sich in die Gefühlslage anderer hineinzudenken und sie nachzuempfinden. Damit können die Protagonisten ihre individuellen Erfahrungen teilen sowie gemeinsam neue, emotional besetzte Erfahrungen machen (wie der gemeinsa- 47 Gardi, broken german, S.-109. 48 Vgl. 3sat Mediathek, Kulturzeit vom 7.12.2016, Video Interview mit Tomer Gardi: www.3sat.de/ mediathek/ ? mode=play&obj=63483 (1.11.2018). 49 Gardi, broken german, S.-48. Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Gardis Roman broken german 157 me spielerische Umgang mit broken German ). Mit Bezug auf Simone Winkos Definition von Emotion lässt sich abschließend feststellen, dass Emotionen bei Gardi insofern individuell sind, als dass sie von Einzelnen erfahren werden; ihr universelles und verbindendes Potential wird aber betont und in Form von sprachlichen Handlungen deutlich gemacht. Schrift-Passionen. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension Monika Schmitz-Emans Schrift, ihre Wahrnehmung, Produktion und Lektüre sind auf vielfältige Weisen und auf verschiedenen Ebenen mit Affekten verbunden. So gibt es natürlich auf inhaltlicher Ebene stark affektbezogene schriftliche Botschaften: Texte, die Affekte bezeugen, Affekte auslösen oder beides zugleich, Liebesbriefe, Drohbriefe, Scheidungsbriefe, Texte, die glücklich machen, die Angst erzeugen etc.; das Geschriebene hat hier oft eine performative Dimension. So etwa materialisieren sich Machtverhältnisse in Schriftstücken, ist Geschriebenes autoritativ und löst in dieser Eigenschaft Affekte aus. Die Beziehung der Betroffenen zur schriftlichen Botschaft überträgt sich vielfach auf den materiellen Schriftträger, den Liebesbrief, die behördliche oder gerichtliche Verordnung etc. Aber nicht nur die schriftlich mitgeteilten Botschaften (die als Graphien etwas anderes sind als mündliche Verlautbarungen), sondern schon die bloßen Erscheinungsbilder von Schriftzeichen und geschriebenen Texten weisen vielfach eine stark affektive Komponente auf. Dabei kann die Freude am Sichtbaren dominieren, der Sinn für den Reiz des Kalli-Graphischen oder die Faszination durch Krypto-Graphisches. Sichtbare Schrift kann aber auch in negativem Sinn als Widerstand wahrgenommen werden, kann Ablehnung und Feindseligkeit auslösen. Für fremde Schriftsysteme und Schriftzeichen gilt dies oft in besonderem Maße. Literarische Erzählungen thematisieren schriftbezogene - schriftinduzierte, an Schriftliches gebundene, aus Schriftlichem ablesbare - Emotionen unter ganz verschiedenen Akzentuierungen (und reflektieren anlässlich dieser Schriftlichkeit dabei zumindest implizit auch über sich selbst). Sie berichten von Geschriebenem als einem Faszinosum, von Glücksgefühlen angesichts schriftlicher Artefakte, von Sympathien und therapeutischen Wirkungen, die durch diese ausgelöst wer- 160 Monika Schmitz-Emans den; sie thematisieren aber auch Aggressionen und Hassgefühle, die sich auf Geschriebenes richten können, vor allem, wenn es unvertraut, kulturell fremd oder unkonventionell erscheint. Sie sprechen vom angenehmen oder beklemmenden Gefühl, es bei Schriftzeichen mit einem lebendigen Gegenüber zu tun zu haben, womöglich sogar Blicke mit diesem zu wechseln - und reflektieren im Zusammenhang damit manchmal den Projektionscharakter solcher Empfindungen. Im breiten Spektrum der Möglichkeiten einer reflexiven Thematisierung der (wechselseitigen) Bedingungszusammenhänge zwischen Affektivität und Schriftlichkeit situiert, sind auch die im folgenden vorgestellten Texte: zwei Erzählungen von Emine Sevgi Özdamar (1990) sowie je ein Roman Rafik Schamis (2008) und Yōko Tawadas (2008). Allesamt deutschsprachig, thematisieren diese Texte doch jeweils die nicht-deutschen Herkunfts- und Hintergrundkulturen ihrer Erzählinstanzen; sie alle richten dabei einen besonderen Fokus auf die (aus deutscher bzw. westlicher Perspektive) fremde Schriftkultur dieser Kulturen. Es geht, zugespitzt gesagt, mit Blick auf das deutsche Lesepublikum nicht primär um eine fremdsprachige, sondern vor allem um eine fremdschriftliche Kultur. Die drei Beispiele repräsentieren dabei drei unterschiedliche Formen der konkret im Buch inszenierten Bezugnahme eines deutschen Textes auf fremde Schriftkulturen und ihre Zeichensysteme - auf die arabische Schrift bei Özdamar und Schami, auf zum japanischen Schriftsystem gehörige chinesische Zeichen bei Tawada. Man könnte bezogen auf die drei Texte von drei verschiedenen Formen des literarischen Kalküls mit fremder Schrift respektive mit der potentiellen Fremdheit von Schrift sprechen - und von drei Formen der Stimulation oder Suggestion von Affekten beim Leser. 1 Aspekte von Schriftlichkeit. Zum wissensdiskursiven Rahmen Anknüpfend an Fragen, Konzepte und Modelle moderner Sprachkritik und Sprachwissenschaft (insbesondere an den linguistic turn der 1960er Jahre), an kulturhistorische und philologische Forschungen zur Geschichte der Schriftlichkeit sowie an die dekonstruktivistische Metaphysikkritik, wird die Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Paradigma kulturtheoretischer und philosophischer Diskurse. Weite thematische Bögen spannen sich - etwa zwischen vergleichenden Modellen oraler und literaler Kulturen, kulturarchäologischen Rekonstruktionen basaler Formen von Graphie 1 und dem Großprojekt einer kritischen Revision 1 Vgl. Leroi-Gourhan, André: Le geste et la parole. Paris 1965 - Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1980. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 161 abendländischer Präsenzmetaphysik im Zeichen einer Grammatologie 2 . Neuere Forschungen zur Schriftbildlichkeit sowie andere Ansätze zur Modellierung von Schrift, Graphie, Schriftlichkeit und Schreiben erörtern aus verschiedenen Perspektiven vor allem immer wieder die engen Relationen zwischen kognitiven Prozessen hier, Medien, Materialitäten und Praktiken der Graphie dort. 3 Wo die emotional-affektive Dimension von Graphien, Schriftzeichen und Schreibprozessen neben der kognitiv-epistemischen Dimension in den Blick rückt, da verbindet sich dies vielfach mit einer Akzentuierung ihrer ästhetischen Qualitäten. Formen literarisch-künstlerischer Produktion und schrifttheoretische Reflexionen konvergieren im Zeichen dieses Interesses an der Sinnlichkeit, insbesondere (aber nicht ausschließlich) an der Sichtbarkeit der Schrift bzw. schriftlicher Artefakte. Sie wenden sich der physischen Perzeption von Texten zu - und dem, was man (sei es metaphorisch, sei es unmetaphorisch) den ‚Eigensinn‘ von Geschriebenem, von Buchstaben, Schriftformen, Typographien etc. nennen könnte (u. a. in der Konkreten Poesie). Wichtige Impulse gehen hier von Walter Benjamin aus, der dem Buchstäblichen, seiner physischen Dimension, deren semantischen Potentialen und deren Widerständigkeit wegweisende Studien gewidmet hat. 4 In den Spuren grammatologischer Ansätze und unter dem Einfluss disziplinübergreifender ‚Materialitäts‘-Diskurse vertieft sich seit dem späten 20.- Jahrhundert die Aufmerksamkeit für die Sinnlichkeit, aber auch die Widerständigkeit von Schrift, für Unlesbarkeitsresiduen im Lesbaren, für das, was sich durch Decodierung nicht auflösen, durch Interpretation nicht beherrschen lässt - sei es, dass dies als positiv, sei es, dass es als negativ semantisiert wird. Stichworte wie ‚Sinnlichkeit‘, ‚Materialität‘‚ ‚Widerständigkeit‘ lassen in ihrer engen Bindung an Vorstellungsbilder u. a. verschiedenartige Grundaffekte assoziieren. Verbindend erscheint in einschlägigen Diskursen vor allem der Gedanke einer Autonomie der Graphie gegenüber der mündlichen Rede wie auch gegenüber der ‚Sprache‘ qua Zeichensystem ( langue ). 5 Während der Gebrauch der langue sich im 2 Vgl. Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967 - Grammatologie. Übers. v. Hans- Jörg Rheinberger/ Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1974. 3 Vgl. dazu u. a. Krämer, Sibylle/ Cancik-Kirschbaum, Eva/ Totzke, Rainer (Hrsg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012. 4 Vgl. etwa Benjamin, Walter: ABC-Bücher vor hundert Jahren. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV/ 2. Hrsg. v. Tilmann Rexroth. Frankfurt am Main 1991, S.-619f.; Benjamin, Walter: Chichleuchlauchra. Zu einer Fibel. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main 1991, S.-267-272. Zu Tawadas Benjaminrezeption vgl. insbes. ihre Dissertationsschrift: Tawada, Yōko: Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine ethnologische Poetologie. Tübingen 2000. 5 Vgl. grundlegend: Lapacherie, Jean Gérard: Der Text als Gefüge aus Schrift. In: Volker Bohn (Hrsg.): Bildlichkeit. Frankfurt am Main 1990, S.-69-88; ferner: Leroi-Gourhan, Le 162 Monika Schmitz-Emans Spannungsfeld von Codierungen und Decodierungen vollzieht, widersetzt sich Schrift einer prägenden Idee zufolge als eine physisch-materielle, sinnliche und ‚eigenwillige‘ Darstellungsform der Unterwerfung unter die Funktionsregeln der langue - und insistiert auf ihrer (auch ästhetischen) Autonomie. Geht man von der Idee einer durch Transkriptionen nicht decodierbaren, in diesem Sinn eigenwilligen und widerständigen Sinnlichkeit bzw. ‚Materialität‘ verschiedener Spielformen der Graphie aus, so sensibilisiert dies für die Besonderheiten differenter Schriftsysteme und Schreibpraktiken, für deren epistemische wie für deren affektive Dimension, und dies sowohl unter diachronwie unter synchron-vergleichender Perspektive. Im Rahmen diachron-historischer Schrift(en)vergleiche führt dies u. a. dazu, dass die geläufige Vorstellung, die auf mehrfachen Abstraktionsprozessen beruhende (westliche) Alphabetschrift sei gegenüber anderen Systemen ‚überlegen‘, weil ‚effizienter‘, relativiert und in Frage gestellt wird. Aus synchron-vergleichender Perspektive ergeben sich ebenfalls neue Perspektiven. Verschärft stellt sich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen jeweils spezifischen Graphien und Kulturen, nach dem irreduziblen Moment kulturspezifischer Graphien, nach dem Nicht-Transkribierbaren, dem Widerständigen an fremden Schriftzeichen und Schriftzeugnissen - aber auch, komplementär dazu, nach deren besonderen ästhetischen Anmutungspotenzialen. Die Begegnung mit fremdkulturellen Schriftzeichen und fremdgraphischen Texten löst, zusammenfassend gesagt, Irritationen, aber auch epistemologische Reflexionen aus; sie schärft den Blick für die sinnlich-physische, die ‚materielle‘ und ‚eigensinnige‘ Dimension von Schrift - und sie aktiviert die Disposition des Betrachters zu affektiven Reaktionen auf Schrift, Schriftzeichen, Schriftbilder. Mit den Schriften von Roland Barthes eröffnen sich diverse wichtige Perspektiven auf Graphie und Graphien. So vertritt er in seinen Variations sur l’écriture (1973) die (provozierende) These, nicht die transparente und dienstbare, sondern die kryptographische und widerständige Schrift bilde das entscheidende Fundament der Genese und Ausdifferenzierung von Schriftkulturen. 6 Ausgehend von der somatischen Dimension aller Graphie rückt bei Barthes immer wieder die affektive Dimension von Schreib- und Leseprozessen in den Blick, die er auf zugleich mehrdeutige und prägnante Weise in die Formel von der „Lust am Text“ geste et la parole; Grube, Gernot/ Kogge, Werner/ Krämer, Sybille (Hrsg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005. Hier insbes.: Grube, Gernot/ Kogge, Werner: Zur Einleitung: Was ist Schrift? , S.-9-21. 6 Vgl. Barthes, Roland: Variations sur l’écriture. Variationen über die Schrift. Französisch - Deutsch. Übers. v. Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachw. v. Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 163 fasst. 7 Diese - als eine Lust, die Schreibende und Lesende verbindet - ist dabei immer wieder auch Lust am Widerständigen, Diskrepanten und Differenten, am Fremdschriftlichen und an der Fremdheit des Geschriebenen. In seinem Japanbuch L’empire des signes 8 (1970) widmet Barthes der japanischen Kultur und der japanischen Schrift ein Porträt, das auf eine für diesen Autor typische Weise zwischen theoretisch interessiertem Essay und autobiographisch grundierter Erzählung changiert. Die Fremdheit, der ästhetische Reiz und die Unlesbarkeit japanischer Graphie werden dabei - aus der Perspektive des westlichen Betrachters - nicht allein zum Thema; sie werden auch sichtbar vorgeführt, dem Leser des Buchs in ihrer Eigenart vor Augen gestellt: durch Fotos japanischer Texte, durch Faksimiles, durch Transliterationen und durch Kombinationen (transliterierter) japanischer Texte mit tentativen französischen Übersetzungen. Barthes spielt das Vorstellungsbild der ‚fremden Sprache‘ unter verschiedenen Akzentuierungen durch; die Fremdheit des Japanischen und die Fremdheit von Traum-‚Sprachen‘ spiegeln einander dabei. 9 Begegnungen mit dem (kulturell) Fremden werden dabei zum Anlass der Auseinandersetzung mit der Fremdheit des Eigenen, dem vermeintlich Transparenten und Vertrauten. 10 Gerade als ein mehrschriftliches Buch über differente Kulturen (Kulturen, als deren Kondensat und prägnanter Ausdruck ihre spezifische Graphie erscheint) hat L’empire des signes verschiedene literarische Autoren angeregt. Eine Anschlussstelle bietet sich auch für die drei genannten Texte über differente Schriften und die affektive Dimension von Fremdschriftlichkeit - verschieden mit Blick vor allem darauf, wie das Fremde bzw. Differente von Schriften innerhalb der jeweils mehrsprachigen Texte visuell inszeniert wird. 7 Vgl. Barthes, Roland: Le plaisir du texte. Paris 1973. - Die Lust am Text. Übers. u. Kommentar v. Ottmar Ette. Frankfurt am Main 2010. 8 Barthes, Roland: L’empire des signes. Paris 1970. - Das Reich der Zeichen. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1981. 9 „Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne daß diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; […] mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden, ohne es je abzuschwächen, bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache […].“ Barthes, Roland: Die unbekannte Sprache. In: Ders.: Das Reich der Zeichen, S.-17-21, hier S.-17. 10 „Diese Übungen in einer abweichenden Grammatik hätten zumindest den Nutzen, daß sie Zweifel an der Ideologie unserer eigenen Sprache in uns wachriefen.“ Barthes, Sprache, S.-21. 164 Monika Schmitz-Emans 2 Die Beschreibung fremder Schrift. Emine Sevgi Özdamar: „Mutterzunge“ („Mutter Zunge“) 11 Özdamars Erzählung „Mutter Zunge“ (1990) thematisiert aus der Perspektive einer türkischen Migrantin in Deutschland neben deren Arbeits- und Lebenswelt auch Sprache und Schrift, Zeichen und Codes. Sprachliche und kulturelle Differenzerfahrungen greifen tief in das Leben der Erzählerin ein. Die in Deutschland lebende türkische Erzählerin beklagt, sie habe ihre „Mutterzunge“ verloren. 12 Die türkische Sprache (ihre ‚Muttersprache‘, deren abweichende Bezeichnung auf einem Wortspiel mit dem Doppelsinn des lateinischen lingua beruht) erscheint als Metonymie der Türkei. Dieser selbst hat sie sich entfremdet, vor allem infolge des totalitären Regimes, das ihr die Heimat hat unheimlich werden lassen. Im Zeichen der Empfindung ihres „Mutterzungen“-Verlusts, also einer von vornherein stark affektiv besetzten Selbstdeutung, setzt sie sich gerade in Deutschland mit der eigenen türkischen Kultur auseinander und wird dabei für einen historischen Bruch sensibilisiert, der diese Kultur selbst einige Jahrzehnte zuvor gezeichnet hat: den zwischen der seit Atatürks Reformen in den 1920er Jahren verwendeten lateinischen Schrift und der arabischen Schrift, die im osmanischen Reich noch gebräuchlich war. Ihr eigener Großvater noch hatte nur die arabische Schrift beherrscht. Vielleicht lasse sich, so die Spekulation der Erzählerin, auf dem Weg zurück zum Großvater und seiner Schrift die verlorene Beziehung zur Muttersprache wiederfinden. 13 Schreibstunden bei einem Arabischlehrer sollen in der nächsten Erzählung (Großvater Zunge bzw. Großvaterzunge) dabei helfen, sich mit dieser Schriftkultur vertraut zu machen, die sie als eine vergessene und verdrängte Dimension der eigenen kulturellen Welt betrachtet. Der Vergleich türkischer und arabischer Vokabeln bestätigt dabei die Kohärenz eines Kultur- 11 In der verwendeten Buchausgabe findet sich das Titelwort in differenten Schreibweisen: Der Band selbst trägt auf dem Cover die Aufschrift „Mutter“ / „Zunge“, die bedingt durch ihre graphische Gestaltung als ein Wort, aber auch als zwei, gelesen werden kann. Innerhalb des Bandes finden sich vier Texte, die dem Untertitel des Buchs zufolge „Erzählungen“ sind, vielleicht aber auch als Kapitel eines Romans gelesen werden könnten. Denn die zweite Erzählung schließt an die erste an wie ein Romankapitel an seinen Vorgänger; Texte 3 und 4 passen thematisch zumindest zu den ersten beiden, wenn sie auch andere Inhalte bieten. Die erste „Erzählung“ (bzw. das erste Kapitel) trägt laut Inhaltsverzeichnis den Titel „Mutter Zunge“ (S.- 9-14), die zweite den Titel „Großvater Zunge“ (S.- 15-48) Innerhalb des Bandes finden sich die Titelwörter beider Texte jeweils zu einem Kompositum zusammengezogen („Mutterzunge“, „Großvaterzunge“. Um diese beiden Texte geht es im Folgenden. Auf der inneren Titelseite des Buchs steht der Titel „Mutterzunge“ (in einem Wort). Vgl. Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge. Erzählungen [1990]. Köln 1998, S.-7. In diesem Band dies.: Mutter Zunge bzw. Mutterzunge. In: Ebd., S.-9-14, hier S.-9. 12 Vgl. Özdamar, Mutter Zunge, S.-11f. 13 Vgl. ebd., S.-14. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 165 raumes, basierend auf dem einst gemeinsamen Gebrauch der arabischen Schrift. Die türkische Kultur erscheint geprägt durch heterogene historisch-kulturelle Faktoren und auf eine Weise hybrid, die mit kulturessentialistischen Ideologien unvereinbar ist: sprachlich dem Arabischen nahe, in ihrer Schriftsprache hingegen im Bündnis mit dem Westen. Während die Erzählerin bei dem Lehrer Ibni Abdullah arabischen Schreib- und Leseunterricht nimmt, wird dabei nicht nur die Grenze zwischen zwei einander zugleich affinen und doch fremden Sprach- und Schriftkulturen überschritten, sondern auch noch eine andere: Zwischen Schülerin und Lehrer kommt es zu einer erotisch-sexuellen Beziehung, die den Lehrer offenbar schwer belastet; er begeht schließlich Suizid. Betont wird durchgehend die affektive Dimension der Beziehung der Erzählerin zu den differenten Sprachen und Schriftsystemen, zwischen denen sie sich bewegt. Diese wird vor allem durch das handlungstragende Motiv der Liebesbeziehung zwischen Schreiblehrer und Schülerin unterstrichen, die sich im Zeichen tragischer Spannungen entwickelt und entsprechend endet. Erscheint der Sprach- und Schreibunterricht einerseits positiv akzentuiert - als ein Kompetenzerwerb, der anlässlich der Reflexion über Vokabeln und Graphien zu vertieftem Verständnis kultureller und historischer Gegebenheiten führt (auch wenn dies mit der Abkehr von substantialistischen Identitätsmodellen einhergeht), so endet die Liebesgeschichte andererseits mit dem mittelbar durch Schrift und Lektüren ausgelösten Tod des Lehrers, der, im Schreibunterricht in Versuchung geführt, an der Unvereinbarkeit seiner Emotionen mit den Regeln seiner Kultur zerbricht. 14 Nicht allein, dass die Beziehung der Erzählerin zu differenten Schriften auf affektbetonte Weise zwischen Vertrautheits- und Unvertrautheitsanmutungen oszilliert; deutlich wird auch, dass die Differenzierung zwischen Vertrautem und Unvertrautem auf subjektiver Grundlage erfolgt. Deutsche und türkische Sprache erscheinen einander bei aller Verschiedenheit doch insofern relativ nah, als sie sich in derselben Schrift darstellen lassen. Passagen, in denen Türkisches zunächst in den Text integriert und dann übersetzt wird, bestätigen dies mehrfach. 15 Insgesamt blickt die Erzählerin auf das Türkische, ihre „Mutterzunge“, von der deutschen Sprache aus. Lexikographische Passagen, in denen deutsche und türkische Vokabeln aufgelistet werden, suggerieren dabei vor allem Übersetzbarkeit. 16 Wörterlisten stellen auch die Nähe zwischen dem Türkischen 14 Die unglücklich endende Liebesgeschichte eines gemeinsam und passioniert lesenden Paars erinnert vielleicht absichtsvoll an das unglückliche Paar Francesca da Rimini und Paolo Malatesta. 15 Vgl. etwa Özdamar, Emine Sevgi: Großvater Zunge. In: Dies.: Mutterzunge, S.-15-48, hier S.-45. 16 Vgl. ebd., S.-46. 166 Monika Schmitz-Emans und dem Arabischen dar. Dabei werden die Vokabeln beider Sprachen in lateinischer Graphie präsentiert und so auf eine Weise gleichsam geschwisterlich verbunden, welche den schriftkulturellen Tatsachen nicht entspricht. 17 Die so faszinierende wie befremdliche arabische Schrift selbst wird in Özdamars Erzählung „Großvater Zunge“ zwar eindringlich beschrieben, aber nicht sichtbar; Arabisches findet sich ausschließlich in lateinisch transliterierter Form. 18 Zudem werden arabische Koranverse in deutscher Übersetzung in den Text integriert und dabei mit Versen eines türkischen Liedes verknüpft - ein Analogon zur (in Berlin spielenden) Beziehung zwischen arabischem Lehrer und türkischer Schülerin über Grenzen differenter Graphien hinweg. 19 Sensibilisierend wirkt gerade der Widerstand, den die zunächst gänzlich fremde Schrift der lernenden Erzählerin entgegensetzt. Die Nicht-Präsenz der (immer nur in Transliterationen, Übersetzungen und Textparallelisierungen re-präsentierten) arabischen Schrift selbst ist aber nicht nur als ein Defizit, sondern auch als ein Gewinn interpretierbar. Denn gerade im Kontext eines Projekts der ‚Schriftbeschreibung‘ wird die Materialität der Schrift zum Thema der Erzählerin, welche ja durch ihre erotische Beziehung zum Schreiblehrer für die sinnliche Dimension von Buchstaben und Texten besonders sensibilisiert erscheint. Das Arabische bleibt abwesend, so wie das Innere des Lehrers nicht einsehbar wird und die erzählte Geschichte in manchem rätselhaft bleibt. Eine wichtige Strategie der Repräsentation (also der mittelbaren Darstellung) arabischer Schrift ist das Beschreiben ihres Aussehens, im Text verknüpft mit allerlei Assoziationen: Buchstaben erscheinen als Dinge: als Pfeile oder Karawanen, ja als animierte Wesen wie Vögel, Herzen etc. Es kamen aus meinem Mund die Buchstaben raus. Manche sahen aus wie ein Vogel, manche wie ein Herz, auf dem ein Pfeil steckt, manche wie eine Karawane, manche wie schlafende Kamele, manche wie ein Fluß, manche wie im Wind auseinanderfliegende Bäume, manche wie laufende Schlangen, manche wie unter Regen und Wind frierende Granatapfelbäume, manche wie böse geschreckte Augenbrauen, manche wie auf dem Fluß fahrendes Holz, manche wie [ein] in einem türkischen Bad auf einem heißen Stein sitzender dicker Frauenarsch, manche wie nicht schlafen könnende Augen. […] Über den Tüchern warten die Buchstaben auf mich. Heute manche haben [sic] würdevolle Gesichter, sie hören das Rauschen ihres Herzens, manche ihrer Augen sind ganz, manche halb geschlossen. Manche sind dünne Waisen mit bleichen Gesichtern, manche Allahs Vogel, sie wandern Hand in Hand. 20 17 Vgl. ebd., S.-39, 41. 18 Vgl. ebd., S.-29. 19 Vgl. ebd., S.-33. 20 Ebd., S.-18f. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 167 In solchen Metaphern dokumentiert sich eine poetische Spielform dezidiert literarischer Reflexion über Schrift, und auch die metaphorische Umkreisung des (abwesenden) arabischen Schriftsystems ließe sich als Selbstverweis des literarischen Schreibens auf die eigenen Stilmittel verstehen. Wenn die Erzählerin die arabischen Schriftzeichen mehrfach als lebendige Gegenstände wahrnimmt, so werden damit zum einen Reminiszenzen an Beispiele arabischer Kalligraphie aufgerufen (ein Beispiel ist auch auf dem Buchcover verschiedener Ausgaben zu sehen), zum anderen erinnern diese Passagen aber auch an die Tradition der Buchstabenbilder, die u. a. 1970 durch eine umfangreiche Anthologie von Robert Massin dokumentiert worden ist. 21 Abb. 1: Titelseite der Taschenbuchausgabe von Emine Sevgi Özdamars Buch Mutterzunge. Die kalligraphische Arbeit entspricht Kalligraphien, wie sie im Text erwähnt und teils kommentiert werden; der Text selbst ist unbebildert. Ausgehend von der Wahrnehmung der arabischen Schriftzeichen als körperlich und animiert, beschreibt die Erzählerin dann wahrgenommene Erscheinungen als Buchstaben - und interpretiert sie durch den Vergleich mit Schriftzeichen. 22 Özdamar setzt insgesamt eine affektbezogene Sprache zur Darstellung schriftlicher Phänomene ein. In diesem Sinn ‚beschriebene Schrift‘ wird zur Projek- 21 Massin, Robert: La lettre et l’image. Paris 1970. - Buchstabenbilder und Bildalphabete. Übers. v. Philipp Luidl/ Rudolf Strasser. Ravensburg 1970. 22 „Ibni Abdullahs Gesicht sah wie ein zorniger Buchstabe aus, der seine eine Augenbraue hochgezogen hatte.“ Özdamar, Großvater, S.- 19; „Ibni Abdullahs Gesicht hat etwas von einem bettelnden Buchstaben, der auf Knien läuft.“ Özdamar, Großvater, S.-23; „[M]eine Hände lagen wie Buchstaben ohne Zunge auf meinen Knien.“ Ebd., S.-24. 168 Monika Schmitz-Emans tionsfläche von Emotionen und Imaginationen und damit zum Katalysator einer spezifischen Art, die wahrgenommene Welt zu semantisieren. 3 Von der Schönheit der Schrift und den Leidenschaften, die sie weckt: Rafik Schamis Geschichte eines Kalligraphen Rafik Schamis Roman Das Geheimnis des Kalligraphen (2008), entstanden vor dem Hintergrund vielfältiger Diskurse über Schriftbildlichkeit, spielt in der Welt syrischer Kalligraphen, ist aber auf Deutsch für deutsche Leser verfasst. Die Schilderung der aus deutscher Perspektive fremden Kultur und ihrer Schrift steht daher im Zeichen eines teils in die Narration integrierten, teils paratextuell angefügten Bildungswissens über kalligraphische Praktiken, arabische Schrift und arabische Kultur. Kalligraphen, so wird dabei suggeriert, lieben manchmal nichts so sehr wie ihre Schrift, nicht einmal sich selbst. Auch Schami verknüpft seine Geschichte um einen Schreibenden, seine Schrift und seine kalligraphischen Arbeiten, um eine Leserin und um verschiedene Liebhaber kalligraphischer Schrift mit dem Basisplot einer Liebesgeschichte; wiederum gibt dies Gelegenheit, die emotional-affektive Dimension von Schrift zu thematisieren, wobei Schriftliches in dieser Geschichte auf vielfache Weisen mit Emotionen verknüpft ist, sie darstellt und auslöst - mit unterschiedlichen Emotionen zudem - mit leidenschaftlicher Liebe, mit Eifersucht, mit Machtstreben, mit freundschaftlichen und feindseligen, kreativen und destruktiven Gefühlen. Der Roman spielt in Damaskus in den späten 1950er Jahren - mit Rückblicken in frühere Zeiten. Der im Titel genannte Kalligraph Hamid Farsi ist für seine Kunst berühmt; er liebt nichts so sehr wie die Schrift. Hingegen ist er zu emotionalen Bindungen an Menschen unfähig. Bis ins mittlere Alter einzelgängerisch, hat sich Meister Farsi erst spät verheiratet. Seine viel jüngere Frau ist die von ihren Eltern zu einem selbständigen Menschen erzogene hübsche Numa. Diese verliebt sich in den Gehilfen ihres Mannes, Salman, und die beiden beginnen ein Liebesverhältnis. Farsi widmet sich ganz dem politisch brisanten Projekt einer Reform der arabischen Schrift, das er als zeitweiliger Vorsitzender einer Geheimgesellschaft von Kalligraphen betreibt. Brisant ist das Projekt, weil unter den konservativen Anhängern des Islam eine Veränderung der seit dem Propheten gebräuchlichen Schrift als Sakrileg gilt. Dabei hat es schon vor vielen hundert Jahren einen Verfechter einer Graphie-Reform gegeben, der aber scheiterte und verstümmelt wurde. Mit der Reform geht es aus der Sicht der Gläubigen insbesondere um die Frage nach der Antastbarkeit oder Unantastbarkeit des Korans, der ja in der zu reformierenden Schrift tradiert ist. Über die Frage, wie weit die Graphie-Reform gehen solle, sind Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 169 die Anhänger der Reformbewegung uneins. Die reformierte Schrift, so die immerhin verbindende Überzeugung der Verfechter, werde die arabische Sprache flexibler und effizienter machen und der islamischen Kultur zu größerem Ansehen und größerer Effizienz verhelfen. Hamid Farsis passionierter Einsatz für das Reformprojekt bringt ihm Feindschaft, Verfolgung, ja Lebensgefahren ein. 23 Während er mit seiner Geheimgesellschaft den Weg für eine Reform bereiten möchte, kommt es zu politischen und privaten Konflikten, die die Situation des Liebespaars Salman und Numa so erschweren, dass beide an eine gemeinsame Flucht denken. Ein anderer Mann, Nassri, umwirbt Numa mit kalligraphischen Blättern, die ihr Ehemann im Auftrag für ihn geschrieben hat. Numa macht dies bekannt, flieht und beginnt mit Salman an anderem Ort ein neues Leben; ihre einzige Tochter wird Kalligraphin. Farsi tötet den ihm verhassten Nassri und kommt ins Gefängnis. Dort genießt er viele Jahre als Kalligraph einen Sonderstatus, der ihm das Arbeiten möglich macht - bis unter einem neuen, eher säkular orientierten Regime der Islam und die traditionelle Kalligraphie in Missachtung geraten. Er flieht aus dem Gefängnis und emigriert in die Türkei, wo er versteckt vor der Welt weiter als Kalligraph arbeitet. Eine auf drastische Weise vom affektiven Potential der Kalligraphie-Praxis handelnde Geschichte, die der Erzählung über Farsi angehängt wird, ist die des mittelalterlichen Kalligraphie-Meisters Ibn Muqla (885-940). Dieser hat die arabische Schriftkultur maßgeblich mitgestaltet, aber vergeblich eine Reform in Angriff genommen. Sein Alphabet wurde nie akzeptiert; man hackte ihm die Schreibhand ab und schnitt ihm schließlich auch noch die Zunge ab, damit er sein Wissen und seine Meinungen nicht weitergab. Gleichwohl wirkt seine Kunst im Schaffen der Kalligraphen bis heute nach. 24 23 Vgl. u. a. Schami, Rafik: Das Geheimnis des Kalligraphen. München 2008, S.-499: „Spätestens ab Mitte 1953 und nicht erst Ende ’56 oder Anfang ’57 hatten ihn die Fanatiker auf ihre Abschussliste gesetzt. Sein Name als Kalligraph stand in jedem Schulbuch. Dass sie ihn nicht getötet hatten, war ein Teil ihres gemeinen und raffiniert eingefädelten Plans. Sie wollten ihm nicht erlauben, als Märtyrer zu sterben. Sie ruinierten zunächst seinen Ruf, dann wollten sie ihn lebendig begraben, ihn jeden Tag quälen, bis er sich den Tod wünschte.“ 24 Als ein besonderes Ziel des Kalligraphie-Reformers Ibn Muqla wird gewürdigt, dass er versucht hat, Hybridschriftliches hervorzubringen. Nachdem seine Versuche mit Kreuzungen von Tieren erfolgreich waren, experimentierte er mit einer Schrift, die sich für alle Sprachen der Welt eignen sollte. „Die Fortschritte auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet ermunterten Ibn Muqla zu einem weiteren Schritt, der ihm Weltruhm hätte bringen können: Die Erweiterung der arabischen Schrift durch Kreuzung mit anderen Sprachen. Er hatte die persische, arabische, aramäische, türkische und griechische Sprache studiert sowie die Metamorphose der arabischen Schrift von den Anfängen bis zu seiner Zeit. Sorgfältige Studien ermöglichten ihm die Erfindung eines neuen arabischen Alphabets, das mit nur fünfundzwanzig Buchstaben alle damals bekannten Sprachen ausdrücken konnte.“ Ebd., S.-523. 170 Monika Schmitz-Emans Steht über weite Teile des Romans auch die Liebes- und Ehe-Geschichte um Numa, Salman und Farsi im Mittelpunkt, gerahmt durch Ausführungen und Geschichten über die syrische Zeitgeschichte und das Leben in einer Stadt mit Gläubigen verschiedener Religionen, so wird der Roman sukzessive nachdrücklicher ein Roman über die arabische Schrift. Farsi, der Geheimbund und Ibn Muqla stehen für die Reformerseite und ihre Ideen; 25 ihnen gegenüber stehen zum einen kulturfeindliche Machtmenschen, zum anderen reformunwillige Traditionalisten. Schami schreibt für ein westliches, nicht-islamisches Publikum. Seine Erläuterungen über die Kalligraphie, das islamische Schriftsystem und die islamische Religion setzen keine Vorkenntnisse voraus. Als ein Roman über Kalligraphen vermittelt Schamis Geschichte kulturelles Wissen anhand einer bestimmten künstlerischen Praxis, die mit der islamischen Religion und Kultur aufs engste zusammenhängt - so eng, dass die Frage, wie die kalligraphische Kunst ausgeübt wird, tief in das religiöse und politische Leben dieser Kultur eingreift. Der eigentlichen Romanerzählung über Farsi und seine Zeit sowie über Ibn Muqla angeschlossen ist ein immerhin 18 Druckseiten umfassender Teil über die arabische Schrift - über diese Schrift im Allgemeinen, über Schreibstile und über die Motive für einen Reformwunsch (den Schami offenbar unterstützt). So lernt der Leser vieles über die arabische Schrift - und über die arabische Kultur, über das Denken und über die (Schreib-)Kunst in der arabischen Welt. Reproduziert finden sich Beispiele kalligraphischer Blätter sowie Proben der wichtigsten Schriftstile und eine Übersicht über das arabische Alphabet mit dem umstrittenen Buchstaben ‚la‘. Schamis Roman über den Dissens unterschiedlicher Kalligraphen-Schulen macht deutlich, in welchem Maße Schreibpraktiken affektiv besetzt sein können; Befürworter und Gegner der Reform bekämpfen sich teilweise bis aufs Blut, und die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schreibtradition ist mit Fragen politischer Machtausübung eng verbunden. Aber Schreibstile bieten auch Spielräume zur individuellen Selbstdarstellung, zur Entwicklung von persönlichen Kalligraphien, an denen sich dann etwa Liebende (oder auch Feinde) erkennen. Anders als Özdamars Erzählungen enthält der Roman Schamis Beispiele arabisch-kalligraphischer Texte. 25 Zum Projekt einer Kalligraphen-Schule heißt es u.a.: „Die arabische Schrift muss das Anliegen aller sein. Unsere allerschönste Kunst darf nicht verwahrlosen und nur noch dem Zufall überlassen werden, sondern sie muss erforscht, von Ballast gereinigt und weiterentwickelt werden.“ Ebd., S.-262. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 171 Abb. 2: aus Rafik Schami: Das Geheimnis des Kalligraphen, S.-525. Kalligraphische Arbeit, als Illustration in den Bericht über den Kalligraphen Ibn Muqla integriert und von Schami durch eine deutsche Übersetzung ergänzt 172 Monika Schmitz-Emans Diese werden dem westlichen Leser durch erläuternde Rahmungen zwar ein Stück nähergebracht; aufgelöst aber wird ihre Widerständigkeit nicht. Man kann sie als westlicher Leser immer noch nicht lesen, wenn man die Erläuterungen gelesen hat. Aber man weiß jetzt wenigstens etwas mehr über das, was man nicht versteht. Eine ästhetische Wahrnehmung der Blätter ist auch möglich, wenn man sie nicht im konventionellen Sinn lesen kann. Um Schrift-Affekte geht es thematisch und darstellungstechnisch in verschiedener Hinsicht: Man liest von der Kalligraphie als einem Katalysator von Liebesbeziehungen, aber auch als Anlass mörderischer Feindseligkeiten, vom Schreiben als Ersatz für menschliche Bindungen, aber auch als deren wichtiger Motor. Die Geschichten im Roman sind dazu angetan, mit narrativen Mitteln die emotionalen Potentiale zu exemplifizieren, die im Umgang mit Schrift liegen. Der Anhang über die arabische Schrift soll dann sogar das deutschsprachige Lesepublikum noch in den Bann dieser Zeichen schlagen - und zwar unabhängig davon, ob es die Kalligraphien entziffern kann. 26 4 Ideogramme als Fremdkörper: Yōko Tawadas Zeichenreiche Yōko Tawadas Texte sind charakterisiert durch ihre Sensibilität für die Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Schriftsystemen - Differenzen, aus denen zum einen ganze Fabeln entwickelt werden, die zum anderen aber auch konkret mit text- und buchgestalterischen Mitteln inszeniert werden. So etwa wirken deutsche Texte mit integrierten chinesischen Schriftzeichen auf den deutschen Leser irritierend (immerhin ist eine entsprechende Lesekompetenz in der Regel nicht vorauszusetzen), stimulieren dadurch aber eigenartige ästhetische Erfahrungen. 27 Tawadas Ich-Erzählerinnen, oft textinterne Doppelgängerinnen der Autorin, nehmen die Welt der europäischen Schriftzeichen als eine fremde Welt wahr, in denen sie sich mit eigenen und unkonventionellen Mitteln orientieren - was gelegentlich zu ungewöhnlichen Resultaten führt, weil statt des konventionellen Codes ein individuelles Leseschema zur Anwendung kommt und die Zeichen physisch, ja physiognomisch interpretiert werden. 28 Komplementär zur westlich-lateinischen Schrift wird (auch in Tawadas 26 Die gezeigten kalligraphischen Blätter werden allerdings von Bildlegenden in deutscher Sprache kommentiert, die jeweiligen Texte übersetzt. 27 Tawada, Yōko: Abenteuer der Grammatik. Gedichte. Tübingen 2010. Zur Differenz östlicher und westlicher Schriftsysteme vgl. dies.: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen 1998, S.-27f. 28 „Eine Sprache, die man nicht versteht, liest man äußerlich. Man nimmt ihr Aussehen ernst. Das Gesicht eines französischen Textes sieht runder aus als das eines deutschen. Es fehlen die eckigen Schultern der großen Buchstaben, die im Deutschen jeder Zeile einen architektonischen Charakter geben.“ Tawada, Yōko: Musik der Buchstaben. In: Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 173 deutschen Texten) die Welt der japanischen Schrift thematisiert, teilweise auch sichtbar gemacht; auch sie gibt Anlass zur Thematisierung und zur Inszenierung von Irritationen. Dabei erscheinen allerdings weder die europäische noch die japanische Schriftwelt als homogenes, in sich konsistentes System aus eindeutig kodierten Zeichen. Daran, dass das Japanische sich eines kombinierten Systems aus verschiedenen Teilschriften bedient, erinnern Tawadas Texte wiederholt. Insbesondere die aus dem Chinesischen entlehnten Ideogramme, die in japanischen Kontexten aber nicht dasselbe bedeuten müssen wie in chinesischen, geben Anlass zu Irritationen und poetischen Einfällen. Die westliche (lateinische) Schrift wird im Horizont unterschiedlicher Sprachräume unterschiedlich in Sprachlaute übersetzt; das deutsche „du“ etwa klingt anders als das französische „du“, und das Buchstabenpaar „d“ und „u“ bedeutet auch jeweils etwas anderes. 29 Die affektive Besetzung von Schriftzeichen und Geschriebenem vollzieht sich bei Tawada insgesamt vor allem im Horizont der Grundspannung von Vertrautem und Fremdem. Allerdings kann sich dabei auch das vermeintlich Vertraute als befremdlich erweisen - und das scheinbar Fremde vertraut anmuten. Auch andere Differenzierungen werden destabilisiert, und auch dies verleiht den Schriftzeichen und Zeichenketten eine affektive Dimension: Oft erinnern sie an Dinge, oft erscheinen sie als beweglich, als lebendig. Manche erzeugen Angst. Tawadas Roman Schwager in Bordeaux erinnert in der Textgestaltung an ein persönliches Notizbuch, obwohl von der Hauptfigur in der dritten Person die Rede ist. Die junge Japanerin Yuna, die als Teenager Romanautorin werden wollte, inzwischen aber (wie es heißt) nur noch Ideogramme in ihr Notizbuch schreibt, ist nach Deutschland gekommen und hat dort verschiedene Bekanntschaften gemacht, darunter die der älteren Romanistin Renée. Als Yuna den Wunsch äußert, Französisch zu lernen, vermittelt Renée ihr den Kontakt zu ihrem ‚Schwager‘ Maurice, der in Bordeaux ein Haus hat und eine Reise nach Vietnam plant; für die Zeit seiner Reise ist er bereit, Yuna sein Haus zur Verfügung zu stellen. In Frankreich taucht Yuna neuerlich in eine fremde Sprachwelt ein und macht neue Bekanntschaften. Eine Unbekannte stiehlt ihr Wörterbuch, wendet sich der verstörten Yuna am Romanende aber zu. Dies.: Überseezungen. Tübingen 2002, S.-32-35, hier S.-34: „Die deutsche Sprache klang so, wie sie aus dem Mund von Anna herauskam, plastisch und bunt. Beim Zuhören hatte ich das Gefühl, durch hügelige Landschaften spazieren zu gehen.“ Tawada, Yōko: Das nackte Auge. Tübingen 2004, S.-27. 29 „Ich sehe das Wort ‚du‘. […] Egal, was ich mir darunter vorstelle, die beiden Buchstaben ‚d‘ und ‚u‘ bleiben so, wie sie sind. Die Schriftzeichen interessiert es vielleicht gar nicht, was sie in einem Land bedeuten. In Deutschland bedeuten sie das, in Frankreich jenes. Sie sind Reisende, sie werden unterwegs immer wieder anders verstanden, je nachdem, in welcher Sprache sie übernachten. Ihre Körper bleiben aber dieselben, nämlich ein ‚d‘, ein Halbkreis mit einer erhobenen Hand, und ein ‚u‘, ein leeres Gefäß.“ Tawada, Musik, S.-33. 174 Monika Schmitz-Emans Yunas Orientierungsversuche in Deutschland und Frankreich sind immer wieder Orientierungsversuche in einem ihr unvertrauten Schriftraum, den sie sinnlich-körperlich erfährt und mit der Welt der gesprochenen Laute vergleicht. Die Erzählung der (insgesamt äußerlich wenig spektakulären) Ereignisse, geschildert allesamt aus Yunas subjektiver Sicht, von ihren Phantasien, Wünschen und Ängsten durchdrungen, ist nicht linear angelegt, sondern enthält viele Rückblicke auf Bekanntschaften Yunas und Erfahrungen mit Frauen und Männern. Diese Figuren wurden durch ihre Verhaltens- und Sprechweisen jeweils prägnant charakterisiert; vieles verbleibt aber im Bereich des Unausdrücklichen. Eine so eindeutige Liebesgeschichte wie Özdamars „Mutterzunge“ und Schamis Geheimnis des Kalligraphen bietet Tawadas Roman nicht. Vieldeutig wie die verwendeten Ideogramme sind die Beziehungen zwischen den Figuren, zwischen Yuna und Renée, Renée und Maurice, Yuna und Maurice. 30 Affekte sind allenthalben im Spiel - allerdings angedeutete, rätselhafte, vexatorische. Abb. 3: Anfangsseite aus Yōko Tawada: Schwager in Bordeaux, S.- 6. Das großflächig abgedruckte chinesische Zeichen wird, wie andere seitenfüllende Zeichen und Zeichenkombinationen auch, nicht übersetzt. Es bedeutet, passend zu seiner Positionierung und zum Inhalt des ersten Textabschnitts, „Anfang“. 30 Die Beziehung zwischen Yuna und Renée hat eine erotische Komponente, aber auch zwischen Renée und Maurice könnte eine andere als rein verwandtschaftliche Beziehung bestehen oder bestanden haben. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 175 Das Buch selbst ist durch Schriftlichkeit in mehrfacher Hinsicht geprägt: erstens auf inhaltlicher Ebene; es geht immer wieder um die Eindrücke, welche Schriftzeichen auf Yuna und andere machen; es ist die Rede von Schriftzeichen, ihrem Aussehen und ihren Wirkungen auf Betrachter. Zweitens sind die einzelnen Abschnitte des Textes unter Schriftzeichen gestellt, die der westliche Leser in der Regel nicht lesen kann: Es handelt sich um (ihrem Ursprung nach chinesische) Ideogramme, wie sie auch in der japanischen Graphie gebräuchlich sind, hier aber teils andere Bedeutungen haben als im Chinesischen. Diese Ideogramme wirken durch ihre Positionierung über den Abschnitten wie Stichwörter, ja wie Lemmata aus einem Wörterbuch. Manche wiederholen sich allerdings, anders als in Wörterbüchern, und ihre Anordnung entspricht keiner Wörterbuchstruktur. Übersetzt werden die Ideogramme nicht; sie sind auch jeweils mehrdeutig und eröffnen insofern mehrfache Assoziationsräume. Zu den Textabschnitten, welche auf sie folgen, unterhalten sie entsprechend schillernde Beziehungen; sie geben Interpretationsanregungen oder beeinflussen die Lektüre auf andere Weise - freilich nur für den, der sie lesen kann. Drittens findet sich innerhalb des Buchs eine ganze Reihe ganzseitiger und farbiger Darstellungen von Ideogrammen. Diese entsprechen den Zeichen, die auch als Überschriften der Textabschnitte gewählt wurden. Sie repräsentieren physisch die Schriftwelt, durch welche sich die Figuren bewegen - und für den deutschen Leser, der kein Japanisch liest, stellt sich so im Durchgang durch das Buch ein analoger Effekt ein wie für Yuna, wenn sie sich im westlichen Schriftraum bewegt: Er wird mit Fremdem konfrontiert. In der Regel kann er es - anders als Yuna die lateinische Schrift - auch bei genauerem Hinschauen nicht entziffern. Die Ideogramme stehen (wenngleich auf oszillatorische, oft mehrdeutige Weise) in Beziehung zum Innenleben der Figuren (vor allem Yunas), ihren Empfindungen, Affekten, Neigungen und Idiosynkrasien, ihren Sympathien und Antipathien. Manchmal erinnern sie die Figuren an Personen, die ihnen nahestehen. 31 Manchmal visualisieren die Ideogramme auch Ideen, Bilder, Assoziationen, die unter dem Eindruck emotional-affektiver Dispositionen der Figuren entstehen. Der Effekt ist dabei eine spielerische Brechung dieser Affekte, die wirken, als würden sie auf einem Theater der Zeichen vorgeführt. 32 Wie ein visuelles Thea- 31 Unter dem Ideogramm für Oto , ‚Ton‘, steht, anschließend an Erläuterungen zur Vokabel Otooto für bestimmte männliche Verwandte: „Oto bedeutet Ton, es ist ein Zufall, es hatte nichts mit dem jüngeren Bruder zu tun. Aber es ist doch bemerkenswert, dass ein Ton und noch ein Ton, also zwei Töne aus dem Nichts erschienen. Vielleicht ist jedes Wort ein Musikinstrument. Ein Bruder aus zwei Tönen, er hat kein Blut, keine Eltern, dennoch war er da […].“ Tawada, Yōko: Schwager in Bordeaux. Roman [2008]. Tübingen 2011, S.-24. 32 Eine Reihe von Einträgen gilt Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Yuna und Renée. Dabei vergleicht letztere Yuna einmal (in wenig schmeichelhafter Absicht) mit einer Nonne, nachdem diese sie mit dem Wort „Kolonialistin“ in Verbindung gebracht 176 Monika Schmitz-Emans ter nehmen sich auch die imaginären Kampfszenen aus, die - von den Ideogrammen visualisiert - zwischen den streitenden Romanfiguren gelegentlich stattfinden. 33 Selbst wer die Bedeutungen der chinesischen Zeichen kennt und sie zu den ihnen zugeordneten Episoden in Beziehung setzen kann, wird oft nicht eindeutig entscheiden können, wie diese Beziehung gemeint ist. Die (Re-)Konstruktion visueller Ähnlichkeiten zwischen Ideogrammen und ihren Bedeutungen bestimmt insgesamt die Art und Weise, wie die Protagonistin des Romans die Welt wahrnimmt. Solche Ähnlichkeiten zu entdecken, kann Freude bereiten und Vertrautheit suggerieren, aber auch Irritationen und Desorientierung auslösen. Die spezifische Textgestaltung von Schwager in Bordeaux stimuliert ein spezifisches Leseverhalten. Gerade wegen des Widerstandes, den die Ideogramme dem deutschen Leser entgegensetzen, wird man ihre Gestalt umso intensiver betrachten, insbesondere das der farbigen großen Ideogramme auf den Bild-Seiten. Weiß man (und Tawada hat dies selbst betont 34 ), dass die Ideogramme über den Textabschnitten zu deren Inhalten in einer, wenngleich durch keine Regel hat. Denn Renée hatte zuvor einen jungen Handwerker schlecht behandelt, der zum Reparieren eines Wasserrohrs gekommen war. Unter dem Ideogramm für ama , ‚Nonne‘, heißt es: „Und du erinnerst mich an eine Nonne! Renée spuckte jedes der sieben Wörter getrennt aus. Yuna verbeugte sich tief, nicht etwa, um ihren Respekt vor Renées Einsicht zu zeigen, sondern um das kaputte Wasserrohr unter dem Waschbecken zu untersuchen.“ Ebd., S.-19. Erstaunlicherweise sieht das Ideogramm für ‚Nonne‘ aus, als sitze eine Figur mit hochgerecktem Arm unter einem Waschbecken. 33 Neben dem in drei farbkombinatorischen Varianten präsentierten Ideogramm kotaeru , ‚(um zu) antworten‘, wird über eine komplizierte Dialogsituation berichtet: „Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Yuna damals unmittelbar auf Renée reagiert hätte. Dann hätten vielleicht Frage und Antwort wie zwei Bambusschwerter Schlag auf Schlag helle, trockne Klänge produziert. […] / Antworten, kotaeru: um das Wort zu schreiben, benutzte Yuna gewöhnlich ein Ideogramm mit der Krone aus Bambus. Ein Dialog zwischen ihr und Renée sollte ein Kampfsport mit Bambusschwertern werden.“ Ebd., S.-30. Das neben dem Text auch als Textbild präsentierte Ideogramm kotaeru nimmt sich im Kontext dieser Eintragungen aus wie die Darstellung einer sportlichen Kampfszene. Es ist im Bild dreimal zu sehen, jeweils aus schwarzen und orangeroten Bestandteilen zusammengesetzt, wobei deren variable Anordnung bzw. partielle Verdopplung die Suggestion von Bewegung erzeugt - so als schaue man auf eine Kampf- oder auch eine Dialogszene. 34 Vgl. Klook, Carsten: Yōko Tawada. Die Wortreisende. Zeit Online vom 16.09.2008. http: / www.zeit.de/ online/ 2008/ 38/ yoko-tawada (09.03.2018): „ZEIT ONLINE: Welche Bedeutung haben die Schriftzeichen, die über jedem Absatz stehen? Yoko Tawada: Jedes Zeichen hat eine oder mehrere Bedeutungen, genau wie ein Wort. Die Ideogramme haben eine Form, die man mit dem Text, der darauf folgt, in Verbindung bringen kann. Die Assoziationen, die durch die Zeichen entstehen, beeinflussen den Text. Dennoch gibt es keinen direkten Zusammenhang, es entsteht ein Spielraum. Das ist wie bei einem Traumbild: Man weiß nicht, was es genau bedeutet, mehrere Deutungen sind möglich. Das ist mit den Ideogrammen ähnlich. Man versteht manchmal den eigenen Traum nicht. Ich erwarte nicht, dass der Leser das Ideogramm versteht. Aber er sieht trotzdem die Form. Auch in einem Text, der in einer Sprache geschrieben ist, die man versteht, gibt es Teile, Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension 177 bedingten und insofern auch nicht eindeutig decodierbaren Beziehung stehen, so wird man angesichts der Unlesbarkeit der Ideogramme vielleicht den deutschen Text selbst auf eine eigene Weise lesen: Vielleicht kommt man ja der Bedeutung der ‚Stichwörter‘ auf die Spur, wenn man den deutschen Textabschnitt auf seine Schlüsselwörter hin befragt und entsprechende Hypothesen bildet. Der Widerstand der fremden Schriftzeichen wäre dann also ein Anlass zur Vertiefung in den deutschen Textabschnitt, seine Faktur und seine (hypothetisch zu erschließende) Leitthematik. 5 Vergleichsperspektiven Die analysierten Texte Özdamars, Schamis und Tawadas weisen deutliche Gemeinsamkeiten auf: Geprägt durch analoge Themen und Diskurse, stehen sie im Zeichen der Reflexionen über differente Schriftsysteme und Schriftkulturen - und über die darin gespiegelten kulturellen Differenzen. Alle drei betonen die affektive Dimension von Schreib- und Leseperformanzen, verbunden mit somatischen Erfahrungen, sinnlichen Perzeptionen, aber auch mit kulturellen Semantisierungen von Schriftzeichen, Schreibstilen und Schreibpraktiken. Zur Verdeutlichung des affektiven Moments im Umgang mit Schrift wird jeweils eine Geschichte über erotische Affinitäten und Liebesbeziehungen erzählt, und zwar jedes Mal über kulturelle Grenzen hinweg, sei es mit Blick auf verschiedene Kulturräume, sei es unter Akzentuierung verschiedener Abschnitte in der Geschichte bestimmter Kulturen. Inhaltlich, stilistisch und buchgestalterisch sind aber auch Unterschiede zu registrieren. Özdamars Reflexionen über Formen ‚fremder‘ Graphie basieren auf immer schon interpretierenden verbalen Beschreibungen und profilieren auf diesem Weg auch die affektiven Beziehungen der Figuren zur Schrift. Schami hingegen zeigt im Anhang zu seinem Roman die dem deutschen Publikum fremde Kalligraphie selbst in ihrer Schönheit; Erläuterungen und Übersetzungen wirken hier als Brücken in eine fremde (Schrift-) Welt, wobei es vor allem der ästhetische Reiz der kalligraphischen Arbeiten ist, dem der Leser sich anteilnehmend zuwenden soll. Tawadas Roman ist durch seine ungewöhnliche Buchgestaltung charakterisiert. Als Spiel mit Elementen differenter Schriftsysteme, die aber zudem auch innerhalb ihres jeweiligen Schriftcodes Unterschiedliches bedeuten können, lässt der Roman seine Leser an den Irritationen der Figuren teilhaben - Irritationen, die teils lustvoll erlebt werden und einen humoristischen Anstrich haben, teils aber auch dazu angetan sind, an der Lesbarkeit der Welt zu (ver-)zweifeln. die so ähnlich bleiben wie Bilder. Wenn man nicht jeden Teil, jeden Satz komplett versteht, erhält man doch eine Verkörperung vom Charakter der Texte.“ 178 Monika Schmitz-Emans Wichtige Differenzen ergeben sich aus den jeweiligen Positionierungen der Erzählerinstanzen innerhalb respektive gegenüber den von ihnen erfahrenen und reflektierten Schriftkulturen und ihren Schriftsystemen. Özdamars und Tawadas Protagonistinnen setzen sich vor allem mit ihnen fremden Schriftsystemen auseinander (wobei sie das ihnen vertraute System vergleichend einbeziehen). Die Ausgangssituationen sind dabei allerdings unterschiedlich: Özdamars Erzählerin befindet sich als Migrantin in einer anderen Situation als Tawadas Heldin, die Europa zu Bildungszwecken erkundet. Allerdings bewegt sie sich hier keineswegs souverän, sondern unterliegt vielen Verunsicherungen, auch und gerade durch Schrift. Schamis Kalligraphen-Geschichte berichtet demgegenüber von subtilen künstlerischen Umgangsformen mit der eigenen (arabischen) Schrift sowie von Reformprojekten, die eine Verfügungsmöglichkeit über Schriftcodes voraussetzen, wobei politische Faktoren dem entgegenstehen können. In jedem Fall sind die Kalligraphen aber Meister der Schrift, und die zur Kalligraphin ausgebildete Tochter Salmans und Numas führt die entsprechende Tradition fort. Liest man die Texte Özdamars, Schamis und Tawadas nacheinander, so führen sie an die physisch-visuelle Fremdheit des dem Leser im Regelfall unvertrauten Schriftsystems schrittweise näher heran: Auf die bloß beschriebene, indirekt vermittelte Fremdschrift bei Özdamar folgt die zwar in ihrer Fremdheit gezeigte, dabei aber durch Erläuterungen und Übersetzungen vermittelte Fremdschrift bei Schami; schließlich aber sieht man sich bei Tawada mit Schriftzeichen konfrontiert, die einem hartnäckigere Widerstände entgegensetzen. Man kann auf diese Fremdheit unterschiedlich reagieren: Man kann die Zeichen ignorieren (der deutsche Romantext ist auch für sich allein lesbar, aber unbehaglicher Weise hat man das Gefühl, etwas zu ‚verpassen‘). Man kann versuchen, mit einem Wörterbuch zurechtzukommen (was den Effekt des Eintauchens in ein fremdes Schriftsystem verstärkt). Oder man kann eine Übersetzungs-App benutzen, die darauf beruht, dass man von dem zu entziffernden Zeichen ein Bild macht oder es nachzeichnet. Dies ist eine in besonderem Maße interaktive Form der Auseinandersetzung mit dem Text. Die Resultate bleiben für den Leser, der das Japanische nicht beherrscht, letztlich hypothetisch, aber doch mit hohen Wahrscheinlichkeitsgraden. Die Interaktion mit den fremden Sprachzeichen via Wörterbuch und mehr noch via App kann als Mühsal empfunden werden, aber auch Vergnügen bereiten. Gerade Tawadas Text bietet einen Ausgangspunkt für die lustvolle, ästhetisch-spielerische Exploration der eigenen Affektivität gegenüber fremden und eigenen Schriftzeichen. Bei Özdamar zeichnet sich ein solch ästhetisches Verhältnis zur Schrift (als eines unter anderen) immerhin ab, wenn es um die visuell-poetische Dimension arabischer Zeichengeflechte geht. Schami akzentuiert die Bedeutungsdichte kalligraphischer Arbeiten; in diesen konkretisiert sich eine Ästhetik des Spiels, die auch politisch-emanzipatorische Implikationen haben kann. „Wortebeben“ im Echoraum der Erstsprache. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern Monika L. Behravesh 1 Der Essay als literarische Sprachbiographie Meine Schreibsprache ist zwar nicht meine Muttersprache, aber dafür meine einzige und einzig im Schreiben lebendig werdende Sprache: Darf das gelten? Und außerdem: Kann ein Mensch, der wie ich ohne Mutter groß geworden ist, überhaupt eine solche Muttersprache haben? 1 Die Brisanz dieser Frage, die als eine Antwort auf die immer wiederkehrenden Fremdheitsmarkierungen seitens der Mehrheitsgesellschaft formuliert wird, liegt in der Infragestellung der affektiven Bindung an und einer besonderen Kompetenz in der ‚Muttersprache‘. Denn der Differenzgedanke, der sich entlang der Setzungen von ‚Muttersprache‘ und ‚Fremdsprache‘ zieht, impliziert nicht nur die Annahme von der Sprache als einem legitimen und natürlichen Besitz, sondern weist ihnen zugleich einen spezifischen affektiven Wert zu. So evoziert das Wort ‚Mutter‘ in dem obigen Kompositum die Vorstellung einer „allegedly organic nature of this structure by supplying it with notions of maternal origin, affective and corporeal intimacy, and natural kinship“ 2 . Genau diese Sprachauffassung wird auch in dem anfangs zitierten Textausschnitt hinterfragt, wodurch die Notwendigkeit einer Revision des fortwirkenden Konzeptes verdeutlicht wird. Auf 1 Bodrožić, Marica: Die Sprachländer des Dazwischen. In: Uwe Pörksen/ Bernd Busch (Hrsg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Göttingen 2008, S.-67-75, hier S.-70. 2 Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012, S.-10. 180 Monika L. Behravesh dieser Basis eröffnet sich ein Raum für eine diskursive Neuverhandlung des Zusammenhangs zwischen Sprache, Emotionen und Affektivität, die für viele Texte der Autorin kennzeichnend ist. Vor diesem Hintergrund muss auch der Essay Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern 3 (2007) gelesen werden, der von Marica Bodrožić explizit als „eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache“ 4 bezeichnet wird. Dass der Text stark affektiv besetzt ist, zeigen nicht nur ihre anderen Essays sowie Epitexte, die sich mit dem Stellenwert der Erst- und der Zweitsprache der mehrsprachigen Autorin befassen, 5 sondern auch seine Entstehungsgeschichte: Der ursprünglich als ein „Lobgesang“ 6 an die deutsche Sprache geplante Text ließ sich ohne biographischen Rückblick nicht realisieren, da so die Bedeutung des Deutschen für die Autorin und damit das emotionale und affektive Potenzial der Sprache nicht zum Ausdruck kamen. 7 Der Essay verwebt autobiographische Erinnerungen mit poetologischen Überlegungen, die von zahlreichen verstreuten Sprachreflexionen als dem eigentlichen Textzentrum strukturiert werden. Durch diese außerordentliche Rolle der Sprache, die im Text nicht nur als das Werkzeug der Autorin, sondern auch als die Voraussetzung des sprachlichen Ichs verdeutlicht wird, lässt sich der Text im Anschluss an Alice Yaeger Kaplan dem Genre des Language Memoir 8 - also einer literarischen Sprachbiographie 9 - zuordnen, deren Ausgangspunkt die eigene 3 Bodrožić, Marica: Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. Frankfurt am Main 2007. Bodrožić betrachtet das Buch weniger als eine Auseinandersetzung mit ihrer ‚Fremdheit‘, sondern als eine Poetik: „Für mich ist es ein Buch darüber geworden, wie ich schreibe - und warum ich so schreibe, wie ich schreibe.“ Vgl. Braun, Michael: Ankunft in Wörtern. Interview mit Marica Bodrožić. Konrad-Adenauer-Stiftung am 16.12.2010. http: / / www.kas.de/ upload/ themen/ deutschesprache/ interview_bodrozic.pdf (30.10.2017). 4 Bodrožić, Die Sprachländer des Dazwischen, S.-74. 5 Vgl. Bodrožić, Marica: Meine tragbare Heimat. Über Menschlichkeit und die Mutter-Sprache Deutsch. In: Die politische Meinung 61/ Januar-Februar (2016), S.-74-79. http: / / www. kas.de/ wf/ doc/ kas_434-2190-1-30.pdf? 161214152506 (30.10.2017); Braun, Ankunft in Wörtern; Bodrožić, Die Sprachländer des Dazwischen. 6 Bodrožić, Sterne erben, S.-11. 7 Rückblickend bemerkt Bodrožić: „Ich wollte eigentlich einen kleinen Essay schreiben und erzählen, was für mich die deutsche Sprache bedeutet. Dann habe ich festgestellt, ich kann das nicht, wenn ich nicht über mich selbst spreche, also über diesen ersten Abschied, über das Fortgehen und das Verlassen der ersten Dinge und Menschen.“ In: Immacolata Amodeo/ Heidrun Hörner/ Christiane Kiemle (Hrsg.): Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland. Porträts und Positionen. Sulzbach/ Taunus 2009, S.-182. 8 Kaplan, Alice Yaeger: On Language Memoir. In: Angelika Bammer (Hrsg.): Displacements. Cultural Identities in Question. Bloomington 1994, S.-59-70. 9 Thüne, Eva-Maria: Sprachbiographien: empirisch und literarisch. In: Michaela Bürger-Koftis/ Hannes Schweiger/ Sandra Vlasta (Hrsg.): Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010, S.-59-80; Franceschini, Rita/ Miecznikowski, Johanna Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 181 Sprachgeschichte bildet und in der u. a. die psychologischen und emotionalen Aspekte des Lebens zwischen Sprachen und Kulturen reflektiert werden. 10 Diese Besonderheit des Textes lässt ihn prädestiniert erscheinen, um der Frage nach dem Nexus zwischen Mehrsprachigkeit, Emotionen und Affektivität nachzugehen. Tatsächlich wird in der literarischen Sprachbiographie dieser Zusammenhang auf mehreren Ebenen problematisiert: Erstens auf der Ebene der ‚sprachspezifischen Identität‘; zweitens im Kontext von sprach- und kulturdependenten Emotionskonzepten und drittens im Hinblick auf das Erleben der Zweitsprache, was zugleich die Frage nach dem eigenen schriftstellerischen Selbstverständnis inkludiert. Im folgenden Beitrag werden die unterschiedlichen Aspekte dieses Zusammenhangs beleuchtet, wobei ich versuchen werde, linguistische Ansätze für die literaturwissenschaftliche Textanalyse fruchtbar zu machen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf folgenden Fragen: Wie werden Identitäten im Kontext von Mehrsprachigkeit wahrgenommen und emotional erlebt? Auf welcher Ebene wird im Essay der Zusammenhang zwischen Affektivität und Sprache thematisiert? Welches Wirkungspotenzial entfaltet diese Darstellung? Dazu wird im ersten Teil der theoretische Rahmen skizziert, auf den sich meine Lesart des Essays stützt. Im zweiten Teil gehe ich auf den Text ein und zeige, wie die Erst- und die Zweitsprache biographisch erinnert und dabei emotional sowie affektiv erlebt wird. 2 Mehrsprachigkeit, Emotionen und Affektivität - Perspektiven der Forschung Um der zunehmenden Aufmerksamkeit, die die Relation zwischen Individuum und Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren in der Sprachwissenschaft erfahren hat, Rechnung zu tragen, wurde in der Linguistik der Begriff Spracherleben vorgeschlagen. Mit ihm rücken die Sprecherin und der Sprecher ins Zentrum des Forschungsinteresses, denn im Vordergrund steht die Frage, wie „Menschen in mehrsprachigen Lebenszusammenhängen ihre Sprachlichkeit wahrnehmen und bewerten und welche Erfahrungen, Gefühle und Vorstellungen sie damit verbinden“ 11 . Dieser linguistische Terminus erscheint auch für literaturwissenschaft- (Hrsg.): Leben mit mehreren Sprachen: Sprachbiographien. Vivre avec plusieurs langues. Biographies langagières. Bern 2004. 10 Besemeres, Mary: Language and Emotional Experience. The Voice of Translingual Memoir. In: Aneta Pavlenko (Hrsg.): Bilingual Minds. Emotional Experience, Expression and Representation. Clevedon/ Buffalo/ Toronto 2006, S.- 34-58, hier S.- 34. In Abgrenzung zu Kaplan schlägt Besemeres den Terminus Translingual Memoir vor. 11 Busch, Brigitta/ Busch, Thomas: Die Sprache davor. Zur Imagination eines Sprechens jenseits gesellschaftlich-nationaler Zuordnungen. In: Bürger-Koftis/ Schweiger/ Vlasta 182 Monika L. Behravesh liche Fragestellungen geeignet, um die im Text thematisierte Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit in den Fokus zu rücken. Die dem Begriff inhärente emotionale Komponente umfasst bei näherer Betrachtung verschiedene Aspekte: Erstens die Frage nach Emotionen in der Sprache; zweitens die Frage nach dem emotionalen Erleben der Fremdsprache im Spracherwerbsprozess; drittens die Frage, wie mehrsprachige Individuen sich selbst wahrnehmen und von anderen wahrgenommen werden; und schließlich viertens, ob mehrsprachige Individuen sich unterschiedlich in den jeweiligen Sprachen fühlen. 12 Die letztere Frage bildet den Ausgangspunkt des im Bereich der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung angesiedelten und äußerst fruchtbaren Forschungsgebiets zu Multilingualität und Emotionen, 13 dessen Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Emotionen und Identität im Zeichen der Mehrsprachigkeit im vorliegenden Beitrag den Zugang zu Bodrožićs literarischer Sprachbiographie bilden sollen. Dass die Sprache die individuelle Identität mitkonstituiert, bildet heute in der Forschung einen Konsens. „[D]ie Sprache [verhilft] dem Menschen zur Existenz, indem sie die Voraussetzung dafür schafft, daß er sich selbst gewahr werden“ 14 kann. Das Symbolsystem Sprache ist dabei mit der Kultur, verstanden als ein „selbstgesponnene[s] Bedeutungsgewebe“ 15 einer bestimmten Sprachgemeinschaft, amalgamiert, so dass die einzelnen Komponenten dieses Zusammenhangs sich kaum unabhängig voneinander betrachten lassen: So konstituiert sich die Bedeutung stets aus dem Zusammenwirken von sprachlichem und kulturellem Wissen, was eine entsprechende Sprach- und Kulturkompetenz voraussetzt. 16 Der sprachliche Code ist daher immer kulturdependent; er erzeugt (Hrsg.), Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, S.-59-80, hier S.-81. Vgl. dazu auch die Forschergruppe Spracherleben am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. http: / / cis.univie.ac.at/ spracherleben/ about.html 12 Zu den einzelnen Aspekten vgl. u.a.: Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion. Tübingen 2007; Gabryś-Barker, Danuta/ Bielska, Joanna (Hrsg.): The Affective Dimension in Second Language Acquisition. Bristol 2013; Kramsch, Claire: The Multilingual Subject. What Foreign Language Learners Say about Their Experience and Why it Matters. Oxford 2009; De Florio-Hansen, Inez/ Hu, Adelheid (Hrsg.): Plurilingualität und Identität. Zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mehrsprachiger Menschen. Tübingen 2007; Pavlenko, Aneta: Emotions and Multilingualism. New York 2005. 13 Vgl. Pavlenko, Emotions and Multilingualism; dies. (Hrsg.): Bilingual Minds; Wierzbicka, Anna: Emotions across Languages and Cultures. Diversity and Universals. Cambridge 1999. 14 Drescher, Martina: Sprachliche Affektivität. Darstellung emotionaler Beteiligung am Beispiel von Gesprächen aus dem Französichen. Tübingen 2003, S.-19. 15 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme [1973]. Frankfurt am Main 1987, S.-9. 16 Vgl. Schrauf, Robert W./ Rubin, David C.: On the Bilingual´s Two Sets of Memories. In: Robyn Fivush/ Catherine A. Haden (Hrsg.): Autobiographical Memory and the Construction of a Narrative Self. Developmental and Cultural Perspectives. Mahwah 2003, Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 183 eine spezifische Welt - und zwar sowohl in semantischer als auch emotionaler Hinsicht, was die zahlreichen Studien zu sprach- und kulturspezifischen individuellen Erinnerungen und Emotionskonzepten überzeugend dargelegt haben. 17 Um diese Verwobenheit von Sprache und Kultur begrifflich zu akzentuieren, schlagen Robert W. Schrauf und David C. Rubin den Begriff linguaculture vor. 18 Die in dem Terminus intendierte Verschmelzung von ‚Sprache‘ und ‚Kultur‘ signalisiert, dass [w]ords have meaning because they have associated with them a whole ‚discourse history‘ of contextual associations. […] Enculturation and language socialization are integrated and simultaneous processes for children in their own culture and often for immigrants in a second culture. 19 Obwohl die dem Begriff zugrundeliegenden Prämissen einer Problematisierung bedürfen, 20 erscheint er nützlich, vermag er doch den identitätskonstitutiven Aspekt von Sprache aus psycholinguistischer Perspektive zu konturieren. Überträgt man den Terminus auf die Problematik der Identität im Zeichen der Mehrsprachigkeit, so macht er deutlich, dass die individuelle Biographie sich immer in einer spezifischen linguaculture ereignet und nur aus ihr heraus begreifbar und in dieser linguaculture erinnerbar ist. Dies belegen auch zahlreiche empirische Studien, die sich mit biographischen Erinnerungen von multilingualen Sprecherinnen und Sprechern befassen, deren einzelne Lebensabschnitte in unterschiedlichen linguacultures verortet sind. Sie konnten dabei klar einen „sprachspezifischen Effekt“ 21 von biographischen Erinnerungen aufzeigen, der sich darin manifestiert, dass Erinnerungen von bilingualen Individuen stets intensiver und/ oder inhaltlich different bzw. detaillierter in der Sprache abgerufen S.-121-145, hier S.-130ff. Die Autoren nennen dabei folgende drei Kompetenzen: „linguistic competence“, „communicative competence“ und „cultural competence“, vgl. S.-134. 17 Vgl. Anm. 13. 18 Vgl. Schrauf/ Rubin, On the Bilingual´s Two Sets of Memories, S.-134. Die Autoren stützen sich dabei auf Attinasi, J./ Friedrich, P.: Dialogic Breakthrough. Catalysis and Synthesis in Life-Changing Dialogue. In: Dennis Tedlock/ Bruce Mannheim (Hrsg.): The Dialogic Emergence of Culture. Chicago 1995, S.-32-53. 19 Schrauf/ Rubin, On the Bilingual´s Two Sets of Memories, S.-133. 20 So stellt sich u. a. die Frage, welche Vorstellung von ‚Kultur‘ dem Begriff linguaculture zugrundeliegt und in welcher Relation diese zur Sprache steht, wenn dabei solche Aspekte, wie Varietäten, Register, Stile, Sprachgemeinschaften und das individuelle Sprachrepertoire berücksichtigt werden. In Bodrožićs Texten wird beispielsweise die erste linguaculture als ein mehrsprachiger Code wahrgenommen, der auch konkrete Zugehörigkeitsvorstellungen transportiert. 21 Schrauf, Robert W.: The Bilingual Lexicon and Bilingual Autobiographical Memory. The Neurocognitive Basic Systems View. In: Aneta Pavlenko (Hrsg.): The Bilingual Mental Lexicon. Interdisciplinary Approaches. Bristol 2009, S.-26-51, hier S.-26. 184 Monika L. Behravesh werden ( retrieval language ), in der sie auch enkodiert wurden ( encoding language ). Vor diesem Hintergrund bemerken Schrauf und Rubin, dass bilinguale Sprecherinnen und Sprecher nicht nur im metaphorischen Sinne in zwei Welten leben. 22 Denn die neue linguaculture stellt nicht nur ein anderes sprachlich kodiertes Bedeutungsgewebe dar, sondern bildet zugleich einen Rahmen für die in dieser Sprach- und Kulturgemeinschaft verankerte Identität. Diese These kann herangezogen werden, um die Erfahrung von plurilingualen Sprecherinnen und Sprechern, verschiedene Identitäten zu haben, zu erklären. Sie verdeutlicht zugleich überzeugend, dass das Gefühl von Identitätsverlust sich auf einen allmählichen Verlust der linguaculture zurückführen lässt. 23 Diese Erkenntnisse legen die Vermutung nahe, dass im Kontext von Mehrsprachigkeit eine ‚sprachspezifische Identität‘ ausgebildet wird. Denn aus der neurokognitiven Perspektive lässt sich das Phänomen des ‚sprachspezifischen Effekts‘ von biographischen Erinnerungen von bilingualen Sprecherinnen und Sprechern nur mit der search criterion hypothesis erklären: „[T]he language of the cue activates a higher-order representation of the self as speaker-hearer of the language, which in turn activates memories associated with that self-schema.“ 24 Diese ‚sprachspezifische Identität‘ kann dabei durch bestimmte Wörter evoziert werden, denn: „some memories commemorate language events“ 25 . Dies kann unterschiedliche Elemente umfassen: „Conversations, advice, speeches, even self-talk at time of the event, are all examples of remembered language“ 26 . Die ‚sprachspezifische Identität‘ lässt sich dabei in Anschluss an Marijana Kresics Modell der „multiplen Sprachidentität“ 27 als eine ‚Sprachteilidentität‘ konturieren, deren Besonderheit darin liegt, dass sie - anders als die verschiedenen Register und Varietäten eines Sprachsystems - mit dem Selbstkonzept verbun- 22 Vgl. Schrauf/ Rubin, On the Bilingual´s Two Sets of Memories, S.-134.: „[T]he fluent immigrant […] is a person with dual associational networks of meaning or sociocultural worlds (meaning holism).“ 23 Vgl. ebd., S.-138. 24 Schrauf, The Bilingual Lexicon, S.-48. 25 Schrauf, Robert W./ Durazo-Arvizu, Ramon: Bilingual Autobiographical Memory and Emotion. Theory and Methods. In: Aneta Pavlenko (Hrsg.): Bilingual Minds, S.-284-316, hier S.-307. 26 Ebd., S.-296. 27 Kresic, Marijana: Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst. München 2006. Den Ausgangspunkt des von der Autorin in Anlehnung an Heiner Keupps Konzept der „Patchwork-Identität“ entworfenen Modells der „multiplen Sprachidentität“ stellt der Begriff der Performanz dar: Die Realisierung einer konkreten Varietät wird als Ausdruck einer bestimmten Teilidentität begriffen. Das Modell der multiplen Sprachidentität will damit der komplexen Sprachlichkeit von Individuen Rechnung tragen. Vgl. Keupp, Heiner u. a. (Hrsg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 2008. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 185 den ist. 28 Die sprachbedingte Transformation der individuellen Identität wird dabei nicht nur von emotionalen Prozessen begleitet, 29 sondern geht zugleich mit einer Reflexion der beiden linguacultures hinsichtlich der semantischen und emotionalen Verschiebungen einher. So bemerkt Bodrožić: Die ‚Lipa‘, also das Wort für ‚Linde‘ im Kroatischen, aber auch im Serbischen, war verbunden mit einer bestimmten Zeit, mit einer Kindheit, die relativ sprachlos war, einsam zuweilen […]. […] ‚Lipa‘ bezeichnet im dalmatinischen Dialekt den Baum, aber es ist auch eine sehr schöne Frau. Und das ist ‚die Linde‘ nicht mehr. Somit verändert sich alles, und die Welt verschiebt sich. 30 Dieses Beispiel illustriert zugleich, wie in der biographischen Erinnerung in einem Begriff der linguaculture episodisches und semantisches Gedächtnis 31 zusammenfließen. Beziehen sich Emotionen auf kulturell konstruierte, aber dennoch persönliche und weitgehend diskrete Phänomene, 32 so betonen Affekte die relationale und damit auch die körperliche Dimension der „vorübergehend geronnenen Beziehung zwischen Wahrnehmung und Handlung“ 33 . Diese ausschließlich als Intensität wahrgenommene „Kraft der Begegnung“ 34 , erscheint gar manchen als das zentrale Konzept in den Kulturwissenschaften, 35 vermag es doch „gerade das spannungsreiche Verhältnis der Person zu ihrer Außenwelt“ 36 zu erfassen. 28 Der Sprachwechsel wird in der Selbstwahrnehmung als ein tiefgreifender Identitätswechsel erlebt. Er kann u. a. mit einer veränderten Stimme, anderer Gestik oder auch inhaltlich differenten Erinnerungen einhergehen. Vgl. dazu u. a. De Florio-Hansen/ Hu (Hrsg.), Plurilingualität und Identität. 29 Vgl. Pavlenko, Emotions and Multilingualism, bes. Kap. 6 und 7. 30 Amodeo/ Hörner/ Kiemle (Hrsg.), Literatur ohne Grenzen, S.-158f. 31 Endel Tulving zufolge kann zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis unterschieden werden. Das episodische Gedächtnis umfasst autobiografische Erinnerungen, das semantische Gedächtnis bezieht sich dagegen auf das abstrakte Wissen über die Welt. Vgl. dies.: What Kind of Hypothesis is the Distinction between Episodic and Semantic Memory? In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 12 (1986), S.-307-311. 32 Vgl. Scheve, Christian von/ Berg, Anna Lea: Affekt als analytische Kategorie der Sozialforschung. In: Larissa Pfaller/ Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Wiesbaden 2018, S.-27-51, hier S.-28. 33 Bal, Mieke: Einleitung. Affekt als kulturelle Kraft. In: Antje Krause-Wahl/ Heike Oehlschlägel/ Serjoscha Wiemer (Hrsg.): Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Bielefeld 2006, S.-7-19, hier S.-9. 34 Gregg, Melissa/ Seighworth, Gregory J.: An Inventory of Shimmers. In: Dies. (Hrsg.): The Affect Theory Reader. Durham 2010, S.-1-26, hier S.-2. 35 Vgl. Clough, Patricia: Introduction. In: Dies./ Jean Halley (Hrsg.): The Affective Turn: Theorizing the Social. Durham 2007, S.-1-33. 36 Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte. Ein historischer Abriss. In: Krause-Wahl/ Oehlschlägel/ Wiemer (Hrsg.), Affekte, S.-20-35, hier S.-22. 186 Monika L. Behravesh Da die Affekte sich zwischen verschiedenen humanen und inhumanen Körpern entfalten können, erscheint die Frage nach dem Affizierungspotenzial von Sprache berechtigt. 37 Im Kontext von Mehrsprachigkeit kommt diesem Aspekt von Sprache eine besondere Relevanz zu, berührt die Frage nach der Relation zwischen dem Subjekt (Individuum) und dem Objekt (Sprache) zugleich die darin inkludierte Problematik der legitimen Zugehörigkeit. 3 Linguaculture, Identität und Emotionen in Bodrožićs literarischer Sprachbiographie Wie eng Identität, Sprache und Emotionen miteinander verzahnt sind, wird im Bodrožićs literarischer Sprachbiografie eindrucksvoll demonstriert. Durch den Kunstgriff, die eigene Lebensgeschichte aus der Sicht der Sprache(n) zu erzählen, rücken deren emotionales sowie affektives Erleben in den Vordergrund. Damit verschiebt sich zwangsläufig der Fokus auf die Fremd- und Selbstwahrnehmung der ‚sprachspezifischen Identitäten‘, die Reflexion des Lebens in multilingualer Umgebung sowie des plurilingualen Ichs in monolingualem Kontext und das individuelle Erleben der Zweit- und Drittsprache. Die im Text geschilderten Erinnerungen kreisen dabei vor allem um drei für die Biographie der Erzählerin zentrale Themen: ihre Kindheit im ehemaligen Jugoslawien, den Bürgerkrieg, den sie aus der räumlichen Distanz als junge Erwachsene in Deutschland erlebt, sowie ihre schriftstellerische Entwicklung. Die unterschiedliche Emotionalität, mit der die jeweilige Sprache erlebt wird, wird mehrmals im Text reflektiert. So wird gleich eingangs die „Selbstverständlichkeit […] des Slawischen“ betont, die sich darin zeigt, dass es stets „herauftönt“ 38 und latent in allen später erworbenen Sprachen wirkt. Die herausragende Rolle der ersten ‚Muttersprache‘ wird auch dann unterstrichen, wenn die Erstsprache als ein „Sprachgerüst“ 39 wahrgenommen wird und damit als das unhinterfragte Fundament des plurilingualen Ichs. Solche Beschreibungen, die einen hervorragenden Stellenwert der Erstsprache suggerieren, scheinen sich auf den ersten Blick in die Logik des Konstrukts der ‚Muttersprache‘ einzufügen, insbesondere wenn sie das emotionale Erleben in der Erstsprache als besonders intensiv erscheinen lassen. „Ich habe nie genau verstanden, warum das Geschehen noch mehr weh tat, wenn ich es in der ersten Sprache, in der Sprache meiner Kindheit beschrieben bekam.“ 40 Diese emotionale Affinität zu der ersten ‚Muttersprache‘ 37 Vgl. Riley, Denise: Impersonal Passion. Language as Affect. Durham 2005. 38 Bodrožić, Sterne erben, S.-11. 39 Ebd., S.-51. 40 Ebd., S.-29. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 187 wird jedoch bei genauerer Lektüre stets an die biographischen Erinnerungen, d. h. an das episodische Gedächtnis geknüpft: Denn die besondere Emotionalität der Erstsprache für die Erzählerin erschließt sich vor dem Hintergrund der in der ersten linguaculture verankerten und kodierten Identität, deren doppelter Verlust im Text umkreist wird. Nur so lässt sich erklären, dass die Begegnungen mit Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern des ehemaligen Jugoslawiens besonders stark emotional erlebt werden, worauf auch zusätzliche Identitätsmarkierungen 41 im Text wie „sie [ist] eine von uns “ 42 hindeuten, die ausschließlich über linguistische Merkmale wie dem als typisch empfundenen „Jugo-Ton“ 43 oder dem in die Länge gedehnten „a“ abgeleitet werden. „Warum mich dieses a derart traurig machte, weiß ich nicht mehr.“ 44 Dieses „a“, das solche emotionalen Reaktionen auslöst, verweist in dem obigen Zitat auf „eine Frau, die aus meinem dalmatinischen Hinterland hätte stammen können und die sich, genau wie ich, noch immer im Echoraum Jugoslawiens bewegte“ 45 . Diese Stellen verdeutlichen, dass die kleinsten sprachlichen Einheiten der Erstsprache Erinnerungsprozesse auslösen, die inhaltlich mit der ersten linguaculture und damit auch mit einer konkreten Erinnerungsgemeinschaft verknüpft sind. Der Nexus zwischen Identität, Sprache und Emotionen wird in einer kontrastiven Gegenüberstellung der jeweiligen ‚sprachspezifischen Identitäten‘ besonders gut sichtbar. Die Kindheit im dalmatinischen Hinterland wird im Text als eine Zeit der „brustzerberstende[n] Einsamkeit“ 46 , der Trauer und der „unaussprechbare[n] Sehnsucht“ nach den in Deutschland lebenden Eltern erinnert. Wie sehr diese Erfahrungen und deren emotionale Verarbeitung die sprachlich mitkonstituierte Identität tangieren, zeigt der spätere fremde Blick auf eine vor Jahren gemachte Schulfotografie, auf der die Autorin einen „fremden kleinen Menschen“ 47 erblickt, der „[i]m Erstmütterlichen“ als „ein Feigling wie er im Buche steht“ erlebt wird: mein Ich, ein kleinwüchsiges Wesen. Ein verlassener minimaler, fast unsichtbarer Mensch […] Immer denkt es [=das Kind, M.L.B.], und das denkt es mit den ersten Wörtern der ersten Sprache, es genüge nicht. Nichts genüge an ihm. 48 41 Lüdi, Georges: Mehrsprachige Repertoires und plurielle Identität von Migranten. In: De Florio-Hansen/ Hu (Hrsg.), Plurilingualität und Identität, S.-39-58. 42 Bodrožić, Sterne erben, S.-41. 43 Ebd., S.-43. 44 Ebd., S.-54. 45 Ebd., S.-57. 46 Ebd., S.-63. 47 Ebd., S.-97. 48 Ebd., S.-126. 188 Monika L. Behravesh Daraus resultiert das spezifische emotionale Erleben der Erstsprache: Sie wird als „ein Feld der Benachteiligungen und Wunden […]“ wahrgenommen. „Dieser Teil der Kindheit, ein Land des Darbens an der eigenen Stimme.“ 49 So bleibt die erste Sprache „die einzige, in der ich immer ein weinender Mensch bin […]“ 50 . Da diese Zeit zugleich mit untersagten Protesten, mit Verboten der Rede assoziiert wird, erscheint die Kindheit auch als das „Land des Schweigens“ 51 , in dem die Bilder eine prominente Rolle einnehmen. In der deutschen Sprache vollzieht sich ein Bruch mit dieser ‚sprachspezifischen Identität‘. Das Traurigsein gelingt nicht in der Zweitsprache. Überrascht stellt die Erzählerin fest: „Im Deutschen kann ich wunderbar zornig sein.“ 52 Dieser Zorn geht nicht nur mit einer neuen Lebensphase einher, die von lautstarken Auseinandersetzungen insbesondere mit der Mutter begleitet wird und schließlich einen Emanzipationsprozess in Gang setzt, sondern auch vom Drang nach dem „Sagen der eigenen Wahrheit“, das erst im „ Schreibengehen “ 53 erforscht wird. In der zweiten linguaculture gelingt damit die Konstruktion einer neuen ‚sprachspezifischen Identität‘, die eine sichere Distanz zu der einsamen dalmatinischen Kindheit schafft; die Zweitsprache „verglast“ 54 die Erinnerungen daran im Gedächtnis. „Lange Zeit glaubte ich mich in der deutschen Sprache jenseits davon. Die Schritte der kleinen Jahre waren wie verschüttet.“ 55 Die beiden ‚sprachspezifischen Identitäten‘ scheinen sich dabei zunächst kaum zu berühren: „Alles mußte doppelt bewältigt werden, die eigene Wahrheit im Deutschen, die eigene Wahrheit in der Sprache der Mutter.“ 56 Erst in der Phase des Stimmverlusts, die zugleich jegliche Empfindungen lähmt, bahnt sich die Ahnung an von der „wirkliche[n] Stimme, in der Spannungen der Wörter […], und all die Widersprüche der Sprachen und Bedeutungen, der Wut und der Sehnsucht sich aufheben könnten“ 57 . Doch erst die bewusste Entscheidung für eine dritte Sprache, das Französische, lässt diese klare Sprach- und Identitätsgrenze permeabel werden. Mit den im Drittspracherwerb durchsickernden Wörtern der Erstsprache wird die Bilderwelt der erstsprachlichen Vergangenheit im Bewusstsein projiziert, ein „verschüttetes Gefilde von Gerüchen, Farben, erstmalig erlebten Sehnsüchten“ 58 , welches nur mit der Zweitsprache erkundet werden kann, die 49 Ebd. 50 Ebd., S.-132. 51 Ebd., S.-102. 52 Ebd., S.-126. 53 Ebd., S.-11. 54 Ebd., S.-99. 55 Ebd., S.-40. 56 Ebd., S.-96. 57 Ebd., S.-100. 58 Ebd., S.-56. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 189 die Lücken der Erinnerungen verlässlich füllt. Das Erinnern in der Zweitsprache wird möglich, da „[i]m Deutschen […] die Erinnerung ein[em] Schutzgewand“ gleicht, das Deutsche „kanalisier[t] […] etwas in mir, das zum Ausdruck gelangt, ohne sich in der Trauer zu verstricken“ 59 . Die Zweitsprache wird hier zur Sprache der Distanz: Die Wörter der Zweitsprache sind und bleiben von den erlebten Erfahrungen unberührt. So ermöglicht die zweite linguaculture einen emotional unbefangeneren Zugang zu den in der Erstsprache kodierten Erinnerungen, da das darin Erlebte erstens aus Sicht der zweitsprachlichen Identität betrachtet wird und zweitens sich nicht ins Bedeutungsnetz der zweiten linguaculture übertragen lässt. Diese Erfahrung beschreibt auch die Erzählerin, wenn sie an einer anderen Stelle konstatiert, die „Erinnerung verwaltet sich noch einmal anders in einer zweiten Muttersprache“ 60 . Die biographischen Erinnerungen an die gelebte erstsprachliche Zeit, die in zahlreichen Texten als eine wichtige Quelle des Erzählstoffs erkennbar werden, werden in der zweiten linguaculture zu einer neuen Erzählung verwebt. Das Verblassen der erstsprachlichen Identität wird im Text auf einen doppelten Verlust zurückgeführt: Durch die räumliche Distanz zum Herkunftsland und damit zur ersten linguaculture verlieren die einst vertrauten Begriffe an Deutlichkeit, was sich in den lückenhaften erstsprachlichen Sätzen äußert. Dieser Entfremdungsprozess wird durch den Zusammenbruch Jugoslawiens nicht nur beschleunigt, sondern fällt zudem durch die Sprachpolitik gravierender aus. Schließlich, als Jugoslawien längst zusammengebrochen war, sagte einmal eine meiner Tanten, ich rede ein Kroatisch, das es so gar nicht gebe; heute. […] Jedes muttergeborene, erstsprachliche Wort war im Handumdrehen ein hilfsbedürftiges Wesen geworden, dem ich mich neu öffnen mußte. 61 Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Konklusion der Autorin verstehen: „Die Muttersprache starb gleich zweimal.“ 62 Diese Passage verdeutlicht zugleich die Differenzen zwischen der Herkunftssprache des Herkunftslandes sowie der der Immigrantencommunity. Die ‚sprachspezifische Identität‘ erscheint in zeiträumlichen Koordinaten der Erstsprache verankert, die aus der gegenwärtigen Sicht ihre Gültigkeit längst verloren haben. Die Metapher vom Sterben der ‚Muttersprache‘ indiziert dabei einen wachsenden Verlust an Emotionalität in der neuen fremden Erstsprache. 59 Ebd., S.-132. 60 Ebd., S.-127. 61 Ebd., S.-153. 62 Ebd. 190 Monika L. Behravesh 4 Linguacultures und Emotionswörter Dem Oszillieren zwischen den verschiedenen ‚sprachspezifischen Identitäten‘ entspricht das Pendeln zwischen den Sprachen. Die Erstsprache klingt auf vielfältige Weise im Text an: Neben den in der Erstsprache belassenen Liedern, im Text verstreuten Sätzen und einzelnen Wörtern tauchen auch wortwörtliche Übersetzungen und Erklärungen auf. Dabei fällt es auf, dass dieses von Chiellino als Sprachlatenz 63 bezeichnete Phänomen nicht konsequent übersetzt oder erklärt wird, was die Vermutung nahelegt, dass durch solche sprachlichen Eingriffe im Text der semantische und emotionale Gehalt der Wörter verfälscht werden könnte. Diese Unübersetzbarkeit demonstriert die Erzählerin u. a. am Beispiel des Lieds „Ima neka tajna veza“, wenn sie dazu bemerkt: Wörtlich übersetzt heißt das ‚Es gibt eine geheime Verbindung‘, das klingt im Deutschen gleich nach KGB, aber in meiner ersten Sprache beschreibt es eine mystische Augenblickshaftigkeit, erzählt von einem Lichtgefüge, von einem unsichtbaren Zusammenhang, der uns trägt und auf den Weg ins Menschsein bringt. 64 An einer anderen Stelle kommt sie zu dem Schluss: „In keiner anderen Sprache kann etwas derart gesagt werden, im Grunde entzieht es sich den Wörtern, obwohl es mit Wörtern gesagt wird […].“ 65 Wie die neue linguaculture den Umbau des Vertrauten bewirkt, wird an mehreren im Text reflektierten Begriffen sichtbar. So gilt über Jahre: „[d]as Deutsche könne gar keinen richtigen Sommer hervorbringen, jedenfalls keinen mit dem Süden vergleichbaren“ 66 ; der Gott ist „[i]n der deutschen Sprache […] eine weiche Haut geworden. In der ersten Sprache hingegen war er der Rächer, der Sühner, der Wissende mit dem bösen Köcher“ 67 . Obwohl in beiden Beispielen keine emotionsbezeichnenden Wörter 68 den Ausgangspunkt des interkulturellen Vergleiches bilden, zeigen die im Text verstreuten Konnotationen der näher betrachteten Begriffe eine bewusst wahrgenommene assoziative Bedeutungsverschiebung der o. g. Konzepte im bilingualen „mentalen Lexikon“ 69 , die durch eine 63 Chiellino, Gino (Hrsg.): Als Dichter in Deutschland. Scrivere poesia in Germania. Dresden 2011 (=-Wortwechsel, Bd.-14), S.-18. 64 Bodrožić, Sterne erben, S.-49. 65 Ebd., S.-132. 66 Ebd., S.-19. 67 Ebd., S.-119. 68 Mit dieser Unterscheidung zwischen emotionsbezeichnenden und emotionsausdrückenden Wörtern folge ich Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, S.-144ff. 69 Als mentales Lexikon wird in der Psycholinguistik die Gesamtheit der gespeicherten Wörter bezeichnet. Vgl. Aitchison, Jean: Words in the Mind. An Introduction to the Mental Lexicon. Chichester 2012. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 191 neue Bewertung und damit gleichzeitig durch ein neues emotionales Erleben der unterschiedlichen Phänomene in der jeweiligen linguaculture bedingt ist. Die Assoziationen zum Sommer in der Erstsprache signalisieren eine Vorstellung von einer tiefen Verbundenheit der Menschen mit der Natur und dem Kosmos, die sich leitmotivisch in vielen Texten der Autorin zeigt. Die allmächtige Instanz des erstsprachlichen Gottes verweist dagegen in dem obigen Zitat nicht nur auf die mit dem abstrakten Konzept verbundene Furcht hin, sondern zeigt auch die Verwurzelung des individuellen Lebens in den Koordinaten von Sünde und Gnade an, die an einer anderen Stelle im Begriff „Tradition“ erneut auftaucht: So gestaltet sich die Geschichte der Eltern in der deutschen Sprache ganz anders, denn [i]n der ersten Sprache machte die Tradition, in die Vater und Mutter eingebunden waren, den Eindruck einer Notwendigkeit. Es schien, als gelte dort das in dieser Sprache Gesagte für alle Zeiten, über die Zeiten hinaus. 70 In der Zweitsprache hingegen erscheinen beide Instanzen zugänglicher: Die Geschichte der Eltern kann in der Zweitsprache als eine von zwei individuellen Biographien erfasst werden; der Gott im Deutschen verliert seine Furcht einflößende Wirkung und erscheint in der Gestalt von „weicher Haut“ als der gütig Beschützende. Diese sprachspezifischen Differenzen auf der semantisch-emotionalen Ebene der Wörter münden auch im deren Vergleich mit den: „Zauberstäbe[n], [die] sie […] in diese oder jene Welt [brachten].“ 71 Symptomatisch äußert sich das Wissen um die kulturspezifischen Differenzen im konnotativen Netzwerk sprachlicher Symbole sowie der darin kodierten Emotionen in der Unmöglichkeit der Übersetzung, die an zahlreichen anderen Stellen im Text belegt werden kann. Die Mehrsprachigkeit im Text wird so zum Vehikel von kulturspezifischen Bedeutungen, die mit einem bestimmten Ausdruck mitschwingen. Die erstsprachlichen Wörter vermögen dabei lediglich diese Leerstellen zu markieren; die semantische und emotionale Bedeutung der Ausdrücke bleibt den meisten Rezipienten jedoch verborgen. Diese tieferen Bedeutungsdimensionen werden gleichermaßen im Zweitspracherwerb angeeignet. Am Beispiel des Begriffs „Jüdin“ wird demonstriert, wie das anfangs noch neutrale Wort im Enkulturationsprozess semantisch und emotional aufgeladen wird, so dass die Erzählerin sich schließlich „verantwortlich [fühlt] für bestimmte Wörter, für die Stille zwischen ihnen“ 72 . Bodrožić vergleicht vor diesem Hintergrund den Zweitspracherwerb mit dem Betreten eines Archivs, in dem die Wörter Gedächtnisse und „Biographien [haben] wie wir 70 Bodrožić, Sterne erben, S.-21. 71 Ebd., S.-114. 72 Ebd. 192 Monika L. Behravesh Menschen“ 73 . Besondere Bedeutung misst sie jedoch einem konkreten Aspekt zu, wenn sie konstatiert: „jeder, der in sie [d. i. eine neue Sprache] stößt, […] muss sie spüren, fühlen, berühren - anders wird man nicht Teil davon“ 74 . Damit deutet sich bereits die emotionale und affektive Dimension der ‚Fremdsprache‘ an, die einen besonderen Stellenwert der ‚Muttersprache‘ fragwürdig erscheinen lässt. 5 „Wortebeben“: ‚Zweite Muttersprache‘ als Sprache der Empfindungen Das Affizierungspotenzial der Zweitsprache wird an den Textstellen demonstriert, die die Begegnung zwischen dem erinnerten Ich und dem reinen Sprachmaterial reflektieren. In einer besonders eindrucksvollen Passage wird die Sprache als ein sinnlich-körperliches Erlebnis beschrieben, das sich in solchen Symptomen wie Gänsehaut, Wärme- und Kältegefühl, Schwindel, Benommenheit bis Bewusstseinstrübung äußert. Diese als „Wortebeben“ 75 bezeichneten Spracherfahrungen rücken die Körperlichkeit der Zweit- und auch der Drittsprache in den Vordergrund, deren Wahrnehmung bis ins synästhetische Erleben gesteigert wird. Die fremden Wörter werden als Klangkörper und Bildwesen wahrgenommen, ihr Nachhall und ihre bildliche Erscheinung durchdringen die Körpersphäre und evozieren neuartige sinnlich-physische Erfahrungen. Indem die Materialität der Zeichen von der Semantik der Wörter entkoppelt wird, kann die auf Töne und Bilder reduzierte Sprache in ungekannter Intensität wahrgenommen werden. Gesteigert wird deren Wirkung durch ein mystisches Sprachbewusstsein, das das Äußere nicht losgelöst von dem Inneren betrachtet. 76 So wird die semantische Ebene der Wörter mal intuitiv mit der ganzen Vorstellungskraft erahnt, mal mithilfe von etymologischen und enzyklopädischen Nachschlagewerken akribisch erforscht, in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengefügt, um immer wieder neue Dimensionen der Welterfahrung zu erschließen. Allein das Wort Herbstzeitlose warf mich in einen Atlantik der Winde. Daß etwas im Namen an eine Jahreszeit gebunden ist und in der Sprache doch die Karawane der Zeitlosigkeit nach sich ziehen kann, ruft einen ekstatischen Zustand hervor. Hinzu ist das ganze Wortbild auch noch eine Blume, die giftig ist […]. 77 73 Ebd., S.-115. 74 Braun, Ankunft in Wörtern, S.-2. 75 Bodrožić, Sterne erben, S.-105. 76 „Denn das Licht der Buchstaben ist von dieser Welt. Und doch übersetzt es nur ein höheres Wesen.“ Ebd., S.- 111. Vgl. dazu auch: Rock, Lene: Muttersprache nirgends. Fritz Mauthners Sprachskepsis und Marica Bodrožićs Sprachmystik. In: Germanistische Mitteilungen 42/ 2 (2016), S.-63-84. 77 Bodrožić, Sterne erben, S.-138f. [Herv. i. Orig.]. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 193 Diese besondere Sensibilität für die versteckte semantische Tiefe sowie die ästhetischen und affektiven Wirkungen der Wörter erfordert jedoch ein Moment des Befremdens, 78 aus dem heraus der Impuls zu einer konzentrierten und das Sprachmaterial durchdringenden Wortarbeit entspringt. Denn solche Spracherfahrungen sind nur mit den später erlernten Sprachen möglich. „Das Größere der Freiheit ist mir im Deutschen möglich geworden, gerade durch den Entzug alles Vertrauten.“ 79 Es ist die Distanz, die ein Sich-Einlassen auf die Zweitsprache initiiert, das durch sinnlich-körperliche Erfahrungen und mentale Erkundungen der semantischen Möglichkeiten kreative Kräfte freilässt. In „[der] Werkstatt der Wörter“ 80 erweist sich die Flexibilität des Sprachmaterials als Quelle für innovative Buchstaben-, Laut- und Wortkombinationen, die zugleich einen verborgenen Sinn hervorbringen können. Auf der Suche nach den „Geheimnisse[n], diese[m] der Wirklichkeit noch nicht Entlockte[n]“ 81 , rückt das reine Wortmaterial, der Signifikant, ins Zentrum der Wahrnehmung und kann sich mit dem noch Unbekannten verbinden. Die dabei entstehenden Wörter und Sätze werden mit einem musikalischen Sprachgefühl zusammengefügt, das rückblickend in der dalmatinischen Gedächtnislandschaft verortet wird, 82 wobei eine maximale Sinnlichkeit der Sprache erzeugt wird, die als Echo des mediterranen Raums in den Texten wirkt. 83 Die „Zärtlichkeit der Kindheit“ 84 oder allgemeiner: das in der dalmatinischen Herkunft erfahrene Lebensgefühl kann so in das reine Sprachmaterial transponiert werden, wobei die Schnittmenge des eigenen Erlebnisraums und der Zweitsprache begrifflich zur Darstellung gebracht wird. 85 Das so entfesselte Deutsche generiert neuartige Worterlebnisse im Text, die sich in überraschenden Assoziationen („Nur im Deutschen lässt es sich denken, daß Engel auch etwas mit Enge zu tun haben müssen“ 86 ; im Deutschen liegen 78 Dieses Befremden wird auch an einer anderen Stelle explizit als Erfahrung genannt: „Es ist ja auch wirklich so, dass die Buchstaben und die Wörter, je mehr man sich in sie vertieft, einem irgendwie auch fremder werden.“ Bodrožić in: Amodeo/ Hörner/ Kiemle (Hrsg.), Literatur ohne Grenzen, S.-165. 79 Bodrožić, Sterne erben, S.-18. 80 Ebd., S.-137. 81 Amodeo/ Hörner/ Kiemle (Hrsg.), Literatur ohne Grenzen, S.-166. 82 So wird die Bedeutung des Singens sowie der Musik in der Herkunftsregion mehrmals im Text hervorgehoben. 83 „Ich glaube, dass der Klang auch sehr wichtig ist. Meine ersten Lieder, diese dalmatinischen Lieder und überhaupt der ganze mediterrane Raum mit allen Sprachen, die der mediterrane Raum auch umfasst, sind für mich auch sehr wichtig, weil damit eine bestimmte Sinnlichkeit im Umgang mit der Sprache da ist.“ Bodrožić in: Amodeo/ Hörner/ Kiemle (Hrsg.), Literatur ohne Grenzen, S.-226. 84 Bodrožić, Sterne erben, S.-117. 85 Braun, Ankunft in Wörtern, S.-3. 86 Bodrožić, Sterne erben, S.-14. 194 Monika L. Behravesh „die Wunde und das Wunder so nahe beieinander […], als wärmte das eine Wort schon die Ankunft des anderen vor“ 87 ), Neologismen („die Gehbarkeit des Satzes“ 88 , „das Einlieben“ in die Sprache 89 , „Farblesbar“ 90 ) oder innovativen Metaphern („Gott [ist] eine weiche Haut“ 91 , „Atlantik der Winde“ 92 , „Windsammler“ 93 , „Quittenstunden“ 94 ) im Text niederschlagen. So wird die Zweitsprache affektiv „als Erweiterung [des] inneren und äußeren Raumes“ 95 erlebt. Die synästhetische Wahrnehmung der Zweitsprache als „ein[es] Bassin[s] voller wundersamer Töne“ 96 , die beim Schreiben eine bewegende Klangwelt entfalten und die zugleich in eine intensive Farberfahrung transzendiert werden, lässt die Sprache der Distanz zur Sprache der Empfindungen werden. Die essentielle Rolle in dem als „das Einlieben in die untersten Schichten der Sprache“ 97 bezeichneten Prozess kommt dabei dem Schreiben zu: Denn erst im Schreiben wird „Die Sagbarkeit der Gefühle. Die Sagbarkeit der Bilder“ 98 erfahren. Beim „Erschreiben der Welt“ werden nur diejenigen „Wörter [ge]fange[n], die Schönheit versprechen“. 99 Dies gelingt nur mit einer Schreibpraxis, die von dem Ziel geleitet wird, „das Zarte und Sanftmütige in den [deutschen] Wörterhöfen“ 100 transparent zu machen. 6 Sprache der Distanz und Sprache der Empfindungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bodrožićs literarische Sprachbiographie den Nexus zwischen Mehrsprachigkeit, Emotionen und Affektivität auf unterschiedlichen Ebenen modelliert. Analytisch lässt sich daher der Begriff des Spracherlebens, der tendenziell stärker biographische und gesellschaftlich-politische Dimensionen fokussiert, 101 hinsichtlich zweier Aspekte differenzieren: Als 87 Ebd., S.-21. 88 Ebd., S.-85. 89 Ebd., S.-118. 90 Ebd., S.-12. 91 Ebd., S.-119. 92 Ebd., S.-139. 93 Bodrožić, Marica: Der Windsammler. Erzählungen. Frankfurt am Main 2007. 94 Dies.: Quittenstunden. Gedichte. Salzburg 2011. 95 Dies.: Mein weißer Frieden. München 2014, S.-104. 96 Dies.: Meine tragbare Heimat, hier S.-75. 97 Dies.: Sterne erben, S.-118. 98 Ebd., S.-102. 99 Ebd., S.-117. 100 Ebd., S.-112. 101 Brigitta Busch nennt in diesem Zusammenhang folgende Dimensionen: „Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung“, „Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit“ und „sprachliche Macht und Ohnmacht“. Vgl. dies.: Mehrsprachigkeit. Wien 2017, S.-18ff. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben 195 Erleben in der Sprache in der sprachspezifischen Biographie, die zwangsläufig auch die historisch-politische Dimension umfasst, und als Erleben der Sprache, das den Fokus auf sprachspezifische Differenzen in der Weltwahrnehmung und das Spracherleben im Spracherwerb richtet. Diese Differenzierung lässt sich in Bodrožićs Text besonders gut nachvollziehen, wenn das Deutsche als Sprache der Distanz und als Sprache der Empfindungen erfahren wird. Als Sprache der Distanz entfaltet die Zweitsprache ihre Wirkung auf der Ebene der ‚sprachspezifischen Identität‘. Als Sprache der Empfindungen wird sie im Spracherwerb und im Schreibprozess erfahren, indem sie gerade „durch den Entzug alles Vertrauten“ 102 neue imaginäre Erfahrungsräume und damit einen ganz spezifischen „Denk- und Fühlzustand“ 103 eröffnet, in dem die gelebte Zeit als „eine tiefe[ ] Empfindung in Sprache“ 104 übersetzt werden kann. Das Affizierungspotenzial der ‚Fremdsprache‘, das sich in den als „Wortebeben“ 105 bezeichneten Erfahrungen manifestiert, wird dabei insbesondere in der Materialität der Sprache verortet. Indem die Wörter und die Buchstaben als lebendige Entitäten begriffen werden, wird die Sprache zur „Handelnde[n]“ 106 und kann als Klang oder als Bild das Subjekt affizieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich Bodrožićs literarische Sprachbiographie als eine diskursive Verhandlung von Affektivität und Mehrsprachigkeit lesen. Der Essay zeigt, dass beide linguacultures trotz klarer Unterschiede, emotional und affektiv intensiv erlebt werden. 107 Mit der Bezeichnung der Zweitsprache als der „zweiten Muttersprache“, die die affektive Bindung an und das emotionale Erleben in der Zweitsprache begrifflich akzentuiert, stellt Bodrožić die Annahme einer affektiven Norm der Einsprachigkeit klar infrage. 102 Bodrožić, Sterne erben, S.-18. 103 Braun, Ankunft in Wörtern, S.-3. 104 Ebd. 105 Bodrožić, Sterne erben, S.-105. 106 Ebd., S.-137. 107 Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen der linguistischen Forschung, die die Komplexität und Dynamik in der Relation zwischen Identität, Emotionen und Multilingualität aufgezeigt hat. Vgl. dazu: Pavlenko, Emotions and Multilingualism. Emotion und Erinnerung Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse. Wechselseitige Beziehungen in der Psychoanalyse und in der Prosa von Marica Bodrožić Esther Kilchmann Welche Bedeutung kommt Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel im Zusammenhang mit Erinnerungsprozessen zu? Inwiefern sind sie mit affektiven Besetzungen von Reminiszenzen, mit Vorgängen des Erinnerns, des Vergessens und Verdrängens verbunden? Während psychologische bzw. psycholinguistische Forschungen zu Mehrsprachigkeit und Emotion hier Zusammenhänge aufzeigen, 1 ist die Frage aus literaturwissenschaftlicher Perspektive noch kaum beachtet worden. Dabei liegt sie schon deshalb nahe, weil ein beachtlicher Teil der gegenwärtigen mehrsprachigen Literatur Erinnerungsprozesse verhandelt. 2 Das gilt fast ausnahmslos für die poetologischen Texte, in denen mehrsprachige Autorinnen und Autoren die Bedeutung des biographisch verortbaren Sprachwechsels für ihr Schreiben reflektieren. 3 Es gilt auch für einen großen Teil der 1 Vgl. Altarriba, Jeannette/ Isurin, Ludmila (Hrsg.): Memory, Language, and Bilingualism. Theoretical and Applied Approaches. New York 2013; Pavlenko, Aneta: Emotions and Multilingualism. Cambridge 2005, S.- 192-226; Amati-Mehler, Jacqueline/ Argentieri, Simona/ Canestri, Jorge: Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse. Gießen 2010. 2 Auch transbzw. interkulturelle Gegenwartsliteratur ist bemerkenswert häufig mit der Thematik der Erinnerung beschäftigt, was erst jüngst in den Fokus der Forschung getreten ist. Vgl. Behravesh, Monika: Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. Bielefeld 2017; Klettenhammer, Sieglinde: Gefährliche Erbschaften. Erinnerungstopographien in transkulturellen Familien- und Generationenromanen von Carmen-Francesca Banciu, Zafer Şenocak und Vladimir Vertlib. In: Eva Binder/ Birgit Mertz-Baumgartner (Hrsg.): Migrationsliteraturen in Europa. Innsbruck 2012, S.-67-85. 3 Vgl. Rakusa, Ilma: Zur Sprache gehen. Dresden 2006; Oliver, José F.A.: Mein andalusisches Schwarzwalddorf. Frankfurt am Main 2007; Bodrožić, Marica: Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. Frankfurt am Main 2007; Müller, Herta: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main 2009 (bes. S.-7-39). 200 Esther Kilchmann Erzählungen und Romane, in denen Mehrsprachigkeit thematisiert und auf Ebene der Literatursprache gestaltet wird. In autobiographischen oder fiktionalen Erzählkonstruktionen geht es hier häufig um die Bergung einer verschütteten, teilweise traumatischen Vergangenheit. 4 Im Folgenden soll das Zusammenspiel von Mehrsprachigkeit und Gedächtnisarbeit mit besonderem Fokus auf die Rekonstruktion und Repräsentation verdrängter Erlebnisse und Affekte sowie Traumata untersucht und der Frage nachgegangen werden, wie sich in der Gegenwartsliteratur eine Poetik der Mehrsprachigkeit mit jener der Erinnerung verflicht. Dazu werden im ersten Teil des Artikels psychoanalytische Ansätze zu Sprachwechsel und Erinnerungsprozessen diskutiert, im zweiten Teil auf dieser Basis die mehrsprachige Erinnerungspoetik im Werk von Marica Bodrožić untersucht. 1 Psychoanalytische Ansätze Die Sprache stellt bekanntlich für die Psychoanalyse das zentrale Medium der Erkenntnis dar. Dabei ist es nicht nur wichtig, ‚worüber‘, sondern auch ‚wie‘ gesprochen wird, welche Ausdrücke verwendet werden, welche Akzente gesetzt etc. Auf dieser Ebene ist es, wie die Autoren und Autorinnen von Das Babel des Unbewussten , der einzigen größeren Studie zur Frage der Mehrsprachigkeit in der Psychoanalyse, gezeigt haben, auch immer von Interesse, welche Sprachen von Patienten und Patientinnen sowie Analytikern und Analytikerinnen benutzt werden, ob Idiome gemischt oder gewechselt werden. Je nach Sprache können eigene assoziative Bezüge und affektive Aufladungen eine Rolle spielen. 5 Ein früher Text, der zentral die Frage aufgreift, inwiefern der Wortlaut selbst (und nicht nur die damit verbundene Sachvorstellung) mit Verdrängungs- und Erinnerungsvorgängen verbunden sein kann, ist Sándor Ferenczis 1911 erschienener Artikel Über obszöne Worte. Beitrag zu einer Psychologie der Latenzzeit 6 . Ansatzpunkt der Untersuchung bildet ein Problem der Sprachverwendung zwar nicht im Sinne eines Wechsels zwischen verschiedenen Nationalsprachen, wohl 4 Genannt seien hier nur einige der bekanntesten Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, für die Themen und Verfahren der Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle spielen (in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens): Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus. Köln 2005; Abonji, Melinda Nadj: Tauben fliegen auf. Salzburg 2010; Haderlap, Maja: Der Engel des Vergessens. Göttingen 2011; Mora, Terézia: Das Ungeheuer. München 2013; Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Berlin 2015. 5 Vgl. Amati-Mehler/ Argentieri/ Canestri, Das Babel des Unbewussten. 6 Ferenczi, Sándor: Über obszöne Worte. Beitrag zu einer Psychologie der Latenzzeit. In: Michael Balint (Hrsg.): Sándor Ferenczi. Schriften zur Psychoanalyse I. Auswahl in zwei Bänden. Gießen 2004, S.-59-72. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 201 aber zwischen verschiedenen Sprachebenen bzw. Varietäten. Es geht um die Frage, wie in der Analyse geschlechtliche oder exkrementelle Organe und Vorgänge benannt werden sollen, ob dafür ausschließlich medizinische Fachausdrücke zu verwenden sind oder ob auch volkstümlich-obszöne Begriffe von Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient in den Mund genommen werden können - und in bestimmten Fällen vielleicht sogar sollten. Deutlich wird sofort, dass es in dieser Frage nach der geeigneten Wortwahl um den Umgang mit und die Verwaltung von Affekten geht, in erster Linie darum, Schamgefühle durch die Benutzung von wissenschaftlichen Ausdrücken zu überwinden. In der Varietät der Fachsprache ist es, so Ferenczi, alsbald möglich, sich mit den Patienten „über die ‚heikelsten‘ Dinge und Vorkommnisse des geschlechtlichen, wie überhaupt des Trieblebens“ 7 auszusprechen, ohne von Schamreaktionen gestört zu werden. In einer Reihe von Fällen gerate die Analyse aber nach einiger Zeit erneut ins Stocken, Patientin oder Patient wirke gehemmt, was Ferenczi darauf zurückführt, dass ihm oder ihr „verpönte Worte und Redensarten“ 8 einfielen, die er dem Arzt oder der Ärztin gegenüber nicht auszusprechen wage. Mit anderen Worten kommt es zu einem Übersetzungsproblem, dem Patienten oder der Patientin gelingt es nicht mehr, sich in der Varietät der Fachsprache adäquat auszudrücken, weil sich die schambesetzten Wortlaute nicht ganz von der Sachvorstellung lösen lassen und zunehmend zur Aussprache drängen. Ferenczi führt Beispiele an, in der erst die Nennung obszöner (teilweise auch eher kindlicher) Bezeichnungen durch den Analytiker die Analyse wieder voranbrachte und „Zugang zu den tiefsten Schichten [eines] bis dahin latenten Erinnerungsschatzes eröffnete.“ 9 Offensichtlich wird dabei, dass die Verdrängung nicht nur Erlebnisse oder Sachvorstellungen betrifft, sondern auch „am Wortlaut “ 10 haften kann. Inwiefern ist nun diese an der zugegebenermaßen speziellen Gruppe der obszönen Wörter gewonnene Beobachtung übertragbar? Ferenczi gibt in seinem Artikel zu bedenken, dass bei obszönen Wörtern tatsächlich der Wortlaut selbst eine hohe dingliche Qualität besitze (wie er etwa in Flüchen und Beleidigungen offensichtlich wird) und dadurch auch den Hörer „zur regressiv-halluzinatorischen Belebung der Erinnerungsbilder“ 11 zwingen könne. Gleichzeitig argumentiert er mit Blick auf Sigmund Freuds Auffassung von Wörtern, dass obszöne Wörter in ihrem stark dinglichen Charakter lediglich Eigenschaften bewahrt haben, die in bestimmten Kontexten (Kindersprache, Traum, Witz, Neurose) auch bei anderen Wörtern hervortreten können. Demzufolge könnte das Phänomen eines 7 Ebd., S.-59. 8 Ebd., S.-59. 9 Ebd., S.-60. 10 Ebd. [Herv. i. Orig.]. 11 Ebd., S.-62. 202 Esther Kilchmann am Wortlaut hängenden Verdrängungsbzw. Erinnerungsvorganges überall dort vorkommen, wo der materielle Wortlaut, aber auch die affektive Besetzung eines bestimmten Wortlautes stark ausgeprägt ist. Auch im Rahmen unserer Fragestellung ist an Ferenczis Aufsatz nun nicht die Frage der obszönen Ausdrücke zentral, sondern die These, dass ein Sprachwechsel Verdrängungsvorgänge überwinden und Zugang zu bestimmten Erinnerungen verschaffen kann, die am affektiv besetzten Wortlaut selbst haften. Genau genommen ist dafür ein zweimaliger Wechsel der Sprache nötig: Erstens jener in die affektiv nicht besetzte Varietät, hier die Fachsprache, durch die überhaupt erstmals ein Sprechen über ‚heikle‘, den Patienten oder die Patientin belastende Dinge möglich wird. Nur im Medium dieser Distanzierung durch eine zweite Sprache kann dann zweitens punktuell ein erneuter Sprachwechsel ‚zurück‘ erfolgen und eine Wiederholung des verdrängten Wortlautes selbst, dessen affektive Besetzung auf diese Weise kenntlich wird und daraufhin abgebaut werden kann. 12 Explizit aufgegriffen wird die Frage nach den Zusammenhängen von Erinnerungsprozessen und dem Wechsel zwischen verschiedenen nationalen Sprachen wie überhaupt der Komplex der Mehrsprachigkeit in der Psychoanalyse erst ein Viertel Jahrhundert später. Ausgangspunkt dafür ist die Vertreibung der Freudschen Psychoanalyse und ihrer hauptsächlich jüdischen Vertreterinnen und Vertreter aus Deutschland und Österreich durch den Nationalsozialismus. Die Emigration wirft auch mit Blick auf die Sprache neue Probleme auf; individuell werden Analytiker und Analytikerinnen vor die Anforderung gestellt, in der Sprache des neuen Landes zu praktizieren und Patienten und Patientinnen zu behandeln, die oft ihrerseits eine andere Muttersprache haben. Nicht weniger bedeutend ist der Sprachwechsel auf institutioneller Ebene: Das Deutsche wird in seiner Funktion als Hauptsprache der psychoanalytischen Theoriebildung durch das Englische abgelöst. 13 An der Gruppe von Artikeln, die sich aus dieser spezifischen historischen Konstellation heraus Fragen des Sprachwechsels widmen, 14 interessiert hier, wie der Komplex des Sprachwechsels in seiner Verknüpfung mit Erinnerungsvorgängen und der affektiven Besetzung bestimmter Wortlaute perspektiviert wird. Grundsätzlich hält Erwin Stengel in seinem 1939 im International Journal of Psychoanalysis publizierten Artikel On Learning a 12 Ferenczi beschreibt dies als kathartische Wirkung, der Patient agiere „beim Hören eines obszönen Wortes vor dem Arzt die erschütternde Wirkung“, die dieses früher auf ihn gemacht habe, förmlich aus, vgl. ebd., S.-60f. 13 Vgl. Kilchmann, Esther: Von short sentences, fancy-dresses und jeux de mots. Die Psychoanalyse und der exilbedingte Sprachwechsel. In: Doerte Bischoff/ Christoph Gabriel/ Dies. (Hrsg.): Sprache(n) im Exil. München 2014, S.-66-82. 14 Vgl. Amati-Mehler/ Argentieri/ Canestri, Das Babel des Unbewussten, S.-107-125. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 203 New Language , der als Grundlagentext der psychoanalytischen Sprachwechselforschung gilt, fest, dass der Fremdspracherwerb im Erwachsenenalter über eine bemerkenswerte affektive Komponente verfügt. Er verweist darauf, dass der erstsprachliche Name für eine bestimmte Sache mit dieser auch emotional eng verbunden ist, eine Besetzung, die sich in einem neuen, anderssprachigen Wort für das gleiche Ding nicht sofort wiederherstellt. „We feel an initial resistance against objects which we are compelled to denote by new names.“ 15 Im Extremfall könne dies zu einer Ablehnung der neuen und einer irrationalen Überhöhung der Muttersprache führen. Und sogar wenn eine Zweitsprache gut beherrscht wird, stelle sich bei den Sprecherinnen und Sprechern oft ein Gefühl ein, „as though they were wearing fancy-dress“ 16 , eine Verkleidung, hinter der die vorgängige Identität nicht mehr erkennbar ist, was wiederum Gefühle von Scham und Schuld hervorrufen könne. Die an Stengel anschließenden Artikel von Edith Buxbaum The Role of a Second Language in the Formation of Ego and Superego (1949), Ralph Greenson The Mother Tongue and the Mother (1950) und Eduardo Krapf The Choice of Language in Polyglot Psychoanalysis (1955) stellen Fallgeschichten vor, in der Sprachwechsel als solche ‚Verkleidungen‘ zu erkennen sind. 17 Die aus Wien in die USA geflohene Kinderanalytikerin Buxbaum schildert die Fallgeschichten von zwei in der Adoleszenz aus Deutschland emigrierten Frauen, die sich zunächst beide weigern, ihre Muttersprache zu gebrauchen. Im Laufe der Analyse wird bei der ersten deutlich, dass ihr der Sprachwechsel ermöglichte, bestimmten deutschen Wörtern aus dem Weg zu gehen, die über Assoziationsketten mit traumatischen Kindheitserinnerungen verbunden waren: „A new language enabled her to detach herself from the psychic traumata of her childhood.” 18 Die zweite Patientin sah im Landeswechsel bewusst die Möglichkeit, die in ihrem Herkunftsland erlebten unglücklichen Gefühle hinter sich zu lassen und sich mit dem Sprachwechsel gleichsam gegen jedes Gefühl zu anästhesieren. 19 „When she realized that repressing her feelings made her life empty, she said, ‚I know I should talk German to you - but I don’t dare […] I’d probably go to pieces! ‘“ 20 Auch hier ist es Aufgabe der Analyse, die 15 Stengel, Erwin: On Learning A New Language. In: The International Journal of Psychoanalysis 20 (1939), S.-471-480, hier S.-474. 16 Ebd., S.-478. 17 Buxbaum, Edith: The Role of a Second Language in the Formation of Ego and Superego. In: Psychoanalytic Quarterly 18 (1949), S.-279-289; Greenson, Ralph: The Mother Tongue and the Mother. In: International Journal of Psychoanalysis 31 (1950), S.- 18-23; Krapf, Eduardo: The Choice of Language in Polyglot Psychoanalysis. In: Psychychoanalytic Quarterly 24 (1955), S.-343-357. 18 Buxbaum, The Role of a Second Language, S.-283. 19 Ebd. 20 Ebd. 204 Esther Kilchmann Patientin wieder an ihre Erstsprache heranzuführen, um so unter Verschluss gehaltene und verdrängte Gefühle durcharbeiten zu können. Die einige Jahre später in den Publikationen von Krapf und Greenson geschilderten Fälle sind vergleichbar: Greenson schildert, wie eine aus Österreich stammende junge Frau den Sprachwechsel zur Herausbildung einer neuen Identität nutzte: „‚In German, I am a scared dirty child, in English I am a nervous refined woman.‘“ 21 Krapf zeigt im multilingualen Kontext Argentiniens, wie auch mehr als zwei Sprachen zur Verwaltung von Affekten eingesetzt werden können. Ähnlich wie ich bereits in der Auseinandersetzung mit Ferenczi betont habe, ist es nun aber nicht so, dass der Wechsel in die Fremdsprache als gleichsam negative Verstärkung oder gar Ursache einer Verdrängung gesehen werden sollte. Vielmehr bietet auch hier die Fremdsprache das Verständigungsmedium, in dem sich überhaupt den so eng mit der Erstsprache verbundenen traumatischen Erinnerungen angenähert werden kann. Buxbaum thematisiert dies explizit, indem sie darauf verweist, dass traumatisierte Kinder vielfach stumm seien und auch ihnen als Ausdrucksmöglichkeit für ihre Gefühle in der Therapie eine andere Sprache zur Verfügung gestellt werden müsse, etwa in Gestalt von Liedern: Children, who for neurotic reasons are unable to talk, are nearly always able to sing the words of songs. A second language might be compared to the singing of silent children; both free the words of the emotional charge which burdens and inhibits the use of the native tongue. 22 Ähnlich kommt auch Krapf zum Schluss, dass der Gebrauch einer Zweitsprache nicht unbedingt als Zeichen eines unerwünschten Widerstandes auf Seiten des Patienten betrachtet werden solle, sondern im Gegenteil „a very good (i.e. useful) transference phenomenon“ 23 darstellen könne. Die von Buxbaum, Krapf und Greenson präsentierten Analysen gelten noch immer als Grundlagentexte der psychologischen Mehrsprachigkeitsforschung. 24 Gezeigt wird in ihnen, wie im geschützten Rahmen des analytischen Gesprächs aus dem Medium der Zweitsprache heraus eine Wiederannährung an die belastete Erstsprache und die mit ihr verbundenen Affekte unternommen werden kann. 25 Die Studie von Amati-Mehler/ Argentieri/ Canestri zu Muttersprachen 21 Greenson, The Mother Tongue, S.-19. 22 Buxbaum, The Role of a Second Language, S.-287. 23 Krapf, The Choice of Language, S.-351. 24 Vgl. Georgiopoulus, Anna M./ Rosenbaum, Gerrold F. (Hrsg.): Perspectives in Cross-Cultural Psychiatry. Philadelphia u. a. 2005, S.-182-185; Sharabany, Ruth/ Israeli, Etziona: The Dual Process of Adolescent Immigration and Relocation. In: The Psychoanalytic Study of the Child. Volume 36. London/ New Haven 2008, S.-137-164. 25 Im Falle von Buxbaum ist es bemerkenswert, dass im Laufe der Therapie selbst vom Englischen ins Deutsche gewechselt wird und die Analytikerin mit den Patienten die Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 205 und Fremdsprachen in der Psychoanalyse bestätigt, dass Sprachwechsel für die Verwaltung von Erinnerungsprozessen eine nennenswerte Rolle spielen kann. Dass Multilingualen mehrere Sprachen zur Verfügung stehen, aus denen sie ihre Ausdrücke schöpfen können, biete ihnen „den Vorteil, ihre Abwehr und Widerstände zu verändern und graduell auf die jeweilige Situation abzustimmen.“ 26 Auf diese Weise könne gezielter Sprachwechsel „ein vernünftiger Preis zur Erhaltung des psychischen Gleichgewichts sein.“ 27 Bei einem biographischen Zusammenspiel von belastenden Erinnerungen einerseits und Sprachund/ oder Landeswechsel andererseits können zugleich „sprachliche Codes in den Dienst der Verdrängung, aber auch in den einer Wiederkehr des Verdrängten treten.“ 28 Hierin nun kann ein Schlüsselmoment für die Analyse darin liegen, in der Erzählung des Patienten oder der Patientin Wörter aufzuspüren, die sich aus einer anderen als der gerade gesprochenen Sprache hineingeschmuggelt haben. Niclas Abraham und Maria Torok haben solche Beobachtungen zum Ausgangspunkt ihrer berühmten Relektüre von Freuds sogenanntem „Wolfsmann“-Fall genommen. In ihrer Studie Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups (1976) wird die Erzählung des Patienten unter Rücksicht auf dessen Mehrsprachigkeit neu gelesen. Dabei werden einzelne deutsche Wörter als Kryptonyme entschlüsselt, die durch deutsch-russische oder deutsch-englische Hybridbildungen zu Stande kamen und entsprechend übersetzt werden müssen. Auf diese Weise lässt sich ein ganzes „Verbarium des Wolfsmanns“ 29 zusammenstellen, in dem die für ihn zentralen Wörter eine neue Bedeutung erhalten, die in die traumatische Urszene des Patienten weisen: ‚Glanz‘ ist entschlüsselbar als glance , ‚Nase‘ als he knows , ‚liegen‘ als lying , die ‚sechs‘ Wölfe des Traums verweisen über die russische Übersetzung schestjero auf sjestra / sjestorka , ‚Schwester‘, um nur einige Beispiele zu nennen. 30 Zentral für unseren Kontext ist das methodische Vorgehen von Abraham/ Torok, das sich als Übersetzungsarbeit eigenen Zuschnitts versteht, die auf einer „besonderen Behandlung der Sprache“ 31 fußt: Anstelle einer primären Erfassung von konventioneller Bedeutung geht es dabei um die Erfassung des materiellen Wortlautes. Der Analytiker und die Analytikerin legen dabei deutsche Muttersprache ebenso wie das Schicksal der Emigration teilt. Inwiefern dieser Umstand den Übertragungsprozess beeinflusst und zum Therapieerfolg beiträgt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vgl. auch Amati-Mehler/ Argentieri/ Canestri, Das Babel des Unbewussten, S.-113. 26 Amati-Mehler/ Argentieri/ Canestri, Das Babel des Unbewussten, S.-191. 27 Ebd. 28 Ebd., S.-202. 29 Abraham, Nicolas/ Torok, Maria: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Basel 2008, S.-179-181. 30 Ebd., S.-89-94. 31 Ebd., S.-173. 206 Esther Kilchmann sogenannte Katastrophen-Wörter frei, Wörter, die „als Generatoren einer zu meidenden und nachträglich zu annullierenden Situation angesehen werden“ 32 . Die Verdrängung bezieht sich in diesem Fall auf das Wort […] als wäre es eine Sachvorstellung. […] Damit es dazu kommen kann, muß es sich um eine Katastrophen-Situation handeln, die eben durch Wörter hervorgerufen sein muß. 33 In der Folge des Verdrängungsvorgangs können Wörter in Bilder übersetzt werden ( tjereti [russ. ‚scheuern‘/ ‚reiben‘] in das Bild der ‚Putzfrau‘), aber auch der Sprachwechsel bietet die Möglichkeit, die hochgradig affektiv besetzten Wörter der „Katastrophen-Situation“ über komplexe Verschiebungen in einer anderen Sprache zu verbergen. Die Erinnerung an die Katastrophe kann so besser verdrängt werden, gleichzeitig persistieren die Wörter aber als Kryptonyme, die - einmal richtig gelesen - in der Zweitsprache Ansatzpunkte für die Rekonstruktion des Traumas bieten. Im anderssprachigen Wortlaut werden die Erinnerungen mit anderen Worten sowohl versteckt als auch sorgsam aufbewahrt. 2 Marica Bodrožić’ mehrsprachige Poetik der Erinnerung Wie werden Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit in der Gegenwartsliteratur im Zusammenhang mit der Schilderung und Erkundung von Erinnerungsprozessen verstanden und ästhetisch modelliert? Dieser Frage soll nun anhand von Texten der Autorin Bodrožić nachgegangen werden. Für das Werk der 1973 in Kroatien geborenen, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommenen und ausschließlich auf Deutsch publizierenden Schriftstellerin ist die Thematik der Erinnerung ebenso zentral wie die des Sprachwechsels. In mehreren Texten wird mit einer Ich-Erzählerin gearbeitet, die in verschiedenen Erzählkonstellationen an die Schauplätze einer Kindheit im ländlichen Kroatien zur Zeit Titos zurückkehrt. 34 Ebenso konstitutiv ist für Bodrožić eine von ihrer Bilingualität ihren Ausgang nehmende Sprachreflexion. 35 Diese beiden Hauptfelder ihres Schreibens verbindet Bodrožić programmatisch, sodass ihre Gedächtnisbilder aus einer dalmatinischen Kindheit als Produkte einer mehrfachen Übersetzung beschrieben werden können; sie nehmen im Wechsel von Sprachen, Zeiten und nationalen Räumen Gestalt an. 32 Ebd., S.-94. 33 Ebd. 34 Vgl. Feßmann, Meike: Vom Aufbewahren der Erinnerungen. Über Marica Bodrožić. In: Sinn und Form 65 (2013), S.-731-738. 35 Vgl. Rock, Lene: Muttersprache nirgends. Fritz Mauthners Sprachskepsis und Marica Bodrožić’ Sprachmystik. In: Germanistische Mitteilungen 42/ 2 (2016), S.-63-84. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 207 Bodrožić hat dafür in ihrem Essay Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007) einen eigenen poetologischen Ansatz entwickelt. Erkennbar werden dabei nicht zuletzt psychoanalytische Konzepte zu Mehrsprachigkeit und Gedächtnisarbeit aufgenommen und poetisch remodelliert. Bereits zu Beginn ihres Essays führt Bodrožić ihre als Kind erworbene Zweitsprache als Medium ein, in dem ihr die Herausbildung einer Identität ebenso möglich wurde wie die Formulierung von Erinnerung: „Die im Gleichmaß lebendig werdende Erzählung spricht zu mir in der deutschen Sprache“ heißt es hier und „erst in der deutschen Sprache wird mein eigenes Zuhause für mich selbst hörbar.“ 36 Der frühe Zweitspracherwerb wird hier mithin als Prozess der Bewusstwerdung und Symbolisierung begriffen, er stellt eine „Jakobsleiter des Sinns“ 37 bereit, wobei die Erstsprache als mit einer präverbalen Stufe verbunden bleibend geschildert wird. 38 Im Deutschen kann die Erzählung einsetzen und die Erinnerung: „Die im Gleichmaß lebendig werdende Erzählung spricht zu mir in der deutschen Sprache.“ 39 Gegenstand dieser Erinnerung ist zunächst der Großvater, in dessen Obhut die Autorin die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte, bis sie den bereits in Deutschland arbeitenden Eltern nachziehen konnte. Sein Gesicht lässt sich nun in der Zweitsprache beschreiben und damit auch dieses „beharrlich“ 40 immer wieder kehrende Bild festhalten. Bereits hier wird klar, dass der mit dem Umzug zu den Eltern zusammenfallende Sprachwechsel auch der Moment ist, in dem etwas zur Sprache gebracht werden kann, was vorher nicht formulierbar war. Das Deutsche wird zum „Terrain des Wissens, des Fragens“, in ihm lässt sich ein „sich aufbahrende[s] Geheimni[s]“ 41 entschlüsseln, die in der Erstsprache unartikuliert gebliebenen „Wunden der Kindheit“ 42 können hier zur Sprache gebracht werden, namentlich die für das bei seinem Großvater in Kroatien zurückgebliebene Kind einst „unaussprechbare Sehnsucht“ 43 nach den bereits in Deutschland arbeitenden Eltern. In diesem Strang ihrer poetologischen Überlegungen folgt Bodrožić den besprochenen psychoanalytischen Fallgeschichten sehr eng, man denke nur an Buxbaums Vergleich, dass die Zweitsprache eine ähnlich befreiende Wirkung haben könne wie ein Lied für verstummte Kinder. „Von heute aus betrachtet, kommt es mir vor, als habe die deutsche Sprache die an tiefster Stelle abgelegten 36 Bodrožić, Sterne erben, S.-11. 37 Ebd., S.-12. 38 Bodrožić spricht von den „Wälder[n] des Slawischen“, ebd., S.- 11, die in ihr lägen, vom „Slawische[n] als Rhythmus und als Hintergrundmusik“, ebd., S.-13f. 39 Ebd., S.-12. 40 Ebd. 41 Ebd., S.-19. 42 Ebd. 43 Ebd., S.-63. 208 Esther Kilchmann Nöte des einstigen Kindes verglast“ 44 heißt es dazu bei Bodrožić, wobei durch die Metapher des „Verglasens“ verdeutlicht wird, dass durch den Sprachwechsel die schmerzhafte Vergangenheit gleichzeitig abgetrennt und einsehbar wird. Auch bezüglich der Balkan-Kriege schreibt die Autorin, dass die deutschen Kommentare, die die Fernsehbilder begleiteten, eine distanzierende Wirkung gehabt hätten. Dieser mediale „Schutzdamm“ 45 gegen die mit dem Krieg im Herkunftsland verbundenen Gefühle bricht erst, als Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in der deutschen Wohngemeinde ankommen und mit ihnen auch „zum ersten Mal durchgängig in unserer Muttersprache“ 46 gesprochen wird, also eine späte Wiederaneignung der Erstsprache stattfindet, in der nun ihrerseits die Artikulation von Gefühlen möglich wird, die in der distanzierenden Zweitsprache erschwert war. Hatte der Zweitspracherwerb Identitäts- und Erinnerungsbildung in der Durcharbeitung der frühkindlichen Stummheit ermöglicht, so fällt eine Wiederannäherung an die Erstsprache mit der Adoleszenz zusammen. In Bodrožić’ Konstruktion wird gleichsam ein weiterer Sprachwechsel nötig, um den Prozess der Persönlichkeitsbildung abzuschließen. Durch einen Umzug nach Paris und das Erlernen des Französischen wird ein weiterer Spracherwerbsprozess in Gang gesetzt, bei dem sich auch der Blick auf die Erstsprache und die Erinnerungen erneut verändern. Es kommt mir aus der Rückschau so vor, daß die wartende dritte Sprache, das wartende dritte Land mir Brücke gewesen ist für den sich schließenden Kreis, für das schwierige Anerkennen meiner Herkunft in mir selbst. 47 Zunächst aber markiert auch dieser erneute Spracherwerb sowohl eine Rückkehr der traumatischen Kindheitserinnerung, der Einsamkeit, der Stummheit, 48 als auch des zweiten Heimatverlustes durch den Jugoslawien-Krieg, die beide erneut durchgearbeitet werden müssen. Bodrožić entwirft in Sterne erben, Sterne färben so ein Modell, in dem der Prozess des Sprachwechsels immer auch Gedächtnisarbeit bedeutet, insofern er zum Ort wird, an dem Erinnerungen wieder auftauchen und in die neue Sprache übersetzt werden müssen. Dabei bietet sich die Chance, diese Erinnerungen erneut aus dem Schweigen zu heben und mithilfe des (noch) unbelasteten neuen sprachlichen Mediums durchzuarbeiten, aber auch poetisch zu gestalten. Die Erinnerungsarbeit muss sich folglich an den Berührungsflächen der Sprachen entlang bewegen. Das Schreiben wird dabei zu einem Raum und einer Sprache des Dazwischen, in der die sonst 44 Ebd., S.-99. 45 Ebd., S.-27. 46 Ebd., S.-30. 47 Ebd., S.-56f. 48 Ebd., S.-67. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 209 „autonom nebeneinander wirkende[n] Lebensspuren“ 49 produktiv verbunden werden können. Gegen Ende ihres Essays erweitert Bodrožić ihre Überlegungen zum Sprachwechsel als Möglichkeit der Erinnerungsarbeit über die autobiographische Erzählung hinaus und fragt nach seiner Funktion für das Erforschen eines kulturellen Gedächtnisses. Durch die Erfahrung der Mehrsprachigkeit kann generell der Blick dafür geschärft werden, dass auch die vermeintlich einheitliche Nationalsprache bereits Einflüsse aus verschiedenen Sprachen und Kulturen in sich aufgenommen hat, also in gewissem Sinne mehrsprachig ist. 50 Mehrsprachigkeit macht mithin hellhörig für Pluralitäten und Mehrdeutigkeiten, auch für verborgene Bedeutungsschichten. Bodrožić argumentiert, dass durch die Einwanderung aus einem Sprach- und Kulturraum in einen anderen auch in der Zweitsprache Ungereimtheiten und Geheimnisse offensichtlich werden, die für deren Muttersprachler auf diese Weise nicht einsehbar sind. So beschreibt sie, wie sie als Kind in den deutschen Wörtern „manchmal auf einen merkwürdig ungenauen Boden“ 51 gestoßen sei. Meist versteckte sich darunter eine Spur zum Zweiten Weltkrieg und dem Völkermord an den europäischen Juden. Kollektive Verdrängungs- und Tabuisierungsmechanismen zeichnen auch noch die Sprache der Kinder und werden von der das Deutsche Erlernenden als Irritationen erfasst, als erste „Ahnung, […] daß auch in den Wörtern Gedächtnisse wohnen und wir teilhaben an ihnen, ob wir die Geschichte miterlebt haben oder nicht.“ 52 Die Einwanderung in eine zweite Sprache bedeutet also nicht nur, die individuellen Erinnerungen in neuem Licht zu sehen, sie bedeutet umgekehrt auch eine erhöhte Sensibilität für kulturelle Gedächtnisspuren, wie sie in einer Nationalsprache archiviert sind. Die in ihrem poetologischen Essay erkundeten Dynamiken von Sprachwechsel und Gedächtnisarbeit verarbeitet Bodrožić in ihrer jüngst beendeten Trilogie Das Gedächtnis der Libellen (2010) - Kirschholz und alte Gefühle (2012) - Das Wasser unserer Träume (2016) in einer fiktionalen Anordnung. Die Trilogie ist bereits durch ihre Erzählanlage als ‚Literatur ohne festen Wohnsitz‘ (Ottmar Ette) zu erkennen. Sie springt zwischen Orten und Zeiten; Westeuropa und Nordamerika sind ebenso Schauplatz der Handlung wie Sarajewo und die Region um Split. Hauptorte der Erzählung sind Paris und Berlin in den 1990er Jahren, ein kosmopolitisches Großstadtmilieu, in dem Figuren unterschiedlicher Herkunft für eine bestimmte Dauer aufeinandertreffen und sich auch wieder zerstreuen. Die Romane kreisen um die Hauptfiguren Nadeshda, Arjeta und Ilja, 49 Ebd., S.-96. 50 Ebd., S.-51. 51 Ebd., S.-113. 52 Ebd., S.-114. 210 Esther Kilchmann die in einer komplexen Dreiecksbeziehung miteinander verbunden sind. Jedes der Bücher ist aus der Perspektive einer dieser Hauptfiguren in Form eines inneren Monologs erzählt. Die Hauptfiguren sind aus dem ehemaligen Jugoslawien emigriert: Arjeta und Ilja zur Zeit des Bürgerkrieges, Nadeshda ist bereits vorher zum Studium in die USA gegangen. Auch fast alle anderen Figuren haben Ortswechsel hinter sich, in Paris treffen Nadeshda und Arjeta auf Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, für die Frankreich teilweise nur eine Zwischenstation ist, aber auch auf eine Studentin aus Japan und auf einen zur Zeit des Nationalsozialismus geflohenen Berliner Juden. Das momentane, prekäre und deterritoriale Zusammenleben der Figuren erhält dadurch an Tiefenschärfe, dass durchgängig an die Migrations- und Exilgeschichten früherer Generationen erinnert wird. Bodrožić entwirft so das Unterwegssein und die irreduzible Pluralität der Herkünfte als kulturellen Normalfall. Zusammen mit diesen vielfältigen transgenerationellen Migrationsgeschichten sind auch verschiedene Sprachen im Spiel. Die Hauptfiguren teilen ihre Erst-, Zweit- und Drittsprache: eine dezidiert ungenannt bleibende südslawische Sprache, Französisch und Englisch. Daneben spielen auch das Deutsche und andere Sprachen eine Rolle, wenn sie auch nicht alle manifest im Text auftauchen und der Leser oft nur beiläufig oder gar nicht erfährt, in welcher Sprache die auf Deutsch wiedergegebene Unterhaltung in der erzählten Welt stattgefunden hat. Sprache, Orte und Herkunft der Figuren sind programmatisch entkoppelt: Ilja spricht in Sarajevo mit dem Taxifahrer Französisch und unterhält sich gleichzeitig am Telefon mit Nadeshda in Berlin ebenfalls auf Französisch. In Paris wiederum unterhalten sich Ilja und Nadeshda weder in ihrer gemeinsamen Zweitsprache Französisch noch in der gemeinsamen südslawischen Erstsprache, sondern auf Englisch. Diese Fragmentierungen und Neuzusammenfügungen auf Ebene der kulturellen Kontexte spiegeln sich im Entwurf der Figurenpsychologie und der narrativen Gestaltung wider: Alle Figuren sind in unterschiedlicher Weise traumatisch gezeichnet: Arjeta und Ilja von der Belagerung Sarajewos bzw. dem Krieg. Nadeshda von einem Familiengeheimnis, das gleichzeitig die ältere Gewaltgeschichte des Faschismus’ erinnert. Erzählt wird sprung- und lückenhaft, das Narrativ ist mit Zitaten und Wiederholungen durchsetzt. Aus der grundsätzlichen Krise heraus geht es in allen drei Romanen darum, mithilfe der Verbalisierung von Erinnerung zu einem neuen Selbstverständnis zu kommen. Nach der Lektüre von Sterne erben, Sterne färben ist beachtenswert, dass diese Verbalisierung auf Deutsch erfolgt, einer Sprache, die in der erzählten Welt selbst den Status einer Fremdbzw. Viertsprache hat. Insbesondere im ersten Roman Das Gedächtnis der Libellen wird, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Thematik der Mehrsprachigkeit zusammen mit der Rekonstruktion einer traumatischen Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 211 Geschichte ausgestaltet. Der Roman, in dem die Ich-Erzählerin um ihre amour fou zu Ilja und ihre unverarbeiteten Kindheitserinnerungen kreist, beginnt damit, dass sie sich überhaupt erst in und durch das Erzählen konstituiert: Wer bin ich? Ich heiße Nadeshda. Meinen Namen habe ich nicht […] von meinen Eltern […] Ich selbst habe den neuen Namen für mich gefunden, damit ich diese Geschichte erzählen kann. 53 Ähnlich wie einen Namen gilt es dafür auch eine eigene Sprache zu finden. Reflexionen über Sprache und Mehrsprachigkeit durchziehen den Roman leitmotivisch: Referenzen auf Milan Kundera und Joseph Brodsky und die Frage, ob ein Schriftsteller in seiner Muttersprache schreiben sollte, ein ausführliches Zitat der biblischen Pfingstgeschichte, Kommentare der Figuren über ihre Sprachwahl. Nadeshda und ihre Freundin Arjeta bedienen sich in ihren Gesprächen der gemeinsamen Muttersprache, die allerdings ihrerseits inzwischen durch den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens zu einem „hybride[n] Wesen“ 54 geworden ist. Die durch die Belagerung Sarajewos traumatisierte Arjeta und ihre Mutter hingegen probieren aus, ob das Englische als nicht direkt mit ihrer Lebenswelt verbundene nicht affektiv besetzte Sprache ein geeignetes Medium sein könnte, um über das Erlebte zu kommunizieren. So hat Arjetas Mutter, obwohl sie noch immer in Bosnien lebt, eine amerikanische Diasporazeitschrift abonniert, aus deren Sondernummer zu Sarajevo sie ihrer Tochter bei einem ihrer Besuche in Berlin stundenlang vorliest. „‚Sarajevo for beginners‘“ heißen die Artikel oder „‚Genocide will happen again‘“, bei der Lektüre eines Gedichtes in englischer Übersetzung wird die Mutter allerdings wütend: „hört euch das mal an, […] Ist halt einfach nur gesagt, kein Gefühl dabei, nichts […] ist in diesem blöden Englisch drin.“ 55 Die Episode zeigt, wie die Mutter im Umweg über die englischen Artikel versucht, mit ihrer Tochter über Sarajevo zu kommunizieren, wobei sie aber wieder auf eine Leerstelle stößt: die Mutter schiebt es auf das Englische, das gefühllos sei, erkennbar wird aber das schmerzhafte Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter, die Unfähigkeit, Worte für die gemeinsam erlebte Belagerung von Sarajewo und die dabei gestorbenen jüngeren Brüder Arjetas zu finden. Auch Ilja entscheidet sich aus emotionalen Gründen für Englisch als Liebessprache mit Nadeshda, kann er als verheirateter Mann diese Beziehung so doch besser von seinem übrigen Leben abspalten. Ilja erprobt das Sprechen und Schreiben in mehreren Sprachen als Kontrollinstrument seiner Gefühle: Er nutzt Fremdwörter, „als könnten sie das, was sie bedeuteten, […] von ihm selbst fern- 53 Bodrožić, Marica, Das Gedächtnis der Libellen. München 2010, S.-19. 54 Ebd., S.-29. 55 Ebd., S.-90. 212 Esther Kilchmann halten“ 56 , montiert in derselben Absicht Zitate in verschiedenen Sprachen aus Büchern, Filmen und Songs in seine Rede. Nach dem Scheitern der Beziehung kommentiert Arjeta: „Du bist auf Worte hereingefallen, wie in einem Schlager ging es zu in deiner Liebe zu ihm: paroli , paroli , paroli .“ 57 Für Nadeshda ist die Vielzüngigkeit Iljas allerdings ambivalent, nur auf den ersten Blick steht sie ausschließlich im Dienste einer Täuschung. Insgesamt ist für Nadeshda Ilja trotz des letztlichen Scheiterns der Beziehung die Person, die ihren Körper und ihre Gefühle wiedererwecken konnte und ihr dadurch auch Zugang zu ihrem durch Verdrängungen lahm gelegten Gedächtnis verschaffte. Die Liebe zu ihm macht es ihr möglich, ihr Leben zu reorganisieren und traumatische Erinnerungen aufzuarbeiten. Die dazu nötige Sprachkraft scheint sie gerade aus dem mehrsprachigen Überschuss der Beziehung zu schöpfen. Ihr verdankt sie möglicherweise auch die Erkenntnis, dass sich in anderen Sprachen oder in den Worten anderer, in Zitaten, leichter erzählen lässt. Die Verwendung von Zweit- und Drittsprachen wird dabei, so defizitär sie auch sein mag, zur Alternative zum Verstummen in der Erstsprache. Ein solches ursprüngliches Verstummen muss Nadeshda im Laufe ihrer Erzählung überwinden. Dabei hilft das Eintauchen in die Vielsprachigkeit, insofern dieser Sprachüberschuss einem ursprünglichen Schweigen entgegen gehalten werden kann: „Schweigen wäre die Fortsetzung meines alten Lebens, meiner Kindheit gewesen“ 58 heißt es dazu an einer Stelle. Mit Hilfe der vielsprachigen - und übrigens auch sehr metaphern- und metonymiereichen - Ich-Erzählung lässt sich die traumatische Erinnerung letztlich aufarbeiten. Im Laufe ihres inneren Monologs tastet sich Nadeshda an ihre Kindheitsgeschichte heran. Der Leser erfährt, dass ihre Eltern einst praktisch über Nacht in die USA auswanderten und sie bei einer Tante zurück ließen, Nadeshda hat nie mehr von ihnen gehört. In der Familie und im Dorf herrscht ein unheimliches Schweigen über ihre Eltern und insbesondere ihren Vater, unter dem sich ein „böses Geheimnis“ 59 zu verstecken scheint. Worum es sich handelt, ist lange nicht ganz klar, „mein Vater ist der Mörder vieler Libellen geworden, so jedenfalls wurde immer wieder mal bildhaft darüber gesprochen.“ 60 Später heißt es, dass die titelgebenden Libellen „das Bild für die Schuld meines Vaters“ 61 gewesen seien. Nadeshda erinnert sich daran, den Vater als Kind beobachtet zu haben, wie er ihre „roten Schühchen“ 62 im Hof mit einer Axt zerhackte und ein 56 Ebd., S.-93. 57 Ebd., S.-103. 58 Ebd., S.-87. 59 Ebd., S.-113. 60 Ebd., S.-135. 61 Ebd., S.-159. 62 Ebd., S.-138. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 213 Mädchenkleid verbrannte. Den wahren Grund für das plötzliche Verschwinden der Eltern erfährt Nadeshda schließlich von ihrer Tante, bei der sie nach der Trennung von Ilja zu Besuch ist: Neben seiner Libellensammlung und seiner übrigen Tierquälerei sei der Vater ein „bekannter Kindermörder“ gewesen, „vor dem sich alle in den umliegenden Dörfern und Weilern gefürchtet hatten.“ 63 In diesen surreal anmutenden Bildern der Libellen, der roten Schühchen und des Kindermörders verdichtet sich Nadeshdas Trauma, für das sie im Gedächtnis der Libellen eine Sprache zu finden versucht. In seiner Überdeterminierung lässt der Text allerdings offen, inwiefern diese Bilder nun als ‚richtige‘ Erinnerung zu lesen sind oder inwiefern sie sich über der Lücke und dem Schweigen (der Mutter, der Verwandten, des ganzen Dorfes) über den gewalttätigen Vater gebildet haben und entsprechend entziffert werden müssen. Hingewiesen wird in jedem Fall auf einen ungelösten Knoten der Gewalt in der Familiengeschichte, der von allen mit Schweigen überdeckt wurde: Die Kindheitsgeschichte des Vaters reicht in den Zweiten Weltkrieg hinein, er selbst wird als Faschist charakterisiert. Nadeshda erzählt, wie er ihr „stundenlang irgendein montenegrinisches Heldenepos“ 64 rezitieren konnte und dem Kind dann „im Ton eines Liedes“ 65 sadistisch mit Grausamkeiten drohte: ein Feuer würde er unter mir entfachen, ein großes Feuer, ach so groß, […] Mit dem Kopf nach unten, Kleines, sagte er, mein Kleines, mein Feines, eines Tages […] ich werde dich verbrennen 66 . Aus diesen Stellen wird ersichtlich, dass die Gewalt dem Kind gegenüber verbal ausgeübt wurde und sich auf diese Weise dauerhaft in das Gedächtnis der Ich-Erzählerin einbrannte: „Ich habe an seinen Sätzen wie an einer Krankheit gelitten […] Ich war das Buch, in das er […] seine Wörter […] ablegte.“ 67 Die (erste) Sprache ist als Medium der erfahrenen Gewalt zu betrachten und gleichzeitig ist der ganze Vorgang von einem bedrohlichen Schweigen der Mutter, der Verwandten und der dörflichen Gemeinschaft begleitet: „Es war ein Schweigen, das sich damals wie ein Messer in meine Erinnerung schlafen legte, und das Messer hat mich bis heute nicht vergessen.“ 68 Zugespitzt formuliert, entwirft Bodrožić in ihrem Roman eine Figur, die als Mutter- und Vatersprache Schweigen und Gewalt vermittelt bekommen hat und andere Idiome braucht, um selbst zur Sprache finden zu können. 63 Ebd., S.-136. 64 Ebd., S.-162. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., S.-131. 68 Ebd., S.-132. 214 Esther Kilchmann Vor diesem Hintergrund ist es hinsichtlich des Verfahrens der textinternen Mehrsprachigkeit in Das Gedächtnis der Libellen auffällig, dass neben Wörtern und Sätzen auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spaniolisch das südslawische Idiom der Muttersprache nur an drei Stellen verwendet wird. Sie seien hier abschließend in chronologischer Folge diskutiert: Der erste serbokroatische Ausdruck taucht im Anschluss an die stichwortartige Rekollektion der Kindheitserinnerung durch die Ich-Erzählerin auf. Sie konstatiert, dass die Beziehung zu Ilja sie aus ihrer lebensgeschichtlichen Erstarrung erwachen ließ: Sah so ein wach geküsstes Schneewittchen aus? Und wollte mein Vater mich nicht erst Snježana nennen? Die, die vom Schnee kommt, so übersetzte ich mir immer diesen erstsprachlichen Namen. 69 Der Name, den die Ich-Erzählerin von ihren Eltern erhielt, wird hier nicht preisgegeben, als traumatisches Moment bleibt er im Narrativ konsequent verschwiegen. Als Substitut des „erstsprachlichen Namens“ aber wird hier Snježana gesetzt. Der gängige serbokroatische Vorname mit seiner wörtlichen Bedeutung ‚Frau aus Schnee‘, Äquivalent der Märchenfigur Schneewittchen, wird zur Chiffre des aufgrund der Kindheitserfahrung erstarrten Daseins der Ich-Erzählerin. Mit der Beziehung zu Ilja, mit der daraus folgenden neuen Erzählung unter dem selbst gewähltem Namen Nadeshda (dt. ‚Hoffnung‘) kann sie die väterliche Bestimmung ihrer Identität auflösen: „Es schien, als hätten sich alle Flüssigkeiten freie Bahn in mir gebrochen […] die entfache Feuersprache meiner Zellen […] Ich konnte den Körper […] nicht mehr dem Schneewittchen geben.“ 70 Das durch die Kursivierung als Fremdkörper im Text inszenierte Snježana , das auch metaphorisch für die Erstarrung steht, wird nach dem entscheidenden Moment einer Übersetzung („so übersetzte ich mir“) in Sprache auflösbar. Zur Darstellung gebracht wird in dieser gesamten - sprachlich überbordenden - Passage die für den Roman zentrale Konstellation einer traumatischen Erstarrung im Schweigen und dessen Auflösung mittels der Liebe Iljas und der damit freigesetzten Sprachlust. Zum zweiten Mal im Roman kommt Nadeshdas und Iljas Erstsprache nicht im familiären, sondern im weiteren nationalen Herkunftskontext vor, gepaart mit der Frage der Sprachwahl eines Autors. „Seine Bücher schreibt Ilja in englischer Sprache“ 71 beginnt das Kapitel, in dem Ilja aus seiner Familiengeschichte übergangslos in die Erinnerung an sein und Nadeshdas Herkunftsland, das ehemalige Jugoslawien, gerät. 69 Ebd., S.-149. 70 Ebd., S.-149f. [Herv. i. Orig.]. 71 Ebd., S.-187. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 215 Er hat die halbe Nacht geredet […] der Krieg kam in seinen Geschichten vor, […] Dalmatien im Sommer, […] Bosnien, Sarajevo und das wunderschöne Lied Što te nema von Jadranka Stojaković, das alle Jugoslawen kannten und das alle, ausnahmslos alle wunderschön fanden. She’s big in Japan now , sagte Ilja. 72 Auch diese Passage exponiert schlaglichtartig das Verfahren der Mehrsprachigkeit in Bodrožić’ gesamtem Roman: Durch den englischen Satz am Schluss wird daran erinnert, dass in der Diegesis eine von der deutschen Erzählung abweichende Sprache gesprochen wird. Die Fremdsprache ist das Medium der Kommunikation selbst und gerade dort, wo sich die beiden Figuren geteilter Muttersprache an das gemeinsame Herkunftsland erinnern. Als Überrest der Erstsprache bleibt nur der Titel eines Schlagers von 1981 stehen: Što te nema (zu Deutsch ‚warum bist du nicht da‘). Im einzigen Satz, den das Buch in der gemeinsamen Erstsprache seiner Figuren (und der Autorin) wiedergibt, wird so ironischerweise eine Absenz aufgerufen, anstelle der herkömmlichen Imagination von der einheitsstiftenden Funktion der Muttersprache, wird sie hier mit dem Gefühl einer Leerstelle und eines Mangels verbunden, das bezeichnenderweise unübersetzbar bleibt. Zugleich wird an dieser Stelle darauf verwiesen, dass der problematische Status der Erstsprache seine Gründe nicht nur in der familiären Gewaltgeschichte Nadeshdas haben könnte, sondern ebenso im kriegerischen Zerfall Jugoslawiens, nach dem auch dessen ehemalige Einheitssprache, das Serbokroatische, nicht mehr die gleiche ist. 73 Das dritte und letzte Wort aus der Erstsprache erscheint gegen Ende des Romans nochmals in Zusammenhang mit Nadeshdas Vater: Vielleicht wäre mein Vater wie Ilja Schriftsteller geworden, wenn er sich nicht in der Nachkriegszeit zum Libellenmörder entwickelt hätte. Meine Tante sagte, Vater habe in der Kindheit die Kleider seiner toten Schwester getragen. Die Libellen sind in seiner ersten Sprache schon im Wort selbst nichts anderes als Mittlerinnen zwischen den Welten. Vilski konjić . Das Pferdchen der Feen. Als Kind hat mir das Wort stundenlange Grübeleien beschert. 74 Im Zentrum stehen die Libellen als Chiffre für die Gewalttaten des Vaters, die Libellen um deren Rekollektion der Roman Das Gedächtnis der Libellen kreist. Das durch den Seelenhaushalt der Tochter spukende Wortbild wird hier in die 72 Ebd. 73 Bodrožić kritisiert in ihrem Werk verschiedentlich die Bestrebungen, aus dem plurizentrischen Serbokroatisch einzelne Nationalsprachen wie das Kroatische und das Serbische herauszulösen und rigide voneinander abzugrenzen. Vgl. Bodrožić, Marica: Mein weißer Friede. München 2014, S.-69. 74 Bodrožić, Gedächtnis der Libellen, S.-199. 216 Esther Kilchmann erste Sprache des Vaters rückübersetzt, was, zusammen mit der fragmentarischen Information der kindlichen Trauer des Vaters um seine Schwester, als Versuch gelesen werden kann, eine Erklärung für dessen Taten zu finden. Der Text folgt hier einer psychoanalytischen Logik, der zufolge es sich bei den Libellen um ein Kryptonym handeln könnte, das, wie in der Studie von Abraham/ Torok zum Wolfsmann, den Schlüssel zu einer Urszene enthielte, die endlich Aufschluss über die väterliche Psyche gäbe. Vilski konjić vermag diese Erwartung allerdings nicht einzulösen; kein „Sesam“ 75 öffnet sich, kein alles erklärender Sinnzusammenhang erschließt sich durch die Rückübersetzung in die Erstsprache plötzlich. Vilski konjić bleibt kryptisch - was noch dadurch unterstrichen wird, dass die serbische Bezeichnung für ‚Libelle‘, vilin konjic / pl. vilin konjici 76 lautet, im Buch also nicht standardsprachlich korrekt wiedergegeben ist. Mit anderen Worten: Anders als Snježana lässt sich dieses Wort, das ins Zentrum der traumatischen Erfahrung weist, nicht auflösen. Die „Grübeleien“ über das Wort, über die unerklärlichen Kindheitserinnerungen bleiben. Als einzigen Weg des produktiven Umgangs verweist der Text auf erneute Übersetzungsmöglichkeiten, diesmal auf dem Weg einer poetisch-buchstäblichen Übertragung, die aus den Libellen „Pferdchen der Feen“ werden lässt. Zum Schluss ihres Romans, der um den Komplex von Mehr Sprachen, Schweigen und Erinnern kursiert, lässt Bodrožić, wie schon in ihrem Essay Sterne erben, Sterne färben den Sprachwechsel nicht nur als Prozess erscheinen, durch den die Erstsprache als Ort des Traumas und des Mangels erkundet werden kann, sondern ebenso als Source poetischer Übertragungsleistungen. Trotz Bodrožić’ starker Anlehnung an psychoanalytische Ansätze kann hier auch der Versuch gesehen werden, eine Alternative zu der von diesen praktizierten Dekodierung sprachlicher Verschiebungs- und Verdichtungsvorgänge als Symptome bestimmter Erinnerungen zu formulieren. Anstelle einer solchen eindeutigen Entschlüsselung werden Verschiebungs- und Verdichtungsvorgänge zwischen den Sprachen zum Antrieb einer poetischen Fabulierlust, in der es letztlich nicht um Ichfindung, sondern befreiendes Fremdschreiben geht, um ein sich fremd in fremden Sprachen werden, bis die fremden Sprachen ihre Sprachen werden, bis alles fremd wird im Detail, weil doch das Menschsein an sich, en gros und en détail das Fremde ist 77 . 75 Abraham/ Torok beschreiben die Entdeckung der infantilen Anglophonie des „Wolfsmannes“ als Moment eines „Sesam öffne dich“, vgl. Abraham/ Torok, Kryptonymie, S.-63. 76 Im Internet ist außerdem auch die Schreibweise vilinski konjic , pl. vilinski konjici zu finden. Für die Hinweise danke ich Dr. Tatjana Petzer (Berlin). 77 Bodrožić, Gedächtnis der Libellen, S.-12. Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse 217 3 Konklusion Wie wohl die Frage nach der Bedeutung von Sprachwechsel und der affektiven Besetzung einzelner nationaler Sprachen eher einen Nebenschauplatz der psychoanalytischen Theoriebildung darstellt, kommen verschiedene Studien darüber ein, dass in bestimmten Fällen Zusammenhänge zwischen Sprachwechsel und Erinnerungsvorgängen nachgewiesen werden können. Der Wechsel in eine zweite Sprache kann dazu genutzt werden, mit der Erstsprache verbundene Erlebnisse und Gefühle zu verdrängen und so einer Person auch beim Aufbau einer neuen Identität helfen. Im Extremfall können Worte selbst, die mit traumatischen Situationen verknüpft und entsprechend affektiv besetzt sind, zum Objekt der Verdrängung werden. In Verknüpfung mit solchen Erinnerungsprozessen erscheint der Sprachwechsel einerseits als Medium der Verdrängung, andererseits kann die Zweitsprache für die Betroffenen als weniger mit Affekten verknüpftes Idiom zum Medium der Durcharbeitung der traumatischen Erfahrungen werden. Die Autorin Marica Bodrožić lehnt sich in ihrem poetologischen Essay Sterne erben, Sterne färben eng an diese Wechselwirkungen von Erinnerungsprozessen und Sprachwechsel an. Sie beschreibt, wie die Zweitsprache ihr ermöglichte, sich mit der an die Kindheit und die Erstsprache gebundenen traumatischen Erfahrung der Stille und des Schweigens auseinanderzusetzen, gleichzeitig macht sie aber auch klar, dass der Sprachwechsel mit der Erarbeitung einer ganz eigenen Literatursprache einhergeht, die von Mehrsprachigkeit ebenso wie Erinnerungsbildern geformt wird. In ihrem Roman Das Gedächtnis der Libellen knüpft Bodrožić in einer fiktiven Konstellation an diese Reflexionen an. Dabei wird noch deutlicher, dass der Sprachwechsel eine eigene poetische Produktivkraft entfalten kann, der das zugrunde liegende traumatische Schweigen und Nichtverstehen weniger erklären und füllen will, sondern vielmehr zum Ausgang für immer neue Übertragungsbewegungen und innovative Sprachschöpfungen nimmt. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen: Katja Petrowskajas Vielleicht Esther Annette Bühler-Dietrich Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) gehört zu den von Feuilleton und Forschung stark rezipierten Auseinandersetzungen mit der Shoah. 1 Dass Petrowskajas Buch in einen Rahmen der Postmemory -Studien, des deutsch-jüdischen Schreibens und der jüngsten Aufmerksamkeit auf Autorinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, die auf Deutsch schreiben, eingefügt werden kann, ist dieser Rezeption zuträglich. Auch im Kontext von Affektivität und Mehrsprachigkeit lässt sich der Text untersuchen, denn Sprache, Affekt und Erinnerung sind in Vielleicht Esther eng aufeinander bezogen. Ihr mehrsprachiger Roman ordnet den einzelnen Sprachen unterschiedliche affektive, memoriale und politische Funktionen zu. Aufgabe der Sprache ist es, unter dem Eindruck des Verlustschmerzes das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Meine These ist, dass Petrowskaja eine Sprache des Schmerzes entwirft, die gleichzeitig die Funktion des Schmerzmittels hat. Die Funktionsweise dieser Sprache werde ich über die Verflechtung von Gilles Deleuzes/ Félix Guattaris Kafka. Für eine kleine Literatur , Jean-Bertrand Pontalis’ psychoanalytischer Schrift zum Schmerz und Ansätzen der Affekttheorie darlegen. 2 Wie ich zeigen werde, bietet gerade die Wirkungsweise des Schmerzes die Möglichkeit, die widerstreitenden Affektbegriffe der Psychoanalyse und der von Spinoza und Deleuze/ Guattari geprägten Affekttheorien in Verbindung zu bringen. 1 Erste Artikel sind erschienen, mehrere sind in Arbeit, wie auf der German Studies Association-Tagung 2017 deutlich wurde. Siehe Osborne, Dora: Encountering the Archive in Katja Petrowskaja’s Vielleicht Esther . In: Seminar 52/ 3 (2016), S.-255-272; Roca Lizarazu, Maria: The Family Tree, the Web and the Palimpsest: Figures of Postmemory in Katja Petrowskaja’s Vielleicht Esther . In: The Modern Language Review 113/ 1 (2018), S.-168-189. 2 Der folgende Artikel entstand im Kontext der Tagungen „Affektivität und Mehrsprachigkeit“, FU Berlin 2017, und „Contemporary Jewish Women Writing in Germany and Austria. A Minor Literature? “, Institute of Modern Languages Research (IMLR), School of Advanced Study, University of London, 2018. 220 Annette Bühler-Dietrich 1 Mehrsprachigkeit, Affekt, Schmerz Einsprachigkeit ist, so hat Yasemin Yildiz überzeugend entwickelt, als Paradigma eine nationalstaatliche Konstruktion, welche eine nationale Identität hervorbringen soll. Dagegen haben reale Sprecherinnen an verschiedenen Sprachen teil, die jeweils unterschiedliche Funktionen ausüben und unterschiedliche Beziehungsformen realisieren, a number of ways of relating to and through language, be it familial inheritance, social embeddedness, emotional attachment, personal identification, or linguistic competence. Contrary to the monolingual paradigm, it is possible for all these different dimensions to be distributed across multiple languages […]. 3 Yildiz zeigt in ihren Analysen verschiedene Semantisierungen von Mehrsprachigkeit, die jeweils mit dem Sprachraum zu tun haben, in dem Mehrsprachigkeit stattfindet. So wendet sie sich u. a. Franz Kafkas Auseinandersetzung mit dem Deutschen und Jiddischen innerhalb der Sprachsituation Prags zu wie auch Emine Sevgi Özdamars Wahl des Deutschen als ihrer Literatursprache. Sowohl die Sprache(n) wie auch deren Funktion unterscheiden sich bei Kafka und Özdamar. Gerade Yildizʼ These, dass Özdamar auf Deutsch traumatische türkische Erfahrungen thematisiert, ist für die Sprachwahl Petrowskajas bedenkenswert. Mehrsprachigkeit hat sich in den letzten Jahren zu einem eigenen Forschungsgebiet entwickelt. Ein Grundlagentext, der das Bindeglied zwischen Sprache, Affekt und Politik herstellt, ist Deleuzes/ Guattaris Kafka. Für eine kleine Literatur . 4 Diese einflussreiche Lektüre der Bewegung von Kafkas Schreiben behandelt im Kapitel „Was ist eine kleine Literatur? “ die Stichpunkte des Untertitels „Die Sprache - die Politik - das Kollektiv“. Insofern Deleuze/ Guattari auch wichtige Theoretiker des Affekts sind, stellt ihre Lektüre die Brücke zwischen Sprache, Affekt und Politik bzw. Geschichte her, die meine folgenden Überlegungen leitet. Deleuze/ Guattaris brillante Analyse von Kafkas Schreiben wendet sich im genannten Kapitel der Funktion der Sprache in einer kleinen, minoritären Literatur zu - einer Literatur in einer kleinen Sprache, die als nicht-hegemoniale Sprache einer großen, majoritären Sprache entgegensteht, wobei sich jede Sprache für eine kleine Literatur eignet, wie sie am Beispiel Artauds und Célines zeigen. Sie nennen drei Merkmale einer kleinen Literatur: „Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive 3 Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012, S.-205. 4 Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur [1976]. Übers. v. Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main 2017. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix-: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris 1975. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 221 Aussageverkettung.“ 5 Diese drei Faktoren bedingen sich gegenseitig und führen zu einer Überschreitung des Individuums hin zum Kollektiv. Die Bewegung der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung verfolgen Deleuze/ Guattari durch das Buch hindurch; während der Begriff der Reterritorialisierung mit dem des ödipalen Dreiecks verbunden ist und damit mit einer Sistierung von Bewegung und einer Festlegung von Positionen, führt die Deterritorialisierung zur Auflösung von Bedeutungen und Setzungen, „zu einem perfekten und nicht-geformten, intensiv-materialen Ausdruck“ 6 . Für diese Intensität heben die Autoren gerade die „Ausdrücke, die Schmerz konnotieren“ 7 , hervor. Sprache, die Schmerz wird, ist in besonderem Maße intensiv, sie verbindet sich mit der Syntax des Schreis, „eine Syntax des Schreis machen, die sich mit der starren Syntax dieser papierenen Sprache vereint“ 8 . Dieser Wunsch nach einer deterritorialisierten, intensiven Sprache wird begleitet durch eine Analyse der verschiedenen Funktionen von Sprache, die von Foucault die Erkenntnis übernimmt: Was man in der einen Sprache sagen kann, läßt sich nicht einfach in einer anderen sagen, und was man insgesamt sagen kann, variiert zwangsläufig je nach der Sprache und den zwischensprachlichen Verhältnissen. 9 Doch dass Sprache verschiedene Funktionen erfüllt, führt nicht zum Sprachsystem: Eine Sprache kann in einem bestimmten Bereich bestimmte Funktionen erfüllen und andere Funktionen in einem anderen Bereich. Jede Sprachfunktion ist ihrerseits unterteilt und umfaßt vielfältige Machtzentren. Ein Brei aus Sprachen, nicht ein System von Sprachen… 10 Im Brei kehrt der Fokus auf die Zunge und das Essen wieder, 11 und Kafkas Sprache ist eine, welche die in der Sprache vom Essen entfernte Zunge nicht wieder reterritorialisiert in der Repräsentation. Die französische Homonymie von langue für ‚Zunge‘ und ‚Sprache‘ eignet sich offensichtlich für diese Reflexion. 5 Deleuze/ Guattari, Kafka (dt.), S.-27. Vgl. „Les trois caractères de la littérature mineure sont la déterritorialisation de la langue, le branchement de l’individuel sur l’immédiat-politique, l’agencement collectif de l’énonciation.“ (dies., Kafka (fr.), S.-33). 6 Ebd., S.-28. 7 Ebd. S.-33 [Herv. i. Orig.]. Sie setzen sich in diesem Abschnitt mit der Arbeit Vidal Sephihas zu sprachlicher Intensität auseinander. Das Wort „Schmerz“ findet sich drei Mal auf S.-33. 8 Ebd., S.-37. 9 Ebd., S.-34. 10 Ebd., S.-35. Im französischen Original ist es noch deutlicher: „Une bouillie de langues, pas du tout un système du langage“, S.-44. Im Deutschen gibt es die zitierten Kursivierungen, im französischen Original nicht. 11 Zuerst ebd. (dt.), S.-29. 222 Annette Bühler-Dietrich Deleuze/ Guattari verfolgen Kafkas Sprache hin zu ihrer Auflösung des Sinns in der Intensivierung und im Tun. Gerade in dieser Auflösung des Sinns besteht ihr revolutionärer Gehalt. Das letzte Kapitel des Buchs, das sich „für eine kleine Literatur“ ausspricht, heißt im Französischen „qu’est-ce qu‘un agencement? “(deutsch: „Was ist eine Verkettung? “). Erin Manning weist darauf hin, dass der Begriff des agencement unübersetzbar sei, und erklärt ihn folgendermaßen: „ Agencement connotes a doing doing itself. You have to understand the event itself as agency-ing.“ 12 Agencement ist also eine Tätigkeit, aus der das Subjekt als Agens verschwunden ist, in dem das Ereignis selbst Agens ist. Auf der Ebene der Sprache wie der Handlung verschwindet so, in der Lektüre von Deleuze/ Guattari, bei Kafka das Subjekt. In einer ‚kleinen Literatur‘ wird Sprache intensiv und intensiv ist für Deleuze/ Guattari ein Gegenbegriff zur Repräsentation. Diese Intensität und das agencement der Sprache sind verwoben mit der Affektivität von Sprache, als deren Beispiel sie den Schmerz, nicht die Wut oder die Scham auswählen. Die Frage nach dem Schmerz als Affekt, der in den Sprachen Petrowskajas Ausdruck findet, verbindet jedoch unterschiedliche Konzeptionen von Affekt, die von Deleuze/ Guattari zu Sigmund Freud reichen und damit von Affekt-Begriffen, die einerseits aus der Lektüre Spinozas herrühren, andererseits aus der freudschen Psychoanalyse. When you define affect as Spinoza does, as an ability to affect or be affected, it’s clear that it’s a dimension of all activity, whether we see fit to categorize that activity as subjective or objective. It’s just as obvious that there is an affective dimension to language. 13 Affekt im Sinne Brian Massumis, der von Deleuze/ Guattari her denkt, ist ein „directly relational concept“ 14 , eine Relation, die sich im Ereignis vollzieht. Der Fokus auf das Sich-Ereignende in seiner Intensität verbindet Massumi mit Deleuze/ Guattaris Prozess der Verkettung in der ‚kleinen Literatur‘ Kafkas. Diese Relationalität konnotiert für Massumi die Transindividualität des Affekts - auch darin ist er Deleuze/ Guattaris Analyse der kleinen Sprache als nicht-individuell verwandt, wenngleich die Philosophen den Begriff des Transindividuellen noch nicht verwenden. Gerade der Schmerz ist für Massumi ein Beispiel der Relationalität: „What our pains become for us is a product of learning how to parse the event in acceptable 12 Massumi, Brian: Politics of Affect. London 2015, S.- 157. Das Buch enthält verschiedene Interviews, die teils mit ihm allein, teils mit ihm und Erin Manning geführt wurden. Ich nenne jeweils den Sprecher, von dem das Zitat stammt, im Haupttext. 13 Ebd., S.-150. 14 Ebd., S.-151. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 223 ways, but it never entirely loses its relational, transindividual span.“ 15 Als physischer wie psychischer Prozess verbindet er Subjekt und Umwelt. Gleichzeitig stellt er in besonderem Maße die Frage nach der Relationalität zwischen derjenigen, die Schmerz empfindet, und derjenigen, die diesen Schmerz miterlebt. Sara Ahmed wendet sich dem Schmerz und unserem Verhältnis zum Schmerz in ihrer Reflexion der Cultural Politics of Emotion zu. Sie schließt ihre Reflexion mit dem Beispiel der Zeugnisse von indigenen Australierinnen, die als Kinder ihren Müttern weggenommen wurden, um englisch sozialisiert zu werden. Verlust und Schmerz auf Seiten der Mütter wie der Kinder sind hier eng verbunden. 16 Für diejenige, die Zeugin dieses Schmerzes wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu diesem Schmerz und den Konsequenzen dieses Schmerzes für die ihn Wahrnehmende. Ahmed betont: „The call of such pain, as a pain that cannot be shared through empathy, is a call not just for an attentive hearing, but for a different kind of inhabitance.“ 17 Inwiefern der Schmerz in Vielleicht Esther als transindividueller konzipiert ist, der eine spezifische Art der Rezeption braucht, werde ich unten anhand der Frage des Sehens, Hörens und Verstehens im Text zeigen. Im Unterschied zum weiten spinozistischen Affektbegriff erhält der Affekt in Freuds System eine spezifische Funktionsweise. „Der Affekt ist die qualitative Äußerungsform der Quantität an Triebenergie und ihrer Variationen.“ 18 Affekte können verdrängt oder bewusst sein, als bewusste werden sie als Gefühle bemerkbar, verdrängte Affekte können verwandelt wiederkehren. Der Affektbetrag ist die quantitative Seite des Affekts in Freuds ökonomischem Modell. Doch der Schmerz stört das System Freuds, wie Pontalis aufzeigt, und rückt deswegen in der Theorie Freuds an den Rand. 19 Pontalis versteht ihn als Prototyp der Affekte: Kann man den Schmerz so einfach innerhalb der Skala der peinlichen, unlustvollen Affekte - am Ende einer Kette - ansiedeln, oder muß man ihm eine prototypische Funktion, mehr noch: den Wert einer irreduziblen Erfahrung zuerkennen? 20 Er argumentiert klar für letztere Antwort. Er stellt den Schmerz als Prinzip jenseits des Lustprinzips fest und grenzt ihn gegen die Angst ab: „Die Angst bleibt mitteilbar, direkter Ruf, der an den anderen ergeht; der Schmerz kann nur hin- 15 Ebd., S.-128. 16 Vgl. Ahmed, Sara: The Cultural Politics of Emotion [2004]. Edinburgh 2014, S.-37. 17 Ebd., S.-39. 18 Laplanche, Jean/ Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse [1973]. Übers. v. Emma Moersch. Frankfurt am Main 1992, S.-37. Zum Affektbegriff siehe ebd., S.-39. 19 Vgl. Pontalis, Jean-Bertrand: Zwischen Traum und Schmerz. Übers. u. mit Einleitung v. Hans-Dieter Gondek. Frankfurt am Main 1998, S.-227. 20 Ebd., S.-222. 224 Annette Bühler-Dietrich ausgeschrien werden.“ 21 Schmerz als Phänomen zwischen Körper und Psyche etabliert gerade die Kontinuität zwischen Körper und Geist, welche Grundlage der Affektstudien ist. 22 In Pontalisʼ Ausführungen erscheint derart ein Begriff, der vielmehr in das Vokabular von Deleuze/ Guattari gehört: die Maschine. Pontalis verbindet das Bild des „Loch[s] im Psychischen“ in einem Manuskript Freuds mit folgendem Kommentar: Es [das Loch] ruft, damit es verschlossen wird, nach ganz besonderen Mechanismen, die eher an das Funktionieren eines Organismus oder einer hydraulischen Maschine erinnern als an geistige Aktivität. Ein Zuviel an Erregung, die jegliche auf Bindung abzielende Tätigkeit, selbst auf der Stufe des Primärvorgangs, in Fesseln legt: das Über-volle erschafft eine Leere. 23 Als Folge des Schmerzes sieht Pontalis in einem seiner Patienten „eine außerordentliche Maschine zur Hervorbringung von Träumen (nicht zum Träumen), zum Spielen mit Worten (statt sie spielen zu lassen), zum Aufzeichnen des alltäglichen Lebens (unter der Bedingung, daß es in sich erstarrt bleibt)“ 24 . Aufzeichnung und Maschine gehören aber in die Terminologie des Anti-Ödipus . 25 Der Schmerz als Phänomen, das die Trennung in Körper und Geist destabilisiert, durchbricht die Grenze zwischen den theoretischen Ansätzen. Verlust und Schmerz gehören bei Freud zusammen. Im Anhang von Hemmung, Symptom und Angst schreibt er über die Reaktion des Kleinkindes auf die Abwesenheit der Mutter: Der Schmerz ist also die eigentliche Reaktion auf den Objektverlust, die Angst die auf die Gefahr, welcher dieser Verlust mit sich bringt, in weiterer Verschiebung auf die Gefahr des Objektverlustes selbst. 26 Der körperliche Schmerz zieht die Besetzungsenergie auf die schmerzende Stelle, so dass wir „räumliche und andere Vorstellungen von solchen Körperteilen bekommen, die sonst im bewußten Vorstellen gar nicht vertreten sind“ 27 . Er 21 Ebd., S.-229. 22 „Because affect emerges out of muddy, unmediated relatedness and not in some dialectical reconciliation of cleanly oppositional elements or primary units, it makes easy compartmentalisms give way to thresholds and tensions, blends and blurs.“ Seigworth, Gregory J./ Gregg, Melissa: An Inventory of Shimmers. In: Dies. (Hrsg.): The Affect Theory Reader. Durham 2010, S.-1-25, hier S.-4. 23 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-225. 24 Ebd., S.-231. 25 Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. v. Bernhard Schwibs. Frankfurt am Main 1977. 26 Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst. Nachträge C. Angst, Schmerz und Trauer [1926]. In: Sigmund Freud. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, James Strachey, Angela Richards, Bd.-6. Frankfurt am Main 1971, S.-305-308, hier S.-307. 27 Ebd., S.-308. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 225 sieht das in Analogie zum psychischen Schmerz, der ebenso alle Besetzungsenergie auf sich zieht. Bei Freud ist es die Besetzung des Verlusts, die sich als Schmerz äußert, bei Deleuze/ Guattari geschieht eine Intensivierung der Sprache durch den Ausdruck des Schmerzes - in beiden Fällen zieht der Schmerz Energie auf sich und stellt eine Beziehung zwischen sich und der Schmerzursache her. 28 Die Beziehung zu Trauer und Trauma knüpft Pontalis über Freuds Ausführungen zum psychischen Schmerz. Doch hinsichtlich der Spezifik des Verlusts, der im Schmerz artikuliert wird, differenziert er: Da, wo es Schmerz gibt, ist das abwesende, verlorene Objekt gegenwärtig; das gegenwärtige, aktuelle Objekt ist abwesend. […] Der psychische Schauplatz mag den Eindruck erwecken, als sei er bevölkert, aber es ist eine Bevölkerung von Schatten, von Statisten, von Phantomen; die psychische Realität ist anderswo, weniger verdrängt als eingekapselt. 29 Der Schmerz des Verlusts führt dazu, dass die Beziehung zum Abwesenden aufrechterhalten wird. 30 Eine Lektüre, die nach dem Verhältnis von Verlust, Mehrsprachigkeit und Affekt fragt, findet im Schmerz ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Affektbegriffen und öffnet sich dem agencement / agency-ing , das dieser Schmerz als Verkettung in Vielleicht Esther bewirkt. Insofern der Text sich als transindividuelles und transnationales Schreiben begreift, obwohl Petrowskaja von einer spezifischen eigenen Familiengeschichte ausgeht, entwirft dieser Verlustschmerz eine neue Politik: „Irgendetwas führt mich hierher, denn ich glaube, dass es keine Fremden gibt, wenn es um Opfer geht. Jeder Mensch hat jemanden hier.“ 31 2 Verlust Das Gefühl des Verlustes trat ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröhliche Welt, es schwebte über mir, streckte seine Flügel aus, ich kriegte keine Luft und kein Licht, wegen eines Mangels, den es vielleicht gar nicht gab. Manchmal kam es wie ein Blitz, schnell, wie eine Ohnmacht, als ob ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren 28 Zu dieser Beziehung vgl. die Aussage Mannings in Massumi, Politics, S.-125. 29 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-230f. 30 In „Trauer und Melancholie“ löst sich das Subjekt vom verlorenen Objekt in der Trauer. Dass der Schmerz nachlässt, ist Teil dieses Lösungsprozesses, während das Festhalten des verlorenen Objekts in der Melancholie einer anderen Logik folgt. Vgl. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie [1917]. In: Sigmund Freud. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, James Strachey, Angela Richards, Bd.- 3. Frankfurt am Main 1975, S.- 197- 212, hier S.-198-199. 31 Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Berlin 2014, S.-184. 226 Annette Bühler-Dietrich würde, kurzatmig ruderte ich mit den Armen um Rettung, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen, getroffen von einer Kugel, die nie abgeschossen wurde, niemand hatte Hände hoch gesagt. 32 Die dichte Textstelle verbindet unterschiedliche Bilder, um den Verlust zu beschreiben, der eben nicht durch einen Trauerprozess abgeschlossen wurde, sondern der als akuter Reiz auftritt. Als Riesenvogel blockiert er Luft und Licht, wie ein Blitz oder eine Gewehrkugel trifft er das Subjekt und führt, wie die Ohnmacht, zu Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsverlust. Der Verlust ist kosmisch, animalisch oder mythisch, aber auch physisch, er umgreift alles, er setzt sich über die kausale Logik hinweg und er macht das Subjekt zum Objekt. Er agiert selbst und ist an kein handelndes Subjekt gebunden - „niemand hatte Hände hoch gesagt“. Diese existentielle Gymnastik im Kampf um das Gleichgewicht schien mir Teil des Familienerbes zu sein, ein angeborener Reflex. In der Schule haben wir im Englischunterricht weitergeübt, hands up, to the sides, forward, down. Ich dachte immer, das Wort Gymnastik sei aus dem Wort Hymne entstanden, auf Russisch fängt beides mit G an, Gimnastika und Gimn , und ich streckte die Hände eifrig nach oben, im Versuch, die unsichtbare Hülle des Himmels zu berühren. 33 Der „Kampf um das Gleichgewicht“ folgt aus einer Serie von Verlusten, die das Buch entfaltet: der Verlust der väterlichen und der mütterlichen Urgroßmutter, das lange Fehlen des Großvaters sowie der Verlust vieler anderer Familienmitglieder, deren Spuren sie im Laufe ihrer Recherchen findet. „[I]ch litt immer wieder an dieser manchmal schneidend scharfen, manchmal wermutherben Einsamkeit“, die nicht auf das Individuum, sondern auf das Kollektiv gerichtet ist: „Der üppige Traum von einer großen Familie an einem langen Tisch verfolgte mich mit der Beständigkeit eines Rituals.“ 34 Petrowskaja erbt einen Verlust, bei dem sie nicht gegenwärtig war, der aber an sie weitergegeben wurde. Ihre Erfahrung gehört in die Kategorie der Postmemory , wie sie Marianne Hirsch beschreibt. „[P]ostmemory is not a movement, method, or idea; I see it, rather, as a structure of interand trans-generational transmission of traumatic knowledge and experience.“ 35 Sie ‚erbt‘, so stellt es die Textstelle dar, diesen abrupten Schmerz als nicht ver- oder bearbeiteten Verlust in der Familiengeschichte ebenso wie die daraus folgende existenti- 32 Ebd., S.-22. 33 Ebd. 34 Beide Zitate ebd., S.-23. 35 Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today 29/ 1 (2008), S.-103- 128, hier S.-106. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 227 elle Gymnastik. Da sie nicht nur zu Hause, sondern auch im Englischunterricht weiter übt, weist dieser Ort darauf hin, dass es gerade nicht im Russischunterricht geschieht, sondern im Raum der Fremdsprache, die weiterhin als Gleichgewichtshilfe im Text erscheinen wird. Zu einer Zeit der anhaltenden Verdrängung der Shoah innerhalb der sowjetischen Gesellschaft, der Nachrüstung und des Nato-Doppelbeschlusses übt Petrowskaja ‚englische Gymnastik‘ unter Absehung von Geschichte und Politik. Weil die sowjetische Politik das Gedenken an die Opfer der Shoah verweigert und das Gedenken auf die Helden der Roten Armee konzentriert, bietet das Russische als Sprachsystem keinen Erinnerungsraum für eine nicht-kommunistische Erinnerung: „[D]och damals hatten wir kein Damals, sondern nur ein Jetzt, in dem die Verluste des Krieges einen unerschöpflichen Vorrat unseres eigenen Glückes bilden sollten […].“ 36 Im Unterschied zum plötzlichen Schmerz des Verlusts sind diese Verluste bekannt und staatlich anerkannt, durch Denkmäler und Gedenktage im kulturellen Gedächtnis verankert. Die Artikulation des Verlusts der „anderen“ 37 kann so im Russischen nur durch die Arbeit an der Sprache selbst geschehen, deterritorialisiert, in Form von übersetzten Redewendungen und vereinzelten Wörtern. Die Opposition des Entzugs von Licht und Luft durch den Verlust und das Berühren des Himmels durch die Sprachbewegung zieht sich durch die „Geschichten“ 38 . An Silvester 2011 erreicht ein Anruf aus Jerusalem unerwartet 36 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.- 22-23. Babij Jar, Petrowskajas Referenzpunkt für das fehlende Gedächtnis der Shoah in der Sowjetunion, ist ein besonders wichtiges Beispiel dafür, wie das Verbrechen nicht anerkannt und verschwiegen wurde. Karel C. Berkhoff schreibt, „the CPSU [Kommunistische Partei] refused to acknowledge that the first massacre at Babi Yar amounted to an unparalleled war crime […]“. Er weist darauf hin, dass die Ereignisse nicht nur verschwiegen, sondern gerade während der anti-israelischen Propaganda der 1970er Jahre auch verzerrt wurden, während denen Petrowskaja, Jahrgang 1970, aufwächst. Vgl. Berkhoff, Karel C.: Dina Pronicheva’s Story of Surviving the Babi Yar Massacre: German, Jewish, Soviet, Russian, and Ukrainian Records. In: Ray Brandon/ Wendy Lower (Hrsg.): The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization. Bloomington/ Indianapolis 2008, S.- 291-317, hier S.- 292. Dina Pronicheva ist die Puppenspielerin, auf die Petrowskaja auf S.-192 verweist. 37 Vgl. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-185. 38 Die Gattungseinordnung von Vielleicht Esther ist schwierig. Das Buch trägt den Untertitel „Geschichten“ und verwischt darin die Grenze zwischen Fakt und Fiktion. Aufgrund der Dokumentation der Suche nach ihrer Familiengeschichte ließe es sich als Mémoire bezeichnen. Ann Cvetkovich nennt ihre eigene Verwendung von Mémoire und Essay nach Jill Dolan „critical memoir“, „inspired by the desire to craft new forms of writing and knowledge that come from affective experience, ordinary life, and alternative archives […]“. Dies.: Depression. A Public Feeling. Durham 2012, S.- 23. Diese Verbindung gilt durchaus auch für Petrowskaja. Moritz Schramm bezeichnet den Text als „metahistorische Gedächtnisprosa“, umgeht damit aber auch die Gattungseinordnung, vgl. ders.: Perspektivisches Erinnern: Der Nationalsozialismus und seine Folgen in der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur. In: 228 Annette Bühler-Dietrich die Mutter und verbindet sie mit einer Frau, Dina, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Petrowskaja stellt das Telefongespräch der beiden Frauen und deren Wiedererkennen als Dialog dar, mündend in die liebevolle Anrede eines Kindes, „Swetotschka! “. In dieser Anrede benennt Dina die jüngere Swetlana und ruft so über die Zeiten hinweg das Kind an, was sich durch die Zeitlücke und die Altersdifferenz der beiden Frauen motiviert. Das Russische erscheint hier als ‚kleine‘ Sprache, die Überraschung wie Nähe ausdrückt. Die Erzählerin kommentiert: „Jemand hatte meine Mutter angerufen, der bereits erwachsen gewesen ist, als sie noch ein Kind war. Es gibt sonst niemanden mehr aus dieser Generation.“ 39 In dieser nüchternen Aussage eröffnet sich der Verlust als Abgrund, den Petrowskaja oben benennt und der im überraschten Ausruf mitgetragen wird. Sie bringt ihn in diesem Unterkapitel mit ihrer Gymnastik und dem Berühren des Himmels in Verbindung: Aber, vielleicht - das ist nur eine kühne Vermutung - habe ich mit all den Bewegungen die Geister der Vergangenheit aufgestört, irgendwo eine zarte Membran berührt, dort, in der untersten Himmelsschicht, an die ein Mensch gerade noch heranreichen kann. 40 3 Gegensprachen Neben dem Englischen gibt es eine Reihe an Sprachen, die im Text thematisiert und verwendet werden und die als Ausweg aus der offiziellen russischen Sprache der Politik und der Geschichtsschreibung erscheinen. Dazu gehört das Jiddische, das Katja 41 mit ihrer Großmutter Rosa verbindet sowie mit deren Tochter Lidija, über die sie das Jüdische und das Jiddische im Essen verknüpft: „Sie hat alles verschwiegen, und mit ihr sind all ihre Strudel, gefilte Fisch, ihre süßen Würste mit Rosinen verschwunden […] und auch das Wort Zimmes nahm sie mit“ 42 . Essen und Wörter für Essen - Zimmes ist ein Gericht für Rosch Haschana - verschieben sich ineinander und das Rezept Lidijas, das Katja als Appell erhalten hat, ist das letzte Residuum des Jiddischen, das in ihren Besitz übergeht. 43 In der Verknüpfung des Jiddischen mit dem Essen ist es bei Petrowskaja eine der Zunge nahe Sprache, die nicht in der Repräsentation reterritorialisiert Corina Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000-2015. Paderborn 2017, S.-15-25, hier S.-21. 39 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-86. 40 Ebd., S.-84. 41 Um zwischen der autodiegetischen Erzählerin und der Autorin zu unterscheiden, verwende ich den Vornamen, wenn ich von der Erzählerin spreche. 42 Ebd., S.-33. 43 Sprachlich ist es allerdings russisch. Dass ihr das Rezept aus den Rechnungen entgegenfällt, steht am Anfang der Metapher des Bezahlens im Text. Vgl. ebd., S.-32-33. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 229 ist. 44 Als Zungensprache erscheint es auch im Prozess des Lernens der gehörlosen Schüler, die mit dem Stift im Mund die Artikulation lernen und deutsch und hebräisch lesen können. 45 Anzunehmen ist, dass sie auch das mit hebräischen Buchstaben geschriebene Jiddisch auf diese Art artikulieren und verstehen konnten, das weit mehr als Hebräisch eine jüdische Verkehrssprache im 19.-Jahrhundert war. Jiddisch kehrt wieder im Unterkapitel „Mogendovid“, der jiddischen Bezeichnung des Davidsterns, den Katja 1989 auf einer polnischen Schallplatte mit jiddischen Liedern findet, die sie mit nach Kiew bringt. Diese Schallplatte veranlasst die 1905 geborene Rosa, die „niemals ein Wort auf Jiddisch gesagt hatte“, mitzutanzen und mitzusingen und erweckte Rosas Erinnerungen, die, so schien es, völlig verstummt und verschüttet waren wie auch das, was einmal ihre Muttersprache gewesen sein mochte, die wir und sogar sie selbst vergessen hatte. 46 Jiddisch steht als verstummte Sprache weder Lidija noch Rosa zur Verfügung, weil es nicht mehr Teil des kollektiven Gedächtnisses ist und sein darf, einem auf Neuanfang ausgerichteten Russisch weicht und deswegen auch als Muttersprache verschüttet ist, begraben unter dem Schutt der Geschichte. 47 Als Weg, den Verlust zu balancieren, wählt Petrowskaja deswegen Deutsch, ihr Bruder Hebräisch: „Gemeinsam schufen wir, mein Bruder und ich, durch diese Sprachen ein Gleichgewicht gegenüber unserer Herkunft.“ 48 Die Erklärung, warum sie Deutsch wählt, ist zweifach. „Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte, getrieben von einer unerfüllbaren Sehnsucht, einer Liebe, die weder Gegenstand noch Geschlecht kannte […].“ 49 Diese Liebe, so wird im nächsten Abschnitt klar, ist die Kehrseite des Verlusts. „Die intensive, infolge ihrer Unstillbarkeit stets anwachsende Sehnsuchtsbesetzung des vermißten (verlorenen) Objekts“ 50 funktioniert laut Freud 44 Zur De- und Reterritorialisierung vgl. Deleuze/ Guattari, Kafka, S.-29-30. 45 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-53. 46 Ebd., S.-76 und 77. 47 1948-1952 fand der Prozess gegen die Mitarbeiter des Black Book statt, bei dem auch fünf jiddische Schriftsteller zum Tod verurteilt wurden mit dem Vorwurf des „bourgeois nationalism“. Im Black Book hatten jüdische russische Schriftsteller Zeugnisse der in Russland verübten Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung gesammelt. Vgl. Altman, Ilya: The History and Fate of the Black Book and the Unknown Black Book. In: Joshua Rubenstein/ Ilya Altman (Hrsg.): The Unknown Black Book. The Holocaust in the German-Occupied Soviet Territories. Bloomington/ Indianapolis 2008. S. xix-xxxix, hier S. xxxiv. 48 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-78. 49 Ebd., S.-79. 50 Freud, Hemmung, Symptom und Angst, S.-308. 230 Annette Bühler-Dietrich wie der körperliche Schmerz. In der „unerfüllbaren Sehnsucht“ der deutschen Sprache wird der Schmerz als Sehnsucht nach dem verlorenen Objekt aufrechterhalten. Die Lücke zwischen dem Sprechen und der Sprache führt zu einer fortgesetzten Bewegung, Gymnastik, die kein Ziel kennt, so wie Gymnastikbewegungen ihr Ende nur in der Erschöpfung der sie Ausübenden finden. Deleuze/ Guattari fragen am Ende des Kafka-Buches: Wie groß ist schließlich die Fähigkeit einer literarischen Maschine, d. h. einer aktiven Aussagen- und Ausdrucksverkettung [agencement d’énonciation ou d’expression], von sich aus diese abstrakte Maschine als Feld des Verlangens zu bilden? Bedingungen einer kleinen Literatur? 51 Als „agencement d’énonciation ou d’expression“, agency-ing , äußert sich der Schmerz in einer Sprache, die Katja bewusst als immer schon von ihr weggeschobene, verschobene erfährt, die ein Eigenleben als Sprache hat und darin dem Jiddischen homolog ist - die verschüttete, nicht mehr zugängliche Sprache auf der einen, die immer distante Sprache auf der anderen Seite. Deutsch als die Sprache der Stummen, nemeckij , verbindet sie außerdem explizit mit der Familiengeschichte der Taubstummenlehre und mit dem „stumme[n] Deutsch“ 52 . Im stummen Deutsch kann gesagt werden, was im damit sprachlich verwandten, aber verstummten Jiddisch nicht gesagt werden kann - Jiddisch wird explizit zur nicht-wiederbelebbaren Sprache der getöteten Generation. 53 Somit wird Deutsch als „die Sprache der Stummen“ 54 zur nachträglichen Sprache der Verstummten, zum Schweigen Gebrachten der Familie. Dass Petrowskaja Deutsch als Sprache der Stummen produktiv macht, hängt schließlich auch an der Nähe des russischen Wortes für „stumm“ und für „deutsch“, nemoj nemec ist der stumme Deutsche, eine Verbindung, die sich zunächst auf der Ebene des Klanges herstellt. 55 Pontalis schreibt: [D]er Schmerz kann nur hinausgeschrien werden, aber dieser Schrei stillt in keiner Weise den Schmerz - um danach ins Schweigen zurückzuverfallen, worin er eins wird mit dem Sein. Das Subjekt kommuniziert nicht mit seinem Schmerz: das Schweigen und der Schrei wechseln einander ab. 56 51 Deleuze/ Guattari, Kafka (dt.), S.-122, fr. S.-157. 52 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-79. 53 Die Beziehung zwischen dem Deutschen und Jiddischen ist sprachgeschichtlich begründet, bei Petrowskaja wird sie funktional. 54 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-79. 55 Ebd.; zu den Übersetzungen siehe www.pons.eu. 56 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-229. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 231 Wenn Schweigen und Schrei als Alternativen der Nicht-Kommunikation mit dem Schmerz gefasst werden, dann, so ließe sich folgern, stillt nur die Kommunikation mit dem Schmerz den Schmerz. Diese Kommunikation findet in der paradoxen Fügung der stummen Sprache statt, die Schrei und Schweigen ist, in einem Kampf, der nicht nur die Sprache, sondern auch den Schmerz besiegen will, „der Blutzoll war beträchtlich und die Verluste sinn- und gnadenlos“ 57 . Nur indem sie noch einmal bezahlt, ihren eigenen Blutzoll, ist Frieden zu gewinnen. Die Metapher des Bezahlens zieht sich durch den Text und meint den Preis, den sie für die Erinnerung des schmerzvollen Verlusts im Schreiben entrichten muss. 58 „[T]rist und Trost habe ich stets versöhnen wollen, als könnte mir diese Versöhnung einen Schluck Meeresbrise schenken.“ 59 Das Spiel mit dem distinktiven Merkmal i/ o erlaubt die Möglichkeit der Versöhnung allein im geteilten Wortstamm. So heißt es am Ende des Kapitels: „Mein Deutsch, […] Gabe und Gift, als hätte ich ein Vöglein freigelassen.“ 60 Über das unterdrückte englische Zwischenglied der Kette kehren mit der Ambivalenz der Signifikanten die Flügel des Verlusts wieder, nun zum Diminutiv gezähmt. 4 Im Gleichgewicht? Der Versuch, „das Gleichgewicht wiederzugewinnen“, 61 bestimmt die Mikrowie die Makrostruktur des Textes, das Verschieben der Bedeutungen durch die Mehrsprachigkeit ebenso wie den Aufbau des Romans. Um den Schmerz erzählbar zu machen, muss eine Balance zwischen dem Verlust des Bodens und seiner Wiedergewinnung geschaffen werden. In der analytischen Situation ist diese Aufgabe dem Analytiker anheim gegeben: Er [der Schmerz, A.B.-D.] impliziert einen spezifischen Modus der Partizipation und der Intervention, einen spezifischen Typus der Gegenübertragung […]: „Den anderen für sich selbst zur Welt kommen zu lassen.“ 62 57 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-80. 58 Vgl. ebd., S.-21, 46, 79, 136, 177, 262. Bezahlt wird durch den Verlust und die Erinnerung an den Verlust. Wenngleich sie nicht will, dass das Bankgebäude am früheren Ort der Synagoge in Kalisz dazu führt, dass die Bankbesucher „dabei an diese ihnen fremden Toten denken, als würden sie damit Zinsen bezahlen für ihr Leben“ (S.-136), also ein Leben auf Kredit, ist in ihrer Verwendung des Begriffs in den Textstellen klar, dass für die Erinnerung ein Preis gezahlt wird. 59 Ebd., S.- 79. Die Meeresbrise könnte hier aus Triest stammen, das sich in die Wortkette einfügt, im Text aber metonymisch ersetzt wird. 60 Ebd., S.-80. 61 Ebd., S.-22. 62 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-238. 232 Annette Bühler-Dietrich Im Schreiben ist dies Aufgabe des Schreibprozesses selbst. Betrachtet man den Aufbau des Textes, so zeigt sich, dass die Balance von Leben, Überleben und Tod die Binnenanordnung innerhalb der einzelnen Großkapitel wie auch die Anordnung innerhalb der Unterkapitel bestimmt, wie dies nicht zuletzt das Unterkapitel „Vielleicht Esther“ zeigt. Die Struktur des Textes: Auf das erste, einführende Kapitel, das die Zeit zwischen Katjas Kindheit und der Entstehung des Buchs aufgreift, folgen zwei Kapitel, die sich mit zwei Reisen nach Polen befassen, die 1989 und 2010 stattfanden, wobei die erste Reise einen Besuch von Auschwitz beinhaltet, den die Erzählerin nicht erinnert, sowie die bekannte, tradierte Familiengeschichte und die ersten Zeugnisse einer verschütteten Geschichte unterhalb des Tradierten. Kapitel 2 schließt mit dem erwähnten Anruf Dinas und stellt darin eine Brücke zwischen den Lebenden und den Toten ans Ende. Kapitel 3 widmet sich der Suche nach den getöteten Familienmitgliedern in Polen und beginnt mit ihrer eigenen wie der anhaltend engen Bindung des Vaters an das sprichwörtlich „nicht verlorenen[e]“ Polen. 63 Katjas Suche führt sie zuerst nach Warschau und dann nach Kalisz, wo sich die Familie Krzewin aufgehalten hatte und wo Estera Patt, die gehörlose erste Frau des Urgroßvaters Ozjel, mit ihren Söhnen bis zu ihrer Deportation 1940 gelebt hatte. Wie im vorigen Kapitel erklingt mit dem Anruf Mira Kimmelmans eine unerwartete Stimme aus der Vergangenheit. Kapitel 4 dann befasst sich mit Judas Stern, dem Attentäter und Onkel des Vaters, der 1932 hingerichtet wurde und dessen zerbröselnde Akten Katja liest. In Kapitel 5 kommt das Massaker von Babij Jar zur Sprache. In ihm alterniert Petrowskaja zwischen den Überlebenden und den Toten. Das Überleben Margaritas, die im Alter an Paranoia erkrankt ist, stellt sie neben den Tod Annas und Ljoljas, das glückhafte Überleben Arnolds und seines Sohnes steht vor dem Tod der Babuschka des Vaters, Vielleicht Esther. Deren Tod zögert sie hinaus, indem sie ihre eigenen Ursprungsgeschichten einschiebt, wovon die eine davon handelt, wie Semele Achill im Fluss Lethe badet, dabei aber seine Ferse vergisst, die andere von der Flucht des Vaters, für dessen Platz im Lastwagen ein Fikus weichen muss. Erst wenn diese beiden Mythen verankert sind, spricht Babuschka auf Jiddisch und wird erschossen. Kapitel 6 dann erzählt die Geschichte des Großvaters Wassilij, der nach 41 Jahren zu seiner Familie zurückkam und dessen Rückkehr die Erzählerin erlebt hat. Sein Leben in der Familie und der neue glückliche Zustand eines familiären Rosengartens unterbrechen Katjas Nachvollzug seines Wegs von einem KZ zum anderen und seiner Inhaftierung in Mauthausen. Als Gegenstück zur Amnesie Auschwitz setzt sie sich den Baracken von Mauthausen aus und verfolgt den Weg der ungarischen Juden von Mauthausen nach 63 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-91. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 233 Gunskirchen. Schließlich endet sie ihre Reise in Wien, dem Ausgangsort der Familiengeschichte. Im Epilog „Kreuzung“ nimmt sie die enigmatische Struktur des prologhaften Anfangs wieder auf. Begegnet sie dort einem alten Herrn, der wie sie von Berlin nach Warschau reist und in dem Petrowskaja den Schauspieler Curt Bois alludiert, 64 so begegnet ihr am Ende eine alte Dame vor ihrem Kiewer Geburtshaus. Ganz weiß gekleidet und mit weißer Aura ist sie mit dem weißen Papier verbunden, das mittelbar die Suche verortet hat. Die Suche nach dem Gleichgewicht ist, wie erwähnt, eine Folge des Verlustschmerzes. Schmerz ist laut Pontalis „Verkopplung von Draußen und Drinnen, Realität und Phantasie, Vergangenheit und Gegenwart“ 65 . Der Text Petrowskajas leistet als Kommunikation mit dem Schmerz genau das, er verknüpft Bereiche, die getrennt sind. Die Kategoriengrenze zwischen Realität und Phantasie wird dabei mehr als einmal hinfällig, so in der Geschichte vom Fikus, der das väterliche Überleben garantiert, der aber in dessen schriftlichem Bericht gar nicht vorkommt: „Als ich den Verlust feststelle, verliere ich den Boden unter den Füßen.“ 66 Um die Balance wieder zu finden, kehrt der Fikus in die Geschichte zurück, ob es ihn gegeben hat oder nicht. Indem es Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Phantasie balanciert, findet das Erzählen die Möglichkeit, den Blitz des Schmerzes zu artikulieren und auszuhalten. Wenn Petrowskaja an den Anfang ihrer Familiengeschichte eine Geschichte vom Fliegen stellt, welche eine Bildbeschreibung Chagalls oder eine Imagination ist und als solche den fehlenden Beweis des Ursprungs ersetzt, 67 verdichten sich im Bild der Wunsch nach dem „Aufflattern“ 68 der Geschichten ebenso wie die Flügel des Verlusts. „Polen, Polyń, Polonia, Polania, po-lan-ja , hier wohnt Gott, drei hebräische Wörter, die aus dem slawischen Polen ein gelobtes Land der Juden machten“ 69 - diese Verschiebung gründet den bildhaften Ursprungsmythos, der noch nicht von den folgenden Gewalterfahrungen berührt ist und in der die Kirche noch 64 Bois spielt in Wendersʼ Der Himmel über Berlin den Erzähler, der sich auf dem Niemandsland des Potsdamer Platzes vor 1989 an die Vergangenheit erinnert. Petrowskaja gab den Hinweis auf Bois selbst beim Gespräch im Literaturhaus Stuttgart, 29.04.2014. 65 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-237. 66 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-217. 67 Den Hinweis auf Chagall verdanke ich Godela Weiss-Sussex. In ihrem bei der GSA 2017 gehaltenen Vortrag zu „Narrative, Language and Belonging“ bei Petrowskaja untersucht sie Mehrsprachigkeit mit Blick auf vielfache Perspektiven und Zugehörigkeiten des Textes. Insofern Katja den Originaltext über die Schule Simons nicht findet, sondern nur eine Übersetzung, und auch die Akten nicht auf die Schule hinweisen, gibt es im strengen Sinn keinen Beweis. Vgl. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-54, vgl. auch die Reflexionen S.-52. 68 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-52. 69 Ebd., S.-55. 234 Annette Bühler-Dietrich kósciół heißt. 70 Im Folgenden jedoch gerät jede Mehrsprachigkeit, sei sie mittelbar oder unmittelbar, in den Horizont des Verlusts. Mehrsprachigkeit ist im Text häufig. 71 Im Englischen sind es termini technici , die die Erzählerin verwendet - die Death Records aus Yad Vashem, deren Homonym ‚Schallplatte‘ sie aufruft und die sie zu „Life Records“ verkehrt, weil sie sie zu Mira Kimmelman führen, oder Zitate wie die Liedzeile aus dem Beatles-Song Hey Jude : „‚Hey Jude‘, summte es, ‚and any time you feel the pain, hey Jude, refrain‘.“ 72 Wie eine Ermahnung zur Zurückhaltung, um nicht vom Schmerz überwältigt zu werden, begleitet sie der Song durch den Weg über die Straßen Kaliszs mit ihren Pflastersteinen aus ehemaligen jüdischen Grabsteinen und evoziert darin die ‚englische Gymnastik‘ des Anfangs. Polnische Wörter versucht sie sich ins Russische zu übersetzen und sie sucht nach deren Etymologie, was sie zur Doppelbedeutung von ‚Quelle‘ und ‚Sumpf‘ für Kalisz führt, wo die Familie Ozjels herkommt. Weil Kalisz Ort der russischen Spitzenproduktion im 19.-Jahrhundert war, fasst sie ihre Suche nach den Kaliszer Angehörigen in das Bild: „Ich ging durch Sumpf und Spitzenschleier“ 73 , nicht einfach durch den sprichwörtlichen Nebel, sondern durch den Sumpf der ungeklärten Familiengeschichte. Russische Wörter und Redensarten verorten die Erzählerin in ihrer sowjetischen Sozialisation. Sie sind positiv besetzt, wenn Katja eine Analogie zwischen dem Namen Krzewin und den Pfefferkuchen, „ kowrishka “ 74 , herstellt, und vielmehr administrativ, wenn die Waisenkinder, die ihre Großmutter Rosa vor dem Verhungern bewahren musste, medizinisch „ distrofiki “ 75 , an Dystrophie Leidende, genannt werden. Während das positiv besetzte „ kowrishka “ wiederum ein Wort verwendet, das Essen bezeichnet und darin nah an der Zunge ist, ist „ distrofiki “ das Gegenteil, der administrative Terminus für den Mangel an Essen, Beispiel einer Sprache, die klassifiziert. Petrowskaja zitiert wiederholt russische Lyriker, darunter besonders das Gedicht Babij Jar Jewgenij Jewtuschenkos in seiner Übersetzung durch Paul Celan. Das Gedicht ist ein Akt des Widerstands gegenüber der offiziellen sowjetischen Amnesie Babij Jars und es nimmt bereits Petrowskajas Gestus des transindivi- 70 Diese Utopie in der Sprache erkennt sie auch in der Abkürzung des von Tante Lidija übernommenen Rezepts. Vgl. ebd., S.-31. 71 Einen frühen Beitrag bietet Eckart, Gabriele: The Functions of Multilingual Language Use in Katja Petrowskaja’s Vielleicht Esther . Glossen 40 (2015). http: / / blogs.dickinson. edu/ glossen/ archive/ most-recent-issue-glossen-402015/ gabriele-eckart-glossen40-2015/ (30.4.2018). Sie sieht Mehrsprachigkeit im Dienst der Identitätsverhandlung der Erzählerin. 72 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-136. 73 Ebd., S.-129. 74 Ebd., S.-25. 75 Ebd., S.-70. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 235 duellen Gedächtnisses vorweg und bindet es an den Gedanken eines wirklich internationalen Russlands: „Und ich - bin selbst / ein einziger Schrei ohne Stimme / über tausend und aber / tausend Begrabene hin. / Jeder hier erschossene Greis - : / ich.“ 76 Jewtuschenko artikuliert in seinem an Enjambements reichen Gedicht einen Schmerz, der ihn mit den Opfern der Shoah, besonders derer von Babiji Jar, verbindet. Celan stellt diese Verbindung, die nicht im Register der Identifikation geschieht, durch den Gedankenstrich und den Doppelpunkt dar. Dagegen verweisen die wörtlich übersetzten Redensarten unwillentlich auf den offiziell verschwiegenen Verlust. Die Erklärung, dass im Russischen „Hast du nicht alle Tassen im Schrank? “ als „Hast du nicht alle zu Hause? “ formuliert wird, 77 verknüpft in den beiden Redewendungen mit der Bedeutung „spinnst du? “ den geistigen Zustand der beiden Großmütter mit dem Verlust, der von der Erzählerin unterschwellig wahrgenommen wird. Da „nicht alle zu Hause“ sind, haben die Großmütter „nicht alle zu Hause“. In die über das Buch verteilten Ursprungsgeschichten - das Flugbild Simons, der historische Ursprung in Kalisz, die Zuggeschichte der Mutter, der Fikus des Vaters - gehört auch die Geschichte Achilles’. Verbunden mit den Verweisen auf die Odyssee und die Ilias im Text, gehäuft im Unterkapitel „Vielleicht Esther“, wird ihr diese Geschichte von der Mutter mehrfach erzählt, gleich wie die Kriegserlebnisse der Mutter. Doch die affektive Beziehung zur Geschichte besteht hier nicht in der Übernahme der mütterlichen Angst wie beim Zugtraum, sondern sie entsteht oder wird verstärkt über die russische Redewendung: „Ich erinnere mich daran, wie mich an dieser Stelle die Angst jedesmal so packte, dass meine Seele in die Fersen rutschte, wie man auf Russisch sagt, wenn man von Furcht ergriffen wird […].“ 78 Die Heldengeschichte verkehrt sich zur Geschichte der „Vorahnung eines Verhängnisses“ 79 und die Angst vor dem Verlust ersetzt die Furcht vor dem spezifischen Objekt. Ist sie „alarmiert“ bei 76 Petrowskaja zitiert die ersten sieben Zeilen sowie aus den letzten 21 Zeilen des Gedichts. Sie übernimmt Celans Interpunktion nicht, wenn sie die Zeilen zu Greis und Kind zitiert und lässt die Homologie zwischen ihrem Schreiben und Jewtuschenkos Gedicht im Schrei aus. Jewtuschenko, Jewgenij, Babij Jar [russisch/ deutsch]. In: Erhard Roy Wiehn (Hrsg.): Die Schoáh von Babij Jar. Das Massaker deutscher Sonderkommandos an der jüdischen Bevölkerung von Kiew 1941 fünfzig Jahre danach zum Gedenken. Konstanz 1991, S.- 376-383, hier S.- 377 und 381. Jewtuschenkos Utopie einer wirklichen Internationale sieht Petrowskaja in den überdeterminierten Sprachüberlagerungen aufscheinen.Insofern Petrowskaja im Kapitel Babij Jar eine historiographisch akkurate Darstellung der Vorgänge wie der Erinnerungspolitik der Sowjetunion gibt, darf Jewtuschenkos Gedicht nicht fehlen. Es ist aber auch in seinem Anliegen mit Vielleicht Esther verwandt und nicht nur ein pflichtgemäßer Referenztext. 77 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-21. 78 Ebd., S.-215. 79 Ebd., S.-216. 236 Annette Bühler-Dietrich der Redewendung „nicht alle zu Hause“ 80 , so verbindet sie die Angst vor dem Objektverlust mit den Geschichten vom Überleben des Vaters und der Mutter. Der Schmerz über den Verlust aber trifft sie unerwartet; dass ihr Versuch, „das Gefühl von Verlust [zu] heilen“ 81 sie vom Familiennamen Krzewin zum Klang der Pfefferkuchen führt, verspricht in der Anlautung diese Heilung. Petrowskaja unterbricht die Geschichte von Babuschkas Tod. Sie zögert darin die Szene ihres Todes hinaus und realisiert die mythische Dauer ihres Gehens, in dessen Zeitspanne die Geschichte Achilles’ und die Geschichte der Rettung des Vaters Platz haben, außerdem die poetologischen Reflexionen über das Verhältnis von Erinnerung und Fiktion. Abrupt setzt sie mit Babuschka wieder ein in der einzigen jiddischen Passage des Textes, die gleichzeitig die einzige längere fremdsprachige Passage ist. Während es ihr unmöglich ist, sich die Szene des Dialogs zwischen Babuschka und den Soldaten vorzustellen, kann sie sich der Figur Babuschka über die ihr fremde Sprache nähern. Kurz bevor sie ‚ausgelöscht‘ wird, bekommt die alte Frau eine eigene Stimme und ihre Würde, die ihr vom nachlässig Ermordenden abgesprochen wird. Der Kontrast zwischen beiden Absätzen und die Lücke dazwischen machen in dieser Lücke den Abgrund deutlich. 82 „Ich sehe die Gesichter nicht, verstehe nicht, und die Geschichtsbücher schweigen“ 83 , meint die Erzählerin dazu. 5 Hören, Sehen, Verstehen Hören, Sehen und Verstehen sind Tätigkeiten, die Katjas Suche begleiten. „Woran ich dachte - […] was ich alles tue, um seine 42 Tage in Gunskirchen und die 37 Jahre seines Lebens in der Heimat zu verstehen, und sei es nur für eine Zeile.“ 84 Bei ihrer Suche nach den Verlorenen stößt sie darauf, dass sie manche Sätze erst nachträglich hört - „wie viele Jahre steckten diese beiden Sätze in mir, bis ich sie hörte? “ 85 , die aber in ihr „steckten“, als fremde Körper, Teil ihres Postmemory wie die überlieferten Geschichten. Während sie hier Sätze plötzlich hört und nachträglich versteht, blendet sie an vielen anderen Stellen die Umwelt aus, weil sie oder damit sie die Zeit überspringt, so in Warschau, in Babij Jar und auf dem Weg nach Mauthausen. „Da, wo es Schmerz gibt, ist das abwesende, verlorene Objekt gegenwärtig; das gegenwärtige, aktuelle Objekt ist abwesend“ 86 , schreibt 80 Ebd., S.-21. 81 Ebd., S.-25. 82 Ebd., S.-220f. 83 Ebd., S.-221. 84 Ebd., S.-274. 85 Ebd., S.-102. 86 Pontalis, Zwischen Traum und Schmerz, S.-230. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 237 Pontalis. Petrowskajas Zugang zum verlorenen Objekt ist dieser Verlustschmerz, der das Verlorene anwesend macht. „Die Menschen gehen spazieren, reden, gestikulieren in der Sonne. Ich höre nichts. Die Vergangenheit schluckt alle Laute der Gegenwart.“ 87 Der Versuch zu verstehen ist von dieser Wahrnehmungsreduktion begleitet und dies wird durchgängig thematisiert. 88 Doch nicht nur hören und verstehen, auch gehört und verstanden werden will die Erzählerin. Nicht als Gebet, sondern als Aufforderung zum Hören erscheint Sch’ma Israel , Höre Israel , doch „ich erzählte die Geschichten, eine nach der anderen, aber ich hörte selbst nicht, was ich sagte“ 89 . Auch auf der Ebene des Erzählens geschieht Hören nachträglich, wie bei den in ihr steckenden Sätzen. Nicht „eine nach der anderen“ aber wird gehört, sondern die Geschichten verwirren sich, um gehört zu werden, wenn man die Erzählstruktur des Textes in Betracht zieht. „Rosa kritzelte mit ihren Zeilen gegen die Blindheit an, sie häkelte die Zeilen ihrer entschwindenden Welt“ 90 , heißt es über die Großmutter. Rosas häkelndes Schreiben bewahrt die Verbindung zu ihrer „entschwindenden Welt“, jedoch ohne als diskursives Lebenszeugnis für die Nachkommen von Wert sein zu wollen; ihr Schreiben wird zum Tun selbst, ohne Rücksicht auf dessen referentielle Aussagemöglichkeit, „ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden“ 91 , der der Enkelin aus dem Labyrinth der Vergangenheit hilft. Auch Petrowskaja schreibt gegen die metaphorische Blindheit an, indem sie häkelnd Textstränge übereinander lagert, Muster unterbricht und wieder aufgreift, und es der Leserin aufgibt, nachträglich zu hören. Darin schreibt sie den Text gerade der Funktionsweise von Erinnerung ein. 92 Dass ihr Buch sechs Kapitel hat, lässt die Möglichkeit aufscheinen, dass sie ihren eigenen Mogendovid häkelt und sich darin in eine Reihe mit den Spitzen häkelnden Frauen von Kalisz stellt. 87 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-186. 88 „Um überhaupt etwas sehen zu können, musste ich die Trümmer ignorieren, die zwischen mir und jener Zeit vor hundert Jahren lagen.“ Ebd., S.-101. 89 Ebd., S.-55. 90 Ebd., S.-62. 91 Ebd. 92 „Nachträglichkeit, nachträglich: Von Freud in Verbindung mit seiner Konzeption der Zeitlichkeit und der psychischen Kausalität häufig verwendeter Ausdruck: Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“ Laplanche/ Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S.-313. Lynn Wolff betont das Fragmentarische von Petrowskajas Erzählen, das sie mit der Struktur der Wiederholung verbindet. Vgl. dies.: Literatur als Historiographie nach W.G. Sebald. In: Daniel Fulda/ Stefan Jäger (Hrsg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21.- Jahrhundert. Berlin, im Erscheinen. 238 Annette Bühler-Dietrich 6 Politik Deleuze/ Guattari benennen als „das zweite Merkmal kleiner Literaturen: In ihnen ist alles politisch […] Ihr enger Raum bewirkt, daß sich jede individuelle Angelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft.“ 93 Vielleicht Esther ist in diesem Sinn ein politischer Text. Obwohl der Text auch inhaltlich Stellung bezieht, indem er die sowjetische Erinnerungspolitik thematisiert, ist er grundsätzlich politisch im Sinne Deleuze/ Guattaris. Wenngleich Petrowskaja die Geschichte ihrer eigenen Familie recherchiert, so verzweigt sie diese Geschichte mit den Geschichten anderer Überlebender und Verstorbener, von der überlebenden weit entfernten Verwandten Mira Kimmelman bis zu den ungarischen Juden auf dem Weg nach Gunskirchen. 94 Petrowskajas Recherche lässt sich als Gegenbewegung zu einer parzellierten Erinnerungskultur lesen, wie sie sie emblematisch in Babij Jar vorfindet: Zehn Denkmäler, aber keine gemeinsame Erinnerung, sogar im Gedenken setzt die Selektion sich fort. / / Was mir fehlt, ist das Wort Mensch. Wem gehören diese Opfer? Sind sie Waisen unserer gescheiterten Erinnerung? Oder sind sie alle - unsere? 95 Ihr Buch ist ein Plädoyer dafür, dass sie alle unsere sind. Indem sie die Geschichten von Rettung, Auswanderung und Vernichtung verknüpft, in denen sich das Schicksal von nahen Familienmitgliedern mit dem vieler Unbekannter verbindet, stellt sie transnationale Bezugslinien dar, die sich nicht in nationale Erinnerungskulturen oder nationalsprachliche Grenzen einzwängen lassen. Dadurch dass diese Begrenzungen fortfallen, gehen die Linien jedoch ins Unendliche, sind unzählige Verzweigungen denkbar. Die Erzählerin verfolgt Wege in Polen, in Österreich, in Kiew, doch diese Wege sind potentiell ohne Ende; sie verirrt sich in Babij Jar, sie findet das Haus in Warschau in der Ulica Ciepła nicht und geht die Straße stundenlang auf und ab. 96 Diese unendliche Bewegung kehrt im Epilog in einem Gedicht des russischen Autors Alexander Blok wieder, das Petrowskaja ohne Referenz zitiert. 97 Nur die nach außen, auf die alte Dame verlagerte Ermahnung „Ich treffe Sie etwas zu oft hier in letzter Zeit! “ 98 führt zu einem Abschluss des Textes. In einem ARD-Interview möchte die Journalistin wissen, ob Petrowskaja jetzt ihre Suche abgeschlossen habe, annehmend, dass mit dem Buch dazu alles ge- 93 Deleuze/ Guattari, Kafka, S.-25. 94 Vgl. Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-271. 95 Ebd., S.-191. 96 Vgl. ebd., S.-193, 103. 97 Vgl. ebd. S.-281-282. 98 Ebd., S.-281-83. Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen 239 sagt sei. Petrowskaja antwortet: „Es gibt einfach die Leute, die sich verabschieden können, und die Menschen, die sich nicht verabschieden können, und ich gehöre zu der zweiten Gruppe.“ 99 Aufgabe des Buches ist es nicht, abzuschließen. Das agencement , die Verkettung einer ‚kleinen Literatur‘ ist ohne Ende. 7 Schluss Die Lyrikerin Uljana Wolf sagte unlängst bei einer Veranstaltung, der Raum „zwischen den Sprachen [sei] ein schmerzhafter Raum“. 100 Für Vielleicht Esther müsste man ergänzen, dass hier der Raum der Sprache, der immer schon Zwischenraum ist, schmerzt. In der Artikulation des Schmerzes gewinnt die Sprache laut Deleuze/ Guattari an Intensität, gleichzeitig stellt der Schmerz eine transindividuelle Relationalität her, die charakteristisch für Affekte ist. Betrachtet man Vielleicht Esther mit Deleuze/ Guattaris Kafka. Für eine kleine Literatur , so zeigt sich, inwiefern deren Charakteristika einer ‚kleinen Literatur‘ weiterhin für die Analyse des deutschsprachigen Schreibens jüdischer Autorinnen heute fruchtbar gemacht werden können. Verlust des Bodens und Wiedergewinnen des Gleichgewichts finden alternierend in der Sprache statt, die kurzzeitig Gleichgewicht herstellt, den Boden aber auch selbst entziehen kann - „Hast du nicht alle zu Hause? “ 101 99 Vielleicht Esther - Katja Petrowskaja im Interview. ARD am 12.05.2014. https: / / www. youtube.com/ watch? v=VIoEfc74d0E, Zitat 7: 50 (2.05.2018). 100 Uljana Wolf in der Veranstaltung Zwischen Sprachen . Valzhyna Mort und Uljana Wolf . Literaturhaus Stuttgart, 14.10.2017. 101 Petrowskaja, Vielleicht Esther, S.-21. „Gefühlsalphabete“. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa Lena Wetenkamp Manchmal wünschte ich mir, ein mehrsprachiges Buch zu schreiben, darin der Makkaronismus zum Stilprinzip erhoben würde. Da mein Kopf vielstimmig und vielsprachig summt, wäre das ein durchaus realistisches Procedere. Ich könnte Familiäres auf ungarisch, Emotionales auf russisch, Saloppes auf englisch, Kapriziöses auf französisch ausdrücken oder meine Figuren in allen diesen Sprachen reden lassen. 1 In diesen Worten formuliert Ilma Rakusa die Utopie eines mehrsprachigen Schreibens, das ohne Rücksicht auf die Sprachkompetenz der potenziellen Leserinnen und Leser verschiedene Sprachen in einem einzigen Text vereint. Die hier als Utopie formulierte Sprachenvielfalt zeigt sich für die Biographie der Autorin als Realität: Die heute in der Schweiz lebende Schriftstellerin wurde 1946 als Tochter eines Slowenen und einer Ungarin in Rimavská Sobota (in der heutigen Slowakei) geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich. Später führte sie ihr Studium unter anderem nach Paris und Sankt Petersburg. Vor diesem biografischen Hintergrund verwundert es nicht, dass Rakusa in der Forschung oftmals als Vertreterin einer sogenannten Chamisso-Literatur oder Migrationsliteratur, als interkulturelle oder transnationale Autorin angesehen wird. 2 Im Gegensatz zu vielen anderen Vertreterinnen und Vertretern 1 Rakusa, Ilma: Schriftsteller und Übersetzer - ein Zwillingsberuf? In: Prospero 12 (2005), S.-31-39, hier S.-35. 2 Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konnotationen der Terminologie in diesem Feld kann hier nicht geleistet werden. Gute Überblickdarstellungen finden sich u. a. bei Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg 2007, S.- 16f. oder Blioumi, Aglaia: ‚Migrationsliteratur‘, ‚interkulturelle Literatur‘ und ‚Generationen von Schriftstellern‘: Ein Problemaufriß über 242 Lena Wetenkamp dieses in der Forschung immer stärker beachteten Feldes ist ihre Sprachbiographie dabei aber nicht von einem einmaligen Wechsel in einen neuen Sprach- und Kulturraum geprägt. Vielmehr bedingt der oben skizzierte Lebenslauf eine fortlaufende Anpassung an neue Sprachen und neue kulturelle Gegebenheiten. Das Eingangszitat zeigt, dass dabei die verschiedenen Sprachen vor allem unterschiedlichen Gefühlsbereichen zugerechnet und demnach als getrennte Entitäten wahrgenommen werden. Obwohl Rakusa in der Fortsetzung des Zitats den Anspruch formuliert, „Vielfalt möglichst in einer Sprache zu modellieren“ 3 , sagen ihre vorhergehenden Worte aus, dass die affektive Besetzung, die Ausbildung eines spezifischen Gefühlsbereichs also, nach monolingualen Prinzipien funktioniert. Dabei wird jedoch nicht im Sinne einer Affirmation des Einsprachigkeitsparadigmas 4 eine auf idealisierte Weise als natürlich empfundene Muttersprache favorisiert, die an einen spezifischen nationalen Kulturraum rückgebunden ist. Stattdessen zeigen sich in Rakusas Werk die Spannungen, die aus einer „postmonolingual[en]“ 5 Tendenz resultieren, welche sich aus der gleichzeitigen Anwesenheit mehrerer (nationaler) Einzelsprachen und der Wahl einer einzelnen Literatursprache ergeben. In den zahlreichen poetologischen und autoreflexiven Aussagen der Autorin ist - so die hier vertretene These - dieses besondere Spannungsverhältnis insbesondere in Hinblick auf Affektivität im Sinne einer an die verschiedenen Lebensstationen rückgebundenen langfristigen Gefühlsorientierung ausbuchstabiert. 6 Der Vorgang des Ausbuchstabierens, des minutiösen Nachvollziehens der sprachbedingten Affizierungsvorgänge, kommt in dem von ihr verwendeten Wort der „Gefühlsalphabete“ 7 zum Ausdruck. 8 Jeder einzelne Buchstabe eines Alphabets hält im Graphem einen Klang umstrittene Begriffe. In: Weimarer Beiträge 46/ 4 (2000), S.- 595-601. Eine eigene Auseinandersetzung mit den verschiedenen Begriffen nimmt Rakusa in einer Rede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vor. Vgl. Rakusa, Ilma: Die Vielfalt der ‚Migrantenliteratur‘. Eine anthologische Annäherung. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch (2008), S.-151-159. 3 Rakusa, Schriftsteller und Übersetzer, S.-35. 4 Vgl. Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012, S.-10. 5 Ebd., S.-4. 6 Ich verwende den Begriff der Gefühlsorientierung in Anlehnung an Slaby/ Mühlhoff/ Wüschner, die diesen noch in Hinblick auf ein attachment oder belonging differenzieren. Vgl. Slaby, Jan/ Mühlhoff, Rainer/ Wüschner, Philipp: Affektive Relationalität. Umriss eines philosophischen Forschungsprogramms. In: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Bielefeld 2016, S.-69-108, hier S.-75. 7 Rakusa, Ilma: Mehr Meer. Erinnerungspassagen [2009]. Berlin 2011, S.-14. 8 Den Begriff des Alphabets verwendet Rakusa in einer ihrer Poetikdozenturen an verschiedenen Stellen, um ein Verhältnis zu einem Ort oder einem Sachverhalt genauer zu beleuchten. Vgl. dies.: Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005. Dresden 2006. So spricht sie von einem „Triest-Alphabet“ (S.-86), einem „Ventoux-Alpha- Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 243 fest, der von jedem Sprecher leicht anders ausgesprochen und wahrgenommen wird. Somit ist der graphisch realisierte Buchstabe von einem bedeutungstragenden Raum umgeben, der aber für jeden anders erscheint, bis hin zu Synästhetikern, die einzelne Buchstaben mit bestimmten Farben verbinden. Analog zu den Buchstaben ist auch jede Sprache von einem eigenen Erfahrungs- und Bezugsraum umgeben, den ich mit dem Begriff des sprachlichen Affektraums fassen möchte. Der Begriff bezeichnet damit etwas, das nicht auf der sichtbaren Ausdrucksebene eines Wortes zu erkennen ist und demnach auch nicht mit einer Grammatik klassifiziert und normiert werden kann, sondern das nicht Greifbare, Körperhafte, das sich beim Erlernen und beim Verwenden eines Wortes, einer Sprache ausbildet. Dieser Raum fasst bewusste sowie unbewusste Affizierungen 9 und steht in der paradoxen Relation, zugleich offen als auch begrenzt zu sein. Denn so wie das Alphabet aus einer begrenzten Anzahl von Zeichen besteht, die nicht erweitert werden können, ist es doch zugleich Quelle unendlicher Kombinationsmöglichkeiten und kann darüber hinaus (zumindest im lateinischen Alphabet) verschiedene Sprachen abbilden. Im Bild des ‚Gefühlsalphabets‘ wird damit zugleich auf das Unterschiedliche der Sprachen verwiesen, aber auch ihre Ähnlichkeiten und Überschneidungen betont. Die Relativierung der Differenzen zwischen den Sprachen kommt auch in der von Rakusa verwendeten auffälligen Kleinschreibung der substantivierten Adjektive im Eingangszitat zum Ausdruck. Die einzelnen Sprachen als Buchstaben eines Alphabets haben bei Rakusa Einfluss auf ihre schriftstellerische Arbeit, ohne die Erfahrung der Mehrsprachigkeit sind ihre Texte nicht zu denken. Damit fungiert Affektivität hier in Anlehnung an Slaby/ Mühlhoff/ Wüschner als „Subjektivierungsgeschehen“ 10 , durch das sich das (Schreib-)Subjekt überhaupt erst ausbildet. Für diese gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Sprachen in Rakusas Texten wurden in der Forschung verschiedene Begriffsangebote unterbreitet. Straňáková spricht bei Rakusas Texten von einer „textinterne[n] Mehrsprachigkeit“ 11 , die die Vorstellung einer homogenen, reinen Sprache aufbricht. Auch Weissmann sieht Rakusas Werk von einer Mehrsprachigkeit geprägt, die er - ähnlich wie bet“ (S.- 88) oder einem mitteleuropäischen „Alphabet der Melancholie“, das sie selber „durchbuchstabiert habe“ (S.-8). 9 Slaby/ Mühlhoff/ Wüschner stellen heraus, dass affektive Dynamiken zum größten Teil nicht bewusst wahrgenommen und nur ansatzweise reflexiv erfasst werden können. Vgl. dies, Affektive Relationalität, S.-86. 10 Ebd., S.-92. 11 Straňáková, Monika: Literatur als fremde Sprache - fremde Sprache(n) in der Literatur. Anmerkungen zum mehrsprachigen Schreiben von Irena Brežná und Ilma Rakusa. In: Michaela Bürger-Koftis/ Hannes Schweiger/ Sandra Vlasta (Hrsg.): Polyphonie. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010, S.-388-403, hier S.-389. 244 Lena Wetenkamp Straňáková - in Bezug auf Mehr Meer als „plurilinguisme interne “ 12 klassifiziert. Für ihn handelt es sich um einen primär deutschsprachigen Text, der aber in Form von Versen und einzelnen Wörtern andere heterolinguale Elemente einbezieht. 13 Pasewalck beschränkt sich nicht auf eine Herausstellung der ‚fremdsprachlichen‘ Elemente in den Texten, sondern fragt nach der dahinterstehenden Sprachauffassung der Autorin. In dem von ihr vorgeschlagenen Begriff der „Mehrsprachlichkeit“ 14 kommt ein Sprachkonzept zum Ausdruck, das „in einer Sprache immer auch die Sprache am Werke sieht“ 15 . Rakusa würde damit nicht an das Konzept einer Muttersprache anknüpfen, sondern ihre Verwendung des Deutschen mache die Beeinflussung durch andere Sprachen erfahrbar. Demnach klassifiziert sie Rakusas Texte als „zugleich latent und manifest mehrsprachig“ 16 . Diese Forschungspositionen gilt es in Hinblick auf das gesamte Prosawerk der Autorin jedoch kritisch zu überprüfen. Ein Blick in die Erzählbände Miramar (1986), Steppe (1990), Durch Schnee (2006), das Berlin-Journal Aufgerissene Blicke (2013) und den Erzählband Einsamkeit mit rollendem „r“ (2014) enthüllt, dass diese überwiegend monolingual arbeiten. Keinesfalls stellen diese Texte sprachliche Hybridbildungen dar, wie es beispielsweise für Emine Sevgi Özdamars Texte herausgestellt wurde. Lediglich an manchen Stellen sind fremdsprachige Wörter in den Erzählfluss integriert, wie beispielsweise in der Erzählung „Dreimal Süden. Gefühle“ (2003), wo es in der Beschreibung eines Ortes heißt: „Dazwischen die schmale, schmucke Dorfstraße mit zwei Brunnen und einer legendären Auberge. Ihr Patron hat das Trüffeleis erfunden.“ 17 Die hier verwendeten französischen Ausdrücke „Auberge“ und „Patron“ können auch in der deutschen Sprache als bekannt vorausgesetzt werden und spiegeln eher die lokale Verortung der Erzählung wider. Fremdsprachige „Ein-Wort-Interferenzen“ wie diese zeigen sich laut Sturm-Trigonakis vor allem bei Essens- und Umgebungsbeschreibungen besonders resistent gegen einen Sprachwechsel. 18 Das Vorhandensein solcherart fremdsprachiger Elemente liefert jedoch noch keine 12 Weissmann, Dirk: L’horizon utopique d’une totalité des langues et cultures Plurilinguisme et écriture plurilingue chez Ilma Rakusa. In: Germanica. La littérature interculturelle de langue allemande 51 (2012), S.-1-13, hier S.-4 [Herv. i. Orig.]. 13 Vgl. ebd., S.-5. 14 Pasewalck, Silke: „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“. Zu Ilma Rakusas Poetik der Mehrsprachigkeit. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-381-400, hier S.-381. 15 Ebd., S.-382f. [Herv. i. Orig.]. 16 Ebd., S.-383. Zu weiteren Begriffsdifferenzierungen siehe auch: Burka, Bianka: Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten. Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. Tübingen 2016. 17 Rakusa, Ilma: Dreimal Süden. Gefühle. In: Gerhard Melzer (Hrsg.): Es liegt was in der Luft. Die Himmel Europas. Graz/ Wien 2003, S.-133-142, hier S.-139. 18 Vgl. Sturm-Trigonakis, Global playing in der Literatur, S.-124f. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 245 hinreichende Begründung für die Aufnahme von Rakusas Texten in das Korpus einer mehrsprachigen Literatur. 19 Die einzelnen fremdsprachigen Wörter stellen noch keine „Sprachwechsel, Sprachmischung, Übersetzung, Sprachverweis“ 20 dar, welche Radaelli als Diskursivierungsformen von Mehrsprachigkeit festhält. Liegen die oben genannten Forschungspositionen also falsch? Keinesfalls, denn zieht man Rakusas Texte hinzu, die autoreflexiv die eigene Sprachbiografie und den Weg zum Schriftstellerdasein thematisieren, bietet sich ein ganz anderes Bild. In Poetikdozenturen und anderen poetologischen Reflexionen und insbesondere in Rakusas literarischer Autobiographie Mehr Meer aus dem Jahr 2009 bringt die Autorin den Leserinnen und Lesern die Stationen einer (schriftstellerischen) Identitätsfindung sowie den Findungsprozess einer Literatursprache nahe. Ihre Texte weisen also ein hohes Maß an „Sprachreflexion“ 21 auf, die nach Radaelli die fünfte Diskursivierungsform von Mehrsprachigkeit darstellt. In diesen poetologischen Texten verdeutlicht Rakusa, dass ihre ungewöhnliche Biographie eine große Sensibilität für die Unterschiedlichkeit der Sprachen bedingt. Der erlebten Sprachenvielfalt wird dabei jedoch durchaus eine ambivalente Bedeutung zugesprochen: Die einzelnen Sprachen markieren „Reichtum und Differenz“ 22 . Wie dieser Dualismus sich auf ihren „inneren Sprachhaushalt“ 23 auswirkt, wie dort die einzelnen Sprachen zur Deckung kommen oder sich ergänzen, thematisiert sie insbesondere in der Dresdner Poetikdozentur. Dort formuliert sie die Erkenntnis: „Jede meiner Sprachen hat nicht nur unterschiedliche Grammatiken, sondern bildet unterschiedliche Hallräume.“ 24 Gerade in der Analyse dieser differenten Hallräume (oder nach meinem Vorschlag: sprachlichen Affekträume) zeigt sich ein konkretes affektiv-relationales Verbundensein mit einem - nicht topographisch gedachten - Raum der Sprache, an den sich die Affekte knüpfen. Dass Affekte und Emotionen zentral für ihre literarische Produktivität sind, gibt die Autorin an anderer Stelle zu erkennen: „Doch bin ich heftig affizierbar, 19 Es fällt zudem auf, dass als Belege für diese Thesen nur wenige, immer gleiche Textstellen angeführt werden. So taucht beispielsweise das Gedicht „Nevermore“ sowohl bei Pasewalck, Weissmann und Sgambati auf und die auch von mir hinzugezogene Textstelle zum Slowenischen in Mehr Meer wird auch von Klettenhammer und Schneider-Özbek analysiert. Dies sind auch die Textstellen, die Rakusa selbst in ihren poetologischen Texten erläutert und auf ihr Sprachverständnis hin durchlässig macht. 20 Radaelli, Giulia: Literarische Mehrsprachigkeit. Ein Beschreibungsmodell (und seine Grenzen) am Beispiel von Peter Waterhouses „Das Klangtal“. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-157-182, hier S.-165. 21 Ebd. 22 Rakusa, Zur Sprache gehen, S.-7. 23 Ebd., S.-29. 24 Ebd., S.-30. 246 Lena Wetenkamp Dinge und Worte springen mich an, lösen Entfachungen aus, das Widerspenstige reizt unmäßig.“ 25 Rakusa tritt uns hier als von Affekten beeinflusste Person entgegen, bei der Worte - und damit auch Sprachen - bestimmte Gefühle auslösen. Liest man Rezensionen und Kritiken zu ihren Texten, scheint auch die Leserin oder der Leser auf besondere Art von der poetischen Dichte ihrer Texte affiziert. So heißt es in einer Rezension ungewöhnlich emphatisch: „Ein Wort trifft den Nerv dieser Erinnerungspassagen am besten: Liebe.“ 26 Affekte spielen also sowohl im Produktionsals auch im Rezeptionsprozess ihrer Texte eine nicht zu unterschätzende Rolle, die „Buchstabenenergie“ 27 ist eng mit emotionalem Erleben verknüpft. Ansatzweise wurde die Bedeutung dieses emotionalen Gehalts der verschiedenen Sprachen bei Rakusa von der Forschung schon dargelegt. 28 Vor dem Hintergrund, dass auch die Forschungen zum Zweitspracherwerb von einem affective turn geprägt sind, 29 und die Bedeutung von Affekten und Emotionen immer stärker in den Fokus rückt, ja manche Positionen sogar so weit gehen zu sagen, dass „speakers of different languages live in somewhat distinct emotional worlds“ 30 , soll im Folgenden anhand Rakusas poetologischen Aussagen eine noch ausstehende Aufschlüsselung der verschiedenen Funktionsbereiche der Sprachen und ihrer jeweiligen emotionalen und affektiven Bedeutung geleistet werden. Dafür wird aus heuristischen Gründen bewusst der Fokus 25 Dies.: Farbband und Randfigur. Vorlesungen zur Poetik. Graz/ Wien 1994, S.-177. 26 Langner, Beatrix: Der Osten ist schön. NZZ Online vom 23.09.2009. www.nzz.ch/ der_osten_ist_schoen-1.3639060 (30.03.2018). 27 Rakusa, Farbband und Randfigur, S.-38. 28 Vgl. beispielsweise Straňáková, Literatur als fremde Sprache, S.- 397; Schneider-Özbek, Katrin: Sprachreise zum Ich. Mehrsprachigkeit in den Autobiografien von Ilma Rakusa und Elias Canetti. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/ 2 (2012), S.-19-32, hier S.-26. Jesenovec fragt nach den „Versprachlichungsstrategien der Emotionen“ (S.-314) in Rakusas autobiografischem Text, da sie dort den Motivkomplex der Gefühlswelten eng verknüpft sieht mit dem literarisch nachvollzogenen Erinnerungsvorgang. Ihre These ist, dass Gefühle und Empfindungen oftmals nicht wörtlich benannt, sondern eher durch differierende Tempusverwendung, Perspektivenwechsel, ein bestimmtes Motivgeflecht oder die vorherrschende Montagetechnik herausgelesen werden können. Vgl. Jesenovec, Barbara: Emotionen als Erinnerungsimpuls im autobiographischen Text Mehr Meer von Ilma Rakusa. In: Kristian Donko/ Neva Šlibar (Hrsg.): Gefühlswelten und Emotionsdiskurse in der deutschsprachigen Literatur. Ljubljana 2012, S.-314-324. 29 Vgl. allgemein zum affective turn : Hardt, Michael: Foreword: What Affects are Good for. In: Patricia Ticineto Clough (Hrsg.): The Affective Turn . Theorizing the Social. Durham/ London 2007, S. IX-XIII. Zu der Bedeutung der Affektdimension im Fremdsprachenerwerb vgl. Pavlenko, Aneta: The Bilingual Mind and what it Tells us about Language and Thought. Cambridge 2014 und Pavlenko, Aneta: The Affective Turn in SLA: From ‚Affective Factors‘ to ‚Language Desire‘ and ‚Commodification of Affect‘. In: Danuta Gabrys-Barker/ Joanna Bielska (Hrsg.): The Affective Dimension in Second Language Acquisition. Bristol u. a. 2013, S.-3-25. 30 Pavlenko, The Affective Turn in SLA , S.-9. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 247 auf Aussagen zu differenten Nationalsprachen verengt. Intralinguale Varianten, intertextuelle Bezüge, Sozio- und Dialekte bleiben ausgeklammert. Dieser verengte Fokus folgt den Selbstaussagen der Autorin, die im eingangs genannten Zitat Mehrsprachigkeit als Nebeneinander abgrenzbarer Nationalsprachen konzeptualisiert. Der für Rakusas Werk überaus wichtige Aspekt, dass in den Texten intertextuelle Bezüge und Anspielungen vorhanden sind, 31 dass ihr Werk von verschiedenen Stilistiken, Genres 32 und Sprachvarietäten durchzogen ist, soll damit keinesfalls in Abrede gestellt werden. Um diesen aus versteckten oder direkten Zitaten entstehenden „Stimmenwechsel“, diesen „anderen Tonfall“ 33 soll es hier aber nicht gehen, auch nicht darum, wie der Rhythmus bestimmter Sprachen oder ihre eigene Übersetzertätigkeit sich auf ihr Werk auswirkt. 34 Vielmehr geht es um Mehrsprachigkeit im grundlegenden Sinne, um Differenzen zwischen verschiedenen Nationalsprachen, die für den Bereich der Affektivität bei Rakusa immense Bedeutung entfalten. 1 „Familiäres auf ungarisch“ Das Ungarische ist die Sprache der ersten Lebensjahre, die Rakusa als „erste und - ja - Mutter-Sprache [, die] […] häuslich und kindheitlich [ist], eine Küchen-, Katzen- und Kindersprache, affektiv, unmittelbar, zärtlich und unerwachsen“ 35 bezeichnet. Auffällig an der Formulierung ist, dass Rakusa dieser Sprache zwar den Status der Muttersprache zuerkennt und durch das vorausgehende in Parenthese gesetzte „- ja -“ die Semantik des Mütterlichen im Wort hervorhebt, diese Sprache aber nicht die Sprache der späteren literarischen Produktion ist. 31 Beispielhaft habe ich Rakusas intertextuelle Anleihen an anderer Stelle vorgestellt. Vgl. Wetenkamp, Lena: Europa erzählt, verortet, erinnert. Europa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2017, S.- 247f. Vgl. zudem ihre eigenen Aussagen zu ihren intertextuellen Anleihen: Rakusa, Farbband und Randfigur, S.-134. 32 Eine Auflistung der wichtigsten Motive und Genres nimmt Sieglinde Klettenhammer vor. Vgl. dies.: „Ich ist viele“: Transkulturelle Konstruktionen des Selbst in Ilma Rakusas Autobiographie Mehr Meer. Erinnerungspassagen . In: Christine Meyer/ Leslie A. Adelson (Hrsg.): Kosmopolitische ‚Germanophonie‘. Postnationale Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2012, S.-247-271, hier S.-259f. 33 Rakusa, Farbband und Randfigur, S.-134. Pasewalck klassifiziert Rakusas Texte bspw. als polyphon in dem Sinne, dass sie „sowohl interlingual als auch intralingual“ sind. Vgl. dies, „Als lebte ich in einem no man's land“, S.-388. Mit dieser Analyse entspricht sie einer wichtigen Position der Mehrsprachigkeitsforschung, die nationalsprachliche Differenzen mit anderen intralingualen Sprachdifferenzen in Verbindung bringt. Vgl. Dembeck, Till: Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit. Zur Einführung. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014, S.-9-38, hier S.-26. 34 Wie beispielsweise der Rhythmus von Marguerite Duras sich auf eine spezifische Textstelle auswirkt, erläutert Rakusa in Zur Sprache gehen , S.-49. 35 Ebd. , S.-29. 248 Lena Wetenkamp Wie die Ausführungen zu den weiteren Stationen der Sprachbiografie zeigen, gründet sich die schriftstellerische Identitätsfindung erst auf einem Zusammenspiel der unterschiedlichen Einzelsprachen. In Mehr Meer ist das Ungarische als „Kindersprache“ dem Bereich der Märchen und Kinderreime zugeordnet. So beispielsweise im Kapitel „Budapest, remixed“: Pascha, lehrte mich die Kinderfrau Piri, zeichne den Pascha. Sie nahm meine Hand mit dem zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmten Bleistift und führte sie: zwei Strichlein für die Augen, eines für die Nase, waagerecht der Mund und der Kopf rund. Der Hals ein senkrechter Strich, der Bauch ein großer Kreis, zwei Arme und Beine, und fertig ist der Pascha-Mann. Ungarisch reimte sich das Sprüchlein, so daß ich es mir schnell einprägen konnte: Vessző, vessző, vesszőcske, készen van a fejecske, hosszú nyaka, nagy a hasa, készen van a török pasa. 36 Die ungarischen Satzelemente sind ohne Übersetzung in den Text integriert und bilden einen Stolperstein im Lesefluss, gleichzeitig ergibt sich auch für die nicht sprachmächtigen Leserinnen und Leser der Eindruck, dass der Vers das zuvor auf Deutsch Gesagte wiederholt. Dies folgt vor allem aus der auch in den deutschen Worten verwendeten Reimstruktur, die vor allem bei „waagerecht der Mund und der Kopf rund“ das Schema eines Kinderreims aufruft. An anderer Stelle werden ungarische Wörter zwar in den Text integriert, für eine größere Lesefreundlichkeit jedoch in Klammern übersetzt: „Und das verzweifelte Mädchen, wie es seine Katze um Rat fragt: ‚Jaj, cicuskámmicuskám, mit csináljak? ʻ (Ach, Kätzchen-Miezchen, was soll ich tun? )“. 37 In diesem Zitat klingen gleich zwei Bereiche an, die Rakusa dem Ungarischen als „Märchen- und Gutenachtgeschichtensprache, […] Sprache der Kosenamen und liebevollen kleinen Flüche“ 38 zuerkennt: Der Bezug zum Märchen und die Verwendung von Kosenamen. Straňáková sieht die in Mehr Meer integrierten ungarischen Gedichte und Verszeilen als „Glücksmomente einer unsteten Kindheit“ 39 . Die ungarische Sprache ist also durch die Prägung in der frühsten Kindheit stark affektiv besetzt und kann die emotionale Kraft auch bei einer Aufrufung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter wieder entfalten. 36 Dies., Mehr Meer, S.-38f. 37 Ebd., S.-42. 38 Dies., Zur Sprache gehen, S.-29 39 Straňáková, Literatur als fremde Sprache, S.-402. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 249 2 Slowenisch - das „leichte Sprachgepäck“ Nicht alle in der Kindheit erlernten Sprachen sind aber gleichermaßen affektiv besetzt. 40 So gesellt sich zu der ersten Sprache des Ungarischen mit dem in der frühen Kindheit sich ereignenden Umzug nach Triest das Slowenische und Italienische, welche die Autorin später als „leichtes Sprachgepäck“ 41 bezeichnet, das sie auf allen weiteren Umzügen begleitet. Aber auch der Prozess der Aneignung dieses leichten Gepäcks ist eine Herausforderung: Ich bewegte mich zwischen fremden Gegenständen, umgeben von einer fremden Sprache. Die Gegenstände blieben, was sie waren, der Sprache näherte ich mich langsam an. Den Pelzhandschuh ans Gesicht gedrückt spitzte ich die Ohren. VRT. Garten. SMRT. Tod. Ich lernte NOČ, VLAK, DAN, KRUH. 42 Die auf der Inhaltsebene angesprochene Annäherung an die fremde Sprache des Slowenischen wird durch die Großschreibung auch grafisch verdeutlicht. Das Ungewohnte wird als sperriges Element, dessen Bedeutung sich erst erarbeitet werden muss, vom Rest des Textes abgesetzt. Nicht alle Worte erfahren im Text jedoch eine Übersetzung. Schneider-Özbek spricht solcherart Textelementen die Funktion einer „Rätselstruktur“ 43 oder „Chiffre“ 44 zu, die zur Entschlüsselung auffordert. Doch auch ohne Kenntnis des Slowenischen kann die Bedeutung der fremden Textelemente durch den Kontext schnell erschlossen werden. Die neuen Worte werden zudem auf Bedeutungen und Assoziationen hin befragt. Dies zeigt sich in einem gedanklichen Dialog mit der Cousine Marjeta: „Laß mich schlafen, denk an die Feen. VILE, das klang versöhnlich und beruhigend. Die VILE-Wesen walteten heimlich und still, während die VLAKI, die Züge, sich abrackerten.“ 45 Durch die nachgebildete Gesprächsstruktur, die die Sätze „Laß mich schlafen, denk an die Feen“ der Cousine zuschreibt, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob das sich anschließende Wort Vile eine direkte Übersetzung darstellt. Das nächste, durch Versalien grafisch hervorgehobene Wort Vlaki wird in dem Zusatz „die Züge“ jedoch direkt übersetzt. Durch Analogiebildung liest sich dadurch auch Vile als Übersetzung der Feen. Das Kind 40 Dies entspricht auch Studienergebnissen zum Zweitspracherwerb, die zeigen, dass jede neu erlernte Sprache mit einem unterschiedlichen emotionalen Gehalt versehen ist. Vgl. Pavlenko, The Affective Turn in SLA, S.-17. 41 Rakusa, Zur Sprache gehen, S.-7. 42 Dies., Mehr Meer, S.-45. 43 Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich, S.-20. 44 Schneider-Özbek, Katrin: (Liebes)Kampf der Kulturen und wortgewaltige Verzauberung. Interkulturalität in den autobiographischen Romanen von Natascha Wodin und Ilma Rakusa. In: andererseits 2 (2011), S.-171-184, hier S.-181f. 45 Rakusa, Mehr Meer, S.-46. 250 Lena Wetenkamp imaginiert die fremden Worte körper- und wesenhaft und schreibt ihnen Eigenschaften zu, die durch den ungewohnten sprachlichen Klang assoziativ ausgelöst werden. Dieses Vorgehen, dass Rakusa in poetologisch-reflexiven Notaten festhält und für eine ihrer Poetikdozenturen selbst analysiert, beschreibt sie wie folgt: „Die Wörter müssen Schatten haben. Das heißt? Sie sind körperhaft.“ 46 Gerade diese Schatten der Wörter können mit dem Begriff der „sprachlichen Affekträume“ gefasst werden, die sich auf andere Sprachen und Wörter hin öffnen können. Derart werden mit Feen und Zügen - Vile und Vlaki - zwei Elemente vergleichend in Beziehung gesetzt, die ganz unterschiedlichen semantischen Bereichen entstammen. Hier zeigt sich das Potenzial der Sprache, Dinge fremd zu machen und neue Bedeutungsebenen zu entfalten. Dass insbesondere mehrsprachige Autorinnen und Autoren oftmals einen unkonventionellen ‚neuen‘ Blick auf Sprache haben und neben der Bedeutung der Wörter gerade auch ihre Materialität, das Schriftbild oder die buchstäbliche Bedeutung einzelner Wortbestandteile herausstellen, kann als Konsens der Forschung gelten. 47 Die eingangs genannte These, dass bei Rakusa jede Sprache einen eigenen affektiv besetzten Gefühlsraum ausbildet, bestätigt sich in der Analyse der Selbstaussagen der Autorin auch für das Slowenische. Beispielhaft sei auf die Beschreibung eines Spaziergangs in Zürich verwiesen. In der deutschsprachigen Umgebung stellen Gespräche mit der Nachbarsfamilie eines jugoslawischen Generalkonsuls Differenz her: „Die Ausflüge mit den Čačinovičs: das war Inselgefühl. Wanderungen auf slowenisch, Erinnerungen auf slowenisch […].“ 48 Hier zeigt sich, dass Sprach- und Gefühlsebenen eng zusammenhängen, wenn sich mit der slowenischen Sprache ein Gefühl der Abgrenzung, ein Inselgefühl verbindet, das nicht mit der gewohnten Züricher Sprachumgebung vereinbar ist, sondern einen anderen Raum ausbildet. Der slowenischen Sprache werden eigene Erinnerungen zugeschrieben, die nur in dieser möglich sind und in dieser konserviert werden. 46 Rakusa, Farbband und Randfigur, S.-49. 47 Vgl. Kilchmann, Esther: Von der Erfahrung zum Experiment: Literarische Mehrsprachigkeit 2000-2015. In: Corinna Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000-2015. München 2016, S.- 177-186, hier S.- 182f. Dieser Konsens wird aber von manchen Autoren kritisch hinterfragt. So hat Stanišić die These, dass mehrsprachige Autorinnen und Autoren die selbstgewählte Literatursprache durch eine ungewohnte Sicht auf diese bereichern, als eine seiner drei Mythen über das Schreiben der Migranten herausgestellt. Vgl. Stanišić, Saša: Wie ihr uns seht. Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten. In: Uwe Pörksen/ Bernd Busch (Hrsg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Göttingen 2008, S.-104-109. 48 Rakusa, Mehr Meer, S.-190. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 251 3 „Saloppes auf englisch“ Neben dem Slowenischen und dem Italienischen (für das sich sehr wenige Textbelege finden) prägt noch eine dritte Sprache die Triestiner Zeit. Englisch war im in zwei Zonen aufgeteilten Triest der Nachkriegszeit die Sprache der alliierten Soldaten, die immer „ein Hauch von Zauber“ 49 umgab. Dieser Sprache wird aber erst später in der Biografie prägende Kraft zuerkannt: „Englisch […] blieb mir als Kind verschlossen“ 50 . Die Unkenntnis dieser Sprache bewirkt laut Rakusa das Gefühl des Respekts: „Ich kenne dich nicht, aber ich achte dich. Ich erkenne meine eigene Beschränktheit und bin von deinem Anderssein fasziniert.“ 51 In ihren selbstreflexiven Ausführungen zur eigenen Sprachbiografie finden sich jedoch an manchen Stellen durchaus englischsprachige Textelemente. Eine Lesart könnte sein, dass hier der lingua franca des europäischen Raums zu ihrem Recht verholfen wird. Straňáková spricht der Verwendung des Englischen in Mehr Meer jedoch eine Präzisierungsfunktion zu, da häufig auf Englisch „Erfahrungen und Erlebnisse auf den Punkt gebracht werden“. 52 Dies ist sicherlich für einige der in den Text integrierten Ausdrücke zutreffend, die eher dem Bereich eines Fachvokabulars zuzurechnen sind, beispielsweise wenn die Autorin vom „Reich der expanded minds “ 53 spricht. Ein genauer Blick zeigt, dass die englischsprachigen Ausdrücke in Mehr Meer - entgegen der Klassifikation des Englischen als Sprache des Saloppen - sich oftmals aber auch auf besondere Gefühlswelten beziehen. Nur ein Beispiel soll dies verdeutlichen. In ihren Ausführungen zum Raum der Kindheit heißt es: „Die kakanische Provinz hat meine Kindheit geprägt, und wo immer ich auf ihre Bilder stoße, beginnt etwas in mir zu schwingen und zu klingen: Resonanz, Response.“ 54 Obwohl es hier um einen Raum geht, für den nicht das Englische, sondern eine gelebte Vielsprachigkeit kennzeichnend ist, arbeitet der Text mit dem englischen Ausdruck der „Response“ um das Gefühlsleben zu beschreiben. Dem Erwachsenen-Ich, das diese Beobachtung retrospektiv mitteilt, stehen später gelernte Sprachen und damit Gefühlsregister zur Verfügung, die in dieser Äußerung zum Ausdruck kommen. Ein Blick auf das Gesamtwerk der Autorin offenbart, dass gerade das Englische eine stark affektiv besetzte Sprache ist, die aber auch Raum für schriftstellerische Experimente ermöglicht. Dies zeigt sich u. a. im Gedichtband Love after 49 Rakusa, Ilma: Wo fang ich an, wo hör ich auf? Von den porösen Grenzen der Haut. In: Dževad Karahasan/ Markus Jaroschka (Hrsg.): Poetik der Grenze . Über die Grenzen sprechen - literarische Brücken für Europa. Graz 2003, S.-16-27, hier S.-25. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Straňáková, Literatur als fremde Sprache, S.-402. 53 Rakusa, Mehr Meer, S.-123 [Herv. i. Orig.]. 54 Rakusa, Zur Sprache gehen, S.-14. 252 Lena Wetenkamp love - im Untertitel mit Acht Abgesänge betitelt - aus dem Jahr 2001. Die hier versammelten acht Gedichte drehen sich alle um eine vergangene Liebe, die zwischen zwei Menschen mit zwei Sprachen gelebt wurde und die sich nun auch im Abgesang zweisprachig verabschiedet. Im Gedicht „Nevermore“ bedient sich beispielsweise die Beschreibung des einstmals geliebten Gegenübers beider Sprachen, um die zu spät erkannten Schattenseiten festzuhalten: „[…] Mannshoher Mangel. Du Charmeur, du Blender, du / Kräfteverschwender, du Seelenfresser. Oppressor.“ 55 Und auch das Gedicht „Limbo (II)“ montiert beide Sprachen zu einem Gefühlsamalgam. […] jauchzend einmal hypnotisch high mit Wiegen Stiegen up in the sky doch darf es nicht sein wet shock so rasend runter ins Kellerreich aller Mären ins Unterweltzelt zu den Chimären […] 56 Bei diesen Texten kann tatsächlich von einer Hybridität des sprachlichen Ausdrucks gesprochen werden, der das Deutsche und das Englische in einen spannungsvollen Dialog bringt. 57 Eine einzelne Sprache scheint an manchen Stellen nicht genug Wörter zu haben für die Vielzahl an Gefühlen, die am Ende der Liebe stehen. Auffällig ist jedoch, dass die einzelnen Zeilen zumeist (bis auf die Ausnahme „hypnotisch high“) in nur einer Sprache verfasst sind. Die sprachliche Hybridität ergibt sich erst durch den Gesamteindruck des Gedichts. Die Autorin spricht von einem „emotionale[n] rhythmische[n] Parlando, das sich auch einer zweiten Sprache, des Englischen, bediente“ 58 . Der Verwendung des Englischen kommen in Rakusas Texten und ihrer Sprachbiografie demnach ganz 55 Rakusa, Ilma: Love after love. Acht Abgesänge. Frankfurt am Main 2001, S.-12. 56 Ebd., S.-37. 57 Sgambati zeigt anhand einer eigenen Übertragung der Gedichte ins Italienische, welche Schwierigkeiten die Mehrsprachigkeit für eine Übertragung in eine dritte Sprache mit sich bringt. Vgl. Sgambati, Gabriella: Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung. Translationspoetiken in den Texten von Ilma Rakusa und Yoko Tawada. In: Lavinia Heller (Hrsg.): Kultur und Übersetzung . Studien zu einem begrifflichen Verhältnis. Bielefeld 2017, S.- 275-302, hier S.- 289f. Auch Pasewalck bezieht sich in ihrer Interpretation der Mehrsprachigkeit von Rakusas Texten auf dieses Gedicht. 58 Rakusa, Zur Sprache gehen, S.-124. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 253 unterschiedliche Funktionen zu: Zum einen präzisiert und expliziert die Sprache, zum anderen gibt aber auch sie starke Affekte wie die Liebe wieder, die durch biografische Erfahrungen mit ihr verbunden sind. 4 „Emotionales auf russisch“ Auch das Russische ist keine der in der Kindheit gelernten Sprachen, sondern fügt sich der Sprachbiografie erst spät hinzu. Rakusa führt aus, dass nach der frühen Kindheitssprache des Ungarischen alle weiteren Sprachaneignungen „etwas Forschendes“ 59 hatten, es also um das bewusste Erlernen einer Sprache ging. So kann sie ihre Faszination für die russische Sprache auch konkret in Worte fassen: es sind der „stupende[] Reichtum an affektiven Suffixen“, die „emotionale Bandbreite“ und das „Kasussystem (mit den kompakten synthetischen Endungen)“ 60 , die die Autorin begeistern. Zudem ist es vor allem das Melodische der Sprache, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. 61 Rakusa, die sich vor allem als Lyrikerin empfindet, die „mit dem Ohr schreib[t]“ 62 und der Rhythmus und Klang die wichtigsten Kriterien für den sprachlichen Ausdruck sind, sieht auch heute noch die „Endloslitaneien russisch-orthodoxer Liturgien als ideale Mittel, schwebende Aufmerksamkeit zu erzeugen“. 63 Das aus Märchen und Andachten bekannte Monotone der Sprache versetzt sie in einen bestimmten Gefühlszustand, „ein unzielgerichtetes Denken, eine kontemplative Verfasstheit, die äußerst rezeptiv, ja durchlässig ist“. 64 Das Russische ist die Sprache der geistigen Arbeit, die Sprache über deren Literatur sie ihre Doktorarbeit verfasst und aus der sie u. a. übersetzt. Aber zugleich ist die Sprache auch mit dem Studienjahr in Leningrad verknüpft und an diese biografische Erfahrung gebunden, die sie nachhaltig vermisst: „Ich vermisse Bekanntes, ich sehne mich nach Unbekanntem (auf russisch skutschaju und toskuju ).“ 65 Auf Textebene wird hier die deutsche Bezeichnung verwendet, aber zugleich um die russischen Wörter ergänzt, ohne die das Gefühl nicht vollständig transportiert werden kann. Aber 59 Ebd., S.-30. 60 Ebd. 61 Die Materialität der Sprache, die aus Rhythmus und der je spezifischen Melodie resultierenden Emotionen werden in letzter Zeit auch in Studien zum Zweitspracherwerb verstärkt in den Fokus genommen. Vgl. Pavlenko, The Bilingual Mind, S.-282. 62 Rakusa, Ilma: Nur was sich übersetzt wird wieder lebendig. Rede gehalten am 24. Juni 2007 im Musil-Institut anläßlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für literarische Übersetzung. In : literatur/ a. Jahrbuch (2007), S.-94-100, hier S.-96. 63 Rakusa, Ilma: Listen, Litaneien, Loops - zwischen poetischer Anrufung und Inventur. München 2016, S.-7. 64 Ebd. 65 Dies., Mehr Meer, S.-304. 254 Lena Wetenkamp auch umgekehrte Verfahren findet man in ihren Texten. So wechselt der Text an anderer Stelle unvermittelt ins Russische: „Mir wird sofort warm, schon als der erste Gesang steigt. Und dann das nicht enden wollende ‚Gospodi pomiluj, gospodi pomiluj, gospodi pomiiiii-luij‘. […] Herr, erbarme dich.“ 66 Hier fällt auf, dass im Anschluss an die russischen Wörter (die im lateinischen Alphabet wiedergegeben werden, und nicht im kyrillischen und damit den anderen verwendeten Sprachen angenähert werden) direkt die deutsche Entsprechung geliefert wird. Auch für das Russische zeigt sich, dass Klang und Rhythmus bestimmte Gefühle auslösen, die an dieser Stelle zwar nicht direkt, sondern nur durch das Adjektiv „warm“ angedeutet werden. Doch auch hier gehen sprachlicher Klang und lebensgeschichtliche affektive Bezugnahme eine enge Verbindung ein. 5 Die „Schreibsprache“ Deutsch Die durch einen Umzug der Familie von Triest nach Zürich erfolgte Begegnung mit der deutschen Sprache wird als tiefgreifender Einschnitt und in der Rückschau als Betreten einer neuen Heimat beschrieben: „Nach drei Sprachen, die ich zuvor erlernt hatte, war diese vierte Fluchtpunkt und Refugium. Hier wollte ich mich niederlassen, hier baute ich mir mein Haus. Solide sollte es sein.“ 67 Die Wahl dieser Sprache als Quelle des späteren literarischen Ausdrucks wird damit begründet, dass erst in dieser vierten Sprache „alle Ausdrucksregister“ 68 zur Verfügung stehen. Rakusa bezeichnet das Deutsche in ihren poetologischen Texten als ihre wichtigste Sprache: die Sprache meiner literarischen Texte, die Sprache, in die ich […] übersetze. Nur auf Deutsch kann ich mich bis in feinste stilistische Nuancen hinein ausdrücken, und geht es um Selbstgespräche, finden sie größtenteils deutsch statt. 69 Hier zeigt sich erneut, dass es für Rakusa keine dichotomische Unterscheidung zwischen Mutter- und Fremdsprache gibt, sondern mehreren Sprachen zuerkannt wird, Zugehörigkeit performativ umzusetzen, und auch eine der Sprachbiografie spät hinzugefügte Sprache die größte Bedeutung entfalten kann. Doch 66 Ebd., S.-246. Diese russischen Worte werden in Mehr Meer auf S.-177 im gleichen Wortlaut und gleicher lautlicher Schreibweise zitiert, um erste Erfahrungen in einem Kirchenchor zu beschreiben. 67 Ebd., S.-107. 68 Rakusa, Ilma: Über mich. Vorstellungsrede bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1996. Online unter: www.ilmarakusa.info/ Mich. pdf (30.03.2018). 69 Rakusa, Zur Sprache gehen, S.-8. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 255 auch das Lernen des Deutschen wird als widerständiger Prozess dargestellt, wenn es über die Zeit in Zürich heißt: Die Tage waren voll von Neuem. Hunderte von fremden Wörtern prallten an sein Ohr und forderten: Lern mich, versteh mich. Das Kind lernte Hochdeutsch und zugleich den Dialekt, den hier alle sprachen. Eine doppelte Anstrengung. 70 Ähnlich wie beim Erlernen des Slowenischen vollzieht sich auch die Aneignung der zunächst fremden deutschen Sprache in einem ständigen Abgleich mit den schon bekannten Ausdrücken und Wörtern. Neue Dinge, wie der Schnee, den das Kind in Zürich zum ersten Mal in seiner alles bedeckenden und weltverändernden Schönheit erlebt, werden versucht, in schon bekannte semantische und klangliche Felder einzuordnen: „Schnee! Das ungarische Wort hó reimte auf tó , ló , só , szó , auf See, Pferd, Salz, Wort, aber mit alledem hatte der Schnee nichts zu schaffen, weich und leicht, wie er war.“ 71 Das neue deutsche Wort kann keinem schon bekannten Gegenstand zugeordnet werden und auch der Vergleich mit den ungarischen Reimworten führt zu keinem tieferen Verständnis. Für diesen neuen Bereich gibt es keine sprachlichen Vergleichsparameter, die durch Ähnlichkeitsbildung abgerufen werden können. Dabei ist die deutsche Sprache stark mit der Welt der Bücher verknüpft. Das Buch stellt ein „Wunderding der Verwandlung, eine Schatztruhe voller Geschichten, eine aus Buchstaben entsprungene Welt“ 72 dar, die zum einen eine Flucht in die Abgeschiedenheit bedeutet, zum anderen aber auch schon im frühen Kindesalter die Grenzen zwischen Sprachen und Ländern sowie zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufhebt. Aus dem Gelesenen und in den neuen Wörtern erschafft sich die Ich-Erzählerin schon früh eine eigene Welt, die sich von der ihrer Umgebung unterscheidet: „Mein Innenleben hatte einen anderen Zungenschlag. Diesen pflegte und hegte ich wie etwas kostbares Eigenes.“ 73 Die neue Sprache wird als Besitz ausgewiesen, den es zu hüten und zu pflegen gilt. Dieses Besitzgefühl scheint nach Analyse der poetologischen Texte nur der deutschen Sprache eigen. Damit wird der späteren Sprache des literarischen Schaffens in der kommentierenden Rückschau schon im Kindesalter ein besonderer Stellenwert eingeräumt. 70 Rakusa, Mehr Meer, S.-89. 71 Ebd., S.-91 [Herv. i. Orig.]. 72 Ebd. , S.-105. 73 Ebd., S.-106. 256 Lena Wetenkamp 6 „Gefühlsalphabete“ Die Erfahrung der Mehrsprachigkeit eröffnet durch jeweils neue Klänge und Assoziationen spezifische Verknüpfungen von Sprache und Erleben, sprachliche Hallräume der Gefühle. Dabei werden sogar einzelne Wörter mit bestimmten Emotionen verknüpft: Beim Anblick der Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht sann ich über ihre Namen nach. Sie stimmten mich traurig. […] Abschied war auch ein solches Wort. Und Zug und Gleis und Schnee und SMRT. Tod. Reise war ein halbtrauriges Wort, genauer ein dreivierteltrauriges. 74 Bei den Worten „Abschied“ und „Reise“ zeigt sich, dass durch bestimmte Erlebnisse ausgelöste Affekte nachhaltig mit den Worten ihrer Bezeichnung verknüpft sind. Die biografischen Stationen der Kindheit bilden demnach jeweils sprachspezifische Affekträume aus, die dabei jedoch nicht an reell vorhandene Räume und Landschaften gebunden sind: „Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen, die Speisen, die Gesten. Gefühlsalphabete.“ 75 Sgambati spricht der Sprache in der Analyse von Mehr Meer den Status zu, als „Explorationsinstrument“ zu fungieren, das „innerhalb des Identitätskonstruktionsprozesses auf eine Selbstverortung abzielt“. 76 Auch Schneider-Özbek geht es um den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in der Biografie der Autorin. Sie klassifiziert Rakusas Thematisierung des Spracherwerbs, das Ringen um ein eigenes Idiom in Mehr Meer , als „Reflexion über Mehrsprachigkeit als Verfahren, um die Welt zu begreifen“ 77 . Auch diese Vorstellung findet sich in Selbstaussagen der Autorin: Über die Sprache erst kommt der Autor zu sich selbst. […] Im Falle von Autoren, die nicht in ihrer ursprünglichen Sprache schreiben, ist diese Herausforderung eine doppelte, da sprachliche Findung erschwert ist und zugleich stärker dem Postulat unterliegt, Selbstfindung zu gewährleisten. 78 Die in der Kindheit erlernten Sprachen stehen Rakusa als erwachsener Autorin nebeneinander und gleichzeitig zur Verfügung, jede Sprache bildet aber einen eigenen Raum, eine Facette der eigenen Identität aus, die zwar begrenzt, aber gleichzeitig offen zu anderen Affekträumen ist: 74 Ebd., S.-48. 75 Ebd., S.-14. 76 Sgambati, Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung, S.-276. 77 Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich, S.-20. 78 Rakusa, Ilma: Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Stefan Zweig Poetikvorlesung. Wien 2014, S.-30. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 257 Wenn ich, dreisprachig aufgewachsen, von einer Sprache zur anderen wechselte, war es wie das - lustvolle - Überqueren imaginärer Grenzen. Die Grenzlinien verliefen irgendwo in mir selbst, subkutan, ich passierte sie, um ein weiteres Zimmer meiner Identität zu betreten. 79 Diese Differenzerfahrung, das Bewusstsein für in Sprachen manifest werdende Unterschiede, wird die Autorin später für das eigene Schreiben - und ihre Übersetzungstätigkeit - produktiv machen. Auch wenn nur die deutsche Sprache als Sprache des literarischen Ausdrucks erwählt wird, ist diese laut der Autorin mit fremdsprachigen Elementen durchsetzt: „Es sind kleine, aufgeladene Teilchen, die Emotionen transportieren oder Assoziationsfächer entfalten, die Erinnerungen kristallisieren oder Fremdheit markieren.“ 80 Diese Elemente sind für ihre eigene literarische Sprache essentiell und können dem Zitat nach die verschiedensten Funktionen einnehmen. Diese „aufgeladenen Teilchen“, die einzelnen Sprachschichten, beeinträchtigen das Verständnis der Texte jedoch nicht, sondern sind vielleicht eher als zusätzlicher Interpretationsraum zu verstehen, der sich einer ebenfalls mehrsprachigen Leserschaft eröffnet, die mit den Konstruktionsprinzipien anderer Sprachen vertraut ist. 7 Mehrsprachigkeit und poetologische Texte Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass gerade die poetologischen Texte den emotionalen und affektiven Aspekt des Spracherwerbs vertiefen. Damit fügt sich Rakusa in die Reihe von Autorinnen und Autoren ein, die „als Sprachwechsler ihr mehrsprachiges literarisches Schreiben […] selbstreflektorisch kommentieren“ 81 - wie Blum-Barth gerade für interkulturelle Gegenwartsautoren festgehalten hat. Wie sind aber Poetikdozenturen als Mischung von Autobiographie, Sprachreflexion und Produktionsästhetik 82 und andere selbstreflexive Texte in Hinblick auf eine Literatur der Mehrsprachigkeit zu sehen? Können sie zu diesem Korpus hinzugerechnet werden, da sie selbst mit Mehrsprachigkeit experimentieren? Oder sind solcherart Texte, die mit der Sprachreflexion nur eine von fünf möglichen Diskursivierungsformen von Mehrsprachigkeit aufweisen, nicht eher der Theorie zuzuschlagen? 79 Dies., Wo fang ich an, wo hör ich auf? , S.-25. 80 Rakusa, Ilma: Der Tumult des Kopforchesters. In: Uwe Pörksen/ Bernd Busch (Hrsg.): Eingezogen in die Sprache, S.-76-80, hier S.-77. 81 Blum-Barth, Natalia: Einige Überlegungen zur literarischen Mehrsprachigkeit, ihrer Form und Erforschung - zur Einleitung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6/ 2 (2015), S.-11-16, hier S.-12. 82 Vgl. Heimböckel, Dieter: Einsprachigkeit - Sprachkritik - Mehrsprachigkeit. In: Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.): Philologie und Mehrsprachigkeit, S.-135-156, hier S.-145. 258 Lena Wetenkamp Kilchmann hat darauf hingewiesen, dass Mehrsprachigkeit als Verfahren und Thema im letzten Jahrzehnt zunächst vor allem in diesen öffentlichen Reflexionen oder poetologischen Essays in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eingeführt wurde. 83 Ihre Diagnose, dass sich in der Entwicklung literarischer Mehrsprachigkeit der Fokus „von der Sprachbiographie des Autors bzw. dem soziolinguistischen Produktionskontext eines Werkes auf die in den Texten inszenierte Eigendynamik und Beweglichkeit von Sprachen wie von Sprache überhaupt“ 84 verschiebt, also eine Wendung weg von der poetologischen Reflexion über Mehrsprachigkeit hin zum literarischen Sprachexperiment stattfindet, ist in Rakusas Texten eher nicht zu verzeichnen. Denn auch in ihren poetologischen Schriften entwickelt sie keine experimentelle mehrsprachige Schreibweise, kein genuin eigenes Idiom, wie es beispielsweise Oskar Pastiors Frankfurter Vorlesung auszeichnet, die den Leserinnen und Lesern an manchen Stellen nur schwer verständlich ist. 85 Rakusas Einbezug anderer Sprachen ist im Gegensatz dazu immer lesefreundlich gestaltet. 86 Dennoch enthüllt eine Analyse ihrer poetischen Autobiographie zusammen mit der ergänzenden Lektüre der anderen poetologischen Texte eine intensive Auseinandersetzung mit der Bedeutung verschiedener Sprachen, ein Nachvollziehen der eigenen Sprachbiografie und bildet damit den Entwurf eines Modells einer sprachgebundenen affektiven Weltaneignung, in dem sich unterschiedliche Zugehörigkeiten ausbilden. Von Rakusa gibt es drei publizierte Poetikdozenturen sowie eine Münchner Rede zur Poetik und mehrere weitere autoreflexive Essaytexte, die viele Forschungspositionen zu ihren literarischen Werken maßgeblich bestimmen. Diese Tatsache kann als Problem aufgefasst werden, weil viele Forschungspositionen die in poetologischen Selbstreflexionen getätigten Aussagen von Autorinnen und Autoren über ihre eigenen Werke für die wissenschaftliche Analyse der Texte übernehmen und sich Literaturproduktion und -interpretation damit in einem nicht abschließbaren Zirkel drehen. 87 Kilchmann spricht hier von einem 83 Vgl. Kilchmann, Von der Erfahrung zum Experiment, S.-179. 84 Ebd., S.-186. 85 Vgl. Pastior, Oskar: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main 1994. 86 Straňáková kommt hier allerdings zu einer anderen Einschätzung und sieht auch bei Rakusa den Wunsch nach einem eigenständigen Idiom gegeben. Laut ihr verdankt Rakusa Pastior die Erkenntnis, dass ein Verständnis der Sprache auch allein über Musikalität und Rhythmus erfolgen kann. Vgl. Straňáková, Literatur als fremde Sprache, S.-398. 87 Diese Kreisbewegung zwischen Literatur und Forschung sei kurz an einem Beispiel verdeutlicht: Rakusa selbst gibt in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Übersetzungstätigkeit an, dass vor allem in ihren Erzählungen „fremde[ ] Töne hörbar […] [seien], signalisiert durch Namen, ungewöhnliche Redewendungen oder Zitate“; Rakusa, Schriftsteller und Übersetzer, S.-35. Diese von der Autorin getätigte Interpretation ihres eigenen Werks wurde in verschiedenen Sekundärtexten mehr oder weniger direkt übernommen, Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa 259 Aufweichen der Grenzen zwischen Primär- und Sekundärtexten, da Autorinnen und Autoren „zunehmend zum Dialogpartner“ 88 für die Literaturwissenschaft werden. Die poetologischen Texte können aber auch ein großer Gewinn sein, wenn man diese nicht im Sinne eines Universalschlüssels zum Verständnis der fiktionalen literarischen Texte nimmt, sondern als eigenständige ästhetische Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Erlebnis der Mehrsprachigkeit. 8 Schlussbetrachtung Rakusas Auseinandersetzungen mit der eigenen Mehrsprachigkeit sind von zwei Tendenzen gekennzeichnet. Zum einen äußert sie das Bedürfnis, alle ihr zur Verfügung stehenden Sprachen in einen „vielsprachig-vielstimmige[n] Diskurs [zu integrieren], der als deutsch-ungarisch-slowenisch-russisch-französisch-englischer freilich alle Leserkapazitäten sprengen würde.“ 89 Ein solcher Wunsch nach einem Ausdruck, der alle Sprachen umfasst, wird in der Untersuchung von Texten mehrsprachiger Autoren und Autorinnen als „präbabylonische Sprachphantasie“ bezeichnet, dem in die Kindheit rückprojizierten Wunsch nach einer Sprache, die alle dem Kind bekannten Sprachen integriert und Sprachgrenzen aufhebt, nach einem polyphonen Sprechen, das Raum für feinste Gefühlsnuancen bietet, mit dem sich alles sagen lässt und das auch dann noch auf wundersame Weise untergründig fortwirkt, wenn einem diese Sprachen längst abhanden gekommen sind. 90 So die Charakterisierung von Brigitta und Thomas Busch, die sich dem Phänomen dieser präbabylonischen Sprachfantasie bei verschiedenen Autoren annehmen. wenn es beispielweise bei Sgambati in einem Aufsatz als Analyse heißt: „In ihren Erzählungen sind fremde Töne hörbar, signalisiert durch Namen, ungewöhnliche Redewendungen oder Zitate.“ Sgambati, Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung, S.-281, oder (etwas abgewandelt) bei Straňáková: „Auf formaler Ebene stolpert der Leser bei beiden Schriftstellerinnen [Rakusa und Brezna, LW] permanent über nichtdeutsche Begriffe, Redewendungen, Anspielungen auf Kultur- und Lebenswissen und literarische Zitate.“ Straňáková, Literatur als fremde Sprache, S.-400. 88 Kilchmann, Von der Erfahrung zum Experiment, S.-179. Dass dies auch daran liegt, dass manche der behandelten Autorinnen und Autoren selbst promoviert haben, auch darauf macht Kilchmann aufmerksam. Dieser Befund trifft auch auf Rakusa zu, die mit einer Arbeit zum „Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur“ im Bereich der Slawistik promoviert wurde. 89 Rakusa, Zur Sprache gehen , S.-16. 90 Busch, Brigitta/ Busch, Thomas: Die Sprache davor. Zur Imagination eines Sprechens jenseits gesellschaftlich-nationaler Zuordnungen. In: Michaela Bürger-Koftis/ Hannes Schweiger/ Sandra Vlasta (Hrsg.): Polyphonie. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010, S.-81-103, hier S.-85f. 260 Lena Wetenkamp Auf der anderen Seite spricht Rakusa jeder Sprache das Potenzial zu, eine ganz eigene Welt zu entfalten. Die verschiedenen Sprachen bieten einen je eigenen Zugang zu Erlebnissen, jede Sprache ist mit einem eigenen Erfahrungsraum versehen und nicht jedes Wort findet eine absolute Entsprechung in einer anderen Sprache. So bilden bei ihr die einzelnen Sprachen ganz unterschiedliche Affekträume aus und ihnen werden damit bestimmte Gefühls- und Identitätsbereiche zugeschrieben - wie das eingangs genannte Zitat zeigt. Damit wird der polyphone Raum der Mehrsprachigkeit als bereichernder Bezugsraum entworfen, der die schriftstellerische Identitätsbildung im Austausch mit den verschiedenen Sprachen überhaupt erst ermöglicht. Oder in Rakusas eigenen Worten: „Denke ich an mein vielstimmiges Kopforchester, bin ich in der Tat viele, aber diese Vielheit ist nicht Zerreißprobe, sondern Bereicherung.“ 91 91 Rakusa, Der Tumult des Kopforchesters, S.-77. Geschichte in Sprachen. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous Susanne Zepp 2007 hat Stefan Willer in einem Essay über die Selbstübersetzungen des französisch-deutschen Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt das berühmte Zitat des Autors, dass jeder Schriftsteller zweisprachig sei, und diese Zweisprachigkeit zu einem Neuerleben in der anderen Sprache führe, ausführlich kommentiert. 1 Stefan Willer versuchte sich vom Begriff der Mehrsprachigkeit für das Werk von Goldschmidt zu lösen, indem er Zweit-Sprachigkeit von Zwei-Sprachigkeit zu unterscheiden suchte. Dies ist nicht der einzige Versuch, den Begriff der Mehrsprachigkeit für das Werk Goldschmidts zu vermeiden. So hat etwa Tim Trzaskalik seiner Monographie über Georges-Arthur Goldschmidt den Titel Gegensprachen gegeben. 2 Willer wählte den Begriff der Andersprachigkeit aufgrund der Unterscheidung von Zweit-Sprachigkeit von Zwei-Sprachigkeit. Damit ging es Willer um die Reihenfolge der erlernten Sprachen, in der die erste deutlich früher beherrscht, und danach in eine zweite übersetzt werde. Es sei gerade diese Abfolge, die als zentraler Impuls der künstlerischen Arbeit von Goldschmidt verstanden werden müsse. Dieser Hinweis von Willer ist für die folgenden Überlegungen eine wichtige Anregung, denn sowohl für Georges-Arthur Goldschmidt wie auch für Hélène Cixous ist das Deutsche Muttersprache im ganz wörtlichen Sinn. Beider Werke sind gekennzeichnet von einer Vielsprachigkeit, die in den jeweiligen Texten ganz unterschiedliche semantische Zusammenhänge zu markieren vermag. Dabei wird das Nachdenken über die Wahl der Sprache, 1 Willer, Stefan: Selbstübersetzungen. Georges-Arthur Goldschmidts Anderssprachigkeit. In: Susan Arndt/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer (Hrsg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007, S.-264-281. 2 Trzaskalik, Tim: Gegensprachen. Das Gedächtnis der Texte. Georges-Arthur Goldschmidt. Frankfurt am Main 2007. 262 Susanne Zepp so meine These, zum Modus der sprachlichen Reflexion von Geschichtserfahrung. Das Französische wie das Deutsche werden im literarischen Werk von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous - in je unterschiedlicher Art und Weise - auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin untersucht, der Geschichte des 20. Jahrhunderts sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Damit sind sie auf das Engste mit dem übergreifenden Erkenntnisinteresse dieses Bandes verbunden, insbesondere, was die Verflechtung von Affektivität und literarischer Mehrsprachigkeit betrifft. Denn es geht in beiden Werken, das wird im Folgenden zu zeigen sein, nicht um zu objektivierende Betrachtungen, sondern um die Relationalität von Affektivität, die im Kontext von Sprache und Geschichte wirksam wird. Dass auf diese Weise über das Individuum hinausgehende Fragen von Geschichtserfahrung reflektiert werden, ist dabei kein Widerspruch. Die einleitend zitierten Überlegungen zur ‚Anderssprachigkeit‘ sind auch mit dem Umstand verbunden, dass - zumindest in der deutschsprachigen Romanistik - der Begriff der Mehrsprachigkeit vor allem für linguistische und fachdidaktische Zusammenhänge Anwendung findet. Dabei ist der Autorin des UTB-Bandes Mehrsprachigkeit durchaus zuzustimmen, dass Mehrsprachigkeit von einem Randthema zu einem zentralen Thema geworden [ist], sowohl gesellschaftlich-politisch als auch wissenschaftlich betrachtet. Lange Zeit wurde Einsprachigkeit als Normalfall angesehen, Zwei- oder Mehrsprachigkeit - ob es um einzelne Sprecher_innen, Regionen oder Länder ging - als Sonderfall. Angesichts weltweiter wirtschaftlicher Verflechtungen und politisch-räumlicher Neukonfigurationen, angesichts weitverbreiteter Mobilität, Migration und Teilnahme an transnationalen Kommunikationsnetzwerken, also angesichts von Phänomenen, die unter dem Stichwort Globalisierung zusammengefasst werden, wird Mehrsprachigkeit immer mehr als Teil der Alltagsrealität wahrgenommen. 3 Als beteiligte Disziplinen der Mehrsprachigkeitsforschung nennt Brigitta Busch die Soziolinguistik, die Sprachlehr- und -lernforschung, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik und andere Zweige der Sprachwissenschaft, erwähnt aber auch die Literaturwissenschaft, des Weiteren Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft. In diesen Disziplinen wird jedoch der Begriff der Mehrsprachigkeit nicht einheitlich gebraucht, zuweilen wird zwischen Bilingualismus und Trilingualismus differenziert; oftmals werden auch die Begriffe Diversität, Redevielfalt, Heteroglossie an seine Stelle gesetzt. Diese wichtigen linguistischen Differenzierungen sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen, wenn über die Beziehung von literarischer Mehrsprachigkeit, Geschichte und Affektivität nachgedacht wird. Für diesen Zusammenhang ist vielmehr 3 Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit. Wien 2017, S.-6. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 263 Jacques Derridas Essay Le monolinguisme de l’autre (1996, Die Einsprachigkeit des Anderen ) hilfreich, der Geschichtserfahrung und Sprachphilosophie ebenso programmatisch miteinander verknüpft wie das Nachspüren der Affektivität von Sprachen. Im Falle Derridas ist der Ausgangspunkt das Verwiesen-Sein auf das Französische und die Sehnsucht nach dem Hebräischen und auch dem Arabischen. Der über diesen Zusammenhang hinausweisende Akzent des Essays, der für die hier im Zentrum stehende Bedeutung von Mehrsprachigkeit wesentlich ist, findet sich im folgenden Passus gebündelt: Il est impossible de compter les langues, voilà ce que je voulais suggérer. Il n'y a pas de calculabilité, dès lors que l'Un d'une langue, qui échappe à toute comptabilité arithmétique, n'est jamais déterminé. Le Un de la monolangue dont je parle, et celui que je parle, ne sera donc pas une identité arithmétique, ni même une identité tout court. 4 Einsprachigkeit ist nicht gleich Identität, so Derrida. Entscheidend ist zudem der mit diesem Essay etablierte Zusammenhang von geschichtlicher Erfahrung und Sprachphilosophie. 2004 hat der Wiener Romanist und Sprachwissenschaftler Georg Kremnitz einen Band vorgelegt, der über disziplinäre Grenzen hinaus die Frage nach der Mehrsprachigkeit in der Literatur gestellt hat. 5 Der seinem Band beigegebene Forschungsbericht zur literarischen Mehrsprachigkeit unterstreicht, dass dieser Zusammenhang vor allem in der Betrachtung und Analyse von Beispielfällen bearbeitet wird. An diesem Befund hat sich auch gut 15 Jahre nach Erscheinen des Bandes wenig geändert; dies ist in einem Fach wie der Romanistik auch kaum anders zu erwarten, zu unterschiedlich sind die historischen Zusammenhänge in den vielfältigen Sprachkulturen der globalen Romania. Für die Germanistik bestehen andere Herausforderungen. Doch in ihrer Einleitung zum 2015 erschienenen Sonderheft der Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik zum Thema der literarischen Mehrsprachigkeit hat Natalia Blum-Barth eine erweiterte Übersicht zum Stand der Forschung gegeben und ebenfalls vertreten, dass „der Versuch einer Typologie oder Verallgemeinerung […] kaum möglich“ 6 ist. Bei Kremnitz findet sich ein hilfreicher Hinweis für die 4 Derrida, Jacques: Le monolinguisme de l’autre. Paris 1996, S.-55. In der Übersetzung von Michael Wetzel lautet dieser Passus: „Es ist unmöglich, die Sprachen abzuzählen, das wollte ich nahelegen. Es gibt keine Berechenbarkeit, wenn das Eine einer Sprache, die jeder arithmetischen Abzählbarkeit entgeht, niemals bestimmt ist. Das Eine der Einsprache, von der ich-spreche, und diejenige, die ich spreche, stellen also keine arithmetische Identität dar, nicht einmal einfach eine Identität.“ Derrida, Jacques: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. Übers. v. Michael Wetzel. München 2003, S.-53f. 5 Kremnitz, Georg: Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Wien 2004. 6 Blum-Barth, Natalia: Einige Überlegungen zur literarischen Mehrsprachigkeit, ihrer Form und Funktion - eine Einleitung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6/ 2 264 Susanne Zepp hier diskutierten Fragen, und zwar aus der Rede von Jorge Semprún anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1994. Eine ausführlichere Fassung dieses Abschnitts kann auch für die hier interessierenden Fragen hilfreich sein. Semprún bezog sich in seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche auf Thomas Mann, der 1949 am selben Ort im Rahmen der Feierlichkeiten des Goethejahres gesprochen hatte: Ist die Sprache also das Vaterland eines Schriftstellers, wie Thomas Mann behauptet hat? Ich kann das nicht behaupten. In meinem Fall war die spanische Sprache nicht mein Vaterland im Exil, und dies sicher aufgrund meiner Biografie, meines Alters und der besonderen Umstände halber. Sie war in jedem Fall nicht das einzige. Im Gegensatz zu Thomas Mann habe ich mich nie aus meiner spanischen Staatsbürgerschaft exiliert, wohl aber aus meiner Muttersprache. Eine Zeitlang dachte ich, daß ich ein neues Vaterland gefunden hätte, nachdem ich mir die französische Sprache zu eigen gemacht hatte, in der ich den Großteil meiner Bücher geschrieben habe. Vom Standpunkt der Literatursprache aus gesehen, bin ich also entweder vaterlandslos - da ich ein leidenschaftlicher Zweisprachler bin oder weil ich an unheilbarer linguistischer Schizophrenie leide - wie man will -, oder aber ich habe zwei Vaterländer. Etwas, was in jeder Hinsicht unmöglich ist, wenn man den Gedanken des Vaterlands ernst nimmt: das heißt für etwas nimmt, für das es die Mühe lohnen würde zu sterben. Man kann nicht für zwei verschiedene Vaterländer sterben, das wäre absurd. Es stimmt auch, daß mir bei den verschiedenen Gelegenheiten, die ich hatte, das Leben zu riskieren, niemals der Gedanke an das Vaterland gekommen ist. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Unterdrückten: Gedanken dieser Art habe ich wohl im Kopf gehabt, wenn die Stunde kam, das Leben zu riskieren, niemals aber den des Vaterlands, das gebe ich zu. Letztendlich ist mein Vaterland nicht die Sprache, weder die spanische noch die französische: Mein Vaterland ist das Sprachvermögen. Das heißt, ein Raum sozialer Kommunikation und linguistischer Möglichkeiten; es gibt die Chance, das Universum darzustellen, es auch zu ändern, wenngleich dies nur ganz wenig oder am Rande geschehen kann, eben durch dieses Sprachvermögen. 7 Semprúns Rede verweist auf einen Akzent, der die Frage nach literarischer Mehrsprachigkeit auch beinhalten kann, nämlich der Frage nach der ‚Heimat‘, dem ‚Vaterland‘, nach der vermeintlichen ‚Identität‘. Seine Antwort ist eine universalistische, und sie ist genuin literarisch, denn aufgrund ihrer Uneindeutigkeit und ihrer vielfachen Codierbarkeit können Texte von je einem bestimmten Autor oder von einer Autorin mit je einer bestimmten kulturellen und religiösen (2015), S.-11-16, hier S.-12. 7 Semprún, Jorge: Demokratisierung ist die Wurzel des Friedens - und nicht umgekehrt. Dank des Preisträgers. Übers. v. Michi Strausfeld. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel v. 11. Oktober 1994, H. 81, S.-12-20, hier S.-14. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 265 Zugehörigkeit dann auch von Leserinnen und Lesern ganz anderer kultureller Horizonte gelesen und auch durchaus identifikatorisch verstanden werden. Die Literatur ist ein Ort, an dem kulturelle Grenzen durchlässig werden können. Dies ist ein Potential literarischer Texte, das nicht immer aktualisiert wird - es gibt auch Texte, die Grenzen festigen und abschotten, doch die Möglichkeit ist durch die Eigenart literarischer Texte immer vorhanden. Dieser Verweis Semprúns ist für die hier zu untersuchenden Zusammenhänge insofern von Bedeutung, als im Schreiben von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous diese Eigenart des Literarischen mit der Frage der Geschichtsreflexion in und durch Sprache im literarischen Text verbunden wird. Das bereits eingangs erwähnte Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt aus dem Gespräch des Autors mit Hans-Ulrich Treichel ist dabei zentral: Treichel: Und als Resultat so einer ja doch ungewöhnlichen Schreibexistenz, wie Sie sie führen, gibt es dann auch eine doppelte oder auch dreifache Erinnerung und Lebensgeschichte in Ausschnitten. Goldschmidt: Ich möchte gerne deutsch meine französische Geschichte schreiben. Dazu bin ich aber zu alt. Das ist eine Antwort. Die andere Sprache verwertet viel eingehender, als wenn man nur eine Sprache hätte. Jeder Schriftsteller ist zweisprachig und diese Zweisprachigkeit verführt zum Neuerleben in der anderen Sprache. Die Zweisprachigkeit interessiert mich immer mehr. Ich habe ziemlich viel übersetzt, aber nur was ich wollte und was mich anregte. Manchmal sitzt man da, was ist das, was macht man da, was geschieht da, wenn man das macht. - Diese völlig rätselhafte Tätigkeit, was ist das eigentlich „Verstehen“. Und das Verstehen ist nicht dasselbe und trotzdem genau das gleiche. In beiden Sprachen. Die Sprachen sind total anders und erzählen genau dasselbe. Ich kenne keine so unterschiedlichen Sprachen wie das Deutsche und das Französische, aber sie wohnen alle im selben Haus. Es gibt keine höhere oder befähigtere Sprache. Es gibt nur verschiedene Sprachwelten. Es ist das Wunderbarste, was es überhaupt gibt. Das dieselbe Welt in so unglaublich vielen Ausdrucksbereichen existiert. Treichel: Man könnte es ja auch negativ erleben, als Momente gespaltener oder gar schizoider Selbstwahrnehmung. Aber das ist bei Ihnen nicht der Fall. Goldschmidt: Ganz im Gegenteil. Diese beiden Sprachen bereichern mich einmal mehr. Ich freue mich, daß ich zwei Muttersprachen habe, wenn ich das Deutsche noch als meine Muttersprache betrachten kann. Aber das ist für mich das Schönste, was es gibt. Und eine Sprache ist immer Hintergrund der anderen. Ich würde sagen wie ein Schutz, weil ich niemals diese Gespaltenheit erlebt habe. Politisch ist das natürlich eine andere Frage, da bin ich total Franzose, was die Politik und mein Leben als Staatsbürger angeht. Ich fühle mich bis in mein tiefstes Wesen der laizistischen Schule verbunden. Aber das ist ein Problem, das ich hier nicht anführen will. Andererseits fühle ich mich dem Deutschen wieder sehr verbunden. Nein, für mich hat es nie eine schizoide Selbstwahrnehmung gegeben, ich habe mich immer in beiden Sprachen unglaublich 266 Susanne Zepp glücklich gefühlt. Es hat mir im Gegenteil unglaublich viel geholfen. Ich glaube, daß das Zweisprachige eine Erlösung ist und kein Hindernis. 8 Im ersten Teil dieses Gesprächsausschnitts wird der Versuch, französische Geschichte auf Deutsch zu schreiben, als ein Lebensprojekt markiert, das sich nicht mehr realisieren lässt. Zugleich wird jedoch das Gegenteil für das Werk nahelegt, - dass Goldschmidt also auch deutsche Geschichte auf Französisch geschrieben hat. Dabei ist der Begriff der Erlösung aus dem letzten Satz des hier zitierten Gesprächsausschnitts auffällig und möglicherweise auch als Verweis auf Walter Benjamins Begriff der Erlösung aus seinen vor dem Freitod 1940 geschriebenen Thesen Über den Begriff der Geschichte zu verstehen. Mit diesem Essay hatte sich Benjamin von einer homogenen Zeitkonzeption distanziert, die aus seiner Sicht die Grundlage der Geschichtsbegriffe seiner Zeit bildete, und das Bild einer zerklüfteten historischen Zeit, in der Erwartungshoffnung immer wieder aufblitzt, dagegengesetzt: Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. […] Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. 9 Wenn Georges-Arthur Goldschmidt in dem zitierten Gesprächssauschnitt das Zweisprachige als eine Erlösung beschreibt, dann ist dies also auch auf die erinnerbare Vergangenheit und ihre Verbindungen zur Gegenwart zu beziehen. Der bewusste und methodische Umgang mit den Begriffen des Deutschen und des Französischen ist für den Autor Geschichtsreflexion in und durch Sprache. Sein gesamtes Werk ist von der Frage markiert, wie Geschichte in Sprache aufgehoben werden kann und im literarischen Text figuriert. Zwischen und in Deutsch und Französisch stellt das Schreiben von Georges-Arthur Goldschmidt immer wieder die Frage, wie Geschichte und ihre Erfahrung in ihrer Komplexität zum Ausdruck kommen können, wie man Einblick gewähren kann in Erfahrungsbereiche des menschlichen Lebens, die sich sinngebenden Verfahren entziehen, die außerhalb des objektiv Beschreibbaren liegen. Die folgenden Überlegungen schließen sich diesem Begriff des Zweisprachigen von Goldschmidt an und fragen nach Affektivität und literarischer Mehrsprachigkeit, wie eine ‚Übersetzung‘ sinnlich erlebter Geschichtserfahrung überhaupt in Sprache eingehen kann. 8 Goldschmidt, Georges-Arthur/ Treichel, Hans-Ulrich: „Jeder Schriftsteller ist zweisprachig“. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 32/ 131 (1994), S.-273-285, hier S.-284f. 9 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd.-19. Hrsg. v. Gérard Raulet. Frankfurt am Main 2010, S.-84f. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 267 Das Œuvre von Georges-Arthur Goldschmidt entfaltet diese Fragen vor dem Horizont der deutschen, aber eben auch der französischen Literaturen der Moderne. Dabei wird oft auch der Umstand wirksam, dass in der Moderne Skepsis im Hinblick auf das Abbilden von Welt vermittels Sprache zum Ausdruck gebracht und dabei Literatur zuweilen als autonome Manifestation einer eigenen Lebendigkeit betrachtet wurde. Die für den hier interessierenden Zusammenhang relevante Spezifik der Romane, Erzählungen und Essays von Georges-Arthur Goldschmidt besteht darin, dass sie diese Spannung nicht aufzuheben, sondern produktiv zu machen suchen, und dabei auch Texte der Psychoanalyse und Philosophie mit einbeziehen. Die Frage der Sprachen Deutsch und Französisch ist auch in diesen Zusammenhängen immer wieder zentral. 10 Goldschmidts Texte sind immer wieder als Variationen autobiographischen Schreibens verstanden worden, voller Bezüge auf die Lebensgeschichte des Autors, der in den 1930er Jahren in Reinbek bei Hamburg in einem großbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen ist und seine Jugendjahre von seinen Eltern getrennt, im Versteck in Frankreich, erlebt hat. Es ist sicher richtig, dass im Schreiben Goldschmidts ein genaues Bewusstsein für die Tradition der literarischen Autobiographie zu finden ist. Und im Aufsatz von Hans-Jürgen Heinrichs wird darauf verwiesen, dass Georges-Arthur Goldschmidt einmal im Gespräch die Frage der Sprache auch für seine tatsächliche Autobiographie La traversée des fleuves (1999, Über die Flüsse ) zentral gesetzt hatte: Goldschmidt hat seine Erinnerungen, beginnend mit der Zeit der Großeltern, also zurückreichend ins 19.-Jahrhundert, auf französisch geschrieben − und übersetzt sie nun selbst ins Deutsche. Und wieder thematisiert er im Gespräch das für ihn existentielle Wechselspiel der beiden Sprachen: „Das Französische hat mir ein großes Geschenk gemacht: Es hat mir das Deutsche unschuldig zurückgegeben. Ohne das Französische hätte ich niemals Deutsch schreiben können.“ La traversée des fleuves − hinter dem Titel verbirgt sich eine vielfältige Symbolik: die Flüsse, das sind die Elbe und der Arno, die er als Kind überquerte, und der Rhein (die Trennlinie zwischen Deutschland und Frankreich) und die Seine, die er jetzt so oft überquert, wenn er von seiner Wohnung in der rue Belleville im 20. Arrondissement in die Innenstadt geht. 11 Die autobiographische Dimension der Vielsprachigkeit im Werk von Georges- Arthur Goldschmidt ist gut aufgearbeitet. 12 Es lohnt sich aber, diesen Zusam- 10 Darauf hat Thomas Sparr bereits 1990 verwiesen, siehe hierzu seinen Essay Das Innere Ausland. Georges-Arthur Goldschmidt als Übersetzer. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 44/ 6 (1990), S.-500-504. 11 Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Überquerung der Flüsse. Das autobiographische Schreiben von Jorge Semprun und Georges-Arthur Goldschmidt. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 54/ 6 (2000), S.-487-499, hier S.-498. 12 Siehe hierzu Bolduc, Charles: Une Autobiographie Intellectuelle. Georges-Arthur Goldschmidt, La Joie du passeur. In: Études Germaniques 277/ 1 (2015), S.-165-168; Breysach, 268 Susanne Zepp menhang auch als Übersetzungsprozess, genauer: das Nachdenken über Deutsch und Französisch als eine Übersetzung lebensweltlicher historischer Erfahrungen in eine überindividuelle Darstellung zu verstehen. In Goldschmidts Essay Narcisse puni (1990, Der bestrafte Narziss ) findet sich die folgende Passage: Dès que je songe à moi-même, je me perds: ma tête se vide, au mieux puis-je me retenir à des bribes. La clarté de mon sentiment de moi-même se dissout au contact des mots. Si je tente de me saisir je m’échappe, je me deviens insaisissable: or d’être ainsi à moi-même insaisissable me fait être ›Je‹. 13 Das hier markierte Sich-Entziehen des „Je“ in jeder eineindeutigen sprachlichen Abbildung zeigt nicht nur die zentrale Bedeutung von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität im Schreiben des Autors, es verweist auch auf eine diesem Zusammenhang vorgelagerte Übersetzungsfrage, nämlich nach der Übertragung innerer Wahrnehmungs- und Erfahrungswelten in Sprache. Goldschmidt fasst im Bild des sich beständig entziehenden Selbst auch die Auffassung, dass literarische Texte als Übersetzung der nie in ihrer Gesamtheit erfassbaren Erfahrung von Geschichte verstanden werden müssen. Dies bedeutet, dass Geschichtserfahrung in der Literatur eine spezifische Form der Übersetzung zu finden vermag, die jedoch keine Festschreibung bedeutet, sondern in ihrer semantischen und sinnlichen Offenheit gerade auch das kaum Beschreibbare erfahrbar zu machen versucht. So ist Goldschmidts eingangs erwähnte Bemerkung aus dem Gespräch mit Hans-Ulrich Treichel auch zu verstehen. Barbara: Verfolgte Kindheit. Überlegungen zu Ilse Aichingers frühem Roman und zu Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischer Prosa. In: Klaus R. Scherpe/ Manuel Köppen (Hrsg.): Bilder des Holocaust. Literatur - Film - Bildende Kunst. Köln/ Weimar/ Wien 1997, S.- 47-61; Nizon, Paul: Im Zweistromland der Sprache: Zur Autobiografie Über Die Flüsse. In: Text + Kritik 181 (2009), S.-18-21; Asholt, Wolfgang: Gedächtnis der Texte oder Stigmata der Erinnerung? Die ersten Romane/ Erzählungen Georges-Arthur Goldschmidts. In: Text + Kritik 181 (2009), S.- 22-30; Abraham, Bénédicte: Entre le sublime et l'abject: Visions de la France et de l'Allemagne dans le récit autobiographique de Georges-Arthur Goldschmidt, La traversée des fleuves. In: Cahiers d'Études Germaniques 41 (2001), S.-243-256; Bonn, Klaus: Heimweh: Das Wort bei Goerges-Arthur Goldschmidt. In: Lendemains 30(2005), S.-117-123 und auch Guldin, Rainer: „Das sonderbare Francodeutsch“. Georges-Arthur Goldschmidt: Übersetzer und Selbstübersetzer. In: Text + Kritik 181 (2009), S.-59-70. 13 Goldschmidt, Georges-Arthur: Narcisse puni ou la part échappée. Paris 1990, S.- 13f. „Sobald ich an mich selbst denke, verliere ich mich: Mein Kopf ist leer, bestenfalls kann ich mich an Fetzen festhalten. Die Klarheit meines Selbstgefühls löst sich bei der Berührung von Worten auf. Wenn ich versuche, mich zu begreifen, entgleite ich mir, werde schwer fassbar: aber so schwer fassbar zu sein, macht mich zum ‚Ich‘.“ [Hier und im Folgenden meine Übersetzung, wenn nicht andere Übersetzerinnen oder Übersetzer angegeben sind.] Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 269 1 Über die Affektivität historischer Semantik Kürzlich hat Georges-Arthur Goldschmidt einen Essay publiziert, der noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, der aber anregende Reflexionen für unser Erkenntnisinteresse enthält. Die Rede ist von Heidegger et la langue allemande , 2016 bei CNRS Éditions veröffentlicht. Dieser Essay über Martin Heidegger und die deutsche Sprache erlaubt die Zuspitzung des bislang Gesagten in dem Sinne, dass es im Schreiben Goldschmidts nicht nur darum geht, Geschichtlichkeit im Medium von Sprache, sondern vor allem auch durch die Reflexion von Begriffen zu erschließen. Diese Erkundungen der historischen Semantik des je einzelnen Begriffs verbinden das Werk nicht nur mit den geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin, sondern sie eröffnen dem Zusammenhang von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität einen eigenen Arbeitsbereich jenseits der klassischen Begriffsgeschichte. Georges-Arthur Goldschmidt ist in seinem Werk nicht nur an der sprachlichen Verfasstheit historischer Zeiten interessiert, vielmehr wird ihm das einzelne Wort, der einzelne Begriff zum Ort der Historisierung von Erfahrung im Text. Vor diesem Horizont sind die folgenden Bemerkungen zu Goldschmidts Essay Heidegger et la langue allemande zu verstehen, die nicht den Anspruch einer übergreifenden Deutung dieses Texts erheben. Goldschmidts Essay bezieht sich ausdrücklich auf Victor Klemperers LTI - Notizbuch eines Philologen , jenes 1947 erschienene Werk, das sich mit der Lingua Tertii Imperii befasste, der Sprache des Dritten Reiches. Der zweite Referenztext ist Theodor W. Adornos Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie von 1964. Die Absicht von Goldschmidts Buch ist es, die politischen Implikationen von Heideggers Variante des Deutschen für das französische Publikum sprachkritisch offenzulegen, jene contamination idéologique der deutschen Sprache von Heidegger, die aus Goldschmidts Perspektive zu den nachhaltigsten semantischen Beschädigungen einer Sprache im 20.- Jahrhundert überhaupt gehört. Dabei beginnt Goldschmidt mit einer zugleich sprachphilosophisch anregenden wie idiosynkratisch gefärbten Darlegung der Eigenarten des Deutschen im Vergleich zum Französischen, um dann Begriff für Begriff an die historische Semantik von auch in die französische Philosophie eingeflossenen Konzepten zu erinnern. Goldschmidt geht es dabei nicht um den Beleg der nationalsozialistischen Verstrickungen des Rektors der Freiburger Universität in den Jahren 1933/ 34 - diese Facette des Gesamt-Phänomens ‚Heidegger‘ ist auch in Frankreich spätestens mit der Übersetzung der Schwarzen Hefte angekommen. Goldschmidts Sprachreflexion im Essay Heidegger et la langue allemande legt einen anderen Akzent, nämlich auf die Frage, ob Heideggers Werk nicht durch seine Sprache selbst totalitär sei. Hatte Adorno Heideggers Deutsch als Sprache 270 Susanne Zepp bezeichnet, die dem Faschismus Asyl gewähre, 14 ist für Goldschmidt Heideggers Sprache selbst eine Form von Gewalt. In der Übersetzung ins Französische, so die These des Autors, gehe das Gewalttätige der Sprache Heideggers verloren, eben weil das Französische so fundamental anders sei als das Deutsche. Dies betrifft nicht nur den Umstand, dass in der französischen Übertragung manche der Begriffe Heideggers ganz anders klängen, weil sie mit einem Verb gebildet werden müssen, während sie im Deutschen als Substantive den Handelnden unsichtbar machten. Dies beträfe eben auch Heideggers Scheidung von Sprache und Denkendem. Wenn statt Verben passivisch konstruierte Begriffe oder Substantive für Seinserfahrungen gesucht werden, sei es auch mit der Verantwortung des Einzelnen dahin: Nicht „Hervorbringen“, sondern „das Hervorgebrachte“, nicht „stellen“, sondern „Herstellung“, nicht „schuldig sein“, sondern „Das Verschulden“, nicht mehr der Mensch spricht, sondern die Sprache spricht vermeintlich aus sich selbst. Doch solch eine Sprache bezieht ihre Bilder aus der Ideologie, so Goldschmidt: Avec une grande habileté, Heidegger joue sur les dérivations possibles de bringen , apporter, Ins-Bild-bringen « mettre dans l'image », présenter, donc hervorbringen , selon tout un jeu. […] Heidegger enjoint quelque chose aux auditeurs à quoi lui-même est soumis, communautaire, le wir . La totalité est tenue sur le même registre, un ton comminatoire. Tout le texte est bâti sur l'utilisation d'une réserve de mots qu'on peut faire varier, hervorbringen , « porter au jour », « produire » donne das Hervorgebrachte , « ce qui est produit », il y a effet de voisinage avec veranlassen , si bien que le texte se déplace de zone d'acceptions en zone d'acceptions. Les zones de vocabulaire se chevauchent, se font apparaître mutuellement selon une sorte de jeu verbal encombré, de plus, d'archaïsmes volontaires. Il aurait été surprenant que hervorbringen ne donne pas lieu à herausfordern (« inciter, provoquer ») et herausfördern (« extraire ») (p.- 14), c'est faire monter en surface, faire apparaître, sommer les choses cachées, provoquer, fordern , exiger, donne bien entendu herausfördern , extrait. Et le charbon arrive tout de suite du Boden , un terme volontairement emprunté au Blubo, à toute la littérature territorialiste et xénophobe qui donnera la littérature du NS des Stehr, des Hans Friedrich Blunk, des Hermann Burte. Ce sont des termes codés pour toute oreille allemande, ils évoquent immanquablement un passé germano-romantique, une onde d'acier et de violettes et d'atmosphère provinciale, les menus des Gaststätten de Forêt-Noire : ou les bulletins météo du genre (la vague de pluie ne fait plus entendre ses clochettes, abklingende Regenwelle ). Il est pour le moins étonnant qu'un esprit aussi puissant puisse tomber dans un pareil langage, écrive une langue aussi convenue. 15 14 Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd.- 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970, S.-413-526, hier S.-416. 15 Goldschmidt, Georges-Arthur: Heidegger et la langue allemande. Paris 2016, S.-113ff. Alle Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original. „Mit großem Geschick spielt Hei- Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 271 Aber Goldschmidt geht es noch um mehr als das, und damit gehört sein Essay in den Kernbereich des hier Diskutierten: Es geht ihm um eine Reflexion des Verhältnisses von Sprache und Gefühl, genauer: um Affektivität und Expressivität, und dies ist in der These aufgehoben, das Heideggers Texte auch deshalb so eine positive Aufnahme erfahren haben, weil sie die erwähnte künstlerische Skepsis der Moderne im Hinblick auf das Abbilden von Welt vermittels Sprache zu heilen versprechen. Die aus mythischen wie religiösen Arsenalen geschöpften Bilder und Metaphern vormodernen Ursprungs werden zum Auslöser positiver sozialer Gefühle, weil sie versprechen, das als irritierend empfundene Abstrakte anschaulich zu machen und eine nüchterne, ‚entzauberte‘ Realität mit Evokationen von ‚Identität‘ und ‚Heimat‘ zu überdecken: Il y a, en effet, un visuel philosophique qui sous-tend son expression et on peut se demander d'ailleurs si la puissance même de la figuration par le regard intérieur, n'a pas aussi en partie déterminé l'évolution de la philosophie en Allemagne. […] Le philosophique ici énonce son appartenance locale et il la souligne au point de pouvoir se confondre avec le langage de ce que Robert Minder appelait le « conservatisme agraire », comme s'il y avait un entraînement linguistique qui finit par être fatal. Le sol dont il est ici question est celui de l'espace de la Heimat locale, elle est une sensation cénesthésique de liaison corporelle au lieu, instantanément reconnaissable et identifiable par chacun des auditeurs, aussitôt confirmé dans son sentiment d'appartenance exclusivement locale. 16 degger mit den möglichen Herleitungen von bringen , apporter, Ins-Bild-bringen, ‚mettre dans l'image‘, präsentieren, also hervorbringen , daraus besteht das ganze Spiel. Heidegger verlangt von seinen Zuhörern etwas, dem er selbst unterworfen ist, nämlich Mitgemeinschaft, ein wir . Die Totalität wird im gleichen Register, in einem drohenden Ton, gehalten. Der gesamte Text basiert auf der Verwendung eines Vorrats von Wörtern, der variiert werden kann, hervorbringen , ‚ans Licht bringen‘, ‚produzieren‘ gibt das Hervorgebrachte , ‚was produziert wird‘, es gibt einen Ähnlichkeitsseffekt mit veranlassen , so dass der Text von Akzeptanzbereich zu Akzeptanzbereich voranschreitet. Die Wortzonen überschneiden sich und offenbaren sich in einer Art verbalem Spiel voller leichtfertiger Archaismen. Es wäre ja auch überraschend gewesen, wenn hervorbringen nicht zu herausfordern (‚inciter, provoquer‘) und herausfördern (‚extraire‘) (S.-14) geführt hätte, es geht darum, etwas an die Oberfläche zu heben, die verborgenen Dinge erscheinen zu lassen, zusammenzufassen, zu provozieren, fordern führt selbstverständlich zu herausfördern , extrahieren. Und die Kohle kommt sogleich aus dem Boden , ein Begriff, der freiwillig aus der Blutund-Boden-Literatur (=Blubo) übernommen wurde, aus der gesamten fremdenfeindlichen Lebensraum-Literatur, die zur NS-Literatur eines Stehr, eines Hans Friedrich Blunk, eines Hermann Burte führen sollte. Das sind verschlüsselte Begriffe für jedes deutsche Ohr, sie rufen unweigerlich eine deutsch-romantische Vergangenheit hervor, eine Welle aus Stahl und Veilchen und eine provinzielle Atmosphäre, die Speisekarten der Schwarzwälder Gaststätten : oder Wetterberichte dieser Art (der Regen lässt seine Glocken nicht mehr läuten, abklingende Regenwelle ). Es ist zumindest erstaunlich, dass ein so mächtiger Geist in eine solche Sprache herabfallen kann, eine so konventionelle Sprache schreibt.“ 16 Goldschmidt, Heidegger, S.- 70. „Es gibt tatsächlich ein philosophisches Bild, das seinen [Heideggers] Ausdruck untermauert, und man kann sich fragen, ob nicht gerade die 272 Susanne Zepp Die Begriffe erzeugen Affektivität und scheinen dabei aus sich heraus für den zu sprechen, der zu verstehen weiß. Und weil es diesen Begriffen gar nicht um die Dinge in ihrer Erscheinungsform geht, sondern sie etwas vermeintlich hinter ihnen Liegendes beschwören, scheint jede zufällige Wahrnehmung in dieser Sprache auf etwas Gemeinsames, Einheitliches zurück zu deuten. Die Leser Heideggers können sich, mit anderen Worten, in diesen Begriffen wohl fühlen, weil letztere das Gefühl kollektiver Zugehörigkeit beschwören: On ne peut faire comme si cette langue-là si spécifique, si reconnaissable, si inhumaine, brandie, armée et casquée n’avait pas existé, elle parle désormais quelque part au fond de l’expression philosophique de langue allemande. C’est une langue d’effroi qui, justement, ferme toute pensée par la massivité même de la terminologie. […] Il y a lieu de retourner la langue de Heidegger, de la récrire ; comme si elle contenait une opération philosophique qui n’a pas eu lieu. Il faut pour la philosophie retourner la langue comme Celan l’a retournée pour l’expression poétique. […] On peut se demander, en effet, à bien examiner la langue de Heidegger, si cet effondrement linguistique n’est pas le signe de quelque chose de bien plus grand que la pensée de Heidegger elle-même : à savoir la non-correspondance absolue du langage et de la Weltlichkeit . 17 Goldschmidts Hinweis auf Paul Celan, der für die poetische Sprache unternommen habe, was für die Begriffe der Philosophie noch ausstünde, ist auch insofern interessant, weil im Falle Celans die Reflexion der deutschen Sprache ebenfalls von Paris aus unternommen wurde. 18 Für seine eigene sprachphilosophische Kraft der Figuration durch den inneren Blick auch die Entwicklung der Philosophie in Deutschland teilweise bestimmt hat. [….] Der Philosoph markiert hier seine lokale Zugehörigkeit und betont sie so sehr, dass er mit der Sprache dessen, was Robert Minder ‚Agrarkonservatismus‘ nannte, verschmelzen kann, als gäbe es einen Sprachtrieb, der zum Tode führt. Der hier in Frage kommende Boden ist der des Raumes der lokalen Heimat , es ist ein Gefühl der Sinneswahrnehmung einer körperlichen Verbindung mit dem Ort, das von jedem der Zuhörer sofort erkennbar und identifizierbar ist und das sich sofort in seinem Gefühl der ausschließlich lokalen Zugehörigkeit bestätigt.“ 17 Goldschmidt, Heidegger, S.-225ff. „Wir können nicht so tun, als existiere diese so spezifische, so erkennbare, so unmenschliche, geschwungene, bewaffnete und behelmte Sprache nicht, denn sie spricht aus den Tiefen des philosophischen Ausdrucks der deutschen Sprache. Es ist eine Sprache des Schreckens, die jeden Gedanken durch ihre massive Terminologie umschließt. […] Es ist notwendig, die Sprache von Heidegger zurückzugeben, um sie neu zu schreiben; als enthielte sie ein philosophisches Verfahren, das nicht stattgefunden hat. Es ist notwendig für die Philosophie, die Sprache zurückzugeben, so wie Celan sie für den poetischen Ausdruck zurückgegeben hat. […] Man kann sich in der Tat dazu auffordern, die Sprache von Heidegger genau zu untersuchen, ob dieser sprachliche Zusammenbruch nicht das Zeichen von etwas viel Größerem ist als das Denken von Heidegger selbst: nämlich absolute Nicht-Übereinstimmung von Sprache und Weltlichkeit .“ 18 Siehe hierzu auch Ivanovic, Christine: „Auch du hattest ein Recht auf Paris“: Die Stadt und der Ort des Gedichts bei Paul Celan. In: Arcadia 32 (1997), S.-65-96. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 273 Forderung bietet Goldschmidts Essay Heidegger et la langue allemande keine Lösungen an, aber er empfiehlt ein Verfahren: die Nicht-Identität von Begriffen anzuerkennen und dies nicht als Mangel, sondern als Ressource zu verstehen. Diese aus der Negativen Dialektik entnommene Empfehlung wird im letzten Satz dieses Abschnitts in französischer Sprache anhand eines deutschen Begriffs für die Frage der literarischen Mehrsprachigkeit produktiv gemacht. Damit ist der Essay von Goldschmidt in seinem Fokus auf das einzelne Wort in ganz anderer Weise als im Sinne einer theoretischen Geschichtsbetrachtung an den thematisierten Zusammenhängen der Vergangenheit interessiert. Es geht ihm vielmehr darum, dass die Vielschichtigkeit und Offenheit geschichtlicher Erfahrung nicht in einem bestimmten Begriff in einer bestimmten Sprache aufgehoben werden kann. Goldschmidts literarischer Essay verdichtet diese Überzeugung, erschöpft sich aber nicht darin, lässt eine dualistische Unterscheidung zwischen realer und begriffener Geschichte nicht unberührt. Und in eben diesem Moment der Argumentation von Goldschmidt ist auch die Affektivität zu verorten, die nicht nur im Begriff erzeugt wird, sondern die einzelnen Worte prägt. Die Mehrsprachigkeit von Goldschmidts Schreiben markiert die Zeitlichkeit von Begriffsformen ebenso wie die Herausforderungen einer Erzählbarkeit zeitlicher Realität. 2 „Polylinguisme littéraire“ Auch im Schreiben von Hélène Cixous treffen wir auf weitreichende Reflexionen philosophischer Begriffe in Französisch und Deutsch. Doch ihre Verfahren sind andere als jene, die für den literarischen Essay von Goldschmidt herausgearbeitet wurden. So hat Cixous etwa Heideggers Begriff der Holzwege durch den Begriff Claricewege ersetzt, in Anspielung auf das Werk der brasilianischen Autorin Clarice Lispector, das eine eigene Methode anbiete, in einer Sprache die Stimme des anderen sichtbar zu machen, und eben nicht im Sinne einer Abgrenzung zu anderen zu schreiben. 19 An anderer Stelle findet sich der Neologismus „inséparabe“, komponiert aus dem Wort inséparable , ‚untrennbar‘, und dem französischen Wort für die arabische Sprache, ein Beleg von vielen, dass die Sprachreflexion von Hélène Cixous nie die Sprache in den Rang des Sich-Ereignenden setzt, aber vor allem auch keine Reihenfolge von Sprachen aufstellt. Der Band Les rêveries de la femme sauvage (2000, Die Träumereien der wilden Frau ) erkundet ‚wandernde Wörter‘, um grenzüberschreitende Ereignisse und mehrsprachige Realitäten zu evozieren. Das ist kein intellektueller Luxus, keine bloße intellektuelle Spielerei, sondern ein bewusstes, biographisch durchaus als schmerzhaft empfundenes in 19 Cixous, Hélène: L'Approche de Clarice Lispector. Se laisser lire (par) Clarice Lispector. In: Dies.: Entre L’écriture. Paris 1986, S.-113-138. 274 Susanne Zepp mehreren Sprachen- und Zugehörigkeiten-Sein: „Dès qu’il y avait Français j’étais exultation arme où il avait Arabes j’étais espoir et plaie. Moi, pensais-je je suis inséparabe . C’est une relation invivable avec soi-même.“ 20 Auch das Schreiben von Hélène Cixous ist also Arbeit am Begriff - zwischen den Sprachen, als existentielles Projekt zwischen Sprachphilosophie und Literatur. Denn wie bereits erwähnt ist für Cixous die Befassung mit der deutschen Sprache auch eine Beschäftigung mit der Geschichte der Mutter, die sich in der Sprache austrägt. 21 2016 ist im Verlag Christian Bourgois das Buch Une autobiographie allemande von Hélène Cixous und Cécile Wajsbrot erschienen. 22 In der Form eines Briefdialogs entfalten die beiden Autorinnen eine beeindruckende literarische Vergegenwärtigung deutscher und französischer Geschichte, und diese werden mit der Frage der Sprache aus Engste verbunden: Si, l’Algérie, j’y suis née, l’Allemagne, j’en suis née, j’en ai été environnée dès ma naissance, j’ai appris à penser, à faire de phrases, à lire le monde, dans l’univers Allemagne qui était logé dans la sphère Algérie. Cependant, Oran, ma ville natale, était dans Osnabrück, la ville de ma mère. 23 Hier sind es die gleichlautenden Anfangssilben der französischen Namen der so unterschiedlichen mit dem eigenen Leben verbundenen Länder Allemagne und Algérie, welche die Frage von Geschichtserfahrung, Mehrsprachigkeit und 20 Cixous, Hélène: Les rêveries de la femme sauvage. Scènes primitives. Paris 2000, S.- 45. „Von dem Moment an, in dem es das Französische gab, war ich Jubel und Waffe, gab es Arabisch(e) war ich Hoffnung und Wunde. Ich, dachte ich, ich bin untrennarabisch . Das ist eine unlebbare Beziehung zu sich selbst.“ 21 Der Text Osnabrück ist hierfür ebenfalls eine zentrale Referenz. Seit kurzem liegt im Passagen Verlag eine vorzügliche Übersetzung von Esther von der Osten vor (Wien 2017). Siehe zu Osnabrück auch: Michaud, Ginette: « Ève Ultime ». D'Osnabrück à Gare d'Osnabrück à Jérusalem. In: Revue d’Etude du Roman du XXe Siècle 64 (2017), S.- 57-69; Delmotte-Halter, Alice: À Propos d'Osnabrück d'Hélène Cixous. Propositions Ethnocritiques. In: Ethnologie Française 44/ 4 (2014), S.-679-688; Hanrahan, Mairéad: The Place of the Mother: Hélène Cixous's Osnabrück. In: Paragraph 27/ 1 (2004), S.-6-20 sowie Treskow, Isabella: Le fleuve sonore, les ouïes extravagantes et le sillon sensuel. Langue, Muttersprache et pensée dans Osnabrück et Gare d’Osnabrück à Jérusalem d’Hélène Cixous. In: Lendemains 42 (2017), S.-71-84. 22 Siehe hierzu auch meine Rezension: Geschichtserfahrung als hermeneutische Kategorie: Über Hélène Cixous’ und Cécile Wajsbrots Une autobiographie allemande auf literaturkritik.de. In den folgenden Überlegungen beziehe ich mich auch auf die dort formulierten Zusammenhänge. https: / / literaturkritik.de/ wajsbrot-cixous-une-autobiographie-allemande-geschichtserfahrung-als-hermeneutische-kategorie,23726.html (12.09.2018). 23 Cixous Hélène/ Wajsbrot, Cécile: Une autobiographie allemande. Paris 2016, S.-19 u. S.-21. „Ja, in Algerien bin ich geboren, von Deutschland aus wurde ich geboren, seit meiner Geburt war ich davon umgeben, darin habe ich gelernt, zu denken, Sätze zu bilden, die Welt zu lesen. Deutschland war eine Welt, die in Algerien untergebracht war. Oran, meine Heimatstadt, war in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter, mit enthalten.“ Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 275 Affektivität miteinander verbinden. Die Geburtsstadt Oran in Algerien ist in der Heimatstadt der Mutter in Deutschland, Osnabrück, mit enthalten, und diese mehrfache sprachliche Zugehörigkeit eröffnet den Weg zur Literatur: „Je m’y suis rendue par la littérature, dans et par Osnabrück, le livre-de-ma-mère.“ 24 Dieser Weg zur eigenen Sprache und zum eigenen Schreiben führt durch die sinnliche Wahrnehmung des lebensgeschichtlichen Eingebundenseins in eine mehrsprachige Welt. Der gesamte Text Une autobiographie allemande ist von Bekenntnissen zur Vielsprachigkeit durchzogen: „Je suis ardemment pour le polylinguisme.“ 25 Dies gilt auch für die Reflexionen über die akademische Arbeit: „Dès que j’ai créé Paris VIII, donc 68/ 69, j’ai instauré le polylinguisme littéraire, dans mon territoire libéré […].“ 26 Die Wahl des Begriffes polylinguisme ist auffällig, denn es gibt in der französischen Literaturwissenschaft noch eine ganze Reihe anderer Begriffe, die dem Wort der Mehrsprachigkeit Ausdruck verleihen, am häufigsten plurilinguisme , aber auch diglossie littéraire et textuelle , hétéroglossie oder das von Rainier Grutman entwickelte Konzept des hétérolinguisme . 27 Die in Cixous’ Begriff polylinguisme getroffene Entscheidung für den griechischen Wortstamm poly statt des lateinischen pluri ist nicht nur ein Verweis über die romanischen Sprachen hinaus, sondern macht auch auf die Zeitlichkeit von Übersetzungsprozessen aufmerksam. Die affektgeladene Formulierung „Je suis ardemment pour le polylinguisme“ markiert, wie zentral diese Vielsprachigkeit im Denken von Cixous figuriert, gerade weil sie sich nicht unabhängig von den Formen individueller Erfahrung begreifen lässt. An dieser Stelle berührt sich das Sprachdenken von Hélène Cixous mit dem eingangs diskutierten Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt aus dem Gespräch mit Hans-Ulrich Treichel. Dabei erinnert die Autorin ganz nachdrücklich an eine andere Geschichte der deutschen Sprache als diejenige, die mit dem Namen Heidegger verbunden ist: Das Deutsch, das Hélène Cixous in Oran gehört hat, war eine Sprache, die Geflüchtete gesprochen haben. Sprachen zu können, mehr als nur eine, das habe vor allem eines bedeutet: „La langue a toujours signifié: liberté. Saute-frontière.“ 28 24 Ebd., S.- 31. „Ich habe mich dort durch die Literatur hin begeben, in und aufgrund von Osnabrück, dem Buch meiner Mutter.“ 25 Ebd., S.-91. „Ich setze mich brennend für die Vielsprachigkeit ein.“ 26 Ebd., S.-99. „Ich habe die literarische Vielsprachigkeit institutionell begründet , auf meinem befreiten Gebiet, nachdem ich Paris VIII um 68/ 69 gegründet hatte […].“ 27 Siehe hierzu als gute Übersicht Marques, Isabelle Simoes: Autour de la question du plurilinguisme littéraire. In: Les Cahiers du Grelcef 2 (2011), S.-227-246. Weiterhin Grutman, Rainier: Des langues qui résonnent. L’hétérolinguisme au XIXe siècle québécois . Montréal 1997. 28 Cixous/ Wajsbrot, Une autobiographie allemande , S.-68. „Sprache, das hat immer bedeutet: Freiheit. Grenzüberschreiterin.“ 276 Susanne Zepp In einem Gespräch mit der Autorin Cécile Wajsbrot, das in Sinn und Form dokumentiert wurde und den Anstoß für das Buch Une autobiographie allemande gegeben hat, findet sich eine Reflexion von Hélène Cixous, die diesen Gedanken noch einmal in einer anderen Weise in die Sprache hebt: Ich merke, dass ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine, Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets „chez nous“, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses „bei uns“ war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, dass sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, „auf französisch deutsch zu sprechen“. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floss zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuss erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen. Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? 29 Nicht nur die Sprache, auch der einzelne Begriff erscheint in der genauen Sprachreflexion von Cixous als das Trägermaterial von Affekten. Hier berühren sich die Essays von Cixous und Goldschmidt. In Cixous’ Begriff des polylinguisme findet sich Mehrsprachigkeit durch den Vollzug und die Reflexion sprachlicher Affektivität markiert. Doch darüber hinaus wird durch die Nähe zum Begriff der Polyphonie nicht allein auf die Bedeutungsebene des Sprechens vieler Sprachen, sondern auf die Ausbildung einer Sensibilität der Vielfalt auch in der einen, etwa der eigenen Sprache aufmerksam gemacht. Literarische Mehrsprachigkeit heißt im Schreiben von Hélène Cixous auch, am einzelnen Begriff, am einzelnen Wort, Einsprachigkeit als jenes falsche Versprechen zu erweisen, welches Georges-Arthur Goldschmidt in der Sprache Heideggers aufgedeckt hat. Bei Cixous ist polylinguisme also auch ein Modus der Abwehr isolierender Tendenzen: 29 Cixous, Hélène: „Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich“. Gespräch mit Cécile Wajsbrot. In: Sinn und Form 2 (2014), S.-214-222, hier S.-214; die Übersetzung des Gesprächs wurde besorgt von Gernot Krämer. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Goldschmidt und Cixous 277 Si seulement ces obtusément nationalistes comprenaient qu’ils ne prononcent pas une phrase qui ne soit pas de poly-origine, qu’il y a de l’arabe sur leur langue! Mon français a des oreilles d’or. Il entend passer les autres vivants à des kilomètres. 30 Diese Engführung ist der ethische Kern des Buches Une autobiographie allemande . Zugleich ist sie auch Hinweis, wie existentiell Mehrsprachigkeit und Affektivität im Schreiben von Cixous zusammenhängen. Viel-Sprachigkeit, eine durch das Wortkunstwerk beförderte Sensibilität für die multiplen Herkünfte der je eigenen Sprache(n), macht Literatur zum Ort, an dem verschiedene Erfahrungsgeschichten von Menschen unterschiedlichster Zugehörigkeiten und Sprachen miteinander in Beziehung gesetzt und als solche nachvollzogen werden können. Für Cixous wie für Goldschmidt ist das Diktum von Marina Zwetajewa, dass keine Sprache Muttersprache, dass Dichten Nachdichten sei, gelebte Erfahrung und geistiger Fixpunkt. Zwetajewa hatte ihren Brief an Rainer Maria Rilke 1925 im Übrigen auf Deutsch geschrieben - und das Französische als Beispiel genommen: „Ein Dichter kann französisch schreiben, er kann nicht ein französischer Dichter sein. Orpheus sprengt die Nationalität, oder dehnt sie so weit und breit, dass alle (gewesenen und seienden) eingeschlossen sind.“ 31 Die Fokussierung auf die Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Materialität von Sprache ist nicht auf die biographischen Erfahrungen von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous zu begrenzen. Erfahrung heißt in beiden Werken Geschichtserfahrung und bezieht damit individuelle wie kollektiven Anteile mit ein. Die Affektivität ihrer Reflexionen über Mehrsprachigkeit ist vielmehr der Dringlichkeit, ja der existentiellen Bedeutung dieser Zusammenhänge in der europäischen Geschichte und Gegenwart verpflichtet. 30 Cixous, Hélène/ Wajsbrot, Cécile: Une autobiographie allemande. Paris 2016, S.-68. „Wenn nur diese unglückseligen stumpfen Nationalisten endlich verstünden, dass sie keinen Satz aussprechen, der nicht vielfache Zugehörigkeiten in sich trägt, dass es das Arabische in ihrer Sprache schon gibt! Mein Französisch hat goldene Ohren. Es erspürt andere Lebende über Kilometer.“ 31 Für den vollständigen Brief vom 6. Juli 1926 siehe Rakusa, Ilma/ Ingold, Felix Philipp: M. I. Cvetaeva im Briefwechsel mit R. M. Rilke. Unveröffentlichte Materialien aus dem Berner Rilke-Archiv. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 41/ 1 (1980), S.-127-173, hier S.-164. Der Brief ist zentral für die hier diskutierten Fragen, und schon der Beginn markiert dies in aller Deutlichkeit: „Lieber Rainer, Goethe sagt irgendwo, dass man nichts Bedeutendes in einer fremden Sprache leisten kann, - und das klang mir immer falsch. (Goethe im ganzen klingt immer recht, nur als Summa gültig, darum thu ich ihm jetzt unrecht). Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache - in eine andere, ob französisch oder deutsch wird wohl gleich sein.“ Autorinnen und Autoren Marion Acker Marion Acker hat in Bonn, Paris und Berlin Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Politik und Gesellschaft studiert. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen literarische Mehrsprachigkeit, Gattungstheorie (Autobiographie, Autofiktion), kulturwissenschaftliche Affekttheorie und Zugehörigkeit in der Gegenwartsliteratur. Monika L. Behravesh Monika Behravesh hat Germanistik und Kunstwissenschaft an der Universität Kassel studiert. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur veröffentlicht (Bielefeld 2016). Es folgten Lehraufträge an der Universität Kassel im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Gegenwartsliteratur, literaturwissenschaftliche Interkulturalität und Erinnerungskonzepte der Literaturwissenschaft. Jürgen Brokoff Jürgen Brokoff ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind Ästhetik, Poetik und Literatursprache, Literaturwissenschaft im 19. und 20.-Jahrhundert, Literatur, Krieg und Kriegsverbrechen vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart sowie deutsch-jüdische Literatur. Zusammen mit Christian von Scheve (Soziologie) leitet er das Teilprojekt „Gefühle religiöser Zugehörigkeit und Rhetoriken der Verletzung in Öffentlichkeit und Kunst“ im SFB 1171 Affective Societies . Zu seinen Veröffentlichungen zählen Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde (Göttingen 2010) sowie, zusammen mit Ursula Geitner und Kerstin Stüssel, Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur (Göttingen 2016). 280 Autorinnen und Autoren Annette Bühler-Dietrich Annette Bühler-Dietrich ist außerplanmäßige Professorin an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu Narrativen des Verlusts in der Gegenwartsliteratur, zu Gender Studies und zum deutschen und westafrikanischen Drama und Theater. Publikationen sind u. a. Auf dem Weg zum Theater. Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek (Würzburg 2003), Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert (Tübingen 2012) und Literatur auf der Suche. Studien zur Gegenwartsliteratur , herausgegeben mit Altina Mujkic und Friederike Ehwald (Berlin 2018). Till Dembeck Till Dembeck ist Professor für deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Université du Luxembourg. Seine Arbeit widmet sich schwerpunktmäßig der literarischen Mehrsprachigkeit, der Geschichte der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts und der Geschichte von Linguistik und Philologie. Seine Dissertation erschien 2007 unter dem Titel Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 19.-Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul) (Berlin) . Gemeinsam mit Georg Mein hat er den Band Philologie und Mehrsprachigkeit (Heidelberg 2014) herausgegeben, zusammen mit Rolf Parr 2017 das Handbuch Literatur und Mehrsprachigkeit (Tübingen). Anne Fleig Anne Fleig ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und leitet das Teilprojekt „Geteilte Gefühle. Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ im SFB 1171 Affective Societies . Ihre Schwerpunkte sind die Literatur um 1800, Kulturelle Moderne und Gegenwartsliteratur, Weibliche Autorschaft, Affekte, Emotionen, Gefühle und Mehrsprachigkeit. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports (Berlin/ New York 2008), als Herausgeberin Die Zukunft von Gender. Begriff und Zeitdiagnose (Frankfurt am Main 2014) sowie, zusammen mit Christian Moser und Helmut J. Schneider, Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkriptionen (Freiburg i.Br. 2014). Claudia Hillebrandt Claudia Hillebrandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Emotions- und Erzählforschung, Lyriktheorie und -geschichte, Literatur der Moderne und Gegenwartsliteratur. Ihre Dissertation erschien 2011 unter dem Titel Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel (Berlin). Zu- Autorinnen und Autoren 281 letzt hat sie gemeinsam mit Sonja Klimek, Ralph Müller, William Waters und Rüdiger Zymner das Schwerpunktheft zu Theories of Lyric des Journal of Literary Theory (2017) herausgegeben. Esther Kilchmann Esther Kilchmann ist Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie literarischer Mehrsprachigkeit, Literatur und Trauma, Sprachexperimente, Narrative von Familie und Nation. Zu ihren Publikationen zählen u. a. Verwerfungen in der Einheit. Geschichten von Nation und Familie um 1840: Droste-Hülshoff, Heine, Gotthelf, Gervinus und F. Schlegel (München 2009). 2012 hat sie das Sonderheft zu Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur der Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik herausgegeben. Matthias Lüthjohann Matthias Lüthjohann hat Deutsche und Englische Philologie an der Freien Universität Berlin und der University of Edinburgh studiert und 2017 sein Studium mit einer Arbeit zur mehrstimmigen Praxis des Essayismus in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften abgeschlossen. Seitdem ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1171 Affective Societies und forscht aus affekttheoretischer und literatursoziologischer Perspektive zur transkulturellen Gegenwartsliteratur und ihrer Geschichte. Terézia Mora Terézia Mora ist eine deutschsprachige Schriftstellerin und Drehbuch-, Hörspiel- und Theaterautorin. In ihren Erzählungen und Romanen spielen Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen Dynamiken von Zugehörigkeit eine zentrale Rolle. Hervorgetreten ist sie auch als Übersetzerin von Texten der ungarischen Gegenwartsliteratur, u. a. von Péter Estherházy, István Örkény sowie Zsófia Bán. Seit 2015 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Sie zählt zu den wichtigsten Autorinnen und Autoren der Gegenwart und hat zahlreiche Preise gewonnen: Für ihr literarisches Debüt Seltsame Materie (1999) erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis, für Das Ungeheuer (2013) den Deutschen Buchpreis. 2018 wurde ihr Werk mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Monika Schmitz-Emans Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden u. a. Studien zur allgemeinen Literaturtheorie und Poetik, Studien zu Werk und Poetik zahlreicher Autoren der deutschen, italienischen, französischen und englischen Literatur und Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, 282 Autorinnen und Autoren Kunst und Musik. Zu ihren zahlreichen Publikationen zählen u. a. Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens (München 1995), Poetiken der Verwandlung (Innsbruck u. a. 2008) sowie Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur (Berlin 2012). Sandra Vlasta Sandra Vlasta ist Marie-Skłodowska-Curie-Fellow am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Migration, literarische Mehrsprachigkeit sowie Reiseliteratur. Sie ist Mitbegründerin des Webportals „Polyphonie. Mehrsprachigkeit_Kreativität_Schreiben“ (www.polyphonie.at). Aktuelle Publikationen sind Contemporary Migration Literature in German and English (Leiden 2016) und Brüchige Texte, brüchige Identitäten. Avantgardistisches und exophones Schreiben von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart , herausgegeben zusammen mit Norbert Bachleitner, Ina Hein und Károly Kókai (Göttingen 2018). Robert Walter-Jochum Robert Walter-Jochum ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Er forscht u. a. zu Hassrede und/ als Literatur, Autobiographik und Erzähltheorie sowie zur Österreichischen Literatur, insbesondere zu Heimito von Doderer, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic. Zuletzt sind erschienen Religion und Literatur im 20./ 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien (Göttingen 2015), gemeinsam herausgegeben mit Tim Lörke, sowie Autobiografietheorie in der Postmoderne. Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster (Bielefeld 2016). Lena Wetenkamp Lena Wetenkamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der interkulturellen Gegenwartsliteratur, in inter- und transmedialen Fragestellungen, Diskursen zu Gewalt, Postmemory und Trauma sowie Europadarstellung. Veröffentlichungen sind u. a. Europa erzählt, verortet, erinnert. Europa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Würzburg 2017) und, als Herausgeberin zusammen mit Dagmar von Hoff und Brigitte E. Jirku, Literarisierungen von Gewalt. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur (Berlin u. a. 2018). Susanne Zepp Susanne Zepp ist seit 2011 Professorin für spanische, portugiesische und französische Literaturen an der Freien Universität Berlin. Dort ist sie Akademische Koordinatorin der Strategischen Partnerschaft mit der Hebräischen Univer- Autorinnen und Autoren 283 sität Jerusalem, zudem leitet sie das Gulbenkian Doktorandenprogramm für Portugiesische Literatur und Kultur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Rezeption skeptischen Denkens in der Moderne, Fragen jüdischer Zugehörigkeit, Theorien der Autorschaft und der Autobiographie und ihr Verhältnis zu Fragen der Sprache und des Wissens. Ihre jüngsten Publikationen sind u. a. eine Einführung in die portugiesische und brasilianische Literaturwissenschaft (Paderborn 2014), die Monographie An Early Self. Jewish Belonging in Romance Literature. 1499-1627 (Redwood 2014) sowie, als Herausgeberin zusammen mit Arndt Engelhardt, Sprache, Erkenntnis und Bedeutung - Deutsch in der jüdischen Wissenskultur (Leipzig 2015). Personenregister Adorno, Theodor W. 269 Ahmed, Sara 22, 137, 139, 223 Aichinger, Ilse 150 Anderson, Benedict 13 Arp, Hans 53 Augé, Marc 146, 154 Ausländer, Rose 8, 27, 73, 75-80, 82 Bachmann, Ingeborg 11, 80 Bachtin, Michail 12, 17, 26, 74, 86, 88, 94 Ball, Hugo 8, 27, 49 f., 52 f., 67, 69 ff. Barthes, Roland 162 f. Benjamin, Walter 76, 161, 266, 269 Berlant, Lauren 22 Bodrožić, Marica 8, 11, 29 f., 179 f., 182, 185 f., 191, 194 f., 199 f., 206-210, 213, 215 ff. Brodsky, Joseph 143, 211 Butler, Judith 128 f. Canetti, Elias 11, 143 Celan, Paul 8, 27, 73, 76 f., 79-84, 131, 133, 150, 234 f., 272 Certeau, Michel de 146, 155 Chamisso, Adelbert von 143 Chiellino, Carmine Gino 190 Chomsky, Noam 109 f. Cixous, Hélène 8, 30, 261 f., 265, 273-277 Clough, Patricia T. 22 Conrad, Joseph 143 Cvetkovich, Ann 22 Deleuze, Gilles 21, 23 f., 30, 148 f., 219-222, 224 f., 230, 238 f. Derrida, Jacques 15 f., 57, 84, 263 Esterházy, Péter 35 f. Fassbinder, Rainer Werner 124 f. Ferenczi, Sándor 200 ff., 204 Foucault, Michel 221 Frank, Adam 21 Freud, Sigmund 151, 201 f., 205, 222-225, 229 Friedrich II. 134 Gardi, Tomer 8, 29, 143-150, 153, 156 f. Gibbs, Anna 22 Goldschmidt, Georges-Arthur 8, 30, 261 f., 265-273, 275 ff. Greenson, Ralph 203 f. Gregg, Melissa 22 f. Grossberg, Lawrence 22 Guattari, Félix 24, 30, 148 f., 219-222, 224 f., 230, 238 f. Hajnóczy, Péter 35 Hardt, Michael 23 Heidegger, Martin 123 f., 131, 138, 269-273, 275 f. Hennings, Emmy 49 Herder, Johann Gottfried 14 Hochschild, Arlie 96 Huelsenbeck, Richard 27, 58 f., 61-64, 70 f. 286 Personenregister Ishiguro, Kazuo 143 Jakobson, Roman 133 Janco, Marcel 27, 58 f., 61, 71 Jandl, Ernst 150 Jelinek, Elfriede 150 Jewtuschenko, Jewgenij 234 f. Jünger, Ernst 131, 133 Kafka, Franz 15, 149, 220 ff. Klemperer, Victor 269 Kling, Thomas 103 Krapf, Eduardo 203 f. Kundera, Milan 211 Langhoff, Shermin 126 Lengyel, Péter 35 Lispector, Clarice 273 Manning, Erin 222 Mann, Thomas 264 Massin, Robert 167 Massumi, Brian 21, 23, 96, 222 Mauthner, Fritz 27, 73 f. Mora, Terézia 27 Müller, Herta 8, 11, 28, 35, 75, 85-101 Nabokov, Vladimir 149, 153 Nádas, Péter 35 Negri, Antonio 23 Nemes Nagy, Ágnes 41, 44 Özdamar, Emine Sevgi 8, 15, 29, 131, 143, 160, 164, 166 f., 170, 174, 177 f., 220, 244 Pastior, Oskar 28, 75 f., 258 Petrowskaja, Katja 8, 30, 219 f., 222, 225 f., 228 ff., 232ff., 236-239 Platon 87 Pontalis, Jean-Bertrand 219, 223 ff., 230, 233, 237 Radaelli, Giulia 11, 20, 106, 245 Rakusa, Ilma 30, 241-248, 250-254, 256-260 Rilke, Rainer Maria 34 f., 38, 277 Rimbaud, Arthur 131 Rychner, Max 80 Saussure, Ferdinand de 27, 49 f., 54-57, 72 Scego, Igiaba 143 Schami, Rafik 8, 29, 160, 168, 170, 174, 177 f. Scheffler, Rike 8, 28, 104 f., 111, 115 f. Schwab, Werner 150 Sedgwick, Eve Kosofsky 21 Seigworth, Gregory J. 22 Semprún, Jorge 264 f. Spinoza, Baruch de 21, 30, 219, 222 Stengel, Erwin 202 f. Stewart, Kathleen 22 Tawada, Yoko 8, 15, 29, 88, 160, 172 ff., 176 ff. Thrift, Nigel 22 Tomkins, Silvan 21 Treichel, Hans-Ulrich 265, 268, 275 Tzara, Tristan 8, 27, 58 f., 61 f., 71 Wajsbrot, Cécile 274, 276 Wichner, Ernest 97 Wolf, Uljana 239 Yildiz, Yasemin 14 f., 51, 128, 131, 149, 220 Zaimoglu, Feridun 15, 28 f., 123, 125-128, 130 ff., 135, 137, 140 f. Zwetajewa, Marina 277