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Welt als Körper

2019
978-3-7720-5662-8
A. Francke Verlag 
Thomas Erthel

Wie wird Totalität in der Literatur dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, muss man sich zunächst klar darüber werden, dass Wörter wie ,Welt', ,Erde' und ,Globus' im alltäglichen Sprechen sowie im Fachjargon heutiger Globalisierungsdebatten zwar allgegenwärtig sind, dass sich hinter ihnen aber häufig problematische Vorannahmen und unausgesprochene Vorstellungen von ,Ganzheit' verbergen. Daher untersucht diese Studie die Verwendung solcher ,Figuren der Ganzheit' (,Welt', ,Erde' etc.) in ausgewählten literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts (Swifts Gulliver's Travels, Voltaires Candide und Melvilles Moby-Dick). Vor dem Hintergrund dieser Phase, in der die Expansion des modernen Welt-Systems globale Ausmaße anzunehmen beginnt, wird aufgezeigt, dass die Literatur dieser Zeit nicht nur aktiv das Bewusstsein von der größer werdenden Totalität mitgestaltet, sondern darüber hinaus reflektiert, dass das zunehmende Eins-Sein der ,Welt' keineswegs die harmonische Einheit eines globalen Zusammenhalts, sondern stattdessen eine in Kriege, Sklavenhandel und Kolonialismus verwickelte, asymmetrische Ganzheit hervorbringt. Darüber hinaus wird zum ersten Mal untersucht, wie die literarischen Texte in diesem Kontext Körper inszenieren, um die Vorstellungen von der Gestalt, dem Umfang und dem Zustand der ,Welt' dieser Zeit zu verhandeln.

Welt als Körper Thomas Erthel Welt als Körper Die Darstellung von Ganzheit bei Swift, Voltaire und Melville Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und des DFG- Graduiertenkollegs 1733 Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der LMU München. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8662-5 ( Print) ISBN 978-3-7720-5662-8 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0103-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Für S. Inhaltsverzeichnis 7 Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II Theoretische Konzepte und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1 Das expandierende Welt-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression . . . . . . . . . . . 25 1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2 Darstellung von Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1 Blickperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3 ‚Welt‘ und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4 Körper und Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien ( A Modest Proposal ) . . . . . . . . . 77 2.2 Hinführung: Ganzheit in den vier Teilen der Travels . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.3 Bezüge auf die Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.3.1 Paratextuelle Reflexion auf Reiseliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3.3 Kartografischer Maßstab und „Erzählprojektion“ . . . . . . . . . . . . . 93 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit . . . . . . . . . . . . . 95 2.4.1 „Golbasto“: Ein globaler Leviathan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.4.2 Politische Körper jenseits des Königskörpers . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.5 Erdumspannender Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.5.1 Die Rolle der Yahoos im kolonialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 8 Inhaltsverzeichnis 2.5.2 „This whole Globe of Earth“: Kompression und kolonialer Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.6.1 Der Globus und die Sicht der Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.6.2 Die blinde Außenperspektive der Kolonialherren . . . . . . . . . . . . 120 2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3 Voltaires Candide ou l’Optimisme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive ( Micromégas ) . . . . . . . . . . . . . 125 3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System . . . . . . . . 133 3.3 Gute Welt, schlechte Erde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.4 Einsheit der Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.4.1 Vergrößerung der Bezüge und erhöhtes Erzähltempo . . . . . . . . 143 3.4.2 „Sur ce globule“: Die komprimierte Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.4.3 Verkettet-Sein der Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.4.4 Synchronität der Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.5 Asymmetrie der Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.5.1 Die Ganzheit und die Neue Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.5.2 „Paradis terrestre“: Optimismus und Welt-Handel . . . . . . . . . . . . 157 3.5.3 „Étendu par terre“: Der Sklavenkörper und das Ganze . . . . . . . 161 3.5.4 Der koloniale Zusammenhang als Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3.6 Schluss: „Petite terre“ oder „globule“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.1 Hinführung: Schiff, Wal, Welt, und Walfanggründe . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.2.1 „Water-Gazers“: Die Figur der Ganzheit ‚world‘ und ihre Sichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.2.2 Zwischen Staatsmetaphern und einer ‚Welt im Kleinen‘ . . . . . . 180 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.3.1 „Mitten durchs Tier“: Beschreibung und Vermessung großer Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.3.2 „Die Welt ist Jagd“: Walkunde, Waljagd und die Tiefe . . . . . . . . 196 4.3.3 Vortex: Der menschliche Körper als Himmelskörper . . . . . . . . . 202 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4.4.1 „World-watching“: Zur ‚Öffnung‘ Japans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4.4.2 „Circumnavigating“: Die Ost-Ausrichtung der Pequod . . . . . . . . 215 4.4.3 „Ah, the world! “: Kolonialismus und Walfang . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.4.4 „Level by nature“: Lokalisierung des Weißen Wals . . . . . . . . . . . 224 4.4.5 „Dismasted“: Der versehrte Körper und der Welt-Markt . . . . . 230 Inhaltsverzeichnis 9 IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ . . . . . . . . . . . . . 235 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Danksagung Wissenschaftliche Arbeit findet nicht im Vakuum eines Elfenbeinturms statt, sondern sie produziert stattdessen äußerst konkrete Probleme und Aufgaben, deren Bewältigung mir ohne die Hilfe von großzügigen Menschen, die mir ihre Gesellschaft, Zeit und Unterstützung geschenkt haben, unmöglich gewesen wäre. Mein persönlicher Dank dafür gilt Peter, Tobias, Nora, Petra, Valentin, Philipp, Brigitte Rath, Agatha, meinen Eltern Mira und Klaus, Daniel, Emidio und Sema. Das Schreiben meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ gefördert. Nicht zuletzt aus den Gliedern des Gemeinschaftskörpers dieses Kollegs - Doktoranden, Professoren, Assoziierten und Gästen - ging der hiesige Text hervor. Besonders hervorzuheben ist Prof. Dr. Robert Stockhammer, der meine Forschung von Beginn an geprägt und mich als Erstbetreuer stets hervorragend unterstützt hat; für das stets freundliche und konstruktive Input meines Zweitbetreuers Prof. Dr. Jörg Dünne bin ich ebenfalls sehr dankbar. Der Druck meiner Dissertation wurde durch das DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften durch großzügigen Druckkostenzuschuss finanziert. Hierfür bin ich äußerst dankbar. Meinem Verlagslektor Tillmann Bub gilt mein Dank für seine immer zuverlässige Unterstützung im Zuge des Publikationsprozesses dieses Buchs. I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ 15 Wie wird Ganzheit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, wird hier auf Wörter wie ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc., 1 die größere Ganzheiten evozieren, fokussiert, und die literarische Arbeit an diesen Termini analysiert. Im Anschluss an bereits vorliegende Ansätze werden diese Wörter unter dem Überbegriff ‚Figuren der Ganzheit‘ 2 - im Folgenden: FdG - zusammengefasst. In Antwort auf die Ausgangsfrage vertritt meine Studie die These, dass die untersuchten literarischen Texte die Bedeutung(en) von FdG aktiv bearbeiten, indem sie die Inszenierung menschlicher und tierischer Körper mit der Darstellung von Ganzheit verschränken . D.h. die literarischen Texte führen die Nennung von FdG mit der Darstellung von Körpern eng und manipulieren im Zuge dessen die Bedeutung(en) der FdG. Im Folgenden werden kanonische Texte der westlichen Literatur in den Blick genommen: Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726), Voltaires Candide ou l’Optimisme (1759) sowie Herman Melvilles Moby-Dick; Or, The Whale (1851) stellen die zentralen Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Analyse dar (vgl. Abschnitt III). 3 Die FdG werden im Zuge dieser Engführungen mit inszenierten Körpern wahlweise als ‚komprimiert‘/ ‚ausgedehnt‘, ‚chaotisch‘/ ‚geordnet‘‚ ‚klein‘/ ‚groß‘ etc. beschrieben, mit anderen FdG kombiniert, oder sie werden in (bekannte und unübliche) Wortkombinationen überführt (man denke zur Illustration an die schier endlose Liste von Weltkomposita: Welt-Markt, Welt-Krieg, Welt-Karte, etc.). 4 In besonders prominenten Fällen werden die FdG auch kreativ in ihrem Wortmaterial verändert, d. h. beispielsweise vom ‚ globe ‘ (frz.) in ein ‚ globule ‘ (etwa: ‚Erdkügelchen‘) gewandelt (vgl. zu diesem konkreten Beispiel III.3.4.2). Dies geschieht in Wechselwirkung mit Körpern, die als stark vergrößert oder verkleinert dargestellt werden (und so in ein neues (Größen-)Verhältnis zum 1 Diese Trias hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll nur die besonders häufigen Vertreter nennen. Die Liste der FdG lässt sich erweitern: ‚Universum‘, ‚Kosmos‘, ‚Planet‘ etc. 2 Diese Terminologie leitet sich ab von der Begrifflichkeit Christian Mosers und Linda Simonis’, deren gemeinsam herausgegebener Band den Titel Figuren des Globalen trägt, sowie Robert Stockhammers Arbeit in diesem Kontext zu nennen ist, der in seinem Aufsatz „Welt oder Erde“ diese beiden „Figuren des Globalen“ („Welt“ 47) untersucht. Insofern jedoch nicht nur der globale Umfang im Folgenden im Fokus stehen soll, wird hier von ‚Figuren der Ganzheit ‘ gesprochen, die einen wesentlich neutraleren (und unbestimmteren) Umfang bezeichnen, der die hiesigen Untersuchungen für ein breiteres Spektrum öffnen soll. 3 Im vorliegenden Buch wird im Zitierverfahren mit Kurztiteln gearbeitet. 4 Hier ist auf den Workshop „Weltkomposita“ (30.-31.01.2015, Veranstalter: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der LMU-München in Kooperation mit dem DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“) zu verweisen, der meine Arbeit nachhaltig beeinflusst hat. 16 I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ ‚großen Ganzen‘ treten können), in staatspolitische Kontexte rücken (und so auf internationales Geschehen reflektieren), auf koloniale Praktiken verweisen (und damit einen transkontinentalen Ereigniszusammenhang sichtbar werden lassen), in Bedeutungszusammenhängen der Theodizee erscheinen (womit sie Fragen nach dem Ganzen aus religiöser Perspektive verhandeln), oder gar metaphorisch mit FdG - allen voran ‚Welt‘ - in eins gesetzt werden. Im Laufe der hier untersuchten Texte ist ‚Welt‘ beispielsweise einmal ‚Muschel‘ (vgl. III.1) und einmal ‚Wal‘ (III.4.3.2), wird also mit tierischen Körpern in eins gesetzt. Nicht zuletzt lassen sich mehrfach (zumindest tentative oder satirische) In-Eins-Setzungen des menschlichen Körpers mit FdG nachweisen. Diese Inszenierungen des menschlichen Körpers als ‚Welt‘ stellen einen Extrempunkt dar und können in allen drei Haupttexten isoliert werden. In der Relation zwischen FdG und Körpern wird dabei ein automatisierter Bezug auf die Totalität unterbrochen, zugunsten einer Reflexion auf Ganzheit. Ausgehend von sehr grundsätzlichen, von den Texten z.T. explizit formulierten Fragen, - etwa ‚Was ist die Welt? ‘, ‚Kann man die Ganzheit sehen? ‘ - wird so Platz geschaffen für die Neu-Beschreibung stark raumgreifender Prozesse (Kolonialismus, Sklavenhandel, militärische Konflikte, Welt-Handel), die die Eigenschaften der dargestellten Ganzheit bestimmen. Wie sich in diesen Ausführungen bereits andeutet, werden die literarischen Texte also hinsichtlich ihrer Reaktion auf, bzw. Interaktion mit, spezifischen historischen Kontexten untersucht. Diese Kontexte werden hier in den größeren Zusammenhang der von Immanuel Wallerstein beschriebenen ‚Expansion des Welt-Systems‘ eingeordnet (vgl.-II.1.1), womit im Wesentlichen die Ausdehnung des kapitalistischen Systems beschrieben werden soll. Dieses erreicht im Lauf des 19. Jahrhunderts erstmals den Status eines globalen , d. h. erdumfassenden Zusammenhangs (s. u.). Die Prozesse dieser Expansion also, und deren erstmaliges Global-Werden, werden als zentraler Kontext der untersuchten literarischen Texte herangezogen. Die Rede von Figuren der Ganzheit impliziert, dass keine letztgültige Definition der oben genannten Wörter (‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. - bzw. in den Sprachen des gewählten Textkorpus ‚ world ‘, ‚ monde ‘, ‚ earth ‘, ‚ terre ‘ sowie ‚ globe ‘) gegeben werden kann und soll; sie werden somit nicht als „Begriffe“ (Stockhammer, „Welt“- 48) im Sinne eines fest definierbaren Inhalts verstanden. Stattdessen ist ihre Bedeutung im Einzelfall jeder Verwendung stets neu zu bestimmen, d. h. „ihre Polysemien und Polyvalenzen lassen sich allenfalls in je spezifischen Verwendungszusammenhängen explizieren, nicht jedoch durch definitorische I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ 17 Maßnahmen ein für alle Mal regeln.“ (Stockhammer, „Welt“- 69) 5 Damit lassen sich spezifische Bedeutung en dieser Figuren isolieren, ohne sie auf eine dieser Bedeutungen zu reduzieren. So richte ich mich auch nach dem Verständnis von ‚Figur‘, wie Gayatri C. Spivak sie beschreibt: „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it, read the logic of the metaphor.“ (71) Anstatt also eine externe Definition oder Konzeption von ‚Welt‘ - oder einer anderen FdG - an die Texte heranzutragen, 6 wird hier auf die Arbeit der Texte selbst an ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren eingegangen. Daraus ergibt sich ein Prozess der Deutung der FdG, der Ergebnisse zeitigt, ohne diese als allgemeingültig festzusetzen. Die jeweiligen Bedeutungsnuancen der FdG sind im Einzelfall durch close reading und die Einbettung der Texte und Textstellen in ihren etymologischen und historischen Kontext zu ermitteln. 7 Denis E. Cosgrove schreibt: „Three English words commonly describe this planet: earth, world , and globe. Used interchangeably, each has distinct resonance.“ (7) Damit beschreibt er eine komplexe Konstellation, welche die genannten Vokabeln erzeugen. Sie alle bezeichnen „üblicherweise“ „diesen Planeten“ und damit ist gemeint: ‚unseren‘, den der Menschen. 8 So scheint einerseits die Re- 5 Stockhammer bezieht diese Ausführungen im Kotext des Zitats auf die FdG ‚Welt‘ und ‚Erde‘, sie lassen sich jedoch auf andere FdG übertragen. 6 Hannah Arendt lässt sich als prominente Vertreterin einer solchen Vorgehensweise anführen, insofern sie eine komplexe Konzeption von ‚Welt‘ entwirft. „[T]he world is […] meant to be a home for men during their life on earth“ (173), die vor allem aus den Zeiten überdauernden Dingen, die Menschen produzieren, hervorgeht (vgl. Arendt- 167-174). „Anders als beispielsweise Heidegger in Sein und Zeit begreift Arendt ‚Welt‘ weder im ontischen Sinne als Summe des Seienden noch im transzendentalen Sinne als Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. ‚Welt‘ wird von Arendt ausschließlich und in qualifizierender Bedeutung in Bezug auf den Menschen gebraucht.“ (Ivanovic- 343) Von diesem Verständnis ausgehend entwickelt Arendt brillante Lesarten literarischer Texte - nicht zuletzt zu Joseph Conrads Heart of Darkness . Christine Ivanovic fasst Arendts Conrad-Lektüre wie folgt zusammen: „Die Sensation von Conrads Roman besteht, wie Arendts Lektüre zeigt, nicht in der Offenlegung der grausamen Fakten des Kolonialismus en détail, die man Conrad zugute halten konnte. Sie liegt in der Selbstentlarvung des - von der Sprache untrennbaren - Mechanismus der Legitimationsbemühungen, die den zutiefst menschenverachtenden Kern des Kolonialismus offen zutage treten lässt.“ (351) Die von Arendt dabei entwickelte Konzeption von ‚Welt‘ ist abstrakt und orientiert sich nicht am Wortgebrauch der von ihr untersuchten Texte, wodurch sich dieser Ansatz grundlegend vom hier versuchten Projekt unterscheidet. 7 Außerdem suspendiere ich vorläufig die sprachlichen Unterschiede zwischen den FdG, d. h., zunächst gehe ich heuristisch von einer gegebenen Übersetzbarkeit von bspw. monde und world in ‚Welt‘ sowie earth und terre in ‚Erde‘ aus, um eine möglichst breite komparative Perspektive zu ermöglichen. Auf Ausnahmen und Probleme hierbei gehe ich u. a. in den Abschnitten II.1.2, III.2.6.1 und III.3.3 ein. 8 Zum Verhältnis zwischen Ganzheit und Mensch vgl. Achille Mbembe-258 und Nancy-27f. Hier ist außerdem hinzuzufügen, dass natürlich auch sehr kleine Einheiten als Ganz- 18 I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ ferenz als ‚dieser/ unser Planet‘ fassbar; man könnte behelfsmäßig sagen: der „menschliche Standort, der Planet Terra “ (Sloterdijk, Weltinnenraum 15) ist gemeint. Doch obwohl die von Cosgrove genannten FdG einerseits verwendet werden, als seien sie austauschbar, tragen sie andererseits „verschiedene Resonanz“ in sich. Anders gesagt sichert die Rede vom selben ‚Planeten Terra ‘ noch nicht ein geteiltes Verständnis von dieser Ganzheit in Bezug auf deren Eigenschaften. Besieht man sich zur Illustration die FdG ‚ globe ‘ im Kontext der jüngeren Globalisierungstheorie, so lässt sich feststellen, dass deren Etymologie sowohl auf ‚Kugel‘ als auch auf ‚Klumpen‘ zurückverfolgt werden kann (vgl. Nancy-14). Wer ‚ globe ‘ sagt, kann also äußerst verschiedene Vorstellungen von der Ganzheit verstanden wissen wollen und dies gilt genauso für andere FdG: So wie ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ die gleiche Bedeutung besitzen (auf die man am einfachsten mit dem Wort ‚Venus‘ referiert), ihr Sinn, also die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“, sich jedoch unterscheidet, so besitzen auch ‚Erde‘ und ‚Welt‘ in vielen Kontexten die gleiche Bedeutung, während die Unterschiede ihres Sinnes durchaus beträchtlich sind. ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ entsprechen einander also nicht. (Stockhammer, „Welt“-51) So besteht die Gefahr einer „Verwechslung zwischen Sinn und Bedeutung, also zwischen der Funktion des Wortes, etwas zu bedeuten und dabei gleichzeitig einen Sinn zu evozieren, und derjenigen, diesen Vorgang unter Ausschaltung des Sinns auf eine Bedeutung zurückzuführen (zu vereindeutigen).“ (Stockhammer, „Welt“-52) Missverständnisse, oder genauer (und problematischer), scheinbare ‚Verständnisse‘, sind so vorprogrammiert, da angenommen wird, lediglich mit unterschiedlichen Wörtern ‚vom Selben‘ zu sprechen. Entgegen dieser Annahme kann eine nuancierte Analyse von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren einen differenzierten Blick auf Ganzheit ermöglichen. Dabei soll stets die von Cosgrove beschriebene Spannung zwischen der Verwendung der Figuren in ihrer (vermeintlichen) ‚Austauschbarkeit‘ einerseits und deren ‚verschiedenen Resonanzen‘ andererseits mitgedacht werden. Der zu untersuchende Zeitraum (frühes 18. bis Mitte 19. Jahrhundert) wurde gewählt, da er für das Themenfeld der Ganzheit einen äußerst bewegten darstellt. Zur Illustration hierfür kann auf Globalisierungstheorien verwiesen werden, die heiten verstanden werden können - ein Haushalt, eine Familie, ein Individuum, ein Sandkorn etc. Als größere Ganzheiten werden hier jedoch eher solche verstanden, deren räumlicher Umfang in etwa der der Extension der Erde (oder sehr großen Teilen von ihr) entspricht. Zu diesem Zusammenhang vgl. ausführlicher Abschnitt II.1.2. I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ 19 für diesen Zeitabschnitt Prozesse ‚beschleunigter Verflechtung‘ beschreiben. 9 Die Prozesse selbst sind dabei zu großem Teil kolonialer Natur. Man denke etwa, diesen Zeitraum betreffend, an die Intensivierung des britischen Sklavenhandels nach 1713 (der die Dominanz der französischen Kolonialmacht in diesem Bereich abzulösen beginnt), den Siebenjährigen Krieg (1756-1763), der aufgrund der Ausdehnung seiner - aus der Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich hervorgehenden - Konfliktherde auch als ‚Welt-Krieg‘ beschrieben wird, sowie neben dem englischen und dem französischen an den amerikanischen Imperialismus, der sich im 19. Jahrhundert zu formieren beginnt - wobei dieser auf die ‚Öffnung‘ Japans für den Welt-Handel drängt. Auf alle genannten Kontexte wird im Rahmen der Analyse der drei literarischen Haupttexte genauer eingegangen. Diese und andere Vorgänge haben, wie es Niels Petersson und Jürgen Osterhammel in Geschichte der Globalisierung ausführen, ab der Mitte des 19.- Jahrhunderts eine erste erdumfassende Verflechtung hervorgebracht, d. h. einen „funktionierenden Weltmarkt und ungehinderten Kapitalverkehr, Wanderungsbewegungen, multinationale Konzerne, internationale Arbeitsteilung und ein Weltwährungssystem“ (15). Diesen Befund teilen sie hinsichtlich der Einschätzung der räumlichen Ausdehnung mit Wallerstein: „It [das moderne Welt-System; T.E.] has been in existence for some five hundred years and has expanded from its initial locus (parts of Europe plus parts of the Americas) to incorporate by the nineteenth century the entire globe in its orbit, becoming the only historical system on the planet.“ ( Universalism 52) Im 19. Jahrhundert also beginnen diese Zusammenhänge, wie sie die gerade zitierten Komposita „ Welt markt“, „ Welt währung“ sowie das „ world -system“ beschreiben (Hervorhebungen T.E.), 10 und welche Teil der europäischen Expansion sind, die gesamte Ausdehnung der Erde einzuschließen. 11 Dem atlantischen Raum kommt dabei eine Sonder- 9 Für den - gegenüber der hier angegebenen Zeitspanne leicht verschobenen - Zeitraum zwischen „1750 bis 1880 […] steht der Aufbau weltwirtschaftlicher Verflechtungen von bislang unbekannter Dichte unter dem Einfluß der von der Industriellen Revolution geschaffenen Produktions-, Transport- und Kommunikationskapazitäten. Gleichzeitig zieht sich Europa politisch auf sich selbst zurück: -Die Strukturen der Kolonialreiche in Amerika lösen sich bis auf unbedeutende Reste auf; die ‚Entstehung der Weltwirtschaft‘ verläuft unter den Bedingungen des sich durchsetzenden Freihandels. Zugleich beobachtet man den Export europäischer Institutionen - darunter des Nationalstaates - und europäisch-‚westlicher‘ Denkweisen in die Welt. In den 1860er und 1870er Jahren wirken erstmals auf wirtschaftlichem Gebiet wahrhaft globale Interpendenzen, von denen sich einige sogar statistisch ziemlich exakt nachweisen lassen.“ (Osterhammel u. Petersson-25f.) 10 Zur Frage, warum ausgerechnet ‚Welt‘ sich hier sprachlich durchsetzt, und was daraus eventuell zu schließen ist, vgl. II.1.2. 11 Natürlich lässt sich fragen, ob mit dem gerade umschriebenen Ansatz nicht unzulässig ein dezidiert aktuelles Denken auf die Vergangenheit projiziert wird. Denn wie Benja- 20 I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ rolle zu: „En effet, entre les xiv e et xix e siècles, l’horizon spatial de l’Europe s’élargit considérablement. L’Atlantique, graduellement, devient l’épicentre d’une nouvelle concaténation des mondes, le lieu d’où émerge une nouvelle conscience planétaire.“ (Mbembe-28) Die genannten Prozesse erzeugen also ein zunehmendes Bewusstsein („conscience“) vom Ganzen als einem geschlossenen Zusammenhang: „Globalization as a concept refers to both the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole. The processes and actions to which the concept of globalization now refers to have been proceeding, with some interruptions, for many centuries“ (Robertson, Globalization - 8). 12 Die so über den Lauf von Jahrhunderten hervorgebrachte Einheit eines Zusammenhangs zeichnet sich weiter durch den Einschluss von Asymmetrie aus; Eric Hayot schreibt (‚ world ‘ als Verb verwendend): „to world is to enclose, but also to exclude“ (40). Die Ganzheit ist damit, wie Franco Moretti es mit Bezug auf Wallerstein formuliert, „ one […] and unequal “ („World-Systems“- 70). Sie schließt also, wie diese Beschreibungen deutlich machen, eine große Spannung in sich ein (vgl. hierzu genauer II.1.1.4). Wie zu zeigen ist, zieht Wallersteins Terminologie, auf die ich mich in weiten Teilen stütze, ihre Stärke vor allem aus ihrem autoreflexiven Umgang mit der FdG ‚ world ‘. Denn ausgehend von den Ausführungen Wallersteins zu seiner Verwendung dieser FdG lässt sich der expandierende Charakter des Welt-Systems, sowie die Tatsache, dass dieses nur eine von vielen möglichen Welt en darstellt, besonders klar nachvollziehen (vgl. hierzu II.1.3). min Lazier herausstellt, ist es vor allem das 20. Jahrhundert - insbesondere erkennbar an der Arbeit von Arendt und Heidegger - welches als „Earthrise era“ (605) auf die Ganzheit und die FdG ‚Welt‘ und ‚Erde‘ reflektiert und deren Gehalt neu bestimmt. Ausgelöst (oder vielleicht sagt man besser: fortan geprägt) wurde dieses Denken, so Laziers These, nicht zuletzt von den ersten Fotografien, die die Erde im All zeigen (vgl. Lazier-603-607). Wie gezeigt werden soll, ist es jedoch keineswegs dem 20. Jahrhundert vorbehalten über ‚Welt‘, ‚Erde‘ und andere FdG gezielt nachzudenken; mit der ersten Fotografie der Erde aus dem All reiht sich dagegen lediglich ein weiteres Bildmedium in die lange Reihe von Darstellungen der Ganzheit ein. Die Möglichkeit, dass sich durch das Erscheinen der ersten Erd-Fotografien etwas wesentlich ändert, soll damit jedoch nicht geleugnet werden. 12 Der Vollständigkeit halber sei das Zitat hier in der Gänze angegeben, denn es heißt weiter: „but the main focus of the discussion is on relatively recent times.“ (Robertson, Globalization - 8) Vgl. auch zu dieser Beschreibung: „Globalisierung beinhaltet darüber hinaus die Entstehung eines Bewusstseins globaler Interkonnektivität, welches das Handeln der Menschen begleitet und beeinflusst“ (Moser u. Simonis- 12). Wie Frantz Fanon für das 20. Jahrhundert beschreibt, bringt dieses Bewusstsein von der ‚ganzen Welt‘ auch ein Bewusstsein von ihrem asymmetrischen Charakter mit sich: „Mais aussi sur le plan de l’expérience immédiate, le colonisé, qui a l’occasion de voir le monde moderne pénétrer jusque dans les coins les plus reculés de la brousse, prend une conscience très aiguë de ce qu’il ne possède pas.“ (73) I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ 21 Ganzheit wird im genannten Zeitraum in ihrem Gehalt also wesentlich neu bestimmt - ein Vorgang, der von den untersuchten literarischen Texten mitgestaltet und reflektiert wird. Insofern dieser Prozess vielschichtig, komplex und voller Spannungen ist, kann er nicht ohne erheblichen Aufwand abgebildet werden. Die zu belegende Kernthese besagt dementsprechend, dass die untersuchten literarischen Texte das vielschichtige, unübersichtliche - weil stark raumgreifende - und stellenweise unsichtbare Geschehen mittels der Verschränkung der Darstellung von Ganzheit mit der Darstellung von Körpern dennoch ins Bild zu rücken in der Lage sind. Meine Forschungsarbeit für das vorliegende Buch fragte von Beginn an nach Analoga zu den Modellen von Staatskörpern (wie etwa demjenigen in Thomas Hobbes Leviathan ), die jedoch größere (d. h. interkontinentale bis hin zu globale) Einheiten oder Prozesse zur Darstellung bringen (vgl.- II.2.4). Das Modell des Staatskörpers erwies sich nicht nur aufgrund des Zeitpunktes der Veröffentlichung von Hobbes Leviathan 1651 (und damit im Vorfeld des untersuchten Zeitraums) als besonders relevant (vgl. Abschnitt- III.2.4), sondern der Staatskörper dient vor allem aufgrund seiner Funktion als Hypotypose - d. h., dass er einer Ganzheit eine sinnliche Anschauung gibt, die sie ohne ihn nicht hätte - den hiesigen Untersuchungen als Leitschnur, 13 ausgehend von dem oben umrissenen Befund, dass sich die Ganzheit (auch und gerade im Wandel historischer Prozesse) nicht ohne Weiteres anschaulich machen lässt (vgl.- II.2). So soll sowohl das Dilemma der Darstellung von Gemeinschaften - nämlich, dass „das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar“ (Koschorke et al.-58) ist -, als auch die Ergebnisse der Forschung zu diesem Thema, den hiesigen Untersuchungen Orientierung geben. Darüber hinaus beziehen sich die untersuchten literarischen Texte mitunter explizit auf die Tradition des Staatskörpers und testen (teilweise satirisch) die mögliche Übertragung dieser Tradition auf deutlich größere Zusammenhänge, wie sie von FdG evoziert werden. Der Staatskörper ist dem hiesigen Vorhaben somit ein doppelter Bezugspunkt: einerseits, insofern sich hier auf die Forschungen zum Staatskörper wiederholt bezogen wird, und andererseits, indem das Aufgreifen der Tradition des Staatskörpers durch literarische Texte untersucht wird. Die Tatsache, dass die Idee des Staatskörpers bei Hobbes koloniale Wurzeln hat, spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle (vgl.-III.2.4.1). Aus dieser Perspektive lässt sich eine Gruppe von hochgradig einflussreichen literarischen Texten beschreiben, welche Körper auf eine Art inszenieren, die 13 Hypotyposen sollen hier also verstanden werden als „ Versinnlichungen eines Begriffs, die mit rhetorischen Mitteln vor Augen stellen, was anders nicht gesehen werden kann.“ (Koschorke et al.-58) 22 I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“ auf größere Zusammenhänge und Prozesse verweist; somit kann ein literarischer Topos der Verschränkung von Körpern und FdG isoliert werden. Wie zu zeigen ist, unterstreichen die untersuchten Texte dabei vor allem die Eigenschaft der Ganzheit als expandierend und asymmetrisch. Im Folgenden wird erstens aus der Perspektive jüngerer Überlegungen zur Ganzheit eine Analyse der literarischen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet (II.1); der Fokus wird dabei, neben der zentralen Analyse von Wallersteins Ansatz, auf den Ausführungen von Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Martin Heidegger, Jean-Luc Nancy und anderen liegen. Zweitens werden, ausgehend von der Beschreibung der Expansion des Welt-Systems in II.1, verschiedene Probleme bei der Darstellung von Ganzheit vorgestellt, um Referenzpunkte für die späteren Analysen zu schaffen (II.2). Den Untersuchungen der drei Haupttexte geht außerdem ein kurzer Exkurs voraus, der der Analyse eines sehr viel später erschienenen Textes gewidmet ist, Das Vermächtnis des Maître Mussard (2007) von Patrick Süskind, an dem sich einige Grundfragen der Analyse der anderen Texte besonders gut entfalten lassen, insofern sich dort ein besonders extremes Beispiel für die In-Eins-Setzung von Körper und Ganzheit explizieren lässt. Aus dieser Perspektive heraus werden anschließend die ausgewählten fiktionalen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht (III). Der Analyse dieser Texte folgt ein zusammenfassendes Fazit der Betrachtungen (IV). II Theoretische Konzepte und Fragestellungen 1 Das expandierende Welt-System 1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression Um 1500 beginnt ein Prozess, der verschieden benannt und konzeptualisiert wurde: so ist in Texten und Theorien die Rede vom Beginn des „Zeitalter[s] der Entdeckungen“ (Dünne- 11), der ‚Europäischen Expansion‘ oder der ‚Globalisierung‘ - vorausgesetzt man versteht unter Letzterer nicht ausschließlich Ereignisse und Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts. 14 Achille Mbembe fasst das Geschehen wie folgt zusammen: „Au cours de la période atlantique […] cette petite province de la planète qu’est l’Europe s’installe progressivement dans une position de capitanat sur le reste du monde.“ (Mbembe-33) Wallerstein schreibt, von der ‚Welt‘ unserer Gegenwart ausgehend und deren Ursprung beschreibend: The world in which we are now living, the modern world-system, had its origins in the sixteenth century. This world-system was then located in only a part of the globe, primarily in parts of Europe and the Americas. It expanded over time to cover the whole globe. It is and has always been a world-economy. It is and has always been a capitalist world-economy. ( World-Systems -23) ‚Unsere Welt‘ ist laut Wallerstein also die eines „Welt-Systems“, dessen historischer Ursprung im 16. Jahrhundert anzusiedeln ist; 15 bei diesem ‚Welt-System‘ 14 Peter Sloterdijk sieht mit dem Beginn der ‚Entdeckungen‘ (um 1500) die ‚Globalisierung‘ im von ihm definierten Sinn gar bereits in ihre zweite Phase eintreten (d. h. der zweiten Globalisierung nach 1500 ging eine erste voraus); vgl. Sloterdijk, Weltinnenraum 19-21. Dieser und den (im Folgenden ausführlich behandelten) Ausführungen Wallersteins ist gemeinsam - so verschieden sie in ihrem Fokus, ihren (politischen oder philosophischen) Interessenslagen und ihren Analyseergebnissen auch sein mögen -, dass sie für denselben Zeitraum (ab ca. 1500) einen raumgreifenden Prozessbeginn ansetzen (‚Globalisierung‘, ‚geografische Ausweitung des Welt-Systems‘, ‚europäische Expansion‘, ‚Entdeckung der Erde‘); Tzvetan Todorov schreibt in Die Eroberung Amerikas : „Seit diesem Datum [1492; T.E.] ist die Welt geschlossen (obwohl das Universum unendlich wird)“ (13). 15 Vgl. auch diese Beschreibung Wallersteins: „There is indeed a modern world-system, and it is truly different from all previous ones. It is a capitalist world-economy, which came into existence in the long sixteenth century in Europe and the Americas. And once it was able to consolidate itself, it followed its inner logic and structural needs to expand geographically. It developed the military and technological competence to do this, and was 26 1 Das expandierende Welt-System handelt es sich weiter um einen ökonomischen Zusammenhang. 16 Aus der Expansion dieses Welt-Systems („it expanded“) ergibt sich zunächst eine Vergrößerung des bekannten Raums (besonders prominent im Fall der zunehmenden Kolonialisierung Amerikas). 17 Doch dieser Prozess der räumlichen Vergrößerung hat einen natürlichen Endpunkt, bedingt durch die Endlichkeit der Ausdehnung der Erdoberfläche. Hannah Arendt schreibt in diesem Zusammenhang von „the enlargement of the earth’s surface, which found its final limitation only in the limitations of the globe itself, but also the still apparently limitless economic accumulation process.“ (250) Sie beschreibt damit, dass die „enlargement of the earth’s surface“ erst ihr Ende findet, sobald die gesamte Extension 18 der Erdoberfläche erfasst ist. Aus dem Prozess dieser Vergrößerung geht parallel eine Verkleinerung der Ganzheit hervor, insofern sich die Zeiten, die für das Reisen zwischen weit entfernten Punkten auf der Erdoberfläche mit dem Fortschreiten der Expansion immer weiter verringern und sich in einem schneller werdenden Welt-Verkehr institutionalisieren; Sloterdijk spricht vom „Wesen des entdeckenden Verkehrs“ als der „Ent-Fernung der Welt“ ( Sphären II- 909). Die zunehmende Geschwindigkeit, mit der Distanzen überbrückt werden, wird metaphorisch als ‚Verkleinerung‘ oder ‚Kompression‘ des Erdraums gefasst. Der Prozess der Expansion kollabiert somit in sein - scheinbares - Gegenteil, wie Arendt beschreibt: Precisely when the immensity of available space on earth was discovered, the famous shrinkage of the globe began, until eventually in our world (which, though the result of the modern age, is by no means identical with the modern age’s world) each man is as much inhabitant of the earth as he is inhabitant of his country. Men now live in an earth-wide continuous whole where even the notion of distance, still inherent in the most perfectly unbroken contiguity of parts, has yielded before the onslaught of speed. Speed has conquered space; and though this conquering process finds its limit at the unconquerable boundary of the simultaneous presence of one body at two different places, it has made distance meaningless, for no significant part of a human therefore able to incorporate one part of the world after another, until it came to include the entire globe sometime in the nineteenth century.“ ( Universalism -47f.) 16 Diese Beschreibung ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es im Lauf der Geschichte nicht nur Prozesse europäischer Expansion gab (vgl. Osterhammel u. Petersson-37). 17 „In the eyes of their contemporaries, the most spectacular of these events must have been the discoveries of unheard-of continents and undreamed-of oceans; […]; -certainly the least noticed was the addition of a new implement to man’s already large arsenal of tools, useless except to look at the stars, even though it was the first purely scientific instrument ever devised.“ (Arendt-249) 18 Zum Begriff der ‚Extension‘ vgl. Stockhammer, „Welt“ 50. Vgl. außerdem Osterhammel u. Petersson: „Die Erde ist ein einziger umgrenzter Handlungsraum, dessen Endlichkeit die Menschheit einengt.“ (110) 1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression 27 life-years, months, or even weeks-is any longer necessary to reach any point on the earth. (250) Mit dieser Verkleinerung geht ein zunehmendes Bewusstsein von der Ganzheit als geschlossenem Zusammenhang einher, es kommt zu einer „compression of the world into ‘a single place’“ (Robertson, Globalization - 6). Nur wenn die Folgen eines Ereignisses an einem Punkt der Erdoberfläche schnell an anderen Punkten auf der gleichen Oberfläche bemerkbar sind, werden diese Punkte deutlich als Teil des gleichen Zusammenhangs wahrgenommen. Es entsteht also das Bewusstsein, „daß jeder Ort auf einer umrundbaren Kugel auch aus der größten Ferne durch Transaktionen von Gegenspielern in Mitleidenschaft gezogen werden kann.“ (Sloterdijk, Sphären II -824) Expansion und Kompression stellen somit zwei Aspekte (bzw. bis zu einem gewissen Grad konsekutive Abschnitte) des gleichen Prozesses dar; 19 begründet liegt dies letztlich in der Begrenztheit der Oberfläche der Erde. Sobald dieser Raum in seiner Gänze erfasst ist, liegt die Grenze der Kompression durch die Geschwindigkeit letztlich nur noch in der von Arendt genannten physikalischen Unmöglichkeit für einen Körper, an zwei Stellen zugleich sein zu können; ausgerechnet der Körper ist hier also als letztes Hindernis anzusehen. Doch spricht Arendt im weiter oben zitierten Ausschnitt auch vom „economic accumulation process“, der, anders als die Oberfläche der Erde, „still apparently limitless“ zu sein scheint. Die Expansion, die schließlich erdumfassend wird, und in ihrem Verlauf ein Komprimieren der Erde bewirkt, ist an den endlosen Prozess der Akkumulation von Kapital geknüpft, ein Umstand, den Wallersteins Konzept des kapitalistischen Welt-Systems mitbedenkt. Doch bevor dieses Konzept genauer beschrieben und analysiert wird, ist im nächsten Abschnitt allgemeiner auf FdG einzugehen, wobei der Fokus auf der FdG ‚Welt‘ liegen wird, mit der Wallerstein seine einflussreiche Wortschöpfung des ‚Welt-Systems‘ bildet. Festzuhalten bleibt hier, dass der Prozess der Expansion als dynamisch und vielschichtig zu verstehen ist, insofern er die Kompression als Konsequenz der Endlichkeit der Erdoberfläche mit einschließt, und an den unbegrenzten Prozess der Akkumulation von Kapital knüpft. 19 „Nothing, to be sure, could have been more alien to the purpose of the explorers and circumnavigators of the early modern age than this closing-in process; they went to enlarge the earth, not shrink her into a ball, and when they submitted to the call of the distant, they had no intention of abolishing distance.“ (Arendt-251) 28 1 Das expandierende Welt-System 1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen In der großen Menge an kritischen Texten, welche sich der FdG ‚Welt‘ explizit widmen, insofern sie deren Gehalt zu fassen versuchen - ganz gleich ob sie diese dabei als Lemma, Begriff, Metapher oder Figur verstanden wissen wollen -, lassen sich zwei grundsätzliche Positionen unterscheiden. So behauptet die eine Seite, dass ‚Welt‘ sich nicht abschließend definieren lässt, und die andere, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt sehr wohl eindeutig bestimmt werden kann. Es stehen sich also Behauptungen, man könne ‚Welt‘ nie abschließend definieren einerseits, und - mehr oder weniger konkrete - Definitionen von Welt andererseits, gegenüber. Keine der beiden Positionen ist mehr im Recht als die andere. Weder ist es grundsätzlich falsch oder unmöglich ‚Welt‘ zu definieren, noch ist es abwegig, eine solche Definition nicht geben zu wollen. Doch lässt sich die Entscheidung, ob man eine Definition von ‚Welt‘ geben möchte oder nicht, auf Strukturen der FdG ‚Welt‘ zurückführen, die zur Bildung der verschiedenen Positionen in dieser Sache beitragen. Zunächst sollen hier einige mögliche Definitionen von ‚Welt‘ wiedergegeben werden. Rémi Brague etwa schreibt, ‚ monde ‘ sei ein „mot susceptible de désigner l’ensemble de la réalité d’une façon unifiée“ (24), anstelle additiver Reihungen wie „ciel, terre, mer, monde souterrain, etc.“ (33). ‚Welt‘ fungiere so als „synthèse des deux premières catégories de la quantité, la pluralité et l’unité.“ (25) Auch lässt sich Jean-Luc Nancys denkbar kurze Definition von ‚ monde ‘ als „totalité de sens“ (34) nennen, oder Heideggers voraussetzungsreiche Definition von ‚Welt‘ als das „Seiende im Ganzen“ (89; zur genaueren Analyse von Heideggers Ansatz vgl.-II.2.1). Betrachtet man in diesem Kontext Hans Blumenbergs Ausführungen zu ‚Welt‘ in der Theorie der Unbegrifflichkeit , 20 so stößt man auf die Anekdote, dass er nach einem Vortrag die Frage, wie er ‚Welt‘ definiere, nicht habe beantworten wollen: „In meiner Verzweiflung entschloß ich mich zu einer Parodie: ‚Die Welt ist der geometrische Ort aller Punkte‘“ (38). Als Grund für diese Weigerung gibt er explizit den Wunsch an, eine Diskussion von Wittgensteins Welt-Verständnis zu umgehen. 21 Dieser Wunsch impliziert die Annahme, dass eine philoso- 20 Deren Fund ich Nora Zapf und ihrem Vortrag zum Kompositum ‚Unter(wasser)welt‘ beim Workshop „Weltkomposita“ (30.-31.01.2015, Veranstalter: Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der LMU München in Kooperation mit dem DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“) verdanke. 21 Diesem Wunsch wird sich hier in in aller Stille angeschlossen, auch wenn sich die - wiederum äußerst voraussetzungsreiche - Definition von Welt (mit bestimmtem Artikel) bei Wittgenstein als „alles, was der Fall ist“ (11) in den obigen Absatz einfügen ließe. 1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen 29 phische Diskussion nicht den Königsweg zu einem besseren Verständnis von ‚Welt‘ darstellt. Stattdessen hält er diese ernüchternde Erkenntnis fest: „ ‚Welt‘ ist ein Ausdruck, bei dem der Versuch, Wortersetzungsregeln zu finden, konstitutiv zum Scheitern verurteilt ist. “ (ebd.) Man kann sich ‚Welt‘ anscheinend nicht ohne weiteres annähern: Regeln zur Synonymbildung - fester Bestandteil jeder Definition - können laut Blumenberg nicht gelingen. Dennoch, so weiter die Pointe Blumenbergs, entkommt man dem Wort ‚Welt‘ nicht. Zur Illustration führt Blumenberg nahezu völlig sinnentleerte Verwendungen von ‚Welt‘ ins Feld, wie etwa in hohlen Aussagen „wie ‚Die Welt ist schlecht‘ oder ‚Die Welt steht vor dem Untergang‘“ (ebd.). 22 Anhand dieser Beispiele macht er deutlich, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt nahezu unmöglich einzugrenzen ist, und dennoch - oder sagt man treffender: deswegen? - sehr häufig gebraucht wird. Hayot beschreibt die von Blumenberg damit adressierte Problematik mit der Aussage, dass „non-tautological, precise statements about the world are harder to make than one might think.“ (39) Obwohl man gewissermaßen ständig nicht umhin kommt, ‚Welt‘ zu sagen, ist es unmöglich, den genauen Gehalt dieses Wortes zu definieren. Entsprechend will Blumenberg - im Scherz - ein Wort-Verbot nicht gänzlich ablehnen: „Selbst wenn ich zur Zustimmung geneigt wäre, man solle Sätze über ‚die Welt‘ fortan lieber überhaupt nicht mehr bilden oder gebrauchen, wäre ich doch sehr unsicher, ob diesem Verbot jemals Erfolg beschieden sein könnte.“ (38) Dabei ist jedoch explizit auf Blumenbergs Verständnis von ‚Begriff‘ einzugehen, als welchen er ‚Welt‘ verstanden wissen will. Blumenbergs ‚Begriff‘ ist - vielleicht kontraintuitiv, aber einleuchtend - durch seine Undefinierbarkeit bestimmt, denn er führt aus: „Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstandes. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes.“ (9) Weiter schreibt er: „Es könnte sein, daß die Leistung des Begriffs nur partiell gegenüber der Intention der Vernunft ist, die immer etwas mit Totalität zu tun zu haben scheint.“ (9) Im Blumenberg’schen ‚Begriff‘ ist damit eine Spannung eingeschrieben, die unauflösbar ist: die Vernunft will zur Totalität; ein Wunsch, den der so verstandene Begriff „nur partiell“ bedient, denn in ihm ist immer auch die „Abwesenheit seines Gegenstandes“ eingeschrieben. Damit ist der ‚Begriff‘ „zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartung nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.“ (10) In diesem Verständnis von ‚Welt‘ ist diese stets entzogen, insofern sie als ‚Begriff‘ nur eine Richtung ‚auf sie hin‘ vorgibt. 22 Vgl. außerdem Abschnitt-III.3 dieses Buches, der der Analyse des Candide gewidmet ist, in dem sich zahllose solcher hohlen Verwendungen von ‚Welt‘ finden. 30 1 Das expandierende Welt-System Als weitere Argumente für die Unmöglichkeit, Welt zu definieren, lassen sich ‚konzeptuelle Ambivalenzen‘ anführen, welche die FdG ‚Welt‘ birgt. Eric Hayot weist, ausgehend vom Eintrag zu world im OED , auf folgenden Zusammenhang hin: Its [der Welt; T.E.] definitions in the Oxford English Dictionary run to some forty pages, and its complexity and slipperiness appear from the very first one: “human existence; a period of this,” words whose reference mostly to time will surprise anyone accustomed to thinking of “world” as having largely spatial implications. The second major definition makes things both better and worse: “the earth or a region of it; the universe or a part of it.” Here we are on familiar spatial ground. But what to make of that double “or”? Like the semicolon in the first definition, it forces “world” to pivot between an ontological reference to any self-enclosing whole (what are, after all, periods, regions, or parts of wholes but wholes themselves? ) and a material reference to the largest possible versions of such wholes (history; the planet Earth; the universe). By highlighting the tension between world as a generic totality and world as the most total totality of all-the totality of the “part” and the totality of the “whole” - this ambivalence recapitulates the difficulties generated by the “world” of world-systems and the “world” of world literature. […] “[W]orld” thus bears within itself the conceptual difficulty that makes its use in contemporary literary criticism so fecund, and so incoherent. (38f.) Was Hayot hier als „conceptual difficulty“ beschreibt, umfasst folgende Struktur: ‚Welt‘ kann sowohl die „totality of the ‘part’“ (eine Region, eine Zeitspanne etc.) als auch „the totality of the ‘whole’“ bezeichnen, wobei Letzteres von ihm auch beschrieben wird als „the most total totality of all“. Letztgenannte Formulierung buchstabiert das Potenzial von ‚Welt‘, schlicht alles zu bezeichnen, mit spielerisch-ironischem Gestus aus. Robert Stockhammer äußert zu diesem Sachverhalt (wiederum unter Bezug auf ein Wörterbuch, diesmal das von Jacob und Wilhelm Grimm begründete Deutsche Wörterbuch ) das Folgende: Kleine Welten, wie diejenigen einer Mäusegemeinde oder eines Maulwurfsbaus, wären dann nur anders skaliert als der ‚kreis der erdbewohner‘ […] oder - davon bemerkenswerterweise „ nicht scharf abzugrenzen “ - der ‚erdkreis‘ […]. Und ‚Welt‘ im Sinne von ‚Weltall‘ […] wäre, als größtmögliche Skalierung, zugleich eine Hyperbel, die auf das größte denkbare All zielt. Auch dieses ist noch „ ein all im kleinen “, insofern es als ein irgendwie „ abgeschlossenes ganzes “ gedacht wird […]. (Stockhammer, „Welt“-50) Die Größe dessen, was ‚Welt‘ bezeichnet, kann demnach stark variieren, es handelt sich um eine flexible Extension. Auch Roland Robertson scheint sich dieser Flexibilität bewusst zu sein, insofern er in seiner Verwendung von ‚ world ‘ gehäuft ein „as a whole“ anhängt (8, 10, 13, 14, 15, 24, 25, 26, 28, 31 etc.) - um 1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen 31 deutlich zu machen, dass es ihm in diesem Sinne um ‚ world ‘ geht, und nicht nur um einen Ausschnitt der Erde. ‚Welt‘ ist, kurz gesagt, ‚skalierbar‘. 23 C. S. Lewis 24 widmet ein ganzes Kapitel seines 1960 erschienenen Studies in Words dem Wort ‚ world ‘. Dabei weist er darauf hin, dass sich world in zwei Hauptbedeutungen unterteilen lässt: „In the earliest recorded period of our language this noun has two senses which we may call World A and World B.“ (214) Er führt aus: „[T]o cover all the shades of the A -sense we had better say that World A means something like age or durée. “ (214) 25 Die zweite Bedeutung dagegen entspricht der, die ein heutiger Sprecher auch im Sinn haben wird: The Bsense is that which the word most naturally suggests to a modern speaker. The poet who did the Metres of Boethius into Anglo-Saxon writes ‘in those days there were no great houses in the weorulde ’. Here we could translate it ‘earth’. But whenever the distinction between the earth and the universe is present in the mind, World B can mean either, and the context usually shows which. (215) Hier ist vor allem die weitere Differenzierung von ‚Welt‘ in die Bedeutungen ‚ universe ‘ und ‚ earth ‘ entscheidend. Weiter definiert Lewis: „ World B may loosely be defined as the region that contains all regions; if all absolutely, then it means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Dem ist hinzuzufügen, dass ‚ world ‘ mit dem Lauf der Zeit zunehmend weniger die Bedeutung von ‚ universe ‘ zu tragen scheint: „On the other hand, world is decreasingly used to mean the absolute region of regions; universe tends to replace it. Partly, no doubt, this has happened because the ambiguity of world can cause inconvenience.“ (249) 26 Der sukzessiven Ersetzung von ‚ world ‘ durch 23 Achim Hölter spricht, wenn auch in einem anders gelagerten Zusammenhang, von einem „Maßstab-Problem, denn: Kann man bei sehr kleinen, wenn auch ganzen Dingen von Totalität sprechen? “ (97) Es gibt also - wenn auch noch so kleine Einheiten als ‚Welten‘ erscheinen könnten - eine Gegenposition, die fragt, ob dieses Spiel im ‚ganz Kleinen‘ nicht seinen Sinn verliert. 24 Ja, es handelt sich tatsächlich um den Autor der Chronicles of Narnia , der zudem eine akademische Karriere absolvierte. 25 „By an unusual archaism, the A -sense is preserved in the Prayer Book, where it probably mystifies many church-goers. ‘World without end’ means ‘age without end’, forever. As a boy I thought that ‘before all worlds’ in the Nicene Creed meant ‘before any of the planets’. It really means ‘before all ages’, outside time, ab aeterno. “ (Lewis-214) 26 „But the change of name is also connected with a change in our conception of the thing. For many centuries those who used world in the wider sense had a very clear picture of what they meant. The world (or mundus or kosmos ) they had in mind was that depicted by Greek and medieval science, with its unmoving spherical Earth, a tiny speck, at the centre and the successively larger and swifter spheres or ‘heavens’ revolving round it, and the Primum Mobile encircling the whole. This mundus had its internal diversities: a realm of air and change and chance which extended up to the lowest sphere (that of the 32 1 Das expandierende Welt-System ‚ universe ‘ hat Alexandre Koyré ein ganzes Buch gewidmet, dessen Titel sein Ergebnis konzis zusammenfasst: From the Closed World to the Infinite Universe . 27 „[T]he equation of the world with the spatial extensiveness of the globe“ (Chea- 48) also erscheint vor dem Hintergrund der von Lewis so genannten „ambiguity of world “ als Sonderfall, d. h. als nur eine Bedeutung von vielen möglichen. Dabei ist jedoch Folgendes zu betonen: Während freilich Metaphern wie ‚Welt der Maulwürfe‘ oder ‚Welt der Mäuse‘ üblicherweise im eng benachbarten syntaktischen Kontext präzisiert werden müssen (sei es durch ganze Erzählungen, sei es durch abgekürzte Genitivattribute), scheint die Verwendung von ‚Welt‘ in der Bedeutung von Erde keiner ausdrücklichen Bestimmung zu bedürfen. (Stockhammer, „Welt“-50) So ist also festzuhalten, dass die unbestimmte Rede von ‚Welt‘ in der Regel als „in der Bedeutung von Erde“ zu verstehen ist. Ein zu starker Fokus auf diesen Sonderfall kann nichtsdestotrotz den Blick für andere Bedeutungsvarianten von ‚Welt‘ trüben. Wenn ‚Welt‘ also sowohl die Ganzheit eines Teils als auch die Ganzheit des Ganzen bezeichnen kann, so ist im Einzelfall die Bedeutung jeweils neu zu ermitteln; es ist jeweils neu zu bestimmen, welches ‚Ganze‘ bezeichnet werden soll, d. h. wie total die evozierte Totalität ist. So muss ‚Welt‘ stets in ihrem Potenzial, verschiedene Ganzheiten zu fassen, begriffen werden. Diese Konstellation führt, wie Hayot anhand mehrerer Beispiele demonstriert, zu zahllosen Missverständnissen, und er schlussfolgert „that no one has a very good theory of the world“ (Hayot-40). Faced with this problem, a task: to come up with a better theory of the world, and of the relationship between the world and literature. Not to produce a mediating relay moon), and beyond that the immutable realm of ether and necessity. But these made a pattern that could easily be grasped and the whole system had the unity in multiplicity of a vast building. When Marlowe spoke about ‘the wondrous architecture of the world’, the word architecture was hardly a metaphor. The world was the great work of art, matchless (as we have seen) in its ‘elegance’; perfect: neither needing nor allowing any addition.“ (Lewis-249f.) 27 „The path which led from the closed world of the ancients to the open one of the moderns was, as a matter of fact, not very long: barely a hundred years separate the De revolutionibus orbium coelestium of Copernicus (1543) from the Principia philosophiae of Descartes (1644); barely forty years these Principia from the Philosophia naturalis pincipia matematica [Isaac Newton; T.E.] (1687). On the other hand, it was rather difficult, full of obstacles and dangerous road blocks.“ (Koyré ix) Dabei hält Koyré fest, dass dem Unendlich-Werden der ‚totalen Ganzheit‘ dessen räumliche Vergrößerung - von Text zu Text - vorausgeht: „the world-bubble has to swell before bursting.“ (34) 1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt 33 between world literature and world-systems, but to see if a third analysis, focusing on the ontology of composed works, can bring “world” differently into the scene. And to see, then, if such a theory makes any difference to our understanding of world literature or the history of worldedness as an aesthetic and cultural phenomenon-as a symptom and as a compass for the history, in other words, of totality as a function of the human imagination. (Hayot-40f.) Hayot schlägt als Alternative vor, world auf eine Art und Weise zu definieren, die die besagten Ambivalenzen explizit ausbuchstabiert - und world außerdem von einem Nomen in ein Verb wandelt: „To world is to enclose, but also to exclude“ (39). Hayot schreibt weiter: „What falls in the ambit of those enclosures and exclusions will determine the political meaning of any given act of world-making, as it does so in our debates on world literature.“ (40) Damit liefert er eine Formulierung, die den ambivalenten Charakter von ‚Welt‘ expliziert. Der Vorteil dieser Definition Hayots besteht darin, dass sie keineswegs unbeweglich ist, sondern eine flexible ‚sowohl-als-auch‘-Struktur vorgibt, die auf eine in ‚Welt‘ eingeschlossene Ungleichheit verweist. Abschließend lässt sich hier Folgendes zusammenfassen: Der Umfang, den FdG bezeichnen und evozieren, kann im Einzelfall deutlich variieren. Starke Definitionsakte versuchen diesen Unsicherheiten zu begegnen, sie können sie jedoch nicht ausräumen. Ein möglicher Weg, dieser schwierigen Ausgangslage gerecht zu werden, besteht in dem bereits weiter oben (Abschnitt-I) beschriebenen Verständnis von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren , welches ein stets neues Bestimmen der Bedeutung von FdG erlaubt. 1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt Laut Immanuel Wallerstein ist es die Grundeigenschaft des Kapitalismus, Kapital anzuhäufen um - ad infinitum - weiteres Kapital anzuhäufen: 28 „Using such a definition, only the modern world-system has been a capitalist system.“ ( World-Systems- 24) Die kapitalistische Natur des Welt-Systems wiederum hat dessen Expansion stetig vorangetrieben. Aus der Perspektive der hiesigen Stu- 28 „Endless accumulation is a quite simple concept: it means that people and firms are accumulating capital in order to accumulate still more capital, a process that is continual and endless. If we say that a system ‘gives priority’ to such endless accumulation, it means that there exist structural mechanisms by which those who act with other motivations are penalized in some way, and are eventually eliminated from the social scene, whereas those who act with the appropriate motivations are rewarded and, if successful, enriched.“ (Wallerstein, World-Systems -24) 34 1 Das expandierende Welt-System die drängt sich mit Blick auf Wallersteins Terminologie die Frage auf, warum Wallerstein das von ihm beschriebene kapitalistische System konsequent an die FdG ‚ world ‘ bindet. Wallerstein selbst beschreibt, dass es ihm in seiner Verwendung von ‚ world-system ‘ nicht um die Welt zu tun ist, sondern um eine Welt, und geht damit explizit auf eine wesentliche Differenzierung ein: Note the hyphen in world-system and its two subcategories, world-economies and world-empires. Putting in the hyphen was intended to underline that we are talking not about systems, economies, empires of the (whole) world, but about systems, economies, empires that are a world (but quite possibly, and indeed usually, not encompassing the entire globe). This is a key initial concept to grasp. It says that in “world-systems” we are dealing with a spatial/ temporal zone which cuts across many political and cultural units, one that represents an integrated zone of activity and institutions which obey certain systemic rules. ( World-Systems- 16f.) Zunächst ist zu erwähnen, dass es laut Wallerstein mehrere Welt-Systeme gab, welche dem aktuellen (kapitalistischen) Welt-System vorausgingen; daraus erklärt sich auch der Plural im Namen der Disziplin: world-system sanalysis . Im zitierten Passus verdeutlicht Wallerstein durch eine eingeschobene Klammer, dass ‚Welt‘ mit bestimmtem Artikel diese in ihrer Gänze bezeichnet („ the (whole) world“). Doch diese Bedeutung soll die Wortbildung ‚ world-system ‘ dezidiert nicht aufrufen. 29 Denn eine Welt ist in ihrer Ausdehnung, laut Wallerstein, in der Regel nicht global, das heißt eine Welt umspannt „gewöhnlich nicht“ den ganzen Globus. Potenziell jedoch kann eine Welt den ganzen Globus umfassen. Dieser Fall trifft jedoch nur auf das kapitalistische Welt-System zu, welches sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts etabliert, denn nur dieses umspannt, am Ende eines langen historischen Prozesses, den ganzen Globus („globe“). Vorgängige „Welt-Ökonomien“ und „Welt-Imperien“ waren nicht (und das heißt: zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz) globus-umspannend. Auch in Historical Capitalism (vor allem 97-101) beschreibt Wallerstein, dass der ‚Welt‘ des aktuellen Welt-Systems andere Welt-Systeme oder Welt en („the worlds before historical capitalism“,- 100) vorausgingen. „The […] use of the plural is necessary because, strictly speaking, the term ‘world’ does not necessarily, in world-systems theory, apply to the entire world.“ (Robertson, Globalization -14) ‚Welthaftigkeit‘ ist also dezidiert keine dem aktuellen Welt-System vorbehaltene Eigenschaft. Das kapitalistische Welt-System ist jedoch insofern 29 „In one sense, coming from the world-systems perspective adopted (at times) by Pascale Casanova and Franco Moretti, ‘world’ refers not to the actual world but to the total enworldedness, or world-constituting force, of a system.“ (Hayot-31) 1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt 35 einzigartig, als es im Zuge seiner Expansion schließlich doch erdumspannend installiert wird. In der Zeitspanne von ca. 1600 bis „sometime in the 19 th century“ (Wallerstein, Universalism- 48) stellt das kapitalistische Welt-System damit eine Welt dar. Ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im 19. Jahrhundert - womit ein Übergang ohne klares Schwellenereignis postuliert wird 30 - wird das kapitalistische Welt-System global. Wallersteins eigene Ausführungen zu „world“ anwendend, lässt sich sagen, dass sich das kapitalistische Welt-System von einer Welt hin zu einem Welt-System, dass die Welt umspannt, ausbreitet - womit sich die Bedeutung von ‚Welt‘ im Welt-System wandelt. Die eine ‚Welt‘ des kapitalistischen ‚Welt-Systems‘ bezeichnet nach ihrer Globalwerdung die Welt, d. h. sie umfasst die ganze Extension der Erde. Worauf Wallerstein damit hinweist, ist die Tatsache, dass es ein signifikanter Unterschied ist, ob man von ‚Ganzheit‘ mit oder ohne bestimmtem Artikel spricht. Roland Robertson erwähnt die Unterscheidung zwischen einer Welt einerseits und der Welt andererseits in seinem Werk Globalization (1992) eher beiläufig, als eingeklammerten Einschub: „a world that is increasingly compressed (and indeed often identified as the world)“ (98; Hervorhebung T.E.), was den Status dieser oft übersehenen, bzw. wenn überhaupt dann nur en passant getroffenen, Unterscheidung deutlich illustriert. Worauf Robertson im Kotext des Zitats anspielt, ist die Tatsache, dass die meisten Globalisierungstheorien (in deren Kontext Robertson sich hier bewegt und verortet) von einem Eins-Werden des globalen Zusammenhangs ausgehen; die komprimierte ‚Welt‘ kennt kein Außen mehr, weshalb sie als die Welt bezeichnet werden kann. Da es (so die Annahme, die dem logisch zugrunde liegt) keine anderen Neben- oder Teil-Welten mehr gibt, ist die Unterscheidung zwischen einer Welt und der Welt anscheinend hinfällig. Bemerkenswert ist jedoch, dass Robertson keinen Bedarf sieht, sich hier zu erklären, gerade angesichts seines im Allgemeinen äußerst explikativen Stils. Von der Ganzheit im engeren Sinn - von „all absolutely“ (Lewis-215, s. o.) also, der allumfassenden Extension, die man heute zumeist als ‚Universum‘ bezeichnet - 31 ist ganz allgemein eher im Ausnahmefall die Rede. Denn die Ganzheit in diesem Sinn ist der Gegenstand exklusiver philosophischer, physikalischer und kosmologischer Überlegungen (vgl. bspw. Koyré- 5-10). Außerhalb dieser Domänen jedoch ist mit der Rede von der- Ganzheit die - im jeweiligen Kontext - bestimmende Größe (zumeist: ohne Außen) gemeint. C. S. Lewis schreibt zu diesem Sachverhalt: „[I]f all absolutely, then it [ world ; T.E.] means universe; 30 Die ‚Öffnung‘ Japans Mitte des 19. Jahrhunderts kann jedoch als ein mögliches Schwellenereignis angenommen werden. Vgl. hierzu Osterhammel u. Petersson 57, sowie-III.4.4. 31 Zum Verlauf dieses Prozesses vgl. Koyré viii-ix. 36 1 Das expandierende Welt-System if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Ob diese konkrete Beschreibung nun in jedem Fall zutrifft oder nicht - sie beruht jedenfalls auf der bereits beschriebenen Unterscheidung zwischen der umfassendsten „Skalierung“ (Stockhammer, „Welt“-50) von ‚Welt‘ einerseits und der Ganzheit des Teils andererseits. 32 Wallerstein vollzieht die oben untersuchte Unterscheidung zwischen Welt mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel, um deutlich zu machen, dass das Welt-System des Kapitalismus nicht natürlich entstanden ist, und seine Werte nicht von universaler Gültigkeit sind. Stattdessen stellt es nur eine Welt/ ein Welt-System dar, welches sich in einem historischen Prozess über die ganze Erde ausgebreitet hat. Es ist somit als Ergebnis eines spezifischen Vorgangs global geworden. The pan-European world, dominating the world-system economically and politically, defined itself as the heart, the culmination, of a civilizational process which it traced back to Europe’s presumed roots in Antiquity. Given the state of its civilization and its technology in the nineteenth century, the pan-European world claimed the duty to impose itself, culturally as well as politically, on everyone else-Kipling’s “White man’s burden,” the “manifest destiny” of the United States, France’s mission civilisatrice. (Wallerstein, World-Systems -66) Insofern dem einen Welt-System des Kapitalismus andere Welt-System e vorausgingen, ist die kapitalistische Ordnung nicht als die ‚beste aller möglichen Welten‘ anzusehen. D.h., das aktuelle Welt-System ist kein Fortschritt gegenüber vorgängigen Welt-Systemen (vgl. Wallerstein, Capitalism- 97-110). Es erweckt lediglich diesen Anschein, indem es die Idee des Fortschritts zu einem seiner Leitmotive erklärt (vgl. Wallerstein, Universalism- 33 und Mbembe-25). Doch dies gilt nicht nur für das aktuelle Welt-System, denn Wallerstein hält fest: „There never was a golden era.“ ( Capitalism -136) Welten lösen einander ab, und die Frage ihrer Bewertung ist hochkomplex. Zwar tritt Wallerstein den Versuch an, die Frage zu beantworten, ob es der Mehrzahl der Menschen im Feudalismus nicht vielleicht ‚besser ging‘, als im anschließenden Kapitalismus (vgl. ebd.), doch er ist - trotz seiner generell äußerst skeptischen Haltung gegenüber dem von ihm beschriebenen kapitalistischen Welt-System - in seinen Schlussfolgerungen hier vorsichtig. Er beschränkt sich auf die Aussage, dass es immerhin nicht ausgeschlossen sei, dass der Kapitalismus für die Mehrheit der Menschen keine deutliche Verbesserung mit sich brachte: „It is, let me say, at the very least by 32 Die Rede von ‚Erde‘ mit unbestimmtem Artikel - eine Erde - mag in wenigen Einzelfällen Sinn ergeben, ist jedoch ein absoluter Ausnahmefall, der außerhalb des hier untersuchten Bereichs fällt. Selbiges gilt für Globus: vorausgesetzt man bezeichnet mit diesem den ‚Planeten Terra‘ und nicht den Globus auf dem Schreibtisch. 1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt 37 no means self-evident that there is more liberty, equality, and fraternity in the world today than there was one thousand years ago“ ( Capitalism- 100). Doch stellt sich, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten, immer noch die Frage nach dem Grund für die Wahl der FdG ‚ world ‘ durch Wallerstein. Wieso spricht er vom Welt -System, wenn das doch die Möglichkeit birgt, die eine Welt des Kapitalismus als die Welt misszuverstehen, und so eine ‚Naturalisierung‘ des Kapitalismus zu befördern? Bzw. ließe sich genauer fragen, wieso Wallerstein nicht von Systemen spricht - und die FdG ‚Welt‘ nicht einfach ganz fallen lässt? Einige plausible Antworten sind möglich: Erstens lässt sich festhalten, dass Wallerstein vom Kapitalismus als selbstbezügliches System spricht (Kapital wird angehäuft, um weiteres Kapital anzuhäufen). Selbstbezüglichkeit ist eine in mehreren Texten genannte Bedeutungsnuance von ‚Welt‘. 33 Mit dem Hinzufügen von ‚Welt‘ betont Wallerstein also diesen speziellen Charakterzug des kapitalistischen Systems. Zweitens ist die Tatsache der geografischen Ausbreitung des Welt-Systems, die Wallerstein wiederholt betont, von großer Wichtigkeit: There is indeed a modern world-system, and it is truly different from all previous ones. It is a capitalist world-economy, which came into existence in the long sixteenth century in Europe and the Americas. And once it was able to consolidate itself, it followed its inner logic and structural needs to expand geographically. It developed the military and technological competence to do this, and was therefore able to incorporate one part of the world after another, until it came to include the entire globe sometime in the nineteenth century. ( Universalism- 47f.) Die geografische Ausbreitung des world-system wird von Wallerstein an mehreren Stellen erwähnt, und seine Terminologie bleibt dabei stets konsistent: Das worldsystem breitet sich über den „globe“ aus. Die FdG ‚ world ‘ unterhält also in Wallersteins Verwendung eine integrale Beziehung zur FdG ‚ globe ‘. Entsprechend der Logik einer immer umfassenderen Expansion wird das System ab einem bestimmten Zeitpunkt global. Wallerstein aktualisiert so die Bedeutung von ‚Welt‘ als ‚flexible Ausdehnung‘. Der Begriff ‚Welt‘ erlaubt Wallerstein ein sich ausbreitendes System zu beschreiben, das relativ klein beginnt, und 33 „In its most elementary sense, ‘world’ evokes an identifiably complex, autonomous community or society of beings with its own culture and economy, its own patterns of behavior and interaction and modus vivendi, spread out in a more or less extensive spatial domain. To conceive of the world or a world necessarily involves thinking in terms of territory, time, nature, life, and sociocultural order and infusing these with specific characteristics and principles. The notion of ‘world,’ then, comprehends any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history-or a plurality of these-are thought to be enacted.“ (Hutchinson-174) 38 1 Das expandierende Welt-System schließlich global wird. Die FdG ‚Welt‘ ist ideal geeignet, dieses Anwachsen zu beschreiben, und kann, ohne die geringste Irritation, sowohl den Beginn als auch das ‚globale Endstadium‘ der Ausbreitung des Systems bezeichnen. Hayot fasst alle bisher genannten Aspekte wie folgt zusammen: World-systems are worlds, in the sense that they constitute a self-organizing, self-enclosed, and self-referential totality; but they are not to be confused with the actual world, which-though it is also, of course, a world-is the only world whose geographic scope coincides exactly with that of the Earth. (32) Der Gefahr einer Naturalisierung eines historischen Systems durch die Wahl der FdG ‚ world ‘ tritt Wallerstein explizit entgegen; sie ist im Wort ‚Welt‘ ursächlich bereits angelegt, was seinen expliziten Kommentar nötig werden lässt. Anders gesagt lässt sich die Rede von ‚Welt‘ selbst in den skeptischen und vorsichtigen Ausführungen Wallersteins nicht ganz von ihrem totalisierenden Charakter befreien, der daher ausdrücklich abgewiesen werden muss. Es handelt sich demnach bei Wallersteins Art der Beschreibung der Geschichte seit dem 16. Jahrhundert um die Darstellung einer schrittweisen Expansion, geprägt von der spezifischen Perspektive der Kapitalismusanalyse (vgl. hierzu Robertson, Globalization- 15). Diese Analyse ist in ihrer Verwendung von FdG bemerkenswert präzise, insofern sie ihre Verwendung von world explizit und nuanciert diskutiert. Besagte Nuancierung wirkt einer Gleichsetzung von einer Welt mit der Welt entgegen, die einer Naturalisierung des aktuellen Welt- Systems gleichkäme, und betont damit, dass ‚unsere Welt‘ ihrer Extension nach nicht immer global war - und deswegen nicht als alternativloses System angesehen werden muss. Jede Rede von ‚Welt‘ muss also, wenn sie den Überlegungen von Wallerstein gerecht werden will, stets zwischen bestimmtem und unbestimmtem Artikel unterscheiden, bzw. lässt sich der Imperativ ableiten, die Analyse von FdG nie losgelöst vom jeweiligen historischen Kontext vorzunehmen. 1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit Franco Moretti ist ausgewiesener Rezipient der Arbeiten Wallersteins und versucht deren Beiträge zu den Literaturwissenschaften wiederholt auszuloten (vgl. „World-Systems“ 67-71). Entsprechend konzis ist seine Zusammenfassung der grundsätzlichsten Eigenschaften der aus der Expansion des Welt-Systems hervorgehenden ‚Welt‘: 1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit 39 The world becomes one , and unequal : one, because capitalism constrains production everywhere on the planet; and unequal, because its network of exchange requires, and reinforces, a marked power unevenness between the three areas [Zentrum, Peripherie, Semiperipherie; T.E.]. („World-Systems“-70) 34 Das Welt-System bringt also einen Zusammenhang hervor, 35 „because capitalism constrains production everywhere on the planet“, und spannt ein globales ‚Netz‘. 36 Diese bewusst gewählte Metapher darf jedoch nicht missverstanden werden, wie Osterhammel und Petersson in Bezug auf ihre Konzeption von ‚Globalisierung‘ ausführen: Das Bild des Netzes darf nicht den banalen Eindruck erwecken, als hänge alles mit allem zusammen. Interaktionen sind gerichtet. Manche von ihnen verlaufen tatsächlich reziprok und interaktiv, Tauschakte zum Beispiel, andere nicht. Der transatlantische Sklavenhandel der Frühen Neuzeit kannte nur eine Richtung: - fast keiner der verschleppten Afrikaner kehrte je in seine Heimat zurück. (Osterhammel u. Petersson-22) 34 Eine Variante findet diese Formulierung in Morettis Beschreibung des Buchmarktes in Conjectures on World Literature als „simultaneously one […] and unequal “ (56). Diese Formulierung ist der oben gegebenen vielleicht sogar vorzuziehen, insofern sie die Simultanität beider Eigenschaften der ‚Welt‘ betont, sie bleibt jedoch auf den engeren Kontext des Buchmarkts bezogen. Emily Apter spricht konzis von „Wallerstein’s central idea of the world as one and unequal“ (365), und unterstreicht damit ebenfalls diese Formel. 35 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Achille Mbembe: „Car, en effet, il n’y a qu’un seul monde. Celui-ci est un Tout composé de mille parts. De tout le monde. De tous les mondes.“ (258) Daran anschließend formuliert er folgenden Anspruch: „Il n’y a qu’un seul monde et nous en sommes tous des ayants droit. Ce monde nous appartient à tous, également, et nous en sommes tous des cohéritiers, même si les manières de l’habiter ne sont pas les mêmes - d’où justement la réelle pluralité des cultures et des façons de vivre.“ (260f.) Eric Hayots Beschreibungen der ‚Moderne‘ kommen - trotz der Unterschiede in der Terminologie - zu sehr ähnlichen Ergebnissen, insofern auch er eine Ein sheit der Ganzheit erkennt: „The modern world-view, the feeling of modernity, is perhaps most simply the feeling that one lives in the same world as everyone else, that the rules governing history, physics, economy, communication, culture, space, and time, are the same everywhere and for all time: a general geometrization of the various measures of the universe. The period we call modernity sees the dramatic rise to prominence of this world-view, and its imposition via culture, economy, and violence on people with other views. To refer to ‘modernity’ as a cultural formation, then, is to refer to a particular kind of perception of the world. One may say that an era or a society or a person is ‘modern’ if each holds or is governed by this perspective (in general-we should not expect too much consistency). Modernity is by definition exclusive of other possibilities.“ (115) 36 Ausgehend von den philosophischen Diskussionen in der europäischen Geschichte hält Hayot fest: „ There cannot be a plurality of worlds : in this phrase of Descartes’s lies the core of the entire modern world picture. All the violence and hope bound up in the modern project has depended on it.“ (106) 40 1 Das expandierende Welt-System Wallerstein spricht von „deep inequalities of the world-system“ ( World-Systems xi). 37 Dementsprechend ist die ‚Einheitlichkeit‘ des Zusammenhangs nicht falsch zu verstehen als ‚harmonischer Zusammenhalt‘. Genau dies tut jedoch ein spezifisches (man kann auch sagen: naives) Verständnis von ‚Globalisierung‘, wie ein weiterer Leser Wallersteins, Roland Robertson, ausführt: In the mid-1980s some people got the impression that the move in the direction of what I now tend to call global unicity entails some kind of utopian view of global unity. Whereas the first term is, in my usage, neutral with respect to the risks, costs, benefits and dangers of rapidly increasing interdependence, interpenetration, global consciousness and so on, ‘unity’ and closely related terms imply - even when placed in quotation marks - social integration in quite a strong sense . […]. Indeed this misleading view of globalization as constituting a definite move to ‘world peace’ and integration is still to be found (and, of course, actively promoted by certain sociocultural movements). […]. Globalization is, at least empirically, not in and of itself a ‘nice thing,’ in spite of certain indications of ‘world progress.’ (6; Hervorhebungen T.E.) Um dieses Missverständnis auszuschließen, wird hier im Folgenden von ‚Ein sheit‘ anstelle von ‚Einheit‘ gesprochen, womit ich Robertsons Unterscheidung zwischen „unicity“ und „unity“ übertrage und umsetze. Gemeint sein soll damit der Charakter des Welt-Systems als „a single, continuous geography all over the planet“ (Moretti, „World-Systems“-71), und eben nicht jene „‘unity’“, die Robertson mit Recht empirisch als nicht gegeben ansieht. Denn dass die Kompression der Ganzheit zunehmend einen geschlossenen Zusammenhang hervorbringt, bedeutet noch lange nicht dessen Homogenität oder Harmonie. Im Gegenteil zeichnet sich das Welt-System durch ein Gefälle aus, eine Asymmetrie: 38 „The world of capitalist civilization is a polarized and a polarizing world.“ (Wallerstein, Capitalism- 137) 37 Die folgende Beschreibung Wallersteins wurde hinsichtlich ihres Fokus scharf kritisiert (vgl. Robertson, Globalization 51). Sie ist jedoch hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Beschreibung eines Ungleichgewichts nach wie vor aktuell „The basic idea was very simple. International trade was not, they said, a trade between equals. Some countries were stronger economically than others (the core) and were therefore able to trade on terms that allowed surplus-value to flow from the weaker countries (the periphery) to the core. Some would later label this process ‘unequal exchange.’“ ( World-Systems -12) 38 Vgl. hierzu auch Senghaas- 7-13, dessen Ausführungen jedoch von einem (ernstlich in Frage zu stellenden) Fortschrittsglauben geprägt sind, den die anderen, hier angeführten Autoren, nicht teilen. 1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit 41 Es ist also die bereits oben von Arendt erwähnte Installation von „production everywhere“ (s. o.), die die Ein s heit und Asymmetrie hervorbringt. Pheng Cheah spricht von a fundamental contradiction of the modern capitalist world-system. As Marx pointed out, the globalization of capital creates the material conditions for a community of the greatest possible extension. However, the capitalist world-system also radically undermines the achievement of a human community of global reach, that is, a genuine unity of the world. For Marx, the world is a normative category that exceeds the global market. (2) Das kapitalistische Welt-System generierte also seine Ausbreitung bis zur „greatest possible extension“ (von Arendt beschrieben als: „the limitations of the globe itself“, 250, s. o.), verhindert eine „genuine unity of the world“ jedoch aufgrund seiner inhärenten Struktur. Cheah schlägt mit Bezug auf Marx die Unterscheidung zwischen der FdG ‚ world ‘ und dem „global market“ vor, um den ‚normativen‘ Gehalt der FdG ‚ world ‘ von der Tatsache des globalen Marktes zu trennen. Wiederum scheint hier die - von Wallerstein genannte und oben analysierte - Problematik der FdG ‚ world ‘ auf. Die zwei Eigenschaften des Welt-Systems - einen geschlossenen Zusammenhang darzustellen, der eine Asymmetrie einschließt - sind also als zwei Seiten des gleichen expansiven Prozesses anzusehen. 39 Der beschriebene Prozess der Expansion verschränkt demnach zwei Konstellationen miteinander: Aus der Expansion geht eine Kompression hervor (s. o.), die Ein s heit des Welt-Systems schließt eine Asymmetrie ein. Die Expansion hat räumlich eine natürliche Begrenzung in der endlichen Ausdehnung der Oberfläche der Erde; mit der Akkumulation von Kapital ist dagegen ein potenziell unendlicher Prozess in Gang gesetzt, der mit der räumlichen Expansion nicht zum Erliegen kommt. 39 Ausgehend von einem anderen Fokus - der eher von ‚Moderne‘ also vom ‚Welt-System‘ spricht - kommt Hayot zu folgendem Ergebnis: „We must recognize this seemingly paradoxical combination of universalism and multiplicity as central to the entire modern world-view.“ (108) 2 Darstellung von Ganzheit Von der in II.1.1 beschriebenen Dynamik (zwischen Expansion und Kompression) von Ganzheit ausgehend, und den Spannungen (Ein s heit und Asymmetrie), die sie prägen, soll sich im Folgenden einigen Grundfragen der Darstellung von Ganzheit angenähert werden, um die anschließende Analyse der Rolle des Körpers in diesem Kontext einzuleiten. Die Darstellung von Ganzheit erfolgt nicht im Nachhinein der beschriebenen Expansion, und läuft auch nicht passiv-parallel neben dieser her - sie geht ihr sogar, wie Arendt ausführt, voraus : 40 Prior to the shrinkage of space and the abolition of distance through railroads, steamships, and airplanes, there is the infinitely greater and more effective shrinkage which comes about through the surveying capacity of the human mind, whose use of numbers, symbols, and models can condense and scale earthly physical distance down to the size of the human body’s natural sense and understanding. Before we knew how to circle the earth, how to circumscribe the sphere of human habitation in days and hours, we had brought the globe into our living rooms to be touched by our hands and swirled before our eyes. (Arendt-251; Hervorhebungen T.E.) Mit dem Fokus auf der Erstellung und Betrachtung von ‚Tischgloben‘ ist Arendt nicht allein (vgl. Sloterdijk, Sphären II- 812, aber auch-III.2.6.1) und das von ihr subtil ins Spiel gebrachte Sehen und dessen Räumlichkeit - „swirled before our eyes “ (Hervorhebungen T.E.) - stellt eine fundamentale Struktur dar. Im Wesentlichen gestaltet sich diese wie folgt: „[S]ich ein Bild von der Welt zu machen, die Techniken des sich ein Bild von der Erde Machens, heißen bekanntlich seit Kopernikus, eine Kugel vor sich zu sehen, auf der man nicht ist: den Globus von außen.“ (Bergermann et al.-8) Denn wie Arendt beschreibt, rückt die Dar- 40 Vgl. Sloterdijk, der ausführt: „Zu keiner Zeit aber - nicht einmal im Zeitalter der Raumfahrt - konnte das Unternehmen, die umrundete Erde zu visualisieren, seine semi-metaphysische Qualität verleugnen. Wer nach dem Untergang des Himmels das Portrait der ganzen Erde versuchen wollte, stand, wissentlich oder nicht, in der Tradition der altabendländischen metaphysischen Kosmographie.“ ( Sphären II- 810) Die Kosmographie steht in Sloterdijks Auffassung also in einer Tradition mit der Kartografie etc., die allen späteren Darstellungen von Ganzheit nicht nur vorausgeht, sondern in ihnen sogar noch präsent ist. Vgl. außerdem Dünne, der hinsichtlich der frühneuzeitlichen Darstellung von ‚Welt‘ festhält: „Die Vorstellung einer Ganzheit von Welt in einer Zeit der Proliferation neuer Welten ist aber nicht voraussetzungslos, sondern bedarf spezieller Medien, um vorstellbar zu sein.“ (Dünne-11f.) 44 2 Darstellung von Ganzheit stellung der Ganzheit als „globe“ diese räumlich vor den Betrachter. Weiter hält sie fest, dass die Darstellung der Ganzheit diese auf eine Größe schrumpft, die dem „body’s natural sense and understanding“ entspricht. Die Darstellung von Ganzheit umfasst also ein ‚Vor-die-Augen-Rücken‘ und eine Manipulation der Größenverhältnisse, womit die darzustellende Ganzheit in ein - man könnte sagen: ‚aufnehmbares‘ - Verhältnis zur Größe des menschlichen Körpers gebracht wird. Der Blick(punkt), die Räumlichkeit dieses Blickes, und die Frage der Größe im Verhältnis zum menschlichen Körper: Sie stellen die Fixpunkte der folgenden Ausführungen zum Problemfeld der Abbildung von Ganzheit dar. 2.1 Blickperspektiven Wer größere Ganzheiten sehen will, sieht sich mit zwei Problemen konfrontiert: Sie sind aufgrund ihrer Größe und ihres abstrakten und imaginären Gehalts nicht natürlich sichtbar. Entsprechend sind sie nicht ohne die Zuhilfenahme von komplexen Darstellungsverfahren abbildbar: „[S]ince one cannot see the universe, the world, humanity, the cosmopolitan optic is not one of perceptual experience. It should be evident that we should not take the presentation of the world for granted because, at the very least, it is given to us by the imagination.“ (Cheah- 3) Obwohl man „das Universum“ etc. nicht sehen kann, spricht Cheah von einer „optic“. Dies gilt, wie im Folgenden nachzuvollziehen ist, auch für zahlreiche andere Ansätze, „ja, man könnte vermutlich zeigen, dass Totalität immer eine optische Komponente mitträgt, einen kognitiven Panoramablick, und sei es ‚nur‘ als Denkfigur.“ (Hölter- 91) Dieser ‚kognitive Panoramablick‘, der das Nachdenken über und die Darstellung von Ganzheit durchzieht, soll hier analysiert werden, indem nach den (imaginären) Stand- und Blickpunkten gefragt wird, die bei Darstellungen von größeren Ganzheiten eine Rolle spielen. Diese Punkte haben gemeinsam, dass sie einen Blick auf die Ganzheit von außen her imaginieren, sie erzeugen also eine extrinsische Perspektive. Sie wurden jedoch verschiedentlich konzipiert und benannt. Einmal als apollinische Perspektive, in welcher der Betrachter sich vorstellt, von der Position der Sonne aus die Erde zu betrachten; Denis Cosgroves Ausbreitungen zu diesem Thema finden sich in seiner entsprechend betitelten Monographie Apollo’s Eye . Weiter hat dieser den Topos des somnium isoliert, einer textlich verfassten Traumreise zu einem Punkt oberhalb der Erde, von dem aus auf die Erde zurückgeblickt wird (besonders prominent vertreten durch Keplers Somnium (1634), welches die Erde als vom Mond aus betrachtet in Szene setzt; vgl. Koppenfels-45). Aus diesen Perspektiven heraus erscheint die Erde traditionsgemäß in folgender Gestalt: 2.1 Blickperspektiven 45 To achieve the global view is to lose the bonds of the earth, to escape the shackles of time, and to dissolve the contingencies of daily life for a universal moment of reverie and harmony. Reverie is the closest English translation of the Latin somnium, the sense of imaginative dreaming long associated with rising over the earth. […]. Apollonian music was created by the mathematical harmony of revolving cosmic spheres. In competition with earthly music, Apollo’s was always victorious, its harmony exceeding the audible. The German word Stimmung captures this “tuning” of a vital earth to a resonant, universal harmony. It complements the lucent geometry of solar light. The figure of Apollo thus prompts the conception of a unified world, a sphere of perfect beauty and immeasurable vitality, bathed in a beatific gaze. (Cosgrove-3) Die so betrachtete Erde wird in mehrere, von Cosgrove beschriebene Topoi eingebettet: die kosmischen Sphären, auf denen sich die Planeten bewegen, und dabei die „Sphärenmusik“ erzeugen, ein Gefühl von kosmischer Harmonie und ein starker Eindruck von der betrachteten Erde als schöner Ganzheit. Der Blick von außen kann jedoch auch als negativer konzipiert werden, wie Werner von Koppenfels in seinen Analysen der von ihm so genannten „Kataskopie“ (35) ausführlich dargestellt hat. Diese zielt auf die „pointierte Verkleinerung menschlicher Scheingröße“ (31) ab, und erzeugt so eine „olympische Sicht“ (ebd.), die den Blickenden jedoch auch befähigt, „bestimmte Vorgänge auf der Erdoberfläche konzentriert wahrzunehmen.“ (32) Koppenfels beschreibt damit eine Perspektive, die das Gesehene ebenso als ‚niedrig‘ darstellt, wie sie es deutlicher und besser verständlich werden lässt. Die phantastisch-satirische Herabschau auf eine zum Ameisenhaufen oder Insektenschwarm verkleinerte und verfremdete Menschenwelt gehört zu den Bildkomplexen von außerordentlicher Längen- und Tiefenwirkung, die die bildfreudige, respektlose und relativistische kynische Diatribe den europäischen Literaturen vermacht hat […]. (Koppenfels-33f.) Unabhängig davon, welche Haltung mit dem Blick von außen einhergeht, in beiden Fällen lässt sich eine doppelte ‚Distanz‘ konstatieren, und zwar eine räumliche einerseits („rising over the earth“) und eine übertragene andererseits, insofern der Blickende auch aus seinem Alltag und der üblichen Umgebung gehoben wird („dissolve the contingencies of daily life“). Weiter ist die vielleicht häufigste Bezeichnung für eine extrinsische Perspektive auf Ganzheit zu nennen: der archimedische Blickpunkt, der ebenfalls einen Punkt im Außen imaginiert, von dem aus auf das Ganze zurückgeblickt wird. Laut Arendts Ausführungen zu dieser Perspektive setzt deren ‚Räumlichkeit‘ eine mathematisch-philosophische Denkbewegung ins Bild, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Ganzheit grundsätzlich prägt: 46 2 Darstellung von Ganzheit [W]e always handle nature from a point in the universe outside the earth. Without actually standing where Archimedes wished to stand […], still bound to the earth through the human condition, we have found a way to act on the earth and within terrestrial nature as though we dispose of it from outside, from the Archimedean point. And even at the risk of endangering the natural life process we expose the earth to universal, cosmic forces alien to nature’s household. (262) Für Arendt ist die archimedische Blickperspektive also grundlegend für die „human condition“, und erklärt den wachsenden menschlichen Einfluss auf die Umwelt (den vor allem der Mensch des 20. Jahrhunderts mit nie gekannter Vehemenz auszuüben vermag). Die so verstandene Außenperspektive setzt den Blickenden in ein aktives Verhältnis zur Ganzheit. Diesen Blickperspektiven ist der imaginäre Charakter der Visualisierung der Ganzheit als objektivem Gegenstand gemeinsam, der aus extrinsischer Perspektive betrachtet wird. 41 Neben Cosgrove und Arendt ist weiter auf die Überlegungen von Martin Heidegger und Jean-Luc Nancy hinzuweisen, die sich mit der Frage nach der Sichtbarkeit der Ganzheit auseinandergesetzt haben, und dabei auf die FdG ‚Welt‘ (bzw. ‚ monde ‘) fokussieren. Heideggers Die Zeit des Weltbildes zeichnet sich durch eine Betonung der engen Assoziation der Außenperspektive mit der FdG ‚Welt‘ aus, welche vor allem an das im Text prominente Kompositum des ‚Weltbilds‘ geknüpft wird: „Weltbild, wesentlich verstanden, meint […] nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.“ (Heidegger 89) Auf den ersten Blick ist „the world-creating practice […] largely idealized in Heidegger.“ (Hayot 91f.) Das ‚Bild‘ steht jedoch weiter für eine aktive Rolle des Betrachtenden ein, denn: Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ein Bild machen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. (Heidegger-89) Dieses ‚Weltbild‘, und das Verständnis von ‚Welt‘, das es impliziert - „Welt steht hier als Benennung des Seienden im Ganzen, so wie es für uns maßgeblich und verbindlich ist “ (ebd.; Hervorhebungen T.E.) -, 42 rückt vor den neuzeitlichen 41 Fotografien der Erde sind vor diesem Hintergrund durchaus als weitere Ausformung dieser Tradition klassifizierbar. Vgl. Lazier-602-607. 42 Weiter heißt es zur FdG ‚Welt‘ bei Heidegger: „Der Name [‚Welt‘; T.E.] ist nicht eingeschränkt auf den Kosmos, die Natur, zur Welt gehört auch die Geschichte.“ (89) In dieses 2.1 Blickperspektiven 47 Betrachter als „repraesentatio“ (91), d. h. als ‚Vor-stellung‘ in dem von Heidegger aktualisierten Sinn. „Vorstellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich , den Vorzustellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen.“ (91; Hervorhebungen T.E.; vgl. Hayot- 27) Heidegger, dessen Einfluss auf aktuelle Globalisierungstheorien kaum überschätzt werden kann (Nancys und Sloterdijks Texte zur - jeweils verschieden verstandenen - ‚Globalisierung‘ sind hier als besonders prominente Beispiele zu nennen), identifiziert die FdG ‚Welt‘ über das Kompositum des ‚Weltbildes‘ also mit einer machtvollen Außen perspektive westlicher Machart; die neuzeitlich-wissenschaftliche 43 Perspektive ist damit, laut Heidegger, eine extrinsische . Dies geht dabei jedoch weiter mit einer kämpferisch gedachten Dominanz des Blickenden über das ‚Vor-gestellte‘ einher, die Rede ist von einer „ meisternde [n] Ver-gegen-ständlichung“ (Heidegger- 108; Hervorhebung T.E.). Die Wortwahl, mit der Heidegger diese Konstellation weiter beschreibt, ist, diesem aggressiven Gestus entsprechend, martialisch: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebilde des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung , in der er dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht .“ (94; Hervorhebungen T.E.) Die somit von Heidegger bemühte „metaphor of ‘conquest’“ kann dabei, wie Eric Hayot in seiner Analyse von Die Zeit des Weltbildes ausführt, „be read literally into world history, as a reference to Europe’s imperialist takeover of large swaths of the planet, an event that like the ‘conquest of the world as picture ’ seems to both inaugurate modernity, and be it.“ (28) 44 Dass eine Außenperspektive auf die Ganzheit grundsätzlich an Herrschaft geknüpft ist, hat Cosgrove konzis formuliert: Die Außenperspektive „seems […] to induce desires of ordering and controlling the object of vision.“ (5). Auch bestätigt sich im ‚Weltbild‘ Heideggers die These Cosgroves, dass „re- Verständnis von ‚Welt‘ fällt also auch der Bereich des Menschengemachten (vgl. Heidegger-82-83). 43 Auch wenn Heidegger andere Eigenschaften der Neuzeit nennt (75f.), so beschränkt er seine Ausführungen in Die Zeit des Weltbildes wesentlich auf den Aspekt der Wissenschaft, der die Neuzeit fundamental prägt (vgl. 76). 44 Vgl. diese Beschreibung Sloterdijks, die - nicht ganz zufällig, denn die Nähe zwischen Sloterdijk und Heidegger ist auch neben direkten Zitaten stets gegeben - ebenfalls von Eroberern spricht: „In jedem Erdglobus, der die Audienzräume und Bibliotheken, die Herrenzimmer und Salons des gebildeten Europas zierte - bis 1830 in Gesellschaft seines obligaten Zwillings, des Himmelsglobus -, verkörpert sich die neue Lehre vom Vorrang eines Außen, in das die Europäer als Entdecker, Eroberer, Missionare, Händler, Berichterstatter und Touristen schicksalhaft vorstoßen, um sich zugleich vor ihm zurückzuziehen in ihre kunstvoll austapezierten Innenräume, die jetzt mit dem spezifischen Kolorit des 19. Jahrhunderts Interieurs oder Privatsphären heißen.“ ( Sphären II -829f.) 48 2 Darstellung von Ganzheit presentations have agency in shaping understanding and further action in the world itself.“ (38) Der Blick dieser Perspektive ist kein natürlicher, sondern ein imaginärer, d. h. auch in diesem Sinn ‚vorstellender‘. 45 ‚Welt‘ ist dabei in der Neuzeit nur als ‚Welt-Bild‘ zu denken, denn „die Welt [wird] zum Bild“ (Heidegger-90), und verliert damit die Bedeutung eines ausschließlich Äußeren, unabhängig vom Menschen Gegebenen. Denn wie Heidegger ausführt, wird die Bedeutung von ‚Welt‘ in dem von ihm gemeinten Sinn, den er zunächst als das „Seiende im Ganzen“ (s. o.) benennt, erst in Bezug zum Kompositum ‚Welt-Bild‘ in seiner vollen Bedeutung klar: „Weltbild […] meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt [in der Neuzeit; T.E.] so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellendherstellenden Menschen gestellt ist.“ (89; Hervorhebungen T.E.) Im Kompositum ‚Weltbild‘ erscheint die Ganzheit als zutiefst menschliche Einheit, die durch den Menschen als aktiver Part (durch sein ‚Vor-stellen‘) hervorgebracht wird. Nancy lässt sich, trotz dessen Arbeit mit Heideggers Konzepten, zu dessen Ausführungen als Kontrast ins Spiel bringen, denn im Unterschied zu Heidegger schreibt er: „Tout d’abord, un monde n’est pas une unité de l’ordre objectif ou extrinsèque: un monde n’est jamais devant moi, ou bien il est un autre monde que le mien.“ (34) Damit unterscheidet sich Nancys Beschreibung deutlich von Heideggers Überlegungen zur FdG ‚Welt‘, bei dem diese FdG im Singular besprochen wird; gleiches gilt für sein Kompositum ‚Welt-Bild‘ - es gibt in Heideggers Verständnis, per definitionem , nur ein Welt-Bild, insofern dieses die (als mathematisch-wissenschaftlich definierte) westliche Moderne dominiert. Hierin liegt, wie man mit Nancy auf Heidegger blickend festhalten kann, der totalisierende Gestus des Konzepts des ‚Weltbildes‘: dieses bleibt unmissverständlich eines (das „Vorstellen“, der Modus, der dem Welt-Bild-Erzeugen zugrunde liegt, „treibt so alles in die Einheit des so Gegenständigen zusammen“, Heidegger-108; Hervorhebung T.E.) und imaginiert keine Welt en . Stattdessen ist das Welt-Bild das Ergebnis der aggressiven westlichen Expansion. In Nancys Ausführungen ist ‚Welt‘ ( monde ) dagegen ein Innenraum , Gegenstand einer intrinsischen Perspektive, „einer unhintergehbaren Innerweltlichkeit“, die keinen Blick von außen, „sondern einen Blick auf die Welt aus dieser Welt heraus“ (Moser- 40) beschreibt. Eine Ausnahme stellt dabei die ‚fremde Welt‘ dar, die vor dem Betrachter liegen kann (s. o.). 45 Das ‚Welt-Bild‘ ist damit ausschließlich Sache der Neuzeit, denn Heidegger stellt klar: „Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus.“ (90) 2.1 Blickperspektiven 49 Damit hebt Nancy ‚Welt‘ ( monde ) dezidiert aus einer automatisierten Verwendung als Bezug auf die Welt heraus, zugunsten eines erschwerten Umgangs mit ‚Welt‘, insofern diese nicht ohne Weiteres als Ganzes sichtbar ist und sich auffächert in mehrere Welt en . ‚Globalisierung‘ ist, wie Nancy in diesem Zusammenhang weiter ausführt, für ihn ein Prozess, der die Singularisierung der FdG ‚ monde ‘ herbeiführt. Ganz in diesem Sinne ist auch Nancys weitere Konzeptualisierung von ‚Globalisierung‘ als Vorgang des ‚Verknäuelns‘ zu lesen, welche die Etymologie von globus und glomus (lat. für Knäuel) 46 aktualisiert - und so die Asymmetrie der Globalisierung ins Bild zu rücken versucht (vgl. Nancy- 14). 47 Eine in Frage gestellte Sichtbarkeit, sowie ein genereller Zweifel an der aktiven Rolle des Menschen als „Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen“ (Heidegger-91), wie Heidegger sie stark macht, stehen bei Nancy somit im Vordergrund. Festzuhalten bleibt hier, dass die Perspektive auf die Ganzheit in der Regel (und historisch) eine extrinsische Perspektive bevorzugt. 48 In einer unterbrechenden Geste, wie gerade anhand der Arbeit Nancys an der FdG ‚ monde ‘ dargestellt, wird diese Haltung nicht geteilt. Damit soll eine solche ent-automatisierende Geste des Bestehens auf dem Innenraumcharakter von Ganzheit - etwa im Falle von Welt/ monde - als Sonderfall im Denken über Ganzheit betont werden, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Wie erst jüngst gezeigt wurde, lässt sich ein Trend in aktuellen Theorien beobachten, der in diese Richtung geht: „Neuere Globalisierungstheorien unternehmen […] den Versuch, globale Zusammenhänge ‚von ebener Erde aus‘, ‚aus der Welt heraus‘ darzustellen.“ (Moser-40), so etwa durch die „Metaphorik der global landscapes “ oder die des „Welthorizonts“, 46 „Laut Nancy ist das Resultat dieser Verdichtung […] kein runder Ball, sondern eine bloße Anballung. Als ‚Weltknäuel‘ ist der glomus zudem an die Bildlichkeit des Netzwerks anschließbar. Er evoziert das Netzwerk von Kommunikations- und Verkehrsverbindungen, das über die Welt geworfen wird, das sie aber gerade nicht zur Einheit zusammenschließen und zu einem Ganzen zu runden vermag, sondern sie vielmehr zu einer asymmetrischen Struktur verformt, zu einem zerbeulten Gebilde, das die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum auf der Welt zur Anschauung bringt.“ (Moser-40) 47 „Nancy versucht den totalisierenden Globus, der den ökonomischen, politischen und informations-technologischen Globalisierungsdiskurs beherrscht, als glomus zu entlarven. Zugleich skizziert er mit seinem Konzept der monde einen Alternativentwurf“ (Moser-40). 48 Die Verknüpfung von Blick und Ganzheit hat in Bezug auf die Form des Panoramas darüber hinaus eine historische Signatur: „Generell herrschte bis ins 19. Jahrhundert ein Wissensoptimismus, der die Taxonomie naturhistorischer Museen und die Wissensordnungen gewaltiger, oft kreisrunder Nationalbibliotheken entstehen ließ, eine Episteme der Ganzheit. Jegliche Sammelaktivität, auch die Episteme der Taxonomie zielt auf eine vollständige Erfassung. Daher auch repräsentiert gerade über fast das gesamte 19. Jahrhundert hinweg die Idee des Panoramas zwischenzeitlich eine visuelle Ästhetik der Totalität.“ (Hölter-92) 50 2 Darstellung von Ganzheit denn dieser „impliziert die Absicht, den Globus in die Horizontale zu bringen“ (Moser- 41) und ihn nicht länger aus einer vertikal erhöhten Position zu visualisieren. Damit gewinnt eine große Skepsis gegenüber der Außenperspektive konzeptuelle Gestalt, die Osterhammel und Petersson zur Frage formen: „Ist es unumgänglich, die Welt ‚von oben‘ zu sehen? Läßt sie sich nicht auch ‚von unten‘ konstruieren? “ (20) Hier bleibt festzuhalten, dass Ganzheit aus zwei verschiedenen Blickperspektiven gedacht werden kann und dass diese Perspektiven verschieden gelagerte Funktionen und Interessen haben. Arendt weist jedoch darauf hin, dass dem Blick auf das Ganze nicht immer ganz zu trauen ist: „If the human eye can betray man to the extent that so many generations of men were deceived into believing that the sun turns around the earth, then the metaphor of the eyes of the mind cannot possibly hold any longer“ (275). In dieser Studie bleibt aufzuzeigen, wie sich die untersuchten literarischen Texte zu diesen unterschiedlichen Perspektiven verhalten - und welche Täuschungen sie aufzudecken vermögen. Diese äußere (Blick-)Perspektive ist immer auch mit der Kompression von Ganzheit zusammenzudenken, bzw. mit der erhöhten Geschwindigkeit des Welt-Verkehrs verknüpft, wie Arendt deutlich macht: The fact that the decisive shrinkage of the earth was the consequence of the invention of the airplane, that is, of leaving the surface of the earth altogether, is like a symbol for the general phenomenon that any decrease of terrestrial distance can be won only at the price of putting a decisive distance between man and earth, of alienating man from his immediate earthly surroundings. (Arendt-251) Das Komprimieren von Distanzen setzt also eine - zunächst metaphorisch verstandene - ‚Distanz‘ zwischen den Menschen und der Erde voraus, die als Fremdwerdung („alienating“) der unmittelbaren terrestrischen Umgebung zu verstehen ist. Gleichzeitig wird von Arendt hier eine räumliche (und im Fall des Flugzeugs: reale) Distanz besprochen; diese Struktur einer doppelten ‚Distanz‘ ließ sich auch schon oben bei Cosgrove erkennen. Die Kompression der Erde entfernt den Menschen von dieser im doppelten Sinne, eine Distanz, für die das (damals) schnellste Mittel räumlicher Kompression - das Flugzeug - bei Arendt als „Symbol“ einsteht. Der Abstand des von Arendt bemühten Flugzeugs zur Erdoberfläche setzt denselben ‚extrinsischen Gestus‘ in Szene, auf dem die besprochenen Blickperspektiven fußen. 2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia 51 2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia Den im vorhergehenden Abschnitt genannten Blickperspektiven ist gemeinsam, dass sie eine Sichtbarkeit generieren, die natürlich nicht gegeben ist. Nun ist zusätzlich auf einige weitere Ansätze einzugehen, die sich der Thematik der Sichtbarkeit von Ganzheit aus anderen Richtungen annähern. Fredric Jameson geht explizit von einer ‚Unzugänglichkeit‘ von stark raumgreifenden Zusammenhängen aus, ohne diese über die Metaphorik des Sehens (oder Nicht-Sehens) zu konzipieren. Zweitens soll - unter Bezug auf Emily Apter - auf eine ‚hypersensible Allsichtigkeit‘ im Kontrast zur These der ‚Unsichtbarkeit‘ des Ganzen hingewiesen werden. Jameson führt in Cognitive Mapping aus: [G]lobal realities are inaccessible to any individual subject or consciousness- […] -which is to say that those fundamental realities are somehow ultimately unrepresentable or, to use the Althusserian phrase, are something like an absent cause, one that can never emerge into the presence of perception. Yet this absent cause can find figures through which to express itself in distorted and symbolic ways: indeed, one of our basic tasks as critics of literature is to track down and make conceptually available the ultimate realities and experiences designated by those figures, which the reading mind inevitably tends to reify and to read as primary contents in their own right. (350; Hervorhebung T.E.) Die Abwesenheit der Metaphorik des Sehens ist - gerade im Kontrast zu den bisher untersuchten Ansätzen - auffallend. Jameson spricht betont neutral von einer „unzugänglichen Realität“, von deren Nicht-Repräsentierbarkeit, und einer sehr allgemein gehaltenen „Wahrnehmung“. Laut Jameson steht die individuelle Erfahrung und Wahrnehmung in einem Verhältnis völliger Disjunktion zu den „global realities“, der maßgeblichen sozialen Totalität. Die von Jameson beschriebenen Zusammenhänge (bezogen auf die aktuelle, spät-kapitalistische Stufe der Globalisierung) sind nicht unmittelbar wahrnehmbar oder evident, und bedürfen daher erheblicher - literaturwissenschaftlicher - Arbeit, um sie erkenn- und wahrnehmbar werden zu lassen. Die von ihm so genannte ‚konzeptuelle Arbeit‘ kann, so Jameson, „global realities“ verfügbar machen. Auch wenn Jameson hier eine Analyse der Gegenwart bespricht, ist die vorliegende Studie zu einem gewissen Grad diesem Ansatz beizuordnen, insofern hier durch ‚konzeptuelle Arbeit‘ die Verschränkungen von FdG mit Körpern als „figures“ gelesen werden, die stark raumgreifende Zusammenhänge wahrnehmbar werden lassen. Auch auf David McNallys Monsters of the Market kann hier verwiesen werden, in dem er, mit Bezug auf Marx, von einer - diesmal explizit so genannten-- ‚Un- 52 2 Darstellung von Ganzheit sichtbarkeit‘ des „capitalist market system“ (5) ausgeht. Er beendet dabei seine literarischen Analysen, die bis zu Shellys und Shakespeares Texten zurückgehen, mit einer Untersuchung des Verhältnisses zeitgenössischer afrikanischer Zombieliteratur zur ‚Globalisierung‘. Seiner Hauptthese zufolge lassen Monster in der Literatur das kapitalistische System sichtbar werden. 49 Mittel zur Sichtbarmachung eines stark raumgreifenden Zusammenhangs - des besagten capitalist market systems - sind demnach literarisch auf spezifische Weise inszenierte Körper (vgl. hierzu genauer-III.4.4). Hier ist nur festzuhalten, dass auch McNally, ganz wie Jameson, von einer Unverfügbarkeit des Ganzen ausgeht, wobei beide Autoren eine marxistische Perspektive verbindet, auf die die These von der Unsichtbarkeit kapitalistischer Zusammenhänge zurückzuführen ist (vgl. McNally-5-9). Doch kann der Prozess der ‚konzeptionellen Verfügbarmachung globaler Realitäten‘ auch völlig anderes eingeschätzt werden. So schlagen Apters Ausführungen zu der von ihr so genannten ‚ oneworldedness ‘ vor, einen Extrempunkt des Nachdenkens über die Ganzheit als ‚Paranoia‘ zu beschreiben. Paranoia ist damit die Steigerung von Vorstellungen, wie sie Netzwerktheorien oder der Slogan „everything is connected“ transportieren, hin zu einer Vorstellung vom Ganzen, in der jedes größere politische Ereignis und jeder relevante Handlungsträger mit allen anderen Ereignissen und Handlungsträgern verknüpft werden kann. Interessant ist dabei vor allem Apters Beobachtung, dass die Größe einer solchen ‚Welt‘ der oneworldedness gleichzeitig sehr groß und sehr klein ist, insofern sie alle Ereignisse und Handlungsträger enthält und verknüpft, und die gesamte Welt auf einen Erklärungszusammenhang reduziert (namentlich den vom paranoiden Denken gewählten): In this picture, as the world expands to include everybody, it paradoxically shrinks into a claustrophobic all-inclusiveness. Paranoid oneworldedness obeys a basic law of entropy that posits that increased disorder diminishes available energy within the confines of a closed system. (370) Die Darstellung oder Konzeption von Ganzheit setzt notwendig voraus, dass ein großer Zusammenhang auf eine (wörtlich und übertragen verstanden) über- 49 „As the following chapters demonstrate, the persistent body-panics that run across the history of global capitalism comprise a corporeal phenomenology of the bourgeois life-world. Throwing light on the troubled relations between human bodies and the operations of the capitalist economy, such panics underline the profound experiential basis for a capitalist monsterology , a study of the monstrous forms of everyday-life in a capitalist world-system. In what follows, I seek to track several genres of monster-stories to explore what they tell us about key symbolic registers in which the experience of capitalist commodification is felt, experienced and resisted.“ (McNally-2) 2.3 ‚Welt‘ und Literatur 53 schaubare Größe reduziert wird (s. o. bei Arendt). Steigert sich diese Reduktion ‚zu weit‘ und gerät ‚zu nah‘ an eine „claustrophobic all-inclusiveness“, dann läßt sich mit Apter von paranoider „oneworldedness“ sprechen. Die Grenzen verlaufen hier nicht trennscharf, denn die Beschreibung als ‚zu weit‘ bezieht sich nicht auf eine sichere Skala. So gesehen laufen alle Vorund/ oder Darstellungen von Ganzheit Gefahr, paranoid zu werden, bzw. sind es alle zu einem gewissen Grade notwendigerweise. Am anderen Ende des Spektrums steht jedoch eine Perspektive auf die Ganzheit, in der sich diese als chaotische, unmöglich zu überschauende Menge an Informationen und Ereignissen präsentiert, die unmöglich zu deuten ist, und die - mit Jameson gesprochen - gänzlich absent bleibt. Anders gesagt: ‚Konzeptuelle Arbeit‘ mit dem Anspruch größere Zusammenhänge zu fassen, kann immer in paranoide Erklärungsmuster verfallen. Die Alternative jedoch erscheint mindestens ebenso unattraktiv: mit einer unbegreiflichen Menge an Ereignissen und Informationen konfrontiert zu sein, die nicht als ‚Welt‘ gefasst (oder: zu einer solchen reduziert, geordnet) und damit nicht verständlich werden kann. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint auch Wallersteins Ansatz als potenziell paranoid - und nicht umsonst geht Apter am Beginn ihres Textes von Wallersteins Welt-System aus: „Wallerstein’s central idea of the world as one but unequal is easily extended to a paradigm of planetary paranoia marked by cyber-surveillance, cartographies of cartels, and webs of international relationality within and outside the nation, and on the edges of legality.“ (365) Apter will damit jedoch nicht gesagt haben, Wallersteins Beschreibungen seien tatsächlich paranoid: Paranoia, I am suggesting, underwrites a one-worldist paradigm that differs from transnational or global ascriptions of world-systems theory in fully realizing the psychotic dimension of planetarity. (370) Das Risiko der Paranoia anheimzufallen ist unumgänglich, doch gleichzeitig ist Reduktion der unvermeidbare Grundmodus des Sprechens über Ganzheit, vorausgesetzt es will „global realities“ ( Jameson, „Mapping“-350) zur Darstellung bringen. 2.3 ‚Welt‘ und Literatur Wie ist die Literatur in das Problemfeld der Darstellung von Ganzheit einzuordnen? Aus der hiesigen Perspektive ist auf die weitverbreitete Vorstellung einzugehen, dass Literatur fiktive Welten erzeugt, bzw. auf den Gemeinplatz, li- 54 2 Darstellung von Ganzheit terarische Texte erzeugten/ seien ‚Welten im Kleinen‘. Christian Moser und Linda Simonis äußern sich wie folgt zum Verhältnis zwischen ‚Welt‘ und Literatur: Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn allererst her. Die Bedeutung, die Literatur für Globalisierungsprozesse gewinnen kann, beruht gerade auf ihrer Fähigkeit, fiktive Welten zu produzieren. Wenn Globalisierung ein Bewusstsein von der Einheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich - es bedarf imaginärer (literarischer und künstlerischer) Weltentwürfe, um diese zu veranschaulichen. (12) Einerseits entsprechen diese Darstellungen zu weiten Teilen dem von Jameson als ‚konzeptueller Arbeit‘ gefassten Vorgang, insofern Moser und Simonis „Bildern und Narrativen“, die sich in der Literatur finden, die Funktion zuschreiben, die „Einheit vorstellig [zu] machen“. Der Fokus auf dem Problem der Sichtbarmachung und Veranschaulichung, das hier genannt wird, lässt sich ebenfalls in die bisherigen Ausführungen eingliedern, insofern mehrfach beschrieben wurde, dass das „Ganze der Welt […] der Wahrnehmung nicht zugänglich“ ist. Andererseits illustriert die zitierte Passage ein Verständnis der Relation zwischen Literatur und ‚Welt‘, von dem ich mich absetzen möchte. Denn im Passus werden zwei grundverschiedene Bedeutungen der FdG ‚Welt‘ gleichgesetzt: ‚Welt‘ als Wort zur Beschreibung der ‚sozialen Realität‘, wie „Globalisierungsprozesse“ sie hervorbringen einer-, und ‚Welt(en)‘ als Wort zur Benennung des von Texten hervorgebrachten ‚abgeschlossenen Ganzen‘ andererseits (dessen Status, wie zu zeigen ist, alles andere als unmittelbar evident ist; vgl. Hutchinson-174-177; Hayot-44-47). Durch das Gleichsetzen dieser beiden Bedeutungen wird die Relevanz von Literatur für „Globalisierungsprozesse“ postuliert : Insofern Literatur selbst ‚Welten‘ generiere, könne sie gar nicht anders, als ‚welthaltig‘ zu sein. Die vermeintliche Evidenz der Tautologie dieser Behauptung verdeckt dabei, dass das Verhältnis zwischen fiktiven ‚Welt(en)‘ und ‚unserer Welt‘ nicht schlicht auf das doppelte Auftauchen des Wortes ‚Welt‘ reduziert werden kann. Denn, dass literarische Texte eine Welt, oder Welt en , generieren, sagt noch nichts über das Verhältnis dieser Einzelwelten zu der Welt (im Sinn der ‚Ganzheit der sozialen Realität‘) aus. Auch wenn sich ein solcher Zusammenhang zwischen literarischen Welt en und der ‚Welt‘ natürlich untersuchen lässt (und von der Literaturwissenschaft weiter untersucht werden sollte ), so wird er hier, unzulässig, mittels einer nur scheinbar stimmigen Entsprechung - ‚Welt‘ hier und ‚Welt‘ da - gesetzt. Stattdessen müsste man genauer die Frage stellen, wie Literatur fiktive Welten generiert - denn diese Annahme wird allzu leicht als Gemeinplatz hingenommen (vgl. Pavel- 43-72). Zunächst wäre dazu die „tension between world 2.3 ‚Welt‘ und Literatur 55 as whole world and world as self-contained unity“ (Hayot- 45) zu adressieren. Hayot führt außerdem aus: Literary critics have usually, however, focused on the artwork’s world-content, not world-form, trusting the general concept of aesthetic or generic form to address the work’s relation to worldedness. This pattern of thought means that the world-forming quality of the work, though often sensed or felt, has rarely been directly looked at. Novels, we all know, have certain kinds of worlds. But what kinds? (25) So wäre also weiter zwischen ‚Welt-Form‘ und ‚Welt-Haltigkeit‘ zu unterscheiden. Erst nachdem man dieses Verhältnis geklärt hat, ließe sich die anschließende Frage stellen, wie sich das literarische Generieren von Welt en zu der Welt verhält. Fraglich ist jedoch ob Hayot, obwohl er das Problem immerhin sehr akkurat benennt, eine eindeutig bessere Konzeption vorzuweisen hat. 50 So führt er aus: „Aesthetic worldedness is the form of the relation a work establishes between the world inside and the world outside the work. The history of aesthetic worldedness is thus always, simultaneously, a history of the idea of the world as such“ (45). In Abgrenzung zu Moser und Simonis lässt sich - mit Bezug auf Hayot - festhalten, dass sich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur zu der Welt nicht auf dessen ‚Entwerfen von fiktiven Welten‘ (s. o.) reduzieren lässt, zumindest nicht ohne den Zusammenhang zwischen der Welt einerseits und fiktiven Welt en andererseits genauer darzulegen. 51 Die intuitive Einschätzung, das Verhältnis gestalte sich in Form einer Synekdoche - die ‚Welt‘ eines Romans also sei eine ‚Welt im Kleinen‘ - ist also mit einiger Vorsicht zu genießen, denn sie fußt auf einer Tautologie, und übergeht mehr Fragen als sie beantwortet. Steven Hutchinsons Ausführungen zum Verhältnis zwischen ‚Welt‘ und Literatur zeigen, wie schwierig es ist, ‚Welt‘ im Sinne eines überschaubaren, kleineren Ganzen klar zu definieren: In its most elementary use, “world” evokes an identifiably complex, autonomous community or society of beings with its own culture and economy, its own patterns of 50 Vgl. hierzu diese Ausführung von Steven Hutchinson, der das Problemfeld gut umreißt: „Logically, only when this world is conceivable as such can another be construed. Otherwise put, a world derives from the world. This world is stripped down to the modalities in which it is conceived (e.g., space, time, order, life processes); these are then transferred to another context and characterized anew to open up a radically different environment.“ (175) 51 Umso erstaunlicher ist dieses Missverständnis, als die Autoren wenig später explizit zwischen „[l]iterarische[m] Weltbezug und literarische[r] Welterzeugung “ unterscheiden, doch wird auch hier lediglich postuliert , diese stünden in „einer engen Wechselbeziehung“ (Moser u. Simonis-13), ohne auf mögliche Differenzen zwischen beiden näher einzugehen. 56 2 Darstellung von Ganzheit behavior and interaction and modus vivendi, spread out in a more or less extensive spatial domain. To conceive of the world or a world necessarily involves thinking in terms of territory, time, nature, life, and sociocultural order and infusing these with specific characteristics and principles. The notion of “world,” then, comprehends any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history-or a plurality of these-are thought to be enacted. This notion need not imply human inhabitants since there maybe worlds of gods, or dogs for that matter, or of any other real or imaginary species, as long as these are anthropomorphized to the extent that they are capable of at least the rudiments of culture. Nor need it imply any ontological grounding: a world lacking such grounding is a utopia. Since no text is cast in a total void, it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of “world,” however fragmentary or diffuse this might be, insofar as it reveals perspective and value while opening up and characterizing an illusory ambient space. (Hutchinson-174f.) Die äußerst weite Definition von ‚Welt‘ als „any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history-or a plurality of these-are thought to be enacted“ illustriert, wie schwer das Verhältnis zwischen der Welt und den Welt en in Texten zu bestimmen ist. Und auch die Formulierung „it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of ‘world,’ however fragmentary or diffuse this might be“ legt offen, auf welch unsicherem Fundament (oder: Allgemeinplatz) die angenommene Beziehung zwischen der Welt einerseits und Welt en in Texten andererseits fußt. Abhilfe schafft hier die Arbeit von Edward Said, der in The World, the Text, and the Critic darauf aufmerksam macht, dass es in der Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Trennung zwischen „der Welt“ („the world“, mit bestimmtem Artikel) und dem Text kommt. American literary theory of the late seventies had retreated into the labyrinth of “textuality,” dragging along with it the most recent apostles of European revolutionary textuality-Derrida and Foucault-whose trans-Atlantic canonization and domestication they themselves seemed sadly enough to be encouraging. It is not too much to say that American and European literary theory now explicitly accepts the principle of noninterference, and that its peculiar mode of appropriating its subject matter (to use Althusser’s formula) is not to appropriate anything that is worldly, circumstantial, or socially contaminated. “Textuality” is the somewhat mystical and disinfected subject matter of literary theory. (3) Dieser Trend zur ‚Textualität‘ und deren Analyse als ausschließlicher, d. h. von „der Welt“ nicht „kontaminierter“ Gegenstand, wird von Said scharf kritisiert. Weiter erläutert Said sein Verständnis von ‚Welt‘ ausdrücklich, welches sich 2.4 Körper und Ganzheit 57 durch eine Ersetzung dieser durch ‚Realität‘ und/ oder ‚Geschichte‘, 52 wie er selbst vorschlägt, annäherungsweise beschreiben lässt. Außerdem versteht er hierbei den jeweiligen Text als Ergebnis eines eigenen Produktionsprozesses, und/ oder als Reaktion auf einen spezifischen historischen Kontext. Von der Fähigkeit ‚Welten zu erzeugen‘ spricht er nicht, und vermeidet somit eine Vermischung dieser beiden Aspekte. Deutlich macht er dies durch eine simple Adjektivbildung: Texte sind - seiner Terminologie nach - „worldly“, womit er folgende Haltung beschrieben wissen will: „My position is that texts are worldly, to some degree they are events, and, even when they appear to deny it, they are nevertheless a part of the social world, human life, and of course the historical moments in which they are located and interpreted.“ ( World- 4) Das Adjektiv ‚ worldly ‘ steht somit ein für die Positionierung von Texten in ihrem historischen Kontext, und für ihre gesellschaftliche Rolle als (potenzielle) ‚Ereignisse‘. Said öffnet somit den Raum für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Texten und ihrem historischen Kontext. 53 2.4 Körper und Ganzheit Das allgemeine Darstellungspotenzial des Körpers präsentiert sich als nahezu grenzenlos: The body is a model which can stand for any bounded system. Its boundaries can represent any boundaries which are threatened or precarious. The body is a complex structure. The functions of its different parts and their relation afford a source of symbols for other complex structures. (Douglas-142) 54 52 „Textuality has therefore become the exact antithesis and displacement of what might be called history. Textuality is considered to take place, yes, but by the same token it does not take place anywhere or anytime particular. It is produced, but by no one and at no time.“ (Said, World- 3f.) 53 Auf die in diesem Unterkapitel aufgeworfenen Fragestellungen wird, aus anderem Blickwinkel, in der literarischen Analyse unter- III.4.2.2 noch einmal in aller Ausführlichkeit eingegangen, insofern dort der Frage nachgegangen wird, ob ein(e) Schiff(sgemeinschaft) als ‚Welt im Kleinen‘ gelten kann - und welche Antworten Melvilles Moby-Dick auf die Frage gibt, wie solche Synekdochen zu bewerten sind. 54 Den Beschreibungen der grundsätzlichen Eignung des Körpers zu Abbildung des Ganzen ist jedoch dieser Aspekt hinzufügen: „The body itself can be imagined […] as a corporation of its members, which together form a unified and clearly defined structure whose boundaries separate the self from others and so mark individual identity. But bodily needs also indicate that the appearance of autonomy is an illusion, for the body must incorporate elements from outside itself in order to survive. The need for food exposes the vulnerability of individual identity, enacted at a wider social level in the need for exchanges, communion, and commerce with others, through which the individual is absorbed 58 2 Darstellung von Ganzheit Nicht nur erklärt Mary Douglas den Körper hier zur ‚Super-Trope‘, die für „jedes geschlossene System stehen kann“, er ist darüber hinaus ein Modell, dessen Bildpotenzial sich aus seiner „komplexen Struktur“ ableitet. Da der Körper komplex ist, so die Argumentation, lässt er sich zur Abbildung anderer komplexer Strukturen instrumentalisieren. In Der fiktive Staat beschreibt Koschorke (et-al.) dieses Potenzial des Körpers - anhand des Beispiel des ‚Staatskörpers‘ - wie folgt: Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei solchen rhetorischen Figuren, die ein Bild der Gesellschaft als Ganzheit entwerfen, wie es in erster Linie die Metapher des sozialen Körpers tut. Gehört zum Begriff der Ganzheit nämlich die Idee der Totalität und „Übersummativität“ des Gebildes (dass es, nach klassischer Definition, „mehr“ ist als die Summe seiner Teile), so ist doch gerade diese Totalität und Übersummativität, also gerade das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar: Weder das extensive Ganze der Gesellschaft noch die Gesellschaft als intensive Ganzheit sind mögliche Gegenstände einer empirischen Anschauung. Metaphern für das ‚Ganze‘ eines Gemeinwesens sind als Hypotyposen , Versinnlichungen eines Begriffs, die mit rhetorischen Mitteln vor Augen stellen, was anders nicht gesehen werden kann. (58) Die Metapher des Staatskörpers bringt den Staat zur sichtbaren Darstellung, wobei dies überhaupt erst nötig ist, weil „das ‚Ganze‘ der Ganzheit […] sinnlich nicht wahrnehmbar“ ist. In ihren Teilen kann Ganzheit wahrnehmbar sein, aber nicht als Ganzheit natürlich (oder: „empirisch“) gesehen werden. Immanuel Kant, auf den Koschorke (et al.) sich hier bezieht, unterscheidet zwischen schematischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird‘, und symbolischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken kann und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird‘. (Koschorke et al.-59) 55 Die Notwendigkeit zur Verwendung von Hypotyposen/ Versinnlichungen ist bei der Darstellung von Ganzheiten dabei in besonderem Maße gegeben, da in a larger corporate body.“ (Kilgour-6) Laut Kilgour ist der Körper also - entgegen der Beschreibung Douglas‘ - kein geschlossenes System. Doch gerade diese Durchlässigkeit der körperlichen Grenzen löst den menschlichen Einzelkörper aus seiner Existenz als individueller Leib und setzt ihn in den sozialen Kontext. Es scheint also ganz gleichgültig, ob man den Körper als offenes oder geschossenes System klassifiziert - er ist immer zur Darstellung eines größeren sozialen Zusammenhangs prädestiniert. 55 Vgl. auch: „Was die im Sinne Kants ‚symbolische‘ Hypotypose leistet, ist die Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann.“ (Koschorke et al.-59) 2.4 Körper und Ganzheit 59 nach der klassischen philosophischen Erkenntnislehre Ganzheiten nur vermöge der Einbildungskraft apperzipiert werden können, weil sie nicht als solche empirisch ins Auge fallen, so muss auch die soziale Synthesis den Umweg über eine Erkenntnisform nehmen, die das, was man nicht sehen kann, in ein Bild kleidet. (Koschorke et al.-59) Die Wahl des Körpers als Bild, das die unsichtbare Ganzheit sichtbar macht, ist keineswegs beliebig, da „der menschliche Körper selbst gleichsam das ursprüngliche Vorbild auch noch des abstraktesten logischen Begriffs der Ganzheit“ (Koschorke et al. 60) ist. Gemeint ist damit keine natürlich gegebene Verbindung zwischen Körper und Ganzheit, sondern eine lange Denktradition, die beide in Beziehung zueinander setzt. Doch mit der Darstellung der Ganzheit des Staates als Körper wird nicht nur die Vorstellung von Ganzheit selbst, die der Körper traditionell transportiert, auf den Staat übertragen: die Darstellung vollzieht parallel weitere Übertragungen von Elementen und Eigenschaften, die, gewissermaßen als „Cargo“ (Mahr-162), 56 auf den Staat transferiert werden: [S]o leistet die Metapher des sozialen Körpers die Übertragung eben jener vom menschlichen Körper abgezogenen Bestimmungen auf den Staat. Dazu gehören, neben Totalität (Vollständigkeit), Übersummativität (Kontinuität) und funktionaler Differenzierung vor allem auch Gegebenheit (Natürlichkeit), Unteilbarkeit und Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘, deren Vorstellungen dem Begriff des Staats auf metaphorischem Wege „unterlegt“ werden. (Koschorke et al.-60) Der Vorgang ist der einer metaphorischen Übertragung (oder: Unterlegung) mit mehrfachem Cargo („Totalität“, „Übersummativität“, „funktionale Differenzierung“, „Gegebenheit“, „Unteilbarkeit“, „Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘“), die sich weiter genauer als Hypotypose/ Versinnlichung klassifizieren lässt. Hier wird also nicht etwa Achill zum Löwen, sondern einem Gegenstand, dem in der Realität ‚keine Anschauung korrespondieren kann‘ (und d. h. vor allem keine, 56 Vgl. hierzu: „[D]er Inhalt eines Modells [ist] die Verkörperung einer zweigestaltigen Möglichkeit, die vom Modell gleichsam als Cargo transportiert wird: Bei der schönen Frau ist dieser Inhalt die Schönheit in ihren Proportionen, als Verkörperung eines Ideals und als Vorbild für ein Gemälde; bei dem Miniaturdom ist er das Erscheinungsbild, als Ergebnis eines Entwurfs und als Referenzobjekt eines Bauauftrags; bei der Architekturzeichnung ist er die gestaltete Form, als Darstellung einer Idee und als Vorlage für die Bauausführung; und bei den Differenzialgleichungen ist der Inhalt die dadurch beschriebene Abhängigkeit numerisch darstellbarer Größen, als Resultat durchgeführter Beobachtungen oder Messungen und als hypothetische Grundlage für nachfolgende Berechnungen, Experimente und Aussagen.“ (Mahr-162f.) 60 2 Darstellung von Ganzheit die ihn in seiner Gänze zeigen kann), wird überhaupt erst eine Anschauung gegeben, er wird „in ein Bild [ge]kleidet“ (s. o.). 57 Einer deutlich größeren Ganzheit - der ‚Welt‘ bzw. dem ‚Kosmos‘ - und ihrem Verhältnis zum (bzw. ihrer Darstellung durch den) Körper nimmt sich die mittelalterliche Konzeption des Makrokosmos/ Mikrokosmos an. Die Beziehung zwischen Ganzheit und Körper gestaltet sich dabei wie folgt: Der Mikrokosmos ist nicht nur ein kleiner Teil des Ganzen, nicht ein Element des Weltalls, sondern gleichsam seine verkleinerte und es nachbildende Replik. Nach der Idee, die von Theologen und Dichtern geäußert wurde, ist der Mikrokosmos ganzheitlich und in sich vollendet wie auch die große Welt. Man stellte sich den Mikrokosmos in Form eines Menschen vor, der nur im Rahmen des Parallelismus ‚kleines‘ und ‚großes‘ Weltall verstanden werden kann. (Gurjewitsch-65) Es handelt sich also um eine Parallelisierung, welche auf der „völligen Analogie zwischen Weltall-Makrokomos und Mensch-Mikrokosmos“ (400) beruht, die sich detailliert ausbuchstabieren lässt: „Jeder Teil des menschlichen Körpers entspricht einem Teil des Weltalls: der Kopf dem Himmel, die Brust der Luft, der Bauch dem Meer, die Beine der Erde, die Knochen den Steinen, die Adern den Zweigen, die Haare dem Gras und die Gefühle den Tieren.“ (65) Wie man an dieser Aufreihung erkennen kann, handelt es sich um einen hochgradig konventionalisierten Analogieschluss, dessen einzelne Bestandteile ohne Vorwissen nicht zwingend einleuchten. Die Vorstellung vom Makrokosmos/ Mikrokosmos, die „im mittelalterlichen Europa, insbesondere seit dem 12. Jahrhundert“ (65) äußerst populär ist, 58 zeitigt zahlreiche bildliche Darstellungen, die menschliche Körper mit dem Kosmos im Wechselverhältnis zeigen (vgl. Gurjewitsch 67f.) und beruht des Weiteren auf der zeittypischen Vorstellung, dass die Ganzheit dualistischen Charakters ist. 59 Der Körper ist also auch jenseits der Staatskör- 57 Vgl. hierzu auch Koschorke (et al.), der deutlich macht, dass staatliche Institutionen realgewordene Metaphern sind: „Insofern ein Gemeinwesen sein Selbstbild als makroanthropos in institutionelle Strukturen umsetzt, ahmt ja nicht das Bild die politische Wirklichkeit nach, sondern umgekehrt die Wirklichkeit das auf sie angewandte Bild. Gesellschaftliche Organisation , so lässt sich diese Seite des Vorgangs schlagwortartig beschreiben, ist praktisch gewordene Metaphorik. “ (57) 58 „Das Bestreben, die Welt als eine Einheit zu erfassen, zieht sich durch alle mittelalterlichen ‚Summen‘, Enzykolpädien und Etymologien.“ (Gurjewitsch-65) 59 „Um […] den Sinn, der sich hinter der Konzeption des Mikrokosmos verbarg, richtig verstehen zu können, muß man die Veränderungen berücksichtigen, die der Begriff ‚Kosmos‘ selbst beim Übergang vom Altertum zum Mittelalter erfuhr. Wenn die Welt in der antiken Wahrnehmung ganzheitlich und harmonisch ist, dann ist sie in der Wahrnehmung der Menschen des Mittelalters dualistisch. Der antike Kosmos - die Schönheit der Natur, ihre Ordnung und Würde - verlor in der christlichen Interpretation einen 2.4 Körper und Ganzheit 61 per-Metapher im europäisch-christlichen Denken seit Langem mit Ganzheit assoziiert, d. h., dass der Körper somit schon seit geraumer Zeit und in verschiedenen Varianten in ein überraschendes Näheverhältnis zu kleineren und größeren Ganzheiten gerückt wird. 60 In Fragen der Darstellung von Ganzheit verdient das Konzept der Hypotypose besondere Aufmerksamkeit, denn die Darstellung der Ganzheit des Staates als Körper (bzw. die breite und aufschlussreiche Forschung zu dieser Thematik) kann die Perspektive auf die Darstellung von größeren Ganzheiten informieren. Der Staatskörper kann so als Modell dienen, zu dem sich Relationen zwischen Körpern und größeren Ganzheiten in ein Verhältnis setzen lassen. Denn was für den Staat gilt, trifft auch auf größere Ganzheiten zu: „Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich“ (Moser u. Simonis-12). Das Argument des Abstandes zwischen Ganzheit und Wahrnehmung kann so auf eine mögliche Brücke hin geöffnet werden: der Staatskörper, der auf dem allgemeinen hohen Potenzial des Körpers zur Darstellung von „bounded systems“ (Douglas- 142) fußt. 61 Um das allgemeine Darstellungspotenzial von Körpern im Kontext von Ganzheit weiter darzulegen, ist auf die Rolle des Körpers im kartografischen Kontext einzugehen, der untrennbar mit dem Themenfeld des Kolonialismus verknüpft ist. Das enge Verhältnis zwischen Körper und Kartografie (vgl.-III.2.3,-III.4.4.4) wird angesichts folgender Beschreibung zunächst überraschend erscheinen: „Die Karte bringt zahlengenaue Maßverhältnisse ins Spiel, abstrahiert von der idiosynkratischen Perspektive einzelner Subjekte und von deren seelischer Tiefe“ (Stockhammer, Kartierung 8). Dennoch gibt das menschliche Herz frühen Weltkarten ihre Form (vgl. Ramachandran 33-39), bzw. werden in Darstellungen, die Karten begleiten und rahmen, gehäuft riesenhafte menschliche Körper platziert (Ramachandran- 23, 51f.). Außerdem füllen und schmücken die Darstellungen Teil seiner Qualitäten. Dieser Begriff wurde vorwiegend nur für die menschliche Welt verwendet (mundus heißt im Mittelalter - ‚Menschheit‘) und trug nicht mehr die hohe ethische und ästhetische Einschätzung.“ (Gurjewitsch-58f.) 60 Auch die Allegorie der ‚Frau Welt‘ bedient sich des menschlichen Körpers, um eine spezifische Vorstellung von ‚Welt‘ vor- und darstellbar zu machen. Wie schon dem Makrokosmos/ Mikrokosmos liegt auch der ‚Frau Welt‘ die spezifisch christliche dualistische (vgl. Gurjewitsch-65) Vorstellung von der Ganzheit zugrunde. 61 Die Analogieschlüsse, die dem Makrokosmos/ Mikrokosmos zugrunde liegen, lassen sich dagegen nicht so leicht als Modell heranziehen, da sie erstens einer bestimmten Zeit angehören (der antike Staatskörper erfährt in Hobbes Werk eine prominente Wiederbelebung im 17. Jahrhundert) und sich nicht einfach eine Struktur abstrahieren lässt, die den Analogien zugrunde liegt; die Vorstellung einer dualistischen ‚Welt‘ ist dennoch von Interesse für die folgenden Analysen (vgl.-III.3.4.2). 62 2 Darstellung von Ganzheit von Tieren und Menschen Globen und Karten, und bewohnen dabei zumeist unbekannte oder entlegene Regionen der Erde. Abgebildeten Kannibalen und Monstern kommt hierbei gehäuft die Rolle zu, die Peripherie der (bekannten) Erde zu markieren; so schienen etwa „die amerikanischen Reiseberichte eine Bestätigung jener antiken Prognosen zu liefern, nach denen am Rande der Welt Monster, Fabel- und Zwitterwesen leben: Kannibalen, kopflose Wesen (Acephali), Satyre, Amazonen, Hermaphroditen, Monstergestalten“ (Manow-23; zu diesen Monstern vgl. auch Daston u. Park- 205). 62 „As writers struggled to represent the novelty of the American hemisphere for a European audience back home, monsters and marvels became coextensive with terra incognita in colonial representations.“ (Barrenechea-27) Man denke weiter an den Atlasbzw. Herkules-Mythos, in dessen bildlicher Darstellung ein riesenhafter Mann einen Globus schultert. Jörg Dünne hat mit Bezug auf frühneuzeitliche Beschreibungen darauf aufmerksam gemacht, dass die „Ansicht der Welt in einer zweidimensionalen Karte […] den Augen ein ähnliches Unwohlsein“ verursacht „wie das Gewicht der Erdkugel, die Herkules in dem Moment, als er sie Atlas abnimmt, auf seinen Schultern zu spüren bekommt“ (12), womit ein gleich doppelt körperliches Verhältnis zur Karte (im Erschrecken einerseits und dem Bild des Atlas/ Herkules andererseits) in Szene gesetzt wird. Atlas gibt darüber hinaus einem kartografischen Genre seinen Namen, beginnend mit dem Atlas von Mercartor, womit ein signifikanter Übergang markiert wird: From a literary historical perspective, the volume’s title [ Atlas ; T.E.] is striking and strange. It introduces a new nomenclature for the map book, replacing conventional metaphors with the materiality of the human body. […]. The Atlas troubles the illusion of the map as a transparently mimetic object-a “mirror of the world”-by highlighting the function of the human mapmaker as a mediator; it is through his particular perspective and technical gaze that we see the world visualized on the page. (Ramachandran-27) Weiter werden im Rahmen der Engführung von Körper und Kartografie die Relationen zwischen anthropomorphen Körpern und der Ganzheit in außergewöhnliche Größenverhältnisse gesetzt, insofern der menschliche Körper die Erdkugel schultert, oder als Riese von kosmischen Ausmaßen den Erdglobus - gleichsam Erde und ihre Repräsentation - in den Händen hält, wie auf dem Titelkupfer des Atlas von Gerhard Mercartor (1595); „as an allegory of making it announces a bold argument: the mapmaker embodies the world. In material 62 Auch Christoph Kolumbus glaubt „an Zyklopen und Sirenen, an Amazonen und Schwanzmenschen, und sein Glaube […] erlaubt es ihm auch, sie zu finden.“ (Todorov-24) 2.4 Körper und Ganzheit 63 and metaphorical ways, the human body and the global body become one.“ (Ramachandran-22) Ayesha Ramachandran schreibt weiter: Rhetorically, the materialities of geographic and bodily space become powerfully fused in the early modern period, paving the way for subsequent analogies between the human body and the great body of the world. (31) Neben diesem Zusammenhang ist auch auf die Nähe zwischen Kartografie und Anatomie hinzuweisen, insofern beide wiederholt, so kontraintuitiv es erscheinen mag, als ähnlich beschrieben wurden (Ramachandran-29-32). Weiter ist die Darstellung von Körpern in kolonialen Kontexten zu nennen - einmal im Rahmen der Diffamierung des Anderen (vgl. Manow-23-26) und einmal im Rahmen der Darstellung von zu kolonisierenden Regionen. Am bekanntesten ist hier mit Sicherheit die gegenderte Darstellung Amerikas als nackte, von Vespucci - seines Zeichens voll bekleidet und mit wissenschaftlichen Instrumenten ausgerüstet - ‚entdeckte‘ Frau (im Bildhintergrund findet, um dem Betrachter jegliche weitere Orientierungsarbeit zu ersparen, ein kannibalisches Barbecue statt). Doch gibt es auch Darstellungen, die alle - nach jeweiligem Stand der Kartografie bekannten - Erdteile, zuvorderst Europa und Amerika, als „Frauengestalten“ (Manow- 57) darstellen; diese Bildtradition findet auch im Titelkupfer des De Cive von Thomas Hobbes Eingang (vgl. Manow-55-57). Dieses Ins-Verhältnis-Setzen von Körpern und größeren Ganzheiten - und das koloniale Begehren, das ihnen eingeschrieben ist - kann jedoch auch ganz andere Formen annehmen: „The form of the globe finds anthropomorphic expression in the human eye or the female breast […], generating a poetics of form that connects the microcosm of a gendered human body to the macrocosm of the planetary globe.“ (Cosgrove- 7f.) Auf noch konkretere Verbindungen zwischen Hobbes Leviathan und der Kolonialgeschichte, auf die Philip Manow hingewiesen hat, wird unter-III.2.4.1 eingegangen. Die anthropomorphen Körper erscheinen in diesen - staatspolitischen, kolonialen, und kartografischen - Kontexten zumeist als stark vergrößert. Diese Tendenz wird im Spezialfall der von Horst Bredekamp beschriebenen Bildtradition der „Kosmosleiber“ ( Hobbes - 73) derart ins Extrem getrieben, dass der Körper mit Extensionen in ein Verhältnis gesetzt wird, die deutlich über den Bezugsrahmen des Terrestrischen hinausgehen - und den Körper sogar größer als die Erde erscheinen lassen, oder gar mit kosmischen Konstellationen (Sternzeichen, Himmelssphären etc.) in Näheverhältnisse rücken (vgl. Bredekamp, Hobbes- 73-75). Probates Mittel zur Vergrößerung des menschlichen Körpers ist häufig dessen Darstellung als sogenannter „Kompositkörper“ (Bredekamp, Hobbes- 76), der sich „[n]eben der Größe“ dadurch auszeichnet, dass er aus einer 64 2 Darstellung von Ganzheit „schier unübersehbar große[n] Menge von Personen“ (ebd.) - oder Körpergliedern - zusammengesetzt ist. Das allgemeine Darstellungspotenzial des Körpers konnte hier nur umrissen und so ein Fundament für die folgenden Analysen geschaffen werden, die dieses Potenzial in literarischen Texten weiter untersuchen und aus neuer Perspektive - in Relation zu FdG - beleuchten. III Lektüren III Lektüren 67 Aus den bis hierher beschriebenen Beobachtungen erklärt sich der Fokus der folgenden Lektüren, der auf Texten des 18. und 19. Jahrhunderts liegt, die damit in der unmittelbaren Vor-Phase des Global-Werdens des Welt-Systems angesiedelt sind (auch wenn ihnen selbst diese Terminologie natürlich fremd ist). Der Grund für den zeitlichen Fokus ist also, dass sich die bis zu diesem Punkt untersuchten und genannten Texte und Theorien einig sind, dass die ‚Weltwerdung von Erde‘ zwar deutlich früher beginnt, im 19. Jahrhundert jedoch global geworden ist; das ‚Welt-System‘, um in Wallersteins Vokabular zu sprechen, ist erdumfassend geworden. Hierbei ist dezidiert auch auf Robertsons Überlegungen zu verweisen, der im 18. und 19. Jahrhundert einen zentralen Prozess beobachtet, der unter anderem in der Integration nicht-europäischer Staaten in die ‚internationale Gemeinschaft/ Gesellschaft‘ besteht (vgl. dessen Ausführungen zu Japan 85-96; vgl. genauer-III.4.4). Weiter erklärt sich der Bezug auf Wallersteins Ansatz aus dessen Analysen der FdG ‚Welt‘, deren Ergebnisse oben dargestellt wurden. Die folgenden drei Lektürekapitel, und die Textauswahl, die ihnen zugrunde liegt, lassen sich kontextuell und sprachlich den „three great empires - British, French, American -“ (Said, Orientalism- 15) zuordnen. Denn die drei analysierten Haupttexte - Gulliver’s Travels , Candide und Moby-Dick - sind in den dominanten Sprachen (Englisch, Französisch, Englisch) dieser Imperien verfasst und in den entsprechenden Kontexten entstanden. 63 Die Texte werden, um die bis hierher beschriebene Prozessualität der Expansion nachvollziehen zu können, in der Chronologie ihres Erscheinens (1726, 1759, 1851) analysiert. An dieser Stelle ist das Genre der untersuchten Texte zu adressieren - denn es ist auffällig, dass im Folgenden zwei Satiren und ein Roman untersucht werden. Das erklärt sich vor allem aus der Thematik des Blickpunktes, die immer wieder aufgegriffen werden wird. Wie Werner von Koppenfels gezeigt hat, ist die Satire 64 grundsätzlich der Außenperspektive verschrieben, denn da sie „auf die pointierte Verkleinerung menschlicher Scheingröße abzielt, muß sie […] statt der vertrauten Nähe der Dinge ironische Distanz schaffen“ (31). Diese Distanz wird dabei häufig als „Blick aus der Höhe“ (ebd.) inszeniert - die doppelte Distanz aufrufend, die weiter oben bereits angesprochen wurde, als räumliche einerseits, 63 Die Dominanz dieser und anderer Imperien verläuft dabei nicht immer linear, und verschiedene Aspekte der Hegemonie treten zeitlich versetzt ein: „Venice was the economic capital of the 16th century, but Florence and its Tuscan dialect were intellectually in the ascendant. In the 17th century, Amsterdam became the greatest centre of European trade, but Rome and Madrid triumphed in the arts and literature. In the 18th century, London was the centre of the economic world but it was Paris that imposed its cultural hegemony“ (Casanova-85). 64 Gemeint ist hier die Satire einer bestimmten Machart, von Koppenfels „menippeische Satire“ (32) genannt. Vgl. außerdem Koppenfels-9-22. 68 III Lektüren und als Enthebung aus dem Alltag andererseits (vgl.-II.2.1). Die Schrumpfung, welche Satiren ihrem Genre gemäß häufig inszenieren, ist im Rahmen dieser Arbeit neu zu deuten - mit Hinblick auf den beschriebenen Rahmen der Expansion des Welt-Systems. Der Roman steht ebenfalls in einem komplexen Verhältnis zum ‚Ganzen‘, insofern in ihm die Frage, inwiefern er selbst ein Ganzes - eine ‚Welt‘, mit allen Einschränkungen, die in Abschnitt II.1.3 erarbeitetet wurden - darstellt (vgl. hierzu auch III.4.1 und III.4.2.2). Darüber hinaus jedoch zeichnet sich Moby-Dick im Speziellen dadurch aus, dass dort ebenfalls eine Außenperspektive auf das Ganze explizit diskutiert wird. ‚Globale Realitäten‘ sind ein dem Alltag der individuellen Perspektive Entrücktes, so Jameson (s. o.), ein „absent cause“ ( Jameson, „Mapping“- 350) jenseits der Wahrnehmung und Sichtbarkeit. Die Annahme Jamesons dabei, dass „this absent cause can find figures through which to express itself in distorted and symbolic ways“, wird von dieser Arbeit mit allem Nachdruck vertreten - und verbunden mit der These, dass in den Texten, auf die das Projekt fokussiert, der Körper diese Funktion übernimmt, indem er - im Wechselspiel mit FdG - größere globale Einheiten und Prozesse darstellt und so sichtbar werden lässt. 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ Ich sage dir nun, was du nie mehr vergessen wirst, weil du es im Innersten schon immer wußtest, ebenso wie ich es wußte, ehe es mir offenbar wurde. Wir haben uns nur dagegen gesträubt: Die Welt , sage ich, ist eine Muschel, die sich erbarmungslos schließt . Du sträubst dich? Du wehrst dich gegen die Einsicht? Es ist kein Wunder. Der Schritt war zu groß. Du kannst ihn nicht auf einmal tun. Der alte Nebel liegt zu dicht, als daß ein großes Licht genügte, ihn zu vertreiben. Wir müssen hundert kleine entzünden. (Süskind-45f.) Der Ich-Erzähler namens Mussard in Patrick Süskinds Das Vermächtnis des Maître Mussard (1995) eröffnet im zitierten Passus dem unmittelbar angesprochenen Leser, dass „die Welt“ eine Muschel sei (eine einzige Muschel wohlgemerkt, doch dazu im weiteren Verlauf mehr). Damit schöpft er eine überraschende Gleichsetzung. Gleichzeitig postuliert er einen Widerstand gegen diese Behauptung seitens des im Text mit hoher Frequenz direkt angesprochenen Lesers. Der Leser wird so textintern inszeniert als ein von der Identität von Welt und Muschel zu überzeugendes Gegenüber, das Vielheit sieht, wo der Erzähler eine Identität von Welt und Muschel postuliert. Die FdG ‚Welt‘ wird so aus dem automatisierten Verständnis gerissen, und durch die In-Eins-Setzung mit einem denkbar unwahrscheinlichen, weil kleinen, Tier in eine Relation gesetzt, die jedwede intuitive Bedeutung von ‚Welt‘ unterläuft. Das Eins-Sein von ‚Welt‘ und Muschel muss entsprechend erst noch hergeleitet werden - und dieses Unternehmen steht im restlichen Verlauf des Maître Mussard im Mittelpunkt. Implizit formuliert der Text damit eine viel grundlegendere Frage: Was ist ‚die Welt‘? Ausgehend von einem Fund beim Graben im heimischen Garten, bei dem nur knapp unter einer dünnen Schicht Erde Gestein voller versteinerter Muscheln zutage tritt, entwickelt der Protagonist die globale These, dass die gesamte Erde nur von einer dünnen Schicht Erdbodens überzogen ist, unter der sich überall Muschelgestein findet. Von diesem Ist-Zustand ausgehend, der durch (mehr und weniger überzeugende) Beweise, die der Protagonist im Lauf des Textes anhäuft, untermauert wird, entwickelt der Erzähler weiter die These, dass die gesamte ‚Welt‘ in einem Prozess der „Vermuschelung“ (54) begriffen ist. Dieser wird, so seine Prognose, im Erstarren der Erde zu einer Wüste aus Muschelgestein enden. 70 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ Doch nicht nur findet sich überall Muschelgestein, es erweist sich außerdem, dass dieses Gestein in sich völlig homogen ist. „Und wenn ich keine Muscheln fand, so fand ich Sand oder Stein, der mit ihnen substantiell identisch war.“ (51) Weiter heißt es, dass sich die „diversen Muscheln meiner Sammlung“ in nichts unterschieden „bis auf die Größe […], und abgesehen von der Form, unterschieden sie sich auch nicht von dem Gestein, mit welchem sie verwachsen waren.“ (51) Alles erscheint als Muschel, auch über deutliche Unterscheidungsmerkmale wie Größe und Form hinweg. Das Gestein, welches die versteinerten Muscheln umgibt, ist „substantiell“ mit ihnen identisch, und diese Identität überschreibt alle weiteren Unterschiede, seien sie auch noch so evident. Mussard weitet seine Grabungen, die anfangs auf den eigenen Garten beschränkt bleiben, zunehmend aus: „Zunächst grub ich in Passy, dann in Boulogne und Versailles, schließlich hatte ich ganz Paris von St. Cloud bis Vincennes, von Gentilly bis Montmorency systematisch umgraben, ohne auch nur ein einziges Mal vergeblich nach Muscheln zu suchen.“ (50f.) Auch wenn er über Frankreich in seinen Grabungsversuchen nie hinauskommt, erscheint ihm bald eine durchgängige Berührung von Muschel und ‚Welt‘ evident: Die Muschel wächst sich im Lauf der Erzählung zu einer allumfassenden, räumlich motivierten Metonymie aus, welche die Ganzheit an allen Stellen unterirdisch berührt. Darüber hinaus fällt die zu Textbeginn bemühte ‚Welt‘ im Textverlauf zusehends mit dem „ganzen Kosmos“ (60) und dem „Universum“ (68) zusammen. Beschränkt sich Mussard zunächst auf besagten Garten, frankreichweite Grabungen und Annahmen über die Gebirge dieser Erde (vgl. 59), so wird schließlich selbst die Erde im Zuge der eskalierenden Spekulationen verlassen. Der Sprung zum erdnahen Trabanten erfolgt konsequent, denn der Mond erscheint als „ein geradezu klassisches Beispiel für die Vermuschelung des Kosmos“ (60), und so liegt „die Vermutung nahe, daß die Vermuschelung ein allgemeines Prinzip darstellt, welchem nicht nur die äußere Erdgestalt, sondern auch alles irdische Leben, jedes Ding und Wesen auf Erden, ja im ganzen Kosmos unterworfen ist.“ (ebd.) Die Vermuschelung ist nicht weniger als „ die weltbewegende Kraft“ (64), und gewinnt so über die anfängliche Feststellung eines Ist-Zustands der Erde hinaus eine dynamische, prozessuale Energie: Die Entdeckung, daß die Erde im wesentlichen aus Muscheln besteht, könnten wir als belanglose Kuriosität achten, wenn es sich hierbei um einen Zustand handelte, der unveränderlich und abgeschlossen wäre. Leider ist dies nicht der Fall. Meine umfangreichen Studien, deren Gang im einzelnen hier dazulegen mir keine Zeit bleibt, haben ergeben, daß die Vermuschelung der Erde ein rapide fortschreitender, nicht aufzuhaltender Prozess ist. Schon in unseren Tagen ist der erdige Mantel der Welt allenthalben fadenscheinig und brüchig geworden. An vielen Stellen ist er bereits von 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ 71 muscheliger Substanz zernagt und zerfressen. […]. Im ganzen genommen übertrifft die bereits der Vermuschelung anheimgefallene Erdoberfläche die Fläche Europas um ein beträchtliches. (54f.) Für den Moment betrachtet, handelt es sich bei der „Entdeckung, daß die Erde im Wesentlichen aus Muscheln besteht“ um eine Unterminierung, eine (größtenteils) unterirdische Berührung und Kontiguität von Muschel und Welt. Erst in der Behauptung, dass es sich um einen Prozess handelt - für deren Herleitung „im einzelnen hier darzulegen […] keine Zeit bleibt“ - ergibt sich, dass die Vermuschelung schlicht die ganze Erde zur Muschel machen wird. Und auch der Mensch hat in diesem Zusammenhang seinen Auftritt. Noch entsetzlicher als die Vermuschelung des Kosmos ist der stetige Verfall unseres eigenen Körpers zur Muschelsubstanz. Dieser Verfall ist so heftig, daß er bei jedem Menschen unweigerlich zum Tode führt. Während der Mensch bei der Zeugung, wenn ich so sagen darf, nur aus einem Klümpchen Schleim besteht, welches zwar klein, aber noch völlig frei von Muschelsubstanz ist, so bildet er bereits beim Heranwachsen im Mutterleibe Ablagerungen davon aus. Kurz nach der Geburt sind diese Ablagerungen noch hinreichend weich und schmiegsam, wie wir das an den Köpfen von Neugeborenen feststellen können. Aber schon nach kurzer Zeit ist die Verknöcherung des kleinen Körpers, die Umschalung und Beengung des Gehirns durch eine harte steinige Kapsel so weit gediehen, daß das Kind eine ziemlich starre Gestalt annimmt. Die Eltern jauchzen und sehen nun erst einen richtigen Menschen in ihm. Sie begreifen nicht, daß ihr Kind, kaum daß es zu laufen beginnt, schon von Muscheln befallen ist und nur noch seinem sicheren Ende entgegentaumelt. (61) So wird auch der menschliche Körper und dessen Altern (das eher als lebenslanges Zur-Muschel-Werden begriffen wird) in den weltweiten Prozess - im zitieren Passus ist gar von der FdG ‚Kosmos‘ die Rede - eingebunden. Körper und Ganzheit werden im Laufe des menschlichen Lebens zunehmend ‚identischer‘, bis der Unterschied Körper/ Ganzheit völlig hinfällig geworden ist: Im Alter nämlich wird die Versteinerung des Menschen am deutlichsten sichtbar: Seine Haut wird spröde, die Haare brechen, die Adern, das Herz, das Gehirn verkalken, der Rücken krümmt sich, die ganze Gestalt biegt sich und wölbt sich, der inneren Struktur der Muschel folgend, und schließlich fällt er in die Grube als ein jämmerlicher Trümmerhaufen von Muschelstein. Und selbst damit ist es noch nicht zu Ende. Denn der Regen fällt, die Tropfen dringen ein ins Erdreich, und das Wasser zernagt und zerkleinert ihn in winzige Teile, die es hinabträgt zur Muschelschicht, wo er dann in Form der bekannten Steinmuscheln seine letzte Ruhe findet. (61f.) 72 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ Hier findet ein Übergang statt, von einer Relation der Ähnlichkeit zwischen menschlichem Körper und Muschel, die über die Krümmung des menschlichen Körpers im Alter („der Gestalt der Muschel folgend“) zum Bild gebracht wird, hin zu einer Beziehung, die sich, über den Prozess der mineralischen Auswaschung, als Identität von Mensch und Muschelsubstanz darstellt. Im weiteren Verlauf jedoch erscheint die Vermuschelung damit als fortschreitende Eins machung. Ihren Höhepunkt finden die Überlegungen zum Verhältnis zwischen Muschel und Welt in einer apokalyptischen Vision des Protagonisten, in der nicht mehr im Plural von Muscheln oder von Muschelsubstanz gesprochen wird: Ich wurde aus meinem Garten weggetragen in das Dunkle. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, ich war nur umgeben von der Dunkelheit und von merkwürdigen gurgelnden und rauschenden Geräuschen. Diese beiden Geräuschgruppen - das wäßrige Rauschen und das steinige Knirschen - schienen mir in dem Augenblick als Schöpfungsgeräusche der Welt, wenn ich so sagen darf. Ich hatte Angst. Als die Angst am stärksten war, fiel ich abwärts, die Geräusche entfernten sich, dann fiel ich aus der Dunkelheit heraus. Mit einem Mal war ich von so viel Licht umgeben, daß ich glaubte, blind zu werden. Ich fiel weiter im Licht und entfernte mich von dem dunklen Ort, den ich jetzt als ungeheure schwarze Masse über mir erkannte. Je weiter ich fiel, desto mehr erkannte ich von der Masse und desto größer wurden ihre Ausmaße. Schließlich wußte ich, daß die schwarze Masse über mir eine Muschel war. Da spaltete sich die Masse in zwei Teile, öffnete ihre schwarzen Flügel wie ein gigantischer Vogel, riß die beiden Muschelschalen auf über das ganze Weltall und senkte sich herab über mich, über die Welt, über alles was ist und über das Licht und schloß sich darüber. Und es wurde endgültig Nacht, und das einzige, was es noch gab, war das Geräusch des Mahlens und Rauschens. Der Gärtner fand mich auf dem Kiesweg liegen. (66f.) Mussard meint, aus einem Innenraum herauszufallen, und so, durch diese Bewegung, eine Ganzheit, die sich als die „Urmuschel“ erweist, von außen, einem archimedischen Blickpunkt, sehen zu können. 65 Der Erzähler sieht nun nicht länger Gestein, das substantiell identisch ist mit all den Muscheln, oder Körper, die zu Stein werden, sondern er „wußte […], daß die schwarze Masse […] eine Muschel war“ (Hervorhebung T.E.). Grammatikalisch kommt es zu einer Singularisierung von ‚Muschel‘. In einem zweiten Schritt verschlingt die Muschel das „Weltall“ - im Übrigen die einzige Verwendung der FdG ‚Weltall‘ in diesem Text, durch die betont wird, dass diesmal wirklich die ‚totale Ganzheit‘ betroffen ist, und nicht etwa ‚nur‘ die Erde, der Mond, oder das Sonnensystem. Das Weltall wird in einer Schreckensvision von einer Muschel verschlungen. 65 Die Relation des Einzelnen zur Welt, verhandelt in einem inszenierten Sturz, ist ein widerkehrender Topos, der auch in Moby-Dick durchgespielt wird (vgl.-III.4.3.3). 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ 73 Die Kraft, die alles Leben in ihren Bann schlägt und alles Ende herbeiführt, der höchste Wille, der das Universum beherrscht und es zur Vermuschelung als Zeichen der eigenen Omnipräsenz und Omnipotenz zwingt, geht aus von der großen Urmuschel, aus deren Innern ich für kurze Zeit entlassen war, um ihre Größe und furchtbare Herrlichkeit zu schauen. Was ich gesehen habe, war die Vision des Weltendes. Wenn die Vermuschelung der Welt so weit gediehen ist, daß jedermann die Macht der Muschel erkennen muß, wenn die Menschen, der Hilflosigkeit und dem Entsetzen preisgegeben, zu ihren verschiedenen Göttern schreien und sie um Hilfe und Erlösung anflehen, dann wird als einzige Antwort die große Muschel ihre Flügel öffnen und sie über der Welt schließen und sie zermahlen. (68f.) Es ist hier nur noch eine Muschel, welche die „Welt“ verschlingt, womit diese nicht länger aus unzähligen Muscheln oder „substantiell“ (s. o.) aus Muschelgestein besteht. Stattdessen wird die „Welt“ ausgelöscht, und was bleibt ist die Ein s heit der einen Muschel. Die unterschiedlichen FdG, die im zitierten Passus - und im übrigen Text - ihren Auftritt haben, werden von der einen Muschel verdrängt, die an ihre Stelle tritt. Hier lässt sich also eine weitere Nuance in die bereits besprochene Unterscheidung zwischen Einheit und Ein s heit eintragen (vgl.- II.1.4). Einheit setzt strukturell stets Vielheit voraus, welche als Einheit wahrgenommen/ dargestellt wird; Einheit verdrängt Vielheit nicht notwendig. Süskinds Text hingegen inszeniert die Beseitigung von Vielheit zugunsten eines einzelnen Gegenstandes, der Muschel, der an die Stelle der Vielheit tritt, und dessen Eins-Sein stiftet. Der Prozess der Vermuschelung stellt, so die Deutung, die hier an den Text herangetragen werden soll, die Kompression der Ganzheit als radikale Verein sheitlichung dar. Die von Mussard gegebene Beschreibung der hauchdünn von Erdboden überzogenen Ganzheit der Erde, die im Kern schon Muschel ist, wird so als wahnhafte Momentaufnahme des Fortschreitens der Kompression lesbar, einer paranoiden oneworldedness (vgl.-II.2.2), die die Ganzheit auf eine Muschel reduziert. Unter dieser Perspektive entwickelt der Text einen als materiell inszenierten globalen Zusammenhang, der in scharfem Kontrast steht zu den üblicherweise dezidiert nichtstofflichen Metaphern und Bildern, die zur Illustration von Fernwirkungszusammenhängen herangezogen werden. So spricht man in der Globalisierungstheorie eher davon, dass alle Ereignisse auf der Erde globale Echos 66 nach sich ziehen; Peter Sloterdijk spricht (allerdings für das 20. Jahr- 66 Vgl. etwa H. J. Mackinders Aufsatz „The Geographical Pivot of History“ (1904), der als sehr frühe Theorie der Globalisierung gelesen werden kann. „Every explosion of social forces, instead of being dissipated in a surrounding circuit of unknown space and barbaric chaos, will be sharply re-echoed from the far side of the globe, and weak elements in the political and economic organism of the world will be shattered in consequence.“ (422) 74 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ hundert) noch abstrakter von „Transaktionen“ die noch aus weiter „Ferne“ die „Gegenspieler in Mitleidenschaft“ ( Sphären II- 824) ziehen. Im Kontrast zu diesen Beschreibungen also erweist sich die Kompression in Süskinds Text als ein Prozess, der Ein s heit (in der extremsten Form) als substantiell verstandene Identität aller Stoffe inszeniert. Mit einiger Verzweiflung wirft der Erzähler schließlich die Frage auf: Was bleibt? - und stößt den Leser damit auf die an die Körperthematik stets untrennbar gebundene Frage nach der Seele: Wie sollte ich dich trösten? Soll ich von der Unzerstörbarkeit deiner Seele, von der Gnade des barmherzigen Gottes, von der Auferstehung des Leibes faseln wie die Philosophen und Propheten? […] Wozu lügen? (69) Die Frage nach der Seele wird auch am Ende des Textes, welches als „ Nachschrift Claude Manets, des Dieners des Herrn Mussard “ (70) Gestalt annimmt, aufgegriffen. Nach der Beschreibung des Umstandes, dass man dem Herrn Mussard einen „rechtwinklingen Sarg zimmern“ lassen musste, da „mein Herr auch nach Ablauf der üblichen Todesstarre seine versteifte Haltung nicht aufgeben wollte“, schreibt Manet: „Gott sei seiner Seele gnädig! “ (70) und ‚faselt‘ damit von eben jener Seele, von der Mussard - angesichts der Vermuschelung der Welt - keine Lügen erzählen wollte. Die Seele - mit wenigen Ausnahmen in den meisten Vorstellungen vom Körper als nicht -stofflich verstanden - 67 wird also von Süskinds Text verabschiedet, da sie nicht in die materiell gedachte ‚Vermuschelung‘ passt. So fällt der Einebnung von Unterschieden - wie die Behauptung der ‚substantiellen‘ Identität sämtlicher Stoffe sie mit sich bringt - zuletzt auch die Interessanterweise verknüpft Mackinder die Analyse geologischer Ereignisse - genauer den (globale Konsequenzen nach sich ziehenden) Ausbruch eines Vulkans - mit Analysen wie der eben zitierten, die deutlich nicht-geologische Beobachtungen macht. Vgl. zur Analyse dieses Textes Gloria Meynens „Welt im Plural“. Fanon nutzt die Metapher der ‚Erschütterung‘, freilich für eine völlig andere Zeit, denn er beschreibt mit ihrer Hilfe, dass politische Ereignisse und Vorfälle im Laufe der Dekolonisation des 20. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschieden bewertet werden: „Deux hommes sont matraqués à Salisbury, et voici que l’ensemble d’un bloc se met en branle, parle de ces deux hommes et, à l’occasion de ce matraquage, soulève le problème particulier de la Rhodésie - le reliant à l’ensemble de l’Afrique et à la totalité des hommes colonisés. Mais l’autre bloc, également, mesure, à l’ampleur de la campagne menée, les faiblesses locales de son système. Les peuples colonisés se rendent compte qu’aucun clan ne se désintéresse des incidents locaux. Ils cessent de se limiter à leurs horizons régionaux, saisis qu’ils sont dans cette atmosphère de secousse universelle.“ (74) 67 Eine Ausnahme bildet die sogenannte „Vernervlichung der Seele“ (Matala de Mazza, Körper - 103) im 18. Jahrhundert (vgl. hierzu grundsätzlich die Ausführungen unter Körper -103-114). 1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“ 75 Seele zum Opfer, die als Nicht-Substantielles in der substantiellen Ein s heit der ‚Muschel-Welt‘ keinen Platz hat. 2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels 2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien (A Modest Proposal) Swifts politisches Pamphlet 68 A Modest Proposal (1729) schlägt vor, die Kinder irischer Bettlerinnen nach dem ersten Lebensjahr an die englische Oberschicht zu verkaufen, von der diese als Delikatesse verspeist werden sollen; somit soll die zu dieser Zeit in Irland grassierende Armut gelindert werden. 69 Das Proposal legt also eine kannibalische Praktik zur Lösung der irischen Krise nahe. 70 Dies ist, auf den ersten Blick, ein satirischer Kommentar auf die bilaterale Konstellation zwischen ungleichen Staaten: Irland kommt hierbei der Sonderstatus der first colony zu und leidet gesellschaftlich massiv unter dem hegemonialen Einfluss Englands, welches Irland faktisch der Selbstbestimmung beraubt hatte. 71 Die Si- 68 Wie Edward Said deutlich gemacht hat, ist dieses Genre streng situationsgebunden: „Swift is, I think, preeminently a reactive writer. Nearly everything he wrote was occasional, and we must quickly add that he responded to, but did not create, the occasions.“ (Said, World- 78) Dieser Lesart stehen die folgenden Ausführungen nicht entgegen - sie weisen jedoch darauf hin, dass die „Anlässe“, auf die Swifts Texte „reagieren“, eine deutlich größere räumliche Extension umfassen, als Said es annimmt, insofern er zur Analyse von Swifts Pamphleten sehr stark auf die Relation zwischen Irland und England fokussiert, und Swift als „a kind of a local activist“ (77; Hervorhebung T.E.) beschreibt. 69 Die Situation in Irland stellt sich wie folgt dar: „Poverty in Dublin was amplified in the 1720s by trade depression, unemployment, a poor harvest, and famine. According to parish records, in the parishes that distributed badges, the number of poor seeking relief increased as much as fifty percent during the crisis“ (Carter 100). 70 Dabei ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Swift klar auf Seiten der Iren steht: „Contrary to traditional misapprehensions, A Modest Proposal is neither a Dickensian protest at the conditions of the poor, nor a diatribe against English exploitation of Ireland, but an ‘economic’ tract by a profiteering do-gooder who thinks the economy might be improved by exploiting the anthropophagous proclivities of the Irish natives. […]. He portrays them as a beggarly, thieving, adulterous riff-raff, who, if they could be taught that their bastard offspring were a cashable asset, might take better care to preserve and nourish them in infancy, and also refrain from beating their wives when they are pregnant for fear of a miscarriage“ (Rawson, „Gulliver“-5). 71 England erzwingt seinen Einfluss durch einen Katalog an Maßnahmen: politische Entmachtung („Between 1690 and 1720, the English Parliament and courts passed a series of economic restrictions and legal provisions on the sister kingdom of Ireland that virtually stripped all power from the Irish Parliament and the local courts and rendered it a dependent colony”, Carter-108), Zählung der Bevölkerung (die Swift mehrfach reflektierte, vgl. hierzu Lein 431f., sowie Stockhammer, Kartierung 98: „Die Bestandsaufnahme war 78 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels tuation stellt sich als koloniales Ausbeutungsverhältnis unmittelbarster Art dar, das in der an ein Oxymoron grenzenden Begrifflichkeit des dependent kingdom , unter dem Irland zu dieser Zeit auch adressiert wird, kaum verborgen zutage tritt. 72 Dementsprechend ist folgende, im Proposal vorgebrachte Begründung des drastischen ‚Lösungsvorschlags‘ nur folgerichtig: I GRANT this Food will be somewhat dear, and therefore very proper for Landlords; who, as they have already devoured most of the Parents, seem to have the best Title to the Children. (233) Die althergebrachte Ausbeutung der Iren rechtfertigt somit satirisch die Ausbeutung auch noch der jüngsten Generation, wobei das körperliche Verschlingen („devoured“) die Gewalt Englands markiert. 73 Dieser Vorschlag ist in seinem Inhalt jedoch keineswegs so radikal, wie es ohne eine historische Kontextualisierung den Anschein haben mag. Denn drei zeitgenössische Praktiken in Irland und England politisieren Körper ebenfalls in massiver Form. So ist in diesem Zusammenhang erstens auf die Praktik des corpse-stealing hinzuweisen, also das Stehlen und Verkaufen von Leichen (betroffen sind von dieser Praxis vor allem Angehörige der Unterschicht). 74 Zweitens stellt die Praktik der öffentlichen - und das heißt immer auch: strafenden - Obduktion von ‚Kriminellen‘ eine massive Politisierung von Körpern dar, 75 die in diesem Zeitraum eine große gesellschaftliche Rolle spielt. 76 Drittens muss auf eine irische Beerdigungspraktik verwiesen werden, die sich zu dieser Zeit zu etablienötig geworden, weil Oliver Cromwell 1649 die katholischen Grundbesitzer Irlands enteignen ließ, um ihr Land auf Soldaten […] sowie andere Interessenten - darunter Petty selbst - umzuverteilen“) und das Durchsetzen der englischen Sprache in Irland. 72 Siehe Swifts Attacken auf diesen Begriff bei Moore 685. Vgl. auch Mary Carter, die vom „dependent legal status as a kingdom and as a colony“ (108) spricht, und Irlands Situation so konzis beschreibt. 73 Vgl. zur Geschichte der Darstellung ökonomischer Ausbeutung als ‚Verspeist-Werden‘ in diesem Kontext Sean Moore, laut dem der „text appears linked to the Scriblerian themes of finance in the character of its cannibal, the period’s conventional symbol for financiers“ (683). Weiter schreibt er: „The cannibal, however, was not the only figure for finance that Swift borrowed from the Scriblerian lexicon; he also appropriated prostitute, beggar, and thief.“ (ebd.) Vgl. allgemeiner McNally-2-16. 74 „By the 1720s, corpse-stealing had become a full-time profession whose practitioners (known as ‘resurrectionists’) could make a comfortable living.“ (McNally-52) 75 Der Prozess dieser Kriminalisierung läuft wie folgt ab: „Much ostensible ‘crime’ was perceived by the lower classes as simple defence of longstanding rights, as survival-strategies sanctioned by centuries of custom. Stealing, poaching and smuggling from the parks and forests of the rich - many of them once sites for the excercise of common rights, such as hunting, fishing and gathering woods, berries and herbs - were routinely celebrated.“ (McNally-21) 76 Vgl. wiederum McNally-17-36, aber auch Vernoy-xii-xiii. 2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien ( A Modest Proposal ) 79 ren beginnt, in welcher der Tod prominenter Personen zum Anlass genommen wird, einen Schal aus irischem Stoff zum patriotischen dress-code zu erklären; durch den vermehrten Verkauf von irischem Leinen soll so die heimische Wirtschaft angekurbelt werden. 77 Semantisch hochgradig aufgeladene Körper sind somit im politischen Gefüge Irlands Anfang des 18. Jahrhunderts sehr präsent, und zwar als Waren, als Gegenstände der Demonstration von Macht, sowie als patriotische Symbole. 78 Von derart ‚aufgeladenen‘ Körpern toter Iren einerseits, und der grassierenden Angst vor Grabräubern und Obduktionen andererseits, ist der Weg zum Vorschlag in Swifts Pamphlet nicht mehr weit, der insofern nur einem heutigen Publikum als haltlose Übertreibung erscheinen muss - ganz davon abgesehen, dass das Verspeisen von Menschen als Metapher in (finanz-) ökonomischen Zusammenhängen zu dieser Zeit en vogue ist. Das Proposal denkt diesen Umgang mit menschlichen Körpern lediglich satirisch einen Schritt weiter, indem es vorschlägt, sogar Kinder dem Verkauf und Verzehr preiszugeben. Das Proposal ist weiter Teil des Genres des politischen Pamphlets zur Lösung der Krisensituation in Irland, welches Anfang des 18. Jahrhunderts hochpopulär ist und die verzweifelte wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation anprangert. Gleichzeitig verdienen die Autoren dieses Genres an genau den Missständen, die sie kritisieren, ihr Geld. Das Genre ist damit ebenso politisch wie lukrativ. 79 Der Bezug des Proposal auf dieses Genre ist der einer intertextuell verfahrende Parodie, die auf den Aspekt der Lukrativität des irischen Leidens abzielt. Gleichzeitig attackiert es dieselben gesellschaftlichen Umstände, auf die sich das ganze Genre bezieht (und wird auf dem gleichen Markt zum Bestseller, auf dem die parodierten Pamphlete verkauft werden): 80 „The text may set Swift up as an 77 Vgl. hierzu Ward, „Bodies“-286f. 78 Carol Flynn hält, in ihren Ausführungen zum Körper bei Daniel Defoe und Swift, von der Annahme ausgehend, dass das „problem of the body becomes one of the central concerns of the eighteenth century“ (6), allgemein fest: „The body had always complicated the very human desire for spiritual certainty. Idealists for centuries scourged it, refined it, shed it altogether in attempts to link it into larger patterns of coherent meaning. But after Hobbes, after Locke, and in spite of Descartes, the body, at least in eighteenth-century England, would not go away easily. It became instead matter difficult, perhaps impossible, to idealize - matter in the way.“ (1) Den Unterschied zwischen Defoe und Swift in dieser Fragegestellung bringt sie dabei auf folgende Formel: „Defoe makes the epistemological struggle his subject; Swift makes his assault on the problem his meaning“ (5). 79 „The widely held sense of ongoing crisis created a market for solutions, and these came packaged in the form of pamphlet proposals.“ (Ward, „Bodies“-287) 80 Swifts Proposal verfährt dabei folgendermaßen: „While the author certainly follows convention by framing such plots, his inferences make readers cognizant that their pleasure is derived from their participation in the camps of both perpetrator and reformer.“ (Moore-685) Im Übrigen trugen die Texte dieses hochlukrativen Genres in der Regel wenig bis nichts zur Lösung der Situation bei - auch wenn ein solcher Beitrag wohl schwer exakt 80 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels outsider offering a horrified commentary on an insanely acquisitive culture, but as a saleable product the Proposal cannot help but participate in the cult of commodity fetishism it satirises.“ (Ward, „Bodies“-283) Im Rahmen der hiesigen Studie ist nun darauf aufmerksam zu machen, dass das Proposal die beschriebene lokale Situation in Dublin, auf die der Text (vor allem an seinem Beginn) fokussiert, aus dem bilateralen Kontext (Irland/ England) heraushebt. Denn im Proposal findet ein Ideenimport interkontinentaler Art statt: Die den Text strukturierende und vorantreibende Idee, die Kinder der irischen Unterschicht an die englische Oberschicht zu ‚verfüttern‘, ist, wie behauptet wird, amerikanischen Ursprungs: I HAVE been assured by a very knowing American of my acquaintance in London; that a young healthy Child, well nursed, is, at a Year old, a most delicious, nourishing, and wholesome Food; whether Stewed, Roasted, Baked, or Boiled; and I make no doubt that it will equally serve in a Fricasie, or a Ragout. (232) En passant 81 bedient der Passus den komplexen Topos des amerikanischen (bzw. karibischen) Kannibalismus, in welchem sich koloniale Praktiken und Topographien des othering verdichten. 82 Postkolonial informierte Analysen der letzten Dekaden haben deutlich gemacht, dass der Topos des Kannibalismus den kolonialen ‚Anderen‘ diffamieren und damit entmenschlichen soll. 83 Überzu messen ist. Nicht zuletzt müssen vor diesem Hintergrund die Kinder der irischen Bettlerinnen im Text als Metapher für eine den Markt überschwemmende Textproduktion politischer Pamphlete gelesen werden. Irland hat laut dieser Lesart ein doppeltes Problem: eine große Zahl an Kindern, die in Armut geboren werden, und eine große Zahl von Autoren, die nicht aufhören wollen, Texte zu gebären, die diese Situation reißerisch beschreiben und polemische Lösungsvorschläge liefern. 81 Weiter ist festzuhalten, dass der zynisch-aufmüpfige Ton dieser Passage französische Begriffe zur Bezeichnung von Gerichten („Fricasie“, „Ragout“) einfließen lässt, um auf das kulturelle Zentrum Europas zu dieser Zeit hinzuweisen (vgl. Casanova- 85), und weiter die Engländer, welche die irischen Kinder frikassiert konsumieren sollen, mit der dekadenten Konsumkultur einer reichen Oberschicht zu assoziieren. 82 Vgl. Kilgour, From Communion to Cannibalism 5 sowie Todorov-187. 83 Unter Bezugnahme auf damalige Konzeptionen des ‚Menschen‘ (die unter anderem auf die chain of being referieren), für welche das Mensch-Sein Kolonisierter dezidiert diskutabel ist, und die vor allem in Bezug auf die Beschreibung von Primaten groteske Blüten treibt: „Die sexuelle Vereinigung und Fortpflanzung über die Gattungsgrenzen [zwischen Menschen und Affen; T.E.] hinweg ist eine der langlebigsten Phantasien, die die Grenzziehungsversuche zwischen Mensch und Nicht-Mensch, wilden Eingeborenen und Menschenaffen auf der chain of being hervorbringt und das durch sie immer neu motiviert wird.“ (Karremann-138) Vgl. hierzu auch Brown-437-439 und Abschnitt-III.2.5.1. Vor diesem Hintergrund ist Frantz Fanons Beschreibung hinzuzuziehen, laut der der Kolonialherr den Kolonisierten „entmenschlicht“ („déshumanise le colonisé“,-45) und „zum Tier macht“ („il l’animalise“, ebd.) Entsprechend ist die Dekolonisation zu verstehen als 2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien ( A Modest Proposal ) 81 zeugende Beweise für eine tatsächliche Praxis der Anthropophagie sind (wenn sie denn nicht gänzlich fehlen) dabei jedoch zumeist offensichtlich konstruiert, von den Erwartungen der Beobachter prädeterminiert, oder von unsicherer und äußerst vager Natur. 84 So wurde die Lesart entwickelt, dass die Zuschreibung des ‚Kannibalismus‘ die Projektion des zutiefst europäischen Begehrens ist, das zu kolonisierende Gegenüber zu ‚verspeisen‘, und das heißt: auszubeuten. Der Kannibalismus ist so auf der Seite der Kolonialmächte zu verorten. 85 Noch ein zusätzliches Mal wird der Bezug auf den amerikanischen Kannibalismus im Text aktualisiert, 86 diesmal mittels detaillierter Beschreibungen von kindlichem Menschenfleisch, die wiederum von der Expertise der amerikanischen Bekanntschaft herrühren: For as to the Males [die männlichen Kinder, die verspeist werden sollen; T.E.], my American Acquaintance assured from frequent Experience, that their Flesh was generally tough and lean, like that of our School-boys, by continual Exercise; and their Taste disagreeable; and to fatten them would not answer the Charge. (234) In der Bezugnahme des Proposal auf diesen Topos hebt der Text die irische Situation aus dem bilateralen Kontext heraus und verweist auf die interkontinentale Konstellation zwischen Europa und Amerika. Vor diesem Hintergrund wiederum erscheint Irland umso deutlicher als Kolonie Englands, d. h. als eine Kolonie unter vielen, zu denen, nicht zuletzt, auch die in Amerika gehören. 87 eine „création d’hommes nouveaux. Mais cette création ne reçoit sa légitimité d’aucune puissance surnaturelle-: la «-chose-» colonisée devient homme dans le processus même par lequel elle se libère.“ (40) 84 Die Relevanz der ‚Realität‘ des Kannibalismus darf jedoch nicht überbewertet werden, denn: „even for the skeptics, cannibalism exists: it exists as a term within colonial discourse to describe the ferocious devouring of human flesh supposedly practised by some savages. That existence, within discourse, is no less historical whether or not the term cannibalism describes an attested or extant social custom.“ (Hulme 4) Der Vollständigkeit halber sei auf die Gegenposition hingewiesen, laut der sich eher eine lange Geschichte der Leugnung des Kannibalismus feststellen lässt, die sich der Tatsache des Menschen-Essens schlicht verweigert (vgl. Crichton-598). 85 „[W]hole recent studies of imperialism and ‘colonial discourse’ have indicated how a society’s desire to appropriate other cultures can be disguised through the projection of that impulse onto the other. To accuse a minority that resists assimilation into the body politic of that body’s own desire for total incorporation is a recurring tactic: during the Middle Ages the Jews were accused of cannibalism, after the Reformation the Catholics were, and Christ has continually been accused of being the head of a Jewish cannibal sect.“ (Kilgour 5) Peter Hulme schreibt hierzu: „[T]he association between cannibalism and Western imperialism is impossible to ignore“ (8). 86 Vgl. zum Kannibalen-Topos bei Swift weiter Mahony-65-68. 87 Von diesen ist in Gulliver’s Travels wiederholt die Rede. „I began my Discourse by informing his Majesty that our Dominions consisted of two Islands, which composed three 82 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Weiter illustriert dieses Verfahren eine zentrale Waffe Swift’scher Wahl, um die hegemonialen Praktiken des Kolonialismus literarisch zu beleuchten: Ein durch explizite Körperlichkeit geprägter Topos (sein Sprachmaterial, d. h. seine Metaphern, Intertexte etc.) wird genutzt, um eine beschriebene Situation aus ihrem lokalen Kontext herauszuheben und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dieser ‚größere Zusammenhang‘ ist hier der koloniale, der neben Irland auch die anderen kolonialen Beziehungen Englands einschließt. Die in körperliche Bilder gefasste Grausamkeit des importierten schemes unterstreicht darüber hinaus die kolonialen Prozessen inhärente Gewalt. Dass der Bezug des Proposal über eine bilaterale Konstellation hinausgeht, zeigt sich auch an anderer Stelle im Text, die sich zweier Figuren der Ganzheit (FdG) bedient. So nimmt der Text als Adressat seines Vorschlags nicht etwa nur die lokale Öffentlichkeit an, sondern richtet sich an nichts weniger als „die Welt“: I CAN think of no one Objection, that will possibly be raised against this Proposal; unless it should be urged, that the Number of People will be thereby much lessened in the Kingdom. This I freely own; and it was indeed one principal Design in offering it to the World. I desire the Reader will observe, that I calculate my Remedy for this one individual Kingdom of IRELAND, and for no other that ever was, is, or, I think, ever can be upon Earth. (237) Die FdG ‚ world ‘ steht hier ein für das Publikum, das das Proposal lesen soll. Als Text eines spezifisch ‚irischen-englischen‘ Genres richtet er sich so mit dem Adressaten „Welt“ an ein ausgesprochen großes Publikum. Doch trägt diese Hyperbel nicht nur zum allgemein-ironischen Ton der Passage (und des gesamten Textes) bei. Denn die FdG ‚ world ‘ kann darüber hinaus auch als Verweis auf den deutlich größeren, kolonialen Zusammenhang verstanden werden. Wenn die FdG ‚ world ‘ hier also nicht auf die Bedeutung eines ‚zu großen‘ Publikums reduziert, sondern als Bezugnahme auf Ganzheit ernst genommen wird, so tritt die Öffnung des Textes auf eine größere Ganzheit hin, die der Kannibalen-Topos mighty Kingdoms under one Sovereign, besides our Plantations in America.“ (106/ II.6) Des Weiteren ist hier die Rolle Irlands im kolonialen Gefüge um einen zusätzlichen Aspekt zu ergänzen: „Many members of Parliament received interest on this investment in Ireland’s first ‘debt of the nation’ from the taxes that they had the political power to levy on the native poor, but the famine of the late 1720s had decimated the usual revenues, forcing them to consider additional ones. Like the North American colonists in the decades following the Seven Years’ War, the Anglo-Irish members of Parliament were threatened by the British Crown’s and Parliament’s efforts to appropriate these potential new funds for the empire’s operations elsewhere. Ireland already was financing British and American expansion into French, Spanish, and Native American territory“ (Moore-680). Der Zusammenhang Irland-England-Amerika ist also ein äußert enger. 2.2 Hinführung: Ganzheit in den viert Teilen der Travels 83 bewirkt und vorbereitet, noch einmal deutlicher hervor. Das Proposal beschreibt eine interkontinentale Konstellation und richtet sich somit an die koloniale Ganzheit seiner Zeit. Die hyperbolische Formulierung einer allumfassenden Zeitlichkeit, die im Passus durch den Satzteil „ever was, is, or I think, ever can be“ evoziert wird, sowie der explizit aufgerufene Raum der gesamten „Earth“ verweist ebenfalls auf eine denkbar große (zeitliche und räumliche) Extension. Dieser Bezug auf Ganzheit lässt deutlich werden, dass der Sonderstatus Irlands, den der Text auf den ersten Blick behauptet, nicht ernsthaft behauptet werden soll; Irland ist mitnichten die einzige Kolonie Englands. Das „I think“ betont zusätzlich die Ironie des Gesagten und untergräbt so den vermeintlichen Einzelstatus Irlands noch weiter. Was sich hier erkennen lässt, ist ein Verfahren des Textes, koloniale Ausbeutungsverhältnisse körperlich grausam in Szene zu setzen und diese ‚Szenen‘ dann in ein enges Verhältnis zu FdG zu setzen. Ausgehend von diesen Beobachtungen zum Proposal soll im Folgenden für Gulliver’s Travels die folgende Struktur beschrieben werden: das Herausheben lokaler oder vermeintlich bilateraler Ereignisse in einen größeren Kontext über das Mittel des Bezuges auf literarisch inszenierte Körper - ein Verfahren, das enggeführt wird mit einer intensiven Reflektion auf größere Zusammenhänge, evoziert durch FdG. 2.2 Hinführung: Ganzheit in den vier Teilen der Travels In allen vier Büchern der Travels 88 lässt sich ein konstanter Bezug auf Ganzheit nachweisen. Wie bereits beschrieben wurde, lässt sich dabei eine Struktur im Text isolieren, in der wiederholt scheinbar kleinteilig-lokales, über die Verschränkung der Inszenierung von Körpern mit der Arbeit an FdG, in ein Verhältnis mit größeren Ganzheiten gesetzt wird. So arbeitet der Text aktiv an verschiedenen Vorstellungen von Ganzheit. Die im Text inszenierte/ n Ganzheit/ en erscheint/ erscheinen dabei im Spannungsfeld zwischen Ein s heit einerseits und Asymmetrie andererseits. Der Aspekt der Asymmetrie umfasst dabei vor allem koloniale Zusammenhänge im Allgemeinen und den atlantischen Sklavenhandel im Besonderen. 89 Der Aspekt 88 Im Folgenden zitiert nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Teil/ Unterkapitel‘. 89 David B. Davis weißt auf folgenden Zusammenhang hin: „Yet despite slavery’s seemingly retrograde character, which encouraged many writers in the eighteenth and nineteenth centuries to interpret it as an anachronistic innovation, there were strong sequential links between the Atlantic Slave System and the Italian Renaissance, then the Spanish world of El Greco and Cervantes, then the Dutch world of Frans Hals, Rembrandt, Ver- 84 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels der Ein s heit tritt im Text weniger prominent hervor und ist in der Regel an die Darstellung kolonialer Zusammenhänge gekoppelt. Neben der beschriebenen Struktur ist die Parodie von Reiseliteratur das Hauptmittel des Textes zur Arbeit an Ganzheit. 90 Diese Genre-Parodie äußert sich vor allem in der Thematisierung von Kartografie (und das umfasst ihr Wissen, ihre Medien und Techniken) 91 sowie der Beschreibung von Menschen und/ oder Wesen (‚Anderen‘), die auf den Reisen angetroffen werden. Beide Themenkomplexe sind ein fester Bestandteil der Reiseliteratur dieser Zeit und werden von den Travels intertextuell aufgegriffen. Innerhalb dieser Parodie, welche sich als durchgängige Makrostruktur des Textes beschreiben lässt, kann wiederum der Topos der Verschränkung inszenierter Körper mit der Arbeit an FdG isoliert werden; der hier vorgestellte Topos ist der Parodie von Reiseliteratur also strukturell untergeordnet. So soll das Wissen, das aus Untersuchungen zum Verhältnis zwischen dem Genre der Reiseliteratur und den Travels bereits vorliegt, um einen entscheidenden Aspekt erweitert werden, insofern deutlich gemacht werden soll, dass sich die Travels nicht nur um die Darstellung ferner Regionen meer, and Hobbema, then the French ancien régime of Montesquieu, Voltaire, Diderot, Rousseau, Laplace, and Lavoisier, and above all, the England of Locke, Newton, Defoe, Swift , Watt, Johnson, Hume, Hogarth, Gibbon, and Blake. I do not mean to imply that these famous figures had any direct ties with New World slavery, although I might mention that both Locke and Voltaire, like thousands of ordinary people, drew income from the African slave trade. My point, which still pertains to the ‘Mason-Dixon’ lines between center and periphery, concerns the curious correlation between national participation in the evolving slave trade and slave system, on the one hand, and cultural achievement, on the other. From Renaissance Florence and Genoa to eighteenth-century England, each region’s maximum involvement with African slaves coincided with a time of cultural creativity that was at least remotely associated with economic and political power.“ (459f.; Hervorhebung T.E.) 90 Neben der Reiseliteratur lassen sich auch andere Genres isolieren, auf die die Travels- sich beziehen: so beispielsweise die Utopie und die ‚fantastische Reise‘ (vgl. Mezciems, „Unity“- 4f.). Da beide genannten Genres jedoch thematisch und inhaltlich wesentlich auf inszenierten Reisen fußen, und das Genre ‚Reiseliteratur‘ somit gewissermaßen als Meta-Struktur der beiden anderen Genres angesehen werden kann, lässt sich im Rahmen der hiesigen Argumentation der Fokus auf den Travels und der Reiseliteratur rechtfertigen. Vgl. hierzu allgemein: „Readers by now generally agree not to identify Swift’s book as a ‘novel,’ and so do not look to it for the kinds of consistency and progressive development of character and narrative that we expect in longer works by Fielding, Richardson, and even Defoe. Instead, the Travels are satire, more specifically satire in the form of (fictional, even mock) travel literature.“ (Patey-347) 91 Insofern die Royal Society ein wesentlicher Träger dieses Wissens und dieser Techniken war, ist die satirische Beschäftigung mit dieser im Text ebenfalls in die Analysen einzuschließen. 2.2 Hinführung: Ganzheit in den viert Teilen der Travels 85 der Erde und deren Bewohner drehen, sondern auch um die Frage, wie die Ganzheit, in der all diese Elemente enthalten sind, zu denken ist. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis der Travels zeigt einen vierteiligen Text, wobei die ersten beiden Teile jeweils acht Kapitel umfassen. Auch die Textmenge der ersten beiden Teile ist ähnlich. Die Teile III und IV dagegen umfassen einmal elf und einmal zwölf Kapitel. Auf die ersten beiden kürzeren Teile der Travels folgen also zwei längere Teile. Äußerlich betrachtet handelt es sich um einen streng strukturierten Text. Fragt man hingegen nach der inhaltlichen Kontinuität zwischen den Textteilen, so ist der Befund weniger eindeutig. Hier wurde gehäuft darauf hingewiesen, dass die Teile I und II eine starke inhaltliche Kohärenz aufweisen, insofern die dort dargestellte Vergrößerung und Verkleinerung der dargestellten ‚Nationen‘ als Inversionen voneinander erscheinen, wohingegen der dritte und vierte Teil sich weder in Bezug aufeinander noch in Relation zu den Teilen I und II in ähnlicher Weise beschreiben lassen. 92 Aus dieser Perspektive gesehen, scheint zwischen den Teilen I und II einerseits und III und IV andererseits ein ‚Bruch‘ zu stehen. 93 Wie mit Blick auf aktuellere Forschungen jedoch gesagt werden kann, ergibt sich die Beschreibung eines Bruchs in der Mitte der Travels aus der Überbetonung der oberflächlichen Homogenität der Teile I und II. Denn inzwischen haben einige Studien nachgewiesen, dass sich bestimmte Themen und/ oder Topoi durch den gesamten Text der Travels ziehen und ihm so eine starke inhaltliche Kontinuität geben. Exemplarisch kann etwa auf Isabel Karremanns Männlichkeit und Körper hingewiesen werden, welches jedem der vier Teile der Travels das Abhandeln jeweils eines Elements des ‚Männlichkeitskatalogs‘ des 18. Jahrhunderts nachweist. 94 Auch Dennis Todds Arbeit kann hier genannt werden, der einen engen Zusammenhang zwischen dem munteren Straßenleben Londons und den im Text inszenierten Reisen herstellt, insofern beide ähnliche Attraktionen zu bieten haben: Miniaturen, Riesen, Zwerge, intelligente 92 Vgl. Markley-457. 93 „It is all the fault of Books i and ii, which provide gratuitously a pattern so satisfyingly neat and complete as to engender in the reader certain expectations with regard to Books iii and iv. These expectations are, of course, frustrated“ (Mezciems, „Unity“- 1). Weiter schreibt sie: „If Book IV, however, has borne the brunt of critical attention, and has been distorted sometimes in consequence. Book III has been much less fairly treated, regarded often as a fascinating irrelevance to the rest of Gulliver’s Travels or, worse, as a flaw, a disappointment, an anticlimax.“ (2) 94 Insofern sich die Kategorie ‚Mann‘ im 18. Jahrhundert vor allem negativ über die Abgrenzung von Frauen, Kindern und Tieren bestimmt, sind alle vier Teile als Verhandlungen eben dieser Abgrenzung zu lesen (vgl. Karremann-111-113). 86 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Pferde etc. Studien wie diese bieten also ebenso plausible wie starke Deutungen des gesamten Textes an. Auch Jenny Mezciems bietet eine Beschreibung des ganzen Textes an: Thematically, Gulliver’s Travels is an attack on human pride, a satire on civilized society, […] human nature as Swift saw it, and an analysis of the quality of human reason. Thematically the four Voyages are perfectly consistent: there is no individual Voyage from which any of these themes is absent, nor is the treatment of them noticeably uneven in emphasis. The themes are constant and the variations do not stray from the expression of a consistent meaning through narrative detail. In this respect the Voyage to Laputa has no less a part to play in the whole than any other Voyage. (Mezciems, „Unity“-3) Die Rede von einer durchgängigen „satire on civilized society“ ist einleuchtend. Problematisch ist jedoch, dass Jenny Mezciems von Swifts Meinungen ausgeht („as Swift saw it“), 95 sowie der unscharfe Befund, laut dem der Text durchgängig menschliche Universalien („human pride“, „human nature“, „human reason“) adressiere. Dieser Befund hat zwar insofern seine Berechtigung, als in den Travels ähnliche Begriffe tatsächlich gehäuft fallen. 96 Dass in den Travels aber wirklich unspezifisch ‚die Menschheit‘ im Allgemeinen satirisch dargestellt wird, ist zu hinterfragen, zugunsten einer nuancierteren Beschreibung der Ausrichtung des Textes auf ‚große‘ und ‚grundsätzliche‘ Themenkomplexe. Bei den Travels handelt es sich also um einen formal stark strukturierten Text, der eine stark gegliederte Weltreise präsentiert. Jedem der vier Teile des Textes entspricht der Besuch einer abgeschlossenen Region der Erde (der Text nennt diese ‚ nations ‘, wie auch schon aus seinem vollen, ursprünglichen Titel hervorgeht: Travels into Several Remote Nations of the World ), 97 bzw. ist Teil III dem Besuch mehrerer, jedoch räumlich und thematisch eng assoziierter Region en gewidmet. Alle diese ‚Nationen‘ zeichnen sich durch ein starkes In-Sich-Geschlossen- Sein aus, das sich aus vier Eigenschaften ergibt: (1) Die Nationen befinden sich allesamt in (noch) nicht-kartierten oder wenig bekannten Erdteilen. (2) Sie sind in der Mehrzahl allseitig von Meer umgeben und somit räumlich isoliert; gibt es 95 Randy Robertson hält hierzu äußerst treffend fest: „Swift’s texts are always more nuanced than his opinions.“ (40) 96 So ist im Haupttext der Travels immerhin von „human nature“ mehrmals wortwörtlich die Rede (138/ III.2, 176/ III.10, 178/ III.10, 179/ III.10, 206/ IV.4, 217/ IV.7, 223/ IV.8, 250/ IV.12). 97 In diesem Sinne ist die stets apostrophierte Rede von ‚Nationen‘ in dieser Arbeit also zu verstehen - und nicht als Behauptung, es handle sich in den Travels um (inszenierte) Nationen im modernen Sinn des Wortes (die bekanntlich erst später entstehen, vgl. Anderson, bspw.-46). 2.2 Hinführung: Ganzheit in den viert Teilen der Travels 87 eine Verbindung zum Festland, so versperren Gebirge den Weg in andere Erdteile (wie im Falle Brobdingnags, welches so von Nord-Amerika abgeschlossen ist, dessen gewaltige Verlängerung bzw. Erweiterung es darstellt). (3) Weiter glauben die Bewohner der Nationen wiederholt dezidiert nicht an die Existenz von Regionen außerhalb der geschlossenen Grenzen ihrer ‚Nation‘, die somit kein Außen kennt. 98 So lassen die Bewohner Lilliputs Gulliver wissen, dass sie seinen Berichten von Gebieten jenseits von Lilliput (und seiner Nachbarinsel Blefuscu) keinen Glauben schenken wollen: Now in the midst of these intestine Disquiets, we are threatned [sic] with an Invasion from the Island of Blefuscu , which is the other great Empire of the Universe, almost as large and powerful as this of his Majesty. For as to what we have heard you affirm, that there are other Kingdoms and States in the World, inhabited by human Creatures as large as yourself, our Philosophers are in much doubt, and would rather conjecture that you dropt from the Moon, or one of the Stars; because it is certain, that an [sic] hundred Mortals of your Bulk would, in a short time, destroy all the Fruits and Cattle of this Majesty’s Dominions. Besides, our Historys of six thousand Moons make no mention of any other Regions, than the two great Empires of Lilliput and Blefuscu . (40/ I.4) Zunächst fällt hier der Bezug auf die FdG ‚ universe ‘ auf, über den das kleine Lilliput seine größenwahnsinnige Selbstbeschreibung entfaltet. Um die Integrität der ‚Nation‘ - die in ihrer Kleinheit im Kontrast zu Gullivers enormer Größe Ausdruck findet - bewahren zu können, wird Gulliver kurzum als Außerirdischer deklariert („you dropped from the moon, or one of the stars“). So wird auf eine größere, den Mond einschließende Extension referiert, durch die Gullivers anormale Größe ‚(weg-)erklärt‘ wird - und aus dem Raum der eigenen Ganzheit ausgeschlossen werden kann. (4) Weiter lässt sich für alle ‚Nationen‘ eine große Homogenität konstatieren: In den Teilen I und II ergibt sich diese aus den Größenverhältnissen ( alles ist in der ersten ‚Nation‘ verkleinert, in der zweiten vergrößert), in Teil III über den Bezug auf die Diskussion von Wissenschaften im Stil der Royal Society , in Teil IV über die Darstellung einer idealen, augustinischen Gesellschaft. Alle Gesellschaften werden vom Text in ihren spezifischen Eigenheiten im Detail beschrieben, etwa deren Staats- und Kriegsführung, die Erziehung der Kinder usw. betreffend. 99 Sie stellen in sich geschlossene Ganzheiten dar. 98 Weiter ist die Art der Gestaltung der jeweils in sich geschlossenen Gesellschaften ein Element von Utopien, auf welche die Travels sich damit beziehen. Vgl. Mezciems, „Unity“-4. 99 Dies erinnert wiederum an Utopien, auf die sich der Text so mehrfach parodistisch bezieht. 88 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Diese makroperspektivischen Beschreibungen der Nationen und ihrer Eigenschaften sollen die folgende Grundbeobachtung nachvollziehbar machen: Die ‚Nationen‘ verstehen sich jeweils nicht nur als die Totalität einer Nation, d. h. als Ganzheit eines Teils , sondern vielmehr als deutlich größere Ganzheiten, wenn nicht gar als allumfassende Ganzheit (sie kennen also keine Ganzheit jenseits der eigenen, und damit konkret nicht die Erdteile, aus denen Gulliver zu ihnen kommt). Dies ist die Grundeigenschaft der Nationen in den Travels und sie gibt dieser Weltreise ihren spezifischen Charakter, der paradoxerweise stets aus der Position extrem abgeschlossener Regionen heraus auf die Ganzheit reflektiert. So kann, ausgehend von den Punkten (1) bis (4), eine neue Struktur isoliert werden, die nicht nur den vermeintlichen ‚Bruch‘ zwischen den Teilen I/ II und III/ IV überbrückt, sondern welche zusätzlich auch solchen (denkbar unscharfen) Thematiken wie dem zitierten „human reason“ einen genaueren Bezug entgegensetzen kann. Denn alle Teile der Travels verbindet die ungebrochene Reflexion des Textes auf Ganzheit(en), und das heißt, wie zu zeigen ist, genauer: die Arbeit an FdG über literarisch inszenierte Körper. 2.3 Bezüge auf die Erde 2.3.1 Paratextuelle Reflexion auf Reiseliteratur In einem dem Haupttext vorangestellten Paratext namens The Publisher 100 to the Reader , der bereits in der ersten Ausgabe der Travels enthalten war, 101 wird dem Leser, nach einigen Abhandlungen, welche ironisch von der Glaubwürdigkeit Gullivers überzeugen sollen, seitens eines fiktiven Lektors Folgendes mitgeteilt: This Volume would have been at least twice as large, if I had not made bold to strike out innumerable Passages relating to the Winds and Tides, as well as the Variations and Bearings in the several Voyages; together with the minute Descriptions of the Management of the Ship in Storms, in the Style of Sailors: Likewise the Account of 100 Publisher entspricht in seiner Bedeutung eher dem heutigen editor (vgl. Swift, Travels- 5, Fußnote-1). 101 „When Lemuel Gulliver’s Travels into Several Remote Nations of the World was published by Benjamin Motte in October, 1726, it followed a long and popular precedent in containing a set of four maps, one for each voyage, plus a plan to illustrate the movement of the Flying Island. These maps appeared in all the editions published by Motte; they were even reproduced in the pirated Dublin editions of 1727. They were re-engraved, with some minor errors, for Faulkner’s Dublin edition of 1735, and they appeared in all the later eighteenth-century editions collated by Williams. Modern editors almost always reproduce them“ (Bracher-60). Dass die Karten in späteren Ausgaben nicht getilgt wurden, spricht dafür, dass Swift nichts gegen sie einzuwenden hatte (vgl. Bracher-64). 2.3 Bezüge auf die Erde 89 the Longitudes and Latitudes; wherein I have Reason to apprehend that Mr. Gulliver may be a little dissatisfied: But I was resolved to fit the Work as much as possible to the general Capacity of Readers. However, if my own Ignorance in Sea-Affairs shall have led me to commit some Mistakes, I alone am answerable for them: -And if any Traveller [sic] hath a Curiosity to see the whole Work at large, as it came from the Hand of the Author, I shall be ready to gratify him. (Swift, Travels- 6) Angeblich hat die Leserschaft eine Version des Textes vor sich, in welcher Nautik und kartografische Belange betreffende Passagen massiv gekürzt wurden. Entgegen dieser Behauptung findet sich jedoch Material genau dieser Art zuhauf in den Travels , denn die Travels enthalten nicht nur die oft angeführte Parodie nautischen Jargons (70/ II.1), sondern auch mehrere abgebildete Karten, ein „Proposal for correcting modern Maps“ (92-96/ II.4), und detaillierte Beschreibungen der Wege, die die Schiffe, auf denen Gulliver reist, zurücklegen (vgl. 16/ I.1, 69/ II.1). Der Text stellt kartografische Belange also wiederholt explizit in den Mittelpunkt; nicht zuletzt gilt das für die Passagen, in denen Gulliver die Landschaft vermisst. So lässt sich eine Spannung konstatieren zwischen den nicht nachvollziehbaren und insofern unsichtbaren Streichungen des Lektors einerseits, und den nichtsdestotrotz vorhandenen Bezügen auf kartografische Belange andererseits. Diese Spannung ist im Text im Allgemeinen satirisch: „Swift did not take geography more seriously than was necessary to satirize it; his carelessness with geographic details in Gulliver provides additional evidence of his contempt for natural, as opposed to moral, philosophy.“ (Bracher-74) Diese Beschreibung ist zutreffend, insofern sie einen Hang zur Nachlässigkeit in Sachen kartografischer Präzision konstatiert, der im Text eindeutig nachweisbar ist. Doch im zitierten Passus der Travels geht es nicht in erster Linie um die Relevanz kartografischer Daten und Verfahren, sondern um die Produktion eines Textes eines spezifischen Genres (Reiseliteratur). Der Bericht einer Weltreise wird hier nicht als unmittelbares Produkt eines schreibenden Reisenden präsentiert, sondern als das Ergebnis eines verlegerischen Selektionsprozesses, der sich auf das Wissen und die Aufnahmefähigkeit einer allgemeinen Leserschaft bezieht („the general Capacity of Readers“), der zwei der grundsätzlichsten Techniken der ‚Erschließung‘ der Erde - Nautik und Kartografie - angeblich unverständlich bleiben müssen. Und daher, so lautet das Postulat, bedarf es der Kürzungen und Vereinfachung des Textes. Fingierte, zwei ‚Erd-Techniken‘ betreffende Streichungen stellen also den Modus dar, unter dem die literarische Befahrung der Erde den Lesern der Travels allererst präsentiert wird. Der Text unterstreicht damit die Tatsache, dass Reiseerzählungen aus einem Verbund an (Macht-)Techniken hervorgehen, die sich auf die Erde beziehen. Denn Nautik 90 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels und Kartografie sind eng mit kolonialen und imperialen Praktiken verknüpft, insofern sie die Bedingung der Möglichkeit europäischer Expansion darstellen. Beide Techniken werden für den Leser gleich doppelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: einmal, indem eine fingierte Streichung inszeniert wird, ein anderes Mal, durch die dennoch im Text anzutreffenden Passagen, die sich mit eben diesen zwei Techniken eingehend beschäftigen. 102 Die Rolle von Nautik und Kartografie, welche Fernwirkungszusammenhänge ermöglichen bzw. herstellen, tritt so in den Fokus. Noch vor seinem Beginn wird der Text im Rahmen expansiver Prozesse lokalisiert - Prozesse, deren Tendenz zur Unsichtbarkeit vom Text offenbar gemacht wird. Der Text stellt also eine fingierte Reduktion aus, der allzu technische Details zum Opfer fallen. Diese Reduktion ist in ihrer Form autoreflexiv, insofern sie mit dem Fiktionscharakter der Literatur (von dem zur Zeit Swifts freilich noch nicht in diesen Worten die Rede ist) spielt. Der Name des Lektors, der den Paratext unterzeichnet, „Richard Sympson“, verweist gleichermaßen auf den realen Herausgeber Richard Simpson, der einige Texte Swifts publizierte, und William Symson, Autor des „largely plagiarized A Voyage to the East Indies “ (Swift, Travels- 6, Fußnote-6). Die Travels reihen sich so bewusst ein in die allzu lange Kette von Reiseberichten fragwürdiger Qualität und Authentizität, welche „during this ‘Silver Age of Travel’“ (Bracher-59) den Buchmarkt überschwemmen. 103 Der Bezug zu Ganzheit ist in diesem Paratext bereits in eine spezifische Form gegossen: Nautik und Kartografie sind hier das Medium einer literarischen Selbstreflexion, über die das Verhältnis zwischen Text und Erde austariert wird; im Modus eines ausgestellten Fingiert-Seins wird auf die Mittelbarkeit von Reiseerzählungen reflektiert. 2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘ Die vier Teile der Travels verbindet, dass alle in ihrem Verlauf besuchten Orte kartografisch auf der Erde verortet werden. Bekanntlich steht am Anfang jedes der vier Teile des Textes eine Karte, die das Geschehen geografisch lokalisiert. 104 102 Zum Kontrast denke man etwa an Georg Forsters Reise um die Welt , in der dem Leser eine erhebliche Menge an nautischem und kartografischem Wissen zugemutet wird; um die Zugänglichkeit dieses Wissens für den Leser ist Forster offenkundig wenig besorgt (vgl.-23-37). 103 Der Gestus hierbei ist typisch für Swift: Der mock -Reisebericht verweist auf einen auf Profit ausgerichteten Markt, der gleichzeitig attackiert und angenommen wird, insofern dieser Text auf demselben Markt verkauft wird. 104 Stockhammer macht mit Bezug auf Bracher deutlich: „Swift hat diese Karten wohl nicht selbst angeordnet, gegen sie jedoch - anders als gegen viele Details im Text der Erstausgabe - auch nicht protestiert.“ ( Kartierung -91) 2.3 Bezüge auf die Erde 91 Der unbekannte Zeichner der Karten in den Travels hatte bei seiner Arbeit wohl mit einigen Problemen zu kämpfen, da die Präzision der kartografischen Verortungen im Text starken Schwankungen unterliegt bzw. in manchen Fällen sogar schlicht mit dem kartografischen Wissen der Zeit nicht in Einklang zu bringen ist. 105 Zu einem Zeitpunkt, an dem die konkreten Konturen aller Kontinente und Inseln der Erde noch lange nicht in allen Details erfasst sind und die Weltkarte noch weiße Flecken enthält (vgl. Stockhammer, Kartierung 92), lokalisieren die Travels die Darstellung von Gesellschaften (d.h.: die Inseln, Halbinseln und Kontinente, auf denen Gulliver fremde nations entdeckt) in eben diesen (noch) nicht kartografierten Regionen. Der unabgeschlossene Prozess der Kartierung der Erde stellt also die ‚Bedingung der Möglichkeit‘ dieses spezifischen Textverfahrens dar, insofern der konkrete Stand der kartografischen und damit immer auch kolonialen Erschließung der Erde die Verortung und den Umfang der möglichen Projektionsflächen definiert: die weißen Flecken auf der Weltkarte. Durch diese Lokalisierung wird insofern auf die Ganzheit reflektiert, als sie den expansiven Prozess der Erschließung der Erde - zu einem spezifischen Zeitpunkt in seinem Verlauf - getreu abbildet. Zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt wäre die Lokalisierung der ‚Nationen‘ nicht auf die exakt gleiche Art möglich. Benedict Anderson spricht in Imagined Communities davon, dass die inszenierten Orte der Travels realen ‚Entdeckungen‘ nachempfunden seien: Francis Bacon’s New Atlantis (1626) was perhaps new above all because it was situated in the Pacific Ocean. Swift’s magnificent Island of the Houyhnhnms (1726) came with a bogus map of its South Atlantic location. (The meaning of these settings may be clearer if one considers how unimaginable it would be to place Plato’s Republic on any map, sham or real.) All these tongue-in-cheek utopias, ‘modelled’ on real discoveries, are depicted, not as lost Edens, but as contemporary societies. One could argue that they had to be, since they were composed as criticisms of contemporary societies, and the discoveries had ended the necessity for seeking models in the vanished antiquity. In the wake of the utopias came the luminaries of the Enlightenment, Vico, Montesquieu, Voltaire, and Rousseau, who increasingly exploited a ‘real’ non-Europe for a barrage of subversive writings directed against current European social and political institutions. In effect, it became possible to think of Europe as only one among many civilizations, and not necessarily the Chosen or the best. (Anderson-69f.) Anderson beschreibt, dass das Spezifische der im 17. und frühen 18. Jahrhundert geschriebenen „Utopien“ in deren real-kartografischer Lokalisierung und 105 Bracher führt hierzu aus: „He [der unbekannte Künstler; T.E.] had the text of the book to give approximate locations of the mythical countries, but these could only be approximate, since Swift’s directions are confused and inconsistent.“ (Bracher-62) Zur detaillierten Analyse bestimmter kartografischer Unstimmigkeiten vgl. weiter Bracher-67. 92 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels eindeutigem Bezug zu zeitgenössischen „real discoveries“ besteht. Damit werden die neu entdeckten Regionen der Erde gleich doppelt ausgebeutet: Nicht nur werden sie zu Kolonien Europas, sie dienen zusätzlich dem Vorstellen von alternativen (auf Europa kritisch bezogenen) Gesellschaftsentwürfen. Mit der Klassifizierung der Travels als „tongue-in-cheek“ Utopie gibt Anderson freilich eine diskutable Beschreibung der Travels , die jedoch insofern völlig einwandfrei ist, als sie den intertextuellen und parodistischen Charakter der Travels betont, der ihr wesentlichstes Merkmal ist. Der affirmative Charakter des Verwendens von kartografischen Diskurselementen darf dabei jedoch auch nicht überschätzt werden. Der Text generiert kartografische Präzision zumeist nur gerade so weit, wie nötig ist, um sie in einem zweiten Schritt überraschend enttäuschen zu können. Der Status der Kartografie im Text ist damit von ambivalentem Charakter, insofern über sie einmal ein spezifischer Stand in der Erschließung der Erde abgebildet wird und andererseits die (schwankende) Präzision dieser Abbildung satirische Züge trägt. Zusätzlich jedoch können die in den ‚Nationen‘ angetroffenen Bewohner (die verkleinerten Lilliputians und die vergrößerten Brobdingnagians der ersten zwei Teile, die ‚entstellten‘ Bewohner Laputas, sowie die Yahoos und die Hounynhms der letzten beiden) in einem erheblich viel kleineren Raum lokalisiert werden, als in den noch nicht kartografierten Regionen der Erde. Denn Dennis Todd macht deutlich, dass sämtliche ‚Anblicke‘, denen Gulliver auf seinen Reisen begegnet, im Rahmen von „tourist sights, public entertainments, shows, spectacles and exhibitions in the streets and at the fairs of London“ (Tod-396) beobachtet werden konnten. Diese Londoner Shows zeigten, als Teil einer populären Straßenkultur, Miniaturen (von Stadtansichten, Schlachten etc.), Zwerge, Riesen, Menschen mit vermeintlich ‚tierischen‘ Merkmalen und - nicht zuletzt - überraschend ‚intelligente‘ Pferde, die Kunststücke vorführen. 106 Dies lässt sich in weiten Teilen als Kommodifizierung des Anderen beschreiben. London 107 liefert seinem Straßenpublikum also Anblicke, die dem Leser der Travels allzu vertraut vorkommen müssen. So werden beispielsweise auch ‚Kannibalen‘ aus weit-entfernten Teilen der Erde, die nach London verschleppt wurden, ‚ausge- 106 „Precisely these ‘Wonderful and Monstrous Creatures’ inform much of the structure of Gulliver’s Travels, made up as it is of little people, big people, intelligent animals, and bestial men, all of which were the most typical monsters exhibited at the fair.“ (Todd-402) Weiter schreibt Todd: „Gulliver senses that the wonders he sees in remote nations resemble popular entertainments back home in England when he notes that the capital city of Lilliput ‘looked like the painted Scene of a City in a Theatre.’“ (396) 107 Pascale Casanova hält fest: „In the 18th century, London was the centre of the economic world but it was Paris that imposed its cultural hegemony“ (85), womit die Parallelität von imperialen Prozessen im Welt-System hervorgehoben wird. 2.3 Bezüge auf die Erde 93 stellt‘. 108 Die Praktiken des Ausstellens sind somit eng mit kolonialen und damit transkontinentalen Kontexten verbunden. So gesehen charakterisieren die Travels durch die Verortung der sprechenden Pferde, Riesen etc. in weitentfernten Regionen der Erde London verstärkt als Zentrum eines expandierenden Imperiums , dessen ‚Straßenkultur‘ als Ergebnis kolonialer Praktiken erkennbar wird. Die Lesart Andersons lässt sich also mit der Todds verbinden. Denn die Travels projizieren Londoner Ereignisse auf die weißen Flecken der Weltkarte, und stellen so die Verbindung zwischen den „real discoveries“ (s. o.) und dem Londoner Stadtleben aus; es handelt sich um ein Ganzes. Die Prozesse des expandieren Welt-Systems erscheinen im Spannungsverhältnis zwischen einer lokalen Kultur (des imperialen Londons) und der kartografischen und kolonialen Erschließung der Erde. 109 Vor diesem Hintergrund muss auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Gulliver im Erzählen vom heimatlichen England dieses mitnichten als geschlossenes Territorium eines Staates darstellt, so wie hier, bei der Beschreibung die Gulliver dem König Brobdingnags gibt: I began my Discourse by informing his Majesty that our Dominions consisted of two Islands, which composed three mighty Kingdoms under one Sovereign, besides our Plantations in America. I dwelt long upon the Fertility of our Soil, and the Temperature of our Climate. (106/ II.6) Die „Plantations in America “ werden explizit erwähnt. Aus der Perspektive einer in ihren ‚unentdeckten‘ Teilen besuchten Erde heraus wird ‚England‘ in den kolonialen Zusammenhang gestellt. Dies geschieht wiederholt und in allen vier Teilen der Travels . 2.3.3 Kartografischer Maßstab und „Erzählprojektion“ „Parody […] works by exacerbating and ridiculing incongruities of scale, as we know from probably the most famous satirical work of all time, Swift’s Gulliver’s Travels “ (Aravamudan- 237). Über diese grundsätzliche Beschreibung hinaus können die Teile I und II der Travels - ausgehend von Frederick Bracher - als mit kartografischen Mitteln erzählte Reisen verstanden werden. Denn die ersten beiden Reisen der Travels sind nach einem Maßstab - 1: 12 bzw. 12: 1 - gestaltet: 108 „Other humans were exhibited who, though they retained their human shape, like Yahoos had degenerated to savagery.“ (Todd-404) 109 Folgende Beschreibung geht in eine ähnliche Richtung: „The most obvious joke in the title of Swift’s Travels into Several Remote Nations of the World is that what purports to be a chronicle of several excursions to remote nations turns out to be a satiric anatomy of specifically English attitudes and values.“ (Tod-396) 94 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels In Lilliput ist alles zwölfmal kleiner, in Brobdingnag alles zwölfmal größer als in europäischen Ländern; dies betrifft, neben den Bewohnern, auch die Architektur, Flora und Fauna. 110 Es handelt sich also nicht um eine ‚phantastische‘ Reise zu schlechterdings oder unbestimmt großen/ kleinen ‚Nationen‘, sondern um eine kartografisch informierte Art der Darstellung. Diese „schlägt mit der Konstruktion dieser Inseln zugleich eine neue Variante des kartographischen Verfahrens vor: eine Erzählprojektion.“ (Stockhammer, Kartierung -101f.). Über den Bezug auf den Maßstab als kartografisches Mittel zur Erfassung der Erde ist in den Teilen I und II der Travels in der Darstellung aller Wesen und Dinge immer ein spezifischer Bezug auf die Ganzheit eingeschrieben - ein Bezug, der sich mit Stockhammer als ‚Erzählprojektion‘ bezeichnen lässt. „Scale becomes a method for Swift“ (Aravamudan-237). Über das maßstabsgebundene Darstellungsverhältnis in den Teilen I und II ist etwa die Darstellung von zwölffach vergrößerten Bettlern in Brobdingnag (mit der der Text vor allem Bezug nimmt auf die Situation in Irland) 111 immer schon in eine Perspektive eingebunden, die eine größere Ganzheit im Blick hat. One Day the Governess ordered our Coachman to stop at several Shops, where the Beggars, watching their Opportunity, crowded to the sides of the Coach, and gave me the most horrible Spectacle that ever an European Eye beheld. […]. But the most hateful Sight of all was the Lice crawling on their Cloaths. I could see distinctly the Limbs of these Vermin with my naked Eye, much better than those of a European Louse through a Microscope, and their Snouts with which they rooted like Swine. (93f./ II.4) 110 „Gullivers Blick auf die ersten beiden bereisten Inseln mag als einer verstanden werden, der durch ein ‚Perspektiv‘ erfolgt (im Falle Lilliputs durch ein verkehrt herum gehaltenes). Innerhalb der Fiktion jedoch kann er dieses Perspektiv nicht ablegen, kann sein Auge die Größenverhältnisse nicht korrigieren. Und vor allem ist dieses Auge nach dem Modell eines optischen Betrachtungs -Instruments konzipiert, das Objekte vergrößern und verkleinern kann, ohne etwas an der Perspektive zu ändern, statt nach dem Modell eines optischen Mess- Instruments konzipiert zu sein, wie es Landvermesser oder die lilliputanischen Gulliver-Vermesser benutzen: als Winkelmessgerät, an dem das Fernrohr (falls überhaupt vorhanden) nur dazu dient, Punkte zu fixieren, um Winkel zu bestimmen. Nur ein solches Instrument würde Daten liefern, auf deren Grundlage von der eigenen Perspektive ‚abgesehen‘ werden könnte.“ (Stockhammer, Kartierung -104) 111 Mary Carter schreibt hierzu: „Swift made several attempts in the 1720s to regulate the system for badging beggars, and this preoccupation with vagrancy and poverty intrudes into his best creative and satiric writing of the decade, including the Drapier’s Letters , Gulliver’s Travels , and A Modest Proposal . The figure of the street beggar in Swift’s writings is often horrible and at times threatening, as in Gulliver’s description of the larger-than-life beggars in Brobdingnag“ (101). Weiter: „The ‘horrible Spectacles’ of street beggars that were so shocking to Gulliver’s ‘English eye’ had been common sights for travelers to Dublin since the medieval period.“ (102) 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 95 Das Mittel des Maßstabes, über das die Ganzheit der Erde kartografisch darstellbar wird, lässt den Bettler vergrößert, und damit in schmerzvoll offensichtlichen Details, erscheinen. Der Zustand körperlichen Elends und hygienischer Verwahrlosung wird so zu einem überwältigenden 112 Anblick, der jedoch in Relation gesetzt wird zum europäischen Raum, insofern Gulliver auf seine Wahrnehmung als die eines „ European Eye“ referiert und die Parasiten vergleicht zu einer „ European Louse“. Der Körper Gullivers und der anderen inszenierten Figuren gewinnt in den beiden ersten Teilen des Textes ein Potenzial für verschiedenste Bedeutungen (politisch-soziale, 113 gegenderte 114 etc.), deren Spezifik sich stets nur im Kontext des genannten kartografischen Rahmens verstehen lässt, insofern dieser die Art der Darstellung durch und durch bestimmt. 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit Neben dem Bezug auf Reiseliteratur lässt sich im Text ein parodistischer Bezug auf die Vorstellung des body politic 115 erkennen, d. h. auf Texte und Bilder, welche royale Herrschaft legitimieren/ hervorbringen. Hier soll der Fokus auf Thomas Hobbes’ Leviathan 116 liegen. 117 Dieser Text fasst königliche Macht als 112 Der überwältigende Charakter dieser Erfahrung durchkreuzt dabei den angestrebten machtvoll-instrumentierten Blick eines Reisenden, den Gulliver wiederholt versucht auszuüben. Das Ideal eines solchen sehenden Auges „wird in der Wissenschaft um 1700 mit dem (imaginären) Anspruch besetzt, nicht dem Imaginären zu verfallen. Die instrumentierte Opsis gilt als Mittel zur Erzeugung von Klarheit und wird gegen die Sprache ausgespielt, von deren Seite permanente Verdunkelung durch Rhetorik zu drohen scheint.“ (Stockhammer, Kartierung - 103f.) Dieser Anspruch wird vom Text wiederholt untergraben. Zur konkreten Gestalt dieser ‚Überwältigung‘ vgl. Karremann 144f. 113 So ist selbst die folgende Passage nur vor dem geschilderten Hintergrund in ihrer vollen Bedeutung zu verstehen, da sie im Rahmen der zwölffachen Verkleinerung artikuliert wird: „It is upon this account the Image of Justice, in their Courts of Judicature, is formed with six Eyes, two before, as many behind, and on each side one to signify Circumspection; with a Bag of Gold open in her Right Hand, and a Sword sheathed in her Left, so shew she is more disposed to Reward than to Punish.“ (Swift, Travels -49/ I.6) 114 Vgl. hierzu: „Das Selbstbild einer machtvollen Männlichkeit, wie sie Gullivers Erfahrung seines Körpers als gigantisch und unbezwingbar in Lilliput bereithält, […] ist von Anfang an auch von einem Unbehagen an der Stabilität dieses Männlichkeitsentwurfs durchsetzt.“ (Karremann-100) Die Inversion hiervon gilt in Brobdingnag. 115 Unter ‚ body politic ‘ ist im Folgenden die Metapher des politischen Körpers zu verstehen, und nicht Körperpolitik. Vgl. hierzu diese Definition von ‚ body politic ‘ als „nation regarded as a corporate entity” ( OED, „body politic“). 116 Im Folgenden zitiert nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Teil/ Unterkapitel‘. 117 Beides (Legitimation und Hervorbringung) bedingt sich in diesem Fall in besonderem Maße gegenseitig, insofern die Repräsentation - etwa durch die Figur des Leviathan - 96 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels allumfassend und bezieht sie dementsprechend auf spezifische FdG. So ist etwa diese prominente Passage aus dem Leviathan zu nennen, die den body politic ins Verhältnis zur FdG ‚ earth ‘ setzt: Hitherto I have set forth the nature of Man, (whose Pride and other Passions have compelled him to submit himselfe to Government; ) together with the great power of his Governour, whom I compared to Leviathan , taking that comparison out of the two last verses of the one and fortieth Job ; where God having set forth the great power of Leviathan , calleth him King of the Proud. There is nothing , saith he, on earth, to be compared with. He has made so as not to be afraid. Hee [sic] seeth every high thing below him; and is King of all the children of pride . But because he is mortall [sic], and subject to decay, as all other Earthly creatures are; and because there is that in heaven, (though not on earth) that he should stand in fear of, and whose Lawes he ought to obey; I shall in the next following Chapters speak of his Diseases, and the causes of his Mortality; and of what Lawes of Nature he is bound to obey. (220f./ II.28) Ein Ausschnitt des im Passus genannten Bibelzitats findet sich auch auf dem Titelkupfer des Leviathan . 118 Der Bezug auf die Erde taucht im Bibelzitat („ Auf Erden ist seinesgleichen niemand “) auf und wird von Hobbes selbst noch einmal, diesmal in Klammern, aufgenommen. So wird die Scheidung zwischen göttlicher und staatlicher Macht vollzogen - und damit die Säkularisierung staatlicher Macht. 119 Die FdG ‚ earth ‘ steht dabei ein für die Strenge dieser Trennung der Ganzheit in eine göttliche und eine irdische Sphäre, die, hinsichtlich des Aspektes der Souveränität, disjunkt werden. Hobbes’ Leviathan , dessen bekanntes Titelkupfer den „‘ungeheuren‘ Souverän“ bildlich dargestellt zeigt, kann als die wohl einflussreichste „Sinnfigur des Politischen überhaupt“ (Matala de Mazza, Körper - 71) gelten; die Rolle der bildlichen Darstellung dieses body politic kann dabei kaum überschätzt werden und ist nicht zuletzt begründet in der Skepsis Hobbes’ gegenüber der Rhetorik (vgl. Bredekamp, Hobbes - 123-131). 120 Besagte Abbildung und die dazugehöripolitischer Macht keineswegs nachgängig ist, sondern diese in einer historisch neuen Form (als säkularisierter Staat, dessen Verantwortung vor allem die Kriegsführung ist) überhaupt erst generiert. 118 „‚Non est potestas Super Terram quae comparetur ei.‘ - (Keine Macht auf Erden ist der seinen vergleichbar)“ (Manow-144). 119 Zur Einschränkung dieser Beschreibung vgl. Manow 155-165, der ausführt, dass es zwar keine „direkte religiöse Legitimierung von politischer Macht“ bei Hobbes gäbe, „aber eine Meta-Legitimierung“ (164), insofern im Leviathan die Vorstellung einer „Entscheidungsautonomie [der Politik] gegenüber der Religion“ (163) letztlich „theologisch begründet“ (165) ist. 120 „Zum Emblem geronnen ist diese Konzeption [des Leviathan; T.E.] nicht zuletzt in dem berühmten Titelkupfer, das auf der ersten wie auch den späteren Ausgaben des Leviathan 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 97 ge Staatskonzeption prägen seit ihrem Erscheinen 1651 die Vorstellungen von staatlicher Ordnung und deren Repräsentation. 121 Dass dieses Titelkupfer Swift (und seinen Zeitgenossen) eine bekannte Größe war, ist gesicherte Tatsache. 122 2.4.1 „Golbasto“: Ein globaler Leviathan? Im Folgenden soll vor allem auf die verschieden großen, im Titelkupfer des Leviathan dargestellten Körper und ihre Relationen zueinander eingegangen werden. 123 Der Leviathan selbst ragt dort hoch in den Himmel, über die Bergkämme hinaus, und ist damit selbst im Rahmen der Maßstäbe der Darstellung einer Landschaft in der Lage, das Bild zu füllen und mit seinem gewaltigen Oberkörper zu dominieren. Die Landschaft wurde von Horst Bredekamp gar als „Weltlandschaft“ ( Hobbes- 13) bezeichnet, wodurch die Größe und Fülle des dargestellten Ausschnitts betont werden (der im Hintergrund auch den Horizont zwischen Meer und Himmel abbildet, womit der Leviathan aus dem Meer ‚entsteigt‘; vgl. hierzu Bredekamp, Hobbes -23). Die untere Körperhälfte dagegen abgebildet war“ (Matala de Mazza, Körper -71). 121 Matala de Mazza hält fest, dass die bildliche Darstellung des Leviathan „eine Allegorie jener Repräsentation selbst vorstellt, die im 17. Jahrhundert - Michel Foucault hat es in seiner Studie über die Ordnung der Dinge gezeigt - zum Leitkonzept der Wissensordnung aufsteigt. Der epistemischen Konstitution der Objekte entspricht, wie das Emblem beweist, die politische und ästhetische Bedeutungsproduktion.“ ( Körper- 72) Zur Rolle des Bildes bei Hobbes formuliert Bredekamp: „Die Leerstelle zwischen den Worten des Vertrages und dem Gesamtkörper des Staates füllt die ‚visible power‘ des Bildes. Dieses emphatische Vertrauen in die ‚sichtbare Macht‘ ist in Hobbes körperlichem Verständnis des Bildes und des Sehens begründet.“ ( Hobbes- 130) Insgesamt gilt also: „Das Frontispiz ist kein Zusatz zum Text, sondern dessen Protektor, wie der Leviathan nicht etwa nur der Repräsentant, sondern die Essenz des Staates ist.“ (Bredekamp, Hobbes -131) 122 „Swift’s references to the Leviathan are intriguing. Hobbes had come back in vogue by the 1690s; indeed, the engangement controversy that took place in the aftermath of William’s landing gave the Leviathan the kind of immediate relevance it had had in the sequel to the civil wars (it was first published in 1651).“ (Robertson, „Swift“-44) Unter anderem im Vorwort zu A Tale of a Tub bezieht sich Swift sogar namentlich auf Hobbes Leviathan , auch wenn er dort eher frei mit Hobbes’ Gedankengut umgeht (vgl. Robertson, „Swift“ 43 u. 45); außerem ist bekannt, dass Swift „at least two editions of the Leviathan “ (45) in seinem Besitz hatte und „very well versed in Hobbes’ writings“ (Seelye-22) war. „[O]ne wit who ceraintly did borrow his ‘weapons’ from Hobbes was Johnathan Swift (Keiser-199; vgl. auch ebd. 189-u.-222), wobei die Gemeinsamkeit - neben dem „device of gigantism“ (Seelye-230) - wohl am ehesten in der Swift und Hobbes gemeinsamen Vorliebe für „cynicism“ (320) besteht. Carl Schmitt hält, die allgemeine Popularität des Leviathan betreffend, fest: „Die Bienenfabel von Mandeville (1714) spricht schon ganz wie Hobbes“ (43). Hobbes’ Theorie hat es also schon vor Swifts Travels in die Literatur geschafft. 123 Hierbei beziehe ich mich hauptsächlich auf die Arbeiten von Ethel Matala de Mazza (vor allem Körper- 63-129) und Carl Schmitts Leviathan , auf den sich wiederum ein Großteil der Beobachtungen Matala de Mazzas stützen. 98 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels verschwindet hinter und unter der Bergkette. 124 Bekanntlich wird der sichtbare Kompositkörper des Leviathan „durch eine schier unübersehbar große Menge von Personen gebildet“ (Bredekamp, Hobbes - 76), sein anthropomorpher Körper besteht also aus ungeheuer vielen ‚gesichtslosen‘ (vgl. Matala de Mazza, Körper - 76) 125 menschlichen Leibern. 126 Neben diesen werden jedoch noch sehr viel kleinere Körper im Titelkupfer abgebildet, Miniaturen gewissermaßen, die leicht zu übersehen sind, und welche die vom Leviathan himmelhoch überragte Stadt im Zentrum der Landschaft bevölkern. Diese ‚Kleinstkörper‘ sind von äußerst geringer Zahl, was Ethel Matala de Mazza als Zeichen dafür deutet, dass die im Körper des Leviathan versammelten und repräsentierten Körper der Stadt - und mit ihr: den Gefahren von Krieg und Krankheit, auf die die Kleinstkörper verweisen - 127 den Rücken gekehrt haben, zugunsten des schützenden Körpers des Leviathan. Dieser entschädigt das Opfer ihrer Souveränität als Untertanen mit dem Versprechen von Sicherheit, welches nicht zuletzt in dem Eindruck eines Schuppenpanzers, welcher sich aus den (Ober-)Körpern 128 124 Zur ausführlichen Deutung dieses ‚Abschneidens‘ des Unterleibs vgl. Manow 43-53, wo dieser (um ein Wortspiel bemüht) deutlich macht, „dass im Schatten des Rechtsfrieden stiftenden Leviathan die Bürger nicht nur ruhiger schlafen, sondern auch ruhiger miteinander schlafen können“ (51), da der Leviathan die „Triebbeschränkung zum Zwecke der friedlichen Gesellschaft“ (47) befördert (und abbildet - insofern dem Leviathan selbst der Unterleib fehlt). 125 Bredekamp betont, dass alle Gestalten im Körper des Leviathan den Blick auf diesen gerichtet halten, und so dem Betrachter des Titelkupfers - ausnahmslos - den Rücken zukehren. Damit wird eine bestimmte Blickrichtung etabliert, die im Blick der Augen des Leviathan selbst ihre Umkehrung findet (vgl. Hobbes -109f.). 126 Womit präzise die Theorie Hobbes’ abgebildet wird, laut der der Repräsentant einer ist, was jedoch die Vielheit der Repräsentierten unverletzt lässt: „A multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one person, Represented; -so that it be done with the consent of every one of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One .“ (114/ II.16) Vgl. auch Matala de Mazza, Körper- 71 u. 78. 127 „Unter den gebietend ausgestreckten Armen des monumentalen Leviathan bleibt der Ort, der den repräsentierten Menschen eigentlich zukäme: -die Stadt, selbst verwaist und leer. Nicht nur dem Bildbetrachter, sondern auch ihr haben sie als Bürger den Rücken zugekehrt, als sie sich in den schützenden Leib des Leviathan zurückgezogen und ihm, dem symbolischen, entscheidungsmächtigen Dritten, allein den öffentlichen Raum überließen. In der Stadt, und dort auch nur an der Peripherie, sind deshalb lediglich einige wenige Figuren zu sehen: Soldaten, die sich von den Befestigungsmauern der Stadt aufgebaut haben, und etwas weiter rechts, am unteren Bildrand, zwei Pestärzte. Ihre Gestalten evozieren eine tödliche Wirklichkeit, die nicht in das Innen des befriedeten Gemeinwesens, sondern in das Außen des überwundenen Naturzustandes gehört“ (Matala de Mazza, Körper -85). Vgl. auch Bredekamp, der von den kleinsten Figuren als „Zeugen der Bedrohung“ ( Hobbes- 108) spricht. 128 Vgl.: „Der sich uns im Leviathan -Titelbild zeigende Hobbes’sche Kompositkörper ist ein Oberkörper aus Oberkörpern, auch die den politischen Riesen bildenden Einzelperso- 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 99 der Bürger zusammensetzt, zum Bild gebracht wird. 129 Es lässt sich also eine Skala abstrahieren, auf der Körper drei verschiedener Größen angeordnet sind, die verschiedene Elemente des Darzustellenden zur Anschauung bringen: die königliche Souveränität, die Bürger und die Gefahren, von denen sie sich willentlich losgesagt haben. Weiter ist auf die Analysen Philip Manows hinzuweisen, der darauf aufmerksam macht, dass die „Naturzustandsfiktion [Hobbes’; T.E.] […] dem zeitgenössischen Kolonialdiskurs direkt entnommen [scheint].“ (72) Wie Manow demonstriert, haben die bildlichen Darstellungen und Reiseberichte aus Amerika Hobbes’ Staatskonzeption wesentlich beeinflusst, die somit von vorneherein aus dem europäischen Kontext heraustritt (vgl. 23-33 u. 55-79). Dass der englische Bürgerkrieg die zentrale Sorge Hobbes’ ist, bleibt davon unbenommen (vgl. Manow-12), Amerika ist jedoch die Kontrastfolie dieser Sorge, insofern ein allzeit mögliches ‚Zurückfallen‘ in die in Amerika - vermeintlich - angetroffenen Zustände jederzeit möglich sei (vgl. Manow- 15- u.- 86). Außerdem sei die im Leviathan erreichte ‚Verstaatlichung des Krieges‘ (vgl. Matala de Mazza, Körper - 89) als „Agressionsabfuhr nach außen“ (Manow- 75) zu verstehen, wobei dieses „‚outside the commonwealth‘ […] im 17. Jahrhundert die europäische Staatenwelt im Kontext intensivierter kolonialer Konkurrenz“ (Manow-77) ist. Diese Kolonialkonkurrenz nimmt im 18. Jahrhundert nicht ab. 130 Die Darstellung politischer Herrschaft als Relation zwischen Körpern unterschiedlicher Größe soll im Folgenden zur Analyse der verschieden großen Körper in den Travels (in den Teilen I und II) herangezogen werden (vgl. Seelye- 228-230), genau wie die kolonialen Kontexte, die in den Leviathan Eingang gefunden haben, mitzudenken sind. 131 Das Titelkupfer des Leviathan kann nen sind nur mit ihrem Torso abgebildet.“ (Manow- 47) Durch dieses ‚Abschneiden‘ des Unterleibs findet laut Manow eine „Triebbeschränkung“ (47) ihren Ausdruck, die dem Leviathan zugrunde liegt (vgl. Manow-43-51). 129 „Das Auffälligste an ihm [dem Leviathan; T.E.] aber ist sein Rumpf, der sich aus zahllosen kleinen Menschen zusammensetzt und den Eindruck eines reptilienhaften Schutzpanzers erweckt. Offenbar ist dieser Panzer eine Reminiszenz an den monströsen Krokodil Leviathan, von dem das Alte Testament im Buch Hiob spricht: Der Wahlspruch am oberen Bildrand zitiert den letzten Vers der Beschreibung des Seeungeheuers, das dem Hobbes’schen Despoten neben dem Namen auch seine Unverletzlichkeit und Unbezwinglichkeit vermacht hat.“ (Matala de Mazza, Körper -75) 130 „Und es scheint in diesem Zusammenhang alles andere als nebensächlich, dass Hobbes von 1622 bis 1624, dem Jahr ihrer Auflösung, Teilhaber der Virginia-Company war […], jener Gesellschaft, die 1606 zum Zwecke der kommerziellen Nutzung der amerikanischen Kolonien und zur Finanzierung weiterer Expeditionen und Siedlungen gegründet worden war.“ (Manow-66f.) 131 Ohne näher darauf einzugehen, nennt auch Bredekamp Gulliver im Zusammenhang mit dem Leviathan (vgl. Hobbes 68). 100 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels als zentraler historischer Kontext der Travels angenommen werden, vor deren Hintergrund die hiesige Lesart ihren eigenen Beitrag besser formulieren kann. Denn die im Folgenden zu untersuchende Darstellung eines Herrschers in Teil I der Travels erweitert die Darstellung eines Herrscherkörpers durch Größenverhältnisse nicht nur um den Aspekt eines satirischen Spiels mit Größenverhältnissen, sondern befragt gleichzeitig die Anschlussfähigkeit solcher Darstellungen monarchistischer Herrschaft an größere Ganzheiten, die über unmittelbar-staatliche Dimensionen hinausgehen - und dezidiert auf koloniale Herrschaft verweisen. Diese Parodie führt die Beschreibung eines Herrscherkörpers dabei mit FdG eng, bis hin zur Ineinssetzung des Herrscherkörpers mit der FdG ‚ globe ‘. Diese und andere Figuren der Ganzheit sollen so als zentrales Mittel dieses vielgelesenen Passus der Travels herausgearbeitet werden, welches bislang nicht eingehend untersucht wurde. Die Bezüge auf Hobbes’ Werk ziehen sich durch die gesamten Travels , beginnend mit der Darstellung des riesigen Gullivers, „dessen Fesselung durch die Liliputaner explizit auf den ‚Leviathan‘ anspielt.“ (Bredekamp, Hobbes -139) 132 Auf einige weitere Beispiele soll nun eingegangen werden, die für die hier untersuchte Thematik der Darstellung von Ganzheit relevant sind. Allgemein gilt für die Beschreibung des Königs von Lilliput, dass „the paradoxical contrast in size between subject and emperor provides the comic and satirical elements of the episode“ (Seelye-233). Bei seinem Aufenthalt in Lilliput wird der König Gulliver wie folgt beschrieben: Golbasto Momaren Evlame Gurdilo Shefin Mully Ully Gue, most Mighty Emperor of Lilliput, Delight and Terror of the Universe, whose Dominions extend five thousand Blustrugs, (about twelve Miles in Circumference) to the Extremitys of the Globe; Monarch of all Monarchs, taller than the Sons of Men; whose Feet press down to the Center, and whose Head strikes against the Sun: At whose Nod the Princes of the Earth shake their Knees; pleasant as the Spring, comfortable as the Summer, fruitful as Autumn, dreadful as Winter. (36/ I.3) Die zitierte Stelle parodiert die verherrlichende Darstellung eines Souveräns; im politischen Umfeld der Zeit wurde George I als intendierter Referenzpunkt der Beschreibung identifiziert (vgl. Degategno u. Stubblefield- 162). Doch soll die Passage zunächst nicht auf diesen konkreten Bezug reduziert werden. An dem beißenden, despektierlichen Ton jedenfalls kann kein Zweifel bestehen. So ergeben etwa die Anfangsbuchstaben der letzten vier Namen des Königs anein- 132 Wobei ein wichtiger Unterschied hier nicht übersehen werden sollte, denn „the Leviathan is composed of the little people while Gulliver is merely covered by them“ (Seeyle-232). 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 101 andergereiht die als Akronym nur leidlich getarnte Beleidigung seiner Majestät als SMUG („blasiert“, „selbstgefällig“/ „Streber“). 133 Neben solchen Kniffen besteht das Hauptverfahren dieser Parodie darin, die geringe Größe des Herrschers - zwölfmal kleiner als Gulliver ist auch der König ein maßstabsgetreuer Bewohner Lilliputs - in komischen Kontrast zu der Beschreibung eines wahrhaft gigantischen politischen Körpers zu setzen. Die Größe des Königs wurde schon zuvor vom Text thematisiert: „He is taller by almost the Breadth of my Nail, than any of his Court; which alone is enough to strike an Awe into the Beholders.“ (35/ I.3) 134 Der Körper eben dieses sehr kleinen Königs wächst in der zitierten Passage zu unglaublicher Größe an. Diese Größe ist jedoch eine kalkulierte, insofern sie die Grenzen des staatlichen Bezugsrahmens des politischen Körpers gezielt überschreitet. Dies geschieht, indem die Größe/ Großartigkeit dieses Körpers gezielt mit einer Anreihung von FdG enggeführt wird. Zunächst wird die Größe des Herrschaftsgebietes als beeindruckende, fünftausend „Blustrugs“ umfassende, beschrieben. Diese Maßangabe wird von Gulliver umgehend in europäische Maße übertragen: der Umfang jener „Dominions“ beträgt demnach nur zwölf Meilen. Wiederum betont die Passage also die Kleinheit Lilliputs. Gleichzeitig verweist sie jedoch auf das Mittel des kartografischen Maßstabs, aus dem sich diese geringe Größe ergibt: 1: 12. Die Zahl Zwölf, nach der sich die Größe aller Wesen und Dinge in Lilliput errechnet, tritt hier also in Erscheinung, insofern es sich beim Umfang des Herrschaftsgebietes um ‚ausgerechnet‘ 135 zwölf Meilen handelt. 133 Den Hinweis auf dieses Akronym, das meines Wissens noch niemandem aufgefallen ist, verdanke ich Peter Maurits. 134 Stockhammer formuliert hierzu: „Der Maßstab macht das Dargestellte transparent und verfremdet es zugleich. Der satirische Blick baut darauf auf, wenn etwa die Darstellung durch Größenunterschiede zugleich eine des Größenunterschiedes ist“ ( Kartierung- 102f.). 135 Und wiederum, wie in den Travels üblich, wird jede Form kartografischer (oder sonstiger) Präzision sofort wieder untergraben: Es sind nur ungefähr („about“) 12 Meilen, und die bei einer Umrechnung zu erwartenden Stellen nach dem Komma werden nicht aufgeführt. Genauigkeit wird nur thematisiert, um sich gekonnt zu verrechnen oder Präzision lässig zu verwerfen. Bracher bringt es auf den Punkt: „Swift did not take geography more seriously than was necessary to satirize it; his carelessness with geographic details in Gulliver provides additional evidence of his contempt for natural, as opposed to moral, philosophy. Moreover, his complaints about the ‘mingled and mangled’ version which Motte printed seem to have one primary motivation: his pride as a writer was hurt by having stylistically inferior matter added to his text. But the maps offered no threat to his vanity or his repute as a writer, since it was well known that the publisher of a book of voyages hired someone like Herman Moll to do the cartography.“ (73f.) 102 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Im Verlauf der zitieren Passage schwillt der Körper des Königs derart an, dass sein Kopf an die Sonne stößt („strikes against the Sun“) 136 und seine Füße gegen „das Zentrum“ („the Center“) „pressen“. Damit ist zunächst eine Anspielung auf die „sonnenikonographische Verankerung des Königstums“ (Bredekamp, Hobbes -115) gegeben. Der Bezug auf das „Center“ 137 bedarf jedoch einer etymologischen Kontextualisierung. Für das Wort „centre“ führt das OED eine ganze Reihe von Bedeutungen aus, von denen hier zwei von besonderer Wichtigkeit sind: -„a. The centre of the earth“ und „b. The earth itself, as the supposed centre of the universe“. Beide Bedeutungen können zurückverfolgt werden zu frühen Beispielen: das OED datiert sie auf einen Zeitraum zwischen 1604 und 1823. Centre ist demnach eine zu Swifts Zeit übliche, verkürzte Bezeichnung für entweder die Erde selbst (als Zentrum des „Universums“) oder das Zentrum der Erde. Zur FdG ‚ centre ‘ als Kurzform für ‚Zentrum der Erde‘/ Erde, und zur genannten „Sun“ gesellt sich in der Passage weiter die FdG ‚ globe ‘, auf die unten noch detailliert einzugehen ist. Reminiszenzen an das Titelkupfer des Leviathan liegen nahe, insofern hier ein überragender Körper inszeniert wird. Wie Matala de Mazza ausgeführt hat, berühren die (unsichtbaren) Füße des Leviathan die Grenzen eines ‚Erdkreises‘, den sie im Zuge ihrer Bildanalyse konstruiert. 138 Neben dem Leviathan ist auch ein anderer Referenzpunkt dieser Passage der Travels plausibel - der auch dem Titelkupfer des Leviathan zur Vorlage gedient hat: die Bildtradition der ‚Kosmosleiber‘. Diese zeigen menschliche „Sternwesen, die sich von der Erde bis zum Himmel erheben“ (Bredekamp, Hobbes - 73). Diese Tradition ist vor allem im England des auslaufenden 16. Jahrhunderts einflussreich, insofern die Darstellung der „Königin Elizabeth I. nach dem Sieg über die spanische Armada [diese in einem Gemälde; T.E.] in überirdische Sphären erhob“ und als „über der Erde aufragende Riesengestalt“ zeigt, die „den Globus als Standfläche nutzt“ (Bredekamp, Hobbes - 75). „Die unmittelbaren Vorbilder für den zum Himmel 136 Diese ist jedoch, wie Bredekamp ausführt, scharf vom Leviathan abgegrenzt: „Der Leviathan reicht zwar ebenfalls bis in coeleste Sphären, […], aber seine Basis bleibt das Erdrund.“ ( Hobbes- 115f.) 137 Für alle Leser, welche die unterschiedlichen Schreibweisen von centre/ center im Folgenden irritiert, sei gesagt, dass in Swifts Text centre „Center“ geschrieben wird, anders als in der heute üblichen Schreibweise im britischen Englisch. Das OED wiederum führt nur das Lemma „centre“ auf. 138 Wie Matala de Mazza unter anderem betont, ragt der Körper des Leviathan nur zum oberen Drittel hinter einer Bergkette hervor, was dessen Unterleib, Beine und Füße hinter den Bergen, und damit ‚in‘ der Erde verschwinden lässt. Die Füße dieses Leviathan ‚pressen‘ also gewissermaßen tatsächlich auf das ‚Zentrum‘ der Erde, insofern sie auf der Darstellung des Titelkupfers ins Unterirdische reichen. Vgl. hierzu vor allem die analytische Zeichnung in Matala de Mazza, Körper -80. 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 103 ragenden Leviathan sind daher nicht in der zeitgenössischen politischen Ikonographie zu finden, sondern in der elisabethanischen Bildpanegyrik, in der die Königin zur Sternengöttin und Staatsriesin aufsteigt.“ (ebd.) Es sind also die Größenverhältnisse eines Kosmosleibs, in die der Körper des Königs von Lilliput in der Passage übertritt. Doch erscheint der Kosmosleib in den Travels nicht als stolz-aufragender Körper, sondern er stößt an die Sonne und an die Erde/ das Zentrum der Erde. Die ungeheure Größe kollabiert in das Bild eines gebückten Körpers. Die Parodie der Beschreibung eines Herrscherkörpers, der monarchistische Souveränität repräsentieren soll, findet ihren Ausdruck im Bild eines kleinen (da eigentlich 15 cm großen) Herrschers, der im Zuge der anpreisenden Beschreibung zu groß wird, um selbst zwischen Sonne und Erde noch Platz finden zu können. Im zitieren Passus werden eine Vielzahl von Figuren der Ganzheit bemüht - universe , globe und earth - die sich allesamt auf die denkbar kleine Nation Lilliput und/ oder dessen Souverän beziehen. Der reguläre Bezugsrahmen der ‚Nation‘ Lilliput als Territorium einer bestimmten Ausdehnung wird so deutlich überschritten. 139 So beherrscht der Kaiser Lilliputs in dieser Passage nicht weniger als das „ Universe “, sein Herrschaftsgebiet breitet sich bis zu den „Extremitys of the Globe “ aus; er beherrscht die anderen „Princes of the Earth “ (Hervorhebungen T.E.). Das erzeugt zunächst einiges an Unklarheit über das Ausmaß und den Charakter der beschriebenen Ganzheit, da zwischen verschiedenen Größen und Vorstellungen innerhalb eines langen Satzes gesprungen wird. So entsteht die Komik eines reichlich hyperbolischen Sprechens von Großartigkeit, das sich in der Wahl der FdG ins unbestimmt-gigantische versteigt. 140 139 Nicht zuletzt definiert sich ein staatliches Territorium in Abgrenzung zu anderen Staaten, auch und gerade in der Konzeption von Staatlichkeit wie sie im Leviathan zu finden ist (vgl. Matala de Maza, Körper -89). 140 Vollzieht man nach, wie unterschiedlich die verschiedenen Termini für Totalität sind, die durch die Worte Universum, Erde und Globus evoziert werden, so wird dies noch deutlicher. ‚Universum‘ etwa beschreibt üblicherweise eine Totalität, die schlicht alles umfasst, ohne dass eine bestimmte Form dieses Ganzen vorgestellt werden kann, eine Totalität „‚whatever the totality may be‘“ (Lewis 251). Mit der Verwendung von ‚Universum‘ beschreibt die Nation sich selbst nicht nur als die Totalität eines Teils, sondern als „all absolutely“ (Lewis- 215). ‚Earth‘ dagegen beschreibt - zumindest in der Regel - eine (vergleichsweise konkrete) Vorstellung vom Himmelskörper auf dem die Menschen leben. ‚Globe‘ wiederum impliziert deutlich geometrische und räumliche Vorstellungen, evoziert eine spezifische Form (und die Repräsentation der Erde als Globus). Der Text jedoch verwendet die drei Begriffe scheinbar ohne Unterschied, insofern sie alle die lilliputanische Nation als Totalität beschreiben. D.h., die Problematik, die in der Rede von Ganzheit impliziert ist - also die Tatsache, dass sowohl die Ganzheit eines Teils als auch schlicht all absolutely als ‚Ganzheit‘ begriffen werden kann - wird hier anhand verschiedener Begriffe, welche größere ‚Ganzheit‘ evozieren, auf kleinstem Raum durchdekliniert. Ausgangspunkt dieses Durchdeklinierens verschiedener Größen von ‚Ganzheit‘ ist 104 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Außerdem muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Herrschaftsgebiete des Königs als „dominions“ bezeichnet werden. Denn damit können allgemein die „lands or domains of a feudal lord“ gemeint sein, doch die Lage dieser „dominions“ - die bis in die weit entfernten Bereiche des „Globe“ reichen - lässt folgende Bedeutung, welche das OED anführt, wahrscheinlicher erscheinen: „Esp. a country outside England or Great Britain under the sovereignty of or owing allegiance to the English or British crown; spec. † (a) pl. the English possessions in America; […]- (c) ( Hist. ) any of the larger self-governing nations in the British Commonwealth; also attrib. Often in pl. “ ( OED , „dominion“) Die Rede ist hier also von Kolonien. Weiter ist die Wortwahl zur Beschreibung der Ausdehnung der „Dominions“, der Kolonien des Königs, zentral. Diese erstrecken sich bis zu den „extremities“ des „Globe“, also dessen entlegensten Regionen. Das englische extremity kann sowohl einen „extreme or terminal point or portion of anything“ bezeichnen, in diesem Fall: des ‚Globus‘, als auch in einer spezifischeren Bedeutung, die das OED jedoch explizit anführt, „The uttermost parts of the body“ ( OED , „extremity”) denotieren. Der Text aktualisiert so eine Ambivalenz: einerseits kann extremity die Entlegenheit einer Region bezeichnen, vorausgesetzt, es bezieht sich auf eine räumliche Ausdehnung, wie der Globus in der zitieren Passage sie darstellt. Andererseits kann extremity ein Körperteil bezeichnen (die im deutschen Wort ‚Extremität‘ dominante Bedeutung). Die in der Passage hochpräsente Körperlichkeit, welche der Beschreibung des Herrscherkörpers dient, informiert hier die Wortwahl, und schleicht sich in die Beschreibung der Ausdehnung des Herrschaftsgebietes ein. Herrscherkörper und beherrschtes Gebiet („dominions“) fließen im Wort „extremities“ fast unbemerkt in eins. Erscheint der Herrscherkörper an anderer Stelle im zitierten Passus zwischen Himmelskörpern eingepfercht, so ist er hier als potenziell identisch mit der Ausdehnung der von ihm beherrschten Gebiete markiert. Im Lichte dieser Lesart erscheint dann auch der erste Name des Herrschers von Lilliput, „Golbasto“, als spielerische Aufblähung von globe - auch wenn diese Deutung Gefahr läuft, Swifts erfundenen Sprachen und Wörtern eine allzu eindeutige Bedeutung verleihen zu wollen. Insofern mit der Rede von den „Extremitäten“ der Körper des gleichzeitig kleinen und riesigen Herrschers aufgerufen wird, kollabiert die Beschreibung der angeblich globalen Ausdehnung der Herrschaftsgebiete/ Kolonien jedoch und dabei die Nation Lilliput, auf dessen Souverän nun näher einzugehen ist. Denn erst über die Parallelführung mit dem Herrscher-Körper vollzieht diese Passage einen weiteren, entscheidenden Schritt. Zur genaueren Untersuchung der FdG vgl. Abschnitte I-II dieser Arbeit. 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 105 fällt auf den Körper zurück. Der Körper des Königs rückt angesichts der Betonung der maßstabs-bezogenen Ausmessung Lilliputs einerseits, und der Bezugnahme auf größere Ganzheiten andererseits, als dezidiert kleiner Körper ins Bild. Will man eine Pointe formulieren, so könnte sie darin bestehen, dass die globalen/ kolonialen Herrschaftsansprüche des smugs nicht über die Grenzen seiner eigenen, kleinen Extremitäten hinausreichen, insoweit das doppeldeutige extremities die Schilderung an einen Herrscherkörper bindet, der umso kleiner erscheint je ‚groß-artiger‘ er beschrieben wird. 141 Der zu große Rahmen größerer Ganzheiten (evoziert durch die schiere Menge an FdG) wird so kontrastiv herangezogen, um die Repräsentation von politischer Macht als Körper - der auch noch entfernte Kolonien in sich aufnehmen können soll - lächerlich werden zu lassen. Herrscherkörper, die globale Ausdehnung des imaginierten Herrschaftsgebiets und die Reflektion auf das Ganze aus kartografischer Perspektive (über den Maßstab 1: 12), sind hier in einer äußerst dichten Passage miteinander verschränkt. Der Herrscherkörper ist so - mit allem Spott, den diese Passage zu bieten hat - ein wirksames Medium, um auf die Frage nach der Größe von Ganzheit zu reflektieren. Auf die Lesart der Passage als konkrete Parodie von George I zurückkommend, wird deutlich, dass hier potenziell auf die reale politische Macht des englischen Monarchen verwiesen wird, dessen Einflussbereich Gebiete in Übersee einbezieht - jene „Plantations“, von denen schon weiter oben die Rede war. Auf diese kann der politische Körper seinen Herrschaftsanspruch jedoch im Sinne der von Swift formulierten Parodie nicht legitim beziehen: Die interkontinentalen Größenverhältnisse des realen englischen Imperiums werden von Swift hyperbolisch auf interplanetare Dimensionen ausgeweitet, wodurch deren Herrscher nur umso mehr als smug erscheint. 142 Auf den bis hierher untersuchten Passus folgt eine Reihe konkreter Verhaltensvorgaben für Gulliver, die sich allesamt auf dessen körperliche Größe be- 141 Der Herrscherkörper erweist sich so bei einem zweiten Blick auf die Art der Beschreibung als eine Ansammlung von Gliedern, denen jede Einheit fehlt. Man liest von Füßen, einem Kopf und ‚Extremitäten‘, einer ‚gepressten‘, sich den Kopf stoßenden Gestalt. Es liegt demnach dezidiert keine körperlich irgendwie ‚repräsentative‘ Ein- oder Ein s heit vor. 142 Insofern der Königskörper jedoch auch (ironisch) als Spektakel inszeniert wird, ist selbst er noch eingeschrieben in die im Text allgegenwärtige Praxis des Ausstellens von Körpern. Die ‚unglaubliche‘ Größe eines Körpers - auf den Straßen Londons Garant für dessen Warenwerdung und Profitabilität - wird hier hyperbolisch transponiert in Größenverhältnisse, die neben der Vorstellbarkeit auch die Ausstellbarkeit des Körpers untergraben. Vgl. die Arbeit von Dennis Todd (s. o.). 106 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels ziehen: So darf der riesige Gulliver keine der Untertanen Lilliputs zertrampeln, sich nicht auf Felder jenseits der Wege legen und soll das Territorium Lilliputs mit seinen Schritten ausmessen. Insofern er nicht zuletzt Lilliput im Krieg (gegen das benachbarte Blefuscu) helfend zur Seite stehen soll, übernimmt er die Hauptaufgabe des Leviathan: Den Schutz seiner Bevölkerung im Krieg gegen andere. 143 So wird deutlich, dass nicht nur die Beschreibung des Körpers des Königs von Lilliput auf den Leviathan zu beziehen ist, sondern auch der des großen Gullivers: „with a little adjustment of proportions, the emblem [des Leviathan ; T.E.] could easily suggest Gulliver staring out over the metropolis of Lilliput.“ (Seelye- 231) Dass dieser jedoch eingeschworen werden muss auf seine Aufgaben, kann als beißender Kommentar auf den ‚selbstläufigen‘ Charakter der Hobbes’schen Theorie gelesen werden, in der mit der Schaffung des Leviathan alles gewissermaßen automatisch geschieht: 144 „The social contract, Swift would seem to imply, is only as good as Leviathan [d. i. der gigantische Gulliver, der die Position des Leviathan inne hat; T.E.] wills it to be, and the law of self-perservation is more powerful than the invisible chains of government“ (Seelye-237). Entsprechend verlässt Gulliver Lilliput sobald sein Leben bedroht ist, wie John Seelye im Kotext des Zitats deutlich macht. Versteht man den großen Gulliver als ‚Leviathan‘, so ist diese Inszenierung nur als Absage an dessen Staatskonzeption zu verstehen, sowie die Darstellung Golbastos als Subversion kolonialer Herrschaftsansprüche aufzufassen ist - wobei der Kolonialismus dem Leviathan selbst, wie weiter oben mit Bezug auf Manow gezeigt wurde, alles andere als fremd ist. 2.4.2 Politische Körper jenseits des Königskörpers Die Praxis der öffentlichen Hinrichtung ist ebenso fester Bestandteil der symbolischen Körperlichkeit absolutistischer Herrschaft, wie der fiktive Leviathan. 145 Die in diesen realen Praktiken zerlegten Körper dienen als Objekte der ‚Ein- 143 „Die Kriege werden reine Staatenkriege, d. h. sie hören auf, Religionskriege, Bürgerkriege, Parteienkriege oder etwas ähnliches zu sein.“ (Schmitt- 73). Somit hat mit Hobbes der „militärische Staat […] die Kriegshandlungen monopolisiert“ (Matala de Mazza, Körper- 89). 144 „Genauso wie der cartesische Automatenkörper, der von einer Seele zwar bewohnt , aber nicht gesteuert wird, ist auch der Staat Hobbes‘ ein - idealiter - selbstlaufender, als Wirkungszusammenhang der technischen Vollzüge sich gestaltender Staat, dessen ‚Seele‘ die Souveränität ist, der aber - einmal hergestellt und in Bewegung versetzt - der Regierung nicht mehr bedarf, weil die Vernunft selber in ihm arbeitet und ihn mit der Verläßlichkeit eines Uhrwerks funktionieren läßt.“ (Matala de Mazza, Körper- 87) 145 „Im Grunde wirkten auf eine Subjektivierung der Untertanen jedoch schon die grausamen Hinrichtungsrituale hin, in denen sich die Macht des absolutistischen Herrschers 2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit 107 schreibung‘ des politischen Willens der Restitution politischer Ordnung. 146 Auch dieser Teil von Herrschaft wird in den Travels aufgegriffen und zwar durch die Inszenierung einer Hinrichtung in Brobdingnag, in der alles zwölfmal vergrößert erscheint: One Day, a young Gentleman who was Nephew to my Nurse’s Governess, came and pressed them both to see an Execution. It was of a Man who had murdered one of that Gentleman’s intimate Acquaintance. Glumdalclitch was prevailed on to be of the Company, very much against her Inclination, for she was naturally tender hearted: And, as for my self, although I abhorred such kind of Spectacles, yet my Curiosity tempted me to see something that I thought must be extraordinary. The Malefactor was fixed in a Chair upon a Scaffold erected for the purpose, and his Head cut off at a blow with a Sword of about forty Foot long. The Veins and Arteries spouted up such a prodigious quantity of Blood, and so high in the Air, that the great Jett d’eau at Versailles was not equal for the time it lasted; and the Head when it fell on the Scaffold Floor, gave such a bounce, as made me start, although I were at least an English Mile distant. (99/ II.5) Der im zweiten Teil der Travels hingerichtete Körper ist gleich mehrfach dem politischen Kontext verschrieben. Einmal wird über das Mittel des Vergleichs des gewaltigen Blutstrahls mit dem „great Jett d’eau at Versailles “ das Zentrum der französischen Monarchie aufgerufen. Damit wird die Verquickung der Praxis der Hinrichtung mit königlicher Macht explizit gemacht. Der räumliche Abstand, den Gulliver zu diesem Ereignis als ‚objektiver Beobachter‘ einnimmt, misst eine Englische Meile. So wird ein zweiter Kontext königlicher Macht aufgerufen - der englische -, leidlich verborgen als Maßangabe. Diese wiederum wandelt die ungeheure Grausamkeit in ein Größenverhältnis, indem sie eine geografische Maßangabe ins Spiel bringt: Immerhin fast zwei Kilometer vermag der Aufschlag des auf königlichen Befehl hin abgetreten Kopfes zu überbrücken. noch im 18. Jahrhundert spektakulär, brutal und furchterregend inszenierte. Durch die Peinigung des Verurteilten machten diese nicht nur die ‚entfesselte Gegenwart des Souveräns spürbar‘, sie stellten in den ‚anatomischen Demonstrationen‘, den Verstümmelungen und herausgespulten Eingeweiden auch ein geheimnisloses Inneres des kreatürlichen Körpers zur Schau“ (Matala de Mazza, Körper- 116). 146 Vgl. McNallys Lesart, etwa von Texten Shakespeares (bspw. 64-66). Aber auch: „Cromwell, of course, had famously pledged to dismember the radical mass-movement of the 1640s, the Levellers, enjoining that ‘you have no way to deal with these men, but to break them into pieces’. But it was during the next century that dissection emerged as the central trope of all for elimination of riot and disorder. As anatomy became ever more intimately a part of the practice of criminal justice in England, calls to ‘cut off’ the offending members of the body-politic gained wide currency. ‘The corrupt members of a community must be cut off by the sword of justice’, implored Samuel Moody in 1737. Three years earlier, George Osborne had likewise opined that magistrates possessed the right to ‘cut off’ vicious members of society.“ (McNally-72) 108 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Dass dies Gulliver erschreckt auffahren lässt („made me start“), ist dabei zwar vor dem Hintergrund der Drastik dieses Bildes wenig überraschend, für Gulliver ist es jedoch mindestens ungewöhnlich, da sich dieser gerne unberührt zeigt (vgl. auch Karremann-128-133). Die ritualisierte Gewalt öffentlicher Hinrichtungen wird so - über das Mittel des Maßstabes - mit neuem Schrecken erfahrbar, genau wie die Maß- und Ortsangaben die Verantwortlichen der Gewalt benennen (die Monarchien Englands und Frankreichs). Der Körper des in Brobdingnag Hingerichteten wird so zum lesbaren body politic , der sich des Mittels der vergrößerten Darstellung von Körpern, wie sie sich auch auf dem Titelkupfer des Leviathan wiederfindet, bedient. So wird staatliche Gewalt neu erfahrbar, ganz im Sinne der oben beschriebenen Formel gleichzeitiger Transparentmachung und Verfremdung (vgl. Stockhammer, Kartierung -102f.). Im ersten Teil der Travels ist Gulliver der Drohung ausgesetzt, vom Staat exekutiert (bzw. langsam zu Tode gehungert) und anschließend als riesiges Skelett ausgestellt zu werden. Dies rückt eine weitere staatliche Praxis dieser Zeit ins Bild: Die degradierende öffentliche Obduktion (Vgl. McNally-51-59). Diese wird durch die Travels , über das Mittel der Vergrößerung, als besonders grausam ins Bild gerückt: [F]or want of sufficient Food, you would grow weak and faint, and lose your Appetite, and consequently decay and consume in a few Months; neither would the Stench of your Carcass be then so dangerous, when it should become more than half diminished; and immediately upon your Death, five or six Thousand of his Majesty’s Subjects might, in two or three days, cut your Flesh from your Bones, take it away by Cartloads, and bury it in distant parts to prevent Infection, leaving the Skeleton as a Monument of Admiration to Posterity. (59/ I.7) Wie schon angedeutet wurde, ist Gullivers Körper in Lilliput, wo er als Riese erscheint, immer potenziell ein body politic - was ihm droht, erscheint immer auch als potenzielle Reflektion auf die staatliche Ganzheit. Gullivers Körper wird so zu einem Körper, der verstärkt, weil schlicht vergrößert, auf die Gefährdung bestimmter, der politischen Macht ausgelieferten Körper hinweist. Die folgende Passage rückt dieses Verfahren weiter ins Licht: „But again they considered, that the Stench of so large a Carcase might produce a Plague in the Metropolis, and probably spread through the whole Kingdom.“ (26/ I.2) 147 147 Im historischen Kontext lässt sich ein Ereignis isolieren, dass diese Beschreibung womöglich inspiriert hat: „Had the Lilliputians followed through on their plan to kill Gulliver […], their descendants would have seen little more than Londoners saw in 1702 when the skeleton of a whale caught in the Thames was displayed in a field near King Street, Bloomsbury. And the Lilliputians’ anxiety about the stench of Gulliver’s carcass was 2.5 Erdumspannender Kolonialismus 109 Gullivers verrottender Körper würde, aufgrund seiner maßstabsgetreuen Vergrößerung, das gesamte Lilliput verseuchen - seine Gefährdung ist die einer ganzen Gesellschaft. 2.5 Erdumspannender Kolonialismus In Teil IV der Travels ist der Bezug zur Ganzheit komplexer, denn hier wird der ‚Yahoo‘ als eine Figur der Reflexion auf einen erdumspannenden Kolonialismus inszeniert. Ausgangpunkt ist dabei, dass die Körper der Yahoos sowohl dem kolonialen Verhältnis zwischen Irland und England zuzuordnen sind, als auch dem deutlich größeren Zusammenhang der interkontinentalen Praktiken des Kolonialismus. Insbesondere der atlantische Sklavenhandel, die Darstellung der von diesem betroffenen Gruppen, sowie der Konsum kolonialer Güter im heimischen England, die mit der Expansion des Welt-Systems assoziiert sind, werden vom Text so dargestellt. 148 2.5.1 Die Rolle der Yahoos im kolonialen Kontext Die weitere Analyse soll in Abgrenzung zu folgendem, von Claude Rawson aufgemachten Spannungsfeld entwickelt werden: Gulliver’s Travels is not a travel book. Although it is formally a parody of travel writings […], travel writing is hardly its main preoccupation […]. The object of the parody, as often in Swift, is not the main target of the satire, but a vehicle for the expression of more central human concerns. (Rawson, „Gulliver“-2) Erstens ignoriert Rawson, dass sich der Text autoreflexiv auf seine eigene Gemachtheit und damit auch auf das gesamte Genre „travel book“ bezieht. Wie in Abschnitt-III.2.3.1 gezeigt wurde, sind die Travels also eher als „travel book“ schlechthin zu verstehen, 149 weil sie äußerst aufschlussreich auf diese zu dieser Zeit hochpopuläre Textgattung reflektieren. 150 realized when, ten years later, another whale exhibited on a barge near Blackfriars had to be auctioned off quickly because of its smell.“ (Todd-400) 148 Real umfassen diese Praktiken große Teile der Erde - das englische Imperium schließt mit dem transatlantischen Sklavenhandel immerhin drei Kontinente zusammen -, global sind sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, d. h. die Expansion des Welt-Systems hat noch nicht die Gesamtheit der Erde in eine Ein s heit eingeschlossen. 149 Zum Genre Travel Literature vgl. auch Patey-812f. 150 „The most popular books during the reign of Queen Anne, excluding theological and religious works, were accounts of voyages and travels, geographical works, and atlases. Arber attributes the vogue for this kind of book to the huge success of James Knapton’s 110 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Zweitens geschieht die Ablehnung der Bezeichnung „travel book“ zugunsten äußerst unscharfer „central human concerns“, von denen in der Forschungsliteratur zu den Travels oft die Rede ist. Rawson spezifiziert diese „zentralen menschlichen Belange“ später immer noch äußerst allgemein als „radical character of the human animal itself“ („Gulliver“- 2). Des Weiteren kommt er zu dem Ergebnis, dass die „Gulliverian formula“ in folgendem Vorgehen besteht: Es beginnt „as a satire on Irish Yahoss, encompasses not only ‘all savage Nations’, but their conquerors, and all intermediate groups as well“ („Gulliver“- 6). Hier wird eine allumfassende, expandierende Satire beschrieben, die am Ende alle gleichermaßen zum Ziel hat; im Zentrum dieser Beschreibung stehen die Yahoos. Die Beobachtung, dass durch die Yahoos mehrere Gruppen im kolonialen Kontext zur Darstellung kommen, soll dabei im Folgenden nachvollzogen und detaillierter ausgeleuchtet werden. Problematischer ist jedoch die Behauptung, dass diese Satire wesentlich über die Kategorie des Tieres funktioniert, und damit zweitens dem ‚ allgemeinen Menschen‘ sein (‚eigentliches‘) Tiersein ‚nachweist‘: „Yahoo equals human“ (Rawson, „Gulliver“-7). Denn bezieht man die Travels und die Yahoos zu stark auf die Kategorie des ‚Menschen im Allgemeinen‘, so führt dies zu einer Vernachlässigung des historischen Kontextes (und dessen Darstellung durch die Travels ). Damit ist nicht die historische Kontextualisierung jeder Passage in den Travels gemeint, sondern die Konzentration auf bestimmte historische Fakten: A […] critical debate attempts to say just how “historical” Gulliver is. It inquires, more specifically, does or does not Swift’s mode of satire require us to seek particular historical parallels-in, for instance, the infighting between the Tory leaders Oxford and Bolingbroke-for every event […]? Opponents of such “historicized” allegories, rightly dismayed by a deflating pedantry, often retreat altogether from history into notions of universality. […]. Additional emphasis must therefore be given to the fact that the publication of Gulliver in 1726 comes within thirteen years of a key turning point in the history of British colonialism, the English acquisition in 1713 of the “Asiento.” Although English participation in the Afro-Caribbean slave trade dated back to the mid-seventeenth century, acquisition of the Asiento made slave traffic central to the English economic expansion. (Hawes-188) Die verschiedenen Lesarten der Travels bewegen sich demnach in einem denkbar großen Spektrum zwischen „notions of universality“ einerseits und „partipublication of Dampier’s A New Voyage Round the World in 1697, which led other publishers to follow suit“ (Bracher- 59). Weiter: „It was during this ‘Silver Age of Travel’ that such standard collections as those of Harris and the Churchills were published, and the popular interest in such works was exploited by Defoe in a number of books and later satirized by Swift in Gulliver’s Travels .“ (ebd.) 2.5 Erdumspannender Kolonialismus 111 cular historical parallels“ andererseits. Als Ausweg aus diesem Dilemma schlägt Clement Hawes vor, als zentralen historischen Bezug in den Travels nicht primär zeitgenössische Ereignisse der lokalen Innenpolitik heranzuziehen, sondern einen Extrempunkt kolonialer Prozesse, der 13 Jahre vor der Veröffentlichung der Travels 1726 einzutragen ist: die Steigerung der englischen Beteiligung am atlantischen Sklavenhandel. 151 Der englische Imperialismus im Allgemeinen und der Sklavenhandel 152 im Besonderen sind so als zentrale Kontexte der Travels anzusehen, womit der Text weit über die ihm häufig und zurecht zugeschriebene Darstellung der kolonialen Beziehung zwischen England und Irland hinausgeht. Die Beschreibungen der Yahoos, jenen Wesen zwischen Affen und Menschen, denen Gulliver im letzten Teil der Travels auf einer Insel im Pazifik begegnet, provozieren durch die Darstellung noch des kleinsten körperlichen Details Ekel, was als Versuch seitens des englischen Erzählers zu werten ist, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den Yahoos zu generieren. Weiter lassen sich die Beschreibungen der Yahoos intertextuell zweifach zuordnen. Die Darstellung der Yahoos wurde in der Forschung bereits früh auf Darstellungen der ‚monströsen‘ Bevölkerung Irlands zurückgeführt: The monsterisation of the Irish, one of the peoples whose identity Caleb Williams adopts, was particularly significant in the era of Frankenstein . England’s first colony, Ireland had been subjected to the rigours of political anatomy, its lands expropriated, mapped and partitioned. As part of the legitimization-strategy entwined with this project, the Irish were racialised, depicted as a violent, disorderly and uncivilized breed. In fact, in this provocatively titled Political Anatomy of Ireland (1672), William Petty had described Ireland as ‘a Political Animal’ susceptible to anatomisation of the sort carried on ‘common Animals’. The Irish were rebel-monsters in every sense. At home they plotted insurrection, never more dangerously than in 1798 when the United Irishmen made common cause with revolutionary France in its war with Britain. (McNally-84) 151 Weiter ist hier auf Saids Ausführungen aufmerksam zu machen, der sich von rein an der ‚Textualität‘ von Swifts Texten interessierten Lesarten abwendet, hin zu einer Perspektive, in welcher die Texte als „worldly“ gelesen werden, und d. h. als „a part of the social world, human life, and of course the historical moments in which they are located and interpreted.“ ( World- 4) Die Texte Swifts sind so laut Said in erster Linie als „occasional“ zu begreifen, und nicht zuletzt Gulliver’s Travels „occupied his attention in many ways as event, not as art in our sense of the word or as craftmanship for its own sake.“ ( World- 56) 152 „Entre 1630 et 1780, le nombre d’Africains débarquant dans les possessions atlantiques de la Grande-Bretagne dépasse de loin celui des Européens. La fin du XVIII e siècle constitue, de ce point de vue, le grand moment nègre de l’Empire britannique.“ (Mbembe-30) 112 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Die Beschreibungen der Yahoos auf die Iren zu beziehen ist also keinesfalls spekulativ 153 - es ist vielmehr die offensichtlichste Lesart, und das nicht nur, weil Swift wiederholt die irische Situation kommentiert hat. Der anatomische Gestus der Beschreibungen der Yahoos, die diese in abstoßende Körperteile zerlegen, greift den herabwürdigenden Gestus der Petty’schen ‚Anatomie Irlands‘ auf und überführt ihn in eine Parodie. Doch die Bezüge dieser Parodie reichen zusätzlich weit über irische hinaus, wie Laura Brown in ihren Ausführungen zu den Travels deutlich macht. Ausgehend von einer marxistisch-feministisch geprägten Perspektive untersucht sie zunächst die weiblichen Körper, die vom Text inszeniert werden, und fokussiert danach auf die Yahoos. Beginnend mit der Feststellung, dass alle mit Ekel assoziierten, vergrößerten Körper in Teil II des Textes weiblich sind, legt sie dar, wie Gulliver wiederholt in eben die Rolle des ‚weiblichen Anderen‘ gedrängt wird (vgl. hierzu Karremann-99-145). Dies führt zu einer „implicit dynamic of aversion and identification“ (Brown-436). Die gleiche Struktur stellt Brown in Bezug auf die Yahoos heraus, von denen sich Gulliver scharf abgrenzt, nur um immer wieder Ähnlichkeiten feststellen zu müssen - bis die Opposition gänzlich zusammenbricht. Diese Abgrenzungsversuche haben einen intertextuellen Bezug: Brown identifiziert direkte Berührungspunkte zwischen den Beschreibungen der Yahoos und rassistischen Beschreibungen der sogenannten „Hottentotten“ und „negroes“ (Brown-438) in zahlreichen Texten der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. 154 Die Nacktheit der Yahoos, ihre Körperbehaarung sowie ihr als abstoßend beschriebener Geruch, „all belong to the eighteenth-century accounts of racial difference focusing on the Negro“ (Brown-439). Die Beschreibungen der Yahoos sind also zu beziehen auf „the race that was in this period most immediately and visibly the object and human implement of mercantile capitalist expansion.“ (Brown 440) 155 Im Licht dieser Deutungen verweist die Darstellung der Yahoos auf einen rassistischen Diskurs zur Beschreibung von Afrikanern, in dem sich, wie Achille Mbembe es formuliert, „devenir-humain et devenir-animal“ (26) miteinander 153 „Swift did not need to travel half way around the world to find savages, not when they could be found lounging on dung hills of their own making […] with all to visible evidence of material need. The Yahoo insinuating savagery into gentle Gulliver’s consciousness was in fact Swift’s home-grown Irish native“ (Flynn-160). 154 „[S]e mettent en place, notamment au cours du XVIII e siècle, plusieurs discours de vérité sur la nature, la spécificité et les formes du vivant, les qualités, traits et caractères des êtres humains, voire de populations entières que l’on spécifie en termes d’espèces, de genres ou de races et que l’on classe le long d’une ligne verticale.“ (Mbembe-33f.) 155 In der Figur einer jungen weiblichen Yahoo, welche nicht an sich halten kann und Gulliver lustvoll anspringt, als sich dieser für ein Bad entkleidet, überlappen sich schließlich die Themenkomplexe von gender und race . Vgl. hierzu Brown-441. 2.5 Erdumspannender Kolonialismus 113 vermischen; durch diese spezifischen intertextuellen Bezüge verweisen die Travels auf die „économie fictionnelle“, die das Verhältnis Europas zu „cet apparent hors-lieu qu’on appelle Afrique“ (27) bestimmen. Doch die Situation verkompliziert sich noch weiter: This is not to say that the Yahoos are meant to stand for African blacks in any straightforward allegorical fashion. Indeed, the Houynhnhnms also participate in this general allusion to the cultural experience of imperialism: their aversion to untruth is modeled upon the common contemporary notion that native peoples cannot lie. (Brown-440f.) Und selbst damit ist es mit den intertextuellen Bezügen, welche die Yahoos aufrufen, noch nicht getan, denn „the Yahoos are in fact a hybrid creation, a representation also, as in the description of their violent scramble after ‚ shining Stones ‘ and their drunkenness, of European greed, hypocrisy and brutality“ (Hawes-203). Die Yahoos bilden also weder die eine, noch die andere Seite des Kolonialismus ab, weder ausschließlich dessen Akteure, noch dessen Leidtragende, sondern sie stellen - als komplex inszenierte, intertextuell mehrfach referentielle Körper - das koloniale Ganze dar. In Swift’s time, however, such routine degradations of the “Other” were deeply implicated in the historically specific political project of colonialism. Gulliver thus responds less to classical or Rabelaisian models than to the specific discourses of early colonialism. (Hawes-190) Wesentlich ist hierbei, dass die sogenannten ‚Houyhnhnms‘, intelligente Pferdewesen, die die Yahoos als Arbeitstiere halten, Gulliver von Beginn an für einen Yahoo halten. Diese Identifizierung Gullivers als Yahoo wird von diesem, wie schon angedeutet, vehement zurückgewiesen. Im Verlauf des vierten Teils der Travels wird diese Leugnung von Ähnlichkeiten zwischen Gulliver und den Yahoos jedoch unterlaufen, ein Prozess, der seinen Höhepunkt in einer versuchten Vergewaltigung findet - deren Beinahe-Opfer Gulliver ist, der von einer weiblichen Yahoo angegangen wird und daraus ‚logisch‘ schließt, dass er, wenn er die Lust einer weiblichen Yahoo auf sich lenkt, selbst ein Yahoo sein müsse (vgl. hierzu Brown- 441). Ereignisse wie diese führen schließlich dazu, dass Gulliver den Begriff ‚Yahoo‘ zur Selbst beschreibung ebenso übernimmt, wie als Ersatzbegriff für ‚Mensch‘ überhaupt. Der Begriff ‚Yahoo‘ expandiert also - von der Beschreibung einer Gruppe Einheimischer, die auf einer Insel im Pazifik angetroffen werden, bis er schließlich auch Gulliver, sowie explizit Engländer, Portugiesen und, deutlich unschärfer: ‚Menschen‘ im Allgemeinen, beschreibt. Damit ist ‚Yahoo‘ nicht nur die komprimierte Formel eines misanthropischen 114 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Menschenbilds, 156 sondern auch und vor allem eine Formel für den im kolonialen Gefüge eingebundenen Menschen. What we have observed in Book IV of the Travels is not allegory, but a pervasive contextualization in which the shifting status of the male observer, the dynamic of aversion and implication, difference and incorporation, that we have already observed in Swift’s satire is given a specific historical referent: English imperialism and the trade in slaves. (Brown-368) Der koloniale Kontext der Travels findet Ausdruck über die spezifische Inszenierung der Körper der Yahoos, und das nicht als lesbare Allegorie in die eine oder andere Richtung, sondern als historische Verortung: Die Körper der Yahoos sind vom Text aufwendig inszenierte, fleischgewordene Abbilder europäischer Expansion. 2.5.2 „This whole Globe of Earth“: Kompression und kolonialer Konsum Hiervon ausgehend soll nun ein Blick auf eine Textstelle geworfen werden, in welcher Gulliver einem der intelligenten Pferdewesen, den moralisch-idealen Herren der Yahoos, das Leben in England schildert. I enumerated as many sorts [d. i. Fleischsorten; T.E.] as came into my Head, with the various Methods of dressing them, which could not be done without sending vessels by Sea to every part of the World, as well for Liquors to drink as for Sauces and innumerable other Conveniences. I assured him, that this whole Globe of Earth must be at least three Times gone round before one of our better Female Yahoos could get her Breakfast, or a Cup to put it in. (212f./ IV.6) Mit ‚Yahoo‘ ruft Gulliver den beschriebenen kolonialen Bedeutungskomplex auf. „Breakfast“ und vor allem „cup“ evozieren darüber hinaus metonymisch die kolonialen Güter par excellence : Tee und Zucker (und potenziell Schokolade). 157 156 Diese Deutung formuliert Said sehr deutlich: „It is a view with which most readers of Swift and Pope must concur because it is true and it is persuasive. So far as human nature was concerned, Swift was a pessimist, and whether in the final analysis we belong to the ‘hard’ or ‘soft’ school of interpreters of Gulliver’s Travels we must say that taken in isolation the Yahoos represent an idea of human nature that is uncomfortably close to being misanthropic.“ ( World- 73) 157 Auch „cup“ selbst ist ein Importgut - doch dessen Ursprungsland, China, spielt eine andere Rolle, die nicht mit der Rolle der Zucker- und Teelieferanten gleichgesetzt werden kann: „China war 400 Jahre lange die große asiatische Seemacht gewesen. Es verlor diese Stellung um 1430 herum, zu einer Zeit, als das Reich der Ming-Dynastie gegenüber den wiedererstarkenden Mongolen in eine lang andauernde Defensive geriet. Die chinesische 2.5 Erdumspannender Kolonialismus 115 Mit „one of our better Female Yahoos“ bezeichnet Gulliver hier eine Frau der englischen Oberschicht, die er somit ins Zentrum kolonialer und kapitalistischer Vorgänge stellt. Laura Brown hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Text voller Beispiele wie diesem ist, in denen versucht wird, die Verantwortung für den Kolonialismus, sowie „male anxieties of empire“ (Brown 436), auf weibliche Körper und Figuren abzuwälzen. Im Passus wird die dekadente Konsumgier einer Engländer in entsprechend als Grund für die Beschaffung kolonialer Güter aus allen Teilen der Erde angegeben, artikuliert über die FdG ‚ world ‘: „sending vessels by Sea to every part of the World“. Dass das gewählte konkrete Gut hier Fleisch ist, verweist auf die Essgewohnheiten der Yahoos. 158 Die Rede vom Yahoo ist damit als Verfremdung zu verstehen, durch die das Frühstück aus seiner unscheinbaren Alltäglichkeit gerissen wird. Der genaue Charakter dieses Heraushebens aus dem Alltag lässt sich nur durch einen eingehenderen Blick auf die anderen FdG im Passus weiter nachvollziehen. Was Gulliver mit der Formel „I assured him“ versichert - gegen den implizierten Unglauben des zuhörenden Pferdewesens -, ist eine bemerkenswert distanzierte Beschreibung der kolonialen Prozesse des expandierenden Welt-Systems. Diese Distanz-verdient dabei besondere Aufmerksamkeit, denn sie ist untrennbar an die im Passus auftauchenden FdG geknüpft. Die Rede vom „whole Globe of Earth“ kombiniert mit „globe“ und „earth“ zwei FdG. Würde hier nur der „globe“ erwähnt, oder hieße es: „the earth must be three times gone round“, in beiden Fällen würde deutlich, dass die Extension des Planeten Erde bezeichnet werden soll. Die also ohnehin schon gedoppelte Figur wird durch die Hinzufügung des „whole“, sowie durch die Verwendung des bestimmten Partikels „this“, in ihrer Wirkung noch weiter intensiviert. So wird eine verdichtete Figur der Ganzheit entworfen, die sich als hyperbolisch beschreiben lässt, insofern sie verstärkten Aufwand betreibt, um die Erde in ihrer Materialität, geometrischen Körperlichkeit, und als Ganzes zu evozieren. 159 Die Rede vom „whole Globe of Earth“ erzeugt eine Außenperspektive, insofern sich der ‚ganze Globus der Erde‘ nur aus extrinsischer Perspektive fassen und vorstellen lässt. Auch die Rede von der Umrundung der Erde („three times gone round“) setzt eine solche Außenperspektive voraus, denn nur von einem Expansion war für fast 300 Jahre beendet. China interagierte mit der Außenwelt durch ein zunehmend ritualisiertes ‚Tributsystem‘, das den Kaiser immer wieder in seiner Position als Universalherrscher des Ostens symbolisch bestätigte und im übrigen den status quo aufrecht erhielt. Jetzt erst wurde China zu dem abgeschotteten - wenngleich im Inneren durchaus wandlungsfähigen - ‚Reich der Mitte‘, das westliche Beobachter im 17. Jahrhundert kennenlernten.“ (Osterhammel u. Petersson-33) 158 Vgl. Flynn-160f. 159 Die Formel ist jedoch nicht einzigartig, vgl. etwa die Nennung von „the Whole Globe of the World“ (Behn-44) in Aphra Behns Oroonoko . 116 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels vorgestellten, archimedischen Punkt im Außen aus lässt sich eine Erdumrundung auch als eine solche wahrnehmen. Weiter erzeugt das Bild einer immerhin dreifachen Umrundung der Erde die Vorstellung einer Beschleunigung und einer damit einhergehenden ‚Schrumpfung‘ der Erde, die somit verkleinert und anschaulich vor den impliziten Betrachter gerückt wird. Das erwähnte Frühstück ist im Kontrast dazu bemerkenswert weit von einer solchen Außenperspektive entfernt, insofern dieses eine häusliche englische Mikroszene evoziert. Das Frühstück wird im zitierten Passus nachhaltig, und durch die Kombination zweier Mittel, aus seinem domestischen Rahmen enthoben. Denn erstens verweist die Textstelle durch das Aufrufen des „whole Globe of Earth“ auf den Hintergrund eines Kolonialismus, der auf der ganzen Erde und mit zunehmender Geschwindigkeit operiert. Die verdichtete Figur des „whole Globe of Earth“ kann so als eine Hyperbel verstanden werden, die auf eine Entautomatisierung der Rede vom Ganzen abzielt. Zweitens scheint in der Wechselwirkung zwischen dem Körper der Yahoo und der beschriebenen FdG eine neue, komplexe Konzeption von Ganzheit auf, wie sie erst in jüngeren Globalisierungstheorien benannt wurde: eine ‚Welt‘, „ one […] and unequal “ („World-Systems“ 70), wie Franco Moretti sie in Anlehnung an Wallerstein definiert hat. Denn zwar wird der Aspekt des Eins -Seins durch „this whole Globe of Earth“ eindeutig aufgerufen, der Aspekt der Asymmetrie findet sich jedoch im Körper der Yahoo, der als Hypotypose die Ausweitung des Kolonialismus abbildet, ebenso dargestellt. Der ohnehin schon polyreferentielle Körper der Yahoos tritt hier in seiner hauptsächlichen Funktion auf, denn er positioniert alles und jeden im Text im selben globalen Zusammenhang . 2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit Im dritten Teil trifft Gulliver auf eine fliegende Insel, deren Flugbahn von ihren Bewohnern gesteuert wird; diese Bewohner sind einerseits gefürchtete Herrscher des Landes unter ihnen und erscheinen andererseits als ‚weltfremde‘, verkopfte Sonderlinge, die lieber die Sterne als die Erde unter sich betrachten. Der dritte Teil der Travels wird in der Regel gelesen als Satire auf die New Sciences und eine ihrer wichtigsten Institutionen: die Royal Society . Im Zuge dieser Lesarten wurde Teil III weiter als Artikulation einer antiwissenschaftlichen Haltung gelesen, die durch die Satire der New Sciences zum Ausdruck kommt (vgl. Patey- 809). Dieser Aspekt der Lesarten muss jedoch eingeschränkt werden, insofern in diesen ein modernes Verständnis vom Begriff ‚ science ‘ auf den Text anwendet wird, das nicht mit dem textimmanenten Verständnis identisch ist; Swifts Text wird also allzu leichtfertig zum Gewährsmann der Ablehnung 2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit 117 von ‚Wissenschaft‘ erklärt. Denn Gullivers Kritik an den wissenschaftlichen Praktiken der Bewohner Laputas in Teil III ist keine allgemeine und durchweg antiwissenschaftliche, sie zielt vielmehr darauf, aufzuzeigen, dass die New Sciences ihren eigenen Maßstäben und Ansprüchen nicht gerecht werden, und thematisiert so allgemeiner den Streit zwischen Moderns und Ancients : For it is only in the eighteenth century, in the context of the quarrel between Ancients and Moderns, that our notions of “science”-of the “sciences” as distinct from and opposed to the “arts” and “humanities,”-and of “science” as distinctly progressive-begin to emerge. Like his fellow Ancient Pope, Swift is aware of this shift and satirizes the new division of knowledge from the point of view of an older one. (Patey-810) Die Parodie ist demnach nicht als Angriff auf ‚alle Wissenschaft‘ zu verstehen, sondern als präzise Kritik eines spezifischen epistemischen Konflikts. Die New Sciences im Allgemeinen und die Royal Society im Besonderen stehen im Fokus der Attacke - diese wurde jedoch hinsichtlich ihres Ziels missverstanden. Diesen Untersuchungsergebnissen zum Verhältniss der Travels zu den New Sciences soll nun ein neuer Aspekt hinzugefügt werden, der nicht das Was, sondern das Wie dieser Satire betrifft, ausgehend von der Rolle von Ganzheit im dritten Teil der Travels . Die besuchte fliegende Insel ist voller Globen und sogenannter ‚Sphärenmusik‘ - und damit voll von Gegenstände und Themen, die sich zu einer idealisierenden Außen-Perspektive auf Ganzheit rechnen lassen. 160 Globen stellen geradezu die Objekte einer idealisierten Darstellung der Erde dar, 161 Sphärenmusik wird traditionell mit Harmonie und Schönheit assoziiert, insofern sie beim Anblick der Erde von einem Punkt im Außen gehört wird (hervorgerufen durch die Kristallschalen, auf denen die Planeten ihre Bahnen ziehen). 162 160 Die Besessenheit von der Außenperspektive auf die Erde, die genauer gesagt die einzig bekannte und relevante Perspektive auf dieser fliegenden Insel darstellt, ist an die Teile I und II der Travels anschließbar, insofern die extrinsische Perspektive zu der kartografischen gehört, die stets einen archimedischen Punkt im Außen konstruiert, von dem aus auf die Erde geblickt wird. Doch in Teil III wird die extrinsische Perspektive als astronomische inszeniert. 161 Nach Cosgrove beschreibt globe „the planet with the abstract form of spherical geometry, emphasizing volume and surface over material constitution or territorial organization.“ (7f.) Globe ist damit „distanciated as a concept and image rather than directly touched or experienced. As a globe, the planet is geometrically constructed, its contingency reduced to a surface pattern of lines and shapes“ (ebd.). 162 „Apollonian music was created by the mathematical harmony of revolving cosmic spheres. In competition with earthly music, Apollo’s was always victorious, its harmony exceeding the audible. The German word Stimmung captures this ‘tuning’ of a vital earth to a resonant, universal harmony. It complements the lucent geometry of solar light. The figure of Apollo thus prompts the conception of a unified world, a sphere of perfect beau- 118 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Weiter kann eine enorme Dichte an astronomischen Instrumenten auf Laputa konstatiert werden, die nicht zuletzt in einer Art Lagerstätte im Zentrum der Insel angehäuft werden: „The place was stored with great variety of Sextants, Quadrants, Telescopes, Astrolabes, and other Astronomical Instruments“ (141/ III.3). Und auch die Gemächer des Königs geben ein ähnliches Bild ab: „Before the Throne, was a large Table filled with Globes and Spheres, and Mathematical Instruments of all kinds.“ (134/ III.2) Beide Zitate sollen hier nur als Beispiel verstanden werden für eine Fülle weiterer Textstellen dieser Art. 163 Die Position der Insel Laputa selbst - über der Erdoberfläche schwebend - inszeniert ein weiteres Mal diese Außenperspektive als Blick von oben. Die Bewohner Laputas nehmen also von Anfang an eine erhöhte Außenposition ein, doch geht damit kein Über-blick einher. Stattdessen identifiziert der dritte Teil der Travels den Blick aus erhöhter Position mit dem Blick auf den Globus und allgemeiner der astronomischen Perspektive auf die Erde, die mit einem Abgeschnitten-Sein von der Ganzheit assoziiert wird. Laputa ist „an island disconnected both literally and metaphorically from the earth below“ (Patey-817). All dies läuft hinaus auf die Darstellung der Bewohner Laputas als lebensfern und sinnenfeindlich. So fürchten sie etwa besonders: That the Sun daily spending its Rays without any Nutriment to supply them, will last be wholly consumed and annihilated; which must be attended with the Destruction of this Earth, and all the Planets […]. They are so perpetually alarmed with the Apprehensions of these and the like impending Dangers, that they can neither sleep quietly in their Beds, nor have any relish for the common Pleasures or Amusements of Life. (139/ III.2) Die Satire der New Sciences wird so verschränkt mit dem Themenkomplex der Außenperspektive auf die Ganzheit. Die extrinsische Perspektive gibt der Satire der New Sciences ihr Bildmaterial und erweitert ihren Bezug dramatisch, wie im Folgenden zu zeigen ist. 2.6.1 Der Globus und die Sicht der Herrscher Zunächst ist zur weiteren Kontextualisierung auf die komplexe Geschichte des Globus 164 einzugehen. Dabei ist zu bedenken, dass sich engl. globe (oder auch ty and immeasurable vitality, bathed in a beatific gaze. Plato describes such a perspective in Phaedo “ (Cosgrove-3). 163 Vgl. vor allem Swift, Travels 133-140/ III.2. 164 „Globen sind dreidimensionale, im Maßstab minimierte Modelle der Erde, was sie von den zweidimensionalen, planar gestalteten Karten abhebt. Die Kugelmodelle können darüber hinaus andere Sternbilder und Himmelskonfigurationen integrieren.“ (Oster-535) 2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit 119 franz. globe ) nicht ohne Weiteres durch ‚Globus‘ übersetzen lässt, da das deutsche Wort in erster Linie eine spezifische geografische Darstellung des Planeten bedeutet (zur besonderen Betonung dieses Umstandes könnte man im Deutschen in diesem Zusammenhang vom ‚Tischglobus‘ sprechen) und auf diesen selbst nur im Modus einer doppelten metaphorischen Übertragung bezogen wird. Über Tischgloben lässt sich sagen: Besonders in der Frühen Neuzeit war ein Globus ein allererst gesellschaftlich verankertes Gebilde, in dem sich mehrere diskursive Schaltstellen der Öffentlichkeit verschränken. Globen repräsentierten den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft oder den, der dafür gehalten oder ausgegeben werden sollte. Sehr eng verbunden war die Ausfertigung von Globen mit den staatlichen Akademien, beispielsweise der Académie française in Paris oder der Royal Society in London, so dass tatsächlich immer mehrere Wissensgebiete am Entstehungsprozess eines Globus beteiligt waren. (Oster-544) So ist eine „enge Interferenz von Globus und Macht“ (Oster-539) zu konstatieren, insofern Globen nicht zuletzt Objekte sind, „welche als Prunkgegenstände repräsentative Räumlichkeiten“ (Oster-544) schmücken und den Einfluss ihrer Produzenten - etwa der Royal Society , auf die Angela Oster explizit hinweist - abbilden; „Globen sind und waren nie bloß technische Apparaturen. Sie sind - sicherlich auch auf der Basis ihres faszinierenden Bildpotenzials - immer schon von erheblichen Anteilen der Imagination und der Ideologie begleitet gewesen.“ (Oster- 536) 165 Dass beides nicht ohne Weiteres voneinander getrennt werden kann, schildert Cosgrove konzis: „Harsh realities of rule have been softened into apparent harmony by the peaceful coherence of the synoptic vision.“ (5) Das beschriebene Bildfeld der Harmonie und die „harsh realities of rule“ sind somit im Globus miteinander verwoben. Weiter gilt: „Disk or sphere, modelled, pictured or mathematically projected, the globe is known through its representations. And representations have agency in shaping understanding and further action in the world itself.“ (Cosgrove x) Die Beschreibung der Bewohner Laputas hat über die Assoziation mit der extrinsischen Perspektive hinaus auch einen Bezug auf gute/ schlechte Politik, den Swifts Text wie folgt benennt: 165 Eher indirekt - aber nicht weniger eindeutig - fasst Sloterdijk diesen Zusammenhang in folgender Beschreibung: „In jedem Erdglobus, der die Audienzräume und Bibliotheken, die Herrenzimmer und Salons des gebildeten Europas zierte - bis 1830 in Gesellschaft seines obligaten Zwillings, des Himmelsglobus -, verkörpert sich die neue Lehre vom Vorrang eines Außen, in das die Europäer als Entdecker, Eroberer, Missionare, Händler, Berichterstatter und Touristen schicksalhaft vorstoßen, um sich zugleich vor ihm zurückzuziehen in ihre kunstvoll austapezierten Innenräume, die jetzt mit dem spezifischen Kolorit des 19. Jahrhunderts Interieurs oder Privatsphären heißen.“ ( Sphären II -829f.) 120 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels I observed in them [the strong Disposition] towards News and Politicks, perpetually enquiring into Publick Affairs, giving their Judgments in matters of State; and passionately disputing every Inch of a Party Opinion. I have indeed observed the same Disposition among most of the Mathematicians I have known in Europe, although I could never discover the least Analogy between the two Sciences; unless those People suppose, that because the smallest Circle hath as many Degrees as the largest, therefore the Regulation and Management of the World require no more Abilities than the handling and turning of a Globe. (138/ III.2) Das infantile Drehen eines Globus wird als Bild für lebensferne Politik gewählt. Der Globus wird hier mit einer rückhaltlosen ‚Mathematisierung‘ aller Lebensbereiche identifiziert - vor allem der „Politicks“ und „Publick Affairs“, die doch „keinerlei Analogie“ zur Mathematik unterhalten -, insofern er als stark verkleinerte Repräsentation der Ganzheit die massive Reduktion, die im Zuge der ‚Mathematisierung‘ durchgesetzt wird, ins Bild rückt. Das „turning of a Globe“ und „the Regulation und Management of the World“ können nur aus der Perspektive einer solchen Mathematisierung miteinander verschmelzen, ausgedrückt durch das der Geometrie entlehnte Argument, dass der „smallest circle hath as many Degrees as the Largest“. Der Globus liefert so das Bild für eine unzulässige, grenzenlose Mathematisierung, wie sie ein falsches Politikverständnis vornimmt. Über die Satire der New Sciences wird so eine explizit als europäisch identifizierte („Mathematicians I have known in Europe “), politische Haltung bloßgestellt. Bildspender dieser Mathematisierung ist die Ganzheit als geometrischer Körper, als Kugel mit bestimmter Winkelsumme (360 Grad, wie alle ‚Kreise‘), über die eine simple Handlung - das Drehen eines Globus - mit Weltpolitik satirisch in Eins gesetzt wird. Der Umstand, dass der Globus eine Kugel ist, wird auf Laputa zum Vehikel einer entfesselten Mathematisierung/ Reduktion. 166 FdG spielen dabei eine tragende Rolle: Denn das In-Kontrast-Setzen des „Management of the World “ zum „turning of a globe “ (Hervorhebungen T.E.) kann die Unvereinbarkeit von beidem deutlich aufzeigen, indem die Verwendung von ‚ world ‘ im einen und ‚ globe ‘ im anderen Fall den Unterschied zwischen beiden Tätigkeiten unterstreicht. 2.6.2 Die blinde Außenperspektive der Kolonialherren Gulliver hat anfänglich einige Probleme, die Bewohner der fliegenden Insel durch Rufen und Winken auf sich aufmerksam zu machen - und das nicht nur, weil er bei der ersten Begegnung noch auf der Erdoberfläche, unter der 166 Dies gilt nicht zuletzt für Sloterdijks Ansatz, dessen Globalisierungstheorie auf eben jener Vereinfachung beruht (vgl. hierzu Abschnitt-IV). 2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit 121 schwebenden Insel, steht. Denn die Kommunikationsprobleme werden fortgesetzt durch die Tatsache, dass Gulliver auch auf der Insel nicht ohne Weiteres die Aufmerksamkeit ihrer Bewohner auf sich ziehen kann. So müssen diese erst über Augen und Ohren ‚gestrichen‘ werden, um sie aus den Tagträumen mathematischer oder astrologischer Spekulation, in die sie konsequent verstrickt sind, ins Hier und Jetzt einer Konversation zu holen. 167 Diese Problematik wird an zentraler Stelle im Text durch die Beschreibung der - körperlich detailliert ausgestalteten - Blindheit der Bewohner Laputas thematisiert. Die Schilderung liest sich wie folgt: Their Heads were all reclined either to the Right, or the Left; one of their Eyes turned inward, and the other directly up the Zenith. Their outward Garments were adorned with the Figures of Suns, Moons, and Stars, interwoven with those of Fiddles, Flutes, Harps, Trumpets, Guittars [sic], Harpsicords, and many more Instruments of Musick, unknown to us in Europe. (133f./ III.2) Ein Auge blickt stets nach oben zum Himmel, das andere ist permanent zum Inneren des Kopfes hin verdreht, der Kopf im Ganzen ist nach links oder rechts gerichtet; der Blick ist also in jeder nur erdenklichen Weise blind für die unmittelbare, vor dem Gesichtsfeld liegende Umgebung. Die Unterscheidung Rechts/ Links verliert alle Bedeutung: wohin auch immer der Kopf dieser Wesen gerichtet ist, der Blick ist stets nach oben und nach innen gerichtet. Dieser Blick bildet jedoch gleichzeitig auch die extrinsische Perspektive auf die Ganzheit ab. Denn der Blick des nach oben zeigenden Auges richtet sich zum Himmel und studiert diesen ohne Unterlass: „These People are under continual Disquietudes, never enjoying a Minute’s Peace of Mind […]. Their Apprehensions arise form several Changes they dread in the Celestial Bodies.“ (138/ III.2) Dieses Studium, aus dessen Perspektive die Erde als ein Himmelskörper unter vielen erscheint, macht die Erde zum Objekt eines Außen-Blicks. Der Blick des nach innen gerichteten Auges verweist, strukturell betrachtet, ebenfalls auf die Außenperspektive, denn der archimedische Punkt im Außen, den eine astronomische Perspektive konstruiert, dient dieser als Angelpunkt eines Blickes zurück auf die Erde - abgebildet durch den Blick des zweiten Auges ins Innere des Kopfes. Die Bewohner der fliegenden Insel blicken also auf eine Art und Weise, die die nötigen Perspektiven und Abstraktionen, die das Darstellen und Vorstellen der Erde als Himmelskörper voraussetzen, wiedergibt. 168 Die Körperlichkeit dieser 167 Vgl. zur Rolle der Konversation in Swifts politischen Schriften Said, World- 57-59. 168 „Nor does Swift possess what was only emerging in this time, a distinct concept of what were coming to be understood as ‘fine’ arts. It has been tempting to read a modern dis- 122 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Darstellung lässt den Blick jedoch als Blindheit erscheinen, die eine lebensferne Politik zur Darstellung bringt. Dies steht der Harmonie, mit der die astronomische Außenperspektive traditionell assoziiert wird, dezidiert entgegen. Die Darstellung der astronomischen Außenperspektive als körperlich inszenierte Blindheit verweist außerdem auf eine andere, in den Travels äußerst präsente, zeitgenössische Praktik, die Hawes wie folgt beschreibt: Based on the actual practice of exhibiting “unusual” human beings, [certain impulses of voyeurism and exploitation] could be termed the topos of display […]. […]. In Swift’s time, between 1704 and 1709, a West Indian “midget” was similarly displayed at Leeds and in Lincoln’s Inn Fields […]. In the winter of 1711-12, while Swift still lived in London, this same midget and his pregnant wife were displayed (as the vastly popular and well-advertised “Little Family”) at Charing Cross by a showman who exulted in print about the prospect of “breeding” them […]. […] [T]he display of colonized people went beyond such exoticism: […] the exhibition of West Indian midgets constituted a specifically colonial mode of voyeurism, a cultural politics that reinforced slavery. (Hawes-191) Betrachtet man die Darstellung der Bewohner Laputas vor diesem Hintergrund, so wird deutlich, dass sich diese in den Kontext der Spektakel einer Londoner Straßenshow, die „prodigies and monsters“ (Todd-401) zeigt, einordnen lassen. Doch wird in Teil III der Travels nicht das kolonisierte Gegenüber dem voyeuristischen Blick ausgesetzt. Denn die Bewohner Laputas sind die Träger einer dezidiert westlichen Perspektive, wie sie mit den New Sciences assoziiert ist. Damit werden mit den Inselbewohnern die Kolonialherren anstelle der Kolonisierten zum Gegenstand des topos of display . Die im Text stellenweise erstaunlich deutliche Ablehnung des extrinsischen Blicks auf die Ganzheit wird so ergänzt durch die Anwendung des topos of display auf die Bewohner Laputas. Weiter wird dieser Topos sogar noch verschärft, denn die Entstellung des Angesehenen ist identisch mit dessen Blindsein, der so den voyeuristischen Blick nicht einmal erwidern kann. Weiter verkompliziert wird dieser Passus durch die Kleidung der Bewohner der fliegenden Insel, die mit astronomischen und musikalischen Motiven bestickt ist und den Topos der Sphärenklänge aktualisiert (und mit ihm die spezifische Perspektive auf die Erde als harmonisch-schöne Ganzheit). 169 Die tinction (and opposition) between science and art (or the sciences and the humanities) into Gulliver’s famous summary of Laputan deficiencies“ (Patey-811). 169 „To achieve the global view is to lose the bonds of the earth, to escape the shackles of time, and to dissolve the contingencies of daily life for a universal moment of reverie and harmony. Reverie is the closest English translation of the Latin somnium, the sense of imaginative dreaming long associated with rising over the earth.“ (Cosgrove-3) 2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat 123 Sphärenmusik wird so reduziert auf das ornamentale Muster der Bekleidung der Inselbewohner - die Symbole kosmischer Harmonie bekleiden nur mehr die weltfremden Personifikationen eines in zwei Richtungen geteilten Blickes. Zuvor wurde die Außenperspektive auf die Ganzheit als Globus mit einer ‚schlechten‘ europäischen Politik assoziiert, die im infantilen Drehen eines Globus ihr Bild fand. Doch der Text schreibt die Außenperspektiv zusätzlich und auf völlig andere Art in den Kontext kolonialer Praktiken ein, indem der Text den topos of display gegen den Kolonialherren und dessen ‚Weltsicht‘ wendet, und somit von seinem üblichen Gegenstand - den Kolonisierten - abwendet. Die extrinsische Blickposition des Kolonialherren, die die Erde zum Tischglobus reduziert, wird als blinder Blick lächerlich gemacht. 2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat Am Ende der Travels ist Gulliver unfähig mit seiner Umwelt in England zu interagieren. Seine Reisen haben ihn nicht zu einem weltgewandten Kosmopoliten werden lassen, sondern haben ihn vielmehr - so will es die Sekundärliteratur mehrheitlich - dem Wahn übergeben, „a reflection on the dead end of exoticism through Gulliver’s curious acquisitions from his various voyages.“ (Aravamudan 237) Rekapituliert man die vier Reisen, so fällt deren äußerst statischer Charakter auf: vier Reisen, die allesamt zielsicher ins (stetig weniger heimische) England zurückführen. Eine Formel Sloterdijks aufgreifend könnte man vom Wandel von ‚Heimaten‘ in ‚Standpunkte‘ sprechen: Standorte sind ehemalige Heimaten, die sich dem entzauberten und sentimentalen Blick von Rückkehrern aus dem Außen darbieten. An ihnen macht sich das Raumgesetz der Neuzeit geltend: daß man nicht länger den eigenen Ort als Nabel des Seienden und die Welt als dessen konzentrisch angeordnetes Umfeld deuten kann. Wer im Heute lebt, nach Magellan, sieht sich genötigt, auch die Heimatstadt als einen von außen wahrgenommenen Punkt zu projizieren. ( Sphären II- 825) Es ist nützlich, hier an die Lesart Todds zurückzudenken, laut der die Travels- die Inhalte von Londoner Straßenshows auf die weißen Flecken der Weltkarte projizieren. Das Geschehen der Travels- ist also von Beginn an, zumindest für sein zeitgenössisches Publikum, gleichermaßen lokal und weit entfernt. Die Schilderung der vier Reisen ist somit als ein detailliertes Ausbreiten einer komplexen Konzeption von Ganzheit zu fassen, im Spannungsfeld zwischen lokal und remote einerseits und zwischen der Ein s heit und Asymmetrie andererseits. So betrachtet ist die statische Struktur Teil der im Text immer schon eingeschriebenen Erkenntnis, dass alle im Text inszenierten Orte und Ereignisse Teil desselben 124 2 Jonathan Swifts Gulliver's Travels Zusammenhangs sind, der seine Begrenzung zwar in der Oberfläche der Erde findet, sein fantastisches Potenzial jedoch aus der Tatsache ziehen kann, dass diese kartografisch noch nicht zur Gänze erfasst ist. 3 Voltaires Candide ou l’Optimisme 3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive (Micromégas) Voltaires Micromégas: Histoire philosophique (1752) 170 erzählt die Geschichte zweier gigantischer Außerirdischer (der von einem Planeten des Siriussterns stammende Protagonist Micromégas und ein Bewohner des Saturn), die im Zuge einer ko(s)mischen „Bildungsreise durch das Sonnensystem“ (Koppenfels-38) - eher zufällig - die Erde besuchen. Dabei „spielen Größenverhältnisse und Perspektivenwechsel eine wichtige Rolle“ (Hellwig-141). Aus der Sicht der riesigen Außerirdischen erscheint die Erde als äußerst kleiner Himmelskörper, dessen Bewohner für sie erst durch optische Hilfsmittel sichtbar werden; ihr Kontakt mit den Menschen beschränkt sich dabei auf die Besatzung eines Forschungsschiffes, welches sich auf dem Weg zum Nordpol befindet. 171 Im weiteren Verlauf entwickelt sich ein Gespräch zwischen den Außerirdischen und den Menschen, in welchem die Außeririschen von den Fähigkeiten der winzigen Menschen einerseits beeindruckt sind (besonders, dass diese die Größe der Außerirdischen auszumessen im Stande sind, nötigt ihnen Respekt ab) 172 , und andererseits über deren Arroganz und philosophisch-denkerische Unzulänglichkeit Entsetzen äußern. Durch die außerirdische Perspektive auf die Erde wird eine beißende Satire auf die im Text als allgemein-menschlich inszenierte Hybris entfaltet. 173 Die Ausmessung der Größe Micromégas’ durch die Menschen wird im Text wie folgt beschrieben: Nos philosophes lui plantèrent un grand arbre dans un endroit que le docteur Swift nommerait, mais que je me garderai bien d’appeler par son nom à cause de mon grand 170 Im Folgenden zitiert nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Kapitel‘. 171 „Die beiden Reisenden treffen auf der Erde ein, als die berühmte Expedition von Maupertuis auf der Rückreise aus Lappland sich gerade in der Ostsee befindet. Voltaire benutzt zum Spott […], daß die Zeitungen schon den Schiffbruch der Expedition gemeldet hatten.“ (Blumenberg, Schiffbruch- 42) Dabei werden die „geographische Entdeckerfreude und der naturwissenschaftliche Forscherdrang des aufgeklärten Zeitalters […] in paradoxer Umkehrung gegen den Menschen selbst gewendet, der vom Subjekt zum Objekt distanzierter Beobachtung mutiert.“ (Koppenfels-38) 172 „Obwohl der Mensch, physisch gesehen, klein und unbedeutend ist, hat er dennoch das Potential für naturwissenschaftliche Entdeckungen.“ (Hellwig-141) 173 Blumenberg schreibt hierzu: „Die menschliche Geschichte ist ein kosmisch unmerkliches Ereignis.“ ( Schiffbruch- 42) 126 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme respect pour les dames. Puis, par une suite de triangles liés ensemble, ils conclurent que ce qu’ils voyaient était en effet un jeune homme de cent vingt mille pieds de roi. (35/ 6) Swift findet hier explizit Erwähnung, womit der durchgängige intertextuelle Bezug des Textes auf die Travels deutlich gemacht wird. Der noch vorstellbare Größenverhältnisse produzierende Maßstab 1: 12 (und dessen Inversion 12: 1), der die ersten zwei Teile der Travels strukturiert, und dort „das Dargestellte transparent [macht] und [es zugleich] verfremdet“ (Stockhammer,- Kartierung 102f.), wird in Micromégas überführt in ein die Vorstellungskraft überstrapazierendes Spiel mit unvorstellbar großen Zahlen und Ausmaßen. So misst Micromégas laut dem zitierten Passus 200.000 „pieds de roi“; an anderer Stelle im Text wird Micromégas‘ Größe als „huit lieues de haut“ (15/ 1) umfassend angegeben, was einer Höhe von in etwa 32 Kilometern entspricht - eine nicht mehr überschau- und vorstellbare Körpergröße. Dass die Körper der Außerirdischen anthropomorph sind, wird dabei nie explizit thematisiert, jedoch immer wieder im Zuge von Andeutungen vorausgesetzt: so haben sie Hände und Füße, lachen, bewegen sich wie Menschen etc. Wie bei Swift gewinnt die Veränderung der Größenverhältnisse in erster Linie aus der Inszenierung von menschlichen Körpern ihr bildliches Material: das Spiel mit den Größenverhältnissen extraterrestrischen Ursprungs verbleibt somit, gleichwohl es den Bereich des Überschaubaren verlässt, trotzdem stets innerhalb eines eindeutig menschlichen Bezugsrahmens, insofern dieser vom anthropomorphen Körper bestimmt wird. ‚Proportional‘ zu seiner gewaltigen Größe verfügt Micromégas über „près de mille sens“ (20/ 2), und sogar die Vorstellung der Proportion selbst wird von diesem eskalierenden Verfahren erfasst: „La taille de Son Excellence étant de la hauteur que j’ai dite, tous nos sculpteurs et tous nos peintres conviendront sans peine que sa ceinture peut avoir cinquante mille pieds de roi de tour- : ce qui fait une très jolie proportion.“ (16/ 1) Die hier evozierte Vorstellung von Proportion, 174 welche eine Ausgewogenheit in der körperlichen Gestalt transportiert, wirkt im Kontrast zu den gigantischen Ausmaßen fehl am Platz, insofern diese 174 Vgl. hierzu die folgenden allgemeinen Ausführungen Carol Flynns zum Verhältnis zwischen Körper Porportionalität: „Ideally, the body discloses harmonious, divine proportions, matter made in God’s image. [In the Renaissance] […] the ideal of bodily proportion provided a representational model richly symbolic that could be applied to individual, social and governmental ideals of hierarchy and order. […] [B]y the mid-seventeenth century, this idea of proportion had broken down. In spite of the popular adoration of harmonious ‘nature,’ by the eighteenth century, the body, unresolved, ill formed, blocks the way to an understanding, let alone an appreciation, of nature regularized.“ (15) 3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive ( Micromégas ) 127 eben nicht mehr visuell vorstellbar sind, und daher den „sculpteurs et […] peintres“ eher fremd sein müssten. 175 Im Kontrast zu den außerirdischen Körpern können die Menschen somit extrem klein erscheinen: auf der Handfläche Micromégas’ finden die Menschen samt ihrem Forschungsschiff Platz (vgl. 29/ 5) und treten aus dieser besonderen Position heraus in Konversation mit den Außerirdischen. Wie bei Swift wird die Vorstellung einer Vergrößerung/ Verkleinerung jedoch auch über das dominante Feld des Körpers hinaus auf andere Bereiche übertragen. So werden etwa in Swifts Text die Kinder auf der kleinen Insel Lilliput sehr früh verheiratet, einer stillschweigend vorausgesetzten, aber nicht näher ausbuchstabierten Proportionalität zwischen zeitlichen und räumlichen Einheiten folgend. 176 „Voltaire, der in satirischer Technik einiges von Swift gelernt hat“ (Koppenfels-38), übernimmt diese Schein-Logik der Travels : Ein Gerichtsprozess auf dem Heimatplaneten des Micromégas dauert ‚entsprechend‘ mitunter 120 Jahre (vgl. Voltaire, Micromégas - 17/ 1). Analog dazu hat Voltaires Micromégas eine Lebenserwartung von 700 x 15.000 Jahren; das Ergebnis dieser Rechnung (10.500.000 Jahre) gibt der Text nicht an und sperrt sich so noch ausdrücklicher gegen die Nachvollziehbarkeit der inszenierten (hier: zeitlichen) Dimensionen, die sich stets aus der Größe der Körper ableiten. Von dieser Veränderung der Größenverhältnisse abgesehen ist die Lebenswelt der Außerirdischen jener der Menschen jedoch bemerkenswert ähnlich: „Yet, as in the physical constitution of the planets, there are remarkable similarities in the psychological makeup of the inhabitants of the planets and the lives they lead […]. For example, Sirius, in spite of its bulk, is not less plagued than Earth by intolerance and censorship.“ (Cherpack- 512) Die einzige Ausnahme stellt hierbei die Thematik des Krieges dar, der den Außerirdischen unbekannt zu sein scheint und insofern eine Sonderrolle einnimmt (vgl. Cherpack-513f.). Auf diesen speziellen Zusammenhang - Krieg und Ganzheit - wird noch ausführlich einzugehen sein, insofern diese Leerstelle in Candide verstärkt angesprochen wird. Das Swift’sche Verfahren einer Manipulation der Größenverhältnisse über den Maßstab 1: 12/ 12: 1 wird in Voltaires Micromégas durchgängig ins Unvorstellbare gesteigert. 175 Zu dieser Rechnung vgl. diese Angabe: „Hélas-! nous ne vivons, dit le Saturnien, que cinq cents grandes révolutions du soleil (Cela revient à quinze mille ans ou environ, à compter à notre manière.)“ (Voltaire, Micromégas- 20/ 2). Micromégas wiederum lässt verlauten, dass „notre vie est sept cents fois plus longue que la vôtre“ (ebd.). 176 „When the Girls are twelve Years old, which among them is marriageable Age, their Parents or Guardians take them home“ (Swift, Travels- 52/ I.6). 128 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Die Veränderung der Größenverhältnisse wird auch auf die Beschreibung der Heimatplaneten der Außerirdischen ausgeweitet, die - entsprechend der körperlichen Größe ihrer Bewohner - von ungeheuren Ausmaßen sind: Quelques algébristes, gens toujours utiles au public, prendront sur-le-champ la plume, et trouveront que, puisque monsieur Micromégas, habitant du pays de Sirius, a de la tête aux pieds vingt-quatre mille pas, qui font cent vingt mille pieds de roi, et que nous autres, citoyens de la terre, nous n’avons guère que cinq pieds, et que notre globe a neuf mille lieues de tour-; ils trouveront, dis-je, qu’il faut absolument que le globe qui l’a produit ait au juste vingt et un millions six cent mille fois plus de circonférence que notre petite terre. (15f./ 1) Die inszenierten Körper werden so auf planetare Ganzheiten bezogen - und umgekehrt; die Größe beider leitet sich von der jeweils anderen proportional ab. Dieses satirisch überspitzte, proportionale Größenverhältnis zwischen Körpern und Planeten wird weiter ironisch als von zwingender Notwendigkeit inszeniert („il faut absolument“). Im Kontrast zu diesen riesigen Körpern und Himmels körpern erscheint die Erde als sehr kleine Ganzheit: der Erzähler spricht von „notre petite terre“ (Hervorhebung T.E.). Das Verfahren der Ins-Verhältnis-Setzung von Körpern mit Himmelskörpern führt somit zu einer Inszenierung der Figur der Ganzheit (FdG) ‚ terre ‘ als kleine Ganzheit (auf die Tatsache, dass sie darüber hinaus hier mit dem Possessivpronomen „notre“ versehen wird, ist weiter unten einzugehen). Durch ihre extreme Vergrößerung können die außeriridischen Körper in Micromégas in ein völlig neues Verhältnis zur Ganzheit treten und den Blick für eine einzigartige Perspektive auf die Erde öffnen. Dies kann anhand folgender Passage, in welcher die Außerirdischen gerade auf der Erde angekommen sind, deutlich gemacht werden kann: Comme ces étrangers-là vont assez vite, ils eurent fait le tour du globe en trente-six heures ; le soleil, à la vérité, ou plutôt la terre, fait un pareil voyage en une journée-; mais il faut songer qu’on va bien plus à son aise quand on tourne sur son axe que quand on marche sur ses pieds. (26/ 4) Die Außerirdischen benötigen 36 Stunden, um die Erde zu Fuß einmal zu umrunden. Die Erde selbst dagegen dreht sich innerhalb eines Tages um die eigene Achse - und definiert auf diese Weise die Tagesdauer überhaupt erst (auch wenn es, wie die Passage andeutet, vom Standpunkt der Erdbewohner gesehen eher so scheint, als würde sich die Sonne innerhalb eines Tages um die Erde drehen). Dass die Erde dabei gegenüber den Außerirdischen ‚im Vorteil‘ ist, weil sie sich nur bequem um die eigene Achse drehen muss, und keinen anstrengenden 36-Stunden-Marsch zu absolvieren hat, verleiht der Beschreibung ihre spezifische Komik. Die vergrößerten Körper lassen die Bewegung der Erde 3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive ( Micromégas ) 129 auf diese Weise in verfremdendem Licht erscheinen, und das nicht nur, insofern die Dauer eines Tages bewusst gemacht wird als die Dauer einer Erdrotation. Denn die dergestalt beschriebene Erde erscheint zusätzlich als von eigentümlich menschlicher Körperlichkeit, deren mühelose Rotation ihr lange Fußmärsche erspart. Ein Vorgang planetaren Ausmaßes wird, über die Engführung mit der Darstellung der riesigen Körper der Außerirdischen, bis zur Lächerlichkeit anthropomorphisiert. Durch Passagen wie diese generiert der Text eine ins Exponentielle übersteigerte Außenperspektive, aus der etwa ein Tag erkennbar wird als die Dauer einer Erdrotation. Im Rahmen dieser an den außerirdischen Blick geknüpften Perspektive erscheint die Erde dabei wiederholt als insignifikant klein - so klein, dass sie sich aus der Perspektive der reisenden Außerirdischen sogar an der Grenze der visuellen Wahrnehmbarkeit bewegt: „Enfin ils aperçurent une petite lueur; c’était la terre“ (25/ 3). Die Distanz dieser Außenperspektive artikuliert sich auch in der Überschrift des 4. Kapitels: „Ce qui leur arrive sur le globe de la terre “ (25; Hervorhebungen T.E.). In der Kombination der FdG ‚ terre ‘ und ‚ globe ‘ wird hier herausgestellt, dass es sich bei der Erde nur um einen ‚ globe ‘ unter vielen handelt: Denn im Rahmen einer kosmischen Reise „de globe en globe“ 177 (17/ 1) fällt die Bedeutung von globe nicht mehr automatisch mit der spezifischen Bedeutung von terre als ‚Himmelskörper Erde‘ in eins. Die Einzigartigkeit der Erde wird damit massiv untergraben, insofern sie so nur als ein sehr kleiner Himmelskörper unter vielen erscheint. Über die Inszenierung von Körpern wird eine Außenperspektive erzeugt, welche die Einzigartigkeit der Erde angreift, ihre Schrumpfung befördert, sowie deren komischer Anthropomorphisierung Tür und Tor öffnet. Die Darstellung der Erde aus extrinsischer Perspektive hat über diese drei Aspekte hinaus jedoch noch eine weitere Signatur, die sich aus den Beschreibungen ergibt, welche die Außerirdischen beim Betreten der Erde formulieren. Denn die Erde ist für die Außerirdischen in Konsequenz ihrer geringen Größe nicht nur ein überschaubares, sondern in seinen Eigenschaften ‚verwaschenes‘ Terrain. Die Gebirge der Erde stechen ihnen als „petits grains pointus“ (27/ 4) in die Füße, der pazifische Ozean schrumpft zur Größe einer „petit étang“ zusammen, das Mittelmeer ist „presque imperceptible“ (26/ 4). Der Text bezeichnet die Erde weiter als „notre petit tas de boue“ (17/ 1), als „unseren kleinen Dreckhaufen“ (Koppenfels 38). Aus der makroperspektivischen Perspektive der Außerirdischen ist außerdem völlig unklar, „si ce globe était habité ou non“ (Voltaire, Micromégas- 26/ 4), denn zunächst können die beiden Außerirdischen 177 Bzw. heißt es an anderer Stelle auch „de planète en planète“ (17/ 1). 130 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme keinerlei Leben ausmachen. Unter Zuhilfenahme einiger zu optischen Linsen umfunktionierter Diamantensplitter schafft es zunächst ein Wal und schließlich ein Schiff in den Bereich der visuellen Wahrnehmung der Außerirdischen. Die Erde erscheint so nicht nur als klein - ihre Eigenschaften verschwimmen und das menschliche Leben auf ihr verschwindet gänzlich im Bereich des Mikroskopischen. In der übersteigerten Außenperspektive präsentiert sich die Erde zusätzlich als von Chaos und Unordnung geprägte Ganzheit, wie es diese Passage besonders deutlich macht: - Mais, dit le nain, ce globe-ci est si mal construit , cela est si irrégulier et d’une forme qui me paraît si ridicule! tout semble être ici dans le chaos - : voyez-vous ces petits ruisseaux dont aucun ne va de droit fil, ces ètangs qui ne sont ni ronds, ni carrés, ni ovales-; ni sous aucune forme régulière-; tous ces petits grains pointus dont ce globe est hérissé, et qui m’ont écorché des pieds-? (Il voulait parler des montagnes.) Remarquez-vous encore la forme de tout le globe, comme il est plat aux pôles, comme il tourne autour du soleil d’une manière gauche, de façon que les climats des pôles sont nécessairement incultes-? (26f./ 4; Hervorhebungen T.E.) Der außerirdisch-extrinsische Blick erzeugt hier dezidiert keinen Überblick im Sinn eines apollinischen Blicks, d. h. er kann keine Harmonie und Schönheit der so dargestellten Ganzheit der Erde und ihrer Bewohner entdecken. 178 Die Passage liest sich stattdessen wie eine geradezu idealtypische meteorologische Beschreibung der Erde, wie sich anhand dieser Ausführungen Stockhammers nachvollziehen lässt: Der Planet Erde ist Gegenstand der Uranologie und der Meteorologie; globus kann ‚Kugel‘ und ‚Klumpen‘, einen regelmäßigen und unregelmäßigen Körper bezeichnen. Uranologisch betrachtet ist die Erde im geläufigen Wortsinn ‚global‘: ein perfekter geometrischer Körper, an dessen Oberfläche alle Punkte gleich nah zum Mittelpunkt stehen […]; meteorologisch ist die Erde in einem anderen, nicht mehr geläufigen Wortsinn, ‚global‘: an verschiedenen Stellen verschieden beschaffen, verschiedenen Wettern ausgesetzt und von verschiedenen Klimata geprägt. Diejenigen perturbations eines anderen Himmelskörpers, die auf die regelmäßige Einwirkung anderer Himmelskörper schließen lassen, gehören der uranologischen Ordnung an; sublunarische perturbations auf der Erde hingegen zeugen von meteorologischer Unrodnung. („Welt“, 133) So erscheint die Erde bei Micromégas als unebene Kugel („plat aux pôles“) voller „meteorologischer Unordnung“. Diese meteorologische Perspektive auf die Ganzheit geht Allianz ein mit dem durchgängigen Topos ‚menschlicher Hybris‘, 178 Vgl. II.2.1. 2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat 131 wodurch die Satire ihre spezifische Schlagkraft erhält. Die Erde und die Menschen erscheinen so als ‚nieder‘, die Rede ist von „[i]nsectes invisibles“ (33/ 6), die einen ‚Schmutzhaufen‘ bewohnen. Srinivas Aravamudan schreibt in diesem Zusammenhang: Scale becomes a method for Swift, as it does for Voltaire in shorter satires such as Micromégas , even as this device is a frequent favourite for Voltaire’s attempt to describe the Earth as an insignificant speck, a diminutive “globule” [zu dieser speziellen FdG vgl. III.3.4.2; T.E.] full of warring humans, no different than insects when seen from a cosmic scale. Smallness at the infinitesimal level creates insignificance, but also a supplementary aversion, leading to a misanthropic disappointment that fills the space of humanist aspiration that has just been evacuated. (237) Dieser Eindruck einer ‚minderen‘ Menschheit festigt sich noch weiter, insofern die diversen metaphysisch-philosophischen Meinungen, welche die befragten Mitglieder der Crew des Forschungsschiffs - stellvertretend für verschiedene ‚Schulen‘ 179 - äußern, den Außerirdischen allesamt und über deren (nach Meinung ihrer Vertreter: signifikanten) Unterschiede hinweg, als gleichermaßen ungenügend erscheinen. Sie sind damit, so die Spitze der Satire hier, nicht ihrer inner-menschheitlichen Konflikte um sie wert. 180 Aus der durch den Text vermittelten Perspektive verklumpt die gesamte Erde sowie die auf ihr wohnende Menschheit somit gesamtheitlich zu einem nichtigen, unrunden Ball ohne distinkte Merkmale. Die Abwertung der Menschen und ihres Wohnorts ist somit das Hauptergebnis der im Text erzeugten Perspektive. Durch die beschriebenen Verfahren des Textes (Außenperspektive, Schrumpfung, Anthropomorphisierung und Darstellung der Erde als meteorologische Ganzheit) kommt es zu einer Überbetonung des Aspektes der Ein s heit der Ganzheit: noch nicht einmal das Mittelmeer kann auf dem ‚Schmutzball Erde‘ trennscharf ausgemacht werden, der so zu einem homogenen Klumpen gerät; auch die Menschen erscheinen als von einheitlicher (und das heißt: durchgängig sehr überschaubarer) Intelligenz. Voltaires Text wird so als äußerst experimentierfreudige Reflexion auf eine grundlegende Eigenschaft von Ganzheit lesbar: ihre Ein s heit. 181 179 „Die Metaphysiker, Anhänger der verschiedensten Denkschulen, Aristoteliker, Cartesianer, Malebranchisten und Leibnizianer diskutieren vergeblich über die Frage nach der Natur der Seele, der Herkunft oder Beschaffenheit von Ideen und dem Ursprung des Übels.“ (Hellwig-141) 180 Nur eine agnostische Position, geäußert von einem Anhänger der Lehren Lockes, scheint den Außerirdischen einigermaßen akzeptabel: „je n’affirme rien, je me contente de croire qu’il y a plus de choses possibles qu’on ne pense.“ (Voltaire, Micromégas- 41/ 7). 181 Vgl. hierzu II.1.4. 132 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Die Attacke auf die menschliche Hybris kombiniert der Text jedoch mit einem bemerkenswert emphatischen Selbstbezug, welcher die als derart minderwertig dargestellte Ganzheit dezidiert als die unsere ausweist. Erkennbar ist dies an den Possessivpronomen, welche mehreren FdG im Text zugeordnet werden. Die Bezeichnung der Erde als „notre petit tas de boue“ wurde weiter oben bereits erwähnt. Außerdem ist im Text von „notre globe“ (2x) 182 , „notre petit globe“ (2x) 183 , „notre petite terre“ 184 und „notre monde“ (1x) 185 die Rede; hier sei ergänzend erwähnt, dass das Wort ‚ globe ‘ 186 im Text insgesamt 25 Mal genannt wird. Durch die Possessivpronomen wird punktuell immer wieder eine dezidiert nicht -außerirdische Perspektive evoziert. Als etwa der Außerirdische vom Saturn beim Anblick eines Wals über die „ petitesse dont étaitent les habitants de notre globe“ (28/ 4; Hervorhebungen T.E.) in schallendes Gelächter ausbricht, wird über das Possessivpronomen die in diesem Ausschnitt ansonsten streng außerirdische Perspektive gebrochen, und ein emphatischer Bezug auf die kleine Erde als unsere aktualisiert; „immer müssen [die Leser; T.E.] sich zugleich auf der überirdischen hohen Warte und als winzigen Teil der wimmelnden subhumanen Tiefe sehen.“ (Koppenfels-39) Diese Possessivpronomen sind stets im Umfeld pejorativer Beschreibungen der Ganzheit zu finden, womit die artikulierte Minderwertigkeit der Erde stark auf den Leser bezogen wird, ein ‚wir‘, welches der vom Text inszenierten, ein s heitlichen Menschheit entspricht. Diese wird dabei wohlgemerkt von einem europäischen Forschungsschiff vertreten, womit die europäische Dominanz (mindestens in Wissenschaft und schlechter Philosophie) ins Bild gesetzt wird. Der Blick auf die Ganzheit in Micromégas ist also mehr als der eines Misanthropen: Er überführt die extrinsische Sicht auf die Erde und die Menschheit kalkuliert in eine meteorologische Perspektive, in welcher der Aspekt der Ein sheit von Ganzheit überbetont werden kann. Einer Außenperspektive, welche Überblick und Einsicht in menschliche Belange (welcher Art auch immer) geben könnte, wird, zugunsten einer übersteigert extrinsischen Sicht auf die Erde, eine Absage erteilt. Was diese Sicht deutlich macht, ist, neben der Minderwertigkeit des Dargestellten, dass das Verfahren des ‚Raus-Zoomens‘ nicht notwendig Einblicke in größere Zusammenhänge erzeugt, sondern vielmehr einer Misanthro- 182 15/ 1, 28/ 4. Von „notre globe“ ist auch auf 20/ 2 die Rede, hier spricht Micromégas aber von seinem Heimatplaneten, genau wie auf 21/ 2 der Bewohner des Saturn von seinem Herkunftsort erzählt. 183 23/ 3, 24/ 3. 184 16/ 1. 185 28/ 4. 186 15/ 1, 16/ 1, 2x 17/ 1, 2x 18/ 1, 19/ 2, 20/ 2, 3x 21/ 2, 22/ 2, 23/ 3, 24/ 3, 25/ 4, 4x 26/ 4, 2x 27/ 4, 28/ 4, 34/ 6, 35/ 6, 36/ 7. 3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System 133 pie bestimmter Machart den Weg bahnt. Die „Erzählprojektion“ (Stockhammer, Kartierung- 102) der Travels (vgl.-III.2.3.3) wird von Voltaire ins Äußerste getrieben. Die Reflexion auf Ganzheit wird mit obsessivem Fokus auf den Aspekt der Ein s heit durchgespielt - auf Kosten der völligen Ausklammerung des Aspektes der Asymmetrie. 187 Voltaires Candide greift die Reflexion auf Ein s heit auf, um diese weiter zu denken und zu gestalten. Zusätzlich kombiniert Candide dies mit intensiver Arbeit am Aspekt der Asymmetrie der Ganzheit, welche wiederum durch die literarische Inszenierung von Körpern geleistet wird. 3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt- System 1755 bebt in Lissabon die Erde und kostet mindestens 30.000 Menschen das Leben - 188 ein Ereignis, das auch in Candide ou l’Optimisme (1759) 189 Eingang findet. Das reale Erdbeben löst eine Debatte um die Theodizee aus, in der viele Stimmen (unter ihnen noch im Jahr des Bebens: Voltaire), 190 in Reaktion auf 187 Marion Hellwig schreibt, seine Deutung des Micromégas zusammenfassend, dass in diesem „die harmonische Ordnung des Gesamtuniversums“ (142) - dargestellt durch die „Kette der Wesen, die von ‚micro‘ bis ‚mega‘ reicht“ (141) - im Wesentlichen als intakt dargestellt wird (ganz gleich wie ironisch diese Darstellung stellenweise ausfallen mag). In anderen Texten Voltaires dagegen (darunter Candide ) „wird die Perpektive vom großen wohlgeordneten Ganzen auf das Leid des Individuums verengt, bis sich der Trost eines harmonisch geordneten Kosmos angesichts des Leids des Einzelnen als nicht mehr ausreichend erweist.“ (142) Diese Deutung soll im Folgenden dahingehend weiterentwickelt werden, als zu zeigen ist, dass das von Hellwig genannte „Leid des Individuums“ - zumindest im Candide - stets als Folge von interkontinentalen Zusammenhänge inszeniert wird. 188 „November 1, 1755, All Saints’ Day, the churches of Lisbon, Portugal, were crowded, the city was in festal array. Suddenly at 9: 00 A.M. came an earthquake shock, quickly followed by two others. Churches crashed to the ground, worshipers were buried beneath ruins. About one-quarter of the houses in the city were destroyed. A stone quay on which 3,000 had taken refuge was engulfed by the Tagus, after which a huge tidal wave swept away all within its reach. Fires broke out in many parts of the city.“ (Brightman- 503) „Estimates of the dead varied from 30,000 to 100,000.“ (504) Die Stärke des Erdbebens wurde „nachträglich mit einer Stärke von ungefähr 8,5 auf der Richterskala bestimmt“ (Hellwig-148). 189 Im Folgenden zitiert nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Kapitel‘. 190 „On December 16, 1755, Voltaire published the Poème sur le disastre de Lisbonne en 1755, ou examen de cet axiom: Tout est bien, which appeared in a new edition, with notes, in March of the following year.“ (Brightman-505) Voltaires Rolle in dieser Debatte ist prominent, unter anderem in Konflikt mit Rousseau, auf dessen Attacken Voltaire mit Candide angeblich reagiert. 134 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme die Naturkatastrophe, die These, dass die von Gott geschaffene Welt die ‚beste aller möglichen Welten‘ darstellt, massiv in Frage stellen: „It [das Beben in Lissabon; T.E.] raised again for all thoughtful minds the problem of religion in acute empirical form: If values are thus destroyed, how can religion be true? “ (Brightman-500) 191 Die Theodizee befasst sich in ihren Grundzügen mit der Frage, ob die ‚Welt‘ - in diesem Zusammenhang immer als Schöpfung Gottes verstanden - eine gute ist, oder ob in ihr das Schlechte überwiegt, und ist ausgerichtet auf die Beweisführung, dass die ‚Welt‘ die bestmögliche ist: „Letztlich geht es darum, ob sich die Annahmen von der Existenz eines Gottes, der die Welt erschaffen hat, der Allmacht und Allwissenheit dieses Gottes, seiner Güte und Gerechtigkeit und der Existenz des Übels logisch miteinander vereinbaren lassen oder ob eine von ihnen preisgegeben werden muss.“ (Hellwig-6) Die Debatte ist dabei - zumindest in der durch Leibniz und Pope geprägten Form - in ihren Ausführungen explizit auf Ganzheit hin ausgerichtet: „This familiar optimism of Leibnitz and Pope is characterized by one outstanding trait: that of regarding the universe as a whole […] as ultimately the only object of value.” (Brightman-502; Hervorhebung T.E.). Die Ganzheit erscheint so nur in einzelnen Teilen als schlecht, im Ganzen gesehen dagegen überwiegt das Gute bzw. sind einzelne „Übel […] lediglich Teile einer im Ganzen gesehenen guten und vollkommenen Welt.“ (Hellwig- 9) Das Argument ist also zutiefst relativistisch und auf eine ganzheitliche Perspektive hin ausgerichtet. Tendenziell lässt sich eine Assoziation dieses Optimismus mit dem Fokus auf das Ganze erkennen (Brightman-517) - eine Verknüpfung, mit der Voltaires Candide ins Gericht geht. Doch ist hinzuzufügen, dass „[n]ot only does Pangloss [Candides philosophischer Lehrer; T.E.] espouse a debased version of Leibniz’ doctrines about nature and the universe, he also teaches his pupil that those notions can be transferred to the level of social and personal life.“ (Rubino-91) Diese allzu konkrete Übertragung der Theodizee (die von Pangloss noch dazu grob vereinfacht und auf Schlagworte verflacht wird) auf „social und personal life“ ist dabei natürlich nicht im Sinne der Diskursstifter. Hieraus folgt, dass das „what he [Voltaire; T.E.] attacks in Candide is the application of cosmic law to the human world, to the functioning of society and the life of the individual.“ (ebd.) In der 1755 aufflammenden Diskussion manifestiert sich außerdem ein starker Bezug auf die Erde. Walter Benjamins Beschreibungen des Erdbebens in Lissabon sind in diesem Kontext besonders eindrücklich: 191 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Ernst Sanders im Nachwort der deutschen Reclam-Ausgabe, der eine „große Revision der Welt-Anschauung“ einsetzen sieht, „von der eine neue Richtung des Denkens, der europäische Pessimismus, ihren Ausgang nahm“ (113). 3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System 135 Dieses Erdbeben nämlich war seiner Auswirkung nach das umfassendste, von welchem man je gehört hat. Über ganz Europa bis nach Afrika hin spürte man es, und man hat berechnet, daß es mit seinen entferntesten Ausläufern die ungeheure Fläche von zweieinhalb Millionen Quadratkilometern erfaßt hat. Die stärksten Erschütterungen reichten bis zu den Küsten Marokkos einerseits, bis zu den Küsten Andalusiens und Frankreichs andererseits. (182) Anscheinend ist das Beben „mit Epizentrum […] nahe der portugiesischen Küste“ (Hellwig-148) tatsächlich in weiten Teilen der Erde sinnlich zu spüren, „in Form von Erderschütterungen und Wasserbewegungen bis nach Schweden und Brandenburg“ (Hellwig-ebd.) - mit Auswirkungen auf die philosophisch-theologischen Diskussionen, welche die Aufklärung im Allgemeinen und die Theodizee im Besonderen betreffen. 192 Insofern die Naturkatastrophe weite Distanzen überbrückt, flößt sie den anschließenden Debatten ein Bewusstsein von einer großen räumlichen Ausdehnung ein. Die Konstellation, die das Erdbeben von Lissabon erzeugt, ist somit zweifach auf Ganzheit hin ausgerichtet. Erstens in Bezug auf die Theodizeethese und deren bestmöglicher Ganzheit, und zweitens in Bezug auf die Erde als von einer Naturkatastrophe physisch erschütterter Ort. Dieser doppelte Bezug auf Ganzheit wird, wie zu zeigen ist, in Voltaires Candide aufgegriffen und obsessiv bearbeitet. Einer etablierten Lesart zufolge wendet sich Voltaires conte gegen die prominentesten Autoren der Theodizee: „ Candide is obviously written to ridicule the theories of Leibnitz, Wolff, and Pope.“ (Brightman-506) 193 Weiter findet, wie zuvor erwähnt, das Erdbeben in Lissabon in Candide ausführlich Darstellung. Doch der Text ist, so die These, nicht als Satire der theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen um ihrer selbst willen zu verstehen. Stattdessen dient die Theodizee dem Text als Kontrastfolie für eine intensive Reflexion auf Ganzheit auch jenseits religiöser und philosophischer Debatten. Wie Ingvild Kjørholt bereits im Titel ihres 2011 erschienen Aufsatzes „Cosmopolitans, Slaves, and the Global Market in Voltaire’s Candide ou l’Optimisme “ deutlich macht, sind die expansiven Prozesse des Welt-Markts die entscheidenden Kontexte zur Deutung des Candide . Der Text, so ihre These, beleuchte einen ‚global-werdenden‘ Markt, wobei sie auf den atlantischen Sklavenhandel, und dessen Darstellung im Text, besondere Aufmerksamkeit richtet. 192 „The vibrations of this earthquake made themselves felt practically all over Europe. And what was true in the physical world was, if possible, even more true in the intellectual realm. Scarcely any single natural phenomenon of modern times has aroused so much philosophical debate.“ (Brightman-504) 193 Vgl. zu den Texten, die den Kontext dieses Erdbebens bestimmen, Sander-113-115. 136 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Die Expansion des Weltsystems tritt im 18. Jahrhundert in eine entscheidende Phase, 194 wobei der transatlantische Sklavenhandel eine tragende Funktion zur Finanzierung dieses Vorgangs übernimmt: „Through colonialism and increasing world trade, Voltaire’s contemporary Europe had undergone an extraordinary expansion.“ (Kjørholt 62) Der dramatische Anstieg des atlantischen Sklavenhandels im 18. Jahrhundert 195 wird dabei maßgeblich von einer verstärkten englischen Beteiligung geprägt. 196 Der Sklavenhandel ist nicht auf die Gräuel der Middle Passage beschränkt - besonders für die Untersuchung des Candide muss zusätzlich der Nord-Afrikanische Sklavenhandel genannt werden (vgl. Kjørholt 78). Candide widmet sich ausführlich der Darstellung von Sklaverei und reflektiert damit auf einen zentralen Aspekt der Expansion des Welt-Systems. Kjørholt macht weiter darauf aufmerksam, dass die Publikation von Voltaires Text 1759 zeitlich mitten in den Verlauf eines anderen großen historischen Ereigniskomplexes fällt: 194 Vgl. hierzu diese Beschreibung: „Im Verlauf ihrer erneuten Expansion, die sich ungefähr im Zeitraum zwischen 1733 und 1817 vollzog und von monetärer Inflation begleitet war, durchbrach die europäische Weltwirtschaft die von ihr im langen 17. Jahrhundert geschaffenen Grenzen. Sie begann riesige neue Gebiete in den Einflussbereich ihrer Arbeitsteilung zu inkorporieren. Mit der Inkorporierung von Gebieten, die sich bereits seit dem 16. Jahrhundert in der externen Zone befunden hatten, machte sie den Anfang: Alle anderen an Bedeutung übertreffend waren dies der indische Subkontinent, das Osmanische Reich, das Russische Reich und Westafrika.“ (Wallerstein, Expansion- 184) 195 „Beginning in the middle part of the 15th century, sailors traveled great distances to obtain the ‘black gold’ in the form of African bodies. This mercantile fervor intensified over the years, attracting the broad involvement of the Portuguese, French, Dutch, British, and American merchants, seamen, and planters. More importantly, this phenomenon played a crucial role in shaping the large numbers of men and women forcibly removed from western and central Africa. It has been estimated that during the 16th century 370,000 captives were taken, while the 17th century witnessed two million bondpeople dispersed into New World colonies and plantations. However, the 18th century saw a dramatic boom in slave sales, resulting in the transport of more than 6,130,000 Africans to the Americas. This latter century represented the last period of legal transatlantic slave trading.“ (Mustakeem-477) 196 Auch wenn zu ergänzen ist, dass es dem 20. Jahrhundert vorbehalten bleibt, den (vorläufigen) Höhepunkt in der Verbreitung von Sklaverei darzustellen: „[T]he twentieth century has clearly witnessed more slavery than all the preceding centuries combined. I have in mind not only the tens of millions of men, women, and children who were subjected to state servitude by Nazi Germany, Communist Russia, Communist China, and smaller totalitarian states. Or the Southern blacks in chain gangs and the often coerced migratory farm workers. In a sense, the multinational Atlantic Slave System can be seen as the first stepping stone toward the multinational corporations that today employ millions of virtual slaves in various construction and production projects in Asia, Africa, and Latin America.“ (Davis-466) 3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System 137 Candide was published in the middle of the Seven Years War (1756-63), a conflict that showed the extent to which foreign territories had become a hot spot of European political interests. The colonies and trading companies in India and America represented invaluable sources of economic growth to their mother countries and constituted an important issue in the war. In the end, France lost its position as the leading European colonial power to England. (65f.) 197 Der conte ist damit inmitten eines Konfliktes anzusiedeln, der sich durch Fernwirkungszusammenhänge auszeichnet: „In the tale as in reality, war is not confined to Europe.“ (Davies-39) 198 Diese gehen im Wesentlichen aus dem Konflikt zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich hervor und überbrücken große räumliche Distanzen, und beziehen neben dem Europäischen Raum auch dessen Kolonien in den Konflikt mit ein; darüber hinaus markiert dieser Krieg den Niedergang Frankreichs, das von England in seiner Vormachtstellung abgelöst wird. In der Geschichtswissenschaft wird dieser Konflikt daher gelegentlich polemisch als ‚Weltkrieg‘ beschrieben, was die räumliche Extension dieses Krieges weiter illustriert: „It is not without justification that the Seven Years’ War has been labeled a ‘global conflict.’ In tracing the international contours of this conflict, Voltaire’s story can itself be regarded as a global text.“ (Davies-39) 199 In diesem Kontext (expansive Prozesse des Welt-Systems im Allgemeinen, Sklavenhandel im Besonderen, der Siebenjähriger Krieg als ‚Weltkrieg‘) soll Candide also positioniert werden. 200 Diese Verortung ist dabei jedoch stets in Relation zur Thematik der Theodizee zu sehen, deren Relevanz hiermit nicht angezweifelt werden soll, sondern in ein neues Licht zu rücken ist. Auf beide Kontexte (Welt-System, Sklavenhandel, Siebenjähriger Krieg einerseits und Theodizee 197 Die Konfliktherde sind zahlreich: „Volaire was only too aware of the violent conflicts of his age, which pitted the Russians against the Turks, the English against the French, even the Jesuits against the Spanish in Paraguay.“ (Davies-38) 198 Vgl. Davies, der vom Verhältnis des Candide zum „ongoing war“ und „the issue of slavery“ (38) spricht sowie Osterhammel u. Petersson-47. 199 Vgl. wiederum Kjørholt, die den Konflikt als „world war avant la lettre “ (66) bezeichnet. 200 David Damrosch schreibt: „ Candide’s rapid circulation in different regions and languages marked an extension of the worldliness inscribed within the work itself, not only in Candide’s transatlantic misadventures but on the very title page of the book. Having suffered censorship and imprisonment for earlier works, Voltaire published Candide anonymously, or, more precisely, in the form of an anonymous translation ‘de l’Allemand de Mr. le Docteur RALPH,’ supposed author of the narrative shortly before his death on a battlefield of the Seven Years’ War. Not caring what trouble Voltaire’s anti-Catholic polemics might get him into at home, the London publisher placed Voltaire’s name prominently on the title page of what truly became the translation it had only pretended to be in French.“ (484) 138 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme andererseits) bezieht sich Candide und beide Sujets sind der größeren Thematik der Ganzheit unterzuordnen, welcher sich der Text damit mit besonderer Intensität widmet. 3.3 Gute Welt, schlechte Erde? Der Bezug des Candide auf größere Zusammenhänge kann einleitend durch die bemerkenswert hohe Anzahl an FdG im Text illustriert werden, die in der folgenden Tabelle nach ihrer Häufigkeit angeordnet sind: Figuren größerer Ganzheiten in Candide Anzahl Textstellen 201 Monde 202 59 47, 52, 53, 51, 54, 55, 56, 58, 60, 62, 64, 70, 72, 2x74, 77, 85, 89, 92, 3x95, 2x101, 2x103, 104, 106, 2x107, 109, 111, 116, 117, 2x119, 121, 122, 124, 127, 128, 129, 130, 131, 134, 2x 136, 137, 140, 141, 144, 146, 148, 2x 160, 163, 164, 165, 167 Terre 37 47, 53, 60, 2x61, 62, 63, 64, 68, 69, 71, 73, 77, 2x82, 85, 86, 99, 3x103, 105, 106, 2x108, 112, 117, 118, 2x122, 136, 2x138, 155, 165, 166, 167 Univers 4 2x74, 160, 161 Globe 2 57, 119 Globule 1 119 Planète 0Gesamt: 103 201 Zur Übersichtlichkeit werden hier die Seitenzahlen ohne Kapitelnummer angegeben. 202 Hier wurde jede Nennung des Wortes monde , genau wie sein Plural mondes , gezählt. D.h., dass etwa auch tout le monde (frz. „alle“, „jedermann“) etc. Teil der Zählung ist. Das tut dem Nutzen dieser Zählung jedoch keinen Abbruch, da - wie in den folgenden Analysen deutlich werden wird - auch Formulierungen, in denen nicht im engsten Sinne von ‚Welt‘ die Rede ist, vom Text zur Reflektion auf Ganzheit genutzt werden. Vgl. hierzu etwa III.3.4.1., wo die beiläufige Formulierung „le plus paisiblement du monde“ (etwa: „mit der größten Ruhe“, wörtlich: „mit der größten Ruhe der Welt“) entsprechend interpretiert wird. 3.3 Gute Welt, schlechte Erde? 139 Figuren kleinerer Ganzheiten Anzahl France 10 2x 121, 2x122, 2x126, 135, 136, 157, 166 Vestphalie 10 45, 46, 75, 92, 103, 105, 107, 124, 2x131 Europe 10 74, 82, 90, 101, 106, 109, 111, 112, 119, 137 Surinam 8 111, 112, 113, 115, 117, 118, 136, 137 Amérique 4 57, 61, 87, 167 Japon 2 60, 118 Canada 2 2x135 Chine 1Gesamt 47 150 Tabelle 1: Figuren der Ganzheit in Candide Numerisch dominiert die FdG ‚ monde ‘ mit fast 59 Nennungen eindeutig, gefolgt von ‚ terre ‘; ‚ univers ‘ und ‚ globe ‘ schaffen es nur in den einstelligen Bereich. Kleinere Ganzheiten (Kontinente, Regionen, Staaten) werden in Candide auch adressiert, wobei Frankreich, Westfalen und Europa die Spitzenplätze belegen, gefolgt von Surinam und Amerika - ein für sich schon bemerkenswerter Befund, der die Einbettung Frankreichs im transatlantischen Sklavenhandel illustriert (wobei hinzuzufügen ist, dass Surinam zu diesem Zeitpunkt niederländische Kolonie ist) und auf die politischen Konflikte dieser Zeit hinweist, in denen Westfalen ein „important theatre of war“ (Kjørholt 65) darstellt (s. u.). Doch ist festzuhalten, dass der Bezug auf größere Ganzheiten eindeutig überwiegt, insofern terre und monde mit zusammen 96 Nennungen öfter zu finden sind, als alle (hier für die Zählung selektierten) Figuren kleinerer Ganzheiten zusammengenommen (die nur 47 Nennungen zählen). Von diesem Befund ausgehend soll für den Text folgende Struktur beschrieben werden: Der conte reflektiert a) den Aspekt der Ein s heit der im Text inszenierten Ganzheit (vgl. III.3.4), sowie b) deren Asymmetrie (III.3.5). Er gehört entsprechend zur Kategorie der „World texts“ („World-Systems“ 67) im Sinne Franco Morettis. Ein ‚ world-text ‘ zeichnet sich dadurch aus, dass er auf beide zentralen Aspekte des Welt-Systems reflektiert bzw. von ihnen geprägt ist: Ein(s)heit einerseits und Asymmetrie andererseits. 203 203 Dieser Befund ist freilich nicht ohne Weiteres in eins zu bringen mit Morettis Beschreibungen, laut denen französische Texte eher nicht zu world texts zu zählen sind (vgl. 140 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Der Text setzt beide wesentlichen Eigenschaften des expansiven Welt-Systems weiter in ein kontrastreiches Spannungsverhältnis zur c) Theodizee und reflektiert somit auf mehreren Wegen auf Ganzheit im Allgemeinen. Mittel dieser Reflektion ist die Verschränkung der Inszenierung von Körpern mit der Arbeit an FdG. a) Die Ein s heit der im Text inszenierten Ganzheit, d. h., dass alle Ereignisse im Text als Teil des gleichen, geschlossenen Zusammenhangs erscheinen, wird im Text auf die Extension der ganzen Erde (erweitert um das mythische Eldorado, auf dessen Ausnahmestatus in Abschnitt III.3.5.1 eingegangen wird) bezogen; „the world [in Candide , T.E.] is viewed as one single scene.“ (Kjørholt-62) Anders als in Micromégas verbleibt das Geschehen also innerhalb des terrestrischen Bezugsrahmens. 204 Dieser Rahmen wird über die Beschreibung von Schauplätzen mit militärischer und kolonialer Bedeutung etabliert. Die besagte Ein s heit der Ganzheit wird im Text durch mehrere Topoi etabliert: 1. Kleinheit/ Komprimiert-Sein 205 der Ganzheit (vgl. III.3.4.1-2) 2. Verkettet-Sein 206 der Ganzheit (III.3.4.3) 3. Synchron-Sein der Ganzheit (III.3.4.4) Diese drei Topoi werden wiederum mit dem übergreifenden Topos der Theodizee parallel geführt, laut dem die Frage ist, ob die Schöpfung Gottes die bestmögliche ‚Welt‘ darstelle. Denn die Topoi 1) - 3) dienen im Text wiederholt als ironische Beweise für die These der Theodizee - bzw. werden sie, der Ironie dieser Beweise entsprechend, gegen besagte These ins Feld geführt. 207 Beispielsweise wird das Konzept des Verkettet-Seins wiederholt für und gegen die Theodizeethese vorgebracht: dass ‚alles zusammenhängt‘, wird so mitunter zum Zeichen für das Gut-Eingerichtet-Sein gedeutet - oder zeugt umgekehrt davon, dass die Ganzheit schlecht ist. „World-Systems“-67f.). Umso mehr ist im Folgenden die Behauptung, Candide beschäftige sich mit Ein s heit und Asymmetrie, zu belegen. 204 „The story carries its heroes from Westphalia by way of the New World to Bosporus and the Asian border, where they finally settle.“ (Kjørholt-63) 205 „Despite the advances, Candide’s world seems neither infinite nor heterogeneous, but on the contrary small, like a globule.“ (Kjørholt-62) 206 „In this godforsaken world, where a variety of events and continents are enchained into a quite manageable and homogeneous whole, Candide and his companions move almost without friction. Due to their numerous intercontinental travels, several scholars have called them ‘cosmopolitans,’ without elaborating on the implications of this particular epithet.“ (Kjørholt-62) 207 „Pangloss führt sowohl Popes Fomel als auch die Leibniz’sche Lehre von der besten aller möglichen Welten ständig im Mund. Mit Hilfe seines zum Jargon abgesunkenen Leibnizianismus beweist er, was immer er gerade möchte.“ (Hellwig-161) 3.3 Gute Welt, schlechte Erde? 141 b) Die Thematik der Asymmetrie des Welt-Systems wird durch den Bezug des Textes auf den Sklavenhandel adressiert. Von ‚Asymmetrie‘ soll dabei nur dann die Rede sein, wenn ein Bezug auf die Ganzheit explizit gegeben ist. Neben dem Sklavenhandel wird im Text wiederholt Gewalt inszeniert, die auf Fernwirkungszusammenhänge, wie sie der Siebenjährige Krieg hervorbringt, verweist. Die Darstellung von Körpern, die in kriegerischen Konflikten getötet oder verletzt werden, ist somit ein Mittel des Textes, Lokales mit weit Entferntem in Verbindung zu setzen - und die Auseinandersetzungen als Fernwirkungszusammenhänge sichtbar zu machen. Auch diese Aspekte werden vom Text in Kontrast zum Master -Topos der Theodizee gesetzt, insofern vor der Folie des im Text omnipräsenten ‚ tout est bien‘ besagte Asymmetrie/ Gewalt umso deutlicher hervortritt. Die Darstellung der Ganzheit im Text steht also in der Spannung zwischen der Theodizee und spezifischen historischen Kontexten der Expansion des Welt-Systems. Dieser Struktur lassen sich verschiedene FdG im Text zuordnen. Wie schon in den Ausführungen zur Theodizeedebatte andeutungsweise ersichtlich geworden ist (s. o.), ist dieser eine Nähe zur FdG ‚Welt‘ eigen, wobei die FdG ‚Erde‘ mit der Infragestellung der Annahme, die Ganzheit sei bestmöglich eingerichtet, assoziiert ist (bedingt durch das Erd beben). Diese Tendenz der Zuordnung der FdG wird von Voltaires Text aufgegriffen - und zugespitzt. Die FdG ‚ monde ‘ wird in Candide entsprechend eng an die Theodizee geknüpft und transportiert eine satirisch-naive Vorstellung von einer Ganzheit, in der alles ‚zum Besten steht‘. 208 Die FdG ‚ terre ‘ und ‚ globe ‘ (bzw. die Diminutivbildung globule , auf die in Abschnitt- III.3.4.2 eingegangen wird) verweisen dagegen tendenziell auf die expansiven Prozesse des Welt-Systems bzw. auf dessen Ein s heit und Asymmetrie. Die im Text inszenierten Körper treten in dieser Konstellation zumeist als fragmentiert/ versehrt auf. Als unübergehbare Evidenz widersteht der Körper so dem optimistischen Interpretationswillen der Theodizee. So folgt auf fast jede Ankunft der Protagonisten in einer neuen Region der Erde die drastische Darstellung von verletzten oder toten Körpern: In Lissabon bebt die Erde und beendet das Leben zahlloser Menschen; in Surinam begegnen die Protagonisten einem Sklaven, dem mehrere Gliedmaßen gewaltsam amputiert wurden 208 Hier sei außerdem darauf hingewiesen, dass man dem Eintrag zu „mǔndus“ im Französischen Etymologischen Wörterbuch entnehmen kann, dass monde im Französischen auch die Bedeutung „société des hommes, considérée surtout sous ses aspects de luxe et de divertissement“ bzw. „gens bien nés“ umfasst. Diese gesellschaftliche Konnotation - die man mit mit der Beschreibung ‚High Society‘ ganz gut fassen kann - ist im Französischen monde also immer auch anwesend. 142 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme (vgl.-III.3.5.3); „Maroc nageait dans le sang quand nous arrivâmes“ (79/ 11) heißt es bei der Ankunft vor Ort. Die Kontexte dieser versehrten Körper reichen von politischen Konflikten und Naturkatastrophen, über religiös motivierte Hinrichtungen, bis hin zum Sklavenhandel und werden ausnahmslos als Fernwirkungszusammenhänge bewusst gemacht. So äußert sich etwa der Sklave in Surinam über seinen verstümmelten Körper: „C’est à ce prix que vous mangez du sucre en Europe.“ (112/ 19) - auf dieses Zitat wird noch im Detail eingegangen (vgl. hierzu-III.3.5.3). Sowohl politische Konflikte als auch unbelebt-geologisches Geschehen werden somit als Ereignisse inszeniert, die große räumliche Distanzen überspannen und die Ganzheit als ein s heitlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang erscheinen lassen. So bietet der Text eine komplexe Verhandlung von Ganzheit, in der die Wörter ‚ terre ‘ und ‚ globe/ globule ‘ für die Darstellung von kolonialen/ militärischen Ereignissen und Naturkatastrophen genutzt werden. Dies wird mit der religiös besetzten monde kontrastiert, die im Kontext der Theodizee für eine moralisch gut organisierte Ganzheit einsteht. 3.4 Einsheit der Ganzheit Ein erstes Beispiel soll illustrieren, mit welchem Grauen die These der Theodizee im Text immer wieder konfrontiert wird: «- Maître Pangloss me l’avait bien dit que tout est au mieux dans ce monde […].- » Le lendemain, en se promenant, il rencontra un gueux tout couvert de pustules, les yeux morts, le bout du nez rongé, la bouche de travers, les dents noires, et parlant de la gorge, tourmenté d’une toux violente, et crachant une dent à chaque effort. (54/ 3) Es sind Passagen wie diese, die eine im Text wiederkehrende Struktur überdeutlich ausbuchstabieren: Die Theodizeethese - hier verkürzt auf den Satz „tout est au mieux dans ce monde“ - wird konfrontiert mit körperlichem Leiden, wobei die „geschilderten Graumsamkeiten keineswegs realitätsfern“ (Hellwig- 158) sind. Zentral ist, dass die optimistischen Protagonisten nicht von der Behauptung, sie lebten in der bestmöglichen ‚Welt‘, abrücken wollen, obwohl sie fast ununterbrochen mit Elend konfrontiert werden. Diese zynische Struktur ist im Folgenden auf ihre Interaktion mit FdG zu untersuchen. 3.4 Einsheit der Ganzheit 143 3.4.1 Vergrößerung der Bezüge und erhöhtes Erzähltempo Voltaires „ Candide kann als Parodie und Karikatur verschiedener Romangattungen verstanden werden. Dabei folgt die Grundstruktur der des galanten Abenteuerromans 209 , die mit burlesken Motiven und Elementen der pikaresken Tradition vermischt ist.“ (Hellwig- 158) 210 Hellwig hält außerdem ein „extrem gesteigertes Erzähltempo der Episoden, durch Schnitte, Ellipsen und sich überschlagende Ereignisse“ (ebd.) fest. Diese Eile zeigt sich auch in der auffällig knappen, äußerlichen Beschreibung des Protagonisten: „Sa physionomie annonçait son âme.“ (Voltaire, Candide- 45f./ 1) „It is not difficult to see from this passage the degree to which Voltaire ironically compresses romance embellishment in chapter 1“ (Lynch-40; vgl. auch Betts-287). Beschreibungen des Protagonisten, die differenzierter ausfallen müssten, werden massiv verkürzt, um einen komischen Effekt zu produzieren. Dieses übereilte Erzählen findet sich im gesamten Text wieder: Voltaire’s use of romance conventions is not merely parodic, although parodic elements are present. His compression of narrative recitals, for instance, clearly parodies the use of those devices in the heroic novel. […]. Chapter titles also are more direct signals to the reader that the author is telescoping romance conventions. The title of chapter 5, for example, jumbles a series of romance devices: “Tempete, naufrage, tremblement de terre, et ce qui advint du docteur Pangloss, de Candide, et de l’anabaptiste Jacques” [Voltaire 58/ 5; T.E.]. For the most part, however, Voltaire is less concerned with making light of the literary excesses of romance than with using the romance conventions to shock the reader, as he has shocked Candide, into reality. (Lynch-44) 209 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „Consider, for example, the ideal roman d’amour : boy and girl meet, realize they are meant for each other, are separated by unavoidable catastrophes, are reunited, marry, and live happily ever after.“ (Grieder-489) 210 „Most critics are content to say that Voltaire either compresses or parodies conventions common to the general romance tradition: separations of lovers, surprising and improbable accidents while one lover pursues the other, and a wish-fulfilling reunion at the end of the novel.“ (Lynch-35) Vgl. auch diese Ausführungen von Nelly H. Severin: „Voltaire made use of hagiographic materials, with the intent of parodying them, not only in the choice of names of his main characters and in the invocation of real saints in the story, but also for the structure of the tale. Some critics have seen in Candide a parody of ‘romance’ and Voltaire certainly used an array of ‘romance’ commonplaces, such as shipwrecks, pirates, bastard birth, abductions and recognition. What is less well known, however, is that most of these stereotype elements apply to hagiography as well as to ‘romance.’“ (842) Hier sei der Vollständigkeit halber noch auf die Parallelen zwischen homerischen Epen einerseits und Candide andererseits verwiesen (Rubino- 85), und auf die (mögliche) Klassifizierung des Candide als „paradox“ (Grieder-485). 144 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Die „Kompression“ der Erzählung verweist also auf spezifische Erzähltraditionen („romance conventions“, „heroic novel“). Genau wie in der von Lynch analysierten Kapitelüberschrift, wird im Text immer wieder in atemberaubendem Tempo erzählt. Laut Lynch zwingt dieses Verfahren, jenseits des intertextuellen Bezugs, den Leser und Candide „ into reality .“ (Hervorhebung T.E.) Josephine Grieder beschreibt die grundsätzliche Struktur des Candide ähnlich als „the intrusion, or more strongly, the interruption of the real world into the ideal.“ (486) Die Deutungen sehen also die „echte Welt“ bzw. „die Realität“ in den Text (und die von ihm parodistisch aufgerufenen Idealvorstellungen) hereinbrechen. Diese Interpretationen sollen hier weiterverfolgt werden, wobei das erzählerische Tempo zusätzlich als Mittel zur Kompression der im conte dargestellten Ganzheit gedeutet werden soll. Wie jeder Kompression des Raums geht auch dieser dessen vorläufige Vergrößerung voraus (vgl.-I.1.1). Besonders anschaulich ist folgende Passage, räumlich situiert an der Küste Englands, in der Candide die Hinrichtung eines Generals beobachtet: En causant ainsi ils abordèrent à Porstmouth [sic] ; une multitude de peuple couvrait le rivage, et regardait attentivement un assez gros homme qui était à genoux, les yeux bandés, sur le tillac d’un des vaisseaux de la flotte ; quatre soldats, postés vis-à-vis de cet homme, lui tirèrent chacun trois balles dans le crâne, le plus paisiblement du monde, et toute l’assemblée s’en retourna extrêmement satisfaite. (136/ 23) 211 Die Gewalt der Hinrichtung wird detailliert beschrieben und tritt im Kontrast zu der Gelassenheit der ausführenden Soldaten umso fühlbarer hervor. Die in Candide laufend verwendete Formel der „meilleur des mondes possibles“ (47/ 1, 56/ 4, 62/ 5 etc.) scheint durch die Formulierung „le plus paisiblement du monde“ spürbar hindurch und bindet das kühl-grausame Geschehen beiläufig an die FdG ‚ monde ‘. 212 Durch die Verwendung der FdG hat der Master -Topos der Theodizee seinen subtilen Auftritt, gegen dessen vom Text zugespitztes Leitmotiv des ‚ tout est bien ‘ die Gewalt umso deutlicher hervorsticht. Weiter rückt der Text den Siebenjährigen Krieg sowie die Fernwirkungszusammenhänge, die dieser generiert, in den Fokus, wie ein Blick auf den unmittelbaren Kotext des zitieren Passus deutlich macht: „Vous savez que ces deux 211 Die deutsche Übersetzung tilgt monde schlicht: „[E]ine ungeheure Menschenmenge bedeckte das Ufer und schaute aufmerksam auf einen ziemlich wohlbeleibten Mann, der mit verbundenen Augen auf dem Deck eines Kriegsschiffes kniete; vier Soldaten, die diesem Mann gegenüber aufgestellt waren, schossen ihm seelenruhig drei Kugeln in die Hirnschale, und die ganze Gesellschaft ging äußerst befriedigt auseinander.“ (Voltaire, Candid -78/ 23) 212 Die Formel ‚ le meilleur des mondes possibles ‘ wird in viele andere Varianten umgewandelt, so etwa in der Rede von der „meilleure des baronnes possibles“ (Voltaire, Candide- 47/ 1). 3.4 Einsheit der Ganzheit 145 nations [England und Frankreich; T.E.] sont en guerre pour quelques arpents de neige vers le Canada, et qu’elles dépensent pour cette belle guerre beaucoup plus que tout le Canada ne vaut.“ (135/ 23) Die Küste Englands wird erreicht, nachdem der Krieg in Nord-Amerika besprochen wurde. Für die Szene der Hinrichtung ist darüber hinaus relevant, dass sie sich auf den zeitgenössischen Fall des „Admiral John Byng (1704-57)“ bezieht. Dieser war 1756 in den Gewässern von Menorca vom Herzog von Richelieu und La Galissonnière besiegt worden; unter dem Druck der öffentlichen Meinung wurde er als Verräter zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1757 auf dem Deck seines Flaggschiffs erschossen. Der Sieg hatte Frankreich begeistert, die Hinrichtung Byngs empörte. (Voltaire, Candid- 110, Anmerkung-46) 213 Die im Text inszenierte Hinrichtung zeigt also bemerkenswerte Parallelen zu einem historisch belegten Fall, der im Siebenjährigen Krieg prominent diskutiert wurde. Durch den Bezug auf Kanada wird außerdem die Interkontinentalität des Krieges anschaulich, die eine Vergrößerung des Raums erzeugt. „The global dimensions of war are confirmed in the celebrated passage about the icy wastes of North America“ (39; Hervorhebungen T.E.) schreibt Simon Davies hierzu. Der General lässt im Kontext des großen Ganzen sein Leben - was sich in der ‚welt-bezogenen‘ Kaltblütigkeit („le plus paisiblement du monde“), mit der er getötet wird, widerspiegelt. Und auch der Erwähnung des Konflikts in Kanada geht ein Bezug auf die FdG ‚ monde ‘ voraus: Ah! Pangloss-! Pangloss-! Ah! Martin-! Martin-! Ah-! ma chère Cunégonde-! qu’est-ce que ce monde-ci- ? disait Candide sur le vaisseau hollandais. - Quelque chose de bien fou et de bien abominable, répondait Martin. - Vous connaissez l’Angleterre-; y est-on aussi fou qu’en France-? - C’est une autre espèce de folie, dit Martin. Vous savez que ces deux nations sont en guerre pour quelques arpents de neige vers le Canada, et qu’elles dépensent pour cette belle guerre beaucoup plus que tout le Canada ne vaut. (135/ 23; Hervorhebungen T.E.) Dem Passus wohnt nicht wenig Pathos inne, produziert durch die wiederholte Interjektion „Ah“ und die emotionale Ansprache der Mitreisenden mit Namen. 214 Die so gerahmte Frage „qu’est-ce que ce monde-ci-? “ wird zunächst mit einigem Zynismus beantwortet: „Quelque chose de bien fou et de bien abominable“. Die Ganzheit erscheint also als „verrückt und „abstoßen“. Diese ‚Verrückt-Sein‘ 213 „Voltaire sought to save the Admiral by sending a testimony of his valor to England, but to no avail“ (Davies-38). 214 Vgl. hierzu auch Wood u. Cuffe-195-197. 146 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme ergibt sich aus dem Wahn der Kolonialmächte, wie die Frage, ob man in Frankreich ‚ebenso verrückt‘ ist wie in England, in aller Deutlichkeit ausbuchstabiert. Die Pointe, dass der Krieg zwischen beiden Mächten sich nicht ‚rechnet‘, da der Wert des Gebiets in Übersee die Kriegskosten nicht aufwiegt, 215 deckt auf, dass hier alle Teil einer ‚verrückten Welt‘ sind, insofern alle in die Fernwirkungszusammenhänge eines entfesselten Konflikts eingebunden sind. Die FdG ‚ monde-ci ‘ - die im Übrigen in der deutschen Reclam-Übersetzung keinerlei Berücksichtigung findet - 216 verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Das ‚ci‘ betont den Bezug auf diese ‚Welt‘, den der bestimmte Artikel „ce“ ohnehin schon aufruft, noch weiter. So wird der vergebliche Versuch die Ganzheit (bzw. ihren kriegerischen Irrsinn) zu fassen zu kriegen, markiert. In diese Richtung geht auch folgende Textstelle: „En effet le droit naturel nous enseigne à tuer notre prochain, et c’est ainsi qu’on en agit dans toute la terre.“ (99/ 16) Die von der FdG hier aufgerufene ganze „terre“ erscheint als ein Zusammenhang, als „single scene“ (Kjørholt-62), die ganz vom „droit naturel“, „unseren Nächsten zu töten“ ( Candid- 46/ 16), durchdrungen ist. 217 So entsteht der Eindruck eines von den Echos interkontinentaler Konflikte durchgängig durchzogenen Ganzen in dem jeder jeden ermordet. Weiter gestützt wird dieser Eindruck durch folgende Gesamtstruktur der Erzählung: „[T]he narrative’s ciritcal geography […] exposes the way the world and its peoples are connected by the joint forces of war and commerce.“ (Kjørholt-84) Wohin die Protagonisten reisen, bestimmt also das Bild, das diese von der Ganzheit gewinnen. Candide ist von der Exekution so erschüttert, dass er England sofort wieder verlassen will: Candide fut si étourdi et si choqué de ce qu’il voyait et de ce qu’il entendait qu’il ne voulut pas seulement mettre pied à terre, et qu’il fit son marché avec le patron hollandais (dût-il le voler comme celui de Surinam) pour le conduire sans délai à Venise. Le patron fut prêt au bout de deux jours. On côtoya la France-; on passa-à la vue de Lisbonne, et Candide frémit. (136/ 23) Das Vorhaben, England als neuen Schauplatz zu betreten, wird aufgegeben zugunsten eines überhasteten Aufbruchs. Die Erzählung erwähnt kaum die Verhandlung der nächsten Reise. Die Umschiffung Frankreichs wird denkbar kurz 215 Vgl. zu den Kriegskosten Brewer-124. 216 Dort heißt es nur „Was ist die Welt eigentlich? “ ( Candid- 77/ 24) 217 Vgl. hierzu auch diese Passage des Textes: „- A propos, dit Candide, pensez-vous que la terre ait été originairement une mer, comme on l’assure dans ce gros livre qui appartient au capitaine du vaisseau-? - Je n’en crois rient du tout, dit Martin, non plus que toutes les rêveries qu’on nous débite depuis quelque temps, - Mais à quelle fin ce monde a-t-il été formé-? dit Candide. - Pour nous faire enrager, répondit Martin.“ (122/ 21) 3.4 Einsheit der Ganzheit 147 erzählt („On côtoya la France“) und auch Lissabon fliegt vorüber („on passa- à la vue de Lisbonne“). Wiederum also erhöht sich das Erzähltempo und große räumliche und zeitliche Dimensionen werden übereilt wiedergeben und so stark komprimiert. Den einzigen Widerhall findet die rasante Weiterreise im körperlichen Erzittern des Protagonisten. Es lassen sich weitere Beispiele solcher Beschleunigung/ Kompression nennen: Als Cunégonde in Italien nicht angetroffen wird, da sie zu dieser Zeit in Konstantinopel ist, reagiert Candide wie folgt: „Ah ciel- ! à Constantinople- ! mais fût-elle à la Chine, j’y vole, partons.“ (150/ 26) Die Distanz nach China schmilzt in Candides Eifer auf ‚im Flug‘ überbrückbare Distanz zusammen. Und nicht nur stellenweise artikulierter Enthusiasmus befeuert den Topos des Komprimierens der Ganzheit, sondern ganz allgemein wird die Bejahung der These der Theodizee in dieses Verfahren eingebunden. Bei einer der zahllosen ‚gelehrten‘ Diskussionen der Frage ob diese Welt eine gute sei, wird, die Verschleppung der Protagonisten durch Seeräuber rekapitulierend, die Frage aufgeworfen: „Ce pirate ne nous a-t-il pas menés au cap de Matapan, à Milo, à Nicarie, à Sanos, à Petra, aux Dardanelles, à Marmora, à Scutari? “ (154f./ 27) Die unfreiwillige Reise als Gefangene von Seeräubern führt, so der Tenor, durch eine schnelle Überbrückung großer Distanzen hin zum vorgesehenen Ort, dem ‚günstigen‘ Fort- und Ausgang der Geschichte in die Hände spielend. Das Übel einer Verschleppung erscheint im Ganzen betrachtet als Teil einer wohleingerichteten Ganzheit. Die unter dramatischen Umständen zurückgelegte Strecke wird als enge Reihung wiedergegeben, die weit entfernte Orte aneinanderpresst: eine Kompression, die als ironischer Beleg des Gut-Eingerichtet-Seins der Ganzheit präsentiert wird. So greifen im Text Vergrößerung und Beschleunigung ineinander und erzeugen - stets vor dem Hintergrund der Theodizee-Debatte - den Eindruck einer komprimierten, vom Wahnsinn des Krieges geprägten Ein s heit. 3.4.2 „Sur ce globule“: Die komprimierte Ganzheit Unmittelbar nachdem die Protagonisten die Sklavenkolonie Surinam auf einem Schiff Richtung Europa verlassen haben, wird die Ganzheit thematisiert. 218 Martin, eine Kontrastfigur zu den Optimisten Pangloss und Candide, sieht sich währenddessen, aufgrund seines ‚Pessimismus‘, mit dem Vorwurf konfrontiert, er müsse vom Teufel besessen sein: - Il faut que vous ayez le diable au corps, dit Candide. - Il se mêle si fort des affaires de ce monde , dit Martin, qu’il pourrait bien être dans mon corps, comme partout ailleurs-; 218 Vgl. auch Kjørholt-62. 148 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme mais je vous avoue qu’en jetant la vue sur ce globe , ou plutôt sur ce globule , je pense que Dieu l’a abandonné à quelque être malfaisant- ; j’en excepte toujours Eldorado. (119/ 20; Hervorhebungen T.E.) Der Passage wohnt eine Prozessualität inne, insofern sie insgesamt drei verschiedene FdG - monde, globe und globule - der Reihe nach vorbringt. Die FdG ‚ globe ‘ findet sich im gesamten Candide nur zweimal; diese spezifische Form der Bezugnahme auf das Ganze sticht somit hervor, da sich der Text ansonsten bevorzugt der FdG ‚ monde ‘ und ‚ terre ‘ bedient (vgl. Tabelle 1). Nachdem über den bestimmten Artikel „ce“ zunächst klargestellt wird, dass man über diese ‚Welt‘ spricht, fällt die FdG ‚ globe ‘, die anschließend zum - im Text einzigartigen - globule umgeformt wird. Diese ungewöhnliche Prägung beinhaltet eine ‚zutreffendere‘ („plutôt“) und präzisere Beschreibung der Totalität. Denn der Diminutiv globule verdeutlicht die Vorstellung einer kleinen, komprimierten Totalität wie keine andere FdG im Text. Ernst Sander, der Übersetzer der deutschen Reclam-Ausgabe des Candide, überträgt globule sehr treffend als „Erdkügelchen“ ( Candid 62/ 20). So einleuchtend und einprägsam ist diese FdG, dass sie ihren Weg findet in die folgende, von Kjørholt formulierte Beschreibung des Textes: „ Candide’s world seems neither infinite nor heterogenous, but on the contrary small, like a globule.“ (62) Die Bildung der FdG ‚globule‘ geht aus einem leicht übersehbaren, spezifischen Verfahren hervor. Der im Passus evozierte globe ist Objekt eines Blickes und erscheint im Zuge einer ausgeprägten Metaphorik der Sichtbarkeit als globule : „je vous avoue qu’en jetant la vue sur ce globe, ou plutôt sur ce globule“ (Hervorhebungen T.E.). Nur so kann die Ganzheit als über schau bar erscheinen und auf Distanz gerückt werden. Durch die Metaphorik des auf den globe/ globule geworfenen Blickes, wird die Ganzheit vor den Betrachter gerückt (vgl.-II.2.1) und eingeschrumpft. Doch die dergestalt inszenierte Totalität ist nicht nur klein, sie ist auch, wie die religiöse Semantik im Passus vorbereitet, ‚gering‘. Die Ganzheit erscheint nicht nur deshalb als „Erdkügelchen“, weil sie im restlichen Text immer wieder als äußert überschaubarer Ereignisraum inszeniert wird, sondern auch, weil sie ‚von Gott verlassen‘ und so dem Teufel („être malfaisant“) ausgeliefert ist. Die Argumentation beruht dabei auf einer imaginierten Omnipräsenz, die an die FdG ‚ monde ‘ gebunden ist. Weil der Teufel die ‚Angelegenheit dieser Welt‘ allseits durchdringt, bewohnt er auch den individuellen Körper Martins: „Il se mêle si fort des affaires de ce monde, dit Martin, qu’il pourrait bien être dans mon corps, comme partout ailleurs “ (Hervorhebung T.E.). Die religiöse Metaphorik zeigt so eine einheitlich vom Teufel durchdrungene Ganzheit und codiert gleichzeitig deren ‚niedrigen‘ Charakter. Der Körper Martins bringt exemplarisch zur 3.4 Einsheit der Ganzheit 149 Anschauung, dass das Ganze durchgängig vom Bösen durchdrungen ist. Auf die FdG ‚ globule ‘ wird also nicht nur mit einem distanzierten Blick geschaut, auf sie wird herab geschaut. Der allgemeine ‚Pessimismus‘ der Passage ist dabei noch geprägt vom kolonialen Unbehagen, das die Sklavenkolonie Surinam bei den Protagonisten hinterlassen hat. Die pessimistische Haltung wird auf Martin ausgelagert und in Kontrast gesetzt zu den optimistischen Protagonisten Candide und Pangloss. Dass Eldorado hierbei explizit ausgeschlossen wird („j’en excepte toujours Eldorado“), bezieht den Pessimismus nur umso stärker auf diese ‚Welt‘ („ ce monde“; Hervorhebung T.E.), denn der Text ruft, mit Ausnahme Eldorados, nur Orte auf, die man auch auf der realen Erde besuchen kann. Durch die Nennung Lissabons, Englands, Surinams, Westfalens 219 , Konstantinopels etc., wird die Geografie eines spezifischen Raumes entworfen: „Voltaire draws out a historical geography that establishes the common ground of the cosmopolitan and the slave-the geography of the eighteenth-century global market.“ (Kjørholt-63) 220 Der Abstand zwischen den Orten dieser Geografie schmilzt jedoch auf den Raum eines ‚Erdkügelchens‘ zusammen, das in seinen Eigenschaften neu bestimmt wird: überschaubar, klein/ komprimiert, niedrig, dem Bösen übergeben. 3.4.3 Verkettet-Sein der Ganzheit „- Que d’épouvantables calamités enchaînées les unes aux autres-! dit Candide.“ (155/ 27) Aussagen wie diese machen auf einen Topos im Text aufmerksam, laut dem sich die im Text inszenierte Totalität vor allem durch ihr Zusammen-Hängen auszeichnet, ausgedrückt durch die im Text wiederholt aufkommenden Metapher des Verkettet-Seins („enchaînées“). Sie trägt wesentlich zur Inszenierung der Ein s heit der Ganzheit in Candide bei. Ein wichtiges Element der ‚Verkettung‘ besteht in der Verknüpfung der verschiedenen Plotelemente (siehe 219 „Collectively, these journeys draw a map that charts, in an interesting way, the political borders of imperial Europe. The name of ‘Westphalia’ points to the establishment of Europe as a political entity: in the mid-eighteenth century much of Europe had been recently defined by a series of transnational treaties and laws, of which the Peace of Westphalia (1648) was the most important. Its aim was to legitimize and regulate the sovereign state as well as to form a political framework for the expanding global economy.“ (Kjørholt-62f.) 220 Zudem ergibt sich die konkrete literarische Ausgestaltung der textuellen Geografie des Candide aus zwei prominenten intertextuellen Bezügen, auf die Damrosch aufmerksam macht: Behns Oroonoko - auf den der Text vor allem durch die Reise nach Surinam verweist - und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (Damrosch-484). Vgl. außerdem Rubino, der ausführt, dass die Protagonisten des Candide „live in the very real world of eighteenth-century Europe, at the moment when the corroded old order is teetering on the verge of collapse.“ (92) 150 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme auch-III.3.4.1). Besieht man sich die folgende Textstelle am Ende des conte , dann wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen den Ereignissen nicht nur äußerst geschickt inszeniert, sondern auch von den Figuren aufschlussreich diskutiert und (wieder und wieder) rekapituliert wird: Tous les événements sont enchaînés dans le meilleur des mondes possibles-: car enfin, si vous n’aviez pas été chassé d’un beau château à grands coups de pied dans le derrière pour l’amour de mademoiselle Cunégonde, si vous n’aviez pas été mis à l’Inquisition, si vous n’aviez pas couru l’Amérique à pied, si vous n’aviez pas donné un bon coup d’épée au baron, si vous n’aviez pas perdu tous vos moutons du bon pays d’Eldorado, vous ne mangeriez pas ici des cédrats confits et des pistaches. - Cela est bien dit, répondit Candide, mais il faut cultiver notre jardin. (167/ 30; Hervorhebung T.E.) Im ersten Satz der Passage wird zunächst die enge Verquickung der Theodizeethese mit der Verkettung ausbuchstabiert und an die FdG ‚ monde ‘ gebunden: „Tous les événements sont enchaînés dans le meilleur des mondes possibles“. Pangloss betont, dass alle Ereignisse des Plots in der genannten Reihenfolge passieren mussten , sonst würde Candide, jetzt (am idyllischen Ende der Geschichte), nicht genüßlich speisen können. Dass alles miteinander verkettet ist, gilt hier als Beweis für die These von der besten aller möglichen Welten, wobei diese Beweisführung angesichts des entweder profanen oder misslichen Charakters der beschriebenen Ereignisse als hochironisch zu verstehen ist. Wie weiter oben (III.3.4.1) bereits besprochen wurde, ergibt sich die Komik des Weiteren aus der parodistischen Bezugnahme auf das Genre des „Abenteuerromans“ (Hellwig 158), wie folgende Beschreibung plausibel macht: The journey itself, which typically comprises the bulk of the novel, consists of the kind of adventures we think of as romanesque: separations, shipwrecks, enslavements, abductions, apparent deaths, miraculous resurrections, apparent infidelities, and tender reconciliations. These accidents are unified because they are connected to the principal event of the novel-the marriage of the lovers-but they also provide the expansiveness characteristic of both romance and epic. Moreover, the loosely unified format of the novels allows room for stylistic embellishment. […]. The various companions met on the journey give way to interlaced histories which often mirror the providential schema on which the novel as a whole is based. (Lynch-36f.) 221 Der Plot des Abenteuerromans ist damit gleichzeitig als Kontrastfolie und Matrix der Darstellung einer ganz anderen Form von globaler Verkettung zu ver- 221 Vgl. jedoch auch Severin-842. 3.4 Einsheit der Ganzheit 151 stehen, d. i. der idealen Schicksalszusammenhänge des Abenteuerromans. 222 Romanhafte Ereignisketten und globales Verkettet-Sein greifen somit ebenso ineinander, wie sie sich voneinander absetzen lassen. Im Fall des Erdbebens von Lissabon, welches eines der ersten Ereignisse im Text überhaupt darstellt, wird das Verkettet-Sein wiederum anders erzählt: « - Ce tremblement de terre n’est pas une chose nouvelle, répondit Pangloss-; la ville de Lima éprouva les mêmes secousses en Amérique l’année passée- , mêmes causes, mêmes effets-: il y a certainement une traînée de soufre sous terre depuis Lima jusqu’à Lisbonne. - Rien n’est plus probable, dit Candide-; mais, pour Dieu, un peu d’huile et de vin. - Comment, probable- ? répliqua le philosophe- ; je soutiens que la chose est démontrée.-» Candide perdit connaissance, et Pangloss lui apporta un peu d’eau d’une fontaine voisine. (61/ 5) Hier wird eine geologische Anomalie beschrieben, welche das europäische Lissabon und das südamerikanische Lima (welches 1746 ein verheerendes Erdbeben erleiden musste) physisch miteinander verbindet und damit in einen Wirkungszusammenhang einbettet; das Verkettet-Sein der Ganzheit wird als geologisches Phantasiegebilde „sous terre“ literalisiert. Assoziiert wird dies mit der Vorstellung von konstanten Naturgesetzen (ebenfalls ein Mantra im Text): „mêmes causes, mêmes effets“. Insofern dieser Grundsatz der Naturwissenschaften überall gleichermaßen gilt, erscheint die Ganzheit als homogen. Die bebende terre soll damit als berechenbar erscheinen, als Ganzheit, die, wenn man so will, ‚verständliche Katastrophen‘ produziert. Dass die überirdische bzw. transatlantische Verbindung zwischen Europa und Südamerika ebenfalls katastrophale Auswirkungen hat (vgl. Abschnitt-III.3.5), wird hier allenfalls subtil angedeutet. Natürlich ist diese Erklärung dieses Ereignisses kein Garant für Sicherheit vor weiteren Beben: Candide fut fessé en cadence, pendant qu’on chantait-; le Biscayen et les deux hommes qui n’avaient point voulu manger de lard furent brûlés, et Pangloss fut pendu, quoique ce ne soit pas la coutume. Le même jour, la terre trembla de nouveau avec un fracas épouvantable. (64/ 6) Die ‚Erde‘ erscheint so als nicht beeinflussbar, denn noch am selben Tag kommt es zu einem weiteren Erdbeben; nur eine allzu naive Glaubensperspektive denkt das Ganze als beeinflussbaren Gegenstand. Der Abstand, der so zwischen menschlicher Meinung und menschlichem Handeln einerseits und der Ganzheit andererseits aufscheint, führt den Leser zur Erkenntnis, dass die These von 222 Für die Formulierung der in diesem Satz wiedergegebenen These habe ich Jörg Dünne zu danken. 152 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme der bestmöglichen Welt nicht auf die von Beben erschütterte Erde Anwendung finden kann. Die FdG ‚ terre ‘ rückt in einen Bereich, der sich der Einflussnahme und korrekten Deutung seitens der Kirche und anderer Institutionen entzieht. Die philosophische Haltung gegenüber der Ganzheit ändert sich dadurch freilich nicht, sondern sie verhärtet sich im weiteren Verlauf immer wieder von Neuem auf ein Bestehen auf der These von der besten aller möglichen Welten: Nous disputions sans cesse, et nous recevions vingt coups de nerf de bœuf par jour, lorsque l’enchaînement des événements de cet univers vous a conduit dans notre galère, et que vous nous avez rachetés. - Eh bien- ! mon cher Pangloss, lui dit Candide, quand vous avez été pendu, disséqué, roué de coups, et que vous avez ramé aux galères, avez-vous toujours pensé que tout allait le mieux du monde-? - Je suis toujours de mon premier sentiment, répondit Pangloss-; car enfin je suis philosophe-: il ne me convient pas de me dédire, Leibnitz ne pouvant pas avoir tort, et l’harmonie préétablie étant d’ailleurs la plus belle chose du monde, aussi bien que le plein et la matière subtile. (160/ 28) Auch „gehängt, seziert, geprügelt“ ( Candid -99/ 28) war Pangloss nicht von seiner philosophischen Überzeugung abzubringen. Die Passage nennt neben den erfahrenen Übeln zweimal die FdG ‚ monde ‘ und koppelt den Topos der allseitigen Verkettung an die FdG ‚ univers ‘(„l’enchaînement des événements de cet univers“). Der wortwörtliche Bezug auf Leibniz verortet die Diskussion explizit in der theologisch-philosophischen Debatte. Jedoch fällt auf, dass die Philosophie Leibniz’ selbst zwar die schönste „du monde“ sei, dass sie selbst jedoch anstelle von monde von „l’harmonie préétablie“, „le plein“ („der Weltprozeß“, Candid- 99/ 28) und „la matière subtile“ („Urmonaden“, Candid 99/ 28) spricht. Das Missverständnis der Anwendung der Vorstellungen von Leibniz auf allzu unmittelbare Zusammenhänge wird so durch eine säuberliche Trennung im Vokabular - monde auf der einen Seite, fachspezifische Terminologie auf der anderen - markiert. 3.4.4 Synchronität der Ganzheit Am Ende des Candide steht die bemerkenswerte Parallelführung des Rückzugs der Charaktere in die Peripherie mit dem Ablauf bedeutender politischer Ereignisse: „Pendant cette conversation, la nouvelle s’était répandue qu’on venait d’étrangler à Constantinople deux vizirs du banc et le muphti, et qu’on avait empalé plusieurs de leurs amis. Cette catastrophe faisait partout un grand bruit pendant quelques heures.“ (165/ 30) Unter dem einleitenden „Pendant“ werden äußerst verschiedene Ereignisse in den gleichen zeitlichen Zusammenhang eingebettet (zur weiteren Analyse des Schlusses vgl. III.3.6). In diesem Zusammen- 3.4 Einsheit der Ganzheit 153 hang ist auch auf eine bereits zitierte Textstelle des conte noch einmal einzugehen: Pendant que Candide, le baron, Pangloss, Martin, et Cacambo, contaient leurs aventures, qu’ils raisonnaient sur les événements contingents ou non contingents de cet univers, qu’ils disputaient sur les effets et les causes, sur le mal moral et sur le mal physique, sur la liberté et la nécessité, sur les consolations que l’on peut éprouver lorsqu’on est aux galères en Turquie, ils abordèrent sur le rivage de la Propontide, à la maison du prince de Transylvanie. Les premiers objets qui se présentèrent furent Cunégonde et la vieille, qui étendaient des serviettes sur des ficelles pour les faire sécher. (160f./ 29) Der Passus wird wiederum durch ein „Pendant“ eingeleitet, dessen ‚Gleichzeitigkeit‘ auf den gesamten Textabschnitt bezogen ist. Die deutsche Übersetzung der Reclam-Ausgabe wiederholt, um dies deutlich zu machen, sogar dreimal das Wort ‚während‘. 223 Die Gesprächsinhalte - die erzählten Abenteuer, die Kontingenz von Ereignissen, und die Frage nach dem „moralischen und physischen Übel“ ( Candid -100/ 29) - werden alle im Modus des ‚während‘ besprochen, genau wie während all dieser Gespräche das Schiff im Hafen einläuft; alle Ereignisse und Inhalte erscheinen als zeitgleich . Dass vor Ort gleich die gesuchten Personen angetroffen werden, spielt den bereits zuvor analysierten Eigenschaften der Ganzheit - komprimiert und verkettet zu sein - in die Hände; genau so, wie es das Klischee der idealen Schicksalszusammenhänge des Abenteuerromans bedient. Der unwahrscheinliche Zufall produziert aber auch eine synchrone Zeitlichkeit, in welcher alle Ereignisse nahtlos ineinandergreifen. Briefe können in dieser Ganzheit auf der Handlungsebene ihre Funktion als Kommunikationsmittel zwischen den Figuren nicht mehr erfüllen. Sie sind ein unbrauchbar gewordenes Medium, da die Wege der Reiseerzählung große Distanzen zu schnell überbrücken: Je crois, dit l’abbé, que mademoiselle Cunégonde a bien de l’esprit, et qu’elle écrit des lettres charmantes-. - Je n’en ai jamais reçu, dit Candide-; car, figurez-vous qu’ayant été chassé du château pour l’amour d’elle, je ne pus lui écrire-; que bientôt après j’ap- 223 „ Während Candid, der Baron, Pangloß, Martin und Cacambo einander ihre Abenteuer erzählten, während sie über den Zusammenhang oder den mangelnden Zusammenhang der Dinge dieser Welt schwatzten, während sie über die Wirkungen und Ursachen, das moralische und das physische Übel, über Freiheit und Notwendigkeit und die Trostgründe eines türkischen Galeerensträflings disputierten, landeten sie am Ufer des Bosporus beim Haus des Fürsten von Siebenbürgen. Das erste, was sie erblickten, waren Kunigunde und die Alte, die Handtücher zum Trocknen auf Wäscheleinen hängten.“ (Voltaire, Candid -99f.; Hervorhebungen T.E.) 154 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme pris qu’elle était morte, qu’ensuite je la retrouvai, et que je la perdis, et que je lui ai envoyé à deux mille cinq cents lieues d’ici un exprès dont j’attends la réponse. (132/ 22) Der Brief, den Candide am nächsten Morgen erhält, ist eine Fälschung und stammt nicht aus Cunégondes Feder. Der Brief als Topos sowie die im Kotext der Passage von Candide geweinten Tränen, sind als Seitenhieb auf die empfindsame Literatur der Zeit zu lesen. 224 Zugleich tragen die Briefe zur Inszenierung der Ganzheit als kleinem, da schnell zu durchreisendem Raum bei, der so als synchroner Ereigniszusammenhang erscheint, dessen ‚Gleich-Zeitigkeit‘ die Geschwindigkeit von Briefen weit übersteigt. Somit inszeniert der Text die Totalität als „single scene“ (Kjørholt-62), und das heißt genauer als klein/ komprimiert , verkettet und synchron. Diese Inszenierung einer ein s heitlichen Ganzheit wird in ständiger Spannung zum Master -Topos der Theodizee gehalten, der ihr eine Kontrastfolie liefert. 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 3.5.1 Die Ganzheit und die Neue Welt Die Formel der ‚besten aller möglichen Welt‘ wird im conte mitunter in erheblich modifizierter Form wiedergegeben. So äußert sich Candide, der sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Schiff nach Amerika befindet, wie folgt: -„[Q]uand on n’a pas son compte dans un monde, on le trouve dans un autre. C’est un très grand plaisir de voir et de faire des choses nouvelles.“ (89f./ 14) Die hier genannte monde erscheint nicht als Ganzheit eines theologischen Streits, sondern als konkreter Raum, der zugunsten einer anderen monde verlassen werden kann. Dem frei reisenden Subjekt - d. h. dem privilegierten ‚Kosmopoliten‘ Candide und seinen Begleitern (vgl. Aravamudan-229f.) - stehen so Ausweichmöglichkeiten offen, der Besuch anderer ‚Welten‘. 225 Die deutsche Reclam-Übersetzung bedient sich eines Welt-Kompositums, um dieser Bedeutung Ausdruck zu verlei- 224 Briefe schaffen „allein auf Grund ihrer medialen Struktur exakt jene Bedingungen, aus denen auf semantischer Ebene die Fetische der Empfindsamkeit hervorgehen: Distanz, die Nähe suggeriert und eine Sprache der Distanzlosigkeit freigibt; Abschneidung des Körpers, die durch ungehinderte Zusammenkunft der Geister abgegolten wird; Abstreifung des Äußerlichen, die es ermöglicht, daß die hüllenlosen Innerlichkeiten miteinander verschmelzen.“ (Koschorke, Körperströme -195) 225 „The cosmopolitan is the philosophical product of the Enlightenment par excellence, even as the slave is its capitalist outcome. Both figures are each other’s specular opposite: the cosmopolitan hovers above the globe in the ether, unwilling to be identified with any single locale or polity“ (Aravamudan-237). 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 155 hen: „[W]enn’s einem in einem Weltteil schlecht geht, zieht man eben in einen andern.“ ( Candid- 38/ 14) Einerseits macht diese Übersetzung die Räumlichkeit des Originals sehr deutlich - sie verschleiert andererseits aber auch, dass hier die Ganzheit der „Welt“ im französischen Original in ‚Welt en ‘ aufgefächert wird. Das naive „C’est un trés grand plaisir de voir et de faire des choses nouvelles“ betont in seiner provokanten Banalität weiter die Ahnungslosigkeit Candides über die Zustände in anderen Weltteilen. Dies steht in Einklang mit einem im Text immer wieder aufgegriffenen Verfahren, in dem verschiedene Erdteile satirisch auf ihre Tauglichkeit als ‚beste aller möglichen Welten‘ geprüft werden. In folgendem Passus dagegen, in dem Candide die Foltern der Bulgaren zu erdulden hat, kann er sich nicht recht vorstellen, dass die hiesige ‚Welt‘ die ‚bestmögliche‘ ist: „Si c’est ici le meilleur des mondes possibles, que sont donc les autres-? Passe encore si je n’étais que fessé, je l’ai été chez les Bulgares […]-! “ (64/ 6) Der Plural, der mit der Rede von der besten aller möglichen Welt en einhergeht, wird aufgegriffen, mit der satirischen Pointe, dass eine andere, schlimmere Welt als die in diesem Moment von Candide erfahrene, kaum vorstellbar ist. Das Fragen nach anderen Welt en wird im Candide schließlich auch ganz unmittelbar auf die ‚Neue Welt‘ angewendet: „Nous allons dans un autre univers, disait Candide; c’est dans celui-là, sans doute, que tout est bien.-Car il faut avouer qu’on pourrait gémir un peu de ce qui se passe dans le nôtre en physique et en morale.“ (74/ 10) Und weiter heißt es: „Tout ira bien, répliquait Candide- ; la mer de ce nouveau monde vaut déjà mieux que les mers de notre Europe-; elle est plus calme, les vents plus constants. C’est certainement le nouveau monde qui est le meilleur des univers possibles.“ (ebd.) Die Neue Welt wird so, über das satirische Spiel mit der Frage nach der ‚besten aller möglichen Welten‘, als mögliche ‚beste Welt‘ genannt. Die monde in nouveau monde wird so rekontextualisiert. 226 Weiter wird hier die FdG ‚ univers ‘ aufgerufen, die den Übertritt in eine dezidiert andere , von Europa zu unterscheidende, Sphäre deutlich macht („Nous allons dans un autre univers“). Die dort angetroffenen klimatischen Bedingungen sollen diesen Übergang, so suggeriert es Candides Deutung, weiter markieren: dieses Meer ist ‚besser‘, und wird so zur ‚bestmöglichen‘ Ganzheit gehören. Indem die FdG ‚ univers ‘ abschließend monde ersetzt und so die übliche Formulierung le meilleur des mondes possibles verdrängt, wird die nouveau monde zum „le meilleur des univers possibles“, wodurch die Übertragung der Vorstellung der Theodizee auf einen konkreten Teil der Erde - Amerika, bzw. 226 Ein weiteres Beispiel für diese Bezugnahme auf die ‚Neue Welt‘ ist bei Descartes zu finden, der über die Unterscheidung zwischen einer imaginierten Welt und der Neuen Welt den Status seiner Ausführungen zur Ganzheit in Le Monde in die Nähe göttlicher Schöpfung rückt (vgl. Ramachandran-133f. bzw.-147). 156 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme genauer: Südamerika - geleistet wird. 227 Angesichts des kolonialen Grauens, welches Candide und seine Begleiter in Amerika erwartet, ist die Reflexion auf die ‚Neue Welt‘ als ‚beste Welt‘ umso bemerkenswerter und zynischer; „[a]s for the new world, Candide is clearly wrong about this being the place where all is well, because cruelty, conflict, and greed are not restricted to the old world“ (Wood u. Cuffe-197). Anhand Eldorados (vom Text traditionsgemäß in Südamerika situiert) wird explizit, dass alle Teile der Ganzheit - außer Eldorado - kolonialer Gewalt ausgeliefert sind. Denn der Sonderstatus Eldorados wird dadurch erklärt, dass deren politische Oberhäupter „ordonnèrent, du consentement de la nation, qu’aucun habitant ne sortirait jamais de notre petit royaume; et c’est ce qui nous a conservé notre innocence et notre félicité.“ (Voltaire, Candide -106/ 18) Noch konkreter äußert sich das Verhältnis zwischen Eldorado und dem restlichen kolonialen Zusammenhang in dieser Formulierung: „Le royaume où nous sommes est l’ancienne patrie des Incas, qui en sortirent très imprudemment pour aller subjuguer une partie du monde, et qui furent enfin détruits par les Espagnols.“ (ebd.) Im Kontrast zu Eldorado erscheint die im Text inszenierte Ganzheit umso mehr als Ein s heit, denn: „Je n’ai trouvé jusqu’à présent dans toute la terre habitable, excepté dans Eldorado, que des infortunés“ (138/ 24). Es handelt sich um eine ‚unglückliche‘ Ein s heit, deren ‚Unglück‘ als koloniales ausgewiesen wird. 228 Quel est donc ce pays, disaient-ils l’un et l’autre, inconnu à tout le reste de la terre , et où toute la nature est d’une espèce si différente de la nôtre-? C’est probablement le pays où tout va bien-: car il faut absolument qu’il y en ait de cette espèce. Et, quoi qu’en dît maître Pangloss, je me suis souvent aperçu que tout allait mal en Vestphalie. (105/ 17; Hervorhebungen T.E.) Eldorado wird angeführt, um in Abgrenzung zu diesem Gebiet Westfalen und den Rest der inszenierten „Erde“ („tout le reste de la terre“) umso deutlicher als ‚schlechte‘ Ganzheit herauszustellen; „the best of all worlds can be found and enjoyed, but only at the cost of total separation from the turbulent and changing world humans have the habit of living and dying in“ (Wood u. Cuffe-197). Dass der Passus mit „Vestphalie“ endet, ist eine Pointe für sich, die sich aus der Sonderrolle Westfalens im historischen Kontext erklärt: 227 Hiermit wird weiter der unbestimmte Charakter von univers aufgerufen, der gut zur Beschreibung des von den Protagonisten noch nicht betretenen Amerika passt. 228 Weiter heißt es: „[W]enn Freund Pangloß Eldorado gesehen hätte, würde er nicht länger gesagt haben, das Schloß Thunder-ten-tronckh sei das schönste, was es auf Erden gebe; ganz sicher muß man auf Reisen gehen.“ ( Candid- 53/ 18) Eldorado wird somit eindeutig aufgerufen, um den Rest der Erde dagegen abzusetzen. 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 157 The name of “Westphalia” points to the establishment of Europe as a political entity: in the mid-eighteenth century much of Europe had been recently defined by a series of transnational treaties and laws, of which the Peace of Westphalia (1648) was the most important. Its aim was to legitimize and regulate the sovereign state as well as to form a political framework for the expanding global economy. (Kjørholt-62f.) Eldorado einerseits, Krieg und Kolonialismus andererseits: Dies ist die Opposition, über welche die Ein s heit der Ganzheit im Kontrast zu Eldorado inszeniert wird. An anderer Stelle heißt es noch einmal in aller Deutlichkeit: „Certainement si tout va bien, c’est dans Eldorado, et non pas dans le reste de la terre.“ (117/ 19) Wiederum wird sich konkret auf die FdG ‚ terre ‘ bezogen, die so als von Schlechtem geprägte Ganzheit beschrieben wird, in Abgrenzung zu Eldorado, das nur insofern als Teil der Ganzheit ‚ terre ‘ gelten kann, als durch sein Beispiel die Verstrickung der restlichen Ganzheit in koloniale Prozesse und militärische Konflikte umso deutlicher herausgestellt werden kann. 3.5.2 „Paradis terrestre“: Optimismus und Welt-Handel Die Auswirkungen des expandierenden Welt-Handels wurden von einer Gruppe einflussreicher europäischer Autoren des 18. Jahrhundert allgemein als äußerst positiv eingeschätzt. 229 Joseph Vogl spricht - hierbei allerdings allgemeiner „das ökonomische Wissen, das sich seit dem siebzehnten Jahrhundert […] formiert“ beschreibend - von einer „Idylle des Markts“ ( Gespenst - 31). Vertreter dieses spezifischen Optimismus ist, neben prominenten Autoren wie Daniel Defoe und Adam Smith, auch der frühe Voltaire: „The idea that luxury merchandise such as wine, coffee, or clothing had brought the Old and the New World together in a positive way pervades much of Voltaire’s early work, expressed perhaps most clearly in the poem ‘Le Mondain’ (1736).“ (Kjørholt 64f.) Größere Ganzheiten (Alte und Neue Welt) schließen sich, so die Vorstellung, zu einer Ganzheit zusammen, deren ‚Einheit‘ vom Handel gestiftet wird. Das lyrische Ich in Voltaires Le Mondain besingt entsprechend den interkontinentalen Handel und artikuliert in aller Deutlichkeit eine zuversichtliche Haltung dessen Auswirkungen betreffend: „Voyez-vous pas ces agiles vaisseaux / Qui, du Texel, de Londres, de Bordeaux, / S’en vont chercher, par un heureux échange, / De nouveaux biens, nés aux sources du Gange,- / Tandis qu’au loin, vainqueurs des musulmans,- / Nos vins de France enivrent les sultans ? “ (296/ V.-24-29) 230 All dies geschieht unter massivem Bezug auf FdG: „Le 229 Vgl. zu dieser Thematik auch den in Melvilles Moby-Dick geäußerten Optimismus, den expandierenden Welt-Markt betreffend (vgl.-III.4.4.3). 230 Das Gedicht wird im Folgenden nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Verszahl‘ zitiert. 158 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme superflu, chose très nécessaire / A réuni l’un et l’autre hémisphère .“ (296/ V.-22f.; Hervorhebungen T.E.) Die Ganzheit wird hier als zunächst in zwei Hemisphären unterteilt dargestellt und kann durch den Handel als Einheit zusammenkommen. Der Fluss von Luxusgütern verbindet, so will es das lyrische Ich, die nördliche und südliche Hemisphäre zu einer ‚glücklichen‘ Einheit. Weiter heißt es: „L’or de la terre et les trésors de l’onde, / Leurs habitants et les peuples de l’air,-/ Tout sert au luxe, aux plaisirs de ce monde . / O le bon temps que ce siècle de fer- ! “ (296/ V.- 19-21; Hervorhebungen T.E.) Hier wird somit eine ‚Erde‘ evoziert, deren Rohstoffe und Luxusgüter einer ‚Welt‘ zum Genuss dienen. Die beiden FdG werden voneinander abgesetzt, um die Wechselwirkung zwischen dem Planeten einerseits, dessen Rohstoffe abzubauen sind, und der Luxusgüter konsumierenden ‚Welt‘ andererseits, darzustellen. Diese Deutung kann zusätzlich durch den Hinweis gestützt werden, dass monde im Französischen auch die Bedeutung „société des hommes, considérée surtout sous ses aspects de luxe et de divertissement“ und „gens bien nés“ besitzt ( FEW , „mǔndus“). Dieser Konnotation der FdG ‚ monde ‘ als ‚High Society‘ bedient sich der Text und erzeugt so eine nuancierte Beschreibung der Ganzheit, in der diese als systemischer und asymmetrischer Zusammenhang erscheint. Die Rohstoffgewinnung und der Konsum von Luxusgütern druch die europäische Oberschicht werden als Wirkungszusammenhang benannt. In der FdG ‚ hémisphère ‘ erscheint die Ganzheit als im Handel vereint, in der Spannung zwischen terre und monde wird ihre Segmentierung in ungleiche Teile ersichtlich. Im Gedicht wird damit ein „paradis terrestre“ (303/ V.-129) inszeniert, in dem sich das lyrische Ich, in Abgrenzung zum biblischen Paradies, platziert. Diese enthusiastische Beschreibung bezieht sich über das „terrestre“ adjektivisch auf die ‚Erde‘, welche so als Raum des Aufschwungs des Handels (und damit in der Terminologie Wallersteins: der Expansion des Welt-Systems) inszeniert wird. Dabei werden die Zentren dieser Ausdehnung explizit genannt: „Soit à Paris, soit dans Londre, ou dans Rome“ (299/ V.-63). Angesichts des allgemeinen Enthusiasmus dieser Zeit, für den der im Le Mondain geäußerte hier exemplarisch stehen soll, ist auf die Schattenseite dieses ‚glücklichen Handels‘ einzugehen. Hervorzuheben ist hier besonders eine der Säulen, auf denen die Expansion des Welt-Systems im 18. Jahrhundert fußt, insofern sie „the economic enabling condition of colonialism“ (Brewer- 1849) darstellt: der Sklavenhandel. In einem der Gründungstexte der oben erwähnten ‚Markt-Idylle‘ ist der Sklavenhandel jedoch bemerkenswert abwesend, wie D. N. Ghosh treffend festhält: „There was no mention of the trade in slaves in Adam Smith’s Wealth of Nations. “ (3681) Auf den französischen Staat im Besonderen bezogen lässt sich dabei festhalten, dass 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 159 slavery-a distant reality accepted then by general opinion with indifference as a normal institution-was a long-standing official policy of the French government and of its absolute monarch, who derived substantial benefits from slave trade and slavery in the colonies. (Hunting-406) Die Gruppe der sogenannten philosophes stellt in dieser Konstellation eine Ausnahme dar, da sie die Praxis des atlantischen Sklavenhandels im 18. Jahrhundert ausführlich debattiert und angreift. 231 Zu ihnen wird auch Voltaire gerechnet, 232 was jedoch, dessen Person betreffend, nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass dieser „indirectly earned part of his fortune from the slave trade via investments in trading companies“ (Kjørholt-82). 233 Somit stellt der Sklavenhandel einen einflussreichen Faktor in der Textproduktion Voltaires dar und ist - eine komplexe Situation knapp beschreibend 234 - eine der Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens seiner Texte. Ungebrochener Optimismus in Bezug auf die Auswirkungen des ‚Handels‘ ist in Candide , der 23 Jahre nach Le Mondain veröffentlicht wird, nicht zu finden 231 „The dates 1748 and 1765 correspond to the publication of two very influential works, from our viewpoint, in ethics, politics, and economics. Montesquieu’s L’Esprit des lois appeared in 1748, and the volumes of the Encyclopédie most important for our study came out between 1751 and 1765. The first works of major philosophes, mentioning slavery incidentally, such as those of Voltaire and Rousseau, were also published during that period. Unlike earlier years, when only a few solitary, barely audible voices protested in France against black slavery, the middle of the eighteenth century saw a gradual awakening of the French collective consciousness under the prodding of the philosophes.“ (Hunting-407) 232 Vgl. hierzu Hunting 417, auch wenn diese dort die Rolle der philosophes meiner Einschätzung nach zu wohlwollend bewertet. 233 „I might mention that both Locke and Voltaire, like thousands of ordinary people, drew income from the African slave trade. […]. From Renaissance Florence and Genoa to eighteenth-century England, each region’s maximum involvement with African slaves coincided with a time of cultural creativity that was at least remotely associated with economic and political power.“ (Davis-459f.) Weiter: „Voltaire held a general view that natural inequalities existed between races. Skin colour, hair, or shape of the face separated people, he believed, and different nations possessed different degrees of reason, relative to the level of civilization in each society. Negroes landed at the bottom of his racial hierarchy“ (Kjørholt-76). 234 „The acquisition of wealth granted Voltaire a degree of independence denied to those who relied on patronage, so that he did not have to write to make a living. In relation to slavery, even if he did not overtly invest in the slave trade, it is possible that Voltaire derived some income from it by placing funds in trading companies. He was pleased in 1768 when a ship was named after him by a member of a family, the Monteaudouin, associated with the slave trade in Nantes. As archival research has shown, the ship was used for the transport not of slaves but of coffee. Nonetheless, slaves would have been involved in the production of that fashionable drink, which was much savored by Voltaire himself.“ (Davies-43) 160 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme (vgl. Kjørholt-80). Jedoch wird in Candide auch keine unmissverständliche Gegenposition inszeniert, im Sinn einer klar ablehnenden Haltung gegenüber den expansiven Prozessen des Welt-Systems. Stattdessen konfrontiert der Text einen überzeichneten, allgemeinen, auf die Ganzheit bezogenen kontinuierlichen Optimismus mit drastischen Darstellungen der Asymmetrie des Welt-Systems, ohne eine Auflösung (welcher Art auch immer) zu imaginieren; warum auch der Schluss des Textes hiervon keine Ausnahme darstellt, wird in Abschnitt III.3.6 deutlich werden. Bevor im nächsten Kapitel auf das Thema der Sklaverei in Candide genauer eingegangen wird, sind einige allgemeinere Passagen im Candide zu betrachten, in denen das ‚generelle Wohl‘ der Ganzheit diskutiert wird. Vor allem der relativistische Aspekt der Theodizee wird dabei vom Text explizit aufgegriffen: «-- Tout cela était indispensable, répliquait le docteur borgne, et les malheurs particuliers font le bien général-; de sorte que plus il y a de malheurs particuliers, et plus tout est bien.-» Tandis qu’il raisonnait, l’air s’obscurcit, les vents soufflèrent des quatre coins du monde, et le vaisseau fut assailli de la plus horrible tempête, à la vue du port de Lisbonne. (58/ 4) Der Bezug auf die Argumentation der Theodizee ist offensichtlich, insofern partikulares Unglück gegen allgemeines Glück ausgespielt wird. Dabei wird die Logik dieses Arguments in seiner ursprünglichen Form - im Ganzen herrscht mehr ‚Glück‘ als ‚Unglück‘ - parodistisch überführt in: ‚Je mehr einzelnes Unglück herrscht, desto zuträglicher ist dies dem Glück im Ganzen ‘ (eine augenscheinlich logisch fehlerhafte und paradox-summarische Vorstellung). Gewissermaßen als ‚Reaktion‘ kommt im Passus ein Sturm auf „des quatre coins du monde“, ein Wetterphänomen also, das explizit auf die Ganzheit gerichtet ist, insofern alle vier Himmelsrichtungen aufgerufen und auf die FdG ‚ monde ‘ bezogen werden. Doch auch dieses Unwetter kann die Diskussion nicht unterbrechen, so starr ist die Position der parodierten Theodizee. In eine ähnliche Richtung gehen folgende Ausführungen im conte , die dem „paradis terrestre“ des Gedichts entgegenstehen, obwohl sie ebenfalls die FdG ‚ terre ‘ aufrufen: „Tout ce que je présume, c’est qu’il y a des millions d’hommes sur la terre cent fois plus à plaindre que le roi Charles-Édouard, l’empereur Ivan et le sultan Achmet. - Cela pourrait bien être, dit Candide.“ (155/ 27) Worauf diese Passage, die aus einer der vielen abstrakten Diskussionen im Text hervorgeht, besteht, ist die Feststellung einer ungleichen Verteilung von Macht und Mitteln - auch, und vor allem, gegen den Interpretationswillen der Theodizee. Doch darf hier die Ironie des Gesagten nicht übersehen werden: Denn worauf man sich hier einigt, ist, dass es viele ‚ärmere‘ Individuen gibt als die politischen Führer dieser Zeit. Die Gesprächspartner verständigen sich also auf eine Plattitüde, die 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 161 nicht als adäquate Beschreibung der sozialen Wirklichkeit angesehen werden kann. Dass dieser flache Gemeinplatz an eine FdG gebunden wird, verweist auf einen größeren, asymmetrischen Zusammenhang, der jedoch nur ironisch und indirekt adressiert wird. 3.5.3 „Étendu par terre“: Der Sklavenkörper und das Ganze Die niederländische Kolonie Surinam wird im Text mehrfach erwähnt, nicht zuletzt, da sie Mitte des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle im kolonialen Geschehen spielt, denn sie ist well known for its exceedingly high mortality rate among slaves, providing ample reasons for Voltaire to locate his hero’s moment of conversion in this particular geographical setting. […]. Surinam is not described as an exotic place, thereby contrasting with Voltaire’s other descriptions of the Americas, such as those of the New World cannibals and human-like apes of Eldorado, the legendary lost land of gold that Spanish conquistadores were looking for as early as the fifteenth century. As a colonial territory, Surinam’s function is to underline a fundamental interconnectedness between the Old and New World-a common infrastructure resulting in the global spread of diseases, a global economy, and global wars. (Kjørholt-73) Zudem ist die Lokalisierung in Surinam auch intertextuell zu deuten, insofern Voltaire eindeutig auf Aphra Behns Oroonoko Bezug nimmt: 235 „Candide’s South American travels include a stop to meet slaves in Surinam, in a tip of Voltaire’s plumed hat to Aphra Behn, whose Oroonoko had recently received its seventh translation into French.“ (Damrosch- 484) Behns Text freilich erzählt die Geschichte der Verschleppung zweier Sklaven nach Surinam, wo der Konflikt bis zu seinem Schluss (dem grausamen Tod der beiden Protagonisten) ausgetragen wird. Surinam ist also ein literarisch bereits hinlänglich etablierter Ort, an dem sich die Eigenschaften der Ganzheit diskutieren und manipulieren lassen. In Candide werden zwei Ausprägungen der Sklaverei thematisiert. Erstens die des sogenannten Dreieckshandels, die über die Darstellung des Sklaven in Surinam verhandelt wird und auf die im Folgenden ausführlich einzugehen ist. 235 Vgl. außerdem: „The choice of a German ‘author’ for Candide’s adventures is particularly apt since Candide is in many ways an updating of Grimmelshausen’s Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1668), set in the Thirty Years’ War, predecessor to the Seven Years’ War that brought about Doctor Ralph’s death. The endlessly naive Simplicius Simplicissimus wanders around war-torn Europe and ultimately visits a hidden utopia, the sunken city of Atlantis; like Candide’s stopover in El Dorado, the detour provides an opportunity for satire against the violence and corruption of modern Europe. Drawing on Grimmelshausen as well as Behn from his vantage point on the Swiss border, Voltaire was an ineluctably international author from the outset.“ (Damrosch-484f.) 162 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Zweitens wird der nordafrikanische Sklavenhandel thematisiert, jedoch ist diese Bezugnahme eher als Exotisierung zu lesen, die sich der Mittel zur Verharmlosung dieser Praxis bedient: The women’s stories discuss slavery by alluding to an orientalized and sexually biased harem fantasy rather than to the Atlantic triangle. In doing so, they refer to another slave tradition, the North African. The North African and the transatlantic slave trade in Candide can be regarded as two different discourses that produce two separate modes of narration. While the former contributes to the text’s exoticism, the latter belongs to the discourse of colonialism. These two discourses offer contrasting explanations of slavery, and they have different functions in the conte . Like cannibals or hidden kingdoms of gold in the New World, depictions of women as sex-slaves functioned as exotic seasoning in European literature. The function of the Negro slave is not to add exotic detail to the story, but to generate sentimental realism. (Kjørholt-78) Laut Kjørholt ist der nord-afrikanische Sklavenhandel, aufgrund der Form seiner Darstellung, als Element eines den Text schmückenden Exotismus zu verstehen, der der Mode der Zeit entspricht. Diese Ornamentik ist dabei dezidiert an die Inszenierung weiblicher Körper gebunden (vgl. Kjørholt-72). Die Erzählung ‚der Alten‘ etwa deckt dabei jedoch eine erhebliche räumliche Ausdehnung ab und trägt insofern ebenfalls zur Dimensionalität der dargestellten Ganzheit bei. Dagegen, so Kjørholt, sei der Dreieckshandel über die Darstellung des Sklaven in Surinam in seiner Textfunktion anders gelagert und produziere Empathie, und sei insofern dezidiert nicht als exotische Ornamentik zu verstehen (vgl. 76f.). Diese Deutung, auf die noch zurückzukommen ist, ist jedoch mindestens spekulativ, denn Kjørholt schreibt: „The function of the Negro slave is not to add exotic detail to the story, but to generate sentimental realism.“ (78) Dies wird an der Reaktion Candides festgemacht: [T]he Surinam passage in Candide may perhaps be about human rights and the cosmopolitan ability to feel empathy with strangers regardless of their racial origin. Although the slave in a matter-of-fact way complains about a barbarian law, and not slavery or bodily humiliation as such, Candide’s response is of another character. He cries out in despair […]. (Kjørholt-77) Candide reagiert jedoch an vielen Stellen des conte äußerst emotional auf verschiedenste Situationen; ein Unterschied scheint so schwer zu skalieren. Die These, welche im Kontrast hierzu vertreten werden soll, lautet wie folgt: Der Dreieckshandel wird in Candide auf eine Weise inszeniert, die diesen in einen größeren Zusammenhang einschreibt, über den Bezug auf die FdG ‚ terre ‘ einerseits und über die Darstellung des Körpers des Sklaven andererseits. 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 163 Zu Beginn des 14. Kapitels nimmt Candide eine weitere Person mit auf die Reise, Cacambo, welcher als „un quart d’Espagnole, né d’un métis dans le Tucuman“ 236 (Hervorhebung T.E.) beschrieben wird, wie man sie häufig „sur les côtes d’Espagne et dans les colonies“ (88/ 14) findet; „[t]he name of Cacambo […] is the Spanish word for a Mestiz from which Voltaire apparently left off the cedilla.“ (Severin-846) Die Beschreibung Cacambos verweist also in besonderem Maße auf koloniale Praktiken und Prozesse, welche Europa und Südamerika miteinander verbinden. Auf Cacambos Vorschlag hin schlägt die Gruppe in Südamerika folgende Richtung ein: „- Tournons vers la Cayenne, dit Cacambo: nous y trouverons des Français, qui vont par tout le monde“ (101/ 17). Das angestrebte Ziel, Cayenne, legt den kolonialen Kontext dieser Passage offen, insofern Cayenne Teil der südamerikanischen Kolonie Französisch-Guyana ist. Dass man dort Franzosen antrifft, versteht sich von selbst, doch Cacambos Kommentar verweist darüber hinaus auf eine ‚Verteilung‘ von Franzosen „par tout le monde“. Mittels der FdG ‚ monde ‘ wird somit die koloniale Rolle der Franzosen angesprochen, in Folge derer sie „überall“ auf der Erde anzutreffen sind; dass ausgerechnet Cacambo diese Einschätzung äußert, rückt das Gesagte noch mehr in den kolonialen Zusammenhang. Durch die hyperbolische Behauptung, Franzosen träfe man allerorts, wird der entfesselte Status des europäischen Kolonialismus greifbar. Die Beschreibung des Sklaven in Surinam liest sich schließlich wie folgt: En approchant de la ville, ils [Candide und Cacambo; T.E.] rencontrèrent un nègre étendu par terre, n’ayant plus que la moitié de son habit, c’est-à-dire d’un caleçon de toile bleue ; il manquait à ce pauvre homme la jambe gauche et la main droite. «-Eh-! mon Dieu-! lui dit Candide en hollandais, que fais-tu là, mon ami, dans l’état horrible où je te vois-? - J’attends mon maître, M. Vanderdendur, le fameux négociant, répondit le nègre. - Est-ce M. Vanderdendur, dit Candide, qui t’a traité ainsi-? - Oui, monsieur, dit le nègre, c’est l’usage. On nous donne un caleçon de toile pour tout vêtement deux fois l’année. Quand nous travaillons aux sucreries, et que la meule nous attrape le doigt, on nous coupe la main ; quand nous voulons nous enfuir, on nous coupe la jambe : je me suis trouvé dans les deux cas. C’est à ce prix que vous mangez du sucre en Europe.-» (112/ 19) Der versehrte Körper „reflects the actual treatment of slaves, and is in accord with the Code noir , the slave code enacted by Louis XIV in 1685 (although Surinam itself was a Dutch possession).“ (Davies 45) Jede der Verstümmelungen - und auch die spärliche Kleidung, die der Sklave am Leib trägt - codiert einen 236 Hierbei handelt es sich um eine „Gegend in Argentinien, nördlich von Buenos Aires“ (Voltaire, Candid- 56, Fußnote 7). 164 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme spezifischen Artikel dieser Gesetzgebung. 237 Der drastisch beschriebene Körper des Sklaven bringt außerdem die kolonialen Vorgänge zur Darstellung, in die Surinam eingebunden ist, und setzt sie in ein explizites Verhältnis zum Zuckerkonsum in Europa. Doch die Frage, wie der Gestus dieser Schilderung zu lesen ist, produziert erstaunlich widersprüchliche Analyseergebnisse. So betont Kjørholt, dass diese Beschreibung vor allem Empathie produzieren soll (s. o.). Davies dagegen schlägt folgende Deutung vor: Voltaire ensures that the reader responds intellectually rather than emotionally to this episode, through not individualizing the victim and thus granting him a general status. In so doing, he avoids falling into the problem of much sentimental writing about slavery during this era, in which the encouragement to moral sympathy frequently focused on emotional engagement with individual cases, at the expense of any broader critique of the slavery system as a whole. (45f.) Der drastisch beschriebene Körper des Sklaven macht den „Preis“ anschaulich, für den in Europa Zucker 238 gegessen wird, und macht so die Asymmetrie des Welt-Systems anschaulich; der inszenierte Körper verweist damit auf die koloniale Realität in Surinam. 239 Diese Veranschaulichung wird an einen Körper gebunden, der bewegungsunfähig auf den Erdboden („terre“) geworfen ist. 240 Damit wird zunächst die liegende Haltung des versehrten Körpers illustriert 237 „Articles 2-6 state that a slave should be baptized and introduced to Catholicism and that the exercise of other religions, except Protestantism, is prohibited in the colonies. Article 25 commands the slave owner to equip his slaves with two sets of clothing every year. According to article 38, the owner has the right to cut off the ears and legs of [sic], or even execute, a slave who tries to escape. When the Negro slave tells Candide that his master gives him clothes, that he is forced to convert to Catholicism, and the slaves who try to escape risk having their limbs cut off, he is referring directly to customs legalized through articles in the slave law.“ (Kjørholt-75) 238 „Highlighting the intercontinental market for commodities, for instance, the text covers the vogue for chocolate (chapters 4, 11 and 25), cochineal (chapter 4), and the craving for that luxury commodity, sugar (chapter 19). A very different allusion to the effect of international relations is broached in chapter 4, where the origin of venereal disease is located in the Americas.“ (Davies-40; vgl. außerdem Davies-45) 239 „In Candide […], the Surinam slave is, perhaps, implausibly articulate in his protestations, but his message startles the reader. Overall, it is the trade in people that is condemned in the work; a species of exploitation that, as Voltaire indicated, was not confined to white Europeans, but practiced by cultures worldwide.“ (Davies-47) 240 Kjørholt nimmt in ihrer Analyse die Äußerungen des empathischen Candide meiner Einschätzung nach zu sehr für bare Münze. Denn wie können diese Äußerungen vom restlichen Sprechen des Protagonisten, dem nicht nur an dieser Stelle Klagen über das Elend in der ‚Welt‘ über die Lippen kommen, zuverlässig unterschieden werden? Zu sehr ist diese Lesart geprägt vom - nachvollziehbaren - Wunsch, Candide zu einem Vorreiter in Sachen Menschenrechte zu erklären (vgl. Kjørholt-77). 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 165 - und in Kontrast gesetzt zu den reisenden ‚Kosmopoliten‘. Dabei gilt, wie Aravamudan mit Bezug auf Kjørholts Ansatz ausführt: The cosmopolitan is the philosophical product of the Enlightenment par excellence, even as the slave is its capitalist outcome. Both figures are each other’s specular opposite: the cosmopolitan hovers above the globe in the ether, unwilling to be identified with any single locale or polity, […] even as the slave labours in chains on the ground in an alien land, the single best example of historically enforced cosmopolitan alienation by empirical experience. (238) Liest man terre jedoch hier - und sei es nur auch - als FdG, so erweitert sich die interkontinentale Bezüglichkeit des „Um diesen Preis eßt ihr in Europa Zucker“ (57/ 19) auf die Ausdehnung der gesamten Erde. Bezeichnend ist darüber hinaus, dass Candide, nachdem er um „son nègre“ geweint hat - man beachte das Possessivpronomen, das im Rahmen der thematisierten Sklaverei kaum als ‚emphatisch‘ verstanden werden kann -, möglichst rasch mit dem nächsten Schiff nach Buenos Aires reisen will. Der Kolonialismus soll auf den Status zurückfallen, der ihm im heimischen Frankreich zu dieser Zeit ohnehin zukommt: der einer „distant reality accepted then by general opinion with indifference as a normal institution“ (Hunting-406). Zusätzlich wird im Kotext der zitierten Passage des Candide der Optimismus in Relation zur kolonialen Thematik problematisiert: «-- O Pangloss- ! s’écria Candide, tu n’avais pas deviné cette abomination ; c’en est fait, il faudra qu’à la fin je renonce à ton optimisme. - Qu’est-ce qu’optimisme-? disait Cacambo. - Hélas-! dit Candide, c’est la rage de soutenir que tout est bien quand on est mal.- »- ; et il versait des larmes en regardant son nègre- ; et en pleurant, il entra dans Surinam. (113/ 19) Das Wort „optimisme“ (hier übrigens in seinen beiden einzigen Erwähnungen im gesamten Text) ist Cacambo gänzlich unbekannt, was Candide dazu bringt, auf Nachfrage eine hochgradig zynische Definition zu geben. Die Passage kann zunächst als Kommentar auf die Tatsache gelesen werden, dass das Wort ‚ optimisme ‘ Mitte des 18. Jahrhunderts noch den Status einer Neuschöpfung hat, die bezeichnenderweise aus der Geschichte der Theodizee hervorgeht, wie Brightman ausführt: „The very word optimism was coined during this period. Morize finds the first occurrence of the word in Castel’s review of the Chevalier de Jancourt’s translation of the Théodicée , in the year 1737.“ (Brightman-503; vgl. auch Wood u. Cuffe-192) Durch das Unverständnis Cacambos wird der ‚Optimismus‘ so als Produkt einer neuen, spezifisch europäischen Diskussion ausgestellt, die außerhalb Europas unbekannt ist - mit der satirischen Spitze natürlich, dass die Bewohner der europäischen Kolonien wenig Anlass zum Optimismus haben. 166 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Denn obwohl „le bon Pangloss m’avait souvent prouvé que les biens de la terre sont communs à tous les hommes, que chacun y a un droit égal“, scheint dieser Grundsatz noch nicht einmal unter Christen umgesetzt: - „Ce cordelier devait bien, suivant ces principes, nous laisser de quoi achever notre voyage.“ (73/ 10) Der Abstand zwischen der Gemeinschaft aller Menschen, denen die „Güter dieser Erde“ ( Candid- 25/ 10) allen zu gleichen Teilen zustehen, und der Inszenierung Cacambos, der sich im Text unter anderem mit „quarts hommes“ (97/ 16) vergleicht, könnte nicht größer sein. Denn die Güter der ‚Erde‘ sind keineswegs - auch und vor allem nicht zwischen der Alten und der Neuen Welt - gleich verteilt, sondern kommen der in Voltaires Gedicht bemühten ‚Welt‘ in Europa zugute. Bei der Beschreibung der Abreise aus Surinam heißt es schließlich: Le vieux savant, qui s’appelait Martin, s’embarqua donc pour Bordeaux avec Candide. L’un et l’autre avaient beaucoup vu et beaucoup souffert-; et quand le vaisseau aurait dû faire voile de Surinam au Japon par le cap de Bonne-Espérance, ils auraient eu de quoi s’entretenir du mal moral et du mal physique tout le voyage. (118/ 20) Das Ausmaß des ‚Übels‘ in der Welt, dem man in Surinam in geballter Form begegnet ist, wird hier mittels einer imaginierten Reise in Szene gesetzt. Der beschriebene Weg von Surinam über die Südspitze Afrikas nach Japan macht immerhin rund zwei Drittel des Gesamtumfangs der Erde aus (und spart ‚nur‘ den Pazifik aus). 241 Doch selbst für eine so lange Reise hätte man genug Gesprächsstoff, so groß ist das Übel. Das ‚Schlechte‘ wird damit auf einen konkreten Raum bezogen - den größten Teil der Erde. So wird ein gewaltiges Elend beschrieben, das nicht nur eindeutig auf die Ganzheit bezogen ist, sondern dessen Ausmaß nur über eine Anleihe bei der gewaltigen Größe der Erde dargestellt werden kann. Nicht zuletzt wird somit deutlich gemacht, dass die Reisenden zwar Südamerika verlassen, dass sie aber den globalen Zusammenhang, in den dieses eingebunden ist, damit dezidiert nicht hinter sich lassen können. 3.5.4 Der koloniale Zusammenhang als Krankheit An anderer Stelle wird die Frage nach der Rolle des ‚Schlechten in der Welt‘ mit dem Kolonialismus verknüpft, indem beides als Ausbreitung einer Krankheit dargestellt wird: - O Pangloss-! s’écria Candide, voilà une étrange généalogie-! n’est-ce pas le diable qui en fut la souche- ? - Point du tout, répliqua ce grand homme- ; c’était une chose 241 Japan stellt zu dieser Zeit - wie etwa in Swifts Travels deutlich wird - einen Endpunkt des Bekannten dar (vgl. auch-III.4.4.1). 3.5 Asymmetrie der Ganzheit 167 indispensable dans le meilleur des mondes, un ingrédient nécessaire-: car si Colomb n’avait pas attrapé, dans une île de l’Amérique cette maladie qui empoisonne la source de la génération, qui souvent même empêche la génération, et qui est évidemment l’opposé du grand but de la nature, nous n’aurions ni le chocolat ni la cochenille, il faut encore observer que jusqu’aujourd’hui, dans notre continent, cette maladie nous est particulière, comme la controverse [die Religionsstreitigkeiten; T.E.]. Les Turcs, les Indiens, les Persans, les Chinois, les Siamois, les Japonais, ne la connaissent pas encore-; mais il y a une raison suffisante pour qu’ils la connaissent à leur tour dans quelques siècles. (56f./ 4) Die Krankheit - gemeint ist die Syphilis - wird hier mit der Entdeckung Amerikas assoziiert, womit moralisches Übel mit der ‚Entdeckung‘ der Neuen Welt verknüpft wird. Weiter ist der hier evozierte Zusammenhang noch kein globaler, jedoch wird dessen unaufhaltsame weitere Expansion explizit vorausgeahnt. „Les Turcs, les Indiens, les Persans, les Chinois, les Siamois, les Japonais“ werden auch noch Teil dieses ‚krankhaften‘ Ganzen werden. Diese Zukunftsvision zeugt von einem deutlichen Bewusstsein einer Ausweitung, die schlussendlich die gesamte globale Extension umfassen wird. Der einzige Nutzen, der aus all dem hervorgeht, besteht dabei im Gewinn von „chocolat“ und „cochenille“, zwei kolonialen Gütern, deren Profit gegen die Vision einer von einer Krankheit durchdrungenen Totalität aufgewogen wird. Weiter heißt es: Paquette tenait ce présent d’un cordelier très savant qui avait remonté à la source, car il l’avait eu d’une vieille comtesse, qui l’avait reçu d’un capitaine de cavalerie, qui le devait à une marquise, qui le tenait d’un page, qui l’avait reçu d’un jésuite qui, étant novice, l’avait eu en droite ligne d’un des compagnons de Christophe Colomb. Pour moi, je ne la donnerai à personne, car je me meurs. (56/ 4) Hier wird die Ganzheit über die Metapher der Verbreitung einer Krankheit als verkettet inszeniert, gestützt jedoch auf den temporalen Zusammenhang einer Genealogie. Dass diese Krankheit in ihrem Ursprung direkt auf „Christoph Colomb“ zurückgeführt wird, setzt die Entdeckung der Neuen Welt mit der Ursache von allem ‚Übel in der Welt‘ gleich. Die Theodizee-Debatte wird so mit der Urszene des neuweltlichen Kolonialismus enggeführt. Die Ganzheit erscheint als Ein s heit, insofern sie von einer spezifischen Krankheit durchdrungen ist. Grieder formuliert hierzu konzis, die Syphilis sei „essential to our enjoyment of chocolate and cochineal“ (488). 242 Die Metapher der Krankheit verknüpft die 242 Und wiederum wird der Zusammenhang der Ganzheit hier komprimiert, insofern er auf den Stammbaum einer Krankheit reduziert wird. 168 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme Urszene des Kolonialismus außerdem zeitlich mit der Gegenwart des Textes 243 und verweist auf die bereits analysierte Stelle, an der die Ganzheit als durchgängig vom Teufel besessener Körper beschrieben wird (vgl.-III.3.4.2). Anstelle eines besessenen Körpers entsteht hier ein Bild vom Ganzen als ein an globalen Zusammenhängen erkrankter Körper: „the global spread of diseases, a global economy, and global wars.“ (Kjørholt-73) 3.6 Schluss: „Petite terre“ oder „globule“? „Tous les événements sont enchaînés dans le meilleur des mondes possibles […].- - Cela est bien dit, répondit Candide, mais il faut cultiver notre jardin.“ (Voltaire, Candide - 167/ 30) So endet der conte mit der Abkehr von der ‚besten aller möglichen Welten‘ und der Hinwendung zum Garten und zur Arbeit 244 . Der Garten wird vor allem dadurch charakterisiert, dass er nicht Teil der vom Text inszenierten Ein s heit ist: Pangloss, Candide et Martin, en retournant à la petite métairie, rencontrèrent un bon vieillard qui prenait le frais à sa porte sous un berceau d’orangers. Pangloss qui était aussi curieux que raisonneur, lui demanda comment se nommait le muphti qu’on venait d’étrangler. «- Je n’en sais rien, répondit le bonhomme; et je n’ai jamais su le nom d’aucun muphti ni d’aucun vizir. J’ignore absolument l’aventure dont vous me parlez-; je présume qu’en général ceux qui se mêlent des affaires publiques périssent quelquefois misérablement, et qu’ils le méritent-; mais je ne m’informe jamais de ce qu’on fait à Constantinople-; je me contente d’y envoyer vendre les fruits du jardin que je cultive.-» Ayant dit ces mots, il fit entrer les étrangers dans sa maison-; ses deux filles et ses deux fils leur présentèrent plusieurs sortes de sorbets qu’ils faisaient eux-mêmes, du kaïmak piqué d’écorces de cédrat confit, des oranges, des citrons, des limons, des ananas, des pistaches, du café de Moka qui n’était point mêlé avec le mauvais café de Batavia et des îles. Après quoi les deux filles de ce bon musulman parfumèrent les barbes de Candide, de Pangloss, et de Martin. (165f./ 30) Nicht zuletzt werden hier lokale Lebensmittel gegen schlechten Kaffee aus Batavia ausgespielt. „By cultivating their own coffee, Candide and his friends refuse any involvement in the suffering of slaves in Batavia or the West Indies, and 243 Aravamudan schreibt: „[I]n order to examine that world, Voltaire sows the wind of cosmopolitanism and yet reaps a whirlwind filled with the overwhelming detritus of colonial exoticism.“ (238) 244 „If the final note of the Poème is hope, the outcome of Candide is work. Each faces the black facts of life with a frankness often enough cynical-grimacing, says Flaubert; yet neither reveals Voltaire becoming a pessimist.“ (Brightman-508) Vgl. auch Lynch 44f. 3.6 Schluss: „Petite terre“ oder „globule“? 169 turn their backs on European imperialism.“ (Kjørholt-84) Das Lokale wird aufgewertet, im Kontrast zu einem Markt, der größere Distanzen überspannt und auf Sklaverei fußt. Die Szenerie ist zutiefst domestisch 245 und inszeniert eine Männergemeinschaft (die Frauen treten hier in den Hintergrund), die als Gruppe aus dem kolonialen Ganzen austreten will. Der bestellte Garten wird als-„la petite terre“ (167/ 30) beschrieben, die einigen Ertrag bringt. Mit terre ist hier zwar auf den ersten Blick nicht die größere Ganzheit der Erde gemeint, sondern der Erdboden des Gartens, 246 die Wortwahl ist jedoch - gerade vor dem Hintergrund der enormen Dichte der FdG im gesamten Text und der intensiven Arbeit an deren Bedeutung - unmöglich als zufällig zu lesen und darf nicht auf den engeren Wortsinn reduziert werden. Der Garten erscheint als ‚kleine Erde‘ - und das im Kontrast zu dem vom Text inszenierten globule , der das Komprimiert-Sein der Ganzheit und Kolonialismus illustriert. Die ‚kleine Erde‘ des Gartens dagegen ist klein aufgrund ihres stark lokalen , selbst-bezüglichen Charakters; sie steht vermeintlich außerhalb des komprimierten Zusammenhangs der Ganzheit - immer vorausgesetzt, man sieht davon ab, dass auch sie auf einen Markt angewiesen ist, auf dem die erwirtschafteten Agrarprodukte abgesetzt werden können. Die ‚kleine Erde‘, auf die sich die Protagonisten am Schluss des Candide zurückziehen, ist eine ‚kleine Welt der Arbeit‘, die sich vermeintlich im Außen der im restlichen Text inszenierten Totalität wähnt, und entsprechend in der Peripherie des dem Text eigenen Exotismus ein Außen konstruiert. Aravamudan beschreibt die Probleme dieser ‚Weltabwendung‘, die ihrem Charakter nach alles andere als unschuldig ist, so: Candide, the cosmopolitan title character who loves mankind, and who synonymizes optimism, is also a sendup for the blindness of one kind of exoticizing cosmopolitan, who experiences the world and retires from it into cultivating his garden, even as the true cosmopolitans are conscripts, such as the slaves and the prostitutes who remain the collateral damage and the refuse of that world, and who cannot escape from it into any philosophical refuge. (238) Der ‚Rücktritt aus der Welt‘ steht demnach bei weitem nicht jedermann als Option zur Verfügung und geht auch für Candide nicht ohne Kollateralschaden vonstatten, worauf nicht zuletzt die am Ende des Textes entstellte Cunégonde hinweist. So ist also nicht mit dieser Phantasie eines erreichten und stabilen Außen zu enden, sondern mit einem Verweis auf eine Passage zu Beginn des Romans, die weiter oben bereits analysiert wurde. Dort wurde die Ganzheit als 245 Vgl. auch Christopher Betts, der beschreibt, dass die Veränderungen im Candide „from beginning to ending denote that the ethos becomes ‘bourgeois’, as is often said.“ (290) 246 „Wörter wie ‚Erde‘ (und auch ‚terre‘ und ‚earth‘) bezeichnen auch ein Material und bringen damit eine Mehrdeutigkeit ins Spiel“ (Stockhammer, „Welt“-48). 170 3 Voltaires Candide ou l'Optimisme expandierender, krankhafter Zusammenhang inszeniert, der „[l]es Turcs, les Indiens, les Persans, les Chinois“ (57/ 4) etc. in der nahen Zukunft einschließen wird. Die Tage der petite terre nahe Konstantinopel sind also gezählt und auch sie wird künftig in den globule gepresst werden, insofern der globule seine letzte Grenze - die Formulierung Arendts (vgl. Abschnitt II.1.1) entlehnend - erst in der gesamten Extension des Globus selbst finden wird. Zum Abschluss ist ein Topos aufzugreifen, der im Verlauf der Analysen des Candide immer wieder nur angedeutet wurde: die körperlichen Symptome Candides, namentlich sein Weinen (113/ 19), sein wiederholtes Zittern (52/ 3, 136/ 23) und - nicht zuletzt - seine Ohnmachtsattacken (55/ 4). Diese sind stets reaktiver Natur und stehen in scharfem Kontrast zu den Aussagen der Charaktere, laut denen mit der im Text inszenierten ‚Welt‘ immer, trotz aller Gegenbeweise, alles zum Besten stehe. Nicht nur durch die angetroffenen versehrten und toten Körper wird die von Krieg und Kolonialismus geprägte Ganzheit inszeniert, sondern auch die körperlichen Reaktionen des Protagonisten verweisen auf das Grauen ‚im Ganzen‘, nicht zuletzt indem Candide im Rahmen einer Diskussion über das Gut-Eingerichtet-Sein der Welt auf die Erde niedersinkt. Das hindert Candide jedoch nicht daran, später im Text über den hingestreckten Sklaven in Surinam hinwegzusteigen und seinen Weg (klagend) fortzusetzen. 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale 4.1 Hinführung: Schiff, Wal, Welt, und Walfanggründe Im Zentrum des Moby-Dick; Or, the Whale 247 steht der Wal. Sein Körper ist Knotenpunkt des Textes, insofern von ihm alle anderen Körper - weitere tierische sowie menschliche - angezogen werden. Dies geschieht erstens, indem sie wiederholt als diesem ähnlich inszeniert werden, ja sogar mit ihm ‚verschmelzen‘ (bis hin zu der weniger subtilen Vereinigung des Gefressen-Werdens). Zweitens sind die Körper allesamt in die Jagd nach dem Wal verstrickt. Dies gilt in vollem Umfang für Ahab, der die Jagd nicht nur als charismatischer Anführer vorantreibt, sondern bekanntlich eine Beinprothese aus Walbein trägt. Gleiches trifft auf das Walfangschiff Pequod zu: Sie ist nicht nur das schwimmende Vehikel der Jagd, ihre äußere Erscheinung lässt sich auch als Schiffs körper beschreiben, der zahlreiche, auf den Wal verweisende, tierische Elemente enthält. Diese Inszenierungen der Ähnlichkeit erzeugen gemeinsam mit der Jagd eine Gravitation, die alle vom Text inszenierten Körper zum Wal hinzieht; sie setzt sich im Roman abschließend durch, indem die Pequod , Ahab und der Rest der Crew in der Tiefe des Meeres versinken, die zuvor dem Wal vorbehalten war. Der Walfang als bestimmende Tätigkeit gibt dieser Gravitation ihre Richtung und ihre Mittel (Schiff, Crew, nautisches Gerät etc.); der Weiße Wal ist ihr Ziel; das Meer gibt ihr den Raum; die Tiefe des Meeres stellt ihren Flucht- und (bis zum Schluss stets entzogenen) Endpunkt dar. Insofern der Walkörper im Text mit der Figur der Ganzheit (FdG) ‚ world ‘ assoziiert wird, gravitieren diese Körper auch auf eine Ein s heit zu, die mit der im Text inszenierten Ganzheit verbunden ist. Die Tiefe des Meeres, welcher der Wal (nicht nur wegen seines Lebensraums, sondern auch in seiner suggestiv gestalteten Körperlichkeit) beigeordnet ist, wird damit zu dem ‚Ort‘, an dem der Text sein Verständnis von ‚Welt‘ lokalisiert - und damit uneinholbar macht. Alle Körper gravitieren auf den des Weißen Wals zu und derjenige des Weißen Wals selbst wiederum strebt hinab in die Tiefe des Meeres. Das Schicksal aller inszenierten Leiber ist damit von Textbeginn an definiert: Sie müssen untergehen. Die einzige Ausnahme stellt Ishmael dar, obwohl auch dieser immer wieder in die Nähe der beschriebenen Gravitation gerät und so ihren Sog spürt. Doch bekanntlich bleibt Ishmael am Ende des Romans an der Meeresoberfläche zurück, 247 Moby-Dick wird im Folgenden nach dem Schema ‚Seitenzahl/ Kapitel‘ zitiert. 172 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale ein Umstand, den er einer komplexen Textfigur verdankt, dem sogenannten ‚Vortex‘, welcher der Kosmoskonzeption René Descartes’ entnommen ist und der dort die Planeten auf ihren Bahnen um die Sonne hält. Diese wirbelartige Struktur sichert Ishmaels Überleben, indem sie ihn metaphorisch in einen Himmels körper wandelt (vgl.-III.4.3.3). Damit ist selbst noch das Überleben Ishmaels an die Thematik der Ganzheit geknüpft und durch eine spezifische Inszenierung von Körperlichkeit ermöglicht. Die beschriebene Struktur des Textes und des Verhältnisses zwischen allen erwähnten Körpern lässt sich wie folgt schematisch darstellen: World (und andere FdG) Walfang/ Japan(ische Walfanggründe) Wal Pequod und Crew Grafik 1: Gesamtstruktur Moby-Dick (Grafik aus eigener Herstellung mit Dank an Petra K.) Die Pequod dient einerseits als Vehikel zur Jagd nach Walen/ dem Weißen Wal (schwarzer, vertikaler Pfeil), und steuert im Zuge dieses Unterfangens auf die japanischen Walfanggründe im Pazifik zu (grauer, rechter Pfeil); andererseits werden von ihrem Deck aus verschiedene Blickperspektiven auf die Ganzheit inszeniert und diskutiert (grauer, linker Pfeil). Der Wal wird mit der FdG ‚ world ‘ enggeführt/ assoziiert (schwarzer, linker Pfeil), und am Ende des Romans in den japanischen Walfanggründen lokalisiert (schwarzer, rechter Pfeil). Zwischen Walfang/ Japan und world besteht wiederum, über die Thematik der Expansion des Welt-Markts bzw. der imperialen Ambition der USA im pazifischen Raum (und der kritischen Rolle Japans in diesem Geschehen), eine Verbindung (gestrichelte Linie). Diese Struktur hat insgesamt eine Richtung (d. i.: von Unten nach 4.1 Hinführung: Schiff, Wal, Welt, und Walfanggründe 173 Oben), der alle Pfeile in der Darstellung in der grundsätzlichen Ausrichtung folgen; diese entspricht der Richtung der Jagd (nach Walen im Allgemeinen und Moby Dick im Besonderen); sie führt mit dem Untergang der Pequod vom Navigieren auf der Meeresoberfläche letztlich in die Tiefe des Meeres. Diese Gesamtstruktur wird im Folgenden anhand der Elemente ‚ Pequod ‘, ‚Wal‘ und ‚Japan‘ analysiert (vgl. Abschnitte- III.4.1-4, gestricheltes Dreieck), womit die vom Text vorgegebene Jagdrichtung nachvollzogen wird. Auf ‚ world ‘ und andere FdG wird dabei im Text laufend reflektiert, insofern alle Punkte des Dreiecks zu dieser Thematik in ein explizites Verhältnis gesetzt werden, das im Einzelnen zu analysieren ist. Über die Gravitation der Körper zum zentralen Wal hin wird eine ein s heitliche Ganzheit inszeniert und ihre Eigenschaften verhandelt. Durch die Ausrichtung der Jagd auf den Wal und die pazifischen Walfanggründe wird die Ganzheit jedoch auch auf einen anderen Zusammenhang hin geöffnet: die imperialen Ambitionen der USA in dieser Region (vgl. hierzu allgemein Lawson-45f.) sowie die (vom Roman antizipierte) ‚Integration‘ Japans in den expandierenden Welt- Markt. Auf letztgenannten Aspekt ist zum Abschluss dieser Hinführung noch genauer einzugehen. Als kanonischer Roman enzyklopädischen Typs erscheint Moby-Dick als geradezu prädestiniert für eine Untersuchung im Rahmen dieser Studie, ausgehend von dem engen Verhältnis zwischen Roman und Totalität. Als Erbe des Epos wird dem Roman ebenfalls eine besonders umfängliche Welthaltigkeit zugeschrieben. […]. Eine ganze Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod soll er im Idealfall mitteilen, oder gar einen ganzen Geschichtsabschnitt (wenn das kein Widerspruch zur Totalität ist), eine ganze Familie mit allen ihren Mitgliedern, ein ganzes Milieu, eine ganze Stadt o. ä. (Hölter-93f.) 248 Doch gerade die prominenteste FdG im Roman - ‚ world ‘ - wird, durch die Knüpfung an den Wal, in eine Bewegung des ständigen Entzugs überführt und weiter, auch jenseits der Engführung von Wal und ‚Welt‘, vor allem hinsichtlich ihrer ‚Sichtbarkeit‘ massiv in Frage gestellt (vgl.-III.4.2-3). Moby-Dick- realisiert die Darstellung von Ganzheit also vor allem durch die Unterbrechung eines automatisiert-selbstverständlichen Bezugs auf diese. Die Welthaltigkeit des Mo- 248 Weiter schreibt Hölter: „Generell herrschte bis ins 19. Jahrhundert ein Wissensoptimismus, der die Taxinomie naturhistorischer Museen und die Wissensordnungen gewaltiger, oft kreisrunder Nationalbibliotheken entstehen ließ, eine Episteme der Ganzheit. Jegliche Sammelaktivität, auch die Episteme der Taxonmoie zielt auf eine vollständige Erfassung. Daher auch repräsentiert gerade über fast das gesamte 19. Jahrhundert hinweg die Idee des Panoramas zwischenzeitlich eine visuelle Ästhetik der Totalität“ (92). 174 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale by-Dick- ist - über dessen zweifellos gegebene, „umfängliche Welthaltigkeit“ im von Achim Hölter beschriebenen Sinn hinausgehend - als ein Stören, Befragen und Entziehen von Ganzheit zu verstehen, das zu analysieren ist. Damit soll nicht der Tatsache widersprochen werden, dass Moby-Dick viel ‚Welt‘ (Wissen etc.) enthält. Vielmehr soll herausgestellt werden, dass die Thematik der Ganzheit im Text direkt adressiert und auf ihre verschiedenen Bedeutungsnuancen hin befragt wird; die Rolle des Körpers als Medium dieser Adressierung ist dabei in besonderem Maß hervorzuheben. Dieses ‚Unterbrechen‘ ist jedoch nicht das Endergebnis der Analyse, sondern Ausgangspunkt einer weiteren Untersuchung in Abschnitt- III.4.4. So ist die Arbeit des Romans an Körpern und FdG abschließend auf einen konkreten historischen Kontext hin zu deuten, d. i. auf die Geschehnisse, die dem Bedeutungskomplex ‚Japan‘ zuzuordnen sind, sowie dem im 19. Jahrhundert aufkommenden amerikanischen Imperialismus. So soll eine ‚romantische‘ Deutung des Romans als ‚ewigem Entzug von Welt‘ ergänzt und damit umschifft werden, zugunsten einer Analyse der konkreten Arbeit des Romans an den FdG im Kontext historischer Ereignisse, welche die Expansion des Welt-Systems im 19. Jahrhundert prägen. Das Medium dieser Thematik, dem Abschnitt-III.4.4 gewidmet ist, ist der versehrte bzw. der prothetisch ergänzte Körper (vor allem Ahabs), der vor diesem Hintergrund gedeutet werden soll. 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit Der folgende Abschnitt fokussiert auf die Pequod als vom Text inszenierter Punkt, von dem aus verschiedene Blickperspektiven auf Ganzheit eingenommen und diskutiert werden, um so die Bedeutung von FdG neu zu kodieren. Das Schiff erscheint damit als ‚Ort‘, an dem die Unterschiede zwischen verschiedenen möglichen Perspektiven auf Ganzheit besonders deutlich hervortreten und literarisch bearbeitet werden. Zudem sind die Darstellung der Crew und des Schiffes zu untersuchen, von denen ausgehend die Pequod in der Forschung wiederholt als ‚Welt im Kleinen‘ beschrieben wurde. 249 In beiden Fällen (das Schiff als Ausblickspunkt, das Schiff und seine Crew als potenzielle ‚Welt im Kleinen‘) werden die Polysemien der in diesem Prozess jeweils aufgerufenen FdG massiv ausgestellt und bearbeitet. Außerdem soll nach- 249 Die Analyse der Darstellung der Pequod als Körper wird in Abschnitt-III.4.4.5 besprochen, da deren Bezüge nicht nur mit Hinsicht auf Ganzheit, sondern auch auf das im Texte inszenierte Japan zu analysieren sind. 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 175 vollzogen werden, wie der Roman die Dominanz des Wassers in der vom Roman inszenierten Totalität zur Schau stellt. 4.2.1 „Water-Gazers“: Die Figur der Ganzheit ‚world‘ und ihre Sichtbarkeit Schon im zweiten Satz des Romans wird ein für diese Analysen zentraler Zusammenhang zwischen der FdG ‚ world ‘ und der Thematik ihrer Sichtbarkeit geschaffen: „Some years ago […] having […] nothing particular to interest me on shore , I thought I would sail about a little and see the watery part of the world .“ (18/ 1; Hervorhebungen T.E.) Damit wird die FdG ‚ world ‘ mit dem Verb ‚ to see ‘ assoziiert, bzw. wird im gesamten ersten Kapitel des Moby-Dick ein ausgeprägtes Wortfeld des Sehens ausgebreitet, ein allseitiges und bedeutungsschwangeres „ seeing, looking oder peeping “ (Maye, „Loomings“-15). Die zitierte Aussage Ishmaels bezieht jenes ‚Sehen‘ dabei genauer auf den „watery part“ der evozierten ‚Welt‘; schon das erste Kapitel gehört damit „zu einer Reihe von Anfangskapiteln, in denen sich der Übergang von der symbolischen Ordnung des Landes in die imaginären Räume des Meeres noch vor dem Beginn der eigentlichen Seereise der Pequod bereits auf dem Festland ankündigt.“ (Scholz-176) Ishmael meint in seiner Rede vom ‚wässrigen Teil der Welt‘ vor allem den Pazifik , wie zu Beginn des 111. Kapitels deutlich gemacht wird, denn dort führt Ishmael (das katastrophale Ende der Jagd nach Moby Dick vorausahnend) aus: „[W]ere it not for other things, I could have greeted my dear Pacific with uncounted thanks, for now the long supplication of my youth was answered“ (367/ 111). Die besagten ‚wässrigen Teile der Welt‘ werden in Kontrast gesetzt zur uninteressanten Küste („nothing particular to interest me on shore“). Dabei ist der Erzähler in seinem Angezogen-Werden vom Meer alles andere als allein: Der Mensch im Allgemeinen, so macht das erste Kapitel deutlich, ist ein „water-gazer“ (18/ 1; vgl. Maye, „Loomings“ 15). Menschen werden auf geheimnisvolle Weise vom Meer angezogen und versammeln sich daher massenhaft („thousands upon thousands“, Melville 18/ 1) an den Küsten, um gedankenverloren auf die See hinauszublicken: „fixed in ocean reveries“ (ebd.). 250 Die so von Ishmael beschriebene Menschheit erscheint in ihrem Bezug auf das Meer geeint: „here they all unite“ (Melville- 19/ 1). Die proklamierte Gemeinschaft der Menschen findet ein Echo in der Frage „Who ain’t a slave? “ (21/ 1), welche ebenfalls eine (auf höchst problematischem argumentativem Fundament ruhende) allseitig geteilte menschliche Konstante setzt. Denn wie Ishmael ausführt, erscheinen 250 Auf den träumerischen Aspekt dieser Beschreibung wird in Abschnitt-III.4.3.3 eingegangen. 176 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale alle Menschen gleichermaßen als ‚Sklaven‘, „either in a physical or metaphysical point of view“ (21/ 1). 251 Die dergestalt verharmloste Sklaverei wird damit zu einer Metapher gewandelt, die die Menschheit als Ganze beschreibt. Diese Menschheit verschmilzt im unmittelbaren Kotext des letzten Zitats zu einem universalen ‚Kompositkörper‘ (vgl. Bredekamp, Hobbes- 76-83 und II.2.4), bestehend aus zahllosen Körper teilen : „and so the universal thump is passed round, and all hands should rub each other’s shoulder-blades , and be content.“ (21/ 1; Hervorhebungen T.E.) Die dergestalt inszenierte Menschheit ist in ihrem Schicksal, Mensch/ ‚Sklave‘ zu sein, geeint, ausgedrückt über eine körperliche Metaphorik - und den gemeinsamen Blick aufs Meer. Über Letzteren artikuliert sich der durchgängige Bezug des Romans auf die von Hans Blumenberg beschriebene, aber nicht auf Moby-Dick bezogene, „eigentümliche Paradoxie […], daß der Mensch als Festlandlebewesen dennoch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imaginationen der Seefahrt sich vorstellt.“ ( Schiffbruch -10) Auch spätere Passagen des Romans - wiederum in Kapitel 111 - untermauern diese Lesart, wie folgende Beschreibung des Pazifiks deutlich macht: „Thus this mysterious, divine Pacific zones the world’s whole bulk about; makes all coasts one bay to it; seems the tide-beating heart of earth.“ (367/ 111) Das Meer wird so zum Allumfassenden , welches alles Festländische auf seine Berührungslinie mit dem Meer reduziert. Der zitierte Satz bindet die beiden FdG ‚ world ‘ und ‚ earth ‘ an den pazifischen Ozean, gestützt durch eine Körpermetapher, die den Ozean zum ‚Herz der Erde‘ erklärt; außerdem sind „Indian ocean and Atlantic […] but its arms “ (367/ 111; Hervorhebung T.E.). Die im Roman dargestellte Ganzheit ist damit vom Meer dominiert. Die traditionell an den anthropomorphen Körper geknüpfte Vorstellung eines ganzheitlichen Zusammenhangs von organischer Proportion wird hier explizit dem Meer beigeordnet. So wird das Meer zum ‚Makroanthropos‘, der sich gegen den Geltungsanspruch des Festlands durchsetzt; dass Weltmeere dabei zu Gliedmaßen degradiert werden, betont die Größe und Dominanz des Pazifiks. Im ersten Kapitel des Romans spricht Ishmael in intimem Rahmen zum Leser, geöffnet durch das ‚vertraute‘ „Call me Ishmael“ (18/ 1). Das 16. Kapitel des Romans dagegen widmet sich noch direkter der Frage nach der Sichtbarkeit und Bedeutung der FdG ‚ world ‘, indem es einen Dialog zwischen Ishmael und Peleg zu dieser Thematik inszeniert. Die Unterhaltung nimmt mit Pelegs Fragen nach den Gründen für Ishmaels Wunsch, an Bord der Pequod anzuheuern, ihren Anfang: 251 Mindestens verdächtig muss dieses Argument scheinen, da es scheinheilig die Asymmetrie des Welt-Systems als anthropologische Konstante tarnen will. Vgl. hierzu ausführlich: Berthold-135. 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 177 “I was thinking of shipping.” “Thou wast, wast thou? I see thou art no Nantucketer- ever been in a stove boat? ” “No, Sir, I never have.” “Dost know nothing at all about whaling, I dare say-eh? ” “Nothing, Sir; but I have no doubt I shall soon learn. I’ve been [sic] several voyages in the merchant service, and I think that-“ “Marchant [sic] service be damned. Talk not that lingo to me. […]. Marchant service indeed! I suppose now ye feel considerable proud of having served in those marchant ships.” (71/ 16) Und schon kurz später fragt Peleg: “But what takes thee a-whaling? I want to know that before I think of shipping ye.” “Well, Sir, I want to see what whaling is. I want to see the world.“ (ebd.) Ishmael erklärt den Walfang und das ‚Sehen der Welt‘ zu quasi-identischen Aktivitäten, suggeriert durch die parallelen Formulierungen „I want to see […]. I want to see“. Die FdG ‚ world ‘ wird damit explizit an die Thematik der Sichtbarkeit einerseits und den Walfang andererseits geknüpft. Außerdem wird ein Konflikt zwischen den Dialogpartnern inszeniert: Ishmael wirbt damit, dass er durch seinen Dienst auf mehreren Handelsschiffen bereits einige Erfahrung als Seemann gesammelt habe. Diese Angabe zu seiner Qualifikation wird von Peleg jedoch heftig zurückgewiesen, indem er Ishmael jedes weitere Sprechen vom „Marchant service“ verbietet. Die Assoziation des Walfangs mit dem ‚Sehen der Welt‘ greift er dagegen bereitwillig auf - „thou not only wantest to go a-whaling […], but ye also want to go in order to see the world? Was not that what ye said? ” (72/ 16) fragt er wenig später - und zwar indem er Ishmaels „I want to see the world“ auf den Wortsinn des natürlichen Sehens reduziert. Entsprechend veranlasst er Ishmael, einen Blick vom Deck des Schiffes auf das Hafenbecken zu werfen: „Well then, just step forward there, and take a peep over the wheather-bow, and then back to me and tell me what ye see there.“ (72/ 16; Hervorhebung T.E.) Ishmaels anfänglicher Unwille, diesem Vorschlag Folge zu leisten, wird schließlich von Pelegs detaillreich inszeniertem Starren gebrochen: „concentrating all his crow’s feet 252 into one scowl 253 , Captain Peleg started me on the errand.“ (72/ 16) Ishmaels anschließender Bericht davon, was er beim Blick vom Schiff gesehen habe, ist vor allem von Enttäuschung geprägt: „Not much“ habe er gesehen, „nothing but water“ (72/ 16). Weiter beschreibt er: „The prospect was unlimited, but exceedingly monotonous and forbidding; not the slightest variety that I could see.“ (72/ 16) Von dieser Enttäuschung will Peleg jedoch nichts wissen und knüpft durch folgende Fragen an die anfängliche Aussage Ishmaels, er wolle 252 Mit „crow’s feet“ werden Falten um das Auge bezeichnet, eine Bedeutung, die laut dem OED bis 1374 zurückverfolgt werden kann ( OED- „crow’s foot“). 253 Scowl bezeichnet einen „louring or malevolent look“ ( OED- „scowl“). 178 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale ‚die Welt sehen‘, an: „Well, what dost thou think then of seeing the world? Do ye wish to go round Cape Horn to see any more of it, eh? Can’t ye see the world where you stand? “ (72/ 16) Dieses durch das Starren Pelegs genötigte Blicken Ishmaels auf das Hafenbecken wird diesem so als die Erfüllung seines Wunsches ‚die Welt zu sehen‘ verkauft. Ishmael ist irritiert, denn er hat, nach seinem Dafürhalten, ‚nichts als Wasser‘ gesehen - und nicht etwa den „watery part of the world“ oder den Pazifik (s. o.). Bernhard Siegert schreibt zu diesem Meinungsunterschied zwischen den Charakteren: Pelegs Begriff von Welt wird indes vollständig vom Horizont bestimmt, den Ishmael sieht. Die vom Horizont begrenzte Welt ist Totalität und kontingentes Fragment in einem. Und vom Standort eines Walfangschiffes aus wird sie auch nie etwas anderes sein. Auf einem Walfänger anzuheuern, um die Welt […] zu sehen , ist daher völlig sinnlos. („Ship“-46) Was der Walfang also bietet, ist eine immer gleiche Perspektive auf wechselnde Ausschnitte des Meeres, einer „vom Horizont begrenzten“ und bestimmten „Totalität“, die immer nur „Fragment“ bleibt. Obwohl sich dem Betrachter auf einer Walfangreise ein immer neuer Ausschnitt zeigen wird, bleibt die Aussicht im Wesentlichen immer gleich, ein vom Horizont begrenztes Fragment des Meeres; „[d]ieses Verhältnis zwischen den Affinitäten zum Ganzen oder zum Fragment, zur Fülle der Welt oder zur Nichtigkeit des willkürlichen Standpunkts zu organisieren, ist die vielleicht wichtigste Bedeutungsfunktion des Horizonts.“ (Koschorke, Geschichte -50) 254 Auch der Pazifik würde sich dem Betrachter wiederum nur als monotoner und partieller Meeresausschnitt präsentieren. Damit besagen Pelegs Fragen, dass es keinen privilegierten Standpunkt gibt, von dem aus ‚Welt‘ gesehen werden kann. ‚Welt‘ ist, in dieser Inszenierung durch den Roman, ein Innenraum, der unmöglich zu verlassen ist und der überall gleichermaßen, aber nirgends in seiner Gänze gesehen werden kann; der von Ishmael erblickte Ausschnitt ist somit, Koschorkes Ausführungen zum Horizont erneut heranziehend, „umrahmt“ von einem „Schweigerand der unbegrenzten Vielzahl möglicher Bilder“ ( Geschichte -50). ‚Welt‘ ist damit nur als Fragment eine Sache unmittelbarer bzw. natürlicher Sichtbarkeit. Diese Sichtweise findet sich außerdem in den textuellen Bezügen auf ‚Sehen‘ abgebildet, denn Peleg literalisiert dieses nicht nur, er formt Ishmaels „to see“ außerdem in ein peeping um („just step forward there, and take a peep“, s. o.). Denn „to peep“ denotiert ein Sehen „through a narrow aperture, as through half-shut eyelids or through a crevice, chink, or small opening into a larger space; (hence) to look quickly or furtively from a vantage point; to steal a glan- 254 Siegert bezieht sich ebenfalls auf die Arbeit Koschorkes in diesem Zusammenhang. 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 179 ce.“ ( OED ,-„peep“) Peleg beschreibt durch seine Wortwahl also ein partielles und erheblich eingeschränktes ‚Blicken‘ in einen „größeren Raum“ hinein - auf ein, mit Siegert gesprochen, „kontingentes Fragment“ des Ganzen. Die Assoziation von ‚Sehen‘ und ‚Welt‘ seitens Ishmaels wird so unterbrochen zugunsten eines deutlich bescheideneren ‚Blickens‘, das in scharfem Kontrast steht zu dem Begehren „to see the world“ und dessen Pathos es aushebelt. 255 Siegert macht weiter deutlich, dass Peleg so eine „Weltvorstellung“ von sich weist, für „die allein der Anblick von Land Welt bedeutet, während das Meer bloß als leerer Zwischenraum zwischen Weltteilen fungiert“ („Ship“-46). 256 Dieses konkrete Verständnis von ‚Welt‘ ist eindeutig mit jenen Handelsschiffen assoziiert, von denen Peleg also genau aus diesem Grund derart vehement nichts hören will. Denn für Handelsschiffe ist „das Meer eine Straße zwischen Häfen“ (Siegert, „Ship“-46), nicht mehr als eine zu überbrückende Distanz - anders als für die autarke Pequod , die auf ihrer Jagd keinen einzigen Hafen anlaufen wird und somit gänzlich dem nassen Element verschrieben ist. 257 Der Text buchstabiert damit eine Erkenntnis aus, die Peter Sloterdijk wie folgt fasst: „Der wirkliche Boden der neuzeitlichen Erfahrung ist der Schiffsboden - und nicht mehr jene ‚Erde‘“ ( Sphären II -890). Doch so leicht gibt sich Ishmael nicht geschlagen: I protested my innocence of these things, I saw that under the mask of these half humorous inuendoes, this old seaman, as an insulated Quakerish Nantucketer, was full of his insular prejudices, and rather distrustful of all aliens, unless they hailed from Cape Cod or the Vineyard [zwei benachbarte Inseln Nantuckets; T.E.] 258 . (71/ 16) Ausgehend von der insularen Herkunft Pelegs äußert Ishmael den Verdacht, Peleg sei schlicht ignorant und fremdenfeindlich. Vor dem Hintergrund von Siegerts Ausführungen jedoch erscheint diese Deutung Ishmaels in einem anderen Licht. Denn Inselbewohner - kommen sie nun von Nantucket, Cape Cod 255 Entsprechend ist bei der ersten Beschreibung Pelegs ein deutlicher Schwerpunkt auf der Beschreibung seiner Augen zu erkennen: „[T]here was a fine and almost microscopic net-work of the minutest wrinkles interlacing round his eyes, which must have arisen from his continual sailings in many hard gales, and always looking to wind-ward; -for this causes the muscles about the eyes to become pursed together. Such eye-wrinkles are very effectual in a scowl.“ (Melville-71/ 16) Der kontinuierliche Dienst als Walfänger hat den Blick Pelegs verändert und zu jenem stechenden Starren werden lassen, das Ishmael so beeindruckt. 256 Zu Siegerts Ausführungen zur Rolle der „merchant ships“ im zitierten Passus vgl. „Ship“-45f. 257 Vgl. hierzu diese Beschreibung: „Merchant ships are but extension bridges“ (Melville-65/ 14). 258 Vgl. Melville-71/ 16, Fußnote-7. 180 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale oder Vineyard - wissen um die Bedeutung des Wassers , dass sie entsprechend regieren wie andere Imperien: „two thirds of this terraqueous globe are the Nantucketer’s.“ (Melville-65/ 14) Die im Text inszenierte Ganzheit ist damit wiederum eine vom Meer geprägte, zu der Ishmaels Naivität in Kontrast gesetzt wird, ausgedrückt durch die Beschreibung der FdG ‚ globe ‘ als „terraqueous“. Dieses Adjektiv beschreibt die Erde als „[c]onsisting of, or formed of, land and water; nearly always in terraqueous globe.“ ( OED , „terraqueous“) Im Text verweist das Adjektiv auf das eigentliche Beherrscht-Sein der Erde durch Wasser, das zwei Drittel ihrer Oberfläche bedeckt. „Die Wahl der Pequod [als Schiff für die Walfangreise; T.E.] heißt, eine Weltvorstellung aufgeben, für die allein der Anblick von Land Welt bedeutet, während das Meer bloß als leerer Zwischenraum zwischen Weltteilen fungiert.“ (Siegert, „Ship“-46) ‚Nichts als Wasser also‘ - und das nicht im Sinne der von Ishmael geäußerten Enttäuschung über eine Absenz von ‚Welt‘, sondern im Sinne der umfassenden Omnipräsenz und Dominanz dieses Elements in der vom Text inszenierten ‚Wasser-Welt‘. Als Ergebnis des Dialogs in Kapitel 9 gibt Ishmael schließlich seinen Wunsch, ‚die Welt zu sehen‘ (wenigstens in diesem genauen Wortlaut) auf. Stattdessen besinnt er sich auf den Wunsch zurück, auf Walfang zu gehen: „I was a little staggered, but go a-whaling I must, and I would; and the Pequod was as good a ship as any“ (72/ 16), heißt es von seiner Seite abschließend. Der Walfang und das Walfangschiff rücken damit in ein ebenso festes wie rätselhaftes Verhältnis zur - aus ihrer automatisierten Verwendung gerissenen - FdG ‚ world ‘, von der sie hernach im Text nicht mehr zu trennen sind; die Dominanz des Wassers in dieser ‚Welt‘ hat sich schon vor dem Beginn der Walfangreise der Pequod vehement Geltung verschafft. 4.2.2 Zwischen Staatsmetaphern und einer ‚Welt im Kleinen‘ Folgende Beschreibung der Pequod und ihrer Mannschaft soll den nachfolgenden Ausführungen als Einstieg dienen: Melville, the experienced salt-turned-writer, often depicts the world-as-ship or, as in Moby-Dick , the ship-as-world. The Pequod is indeed a human microcosm of its own, a floating world replete with sailors from all walks of life. The economic nature and physical hardships of the whaling business notwithstanding, theirs is a community of equals that cuts across the boundaries of both class and race. As the doomed journey of the vessel reveals, the communitarian ideal of the simple sailor is eventually threatened. Yet as a powerful democratic myth, Melville’s idealized treatment of maritime life nevertheless helped to establish the sea as “a world elsewhere,” […] as a utopian 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 181 counter-space to the increasing rigidity and social divisiveness of modern capitalist society. (Benesch-11) Diese äußerst dichten Beschreibungen enthalten mehrere Nennungen der FdG ‚ world ‘ und verschiedene Auslegungen ihrer Bedeutung. Zunächst ist auf die Deutung der „Welt als Schiff“ bzw. „des Schiffes als Welt“ hinzuweisen, wobei vor allem letztere dem Moby-Dick zugeordnet wird. Melvilles Roman inszeniert, so die These Klaus Beneschs, „das Schiff als Welt“. Benesch führt weiter aus, dass damit vor allem das Schiff „als human microcosm“ verstanden werden soll, was auch Ikuno Saiki in seiner Deutung des Romans ähnlich fasst, indem er vom „multicolored deck“ eines „microcosm of the multiracial World“ (Saiki-33) spricht. So sehr diese Beschreibungen intuitiv auch einleuchten mögen, sie sind, en detail , äußerst voraussetzungsreich. Denn fragt man genauer nach dem textinternen Umgang mit der FdG ‚Welt‘, und setzt diese ins Verhältnis zur Beschreibung der Crew als Einheit - sei sie nun „democratic“ (s. o.) oder eher despotisch organisiert - so zeigt sich dem Leser ein komplexes Geflecht aus Metaphern und überraschenden Gleichsetzungen, das nicht ohne Weiteres auf die Formel „Welt als Schiff“/ „Schiff als Welt“ reduziert werden kann, und weit über die Beschreibung des Schiffes als ‚Mikrokosmos‘ hinausreicht. Der Text inszeniert die von Saiki bemühte Diversität der Crew unter anderem in dem als Dramentext gestalteten Kapitel-40, in welchem die Benennungen der Matrosen jeweils eine Nation/ Region evozieren: die Rede ist dort vom „1ST“ und „2ND Nantucket Sailor“, „French Sailor“, „Iceland Sailor“, „Maltese Sailor“, „Sicilian Sailor“, „Long-Island Sailor“, „Azores Sailor“ (146f./ 40) etc. 259 So bringt diese Szene im Zuge des Aufzählens verschiedenster Nationen/ Regionen eine Ganzheit additiven Charakters hervor, die in der Rede aller Matrosen im Chor auch als Einheit einer Gemeinschaft erscheint. So heißt es in der Regieanweisung „ Sings, and all follow “ (146/ 40), bzw. später: „ALL. A row! a row! a row! “ (151/ 40). Damit wird in Kapitel 40 ein dynamischer Zusammenhalt beschrieben, insofern ein gemeinsames Handeln (Singen, Arbeiten etc.) als Bühnentext - wortwörtlich - in Szene gesetzt wird. Die internationale Crew wird damit erstens in ihrer Diversität dargestellt, und zweitens als Gemeinschaft inszeniert. Dem wohnt dabei die Logik eines pars pro toto inne: Einzelne Matrosen stehen für die in ihren Namen evozierten Regionen ein. Allerdings ist die Zusammensetzung der Crew dabei keineswegs als beliebig einzuschätzen: Numbering among the multinational crew of the Pequod are Europeans, Amerindians, and Africans, the three main racial groups that intersected during the conquest of 259 Zur Tatsache, dass sich unter den genannten Regionen/ Nationen auffallend viele Inseln befinden, vgl. die spätere Analyse in diesem Abschnitt sowie Unterkapitel-III.4.2.2. 182 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale America. In addition, the whaler contains sailors from all of the European maritime powers that competed for empire in the New World, including England, France, Portugal, Spain, and the Netherlands. If the nineteenth-century whaling vessel has defined the new routes of discovery [vgl.-III.4.4.3; T.E.], then it follows that its captain is a modern extension of Columbus, Ferdinand Magellan, and other great navigators. (Barrenechea-22) Die ‚Diversität‘ der Crew bringt also vor allem koloniale und imperiale Prozesse/ Zusammenhänge dieser Zeit zur Anschauung, und setzt somit mitnichten nur einen harmonischen Zusammenhalt ins Bild. Im vorletzten Kapitel des Romans wird die wohl eindrücklichste Beschreibung der Crew als Ein- und Ein s heit gegeben: They were one man, not thirty. For as the one ship that held them all; though it was put together of all contrasting things-oak, and maple and pine wood; iron, and pitch, and hemp-yet all these ran into each other in the concrete hull, which shot on its way, both balanced and directed by the long central keel; even so, all the individualities of the crew, this man’s valor, that man’s fear; guilt and guiltiness, all varieties were welded into one ness, and were all directed to the fatal goal which Ahab their one lord and keel did point to. The rigging lived. The mast-heads, like the tops of tall palms, were outspreadingly tufted with arms and legs. (415/ 134; Hervorhebungen T.E.) Das Wort ‚ one ‘ dominiert die Passage, wodurch die Ein s heit der Crew mehrfach akzentuiert wird. Nicht nur wird die Crew wortwörtlich als „one man“ beschrieben, sie ist darüber hinaus in ihrem einen Herrscher - Ahab - geeint, der gleichzeitig zum Kiel des Schiffes erklärt wird. Die Materialität des Schiffes („maple and pine wood; iron, and pitch, and hemp“) spiegelt wiederum die heterogene Zusammensetzung der Crew wider. Die Ein s heit wird gestiftet durch Hülle und - zum zweiten Mal - Kiel („all these ran into each other in the concrete hull, […] both balanced and directed by the long central keel“). Zudem erscheint das Schiff als (zumindest partieller) Kompositkörper inszeniert, denn dessen Mastspitzen erscheinen „tufted with arms and legs“, d. h. gespickt mit menschlichen Körperteilen, die mit dem Schiffskörper verschmelzen. Die traditionelle Metapher des Schiffes als Garant politischer Einheit, gesteuert von einem starken Kapitän, wird so aktualisiert (vgl. auch Idol-156). Der Charakter des Schiffes als Kompositkörper verweist dabei auf die Bildtradition des Leviathan , wohingegen die Vorstellung einer Eins heit vor allem auf die Konzeptualisierung vom Schiff als Staat zurückzuführen ist. Widerhall findet diese Darstellung in einer Formulierung in Kapitel 135, in der Ahab seine Crew wie folgt anspricht: „Ye are not other men, but my arms and my legs; and so obey me.“ (423/ 135). Diese Metaphorik greift eine Vielzahl 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 183 von Bildern zur Beschreibung des Staates als Körper auf, ohne auf einen eindeutigen Bezug reduziert werden zu können. Ahabs Körper erscheint hier als der eines Herrschers, dessen Gliedmaßen aus seinen Untertanen/ Bürgern zusammengesetzt ist, wobei anzunehmen ist, dass Ahab den Kopf dieses Körpers darstellt (vgl. auch Ausband-210). Im von Ahab bemühten Bild lässt sich der Leviathan aus Hobbes’ Titelkupfer wiedererkennen, dessen Arme (und restlicher Körper, mit Ausnahme des königlichen caput ) aus einer Vielzahl von menschlichen Körpern zusammengesetzt sind. Die Formel des „They were one man, not thirty” dagegen ist dem Titelkupfer des Leviathan diametral entgegengesetzt. Denn zwar ist dort ein Mann abgebildet, doch die Vielheit der einzelnen Körper, aus denen er zusammengesetzt ist, bleibt trotzdem präsent. 260 Auch die fabrikähnliche Verarbeitung des Walkörpers an Bord des Schiffes generiert eine starke Beschreibung der Crew als Einheit. Zentral ist dabei das organische Material des im Zuge der Verarbeitung verklumpenden spermaceti des Wals, welches durch manuelles Quetschen („squeezing“) wieder in flüssige Form gebracht werden muss: Squeeze! squeeze! squeeze! all the morning long; I squeezed that sperm till I myself almost melted into it; I squeezed that sperm till a strange sort of insanity came over me; and I found myself unwittingly squeezing my co-laborers’ hands in it, mistaking their hands for the gentle globules. Such an abounding, affectionate, friendly, loving feeling did this avocation beget; that at last I was continually squeezing their hands, and looking up into their eyes sentimentally; as much as to say,-Oh! My dear fellow beings, why should we longer cherish any social acerbities, or know the slightest ill-humor or envy! Come; let us squeeze ourselves universally into the very milk and sperm of kindness. (322f./ 94) Im Material des Walkörpers und dessen Verarbeitung durch die ausschließlich männliche Crew findet sich eine harmonische Einheit gestiftet. Der „liebende“ („loving“) Händedruck und die Omnipräsenz des im Zitat stets nur „sperm“ genannten spermaceti stiftet eine homophile Gemeinschaft, die sich über die Arbeit am und im Material des Walkörpers formiert. So „realisiert sich der Wal nicht als Objekt, sondern als Projekt“ (Neubert- 198), welches aus verschiede- 260 Vgl., neben der bildlichen Darstellung, auch dieses Zitat bei Hobbes: „A multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one person, Represented; -so that it be done with the consent of every one of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One .“ (114/ II.16) Auch Agrippas Gleichnisrede lässt sich in Ahabs Ausspruch wiederfinden, insofern hier eine mögliche Revolte mit dem Argument unterbunden wird, die Teile des politischen Körpers könnten diesen gar nicht verlassen, da dies der ‚Natur des Körpers‘ widersprechen würde (vgl. hierzu Koschorke et al.-18f.). 184 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale nen „Techniken, [Ritualen] und Prozeduren [besteht], in deren Vollzug sich die Anatomie und Physiologie des Wals gewissermaßen performativ herstellen.“ (ebd.) Der Wal ist so Träger einer Gemeinschaft, die künstlich, weil aus menschlichem Tun erstehend, aus ihm hervorgeht. Der Hobbes’sche Leviathan hat so ein weiteres Mal seinen Auftritt, insofern dieser das Beispiel schlechthin für eine offensichtlich künstliche Gemeinschaft darstellt (Bredekamp, Hobbes -61f.). Ähnliches geschieht in einer anderen Beschreibung der Arbeit am Wal im 64. Kapitel: And now, as we eighteen men with our thrity-six arms, and one hundred and eighty thumbs and fingers, slowly toiled hour after hour upon that inert, sluggish corpse in the sea; and it seemed hardly to budge at all, except at long intervals; good evidence was hereby furnished of the enormousness of the mass we moved. (235/ 64) An dieser Stelle erscheinen die Seemänner als eine Masse arbeitender Glieder, in der die einzelnen Matrosen nicht mehr auszumachen sind: Sie sind „all hands“ (236/ 64). 261 Aus körperlicher Arbeit ersteht die umso gewaltiger erscheinende Masse des Körpers des Wals („good evidence was hereby furnished of the enormousness of the mass we moved“; Hervorhebung T.E.). Die Arbeit am massigen Walkörper lässt die Crew der Pequod als in der Arbeit geeinte Masse aus Gliedern erscheinen - und bezeugt/ erzeugt im Gegenzug dessen gewaltige Größe. 262 So naheliegend es auch scheinen mag, die bis hierher untersuchten Beschreibungen Ahabs und des Zusammenhalts der Crew sind nicht als eine Beschreibung des Schiffes als ‚Welt im Kleinen‘ zu verstehen. Denn hier dominieren Metaphern des Staatskörpers, bzw. wird auf koloniale Zusammenhänge verwiesen; und die Bezüge auf gemeinschaftliches Handeln zeigen, wenn sie denn über den Rahmen des Schiffes hinausgehen, höchstens auf die Ganzheit des Staates . So ist etwa die Inszenierung einer additiven Ganzheit durch eine Reihung („French Sailor“, „Iceland Sailor“, „Maltese Sailor“ etc.), die einzelne Bestandteile benennt, 261 Hier sei am Rande auf diese Beschreibung McNallys verwiesen, die aus seinen Analysen von Frankenstein hervorgeht und einen historischen Kontext aufzeigt, der auch für Moby-Dick gilt: „In the […] case […] of sailors, when referred to collectively they became a mammoth-agglomeration of detached parts, summoned with the cry, ‘all hands on deck.’ The dominant ideology both reified working people in this way, reducing them to abstract body-parts, while denying their significance in the creation of wealth and society. In a classic process of mystification, the driving force of capitalism was detached from the actual hands of labour and attributed to the invisible hand of the market. By returning capitalism to the realities of the (grotesque) labouring body, Frankenstein foregrounded the processes of social anatomisation by which people became ‘hands’, and through which the invisible hands of labour simultaneously generated the wealth of the ruling class.“ (111) 262 Die weiteren Implikationen dieser Ausrichtung auf den Walkörper sind in den Abschnitten-III.4.3.1-2 auszuloten, wo die Nähe des Wals zur FdG ‚Welt‘ analysiert wird. 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 185 scharf abzugrenzen von einer Adressierung der Ganzheit durch FdG - wie die Schiff-Welt-Metapher sie impliziert. Additive Reihungen können Ganzheiten evozieren und beschreiben - sie sind von FdG aber grundsätzlich verschieden, insofern diese anstelle solcher Reihungen treten (vgl. Bragues- 24f. und II.1.2). Und auch die Einheit der Crew, wie sie aus den Metaphern des sozialen Körpers hervorgeht, kann nicht ohne Weiteres auf die Schiff-Welt-Metapher reduziert werden, insofern sich diese Metaphern traditionell auf deutlich kleinere Extensionen beziehen. Zur weiteren Analyse des Verhältnisses zwischen Crew und Ganzheit ist auf die Metaphorik von Festland und Meer einzugehen, welche dieser Relation eine entscheidende Nuance verleiht. Folgender Abschnitt zu Beginn des Romans beschreibt die isolierte Trauer von Personen, die Mitmenschen an den Walfang verloren haben: Each silent worshipper seemed purposely sitting apart from the other, as if each silent grief were insular and incommunicable. The chaplain had yet not arrived; and there these silent islands of men and women sat steadfastly eyeing several marble tablets, with black borders, marooned into the wall on either side the pulpit. (43/ 7) Trotz des geteilten Schicksals sind die beschriebenen Personen in ihrer Trauer „apart from the other“ und „insular“. Die Toten der ‚Wasser-Welt‘ des Walfangs sind gemeinschaftlich dem Meer übergeben - und die Zurückbleibenden werden im Kontrast dazu dem vereinzelten Festland der Inseln beigeordnet. So wird schon früh eine für den Text wesentliche Opposition begründet. Insel und Walfang werden jedoch auch noch auf andere Weise miteinander verknüpft: How it is, there is no telling, Islanders seem to make the best whalemen. They were nearly all Islanders in the Pequod, Isolatoes too, I call such, not acknowledging the common continent of men, but each Isolato living on a separate continent of his own. Yet now, federated along one keel, what a set these Isolatoes were! An Anacharsis Clootz [sic] deputation from all the isles of the sea, and all the ends of the world’s grievances before that bar from which not very many of them ever come back. Black Little Pip-he never did! Poor Alabama boy! (107/ 27) Nicht nur sind Inselbewohner besonders fähige Walmänner, sie sind - als Teil der Crew des Walfängers Pequod - „Isolatoes too“: isolierte Einzelwesen, hergeleitet von der Amalgamierung der Wörter „island“ und „isolated“ (vgl. Melville- 107, Fußnote 1). Diese Beschreibung steht zunächst in überraschendem Kontrast zu den zuvor analysierten Passagen, die die Ein(s)heit der Crew ins Bild setzen. Beiläufig wird erwähnt, dass die Metapher des „common continent of men“ nicht „anerkannt“ wird, und Insel und Kontinent werden gemeinsam 186 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale dem Bereich des Vereinzelnden beigeordnet („a separate continent of his own“). Über den Bezug dieser Metapher auf „men“ im Allemeinen wird der Gehalt der Beschreibung über die Crew hinaus auf die gesamte Menschheit ausgeweitet. Crew und Menschheit sind eben nicht mit dem Zusammenhalt des Festlands am besten zu beschreiben. Ein Zusammenhalt der Menschheit im Allgemeinen wird so über die Metaphorik des Kontinents abgewiesen. Zu erklären ist dies durch die vom Roman etablierte ‚Wasser-Welt‘: Die Kontinente - die etymologisch ( continens ) die ‚Umfassenden‘ sind (vgl. Sloterdijk, Sphären II - 847) - verlieren angesichts der Dominanz des Wassers jeden Vorrang; auch Kontinente sind, insofern auch sie letztendlich von Meer ‚umfasst‘ sind, nichts als ‚Inseln‘. Der Kontinent ist so Bildspender der Verneinung eines Zusammenhalts der Menschheit als Ganzer. Dass die Besatzung im Gegensatz zur Menschheit ge ein t bleibt, ist bemerkenswert, denn trotz des ‚Inselcharakters‘ der Crewmitglieder hat deren Ein s heit bestand („federated along one keel“; Hervorhebung T.E.). Zwar sind auch die Crewmitglieder ‚Inseln‘, doch für sie ist dennoch ein Zusammenhang zu konstatieren, der für die Menscheit abgelehnt wird. Weiter gedeutet werden kann diese Metphorik ausgehend von der Tatsache, dass man, von einem Schiff aus gesehen, nicht ohne weiteres zwischen Kontinent und Insel unterscheiden kann. „From classical antiquity a canonical distinction of geographical form has been made between continent and island.“ Denn, „[f]or the navigator, however, the distinction is less apparent; land emerges slowly from marine space, only incrementally differentiated into headlands, beaches, bays, lagoons, and estuaries. Only the Apollonian perspective grasps scale and form instantaneously.“ (Cosgrove-93) Wer Kontinente von Inseln unterscheidet, muss also auf ein Wissen zurückgreifen, welches nur über den Umweg der extrinsischen Perspektive auf die Erde zugänglich ist; nur von einem erhöhten Standpunkt aus, der die Erde (oder große Ausschnitte von ihr) vor den Betrachter stellt, erscheinen Kontinente und Inseln als unterscheidbar. Blickt man aus ebener Perspektive um sich, so zeigt sich dem Betrachter vor allem Meer , und die Kontinente und Inseln erscheinen allesamt als Inseln/ ‚ Isolatoes ‘. Der festländische Zusammenhalt des Kontinents zerfällt - aus der intrinsischen Perspektive des Matrosen gesehen - in den Anblick isolierter Festlandmassen ohne Zusammenhang (vgl. auch Blumenberg, Schiffbruch -65). Die im Text inszenierte Wasser-Welt ist also an die Perspektive des Schiffes gebunden, ganz wie in Kapitel 16, in welchem Peleg den Blick vom Schiff auf das Meer als dominante Perspektive etabliert. Dass die Matrosen ‚Inseln‘ sind, ist also ihrer Perspektive auf die Erde geschuldet. Dass sie des Weiteren ‚Vereinzelte‘ sind, bereitet die Ablehnung der Übertragung der Beschreibung der Crew auf die Menschheit vor. Die Lesart, die Pequod repräsentiere eine ‚Welt im Kleinen‘, ist vor diesem Hintergrund 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 187 keineswegs hinfällig, sondern auf die Bedeutung zu reduzieren, dass es sich bei dem Schiff um ein in sich geschlossenes Ganzes handelt, das auf größere Gesellschaften , nicht aber auf die Menschheit als Ganzes, verweist, und darüber hinaus, hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, eine kolonial-imperiale Signatur trägt. Die wiederholten Darstellungen der Einheit der Crew bedienen sich dabei verschiedener Staats(körper)metaphern. Abschließend sind zwei Textstellen zu analysieren, an denen der Roman konkret - d. h. unter Verwendung von FdG - das Verhältnis zwischen Crew und ‚Welt‘ beschreibt. Begonnen werden soll mit Kapitel- 64, das allgemein vom ‚Fressen und Gefressen-Werden‘ handelt. Dort wird erzählt, wie Stubb ein „Walfisch-Steak“ zu sich nimmt, „und auch die Beleuchtung und das Feuer für den Herd liefert der Wal selbst“ (Werber-84), denn Stubbs Mahl wird von „two lanterns of sperm oil“ (Melville-236/ 64) beleuchtet. Außerdem beschreibt das Kapitel das Verspeisen des an die Seite der Pequod gebundenen Walkadavers durch Haie. Dieser Vorgang wird mit Stubbs Mahl parallel geführt: „Nor was Stubb the only banqueter on whale’s flesh that night. Mingling their mumblings with his own mastications, thousands on thousands of sharks, swarming round the dead leviathan, smackingly feasted on its fatness.“ (236/ 64) 263 Den Haien gleich will Stubb sein Walfleisch am liebsten roh verzehren (vgl.-237/ 64); die Haie werden entsprechend „ fellow -critters“ (238/ 64; Hervorhebung T.E.) genannt. Die Beschreibung der Haie ist dabei wie folgt einzuordnen: „Je nach Kapitel und Perspektive ist die Pequod , ihre Mannschaft, der Mensch ein Wolf oder Hai; entweder im Krieg aller gegen alle oder ‚gut regiert‘ […] bzw. zivilisiert, als Teile des Staatskörpers des Leviathans.“ (Werber-86) Im Roman wird dieser Zusammenhang ausgestaltet, indem die Frage gestellt wird: „Are you [der Hai; T.E.] not the precious image of each and all of us men in this whaling world ? “ (Melville-256/ 72; Hervorhebung T.E.) Der Hai wird so zum „Bild aller Menschen“ erhoben, denn „[z]wischen Stubb und den Haien sei kein großer Unterschied auszumachen, betont der Erzähler, denn auch der Mensch wäre ein ‚Mörder‘ zu nennen, ja ein Kannibale“ (Werber- 86). Diese Beschreibung ist durch den Hinweis auf die Rolle der FdG ‚ world ‘ in diesem Kontext zu ergänzen. Denn die „whaling world“ ist hier keineswegs ‚nur‘ die ‚Welt des Walfangs‘ im Sinn des ‚Wirtschaftszweiges‘ (vgl. hierzu III.4.3.2 und III.4.4.3), sondern rückt den Walfang in die Rolle eines Adjektivs, das die ‚Welt‘ grundsätzlich neu beschreibt. 263 Diese Beschreibung weitet sich im weiteren Verlauf aus, denn die Haie „scooped out huge globular pieces of the whale of the bigness of a human head. This particular feast of the shark seems all but miraculous. How, at such an apparently unassailable surface, they contrive to gouge out such symmetrical mouthfuls, remains a part of the universal problem of all things.“ (Melville-236/ 64) 188 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Dabei wird die dem Walfang intrinsische Gewalt und Grausamkeit ausgeweitet auf eine die gesamte Ganzheit durchziehende. 264 Diese Beschreibungen kulminieren in der Frage: „Cannibals? who is not a cannibal? “ (242/ 66) Und auch die Beschreibung Queequegs als „George Washington cannibalistically developed“ (Melville- 55/ 10) ist hier zu nennen: „Dieser kannibalische Subtext durchzieht den gesamten Text und ist ein zentrales Motiv für viele Paradoxien des Romans.“ (Maye, „Loomings“-17) 265 Die Crew - deren Mitglieder alle ebenfalls mehr oder weniger ‚Kannibalen‘ sind - tritt in dieser ‚Kannibalen-Welt‘ jedoch nicht besonders prominent hervor; sie reiht sich eher ein in eine von Haien und Wölfen dominierten Ganzheit. Diese Beobachtungen sind um eine Textstelle zu ergänzen, die Schiff und Welt wortwörtlich in eins setzt - mit dem Hinweis, dass die Implikationen dabei in eine andere Richtung gehen, als dies in den Beschreibungen von Benesch und Saiki ausgeführt wird. In Kapitel 8 des Romans wird zunächst ein Gotteshaus als Schiff beschrieben, insofern zahlreiche Elemente seiner Architektur und seines Interieurs nautischen Ursprungs sind. Weiter wird der kirchliche Redner - Mapple genannt - vorgestellt, der einem Seemann gleich, die Kanzel, von der aus er zu den Gläubigen spricht, über eine Strickleiter besteigt. Im Zuge von Ishmaels Interpretationen dieser Vermischung von Schiff und Kirche tauchen am Ende des Kapitels eine Reihe von bemerkenswerten Gleichsetzungen auf: „[T]he pulpit is ever this earth’s foremost part; all the rest comes in its rear; the pulpit leads the world. […]. Yes, the world’s a ship on its passage out, and not a voyage complete, and the pulpit is its prow.“ (47/ 8) 266 Die FdG ‚ world ‘ wird als Schiff gefasst und von der Kanzel „angeführt“; gleichzeitig wird die Kanzel mit der hier zunächst noch mit ‚ world ‘ synonym verwendeten FdG ‚ earth ‘ assoziiert, deren ‚vordersten Teil‘ sie bildet. Zunächst sind diese Gleichsetzungen wie folgt zu verstehen: „Die Analogie von Kirche und Schiff […] verweist auf eine ikonographische Tradition, bei der die Kirche häufig als Schiff auf stürmischer See dargestellt wird, das die Gläubigen sicher durch die Gefahren der Welt trägt und zu ihrem Seelenheil geleitet.“ (Scholz 177) Die wörtliche Gleichsetzung von 264 Auch über die analysierte Passage hinaus wird die Darstellung vom Essen/ Fressen an Bord und an Land in verschiedenen Kontexten zur Verhandlung der Frage genutzt, wie geeint bzw. hierarchisiert die Crew der Pequod ist (vgl. Matala de Mazza, „Chowder“-36- 39). Zur weiteren Deutung des Walfangs als Metapher für eine bestimmte ‚Weltordnung‘ vgl.-III.4.3.2. 265 Vgl. hierzu diese Passage des Moby-Dick , die das allseitige Fressen und Gefressen-Werden wie folgt zusammenfasst: „[A]nd though, were you to turn the whole affair upside down, it would still be pretty much the same thing.“ (237/ 64) 266 Vgl. hierzu auch Blumenberg, Schiffbruch - 20-22, der dort die Geschichte der Metapher des „allgemeinen Schiffbruchs der Welt“ (20) bespricht (wenn er diese auch nicht auf Moby-Dick bezieht). 4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit 189 Schiff und Welt im Text ist also im religiösen Kontext beheimatet, was bei jeder Beschreibung der Pequod als Welt mitgedacht werden muss. Zudem jedoch verorten diese Gleichsetzungen die Rede Father Mapples, welche den Inhalt des neunten Kapitels darstellt, im Themenfeld der Ganzheit. Der ‚Kapitän‘ des inszenierten ‚Kirchenschiffs‘ widmet sich in seiner Ansprache an die Gläubigen dem Jonas-Kapitel der Bibel, 267 das die vergebliche Flucht Jonas vor Gott behandelt, und liefert seinen Zuhörern dabei einen „panoramischen“ (Frank 188) Eindruck vom Geschehen. Denn zunächst beschreibt er Jonas Gottesflucht als den Versuch Regionen („countries“; -49/ 9) zu erreichen, „where God does not reign, but only the Captains of this earth .“ (ebd.; Hervorhebung T.E.) Hier wird die FdG ‚ earth ‘ also herangezogen, um eine Region oder einen Bereich zu makieren, der Gottes Einfluss entzogen ist. Father Mapple fragt seine Zuhörerschaft weiter: „See ye not then, shipmates, that Jonah sought to flee world wide from God? “ (49/ 9; Hervorhebung T.E.) Die FdG ‚ world ‘ ist hier mit Bedacht gewählt, denn sie markiert die Vergeblichkeit der Flucht zu den „Captains of this earth “ (Hervorhebung T.E.). Die FdG ‚ world ‘, die Father Mapple einerseits an das Adjektiv „wide“ knüpft und andererseits mit ‚ earth ‘ in Kontrast setzt, markiert damit ein Missverstehen der Ganzheit . Denn wie Mapple ausführt, ist Gott „everywhere“ (53/ 9), seine Omnipräsenz transzendiert (wortwörtlich) die räumlichen Extensionen der von Mapple evozierten ‚Erde‘ und ‚Welt‘. Da nützt es Jona dann auch nichts, dass er bis nach „Tarshish“ zu gelangen versucht, und es ist auch nicht von Belang, dass dieses „as far by water, from Joppa [ Jonas Startpunkt; T.E.]“ ist „as Jonah could possibly have sailed in those ancient days, when the Atlantic was an almost unknown sea.“ (53/ 9) Was Mapple seinen Zuhörern damit einbläut, ist, dass diese Flucht vor Gott in der falschen (nämlich: räumlichen) Kategorie gedacht wird. Ganz gleich welche Distanz von Jona überbrückt wird, sie erzeugt keine Distanz zwischen ihm und dem strafenden Gott (vgl. Frank- 187). Damit öffnet Mapple den Blick auf eine religiöse Dimension der von FdG evozierten Ganzheit. Wie in den letzten beiden Abschnitten der Analyse des Moby-Dick gezeigt wurde, besteht das ‚Welthafte‘ der Pequod in ihrer Textfunktion als Verhandlungsraum verschiedener Perspektiven auf die Ganzheit; dabei lässt sich eine deutliche Tendenz des Textes konstatieren, den Bick auf das Meer als dominante Perspektive zu etablieren (vgl. hierzu auch III.4.4.4). Das Schiff ist dabei insofern zur Verhandlung von ‚Welt‘ prädestiniert, als dass von dort aus auf den wahren Charakter der Erde als ‚Wasser-Welt‘ am besten reflektiert werden kann. Die 267 „Wie bereits viele Forscher hervorgehoben haben, bestehen wesentliche Unterschiede zwischen Vater Mapples Predigt und der biblischen Version von Jonas Geschichte.“ (Frank-183; vgl. zu Details-191) 190 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Metaphern zur Beschreibung der Einheit der Crew bleiben dabei dem Bereich des Staatskörpers verschrieben und sollen - vorausgesetzt, man nimmt die oben analysierte Metaphorik ernst - nicht auf die ganze Menschheit übertragen werden. Crew und Hai werden enggeführt, wobei deutlich wird, dass beide Teil der vom Text inszenierten ‚Kannibalen-Welt‘ sind. Das Schiff wird vom Text nur in einem religiösen Kontext als ‚Welt‘ inszeniert. 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit Moby-Dick reflektiert durch die Darstellung und Beschreibung von Wal- und anderen Tierkörpern auf Ganzheit, und zwar vor allem, indem er die FdG ‚ world ‘ mit dem Wal engführt. So soll sich aus neuer Perspektive der komplexen „Mehrfachkodierung“ (Werber-82) 268 des Wals in Melvilles Roman angenähert werden. Dabei ist zunächst das Verhältnis des Wals und der Riesenkrake ( squid ) zur Tiefe des Meeres zu beschreiben. Davon ausgehend sollen der Wal fang und die Wal kunde (Cetologie) als zwei Modi des Umgangs mit dieser Tiefe analysiert werden. Darüber hinaus sind der Wal und die Gesetzgebung des Walfangs als Metaphern für eine vom Kolonialismus durchdrungene Ganzheit zu untersuchen. Abschließend ist die Rolle des menschlichen Körpers in Moby-Dick in diesem Kontext zu betrachten. Dabei soll er ins Verhältnis zu einer zentralen Figur des Textes gesetzt werden, dem sogenannten ‚Vortex‘. Dieser ‚Vortex‘ gibt dem Sog in die Tiefe des Meeres ebenso Gestalt, wie er es ermöglicht, diesem Sog zu widerstehen. Der Vortex bewahrt jedoch nur einen einzigen menschlichen Körper vor dem Untergang: Ishmael wird verschont, indem ihn der Vortex, metaphorisch, in den Status eines Himmels körpers erhebt. 4.3.1 „Mitten durchs Tier“: Beschreibung und Vermessung großer Tiere Das Fassen und Beschreiben des Wals ist dem textintern artikulierten Programm des Romans ein integrales Anliegen, das den Erzähler jedoch, aufgrund der schieren Ausmaße dieses Unterfangens, wiederholt zu überwältigen droht - bzw. droht der Erzähler „sich in einer Art Wal-Mimikry narzisstisch aufzublasen“ (Wolf, „Fossil“ 215): 268 „Der weiße Wal kann sowohl als Symbol für die globale Hegemonie einer Supermacht gelten als auch für die leere Besessenheit einer von Gott verlassenen Welt einstehen, als letztes Aufbäumen einer von der Ausrottung bedrohten Gattung oder als Metapher der Totalerschließung der Welt durch Verkehrstechniken verstanden werden.“ (Krajewski, „Chart“-8) 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 191 For in the mere act of penning my thoughts of this Leviathan, they weary me, and make me faint with their outreaching comprehensiveness of sweep, as if to include the whole circle of the sciences, and all the generations of the whales, and men, and mastodons, past, present, and to come, with all the revolving panoramas of empire on earth, and throughout the whole universe, not excluding its suburbs. Such, and so magnifying, is the virtue of a large and liberal theme! We expand to its bulk. To produce a mighty book, you must choose a mighty theme. No great and enduring volume can ever be written on the flea, though many there be who have tried it. (349/ 104) Nicht umsonst ist der volle Titel des Romans - Moby-Dick; Or, the Whale - dem Wal gleich doppelt gewidmet, indem er sowohl den Weißen Wal als auch die Gattung explizit adressiert und so den vollen Umfang des vom Text stetig umkreisten ‚Unternehmens Wal‘ angibt. 269 In der zitierten Passage wird eine bemerkenswerte These anschaulich gemacht: Große Bücher brauchen große Gegenstände, d. h. „nur gigantische Buchformate [vermögen] dem Wal gerecht zu werden“ (Wolf, „Fossil“-215). Diese Größe wird hier auch wörtlich verstanden und an die Größe eines Tier körpers gebunden. Der zitierte Passus setzt FdG prominent in Szene, und versieht sie mit Beschreibungen, die die von ihnen evozierte Größe noch einmal betonen: „ all the revolving panoramas of empire on earth“ heißt es, und „the whole universe“. Analog dazu werden auch über die FdG hinaus Zusammenhänge in der Größe ihres gesamten Umfangs evoziert: „the whole circle of science“, „ all the generations of whales“ (Hervorhebungen T.E.). Die Beschreibung des Wals und die Reflexion auf größere und kleinere Ganzheiten werden so enggeführt, womit die erste Eigenschaft herausgearbeitet wird, die den Wal für die Verhandlung von Ganzheit prädestiniert erscheinen lässt: seine gewaltige Körpergröße. Diese stellt jedoch eine der wenigen, stabilen Eigenschaften des Wals dar, denn jenseits seiner Ausmaße entzieht er sich einer genaueren Beschreibung. Hierfür lassen sich unzählige Textbeispiele nennen, da die Schilderung des Wals im Text wiederholt aufgegriffen und immer wieder fallengelassen wird. 270 Der 269 „Zunächst einmal ist Moby Dick, innerhalb des cetologischen Erkenntnisinteresses, eine Synekdoche für seine Klasse (Cetacea) und Art (Pottwale). Und die Synekdoche funktioniert eben nicht als eine lineare Abfolge von Datenerhebung, -auswertung und -darstellung, sondern ist von der paradoxen Dynamik geprägt, daß sie mit der Fokusierung eines einzelnen Exemplars eben den Blick auf das Allgemeine zu verstellen droht, dem diese Fokussierung doch dienen soll.“ (Stockhammer, „Wal“-167f.) 270 „A whale’s antiquity (pre-dating man), its inscrutability (no one has ever seen a whole whale, says Ishmael, and he despairs of ever giving his readers a notion of what a whale looks like), its association with sexuality and phallicism (especially in such chapters as ‘The Grand Armada,’ ‘The Cassock,’ and ‘The Chase-First Day’) demand that the reader regard whales in general and Moby Dick in particular as suggestive of the organic principle in the universe.“ (Ausband-207) 192 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Gestalt des Wals fehlt zwischen Kopf und Schwanzflosse ein „intermediate remainder“ (Melville-310/ 90) - und grundsätzlich ist es „oft nicht einfach zu entscheiden […], wie man die Körperteile des Wals voneinander abgrenzen kann“ (Siegert, „Blanket“ 185); entsprechend scheint der Wal nur aus Schwanzflosse und Kopf zu bestehen, ohne das Dazwischen einer distinkten Mitte, „much like […] an apple“ (Melville- 310/ 90). Ebenso rätselhaft gestaltet sich die Beschreibung seiner massigen Kopf-Form, deren „einheitliche Ebene, ohne Anfang und Ende, und ohne Wegmarken wie Gebirgsseen oder Spuren des Wilds im Schnee“ (Pethes 94) erscheint. Und nicht zuletzt die Frage, ob er Fisch oder Säugetier sei, stellt einen vom Text ausführlich untersuchten Gegenstand dar. Jedoch ist dieses „Scheitern [der Beschreibung] kein vollständiges, da es an sehr verschiedenen Einzelaspekten ansetzt, um das Thema assoziativ auszuloten.“ (Stockhammer, „Wal“-156) Die Nicht-Beschreibbarkeit des Wals wird in besonderem Maße mit der Tiefe des Meeres verknüpft. Denn diese ist nicht nur der hauptsächliche Lebensraum des Wals, sondern aus dem Meer gehoben erscheint der Wal zusätzlich verformt und nicht er selbst, d. h. „[i]n seinen Existenzbedingungen ist der Wal nicht in seiner Gänze sichtbar, außerhalb derselben hat er nicht die Gestalt, die er innerhalb seiner Existenzbedingungen hat.“ (Stockhammer, „Wal“- 160) Er ist somit außerhalb seines Elements nie in seiner eigentlichen- Form sichtbar: „only on the profound unbounded sea, can the fully invested whale be truly and livingly found out“ (Melville-348/ 103). 271 Der Wal ist somit aufgrund seines Lebensraums immer physisch entzogen und kann nur an der Meeres oberfläche angetroffen werden, welche er lebend nur mit seinem Rücken, der Schwanzflosse oder dem ‚Spaut‘ (der Atemluftfontäne) durchstößt, sieht man vom dramatischen Sprung, wie ihn Moby Dick am Ende des Romans vollführt, einmal ab. „Das Leben des Wals vollzieht sich an der Schnittstelle zwischen Wasser und Luft“ und ist damit von „elementarer Unbestimmtheit“ (Neubert-186). Der Wal verunsichert die Unterscheidung zwischen Festland und See, die zur Beschreibung der Oberfläche der Erde (im Wortsinn) elementar ist. Der Wal lässt diese Unterscheidung aufgrund seiner Masse unsicher werden, wie folgende Zusammenfassung frühchristlicher Beschreibungen von Begegnungen mit Walen deutlich macht: Ahnungslose Seeleute machen ihre Schiffe fest und betreten seinen Körper. Spätestens wenn sie dann ein Feuer zum Kochen anfachen - fester Bestandteil der Szene -, wird 271 „[T]he spermaceti whale obtains his whole food in unknown zones below the surface ; and only by inference is it that any one can tell of what, precisely, that food consists.“ (Melville, 226/ 59; Hervorhebung T.E.) 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 193 es dem Wal ungemütlich. Er taucht ab und reißt die getäuschten Seeleute mit sich in die Tiefe. (Neubert-188) Als zu bestimmendes Tier ist der Wal weder dem Land noch dem Meer eindeutig zuzuordnen, da er aufgrund seiner „Doppelexistenz […] als Land- und Wassertier“ (ebd.-188) nur schwer klassifizierbar ist; diese ergibt sich (hauptsächlich) aus dessen Luft atmung, die er mit einem Leben im Wasser verbindet. Aristoteles löst dieses Problem der Vermischung durch die Unterteilung der Klassifizierung in ‚Landlebewesen‘ und ‚Meerestiere‘ in weitere Subkategorien und kommt zu folgendem, von Christoph Neubert konzis paraphrasierten Schluss: „Er [der Wal, T.E.] ist gewissermaßen zu einem Drittel Landtier (Luftatmung) und zu zwei Dritteln Wassertier (Habitat und Beute).“ (190) Dass der Wal in Form des Spauts nicht Luft, sondern Wasser (anstelle von Luft) auszuatmen scheint, bringt dann aber selbst noch diesen elaborierten Kategorisierungsversuch in unsicheres Fahrwasser; noch bis ins 19. Jahrhundert hinein ist die Klassifizierung des Wals entsprechend herausfordernd (vgl. ebd.). Der Wal ist somit das ideale Tier, um die im Roman inszenierte ‚Wasser-Welt‘ zu repräsentieren. Denn mit dieser teilt er die Eigenschaft, zu zwei Dritteln dem Wasser, und nur zu einem Drittel dem Land verschrieben zu sein. Hier ist ein weiterer Topos zu erwähnen, und zwar die Beschreibungen des Meeres als Festland - etwa in Kapitel 58 -, die im Text regelmäßig wiederkehren (vgl. Siegert, „Blanket“- 44). Diese gehen wiederholt der Lokalisierung von Walen voraus (sowie der Lokalisierung des squid , s. u.). Der Wal ist somit Träger einer Unschärfe der Unterscheidung zwischen Festland und Meer, die im Roman wieder und wieder aufgegriffen wird, und zeugt gleichzeitig von der Vorherrschaft des Wassers. Vor diesem Hintergrund erscheint auch folgender Zusammenhag in neuem Licht: Besieht sich Ishmael „aber den Kopf des Pottwals von vorn, so sieht er eine Fläche - die entsprechende Kapitelüberschrift nennt sie ‚The Prairie‘“ (Stockhammer, „Wal“- 158), womit eine „Engführung der schier endlosen Stirn des Walkopfs mit den unermesslichen Weiten des amerikanischen Westens“ (Pethes- 94) inszeniert wird. Der Meeres säuger zeigt dem Betrachter seines Kopfes also Festland . In diesem Zusammenhang ist besondere Aufmerksamkeit auf die Haut des Wals zu richten. Denn es ist nicht nur fraglich „ob das, was aufgrund des Vorgangs des Abhäutens [im Zuge der Verarbeitung des Wals; T.E.] fraglos als Haut des Wals zu gelten hat, auch wirklich im anatomischen Sinne die Haut des Wals ist.“ (Siegert, „Blanket“-185) Als Oberfläche ist die Haut des Wals von „marks“ bedeckt, die - „engraved on upon the body itself“ - sich dem Betrachter als „hieroglyphical“ (246/ 102) präsentieren (vgl. hierzu auch Wolf, „Fossil“-219). Der weißen Farbe der Haut Moby Dicks ist gar das gesamte 42. Kapitel gewidmet, 194 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale das diese Färbung zu beschreiben und zu deuten versucht. Und damit nicht genug, denn das Innere des Wals ist ebenso ‚hieroglyphisch‘ wie sein Äußeres: Eine eindeutige und ‚objektive‘ Wissenschaft vom Wal bleibt bei diesem Unterfangen selbst dort auf der Strecke, wo von der äußeren Beobachtung zur Zergliederung seines Inneren übergegangen wird - es gibt keinen Blick, der wirklich unter die Haut des Tieres gehen würde […]. (Neubert-198) In aller Deutlichkeit heißt das, dass am Wal einer der stärksten Modi der Untersuchung in der Wissenschaftsgeschichte scheitert: die Anatomie (die, was hier nur festgehalten werden soll, häufig mit der Kartografie enggeführt wurde; vgl. Ramachandran-30f.). Ersichtlich wird dies - unter anderem - an der Beschreibung des Walskeletts, die im Roman wie folgt gestaltet wird: [T]he skeleton of the whale is by no means the mould of his invested form. […]. So that this rib only conveyed half of the true notion of the living magnitude of that part. Besides, for some way, where I now saw but a naked spine, all that had been once wrapped round with tons of added bulk in flesh, muscle, blood and bowels. (348/ 103) Das Skelett steht demnach in einem auffällig ‚unähnlichen‘ Verhältnis zum lebendigen Wal, insofern die „sterblichen Überreste des Wals keineswegs Aufschluss über seine lebendige Erscheinung verschaffen.“ (Wolf, „Fossil“-218) Das Motiv der aufwändig beschriebenen Haut des Wals findet Ergänzung und Variation in der Darstellung menschlicher Haut, genauer der tätowierten Haut Queequegs, die der Roman ausführlich zum Thema macht; „[d]er Wal ist tätowiert, so wie Queequeg tätowiert ist“ (Siegert, „Blanket“-190). Die Haut ist laut Armin Schäfer vor allem in der Relation zum ‚Quilt‘ zu lesen, zu dem die Haut Queequegs in ein Näheverhältnis gesetzt wird, denn beide sind „eine Herausforderung der Wahrnehmungsgewohnheiten.“ (Schäfer-25) Und auch „[d]ie von Narben und Runzeln übersäte Haut Moby Dicks ist wie ein Quilt, der ihn im eisigen Polarmeer warmhält“ (Schäfer- 29). Diese Häute irritieren den Blick: „Tertium comparationis ist der glatte Raum, den Quilt wie Meer erzeugen, weil sie dem Blick optisches Zentrum und Haltepunkt entziehen, ihn zum Gleiten bringen und ihn stattdessen mit visuellen Intensitäten konfrontieren.“ (ebd.) Die Nähe zwischen so beschriebenen Häuten/ Oberflächen und der Meeresoberfläche wird von Schäfer über den Bezug auf die Raumtheorie von Deleuze und Guattari zu glatten und gekerbten Oberflächen hergestellt - und verweist zurück auf das enttäuschte „nothing but water“ (72/ 16) das Ishmael zuvor geäußert hatte (vgl.-III.4.2.1). 272 Vom Wal und von der Meeresoberfläche gleitet der 272 Vgl. jedoch auch Blumenberg, der der Tatsache nachgeht, dass „auf dem Meer keine Spuren hinterlassen werden“ können, „also Gesamtvorgänge dort auch nicht überschaubar 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 195 Blick ab. Das gilt auch für die ‚Prärie‘ des Kopfes, deren spezieller festländischer Charakter ebenfalls keinen Halt bietet. Das „Vertrauen in eine Lesbarkeit der Welt [wird] auf das Anlitz eines Pottwals projiziert […], das so plan und grenzenlos ist, dass jeder Versuch seiner Deutung sich in der spurlosen Leere eine ungeheuren Fläche verliert.“ (Pethes-97) Doch der Wal ist nicht der einzige, gewaltige und schwer zu beschreibenden Tierkörper. Der squid - etwa: (Riesen-)Krake 273 - ist die zweite große körperliche ‚Erscheinung‘ im Text, und hat seinen ersten und einzigen Auftritt als „great white mass […] rising higher and higher“ (225/ 59). Auch der Krake markiert die Grenze zwischen der Oberfläche des Meeres und dessen Tiefe, indem er pulsierend auf- und untertaucht (vgl.- 225f./ 59). Der Riesenkrake ist dabei besonders Moby Dick anverwandt, denn beiden ist eine ungeheure körperliche Masse sowie ein spezifischer Mangel an Eigenschaften gemeinsam (vgl. Vogl, „Squid“- 169), welcher sich nicht zuletzt in der weißen Farbe artikuliert, welche Unbestimmbarkeit markiert. 274 Entsprechend ist der squid „als ordentlicher Stellvertreter und als sinnfällige Prolepse des Weißen Wals“ (ebd.-171) zu verstehen. 275 Der squid stellt zusätzlich gewissermaßen eine ‚Übersteigerung‘ der Eigenschaften des Wals dar, da er noch stärker mit der Tiefe assoziiert ist, aus der er nur derart vereinzelt auftaucht, 276 dass etwa eine Fangindustrie, wie der Wal sie auf sich zieht, nicht rentabel wäre; die vielen Arme der Krake dienen angeblich dazu, um sich am „bed of the ocean“ (226/ 59) festzuhalten. Weiter festigt der Krake die Assoziation des Wals mit der Tiefe, insofern er als „only food“ (226/ 59) des Wals angenommen wird. Die Schilderung der Riesenkrake wird mit einer Beschreibung eingeleitet, in der die befahrene See als festländisch beschrieben wird und die Masten der Pequod als „three mild palms on a plain“ (225/ 59) erscheinen lässt. Die Beschreibung des Kraken selbst wiederum spiegelt das Verwischen der Grenze zwischen und begreiflich, eben deshalb nicht in die Vertrauenswürdigkeit der Irreversibilität umgesetzt werden können. Fortschritte wie Untergänge hinterlassen dieselbe unberührte Oberfläche.“ ( Schiffbruch- 64) 273 Für ‚ squid ‘ kursieren im Deutschen verschiedene Vokabeln: „Kalmar, Tintenfisch, Krake, Oktopus und Sepia“ (Vogl, „Squid“- 163f.), womit auf dessen schwierige Klassifizierung hingewiesen ist, die dieser mit dem Wal gemein hat. 274 Der Krake wird im Roman auch beschrieben als „mass […] of a cream-color“ (226/ 59). 275 Nicht umsonst fragt Ishmael: „It [der Krake; T.E.] seemed not a whale; and yet is this Moby Dick? “ (225/ 59) und Daggoo ruft (irrtümlich) aus: „The White Whale, the White Whale! “ (225/ 59) 276 „So rarely is it beheld, that though one and all of them declare it to be the largest animated thing in the ocean, yet very few of them have any but the most vague ideas concerning its true nature and form“ (Melville-226/ 59). 196 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Festland und Meer ebenfalls ab, insofern er als „snow-slide, new slid from the hills“ (225/ 59; vgl. wiederum Vogl, „Squid“-168) geschildert wird. So stehen mit dem Kraken und dem Wal zwei tierische Körper für eine spezifische Problematik der Unbestimmbarkeit ein, die dem (seltenen) Betrachter eine Oberfläche zeigen/ sich an der Oberfläche des Meeres zeigen, und sich so dem Versuch der Beschreibung anbieten - durch den Rückzug in die Tiefe entziehen sich beide letztendlich permanent. Die Grenze zwischen „empirischen, sichtbaren Objekten“ und dem, was von ihnen unsichtbar bleibt, „verläuft mitten durchs Tier.“ (Vogl, „Squid“ 170) 277 Beide tierischen Körper sind gewaltig und verweisen auf den schwer bestimmbaren Charakter der Ganzheit, insofern sie mit der Unsicherheit der Unterscheidung zwischen Festland und Meer assoziiert sind. ‚ Mitten durchs Tier ‘ verläuft also auch die Verhandlung der Beschaffenheit der vom Text inszenierten Ganzheit . Den Rätseln, welche die beschriebenen Tiere ihren Betrachtern dabei entgegenhalten, nähert sich der Text über zwei verschiedene Ansätze/ Disziplinen, die im nächsten Kapitel zu beschreiben sind. 4.3.2 „Die Welt ist Jagd“: Walkunde, Waljagd und die Tiefe Die Inszenierung großer Tiere verweist nicht nur indexikalisch auf die Tiefe des Meeres, sondern eben diese Tiefe wird vom Text zusätzlich als Körper inszeniert. Deutlich wird dies etwa an Ishmaels Ausführungen zur Walkunde (Cetologie), denen er das das gesamte 32. Kapitel widmet, denn diese Aktivität is a ponderous task; no ordinary letter-sorter in the Post-office is equal to it. To grope down into the bottom of the sea after them; to have one’s hands among the unspeakable foundations, ribs and very pelvis of the world ; this is a fearful thing. […]. But I have swam through libraries and sailed through oceans […]. (116/ 32; Hervorhebung T.E.) In diesen Beschreibungen werden, einer von Barbara Glenn etablierten Beschreibung folgend, die zwei erhabenen 278 Gegenstände des Romans - Wal und Meer - miteinander verschränkt (vgl. Glenn- 167f.). Der Griff zum Grund des Meeres ist weiter einer nach den „Rippen“ und dem „tiefsten Becken“ der hier inszenierten „Welt“; die Tiefe des Meeres wird mittels körperlicher Metaphern gefasst und gleichzeitig als Grund der ‚Welt‘ verstanden. So wird die Cetologie nicht nur um ihrer selbst willen betrieben, sondern mit einem deutlich größeren Anspruch assoziiert, welcher sich über den Bezug auf die FdG ‚ world ‘ artikuliert. 277 Somit aktualisiert die Beschreibung von Wal und Kraken eine weitere Bedeutung des Monströsen, wie Gilles Deleuze sie formuliert hat, indem es möglichst unbestimmt gelassen wird (vgl. Vogl, „Squid“-170). 278 Glenn schreibt bezüglich der zeitgenössichen Konzeption des ‚Erhabenen‘, auf die sich Meilvilles Text bezieht: „Terror is the ruling principle of the sublime“ (165). 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 197 Die Metapher des „very pelvis of the world“ ruft außerdem die Vorstellung einer unerreichbaren Wahrheit/ Essenz auf, weiter zementiert durch die Rede von den „unspeakable foundations“ der ‚Welt‘. Diese Assoziation der körperlichen Tiefe mit einer (unscharfen) ‚Wahrheit‘ über die ‚Welt‘ wird im 70. Kapitel von einer Ansprache Ahabs an einen abgetrennten Walkopf, der zur Verarbeitung an die Seite der Pequod gebunden wurde, weiter ausbuchstabiert. Denn dort richtet Ahab folgende Aufforderung an den Walkopf: „[S]peak mighty head, and tell us the secret thing that is in thee. Of all divers, thou hast dived the deepest . That head […] has moved amid the world’s foundations .“ (249/ 70; Hervorhebungen T.E.) Mit dem Wal wird ein mysteriöses Tiefenwissen assoziiert, welches wiederum unmittelbar an die FdG ‚ world ‘ - und deren „Fundamente“ - geknüpft wird. 279 Könnte der Walkopf sprechen, so wüsste man, mit Faust gesprochen, was die ‚Welt im Innersten zusammenhält‘, und hätte privilegierten Zugang zu einem opaken ‚Tiefenwissen‘. Am Grund des Meeres wartet eine unerreichbare Wahrheit über die ‚Welt‘, verstellt und verheißen durch den gewaltigen Walkörper und das tiefe Meer. 280 Entsprechend beginnt das Kapitel 32 mit einem expliziten Bezug auf Tiefe: „Already we are boldly launched upon the deep ; but soon shall we be lost in its unshored, harborless immensities.“ (115/ 32; Hervorhebungen T.E.) Ishmaels Cetologie ist außerdem an die alte Tradition anzuschließen, welche Parallelen zwischen der Darstellung von Ganzheit durch die Technik der Kartografie einerseits und der anatomischen Erfassung von Körpern andererseits zieht: The chorographic cutting of the world into pieces for closer scrutiny paralleled the study of anatomy with its practice of dissection - the cutting open of the human body for closer scrutiny - which became widely practiced over the sixteenth century. Anatomy is frequently juxtaposed alongside cartography as a key harbinger of empiricism and mondernity: in both cases, new techniques of gathering information produced new knowledge and necessitated new theoretical accounts of entire systems. […]. [The two discourses] were closely related in their epistemologies, their histories, 279 Dies drückt sich auch im weiteren Verlauf des Textes wiederholt aus, so etwa in der Frage: „[H]ow is it, that you [Ishmael; T.E.], a mere oarsman in the fishery, pretend to know aught about the subterranean parts of the whale? “ (344/ 102; Hervorhebung T.E.) Diese Frage drückt in der Metaphorik des ‚Subterranen‘ die enge Verquickung des Wals mit der Reflexion auf Ganzheit aus. 280 Pip kommt dieser besonders nah, als er ins Wasser fällt, „carried down alive to wondrous depths, where strange shapes of the unwrapped primal world gilded to and fro before his passive eyes; and the miser-merman, Wisdom, revealed his hoarded heaps; and among the joyous, heartless, ever-juvenile eternities, Pip saw the multitudinous, God-omnipresent, coral insects, that out of the firmament of waters heaved the colossal orbs.“ (321/ 36) Der Bezug auf eine mysteriöse Kosmostheorie ist durch die FdG und das astronomische Wortfeld offensichtlich (vgl. hierzu auch-III.4.3.3). 198 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale their metaphorics, and their representational strategies, so much that both disciplines produced similar textual genres that attempted to gather and systematize a comprehensive body of knowledge. (Ramachandran-30f.) Körper auf ihr Innenleben hin zu untersuchen und dabei an ‚Welt‘ zu denken, lässt sich also in eine lange Tradition einordnen. Die weiter oben analysierten Ausführungen Father Mapples sind in diesem Zusammenhang ebenfalls aufschlussreich. Denn der enthusiastische Kirchenredner beschreibt die Tiefen des Meeres, in die Jona vom Wal gezogen wird, wie folgt: God came upon him [ Jona; T.E.] in the whale, and swallowed him down to living gulfs of doom, and with swift slanting tore him then thousand fathoms down, and ‘the weeds were wrapped about his head,’ and all the watery world of woe bowled over him. Yet even then beyond the reach of any plummet-‘out of the belly of hell’-when the whale grounded upon the ocean’s utmost bones, even then, God heard the engulphed, repenting prophet when he cried. (53/ 9) Wie bereits angedeutet, ist der hier beschriebene Tiefenraum immer noch Teil der göttlichen Sphäre - denn selbst hier wird Jona noch von Gott erhört. Zentral ist jedoch die Verschränkung des Körpers des biblischen Wals mit der Tiefe des Meeres, insofern dezidiert körperliche Metaphern zur Beschreibung dieser Tiefe herangezogen werden; die Rede ist vom „ belly of hell“ und „the ocean’s utmost bones “ (Hervorhebungen T.E.). Diese (Körper-)Tiefe wird deutlich gegen die dem Menschen zugängliche Sphäre abgegrenzt, insofern das am tiefsten reichende menschliche Messinstrument - das Lot („plummet“) - sie nicht mehr erreichen kann. Die immense Körpertiefe des Wals wird darüber hinaus hier der Meerestiefe noch hinzugefügt (um das Ausmaß von Jonas Leid und die Großartigkeit der göttlichen Errettung zu betonen). Doch das in Kapitel 32 vorgestellte Buchprojekt zur Beschreibung der Wale (s. o.) wird mit dem Ende dieses Kapitels fallengelassen; auch Ishmaels ‚Lot‘ scheint nicht auszureichen, um die Tiefe des Wals zu erfassen. Obwohl man mit der Cetologie der Tiefenwelt des Wals/ Walwelt der Tiefe näherkommen kann, indem man einen Zugriff auf diese ‚Welt‘ durch die analysierte Metaphorik konzipiert , bleibt dem Cetologen ein ‚konkreteres‘ Vordringen in die Tiefen dieser ‚Welt‘, jenseits der komplexen Metaphorik, versperrt. Anders als die Walkunde blickt die Wal jagd eher angsterfüllt auf die Tiefe der Meere, denn diese bedeutet ihr mögliches Ende - sei es durch das Abtauchen des Wals oder den Untergang des Walfangschiffes; „[u]m den Wal zu erfassen, muß man versuchen, ihn zu fassen, und läuft Gefahr, von ihm erfaßt zu werden.“ (Stockhammer, „Wal“ 161). 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 199 [D]ie Waljagd des Kapitels 61 wird als ‚eine Tätigkeit von oben nach unten‘ inszeniert. Das beginnt mit dem erhöhten Standpunkt der Walfänger im Augenblick der Entdeckung des Wals, setzt sich fort mit dem Fluchtversuch des Wals in die Tiefe des Meeres und hat seine strukturelle Entsprechung darin, dass der Raum der Waljäger der Raum oberhalb des Meeresspiegels ist, der Raum des Wals dagegen die Meerestiefe. Genau diese Hierarchie ist nun beim Walfang nicht immer stabil : Die Wale kommen zum Luftholen an die Oberfläche; sie schwingen ihre Fluke durch die Luft; und sie werfen bisweilen ihren ganzen Körper in den Luftraum hinein. Dies führt umgekehrt dazu, dass die Walfänger ihrerseits immer ins Wasser zu fallen und unterzugehen drohen. Der Wal des Kapitels 61 erweist sich in dieser Hierarchie als ein recht unproblematischer Zeitgenosse. An ihm wird die Hierarchie räumlich exekutiert. In der Konfrontation von Moby Dick und Ahab wird sich das Oben und das Unten auf eine Weise verkehren, in der die Jagd aufhört, eine Jagd zu sein. (Borgards-176f.; Hervorhebungen T.E.) Die Waljagd im Allgemeinen ist damit in besonderem Maß dem Verhältnis zwischen Oberfläche und Tiefe zugewandt. Jedoch hat „das, was sich zwischen Ahab und Moby-Dick abspielt, wenig mit einer Jagd zu tun.“ (Maye, „Loomings“-176) 281 Denn in der Jagd nach Moby Dick wird die Pequod in die Tiefe gerissen und kann so die Hierarchie der Jagd nicht mehr aufrechterhalten (vgl. hierzu Abschnitt III.4.3.3). Die (Wal-)Jagd kann weiter als eine Allegorie auf ‚Welt‘ gelesen werden, wie Roland Borgards vorschlägt: Die Jagd selbst wäre als Metapher zu lesen, in der sich die Welt nicht nur zeigt, wie sie ist, sondern auch, wie sie sein soll: gerichtet, beherrscht, geordnet. Die Welt ist Jagd; der Mensch ist als Jäger derjenige, der tötet; die Tiere sind als Gejagte […] diejenigen, die getötet werden. Dass der Roman als ganzer die Jagd anders fasst, ist - mit Blick auf seinen Titelhelden - offensichtlich. (179) Borgards Ausführungen sind hier ihrer eigenen Logik entsprechend weiter zu denken. Der „Roman als ganzer“ stellt nicht nur die Jagd anders dar - sondern mit ihr auch die „Welt“, und zwar als der obigen Beschreibung entgegensetzt: ungerichtet, unbeherrscht und ungeordnet. Denn „die Umkehrung, mit der der Roman enden wird“ (Borgards- 181) kostet die Jäger, und nicht den gejagten Moby Dick, das Leben. Der Roman kehrt somit, wie Borgards ausführt, die Überschrift des 61. Kapitels, seines Zeichens „exakt in der Mitte des Romans“ 281 Und auch Ishmael selbst ist nicht als Jäger zu verstehen, vorausgesetzt man schenkt der Deutung von Harun Maye Glauben, der ausführt, der Name ‚Ishmael‘ bedeute „is whale“, wenn „man den Bustaben ‚M‘ um 180° dreht“. Also ‚heißt‘ ‚Ishmael‘ „ich bin ein Teil vom Wal‘ oder ‚ich komme vom Wal her‘, um Euch dessen Geschichte zu erzählen, die auch meine Geschichte ist. Ishmael und der Wal lassen sich nur vordergründig in Jäger und Gejagte differenzieren, in Wahrheit gehen sie ineinander über.“ (alle Zitate „Loomings“-14f.) 200 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale (Borgards-174) - „Stubb kills a Whale“ - zu seinem Ende hin um: „A Whale kills Stubb“ (Borgards-181). So hört „die Jagd auf, eine einfache Metapher für die stabile und anthropozentrische Einrichtung der Welt zu sein.“ (ebd.) Abschließend heißt es bei Borgards hierzu: Jagd ist nicht einfach eine Metapher für eine Weltordnung; sie ist auch nicht nur der metaphysische Ort, an dem diese Ordnung von einer Um- und Unordnung bedroht wird; sie ist als Metapher auch die Niederschrift eines konkreten Handlungszusammenhangs, in dem Menschen, Tiere, Meere und Techniken involviert sind. (183) Aus der Perspektive dieser Arbeit bleibt der Rede vom Handlungszusammenhang nur eine Kursiv-Setzung hinzuzufügen: die Jagd ist die den Roman im Ganzen bestimmende Metapher, welche die von ihm inszenierte Ganzheit als einen konkreten Handlungszusammenhang erscheinen lässt. Alle vom Text inszenierten Elemente sind eingebunden in ein „komplexes soziobiotechnisches Netzwerk, das Schiff, Mannschaft, See, Wetter, Instrumente, Waffen, Karten und sonstige Wesenheiten umfasst.“ (Neubert- 198) Dieser eine Zusammenhang ist also der Walfang selbst - was zurückverweist auf die bereits eingangs vorgenommene Analyse der Rolle des Walfangs als ‚welthaltige‘ Aktivität, die somit einerseits Blickperspektiven auf die Welt verhandelt (vgl. III.4.2.1 und III.4.4.4), und andererseits selbst eine Welt darstellt. Es handelt sich, in allen denkbaren Nuancen dieser Wortschöpfung, um eine ‚Wal-Welt‘ (vgl. Lee- 81) - er bringt eine Welt hervor und ist auf den Großteil der Extension der Erde bezogen. So erscheint dann Ishmaels ursprüngliche Formulierung in ihrem vollen Gehalt: „I want to see what whaling is. I want to see the world.“ (71/ 16) Sie lässt sich entsprechend aufspalten in folgende Wünsche: ‚ I want to see the world ‘, ‚ I want to see the world of whaling ‘, und - die in diesem Kapitel untersuchte Metaphorik berücksichtigend - ‚ I want to see the world that is the whale ‘. „Ins Spiel kommt damit jener auch für Melville wesentliche Zusammenhang zwischen Walfang und Naturkunde“, der sich mit dem Problem konfrontiert sieht, „dass der Gegenstand der Walforschung im nassen Element nicht wissenschaftlich verfügbar, sondern nur im ökonomischen Zusammenhang des Walfangs zugänglich ist.“ (Neubert- 197) Und auch die Waljagd kann den Wal nur gewaltsam aus seinem Element herausheben und ihm nicht in die Tiefe folgen. So bleibt nur ein Mittel, um die „störende Differenz, die sich zwischen technischem Jägerwissen und cetologischem Wissen im Hinblick auf den Gegenstand, den man technisch verarbeitet, und dem Gegenstand, den man wissenschaftlich vearbeitet, auftut“ (Siegert, „Blanket“-185) zu überbrücken, und damit der ‚Welt auf den Grund‘ zu gehen. Dieses Mittel wird vom Roman ausführlich vorbereitet durch die Behandlung von Walkunde und -jagd. Denn aus beiden Disziplinen heraus ergibt sich der Königsweg der katastrophal scheiternden Jagd , in welcher der 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 201 Wal das Schiff mit sich zum Grund zieht; nur dieser Weg bringt einen letztgültig in die (im Rahmen von Ishmaels Cetologie entworfene) Wahrheit verheißende Meerestiefe. In eine ähnliche Richtung gehen die Ausführungen im 89. Kapitel des Romans, in dem zwei erstaunliche Fragen formuliert werden: „What is the great globe itself but a Loose-Fish? And what are you, reader, but a Loose-Fish and a Fast- Fish, too? “ (Melville- 310/ 89) Die FdG ‚ globe ‘ wird hier zum Fisch erklärt, genauer zum Loose-Fish . Im Kotext der zitieren Passage wird die Unterscheidung zwischen Fast-Fish und Loose-Fish ausführlich erklärt. Im Wesentlichen werden über diese beiden Begriffe die Besitzansprüche von Walfangschiffen auf bereits getötete Wale geregelt. Von besonderer Bedeutung ist der Fall, wenn ein bereits gefangener und an das Schiff gebundener Wal, ein ‚ Fast-Fish ‘, sich wieder vom Schiff löst (aufgrund von Wetter etc.), da er dadurch zum Loose-Fish wird und so von anderen Walfängern beansprucht werden könnte. Diese spezielle nautische Gesetzgebung wird im Laufe des 90. Kapitels, dessen Ende die oben zitierten Fragen darstellen, auf eine universale Formel ausgeweitet, mit der verschiedenste Lebensbereiche beschrieben werden können: [T]hese two laws touching Fast-Fish and Loose-Fish, I say, will, on reflection, be found the fundamentals of all human jurisprudence; for notwithstanding its complicated tracery of sculpture, the Temple of the Law, like the Temple of the Philistines, has but two props to stand on. (309/ 89) Diese massive Ausweitung bezieht sich vorwiegend auf kleinere Ganzheiten: What […] is poor Ireland, but a Fast-Fish? What is […] Texas but a Fast-Fish? And concerning all these, is not Possession the whole of the law? But if the doctrine of Fast- Fish be pretty generally applicable, the kindred doctrine of Loose-Fish is more widely so. That is internationally and universally applicable. What was America in 1492 but a Loose-Fish, in which Columbus struck the Spanish standard by way of wailing it for his royal master and mistress? What was Poland to the Czar? What Greece to the Turk? What India to England? What at last will Mexico be to the United States? All Loose-Fish. (309f./ 89) Die Gesetzgebung zur Regelung des Besitzes im Walfang wird zur Metapher für alle Besitzansprüche, „internationally and universally“. Die Metaphern, mit denen Melville die ‚Entdeckung‘ des amerikanischen Kontinents beschreibt, sind durch ihre Verankerung in der Fachsprache des Walfangs geprägt. Nur ein Kenner des Walfangs weiß, dass ein „Loose-Fish“ ein ‚herrenloser‘ Walkadaver ist. Der amerikanische Kontinent erscheint im Zuge dieser Beschreibung als Freiwild des anbrechenden Kolonialismus. Der Walfang tritt als Allegorie des 202 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale kolonialen Geschehens auf den Plan. Doch auch ganz allgemein erscheinen Staaten hier als ‚Freiwild‘, insofern diese jederzeit durch andere Staaten in ihrer Eigenständigkeit bedroht sind: Eine sprichwörtliche dog-eat-dog world, in der sich der stärkste Staat durchsetzt. Der Kampf zwischen Staaten findet seine Metapher im Walfang, mit dem vor allem die Darstellung des Verhältnisses zwischen ungleichen Staaten beschreibbar wird („India to England“, „Mexico […] to the United States“). Der sprichwörtliche Wolf , der bei Hobbes den Einzelmenschen im ‚Naturzustand‘ beschreibt, wird hier durch den Wal ersetzt, der den Staat bezeichnet (die biblische Referenz des Namens ‚Leviathan‘ aktualisierend). So wird auf dessen Gefährdungszustand verwiesen, der dem von Hobbes beschriebenen (und gefürchteten) ‚Naturzustand‘ durchaus nicht unähnlich ist (insofern die prekäre Situation des Bürgers durch den Leviathan ins ‚Außen‘ der Gesellschaft - die zwischenstaatlichen Konflikte und kolonialen Konkurenzen - verlagert wird; vgl.-III.2.4.1). Im Zuge der endgültigen Eskalation der Metapher des Loose-Fish erscheint schließlich die Ganzheit selbst beliebigen Besitzansprüchen und möglichen Übernahmen ausgeliefert, denn die zwischenstaatlichen und kolonialen Konflikte betreffen den „great globe“ in seiner Gänze . 4.3.3 Vortex: Der menschliche Körper als Himmelskörper Eine Struktur im Text vermittelt zwischen der Oberfläche und der Tiefe des Meeres: der sogenannte ‚Vortex‘. Das Wort lässt sich, annäherungsweise, als ‚Strudel‘ oder ‚Wirbel‘ übersetzen, wobei zu zeigen ist, dass diese Struktur potenziell ebenso verschluckende wie auch tragende Eigenschaften hat, die einen Körper entsprechend in die Tiefe des Meeres ziehen, oder an dessen Oberfläche halten können. Die Vorstellung des Vortex entstammt der cartesianischen Beschreibung der Bewegung von Himmelskörpern und damit einer konkreten, intertextuellen Quelle (die sich seit dem 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute, von der Descartes-Forschung jedoch im 20. Jahrhundert erst wiederentdeckt werden musste). 282 Bei Descartes bezeichnet der Vortex „etheric whirlpools“ (Glenn-181), „a large circling band of material particles. In essence, Descartes’ vortex theory attempts to explain celestial phenomena, especially the orbits of the planets or the motions of comets, by situating them (usually at rest) in these large circ- 282 „In our solar system, for example, the matter within the vortex has formed itself into a set of stratified bands, each lodging a planet, that circle the sun at varying speeds.“ (Slowik) Weiter ist der Vortex eine geradezu geniale Erfindung zum Schutz vor kirchlicher Zensur, welche die Erde unbewegt wissen will: Denn die Erde ‚ruht‘ auf dem rotierenden Vortex, der so an ihrer statt die Kreisbewegung um die Sonne vollzieht (vgl. Slowik). Zu den für Melville zugänglichen Quellen zum ‚Vortex‘ vgl. Leonard-105f. 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 203 ling bands.“ (Slowik) 283 Laut Descartes ist der Vortex allgegenwärtig, denn „the physical universe is made up of innumerable vortices“ (Melville-136/ 35, Fußnote-2). Diese Konzeption der Ganzheit transportiert dabei eine kopernikanische Weltvorstellung, insofern sie die Sonne ins Zentrum rückt. Sie ist außerdem dynamisch, insofern Planeten zwischen verschiedenen Vortexbändern wechseln können, bzw. kann es zum „vortex collapse“ (Slowik) kommen, welcher zur Bildung von ‚Kometen‘ führen kann; die planetare Bewegung ist bei Descartes also regelmäßig, aber nicht unbedingt auf ewig stabil. 284 Descartes übernimmt damit eine bemerkenswerte Sonderrolle. Denn er ist einerseits der „inventor of the mind-body problem“ (Ramachandran- 148), auf welches hier noch ausführlich einzugehen ist, insofern es in Moby-Dick ausführlich thematisiert wird. Andererseits ist Descartes - und das gilt vor allem für seine Rezeption vom 17. bis zum 19. Jahrhunderten - „first and foremost a worldmaker“ (ebd.), insofern er, nicht zuletzt in seinem Text Le Monde (1633) 285 , eine „grand cosmic theory“ (Ramachandran 154) entwickelt, die in ihrem schöpferischen Gestus an die Genesis einerseits und literarische Traditionen andererseits anknüpft (vgl. Ramachandran-147-81). Glenn fasst zusammen: „Faced with the absolute chasm between mind and matter that followed on his own denial of certitude to the material universe, Descartes formulated an elaborate theory of vortices, etheric whirlpools in which all nature was held and ordered.“ (181) Moby-Dick greift nun genau diese Doppelrolle Descartes’ auf - und rückt über diese den menschlichen Körper in ein einzigartiges Verhältnis zur Ganzheit, das in der ‚Doppelnatur‘ des Menschen einerseits, und der ‚Kosmostheorie‘ Descartes’ andererseits, sein Vehikel findet. 283 „In older theories of the universe (esp. that of Descartes), a supposed rotator movement of cosmic matter round a centre of axis, regarded as accounting for the origin or phenomena of the terrestrial and other systems; a body of such matter rapidly carried round in a continuous whirl.“ (OED, „vortex“) 284 „If the planet has either a greater or lesser centrifugal tendency than the small elements in a particular vortex, then it will, respectively, either ascend to the next highest vortex (and possibly reach equilibrium with the particles in that band) or be pushed down to the next lowest vortex—and this latter scenario ultimately supplies Descartes’ explanation of the phenomenon of gravity, or ‘heaviness’.“ (Slowik) So kommt es weiter mitunter zu einer drastischen Veränderung des Status von Himmelskörpern: „Once the vortex is engulfed by its expanding neighbors, the encrusted sun may become either a planet in a new vortex, or end up as a comet passing through many vortices.“ (Slowik) 285 „Descartes posits this basic concept of vortical systems in his Le Monde; ou, Traité de la Lumière .“ (Leonard-106) Allerdings wurde der Text in dieser Form erst posthum in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht, da Descartes Verfolgung durch die Kirche fürchtete, ausgehend von dem, was Galileo zustieß (vgl. Ramachandran- 147-152): „In 1632, Descartes was about to complete Le Monde , whose working title echoed Galileo’s. In November 1633, upon hearing the shocking news from Rome, Descartes hastily supressed his work“ (Ramachandran-147). 204 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale „Melville uses Descartes‘ paradigm to create a number of revolving vortical systems in Moby-Dick. “ (Leonard-107) So wird Ahab mit der Sonne verglichen und als Himmelskörper inszeniert, genau wie die ihm hörige Crew als um ihn ‚kreisend‘ beschrieben wird. 286 Ahab rückt damit ins Zentrum des vom Text evozierten kopernikanischen Weltbilds; die Crew wird in dieser Metaphorik zu ‚Planeten‘, welche Ahab gehorsam umkreisen, und auf ihn als Zentrum hin ausgerichtet sind (vgl. ebd.). Anschließbar ist diese Darstellung an die Rolle der Sonne in der Ikonograpie königlicher Herrschaft, mit der Ahabs Einfluss wiederholt identifiziert wird (vgl. Glenn-172). Weiter wird im Grand Armada übertitelten Kapitel 87 eine Szenerie entworfen, in der eine gejagte Walschule planetengleiche Bahnen - „concentric circles […] swiftly going round and round“ (302/ 87) - im Wasser zieht (vgl. Leonard-107). Die Bewegung der Wale werden gleichsam als „orbits“ (304/ 87) beschrieben und das ganze Kapitel ist von einer „universal commotion“ (305/ 87) durchzogen. Ishmael sieht sich dort außerdem von „planets of unwaning woe“ (303/ 87) umkreist, erlebt sich selbst dagegen „in mute calm“ (303/ 87); diese Ruhe bereitet das Entrückt-Sein Ishmaels vor, welches in der gleich ausführlich zu analysierenden Textpassage beschrieben wird. Die Inszenierung der Jagd in Kapitel 87 ruft die harmonischen Konnotationen von einer als „ Kosmos -- ein Name, der den Schmuck- und Schönheitscharakter des Universums ins Gedächtnis ruft“ (Sloterdijk, Weltinnenraum- 19) - verstandenen Ganzheit auf den Plan. Die Regelmäßigkeit planetarer Bewegung und deren Betrachtung wird als Erfahren von Harmonie erzählt. Wörtliche Erwähnung findet der Vortex in Moby-Dick dagegen insgesamt nur dreimal: Einmal in Kapitel 35 (wo auch Descartes’ Name ausdrücklich genannt wird), am Ende des letzten Romankapitels und im Epilog. 287 In Kapitel 35 wird ein Tagtraum inszeniert, der sich durch eine wohlig-entrückte Stimmung auszeichnet, die stark an den Auftakt der squid- Passage in Kapitel 59 erinnert. Die erhöhte Position des Ausgucks spielt dabei eine tragende Rolle. Der Aufenthalt im „mast-head“ wird dabei unter Verwendung eines unpersönlichen „you“ beschrieben: 286 So spricht Ahab Pipp wie folgt an: „Listen, and thou wilt often hear my ivory foot upon the deck, and still know that I am here. And now quit thee. Thy hand! -Met! True art thou, lad, as the circumference to its centre.“ (399/ 129) 287 David Leonard beschreibt auch andere Textstellen, in denen nicht direkt vom ‚Vortex‘ die Rede ist, aber dessen Struktur eindeutig aufgerufen wird, so wie in der Beschreibung von Ahab als unabhängigem, kreisendem Himmelskörper, der mit der Sonne verglichen wird (107). 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 205 In the serene weather of the tropics it is exceedingly pleasant-the mast-head; nay, to a dreamy meditative man it is delightful. There you stand, a hundred feet above the silent decks, striding along the deep, as if the masts were gigantic stilts; while beneath you and between your legs, as it were, swim the hugest monsters of the sea, even as ships once sailed between the boots of the famous Colossus at old Rhodes. There you stand, lost in the infinite series of the sea, with nothing ruffled but the waves. The tranced ship indolently rolls; the drowsy trade winds blow; everything resolves you into languor. For the most part, in this tropic whaling life, a sublime uneventfulness invests you; you hear no news; read no gazettes; extras with startling accounts of commonplaces never delude you into unnecessary excitements; you hear of no domestic afflictions; bankrupt securities; fall of stock; are never troubled with the thought of what you shall have for dinner-for all your meals for three years and more are snugly in casks, and your bill of fare is immutable. (133/ 35) Die Crew genießt hier ein „tropic whaling life“, in dem das anonyme „you“ sich seiner Sorgen enthoben fühlt. Zugleich greift der Roman in diesem Passus wiederum die bereits im ersten Kapitel des Romans etablierte Verbindung von „meditation and water“ (19/ 1) auf, die den Menschen als meereszugewandten Tagträumer beschreibt (vgl. Abschnitt III.4.2.1). Neben der geografisch-klimatischen Signatur („tropic“) ist diese ‚Enthebung‘ eine der vertikalen Anhebung, die sich aus der Höhe (und Einsamkeit) 288 des Mastes - „den imaginären Räumen des Meeres am nächsten und deshalb den Gefahren der Halluzination am stärksten ausgeliefert“ (Scholz-178) - ergibt. Und auch die Kategorie der Zeit scheint aufgehoben, denn auf Jahre hinaus fühlt „man“ sich hier im „Walfang-Leben“ geborgen. Einen scharfen Kontrast findet diese Wahrnehmung in der Tatsache, dass die träumerische Erfahrung von kurzer Dauer sein wird (vgl. Glenn-181). Der menschliche Körper wird in dieser Passage vergrößert und mit dem Schiff enggeführt (jedoch nicht über die Distanz hinaus angenähert, die durch Formulierungen wie „as it were“ und „even as“ aufrecht erhalten wird): Die Masten des Schiffes erscheinen als die Beine des Kolosses von Rhodos, bzw. fühlt „man“ sich auf gewaltige ‚Stelzen‘ (gemeint sind die Masten) gestellt. 289 Der Körper erscheint so erhöht und vergrößert, womit der nächste Schritt dieser Beschreibungen vorbereitet wird, welcher das Tagträumen als Trennung von Körper und Seele in Szene setzt: [L]ulled into such an opium-like listlessness of vacant unconscious reverie is this absent-minded youth by the blending cadence of waves with thoughts, that at last he 288 Vgl. hierzu die ausführlichen Beschreibungen des Mastes als Ort der Geborgenheit (Melville-134/ 35). 289 Auf die Verschmelzung von Masten und Beinen ist noch ausführlich einzugehen, vgl. Abschnitt III.4.4.5. 206 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale loses his identity; takes the mystic ocean at his feet for the visible image of that deep, blue, bottomless soul, pervading mankind and nature; and every strange, half-seen, gliding, beautiful thing that eludes him; every dimly-discovered, uprising fin of some undiscernible form, seems to him the embodiment of those elusive thoughts that only people the soul by continually flitting through it. In this enchanted mood, thy spirit ebbs away to whence it came; becomes diffused through time and space; like Wickliff’s sprinkled Pantheistic ashes, forming at last a part of every shore the round globe over. (136/ 36) Das Meer wird hier zunächst zu einer allumfassenden Metapher für „mankind“, „nature“ und alles ‚Unbekannte‘, womit es nicht nur auf einen größeren - wenn auch denkbar unscharfen - Zusammenhang bezogen wird, sondern auch selbst als grenzenlose Ganzheit erscheint; wiederum also wird das Meer vom Menschen als Metapher für das „Ganze seines Weltzustandes“ (Blumenberg, Schiffbruch 10) bemüht. Damit rückt das Meer an eine Position, die ansonsten vom Weißen Wal besetzt wird: Es steht für alles, was „unsymbolisierbar“ (Wolf, „Needle“- 108) erscheint. 290 Zentral für diese Passage ist außerdem eine Basisunterscheidung zur Beschreibung des menschlichen Körpers, zwischen der Seele einerseits und dem Körper andererseits, welche im Laufe ihrer Geschichte unterschiedlichste Ausprägungen angenommen hat; 291 „[i]t is the Cartesian dilemma that Melville formulates in Ishmael’s meditation.“ (Glenn- 181) In Melvilles Roman wird diese Unterscheidung ausführlich thematisiert, verbunden mit einer eindeutigen Aufwertung der Seele, womit der Text mit der, von ihm selbst bemühten, antiken Konzeption der ‚Doppelnatur des Menschen‘ und der Hierarchisierung, die diese mit sich bringt, d’accord geht. 292 Die Seele trennt sich im Textausschnitt schließlich vom Körper und geht in die Ganzheit 290 Vgl. auch mit dem Beginn von Blumenbergs Schiffbruch mit Zuschauer , wo die Seefahrt als Metapher für einen deutlich größeren Zusammenhang eingeführt wird: „Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen.“ (9) 291 Vgl. hierzu etwa Matalla de Maza-103-114. 292 Dieser klassischen Konzeption von der ‚Doppelnatur‘ des Menschen wird im Text eine konkrete Räumlichkeit verliehen, in welcher der Körper zu einem ebenso schützenden wie klaustrophobischen Innenraum für die Seele erklärt wird: „[T]he soul is glued inside of its fleshy tabernacle, and cannot freely move about in it, nor even move out of it, without running great risk of perishing (like an ignorant pilgrim crossing the snowy Alps in winter)“ (122/ 32). Die Grenzen des körperlichen Innenraums sind dabei aber äußerst prekärer Natur, wie folgende Passage zeigt: „Yes, these eyes are windows, and this body of mine is the house. What a pity they didn’t stop up the chinks and the crannies though, and thrust in a little lint here and there. But it’s too late to make any improvements now. The universe is finished“ (25/ 2). 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 207 über: „thy spirit ebbs away to whence it came“ (vorbereitet in der Verschmelzung von „waves“ und „thoughts“); sie trennt sich von Raum und Zeit, also jenen Dimensionen, von denen der ‚Träumer‘ zuvor bereits ‚enthoben‘ wurde: Sein Geist „becomes diffused through time and space“. 293 Zudem wird hier eine Wandlung der Seele in Asche imaginiert, eine Metapher, welche letztlich eine Verschmelzung von Einzelkörper und Ganzheit physisch vorstellbar werden lässt, insofern sich diese Asche am Ende des Passus „the round globe over“, über das Medium des Wassers, an den Küsten verteilt; dies ist über das Adjektiv „round“ an Vorstellungen von Harmonie und Einheit angeschlossen. Die Asche markiert darüber hinaus die zur Verschmelzung mit dem „globe“ notwendige Grenzüberschreitung des Sterbens. In Bezug auf Kapitel 61 und der Rolle der Asche dort hält Borgards eine Beobachtung fest, die sich auch auf die oben zitierte Passage übertragen lässt (und so auf eine im Text stabile Metaphorik der Asche hinweist): Diese Asche lässt sich nicht nur als metaphorisches Substitut für den Tod, sondern auch als Beschreibung des metaphorischen Prozesses selbst lesen, dann allerdings für eine Metapher, die sich gerade dadurch auszeichnet, nicht rückübersetzbar zu sein. […]. Asche ist das Ergebnis eines irreversiblen Prozesses. (Borgards-180) Der inszenierte Tagtraum erscheint somit als eine tangentiale Szene, denn sie nähert sich der Vereinigung von Körper und Ganzheit zwar an, aber sie unterbricht diese vor ihrer Umsetzung - denn sie wäre irreversibel und würde den Tod bedeuten. Damit erklärt sich auch die eigentümliche Distanz der Beschreibungen. Sie betreffen eben gerade nicht Ishmael, denn dieser ist durch sein Überleben in seiner Rolle als Erzähler allererst definiert, insofern er als Einziger den Schiffbruch überdauert (s. u.). 294 There is no life in thee, now, except that rocking life imparted by a gently rolling ship; by her, borrowed from the sea; by the sea, from the inscrutable tides of God. But while this sleep, this dream of ye, move your foot or hand an inch, slip your hold at all; and your identity comes back in horror. Over Descartian vortices you hover. And perhaps, at midday, in the fairest weather, with one half-throttled shriek you drop through that transparent air into the summer sea, no more to rise for ever. (Melville 136/ 36) 293 Der Text scheint damit einer allgemeinen Feststellung von Maggie Kilgour zu entsprechen, die - wenn auch hier aus dem Zusammenhang gerissen - lautet: „While bodily existence gives us the sense of living inside a coherent and unified structure whose boundary lines are carefully marked out, the mind’s territory is less clearly defined“ (10). 294 „The transcendental peace and calm experienced by Ishmael in the Mast-Head scene is a subtle deceit, for at the bottom of it all is a yawning, churning vortex ceaselessly whirling about in a chained orbit, a fiery hell, an ungodly colorless all color of universal motion.“ (Leonard-108f.) Vgl. zu dieser Passage auch Glenn 180f. 208 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Glenn hat auf die religiösen Implikationen dieser Beschreibungen hingewiesen, deren Lektion darin besteht, dass „[t]he mind may participate from time to time in the infinite universe, but it is contained in vulnerable, fallible flesh.“ (Glenn-181) Der Körper wird hier als ‚über einem cartesianischen Vortex‘ schwebend inszeniert - und rückt somit an die Position eines Planeten oder Kometen in der cartesianischen Kosmosvorstellung. Der namenlose Matrose erscheint so als in die Position eines Himmelskörpers gerückt, wobei auch die potenzielle Instabilität von Vortices aufgerufen wird, deren tragende Funktion für einen Himmelskörper auch verloren gehen kann. Solange der Matrose schwebt, ist sein Schicksal noch nicht entschieden; der Sturz dagegen bedeutet seinen Tod und das Herausfallen aus dem haltenden Vortex. 295 Dass vom Text die Konzeptionen Descartes’ bemüht werden, ist darauf zurückzuführen, dass dieser die Thematik der Ganzheit (hinsichtlich ihrer Gestalt, ihres Verhältnisses zu Gott etc.) ebenso behandelt, wie er den Körper als ‚Doppelnatur‘ konzipiert. 296 Melvilles Roman rückt diese beiden Aspekte in eine neue Relation, insofern er die ‚menschliche Doppelnatur‘ als trennende Wand inszeniert, welche einer Verschmelzung mit der Ganzheit entgegensteht. Diese Verschmelzung kann also im ‚Diesseits‘ des Erzählens/ des Erzählers nur als nicht eingelöste Phantasie präsentiert werden, die auf ein anonymes ‚man‘ ausgelagert wird. 297 Abschließend ist ein Blick auf die beiden anderen Vortices zu werfen, welche das Ende des Romans bestimmen. Beide beschreiben den Untergang der Pequod - bzw. sind beide unmittelbar an das Überleben Ishmaels geknüpft. 298 And now, concentric circles seized the lone boat itself, and all its crew, and each floating oar, and every lancepole and spinning, animate and inanimate, all round and round in one vortex, carried the smallest chip of the Pequod out of sight. (426/ 135) 295 „At the masthead, the mind, seeking to comprehend the infinite natural world, falls through Descartian vortices which have no power to hold it up, into the terrible space between which Descartes himself had likened to deep waters.“ (Glenn-181) 296 Im Übrigen untersucht Descartes den ‚freien Fall‘ von Objekten auf der Erde (vgl. Slowik), was die Thematik des Sturzes im Passus des Moby-Dick weiter in diesen Kontext einordnet. 297 „To Melville, the Cartesian vortical system replaces the optimism of transcendentalism with the pessimism of mechanism. As a result of his knowledge of Cartesianism, Melville views nature as an impersonal mechanism that runs without human or divine intervention.“ (Leonard-109) 298 „In the closing paragraphs of Moby-Dick , Melville recapitulates his earlier rejection of the religion of nature in ‘The Masthead.’ His depiction of the sinking of the Pequod is his final statement about the consequences of the sublime quest“ (Glenn-181). 4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit 209 Dieses Ende wird doppelt erzählt, denn die ausführliche Beschreibung dieses Vortex wird im Epilog wiederholt. So, floating on the margin of the ensuing scene, and in full sight of it, when the half spent suction of the sunk ship reached me, I was then, but slowly, drawn towards the closing vortex. When I reached it, it had subsided to a creamy pool. Round and round, then, and ever contracting towards the button-like black bubble at the axis of that slowly wheeling circle, like another Ixion I did revolve. Till, gaining that vital centre, the black bubble upwards burst; and now, liberated by reason of its cunning spring, and, owing to its great buoyancy, rising with great force, the coffin life-buoy shot lengthwise from the sea, fell over, and floated by my side. Buoyed up by that coffin, for almost one whole day and night, I floated on a soft and dirge-like main. (427/ Epilogue) Ishmael überlebt also nicht nur, weil er sich an den schwimmenden Sarg Queequegs klammert, 299 sondern auch und vor allem, weil er weiter über dem Vortex schwebt („the coffin life-buoy […] floated by my side“, „I floated “; Hervorhebungen T.E.). 300 Ahab hat sich im unmittelbaren Kotext der Passage von der Sonne abgewandt und so seine Parallelsetzung zu einem Himmelskörper aufgegeben: „I turn from the sun.“ (426/ 135) 301 Somit hat der Kapitän den Vortex verlassen. Das Auseinanderfallen von erzählter Zeit und Erzählzeit durch das doppelte Beschreiben des Untergangs gibt dem Schweben über dem Vortex seine Dauer. In dem somit gedehnten Untergang bleibt Ishmael merklich in der Schwebe zurück. „Ishmael returns, unmarked, as the sole bearer of the story“ (Altschuler-267), weil er der ‚Wasser-Welt‘ nicht ‚auf den Grund geht‘. Dies bleibt dem Wal, der Pequod und ihrer Crew vorbehalten - die allesamt, wie dargestellt wurde, im Lauf des Romans in ein ausgeprägtes Näheverhältnis zur Ganzheit/ Tiefe gebracht werden. Die Tiefe des Meeres steht als zweite Wand zwischen der Ganzheit und ihrem Betrachter; sie zu durchschreiten setzt (wiederum, wie auch schon bei der Trennung von Körper und Seele) den Tod voraus. Ein Weg zur ‚Welt‘ ist damit konzipiert, der von allen Körpern im Text - bis auf Ishmael - gegangen wird. Was Ishmael - mit Nicolas Pethes gesprochen - damit rettet, 299 Zur Deutung dieses Sargs: „Wenn es zur Funktion des Autors gehört, einfach länger zu leben […], so spitzt Melvilles Roman diese Überlebensfunktion als Rettung des Erzählers Ishmael ausgerechnet durch einen Sarg zu, der nach dem Untergang der Pequod auf dem Wasser treibt und Ishmael als Einzigem das Leben rettet.“ (Vedder-68) 300 „Only Ishmael is left in the center of the vortex system […]. Like Ixion, Ishmael’s fate is to be bound to a fiery wheel in Hades, to be bound to a circular universe of endless motion.“ (Leonard-107) 301 „The Pequod with her fragile cargo of flesh is whirled down to hell, as if fallen into a sublime Cartesian vortex, dragging down with her the emblem of the mind.“ (Glenn-182) Mit Letzterem ist der Adler gemeint, der sich auf dem Mast der sinkenden Pequod niederlässt. 210 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale ist, dass er „Theoretiker im Wortsinne“ ist: „Er beobachtet den Walfang, anstatt ihn zu betreiben.“ (91) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick In seiner Studie Monsters of the Market erklärt David McNally: „Amongst other things, monsters are warnings - not only of what may happen but also of what is already happening “ (9) - und man kann, ganz im Sinne des Autors, ‚ what happened in the past ‘ hinzufügen. 302 Diese Deutung von Monstern fußt nicht zuletzt auf der Etymologie des Wortes ‚Monster‘ selbst, „which derives from the Latin monere (to warn).“ (ebd.) Die von ihm untersuchten Monster ‚warnen‘ so vor dem „capitalist market-system“ (5), und geben damit einem hochkomplexen Begriff und Prozess Gestalt, indem sie den eigentlich ‚monströsen‘ Charakter dieses Systems anschaulich machen, 303 der ohne sie unsichtbar bliebe. 304 Exemplarisch sei hier auf McNallys Deutung von Zombies in der afrikanischen Literatur der Gegenwart verwiesen, die als warnende Hinweise darauf gelesen werden, dass „the continent is bled of hundreds of millions of dollars per day to repay debts to world-banks“ (16). Zombies sind damit als Monster der heutigen Globalisierung zu lesen; 305 Monster sind dabei stets durch ihre Körperlichkeit bestimmt, die ihren Ausnahmecharakter ins Bild rückt und markiert. Von dieser Perspektive ausgehend soll die These vertreten werden, dass der Wal in Melvilles Moby-Dick als ein im engen Sinn monströser Körper gelesen werden kann, welcher den Prozess der Expansion des Welt-Systems sichtbar werden lässt. Damit weist er ‚warnend‘ auf ein Schwellenereignis in diesem Komplex hin: die ‚Integration‘ Japans in den sich ausdehnenden Welt-Markt. 302 Denn McNally untersucht dezidiert auch zurückliegende Texte, nicht zuletzt Mary Shelleys Frankenstein . 303 „For modernity’s monstrosities do not begin and end with shocking crises of financial markets, however wrenching and dramatic these may be. Instead, the very insidiousness of the capitalist grotesque has to do with its invisibility with, in other words, the ways in which monstrosity becomes normalised and naturalised via its colonisation of the essential fabric of everyday-life, beginning with the very texture of corporeal experience in the modern world. What is most striking about capitalist monstrosity, in other words, is its elusive everydayness, its apparently seamless integration into the banal and mundane rhythms of quotidian existence.“ (McNally-2) 304 McNally bezieht sich dabei ganz wesentlich auf die Metaphorik der Unsichtbarkeit bei Karl Marx, „developing a dialectical optics , ways of seeing the unseen. For the essential features of capitalism, as Marx regularly reminded us, are not immediately visible.“ (6) 305 Vgl. zu Lesarten in diesem Stil auch Silvia Federicis Witches, Witch-Hunting, and Women die sich dem Phänomen der (wohlgemerkt: zeitgenössischen) Hexenjagd widmet. 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 211 1854, nach einer zweihundertjährigen Politik der Isolation, ‚öffnet‘ sich Japan dem expandierenden Welt-Markt auf Druck der Vereinigten Staaten, den diese, im Zuge einer „military coerced diplomacy“ (Rangno-466), mit der Präsenz von Kriegsschiffen untermauern. Im drei Jahre zuvor veröffentlichten Moby-Dick wird Japan noch als dem Welt-Markt verschlossen dargestellt. Jedoch antizipiert der Roman die ‚Öffnung‘ Japans als mögliches zukünftiges Ereignis und sieht den Walfang, den Ishmael ausführlich als führenden, transnational agierenden Zweig der amerikanischen Wirtschaft darstellt, dabei als entscheidenden Akteur: „If […] Japan, is ever to become hospitable,“ so Ishmael, „it is the whale-ship alone to whom the credit will be due; for already she is on the threshold.“ (99/ 24) Doch nicht nur diese Textstelle setzt Walfang und Japan in Bezug zueinander. Nicht zuletzt fand die erste Begegnung zwischen Ahab und dem Weißen Wal „on the coast of Japan“ (69f./ 16) statt und auch das Ende der Jagd nach Moby Dick wird in den pazifischen Gewässern vor der Küste Japans lokalisiert und damit an einem semantisch hochgradig aufgeladenen Ort des bereits nahezu lückenlos erdumspannenden Welt-Markts des 19. Jahrhunderts: 306 By the time Melville changed his career from sailor to writer, Western European countries and the United States had almost completed their world exploration. The Pacific became the location of a struggle for both commercial and imperialistic power, and Japan was the least known archipelago in the Pacific because of its policy of seclusion from the outside world. (Saiki-34) Die Waljagd ist dabei von Beginn an, im Zuge einer Erdumrundung zu zwei von drei Teilen, nach Osten und damit auf Japan ausgerichtet; in der Forschung zu Moby-Dick- wird jüngst entsprechend ein verstärkter Fokus auf die Rolle Japans im Text gelegt. 307 Dabei fließen, wie Erik Rangno in seinem Aufsatz „Melville’s Japan and the ‘Marketplace Religion’ of Terror“ beschreibt, viele Themenkomplexe ineinander, wenn Melville ‚Japan‘ schreibt: „Japan, I argue, unifies several recent strains of Melville scholarship that explore race, empire, and the Pacific“ (467). Weiter führt er aus, dass Moby-Dick ‚Japan‘ und den Wal in eine enge Beziehung zueinander setzt: „ Moby-Dick imagines Japan to be the geopolitical analogue to the white whale-an inscrutable and unalterable racialized presence forever at the horizon-line of American empire in the Pacific“ (Rangno- 468). Das im Text inszenierte ‚Japan‘ ist also - auch über die anfängliche und finale Lokalisierung Moby Dicks hinaus - eng an den Wal gebunden. Damit artikuliert 306 Dabei ist jedoch der Vollständigkeit halber zu erwähnen, dass „in fact, most of the voyage of the Pequod takes place in the Indian Ocean, not the Pacific“ (Birns-4). Vgl. hierzu außerdem Birns-9-15. 307 Neben Rangno beziehe ich mich vor allem auf den Aufsatz „Fast Fish and Raw Fish“ von Russel Reising und Peter Kvidera. 212 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale sich nicht zuletzt das konkrete Interesse der USA an den japanischen Walfanggründen: In other words, all of the terrors and fears caused by Japan’s unwillingness to trade with the West or to provide a safe haven for American whaling ships, though the best hunting grounds were adjacent to its shore, become anthropomorphized in the white whale’s ubiquitous and impenetrable defiance of the American captain’s revenge. (Rangno-485) Doch diese imperiale Struktur ist - und dies soll hier in Ergänzung zu Rangno ausgeführt werden - auf das partikulare Japan und auf die Ganzheit der ‚Welt‘ gleichermaßen bezogen. Indem der Roman den Wal nicht nur mit Japan, sondern auch mit ‚Welt‘ assoziiert (vgl.- III.4.3.2), lässt er den Walfang zum Sinnbild einer aggressiven Expansionspolitik werden, die über Japan hinausweist. Die Jagd nach dem Wal/ Japan ist damit immer auch eine nach der (oder einer) größeren Ganzheit: Die imperialen Ambitionen der USA erscheinen so als von welt-bezogenem Umfang. Über die Lokalisierung des Weißen Wals verhandelt der Text also, so die im Anschluss an andere Arbeiten zu belegende These, das Begehren, das im Text inszenierte Japan in den expandieren Welt- Markt zu integrieren (vgl.- III.4.4). Die Lokalisierung des Wals vor der Küste Japans geht des Weiteren über das Aufrufen verschiedener Perspektiven auf Ganzheit vonstatten (vgl.-III.4.4.4). So haben die Untersuchungen auch über den ‚flüchtigen‘ Wal hinaus einen Bezugspunkt, der ihnen als Anker dient: die Pequod , welche in gleichem Maß dem Wal hinterherjagt, wie sie auf Japan zustrebt. Wie abschließend gezeigt werden soll, wird Japan dabei weiter, über die Darstellung verletzter körperlicher Integrität, als fehlendes Glied eines vom Text subtil beschriebenen, anthropomorphen ‚Weltkörpers‘ inszeniert (vgl.-III.4.4.5). 4.4.1 „World-watching“: Zur ‚Öffnung‘ Japans Roland Robertsons Phasenmodell der Globalisierung macht den Einschluss nicht-europäischer Staaten/ Nationen in die ‚internationale Gemeinschaft‘ zum roten Faden seiner Ausführungen. Die von Wallerstein beschriebene Ausdehnung des Welt-Systems, auf der Robertsons Ansatz (trotz aller Kritik) fußt, verläuft in Schüben und über unterschiedliche Schwellen hinweg. Der Rolle Japans in diesem Prozess widmet Robertson dabei ein eigenes Kapitel (Robertson, Globalization - 85-96). Denn im Fall Japans trifft die Expansion des Welt-Systems - so will es zumindest eine etablierte Darstellung der Ereignisse - auf einen 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 213 besonders widerspenstigen Gegenpart. 308 Dieser Widerstand ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Japan dem Westen im 19. Jahrhundert technologisch und wirtschaftlich mindestens gewachsen, wenn nicht sogar überlegen ist, und insofern nicht ohne Weiteres als ‚unzivilisiert‘ abgewertet werden kann (vgl. Osterhammel u. Petersson-57 und Kowner-104). Trotzdem hat Japan dem Druck von Außen Mitte des 19. Jahrhunderts wenig entgegenzusetzen, denn es ist „divided and unarmed“ und „had few powers of resistance against the warships of the middle nineteenth century which demanded access to her long closed ports.“ (Fox-411) 309 Wesentlicher Aspekt ist dabei die japanische ‚Isolationspolitik‘, die auf den vorhergehenden Kontakt mit Portugal im 16. Jahrhundert zurückgeht. Zwischen Portugal und Japan kommt es dabei zu einem konfessionellen Streit, in dessen Folge Japan 1637 den Zugang zu seinen Inseln strikt limitiert. 310 „Für andere Fremde als Chinesen, Koreaner und eine kleine Zahl streng überwachter holländischer Kaufleute war das Archipel so gut wie unzugänglich“ (Osterhammel 308 Vgl. die Aufsätze von Rangno, Fox, Kowner und Okada. Robertson betont: „A particular world-systems view is that Japan did not enter ‘the world’ until forced to do so by Western powers, in particular by US Commodore Perry’s ‘black ships’ in the 1850s.“ Weiter besteht er in Abgrenzung zu dieser Beschreibung auf einer „relatively autonomous significance of ‘culture’ and of ‘voluntaristic’, societal transtitions; although that is certainly not to say that objective, economic and world-systematic factors are unimportant.“ (Robertson, Globalization -86) 309 Vgl. auch diese Beschreibung Benedict Andersons: „Three years before the East India Company lost its Indian hunting-ground, Commodore Perry with his black ships peremptorily battered down the walls that for so long had kept Japan in self-imposed isolation. After 1845, the self-confidence and inner legitimacy of the Bakufu (Tokugawa Shogunate regime) were rapidly undermined by a conspicuous impotence in the face of the penetrating West.“ (94) Der Fall des ‚verschlossenen‘ Japans ist derart prominent, dass auch Kant ihn in Zum ewigen Frieden, im Rahmen von seinen Ausführungen zum Besuchsrecht, bespricht (vgl. Kant-22f.). 310 „Japan had undergone […] religious proselytizing once before, under the direction of the Portuguese in the sixteenth century. Japanese officials were initially tolerant of Christianity because they were interested in pursuing foreign trade, to the extent that by 1582 there were around fifteen thousand Christian converts in Japan. In 1614, however, the government campaigned against the ongoing decay of Japanese culture and tradition. All missionaries were formally expelled, and the religion was officially outlawed. Throughout the 1630s a series of increasingly strict rules designed to reunify Japan and instill a national identity in effect sealed the empire from all foreign influence. At that time, more than thirty thousand Japanese Christians were put to death when they opposed the new law. (To test their faith, suspected Christians were made to undergo fumie, a forced treading on a bronze plate of the Madonna and Child; those who refused were put to death.) These attitudes remained more or less unchanged during the intervening two centuries, and were not tested again until American whalers began appearing off the coast of Japan with increasing frequency, beginning in the 1830s.“ (Rangno-475) Vgl. auch Wallerstein, Expansion 193f. 214 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale u. Petersson-33), vorausgesetzt Letztere schwören im Rahmen eines öffentlich abgehaltenen Ritus (Fumie) der christlichen Religion ab. 311 Robertson weist jedoch darauf hin, dass diese Isolationspolitik eher als (Vorreiter einer später weiter perfektionierten) Inklusions politik zu verstehen ist, die es schafft, fremdes Kulturgut in großen Mengen zu japanisieren. 312 „In other words, Japan’s ‘isolation’ from the global circumstance was a globally oriented gesture“ (Robertson, Globalization - 85). So ist Japans Außenpolitik in dieser Zeit als „two hundred years of voluntary, but ‘world-sensitive,’ isolation“ (90) zu beschreiben, womit die aktive Rolle Japans in dieser Konstellation betont wird. 313 Das durch eine Kombination aus diplomatischem und militärischem Druck erwirkte Ende dieser Politik Japans geht auf amerikanischer Seite mit einer Rhetorik des Marktes einher, der als Welt- Markt verstanden wird. Japans Einschluss erscheint so, im Sprechen US-amerikanischer Offizieller, als ‚Beitritt zum Menschengeschlecht‘. Dies macht Erik Rangno anhand der Reden von William H. Seward, eines US-Senators dieser Zeit, deutlich: „The coming together of U.S. and Asian cultures, Seward would have his fellow law-makers believe, is not simply another colonization of the exotic so much as it is a transcendence of cultural difference, a coming home .“ (Rangno-466; Hervorhebungen T.E.) 314 Zurückgreifend auf die These, dass das Welt-System im Lauf des 19. Jahrhunderts erdumfassend wird (vgl. Abschnitt I), kann der Einschluss Japans in 311 Vgl. hierzu auch David Mitchells The Thousand Autumns of Jacob de Zoet , der in seiner literarischen Darstellung Japans deutlich macht, dass nicht nur Niederländer (und andere Europäer, die nur vorgeben, niederländisch zu sein) öffentlich der christlichen Religion abschwören müssen: Auch die Bewohner Japans selbst müssen dieses Ritual regelmäßig durchlaufen, da auch diese den Verdacht zu zerstreuen haben, dem Christentum anzugehören (270f.). Weiter findet das Ritual in den Travels (183/ III.11) und in Candide (60/ 5) explizit Erwähnung. 312 Besonders deutlich tritt dies zutage an den hybriden Religionspraktiken in Japan. Vgl. Robertson, Globalization -85-96. 313 Diese Politik ist im Übrigen auch nach innen gerichtet, denn „an attempt to see the outside world could cost one’s life. It was inconceivable for common people to emigrate to foreign countries.“ (Okada-141) Vgl. zur aktiven Rolle Japans auch Osterhammel u. Petersson, die dem (geschlossenen) Japan ein ausnehmend hohes „Interesse an der Außenwelt“ (45) bescheinigen. 314 „Speaking before the U.S. Senate on 29 July 1852, New York Senator William H. Seward proposed a bill that would provide for the survey and reconnaissance of the Pacific Ocean in the interest of both American commerce and the Christian democratization of the East. Using language strikingly familiar to readers of Herman Melville’s Moby-Dick (1851), Seward offered up a history of whaling that was both noble and humanitarian: at once the calculated instrument of empire and the means for mutually beneficial cultural exchange. The consolidation of these contrary human endeavors, he claimed, would require ‘the subjugation of the monster of the seas to the uses of man.’ While Seward could just as easily have been evoking Ahab’s white whale, he was instead speaking largely of Japan.“ (Rangno-465) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 215 den Welt-Markt als Teil dieses Prozesses angesehen werden. Die rhetorische Ausgestaltung dieses Prozesses von Seiten der USA belegt die enge Verquickung von universalistischem Denken mit dem kapitalistischen Welt-System, der Wallerstein sein Werk European Universalism gewidmet hat. 315 Allgemeiner ist das Interesse an Japan Teil der aufkommenden imperialen Ambitionen der USA, die auf den pazifischen Raum im Allgemeinen, und Japan (und dessen Walfanggründe) im Besonderen, zielen (vgl. Rangno-484f.). 4.4.2 „Circumnavigating“: Die Ost-Ausrichtung der Pequod Ahab beabsichtigt mit der Pequod die Erde einmal vollständig zu umrunden. Diese Route ist keineswegs üblich für ein Walfangschiff (geschweige denn sinnvoll): „Unlike the classic whaling-ship trajectory (undertaken, for instance, in 1820 by the doomed Essex , long seen as the chief nautical inspiration for Melville’s text, or in 1841 by the Acushnet , Melville’s first whaler), the fictional Pequod does not go west around Cape Horn.“ (Birns 4) Denn diese steuern üblicherweise auf direkterem Weg die bekannten Walfanggründe an - wobei die im Pazifik gelegenen als besonders ergiebig gelten. Dementsprechend sollte die Pequod , die von der Ostküste der USA startet, eher Kap Hoorn (die Südspitze Südamerikas) umfahren, um so zu den pazifischen Gewässern zu gelangen. Damit würde sie, zumindest in der allgemeinen Ausrichtung dieser- Route, gen Westen segeln. Doch die Route der Pequod folgt nicht der Ökonomie des kürzesten und effektivsten Wegs. Stattdessen folgt sie dem Kalkül Ahabs, welches nicht nur der 315 „There are three main varieties of this appeal to universalism. The first is the argument that the policies pursued by the leaders of the pan-European world are in defense of ‘human rights’ and in furtherance of something called ‘democracy.’ The second comes in the jargon of the clash of civilizations, in which it is always assumed that ‘Western’-civilization is superior to ‘other’ civilizations because it is the only one that has come to be based on these universal values and truths. And the third is the assertion of the scientific truths of the market, the concept that ‘there is no alternative’ for governments but to accept and act to the laws of neoliberal economics. […]. These are not new themes, however. […] [T]hey are instead very old themes, which have constituted the basic rhetoric of the powerful throughout the history of the modern world-system, since at least the sixteenth century. There is a history to this rhetoric. And there is a history of opposition to this rhetoric. In the end, the debate has always revolved around what we mean by universalism. I shall seek to show that the universalism of the powerful has been a partial and distorted universalism, one that I am calling ‘European universalism’ because it has been put forward by pan-European leaders and intellectuals in their quest to pursue the interests of the dominant strata of the modern world-system.“ (Wallerstein, Universalism -xi-xii) Vgl. zu diesem Zusammenhang auch diese Ausführungen Mbembes: „Dans son avide besoin de mythes destinés à fonder sa puissance, l’Hémisphère occidental se considérait comme le centre du globe, le pays natal de raison, de la vie universelle et de la vérité de l’humanité.“ (25) 216 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale Lokalisierung möglichst vieler Wale, sondern auch und vor allem dem Finden Moby Dicks verschrieben ist: No possible endeavor […] could enable [Ahab] to make the great passage southwards, double Cape Horn, and then […] arrive in the equatorial Pacific in time to cruise there. Therefore, he must wait for the next ensuing season. Yet the premature hour of the Pequod’s sailing had […] been correctly selected by Ahab, with a view to this very complexion of things. Because, an interval of three hundred and sixty-five days and nights was before him; an interval which […] he would spend in a miscellaneous hunt; if by chance the White Whale, spending his vacation in seas far remote from his periodical feeding-grounds, should turn up his wrinkled brow off the Persian Gulf, or in the Bengal Bay, or China Seas, or in any other waters haunted by his race. So that […] any wind […] might blow Moby Dick into the devious zig-zag world-circle of the Pequod’s circumnavigating wake. (Melville-168f./ 44) Irrational ist diese Route vordergründig zwar nicht, da sie dem verspäteten Aufbruch der Pequod geschuldet ist, welcher das pünktliche Erreichen der Walfanggründe im Pazifik auf dem konventionellen Weg unmöglich macht. Doch die Möglichkeit des schlichten Wartens auf den richtigen Zeitpunkt zum Aufbruch wird, getrieben von Ahabs Rachegelüsten, zugunsten des Plans beiseitegeschoben, die nötige Zeit im Zuge einer längeren Route verstreichen zu lassen. Die Pequod wird entsprechend nach Osten fahren, die Erde zu zwei Dritteln umrunden und so schließlich zum rechten Zeitpunkt bei den besagten Walfanggründen ankommen. Die Logik dieser Route würde die Pequod , sobald sie Moby Dick erlegt hat, um Südamerika herum zurück zur Ostküste der USA führen - womit sie eine volle Erdumrundung vollzogen hätte. Die bedeutungsschwangere Umrundung der Erde, auf die Globalisierungstheorien einer bestimmten Ausrichtung großen Bedeutungsgehalt projizieren, 316 und die den Anfang der sogenannten ‚Entdeckung‘ der Erde bzw. den Beginn der Kolonialgeschichte einläutet, wird so vom Roman neu konnotiert (und ist auch kein ‚Spiel‘, wie etwa in Jules Vernes Tour du Monde ). Dass Moby Dick dabei am wahrscheinlichsten im Pazifik anzutreffen ist, scheint immer schon klar. Genauer noch sind die japanischen Gewässer der vermutete Aufenthaltsort des Weißen Wals. So heißt es im „The Pacific“ übertitelten Kapitel- 111, das diesen einleitend zunächst seiner Etymologie entsprechend als „serene ocean“ (367/ 111) beschreibt: „Launched at length upon these almost final waters, and gliding towards the Japanese cruising-ground , the old man’s [Ahabs; T.E.] purpose intensified.“ (368/ 111; Hervorhebungen T.E.) Diese Ver- 316 Zu nennen ist hier vor allem Peter Sloterdijk; vgl. hierzu Abschnitt-IV. 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 217 ortung ist darüber hinaus schon im „einflussreichen Bericht über ‚Mocha Dick‘“, dem „legendären weißen Wal des Pazifiks “ (Neubert- 194; Hervorhebung T.E.) angelegt, der Melville wahrscheinlich als Vorlage für sein Monster diente. 317 Wie wahrscheinlich die Begegnung mit dem einen gesuchten Wal dabei jedoch ist, lässt sich errechnen - vorausgesetzt man hat keine Scheu vor großen Zahlen: Rund 71-Prozent der Erdoberfläche sind vom Wasser der Ozeane bedeckt. Das Areal der Meeresoberfläche wird mit ca. 365,5 Millionen Quadratkilometern beziffert, das Gesamtvolumen des Wassers veranschlagt man auf rund 1,338 Milliarden Kubikkilometer. Ein durchschnittlicher, ausgewachsener Pottwalbulle bemisst dagegen etwa 240 Kubikmeter, was einem Anteil von etwa 2,4 x 10 -8 innerhalb eines Kubikkilometers Meerwasser entspricht. Hochgerechnet auf das gesamte Meeresvolumen beträgt das Verhältnis eines Pottwalbullen zum Weltmeerinhalt 1,79/ 100 000 000 000 000 000. Die Wahrscheinlichkeit eines Walfängers, innerhalb der Ozeane nun einen so kleinen, wenngleich wohldefinierten weißen Punkt namens Moby Dick anzutreffen, ließe sich demzufolge grob mit ‚verschwindend gering‘ angeben. (Krajewski, „Chart“-50) Der Hoffnungslosigkeit dieser Situation (deren explizit-mathematische Darstellung dem Roman selbst natürlich eher fremd ist) wird mit einer Mischkalkulation begegnet. Erstens werden schlicht alle Walfanggründe abgesucht, 318 zweitens wird gezielt der Pazifik/ Japan angesteuert. Die Fahrt der Pequod ist damit eine zutiefst widersprüchliche, indem sie zwei konträre Modi der Suche vereint: sie verfährt zugleich in die Breite streuend und gezielt, womit sie ihren beiden Zielen - möglichst viele Wale fangen, und den einen Wal jagen - gerecht zu werden versucht. Die Mischkalkulation des Verfahrens dieser Jagd ist dabei immer auch Ausdruck der verzweifelten Ausgangslage der Jagd nach einem Wal in allen Weltmeeren. Die beiden Unternehmen werden im Text dabei wiederholt von einander abgesetzt; so heißt es nach dem Fang eines Wals: „[T]he sight of that dead body reminded him [Ahab; T.E.] that Moby Dick was yet to be slain; 317 „Aus dem Ozean, der den Rand der bewohnbaren Welt umgibt, kommen die mythischen Ungeheuer, die von den vertrauten Gestalten der Natur am weitesten entfernt sind und von der Welt als Kosmos nichts mehr zu wissen scheinen.“ (Blumenberg, Schiffbruch -10) Vgl. hierzu auch Birns 4, und, zur weiteren Kontextualisierung diese Beschreibung: „Scholars have mostly neglected cartographic sources for the sperm whale from the so-called Age of Discovery, but I believe that Melville plundered the sea monsters present as objects of wonder and curiosity in maps from the New World.“ (Barrenechea-27) 318 „Denn selbst wenn sich die saisonalen Weideplätze der Pottwale in etwa auf die zweifache Größe von Australien reduzieren, so bieten diese Flächen immer noch genügend Raum, um auf dieser Prärie mühelos eine Stecknadel zu verstecken. Der Abstand zwischen Meeresrauschen und dem Wal als darin befindlicher Exklusivinformation läuft nach wie vor auf einen immens hohen Betrag hinaus.“ (Krajewski, „Chart“-54) 218 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale and though a thousand other whales were brought to his ship, all that would not one jot advance his grand, monomaniac object.“ (235f./ 64) Der Weiße Wal wird also überall immer auch gesucht, doch nur an einem Ort mit hoher Wahrscheinlichkeit vermutet; „the novel’s chase occurs in the North Pacific, near Japan.“ (Birns 4) Timing ist dabei der alles entscheidende Faktor („and then […] arrive in the equatorial Pacific in time to cruise there. Therefore, he must wait for the next ensuing season“; Hervorhebung T.E., s. o.). Die Frage ist also nicht nur: Wo ist Moby Dick, sondern wann ist er wo? „Der gesuchte Ort verschiebt sich notwendigerweise immer wieder“, schreibt Krajewski hierzu, „weil sich das gesuchte Zeichen, der Wal selbst, immer wieder zu entziehen versteht, wenn er durch die Weltmeere flottiert.“ („Chart“ 55) In dieser Verschränkung von zeitlicher und räumlicher Dimension wird der volle Umfang des Wahns dieser Suche ersichtlich. Denn nicht nur hat man einen Wal zu lokalisieren, der sich potenziell an jedem Punkt der Weltmeere aufhalten könnte, sondern dieser Standort ist „ein dynamisches, ständig in Bewegung befindliches Ziel (oder Zeichen)“ (Krajewski, „Chart“-57). Und all das ist noch dazu von einem Schiff aus zu vollziehen, das selbst wiederum beweglich ist, und nie an allen Punkten zugleich sein kann, selbst wenn es gelingen sollte, alle Punkte abzufahren. Durch die ausführliche Inszenierung dieses aufwendigen Suchverfahrens wird die Größe der vom Meer dominierten Ganzheit als unüberschaubar und unbeherrschbar dargestellt - und gleichzeitig das Phantasma einer gezielten Jagd in Szene gesetzt. Die Route wird als „circle“ und „circumnavigating“ einerseits, und „zig-zag“ andererseits beschrieben, wobei mit der FdG ‚ world ‘ der Bezug dieser Bewegung auf die Ganzheit ausgedrückt wird, denn im oben zitierten Passus ist die Rede vom „world-circle“. Dieser entsteht im Kielwasser („wake“) der Pequod , also in der von ihr im Fahren auf die Meeresoberfläche gezeichneten Linie. Dieser ‚Welt-Kreis‘ entsteht so in der Spannung der beschriebenen, widersprüchlichen Bewegung, die auf das nötige Timing ebenso ausgerichtet ist, wie auf eine summative Vorstellung des möglichst ganzheitlichen Abfahrens der Meere dieser Erde. 319 Die Bewegung schlechthin, in der man die Erde in ihrer Form (vermeintlich) ganzheitlich fassen kann, die Umrundung, wird somit einer spezifischen Ökonomie unterworfen. Ihren Ursprung hat diese Kurve an jenem Ort, wo vor vielen Jahren die erste Begegnung zwischen Ahab und Moby Dick stattgefunden hat. Ihr Verlauf zieht sich als Resultat der höchsten Wahrscheinlichkeit einer erneuten Begegnung von dort durch die Weltmeere, unter zahlreichen Überlagerungen und zeitlich verschobenen Durch- 319 Gleichzeitig ist diese gewissermaßen künstlich verlängerte Fahrt die Verräumlichung der Peripetie, die den Roman strukturiert: der Aufschub der Begegnung mit dem Wal. 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 219 kreuzungen mit den tatsächlichen Wegstrecken der Pequod und den vielen anderen Kursen der Walfänger, denen Moby-Dick zwischenzeitlich begegnet. Diese Kurve markiert de facto einen Kreis, auch wenn Ahab vergeblich alles darangesetzt hat, den roten Faden der Narration einzuholen, bevor er zum Ursprung zurückfindet. Erst hier, am Ausgangs- und Endpunkt, trifft Ahab auf den Beweggrund seiner Weltreise und die Geschichte gleichzeitig auf ihren Lebensnerv, um damit an ihr Ende zu gelangen. (Krajewski, „Chart“-61) Mit dieser Beschreibung soll vor allem darauf aufmerksam gemacht werden, dass die angestrebte Erd-Umrundung untrennbar an die Jagd nach dem Weißen Wal geknüpft ist; sie führt die Pequod dabei konsequent gen Osten. Diese Ausrichtung ruft jedoch noch einen anderen Kontext auf, wie anhand der Arbeit von Russell Reisung und Peter Kvidera deutlich gemacht werden kann, die auf die zentrale Rolle Japans als Endpunkt (oder ‚Sehnsuchtsort‘) der West-Orientierung der USA hinweisen (vgl. 285). 320 Japan stellt also die ‚Endstation‘ der West-Ausrichtung eines nationalen Bestrebens dar, woran sich nicht zuletzt die Frage knüpft, wohin ‚die Amerikaner‘ wollen, sobald sie den Sehnsuchtsort dieser West-Bewegung erreicht haben. In Moby-Dick jedoch stellt Japan das Ziel einer Ost -Reise dar, womit der Roman die Richtung des nationalen Unternehmens umkehrt, ohne das Ziel aufzugeben. Das angezielte Japan wird so nicht im Zuge dieser Westausrichtung angesteuert, sondern in den ‚Welt-Kreis‘ der Pequod eingebunden. Entsprechend hat Ahab beim Fahren in den pazifischen Gewässern stets zwei Karten vor sich: eine, die eine größere Region abbildet, und eine, welche die japanischen Inseln im Detail zeigt. And so Starbuck found Ahab with a general chart of the oriental archipelagoes before him; and another separate one representing the long eastern coasts of the Japanese islands-Niphon, Matsmai, and Sikoke. With his snow-white new ivory leg braced against the screwed leg of his table, with a long pruning-hook of a jack-knife in his hand, the wondrous old man, with his back to the gangway door, was wrinkling his brow, and tracing his old courses again. “Who’s there? ” hearing the footstep at the door, but not turning round to it. “On deck! Begone! ” “Captain Ahab, mistakes; it is I. The oil in the hold is leaking, sir. We must up Burtons and break out [das Schiff stoppen; T.E.].” “Up Burtons and break out? Now that we are nearing Japan; heave-to here for a week to tinker a parcel of old hoops? […] Begone! Let it leak! I’m all aleak myself. Aye! leaks in leaks! not only full of leaky casks, but those leaky casks are in 320 Vgl. hierzu außerdem: „Herman Melville’s career as a writer of fiction […] coincided with the waxing and waning of empires. […]. In the USA, the desire of northeastern merchants for access to the China trade combined with the land hunger of small freeholders to produce an inexorable push westward towards the Pacific“ (Lawson-45). 220 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale a leaky ship; and that’s a far worse plight than the Pequod’s, man. Yet I don’t stop to plug my leak; for who can find it in the deep-loaded hull; or how hope to plug it, even if found, in this life’s howling gale.” (361f./ 109) Durch das in der Passage beschriebene Verfahren errechnet Ahab „anhand statistischer Methoden die neuesten Aufenthaltswahrscheinlichkeiten Moby Dicks“ (Krajewski, „Chart“- 55). Die Linien, die Ahab in diesem Verfahren in diese Karte einzeichnet, spiegeln sich dabei in den Falten auf seiner Stirn, „die Ishmael unmittelbar in Beziehung setzt zur Karte.“ (62) Dies erweitert wiederum den Gestus der allseitigen Vermengung von Mensch, Ding und Tier, insofern die faltige Stirn Ahabs auch auf die narbige Stirn des Moby Dick verweist. Die Metapher des Lecks wird von Ahab auf seinen menschlichen Körper rückbezogen („I’m all aleak myself“) und so vom Dinglichen des Schiffes ins Menschlich-Körperliche übertragen. Wiederum wird die prominente Rolle Japans in diesem Geschehen betont: „Now that we are nearing Japan“ ist ein kurzer Stopp für Reparaturen am Schiff für Ahab ausgeschlossen. Denn man wähnt Moby Dick nun in unmittelbarer Nähe, und der Zeitdruck lässt keinen Raum für Verzögerungen. Japan und der Weiße Wal sind dabei jedoch keine als konkrete Ziele angestrebten Orte , sondern vielmehr „eine von Ahab systematisch entworfene, mit den Raffinessen zeitgenössischer Statistik und Kartographie gehegte Utopie“ (Krajewski, „Chart“-55), - vorausgesetzt man versteht unter letzerer einen „Nicht-Ort“ (ebd.). Die aufwändige Gestaltung des Weges der Pequod verweist so, in der Ausrichtung auf das geschlossene Japan hin, weit hinaus über das Netz der üblichen Wege des amerikanischen Walfangs und der Handelsschiffe, von denen Peleg früher im Roman sprach (siehe-III.4.2.1). Nur die Walfangreise der Pequod kann an die Grenze der im Roman inszenierten Ganzheit führen: Das vom Text inszenierte Japan, das, als ‚Nicht-Ort‘ verstanden, eher auf die vom Text inszenierte Totalität des ‚Welt-Kreises‘ denn auf die realen japanischen Inseln verweist. Und dort, im Zeigen auf diesen Nicht-Ort hin, verortet der Text seine abschließende Verhandlung von Ganzheit, welche er an das imperiale Amerika und dessen expansive Ambitionen im pazifischen Raum knüpft. 4.4.3 „Ah, the world! “: Kolonialismus und Walfang Der folgende, bereits eingangs zitierte Satz buchstabiert das Verhältnis zwischen Walfang und Japan aus: „If that double-bolted land, Japan, is ever to become hospitable it is the whale-ship alone to whom the credit will be due; for already she is on the threshold.“ (99/ 24) Andrew Lawson schreibt in diesem Zusammenhang: „Thus Ishmael […] voices an ‘erotic delight’ in the whale-ship’s opening up of 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 221 ‘sleepy Asian-Pacific markets’ to American commerce“ (46). Das „double-bolted“ bezeichnet das Verschlossen-Sein Japans gegenüber der Außenwelt. Diese Passage ist jedoch in ihrem Kotext zu deuten, der sich wie folgt liest: I freely assert, that the cosmopolite philosopher cannot, for his life, point out one single peaceful influence, which within the last sixty years has operated more potentially upon the whole broad world, taken in one aggregate, than the high and mighty business of whaling. […]. For many years past the whale-ship has been the pioneer in ferreting out the remotest and least known parts of the earth. She has explored seas and archipelagoes which had no chart, where no Cook or Vancouver had ever sailed. [….]. They may celebrate as they will the heroes of Exploring Expeditions […]; but I say that scores of anonymous Captains have sailed out of Nantucket, that were […] greater […]. […]. Ah, the world! Oh, the world! Until the whale fishery rounded Cape Horn, no commerce but colonial, scarcely any intercourse but colonial, was carried on between Europe and the long line of the opulent Spanish provinces of the Pacific coast. […] [I]f space permitted, it might be distinctly shown how from those whalemen at last eventuated the liberation of Peru, Chili, and Bolivia from the yoke of Old Spain, and the establishment of the eternal democracy in those parts. (98f./ 24) Der Abschnitt beschreibt eine durchweg positive Vision der Auswirkungen des expandierenden Walfangs, der als Träger eines sich ausweitenden „commerce“ und „intercourse“ zwischen verschiedenen Erdteilen und Populationen verstanden wird. Mit dieser Expansion geht, so der Tenor, die Befreiung von kolonialer Herrschaft sowie eine allgemeine Demokratisierung einher. Damit wird die Idylle eines expandierenden Markts vor dem Leser ausgebreitet, dem der Walfang als Vorreiter dient. 321 Die im Passus inszenierte Ganzheit wird in einer bemerkenswerten Formulierung als „whole broad world, taken in one aggregate“ adressiert. Die Adjektive whole und broad , sowie der Nebensatz „taken in one aggregate“, überbetonen den Aspekt der Ein s heit und Vollständigkeit der evozierten FdG. Weiter wird der objekthafte ‚Vor-stellungscharakter‘ (vgl. Heidegger-91 und-II.2.1) dieser Ganzheit durch das Verb „taken“ ausgedrückt, das den aktiven Part des Vorstellenden ins Bild rückt; aus dem Vorgang der vom Walfang vorangetriebenen Expansion geht die beschriebene Ganzheit prozessual hervor. Die Ein s heit des Marktes, eines umfassenden „commerce“, den der Walfang erst ermöglicht, indem er dessen räumliche Expansion federführend vorantreibt, dient somit als Vehikel für die Beschreibung der Ganzheit als einem geschlossenen Zusammenhang. Trotz des Bezugs auf die „whole broad world“ werden bestimmte Regionen besonders hervorgehoben: Die Kolonien Spaniens - dessen Kolonialismus tradi- 321 Zur allgemeinen Beschreibung dieses Optimismus vgl. Vogl, Gespenst- 31-52. 222 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale tionell als besonders grauenvoll eingeschätzt wurde - 322 und dessen „provinces of the Pacific coast“ (Hervorhebung T.E.) stehen im Fokus. Die Botschaft tritt in der hier entwickelten Perspektive besonders deutlich hervor: Die pazifische Region wurde durch den Walfang auch für nicht-koloniale Kontakte geöffnet - mit der alleinigen Ausnahme Japans. Zusätzlich wird die Ganzheit hier in Ausrufen adressiert und evoziert („Ah, the world! Oh, the world! “). Dieses Anrufen der FdG ‚ world ‘ zementiert den Bezug auf die Ganzheit als einer , deren Wandel in Extension und Beschaffenheit stets auf den Walfang zurückzubeziehen ist. Obwohl die öffentliche Meinung dem nicht zustimmen will, gestaltet sich die Sachlage laut Ishmael wie folgt: „Until the whale fishery rounded Cape Horn, no commerce but colonial, scarcely any intercourse but colonial, was carried on between Europe and the long line of the opulent Spanish provinces of the Pacific coast.“ Koloniale Verbindungen werden hier abgetan, zugunsten einer angerufenen ‚Welt‘, die sich dem Walfang verdankt und die als harmonische Ein s heit beschworen wird. Das Pathos dieser Inszenierung von Ganzheit behauptet deren harmonischen Zusammenhang in einer „eternal democracy“. Außerdem heißt es, resonant mit dem allgemeinen Tenor: „That great America on the other side of the sphere, Australia, was given to the enlightened world by the whaleman. […]. The whale-ship is the true mother of that now might colony.“ (99/ 24) Auch die ‚Mutterschaft‘ dieser Kolonie ist in Abgrenzung zum Kolonialismus zu verstehen: „Until the whale fishery rounded Cape Horn, no commerce but colonial […] was carried on between Europe and the long line of opulent Spanish provinces on the Pacific coast.“ (s. o.) 323 Das Interesse am Pazifik im Allgemeinen, und Japan im Besonderen, erscheint so als uneigennützige Verbreitung von „commerce“ und „democracy“. 322 „Im Kern der ‚schwarzen Legende‘ von den spanischen Kolonialverbrechen stand die Anschuldigung, diese Kolonialherren seien barbarischer als die Barbaren.“ (Manow- 85) Zum Grauen des spanischen Kolonialismus vgl. diese Ausführungen Todorovs: „Ohne ins Detail zu gehen und nur um eine globale Vorstellung zu vermitteln (wenngleich man sich nicht gerade berechtigt fühlt, mit runden Zahlen zu operieren, wenn es dabei um Menschenleben geht), kann man festhalten, daß sich die Erdbevölkerungen im Jahre 1500 auf etwa 400 Millionen beläuft, wovon 80 Millionen in Amerika leben. Mitte des 16. Jahrhunderts verbleiben von diesen 80 Millionen noch zehn.“ (161) Todorov schreibt zur ‚schwarzen Legende‘ entsprechend: „Das Schwarze ist zweifellos da, auch wenn von einer Legende nicht die Rede sein kann.“ (161f.) 323 Die reale wirtschaftliche Bedeutung des amerikanischen Walfangs zu dieser Zeit ist tatsächlich gewaltig: „Moreover, up until the Civil War, the oil (spermacetti) harvested by New England whalers was the primary source for home lighting and the lubrication of industrial machinery. In 1851, the year Melville published his novel, American shipping dominated world trade, while the U.S. Navy ranked fifth among world powers.“ (Rangno-484) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 223 Andere Beschreibungen des Walfangs gehen in eine ähnliche Richtung: But though the world scouts at us whale hunters, yet does it unwittingly pay us the profoundest homage; yea, an all-abounding adoration for almost all the tapers, lamps, and candles that burn round the globe, burn, as before so many shrines, to our glory! (Melville-98/ 24) Die aufgerufene FdG ‚ globe ‘ ist Teil eines Lobgesangs auf den Walfang, der, über die Inszenierung eines vom Walöl befeuerten und damit allererst ermöglichtem globalen Aufscheinen von Lampen, in Szene gesetzt wird. An anderer Stelle wird der Walfang gegen Geringschätzung verteidigt: „And for the […] alleged uncleanliness of our business, ye shall soon be initiated into certain facts hitherto pretty generally unknown, and which, upon the whole, will triumphantly plant the sperm whale-ship at least among the cleanliest of this tidy earth.“ (98/ 24) Das Walfangschiff ist eines der ‚reinlichsten‘ der hier als ‚ordentlich‘ inszenierten ‚Erde‘. Selbst der Berufsstolz der Walfänger wird noch auf die Ganzheit bezogen; der Walfang wird so - im Kontrast zum Kolonialismus - als ehrbar und ‚reinlich‘ inszeniert. Besieht man sich, von dieser Abgrenzung ausgehend, noch einmal die oben zitiere Textstelle zum noch-verschlossenen Japan, so wird deutlich, dass sich der Text - in seiner Art, Japan als zukünftig durch den Walfang auf- und erschließbar zu beschreiben - die Vorstellung einer prospektiven und expansiven Orientierung des Markts zu eigen macht. Das Phantasma einer solchen vom Walfang getragenen ‚Öffnung‘ Japans, die eine ‚Globalisierung von Demokratie und Wohlstand‘ mit sich bringt, bezieht sich auf einen noch nicht-realisierten, allumfassenden Markt, in den die japanischen Inseln noch zu integrieren sind. Doch neben der Reproduktion dieser „Idylle des Markts“ (Vgl. Vogl, Gespenst- 31-52) überträgt der Passus diese von ihren angeblich üblichen Trägern - den von Ishmael geringeschätzten ‚Entdeckern‘ („your Cook and your Krusensterns“) und kolonialen Kräften - auf den Walfang. 324 Dieser wird so als Disziplin reingewaschen. Der Walfang in Moby-Dick ist jedoch nie nur auf die allgemeine Tätigkeit und den Wirtschaftszweig zu reduzieren - er ist immer auch in Bezug auf die Jagd der Pequod nach dem ‚Einzelwal‘ Moby Dick zu sehen. Für den Einzelfall der Pequod ergibt sich dabei eine völlig andere Rolle des Walfängers im Verhältnis zur ‚Welt‘ - und zu Japan. 324 „Ishmael advocates for the global supremacy of the whaling industry“ (Rangno-469). 224 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale 4.4.4 „Level by nature“: Lokalisierung des Weißen Wals Die Crew, die sich unter Ahabs charismatischer Führung dem Walfang hingibt, ist in sich nicht nur heterogen und international (vgl. Abschnitt- III.4.2.2), sie umfasst zusätzlich eine zweite, geheime Besatzung, die aus den mysteriösen Walfangmännern um Fedallah besteht. Die Zusammensetzung der Crew eines Walfängers kann sich noch dazu im Verlauf einer Reise verändern und das nicht nur durch den Verlust von Crewmitgliedern, sondern auch durch die Aufnahme von neuen: Besides, now and then such unaccountable odds and ends of strange nations come up from the unknown nooks and ash-holes of the earth to man these floating outlaws of whalers; and the ships themselves often pick up such queer castaway creatures found tossing about the open sea on planks, bits of wreck, oars, whale-boats, canoes, blownoff Japanese junks, and what not. (191/ 50) Ishmael beschreibt hier, wie Walfänger neue Crewmitglieder, Treibgut gleich, auflesen. Die FdG ‚ earth ‘ wird aufgerufen, um möglichst entlegene Gegenden zu evozieren, für die schließlich „Japanese junks“ als ‚besonders exotisch‘ einstehen müssen; dem folgt eine Erweiterung dieses Exotismus ins Unbestimmte: „and what not“. Ikuno Saiki schließt in seiner Analyse der Passage: „As his reference to ‘queer castaway creatures’ floating in the ocean on the ‘blown-off Japanese junks’ suggests, Melville must have known that American whalers often picked up Japanese fishermen in the sea around Japan.“ (Saiki- 37) Diese Interaktionen zwischen US-amerikanischen Crews und Japanischen Fischern sind dabei häufig von größter politischer Brisanz - dies gilt besonders für den Fall von marodierenden Matrosen westlicher Walfangschiffe, die auf die Hilfe der japanischen Bevölkerung angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund ist auf die Beschreibung der geheimen Crew Ahabs einzugehen, denn Saiki beschreibt: By naming them “devils,” “subordinate phantoms,” or “yellow boys,” Melville portrays them as inferior as well as unearthly creatures, and they function as an apparatus more to intensify the uncanny nature of Ahab than to describe individual characters. Unlike the other characters of color, they are not given their own voice. (Saiki 34) Trotz einiger Unschärfen in der Beschreibung 325 schließt er: 325 „The difficulty of visualizing Fedallah might be one reason for the disappearance and integration of him into Ahab in the 1956 film version of Moby-Dick . John Huston fastens Ahab instead of Fedallah to the whale in the end of the film. In another movie released in 1998, the harpooner is interpreted as Chinese with a pigtail, perhaps to acknowledge the fact that Melville invests him with ‘a rumpled Chinese jacket of black cotton’ […] [Melville 181/ 48; T.E.]. Fedallah, however, can also be identified as Muslim because he is 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 225 I contend that Fedallah and his comrades, by face and voice, could have been the kind of Japanese sea drifters who, having been shipwrecked, were often rescued by American whaling vessels. Melville could have read about such Japanese fishermen, the most famous of whom was Nakahama Manjiro, or possibly seen them in Honolulu, an international society of mixed races and one of the most important anchorages for American whalers. (ebd.) Diese und andere Analysen 326 machen Saikis Schluss plausibel. Die Männer, die speziell zum Fangen Moby Dicks an Bord geholt wurden, werden vom Text als Japaner inszeniert. Erik Rangno beschreibt die Bedeutung des Wals in Moby-Dick wie folgt: [A]ll of the terrors and fears caused by Japan’s unwillingness to trade with the West or to provide a safe haven for American whaling ships, though the best hunting grounds were adjacent to its shore, become anthropomorphized in the white whale’s ubiquitous and impenetrable defiance of the American captain’s revenge. (485) Die „impenetrable defiance“ des Wals, welche, laut Rangno, diejenige Japans abbildet, wird im Text verschiedentlich inszeniert (durch die Unmöglichkeit den Wal zu kategorisieren, oder seine körperliche Gestalt zu beschreiben etc.; vgl. weiter oben, III.4.3.1). Zentral sind dabei Passagen, die kartografische Techniken und deren Nutzen zur Lokalisierung des Weißen Wals diskutieren. Im Folgenden liegt der Fokus auf solchen Textpassagen, welche sich dem Fassen des Wals in den pazifischen Gewässern widmen. Denn gerade dort tauchen Fragen der Kartografie und der ‚Kartierbarkeit‘ des Wals mit erhöhter Dringlichkeit auf, allen voran in Kapitel 118: Ahab, erschöpft vom Versuch, den Weißen Wal ausfindig zu machen, zerstört hier seinen Quadranten. Er vernichtet damit jenes nautische Instrument, mit dem im Zuge der Bestimmung der Schiffsposition der Winkel wearing ‘a glistening white plaited turban’ […] [ebd.; T.E.]. His being called a ‘Parsee,’ or Indian Zoroastrian, further complicates his identification.“ (Saiki-34) 326 „Above all, some descriptions closely connect Fedallah to Japan: ‘He was such a creature as civilized, domestic people in the temperate zone only see in their dreams, and that but dimly; but the like of whom now and then glide among the unchanging Asiatic communities, especially the Oriental isles to theeast of the continent —those insulated, immemorial, unalterable countries’ [Melville-191/ 50; T.E.], emphasis added). Certainly, ‘the Oriental isles to the east of the continent’ refer to Japan. Words like ‘insulated,’ ‘immemorial,’ and ‘unalterable’ conjure up the image of locked Japan that the West had built up by the nineteenth century. The portrait of Fedallah as an uncivilized creature reminds us of the rhetoric of civilization performing its mission of enlightening barbarians, and for the United States in the mid-nineteenth century, the archipelagoes of Japan were the last barbaric region to be civilized […]. […]. Our reading of the personality of Fedallah is suffused with America’s mounting fascination with Japan.“ (Saiki-36) 226 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale zwischen dem Horizont und einem Gestirn gemessen wird. Sein Handeln erklärt Ahab dabei in einer Ansprache an die Sonne: “Thou sea-mark! thou high and mighty Pilot! thou tellest me truly where I am -but canst thou cast the least hint where I shall be? Or canst thou tell where some other thing besides me is this moment living? Where is Moby Dick? This instant thou must be eyeing him. These eyes of mine look into the very eye that is even now beholding him; aye, and into the eye that is even now equally beholding the object on the unknown, thither side of thee, thou sun! ” Then gazing at his quadrant, and handling, one after the other, its numerous cabalistic contrivances, he pondered again, and muttered: “Foolish toy! babies’ plaything of haughty Admirals, and Commodores, and Captains; the world brags of thee, of thy cunning and might; but what after all canst thou do, but tell the poor, pitiful point, where thou thyself happenest to be on this wide planet, and the hand that holds thee; no! not one jot more! Thou canst not tell where one drop of water or one grain of sand will be to-morrow [sic] noon; […] Science! Curse thee, thou vain toy; and cursed all things that cast man’s eyes aloft to that heaven […]! Level by nature to this earth’s horizon are the glances of man’s eyes; not shot from the crown of his head, as if God meant to gaze on this firmament. Curse thee, thou quadrant! ” dashing it to the deck, “no longer will I guide my earthly way by thee; the level ship’s compass, and the level dead-reckoning, by log and by line; these shall conduct me, and show me my place on the sea. […] thus I trample thee thou paltry thing that feebly pointest on high” (378/ 118). Im zitierten Passus differenziert Ahab zwischen der Berechnung der Position seines Schiffes mittels des Quadranten und des Standes der Sonne einerseits, und dem Zurückgreifen auf Instrumente, die nicht von der Position der Sonne ausgehend rechnen, andererseits. Der ersten Variante ordnet er die Horizontale zu, der zweiten die Vertikale, wobei er sich fortan nur noch auf Mittel verlassen will, die in der Ebene verbleiben. „Level by nature to this earth’s horizon are the glances of man’s eyes; not shot from the crown of his head” äußert Ahab explizit und artikuliert so eindeutig, welche Perspektive er vorzieht. Weiter ordnet er das Adjektiv „level“ dem Kompass 327 und dem dead-reckoning , d. i. der ‚Koppelnavigation‘ anhand von Geschwindigkeit und Kursrichtung, zu. Der ‚vertikalen‘ Positionsbestimmung durch den Quadranten bescheinigt Ahab dagegen den grundlegenden Mangel, lediglich zur „Selbstlokalisierung“ (Wolf, „Needle“-109) zu taugen; der Quadrant zeigt nur ‚kraftlos nach oben‘. 328 So lässt sich also nur die Position des eigenen Schiffes (zu einem bestimmten Zeitpunkt) im Verhält- 327 Zur Rolle des Kompasses für die Jagd nach Moby Dick vgl. Wolf, „Needle“-110-114. 328 „Fortan gafft er [Ahab; T.E.] nicht mehr zum Himmel hinauf, sondern wendet sich dem Horizont zu, der ein Möglichkeits- und Zukunftshorizont ist.“ (Wolf, „Needle“-109) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 227 nis zu anderen un beweglichen Punkten auf der Erdoberfläche bestimmen. Über den Standort eines anderen beweglichen Punktes im Verhältnis zum Schiff gibt der Quadrant keinerlei Auskunft - eine Feststellung, mit der Ahab das Phantasma einer dritten Möglichkeit der Positionsbestimmung bzw. eine dritte Perspektive ins Spiel bringt. Diese Perspektive ist die der Sonne, die von außen her auf die Erde sieht und so die Position sämtlicher - unbeweglicher sowie beweglicher - Dinge in Echtzeit bestimmen könnte, „gleich einem heutigen GPS-Navigationssatellitensystem, das just in jenem Moment um den Aufenthaltsort des Wals weiß“ (Krajewski, „Chart“-52). Diese Perspektive lässt sich als apollinische Perspektive beschreiben, womit eine alte Blicktradition benannt wird, welche Denis Cosgrove ausführlich analysiert hat (vgl.-II.2.1). Diese Bezeichnung ist außerdem direkt an Ahabs Ansprache an die Sonne anknüpfbar. Diese apollinische Perspektive wird durch Ahab von der kartografischen Perspektive geschieden. 329 Ahab macht deutlich, dass diese imaginäre Außenperspektive der Sonne einem Menschen, der sich auf einem Schiff befindet, unzugänglich ist, obwohl sich die Positionsbestimmung mithilfe des Quadranten auf einen Punkt im Außen 330 bezieht. Damit benennt er den Unterschied zwischen einem phantasmatischen, extrinsischen Blick auf die Ganzheit einerseits und dem Konstruieren und Errechnen der eigenen Position über den Bezug auf einen Punkt im Außen andererseits. So lässt sich Ahabs Abkehr vom Quadranten als Absage an die machtvolle Außenperspektive und die Mittel der Kartografie lesen, 331 die (zum wiederholten Mal) über eine Blickkette inszeniert wird: „These eyes of mine look into the very eye that is even now beholding him“. Ahab sieht in die Sonne, die allsehend um sich blickt, und besinnt sich in dieser Kreuzung der Perspektiven auf die eigene. 332 Auf die ebene Perspektive setzt Ahab fortan alle Hoffnung - und tatsächlich gelingt das Finden Moby Dicks erst ohne den Quadranten: 333 „Ahab tritt damit aus dem kartographischen Dispositiv aus, um Moby Dick dort zu finden, 329 Cosgrove macht weiter deutlich, dass die Außenperspektive auf die Ganzheit in einem engen Verhältnis zu Fragen der Macht steht: „representations [wie etwa der Globus; T.E.] have agency“ (x) schreibt er in diesem Zusammenhang und meint damit unter anderem: „The idea of seeing the globe seems also to induce desires of ordering and controlling the object of vision“; weiter verdeutlicht er: „Harsh realities of rule have been softened into apparent harmony by the peaceful coherence of the synoptic vision.“ (5) 330 Weiter vollzieht sich so eine Abkehr von der Parallelsetzung Ahabs mit der Sonne. Das Abwenden von der Sonne ist so ebenfalls lesbar als Austritt aus dem Vortex (vgl. III.4.3.3). 331 Rangno liest sie in seinem Aufsatz gar als Abkehr vom „primary survey tool“ (482) der Aufklärung schlechthin. 332 Zur einer bemerkenswerten Deutung der Metaphorik der Sonne in dieser Passage vgl. Saiki 36, der auf die darin enthaltenen Anspielungen auf Japan verweist. 333 Vgl. hierzu Markus Krajewskis äußerst aufschlussreiche Ausführungen zum allgemeinen Suchverfahren Ahabs (vor allem „Chart“-53-58). 228 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale wo er von jeher war: im Außerhalb.“ (Wolf, „Needle“ 109) Dieses ‚Außen‘ lässt sich wie folgt genauer beschreiben: Erst wenn es unmöglich geworden ist, seinen eigenen Ort auf einer Karte zu bestimmen, läßt sich der ebenso jeder Kartierung widerstehende Moby Dick finden. Die „Wissenschaft“ in Gestalt von verbesserten Navigationsinstrumenten und Spezialkarten mag hilfreich sein, um mehr Wale aufzuspüren, den Wal hingegen spürt nur ein Ahab auf, der die Wissenschaft verflucht und sich auf seine Intuition verläßt. (Stockhammer, „Wal“-166) Die Abkehr von einer extrinsischen Perspektive hin zu einer intrinsischen führt also zu einer dritten Perspektive, die auf/ in die Tiefe des Walkörpers und des Meeres verweist: „[D]ie Koordination der weiteren Reise orientiert sich nur noch nach unten, auf das Wasser, dessen Grund sich bald schon zum endgültigen Zielpunkt der Unternehmung auftut.“ (Krajewski, „Chart“- 52) Peter Sloterdijk schreibt über die Rolle der Seefahrt im Zeitraum der europäischen Expansion: „[D]ie See-Vernunft weiß, daß sie auf einer Fläche navigieren muß und sich davor hüten soll, zu Grund zu gehen. Der nautische Geist braucht nicht Fundamente“ ( Sphären II- 890f.). Dieser „See-Vernunft“ gehorcht Ahab ganz zum Schluss nicht mehr, denn vom ‚Navigieren auf einer Fläche‘ hat er sich explizit abgewendet. Krajewski führt hierzu aus: „Kurze Zeit später versagen auch Kompass und Koppelkurs ihren Dienst […]. Die letzte Sicherung in den zwei Dimensionen der Fläche ist damit verloren“ („Chart“-52). Ahabs Abkehr von der Außenperspektive und sein Vorhaben, sich von nun an nur auf Instrumente und Techniken zu verlassen, die in der Ebene verbleiben, bereitet also lediglich eine weitere Umorientierung auf die Tiefe hin vor. Diese letzte Umorientierung, in welcher der Untergang des Schiffes antizipiert wird, gehorcht einer besonderen Logik: „Die mühsame Lokalisierung im Weltmeer ist lange schon - buchstäblich - überflüssig. Nach dem Verlust aller Orientierungsinstrumente steuert die Pequod sicher an jene Stelle zurück, wo sich einst das Verbrechen ereignete und ein Bein den Besitzer wechselte.“ (Krajewski, „Chart“-53) Der Text verweist also auf eine Vorstellung von ‚Welt‘ jenseits der kartografisch erfassbaren Erde. Diese kommt durch die textuelle Inszenierung der Jagd nach dem Wal zur Darstellung, insofern der Wal als Körper vor allem auf die Tiefe des Meeres (als Dimension der Ganzheit) verweist. Wie Krajewski hier nur en passant andeutet, ist das magische Zusammenfinden von Wal und Walfänger einer Vorstellung von verletzter Körperlichkeit verpflichtet, die ein erneutes Zusammentreffen von Verletztem und Verletzendem notwendig macht; hierauf ist im letzten Abschnitt der Analysen des Moby-Dick noch in aller Ausführlichkeit einzugehen. 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 229 Schiffe sind nicht nur traditionell „Versuchslabore […] des Politischen“ (Wolf, „Needle“- 114; vgl. auch McNally- 106-111), sie sind auch fest etablierte Metaphern des Staates. 334 Entsprechend werden an Bord der Pequod verschiedene ‚Regierungsformen‘ erprobt und der anführende Einfluss Ahabs - der zumeist als „Führer nach Max Weber“ (Bickenbach- 73) untersucht wurde - verschiedentlich inszeniert. 335 Die jeweilige Form des Regierens, über welche die Crew der Pequod gesteuert wird, ist dabei ebenfalls an verschiedene Perspektiven auf Ganzheit gebunden, da die Abkehr von der Navigation mit den üblichen Mitteln auch einen Wechsel in der Regierungsform artikuliert: von einer kalkulierend-manipulativen hin zu einer magischen (vgl. Wolf, „Needle“-110-112). Weiter ist die Pequod als Walfangschiff nicht nur selbst potenzieller ‚Staat‘ - sie jagt auch eine der bekanntesten Metaphern für den Staat: den Leviathan. 336 So sieht sich ein Leser des Moby-Dick mit einer Inszenierung des Politischen als Relation zwischen zwei Staatsmetaphern - Wal und Schiff - konfrontiert. Sieht man den Wal als Metapher für ‚Japan‘ (vgl. wiederum Rangno- 468) und die Pequod probeweise als Darstellung des amerikanischen Staates, so wird die Jagd als Allegorie internationalen Geschehens lesbar. Die ‚Monomanie‘ Ahabs wird dann als Metapher der amerikanisch-imperialen Gier nach dem pazifischen Raum erkennbar. Der ‚magische Magnetismus‘ (vgl. Wolf, „Needle“- 111-114), welcher die Kompassnadel zum Finden Moby Dicks ausrichtet, kann so als eine auf die Himmelsrichtung Osten ausgerichtete, nationale Ambition verstanden werden. Der Untergang der Pequod wird von Rangno entsprechend gedeutet: Der Sieg des Wals ist als Triumph des „demonzied analogue of Japan” (Rangno-471) über die amerikanische Walfangindustrie zu lesen, repräsentiert durch das ‚Fabrik-Schiff‘ Ahabs. Die Vehemenz und Unnachgiebigkeit der Jagd nach Moby Dick antizipiert dabei die reale Gewalt, mit der Japan ‚geöffnet‘ werden wird. Das imperiale Begehren von amerikanischer Seite findet seinen Ausdruck in der Jagd auf die FdG ‚ world ‘, welche mit dem Wal enggeführt wird, und sich so als das finale Objekt der imperialen Ansprüche lesen lässt. Die Rolle der Kartografie in diesem Zusammenhang lässt sich - über die bis hierher getätigten Analysen hinaus, und von der Rolle der auf Landkarten abgebildeten Monster ausgehend - wie folgt beschreiben: While European cartography documented the bold settlement of the western hemisphere, Melville subverts this triumphal narrative by recuperating the deadly obstacles 334 „Horaz hat das ‚Staatsschiff‘ in die politische Rhetorik eingeführt, in der es bis zum heutigen Tag seine Rolle spielt.“ (Blumenberg, Schiffbruch -14) 335 So wird Ahab auch „als Sultan oder König“ (Maye, „Schools“-202) inszeniert. 336 Swift verschränkt beide Staatsmetaphern - ‚Wal‘ und ‚Schiff‘ - um innerstaatliche Querelen darzustellen (vgl. Swift, Tale- 18f.). 230 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale and reawakening the debilitating fear that confronted European overseas ventures. In Moby-Dick , the White Whale is a hieroglyphic landscape that resists domestication, a dangerous terra incognita that leads imperial agents to their death. Melville reverses the function of these maps by summoning a colonial monster […] to destroy a nineteenth-century vessel with imperial Ahab at the helm. (Barrenechea-28) Der Versuch, den Wal zu lokalisieren, kommt also dem Unternehmen der (lebensgefährlichen) Kartierung einer „ terra incognita “ gleich, wobei der Wal als eines jener Monster zu verstehen ist, die auf frühen Karten unbekannte oder entlegene Regionen ausfüllen (vgl. hierzu-II.2.4). Damit kann der Wal ein weiteres Mal - jenseits der aktiven Verhandlung der kartografischen Perspektive auf die Ganzheit durch Ahab - im kartografischen Kontext verortet werden. 4.4.5 „Dismasted“: Der versehrte Körper und der Welt-Markt Für die hier abschließend vorzustellende Lesart sind drei Textstellen zentral. Erstens diese Beschreibung Ahabs: „With his snow-white new ivory leg braced against the screwed leg of his table, with a long pruning-hook of a jack-knife in his hand, the wondrous old man, with his back to the gangway door, was wrinkling his brow, and tracing his old courses again.“ (361/ 109) 337 Das Bein ist hier Bildspender der Verschmelzung von Mensch, Ding und Tier: Einmal handelt es sich um eine Beinprothese (aus Walbein geschnitzt), und einmal um die ‚wiederbelebte tote Metapher‘ eines Tischbeins. Der zitierte Satz wird dominiert von der Thematik einer prothetisch ergänzten Körperlichkeit. Weiter oben wurde ein ähnlicher Zusammenhang erwähnt, der hier als Zweites anzuführen ist: In der Wahrnehmung menschlicher Beine als Masten (vgl.- 133/ 35 und-III.4.3.3) findet ein analoges Verschmelzen von menschlichem Körper und Schiff statt. Drittens ist folgende Äußerung Pelegs in Erinnerung zu rufen, in der er Ishmael androht, dessen Bein gewaltsam zu amputieren: „Dost see that leg? -I’ll take that leg away from thy stern, if ever thou talkest of the marchant service to me again.“ (71/ 16) Dies ist natürlich eine Anspielung auf Ahabs Verlust seines Beines, welches ihm der weiße Wal ausgerissen hat; Ishmael soll gleiches widerfahren, wobei dessen untere Körperhälfte, die das Bein verlieren soll, als Heck („stern“) bezeichnet wird. Zudem bedient sich Peleg beim Erzählen dieser Geschichte einer bemerkenswerten Metapher: „Aye, he [Ahab; T.E.] was dismasted off Japan“ (109/ 28). Ahabs Körper verschmilzt hier - wiederum - mit dem eines Schiffes, insofern die Amputation des Beins metaphorisch als 337 Zur Deutung von Ahabs prothetisch ergänztem Körper siehe Altschuler: „Ahab is fixated on revenge for his lost limb, but Moby-Dick will not settle on a single interpretive strategy for Ahab’s disability.“ (265) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 231 ‚Entmastung‘ gefasst wird. Darüber hinaus hat diese Amputation einen Ort: Sie wird ‚vor Japan‘ („off Japan“) lokalisiert, in jenen ergiebigen Walfanggründe 338 also, in denen Moby Dick erstmals angetroffen wurde - um auch am Schluss des Romans dort wiedergefunden zu werden. 339 Die Metapher der ‚Entmastung‘ wird auch in der eingehenden Beschreibung der Pequod zu Beginn des Romans aufgegriffen: She was a ship […] with an old fashioned claw-footed look about her. Long seasoned and weather-stained in the typhoons and calms of all four oceans, her old hull’s complexion was darkened like a French grenadier’s, who has alike fought in Egypt and Siberia. Her venerable bows looked bearded. Her masts-cut somewhere on the coast of Japan, where her original ones were lost overboard in a gale-her masts stood stiffly up like the spines of the three old kings of Cologne. […]. But to all these her old antiquities, were added new and marvelous features, pertaining to the wild business that for more than half a century she had followed. […] [O]ld Peleg, […], had built upon her original grotesqueness, and inlaid it, all over, with a quaintness both of material and device, unmatched by anything except it be Thorkill-Hake’s carved buckler and bestead. She was appareled like any barbaric Ethiopian emperor, his neck heavy with pendants of polished ivory. She was a thing of trophies. A cannibal of a craft, tricking herself forth in the chased bones of her enemies. All round, her unpanelled, open bulwarks were garnished like one continuous jaw, with the long sharp teeth of the sperm whale, inserted there for pins, to fasten her old hempen thews and tendons to. (69f./ 16) Der Wortschatz der Beschreibung des Schiffes ist explizit körperlicher Natur („claw-footed“, „complexion“, „bearded“, „bones“, „jaw“, „thews and tendons“) und macht „die Pequod einem Tier ähnlich“ (Siegert, „Ship“-41). 340 Und die Pequod ist damit nicht allein, sie „befindet sich auf der Bahn eines Wal-Werdens, das sie mit ihrem Kapitän Ahab teilt.“ (Siegert, „Ship“-42) 341 Diese Inszenierung fokussiert auf eine Reihe von Körperteilen, welche weitere Prothesen darstellen, die zum Ersatz von verlorenen Gliedern in den Schiffskörper eingefügt wurden. Die Körperlichkeit der Pequod ist also dem Bereich des Tierischen (bzw. ‚Walhaf- 338 Denn „[b]y the 1840s, the South Pacific had been increasingly whaled out, as had the Atlantic before it, and the North Pacific became the last viable whaling-ground“ (Birns-5). 339 Zu einem gewissen Grad bewegt sich Moby Dick also nicht vom Fleck, nur das Schiff legt eine gewaltige Strecke zurück. 340 Dieses Verfahren ist selbstverständlich nicht auf die zitierte Passage beschränkt. So wird die Pequod bei der Suche nach einem Leck im Schiffsinneren etwa als „about half disembowelled “ (110/ 363; Hervorhebung T.E.) beschrieben. 341 „Wenn Ahab selbst schon zum Teil Wal ist durch sein aus Walbein gezimmertes Bein, dann ist die Pequod ebenfalls durch eine magische Verkettung metonymisch mit dem Tier verbunden zu dessen Jagd sie da ist“ (Siegert, „Ship“-42). 232 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale ten‘) ebenso zugewandt, wie der Vorstellung einer verletzten und in der Folge prothetisch ergänzten Integrität. Die Glieder dieses Schiffskörpers verweisen in ihrer Herkunft weiter auf verschiedene Regionen der Erde - ein Verfahren, dem bedingt auch der Name des Schiffes beizuordnen ist, insofern dieser die Pequod zum „Grabstein der massakrierten Pequot-Indianer“ (Siegert, „Ship“-42) macht, und somit die Anfänge des Kolonialismus in Nord-Amerika aufruft. Die Masten der Pequod , welche sie in einem Sturm verloren hat, sind durch neue ersetzt worden: „[C]ut somewhere on the coast of Japan “ (Hervorhebung T.E.) wurden diese in den Schiffskörper eingefügt. Die Sonderstellung dieser ‚japanischen‘ Masten wird dabei nur im Kontrast zum Rest der Beschreibung der Pequod deutlich. Die Beschreibung umfasst, neben dem Evozieren ferner Regionen, gleich mehrere Topoi des Exotismus. Der ‚edle Wilde‘ findet sich in den Ausführungen wieder („She was apparelled like any barbaric Ethiopian emperor“ etc.), genau wie das Schiff selbst als exotisch-reizvoller Körper beschrieben wird, als ein „thing of trophies“. Die Beschreibung als ein „cannibal of a craft“, artikuliert schließlich noch folgenden Zusammenhang: 342 Die Pequod schmückt sich nicht mit Dekor, wie das die schwimmenden Staatsapparate taten, sie praktiziert eine kannibalistische Mimikry, indem sie sich die Knochen ihres „Erbfeindes“ einverleibt und sich damit zugleich auch seine Eigenschaften, die Wildheit, Stärke und Bosheit des Pottwals zu eigen macht. (Siegert, „Ship“-43) Die Passage des Romans liefert weiter viele Vergleiche, die, in ihrem Verweisen auf verschiedene Regionen der Erde, räumlicher Natur sind. So heißt es, „darkened like a French grenadier’s, who has alike fought in Egypt and Siberia “, und „ like the spines of the three old kings of Cologne “, sowie „appareled like any barbaric Ethiopian emperor“ (Hervorhebungen T.E.). Das Schiff präsentiert sich so, durch die genannten Vergleiche, als ‚exotischer‘ Körper, der ferne Regionen evoziert. Der Bezug auf Japan ist dabei der einzige in der Passage, der nicht in Form eines Vergleichs formuliert wird. 343 Stattdessen wird die Sonderrolle Japans über das Einfügen japanischer Baumstämme (als Masten) in das Schiff artikuliert: Japanisches Holz wird prothetisch in den Schiffskörper eingepasst und nicht durch die Form des Vergleichs auf Distanz gehalten. Dadurch zeigt sich ein Be- 342 Zur Verquickung der Topoi Kannibalismus und Kolonialismus siehe Abschnitt-III.2.1. 343 Für eine andere Passage des Romans beschreibt Roland Borgards dieses Verfahren wie folgt: „Das Kapitel 61 nutzt nun nicht einfach eine Metapher, sondern zeigt zunächst einmal, wie diese Metapher entsteht […]. Zentral für die Bildung der Metapher ist offenbar die Analogie, auf die mit einem dreifachen Vergleich hingewiesen wird.“ (178f.) 4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick 233 gehren nach der Einverleibung Japans, durch die „kannibalistische Mimikry“ der Pequod vorweggenommen. Beide genannten ‚Entmastungen‘ - die Ahabs und die der Pequod - werden vor der Küste Japans verortet. Das im Roman inszenierte Japan wird so doppelt an den Verlust körperlicher Integrität gebunden. Die Vorstellung von körperlicher Ganzheit, auf der eine Verletzung derselben notwendig fußt, lässt so Japan im Umkehrschluss als ‚fehlendes Glied‘ oder als Ort des Verlustes und der Verletzung von Ganzheit erscheinen, bzw. als Prothese, die dem Ganzen sein Ganz- Sein (zurück)geben könnte. Diese Ganzheit, in der Japan ‚fehlt‘, ist die vom Roman ausführlich beschworene ‚Welt‘ des Handels. Ahab und das Walfangschiff verweisen als verletzte Körper auf einen blinden Fleck des weltumspannenden Marktes. Genau wie Ahab ein Bein fehlt, so entbehrt der Markt ‚Japan‘ (vgl. auch Saiki-37f.). Die Integration der prothetischen Masten in den Schiffskörper nimmt eine Integration Japans in den Markt ersatzweise, und damit auch in diesem Sinne ‚prothetisch‘, vorweg. Die Pequod steht damit auch in dieser Hinsicht an der von Ishmael bemühten „Schwelle“ zu einer Integration Japans in den Welt-Markt - wobei diese natürlich, und darauf verweist die Pequod in ihrer Eigenschaft als Walfänger, um seiner Walfanggründe willen geschehen soll. IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ 237 Den eigenen Wortgebrauch zu klären, gehört zu einer der Grundübungen des immer noch relativ jungen Sprechens über ‚Globalisierung‘, welches nicht zuletzt den Gehalt des Wortes ‚Globalisierung‘ selbst zu bestimmen hat. 344 Die Rede von ‚Welt‘ ist dabei ebenso virulent wie die vom ‚Globus‘ und (dem Planeten) ‚Erde‘. Hier soll, zum Einstieg in den Rückblick auf die geleisteten Lektüren, auf Peter Sloterdijks Ausführungen zur ‚Globalisierung‘ eingegangen werden - um meine Analysen noch einmal aus anderer Perspektive zusammenzufassen und von anderen Ansätzen, wie dem Sloterdijks, abzugrenzen. Sloterdijk fasst ‚Globalisierung‘ als kontinuierlichen Prozess, der durch die gesamte „abendländische Historie“ (Moser-26) nachvollzogen werden kann. Fundament dieses weitgreifenden Ansatzes ist die Kopplung von ‚Globalisierung‘ an eine ausgeprägte „Kugel-Metaphorik“ und eine „Bildlichkeit des Kreisens“ (ebd.). Sloterdijk beschreibt so eine ‚ Glob alisierung‘, d. h. seine Betrachtungen zeichnen sich durch die Fokussierung auf eine Reihe von Kugelformen aus, beginnend in - und grundlegend ausgehend von - der Antike: Sollte man mit einem einzigen Wort das beherrschende Motiv des europäischen Denkens in seinem metaphysischen Zeitalter aussprechen, es kann nur lauten: Globalisierung. Im Zeichen der geometrisch vollendeten Rundform, die wir bis heute mit den Griechen Sphäre, doch mehr noch mit den Römern Globus nennen, entfaltet und erschöpft sich die Affäre der okzidentalen Vernunft mit dem Weltganzen. ( Sphären II -47) Die so verstandene Glob alisierung wird jedoch auch über den Zeitraum der Antike hinaus ausgedehnt. Mit dieser Ausweitung geht die inhaltliche Reduktion der Globalisierung auf die Kugelform einher (bzw. setzt sie diese voraus). Der Jahrhunderte überspannende Zusammenhang zwischen Antike und Gegenwart erklärt sich für Sloterdijk aus der etymologischen Herkunft des Wortes ‚Globalisierung‘ (die „geometrisch vollendete Rundfrom, die wir bis heute mit den Griechen Sphäre […] [und] mit den Römern Globus nennen“). Sein offen artikuliertes Anliegen ist es dabei, den aktuellen Globalisierungsdebatten ein Bewusstsein für die Geschichte ihrer (dezidiert philosophischen) Begriffe einzuflößen (vgl. Sloterdijk, Weltinnenraum- 15-18). War die Kugelform des Kosmos vor 1500 laut Sloterdijk noch der exklusive Gegenstand philosophischer Überlegungen zur Form des Ganzen, so wird die Erde von 1500-1945 zum dominanten Gegenstand 344 Die überzeugendste Definition von ‚Globalisierung‘ formuliert Jameson: „I believe that globalization is a communicational concept, which alternately masks and transmits cultural or economic meanings.“ („Notes“- 55) Die gleichzeitige Anwendung des Begriffs ‚Globalisierung‘ auf kulturelle und ökonomische Zusammenhänge reagiert auf die Kritik Roland Robertsons, dass Studien zur Globalisierung zu sehr auf ökonomische und zu wenig auf kulturelle Aspekte eingehen (vgl. Globalization -51). 238 IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ der Glob alisierung, die im „Planet Terra “ ( Weltinnenraum 15) ihre „letzte Kugel“ ( Sphären II -809) findet. Damit ist gemeint, dass die Erde an die Stelle der Kugel der Antike, die Gegenstand metaphysischer Überlegungen war, tritt. Die Erde prägt damit einen knapp 500 Jahre umfassenden Zeitraum, die von Sloterdijk so genannte „terrestrische Globalisierung“ ( Sphären II- 802). Moser führt, Sloterdijks Ansatz erklärend, aus, dass diese ‚zweite Globalisierung‘ im Zeichen der Erdumrundung und der Zirkulation [steht], und ihr Resultat ist die Herausbildung des kapitalistischen Weltsystems. Eine dritte Phase, die unsere Gegenwart bestimmt, erkennt Sloterdijk in der elektronischen Globalisierung, die seiner Ansicht nach zu einer Enträumlichung der Welt führt. (26) „Erdumrundung“ und „Zirkulation“ prägen bei Sloterdijk die ‚terrestrische Phase der Globalisierung‘, die mit der „Herausbildung des kapitalistischen Weltsystems“ in eins fällt. Mit seinem tiefenhistorischen Ansatz will Sloterdijk weiter das Ende der ‚großen Erzählungen‘ europäischer Machart nicht unterschreiben (vgl. Weltinnenraum -11f.), zu denen er sein eigenes Projekt dezidiert zählt. Denn Sloterdijks Ansatz beschreibt gewaltige zeitliche Ausdehnungen, womit er sich bewusst gegen (meiner Meinung nach berechtigte ) Bedenken wendet, ‚große Erzählungen‘ seien immer dem „unverbesserlichen Eurozentrismus“ und der „kolonialistischen Weltausplünderung“ ( Weltinnenraum- 12) verschrieben. Nach Sloterdijk ist nicht nur das ‚Ende der großen Erzählungen‘ nicht hinzunehmen, vielmehr bedarf es einer noch größeren Erzählung, um die Gesamtheit der Geschichte - von der Antike bis zur Gegenwart - beschreibbar zu machen; die Glob alisierung hat diese Größe. Nur die Form der Kugel, welche dem Ganzen in der griechischen Antike ursprünglich gegeben wurde, kann das Projekt Sloterdijks ermöglichen, eine Erzählung zu schreiben, die sich der „Weltkomplexität […] bemächtigen“ ( Weltinnenraum- 13) kann. Zu beachten ist hier nicht zuletzt die Wortwahl - „bemächtigen“ - die wie ein Echo der martialischen Terminologie Heideggers (auf den sich Sloterdijk explizit bezieht, vgl. Sphären II- 822-824) anmutet (und auf die unter-II.2.1 hingewiesen wurde). Die Wahl der Rundform bestimmt jedoch nicht nur den Umfang des Gegenstandes von Sloterdijks Untersuchungen, sondern auch die Art der von ihm gegebenen Beschreibungen. Denn nicht zuletzt verleiht sie seinen Schilderungen des Prozesses der Expansion des Welt-Systems eine spezifische Färbung. Zu dieser äußerst sich Sloterdijk wie folgt: „[D]ie Grundtatsache der Neuzeit lautet nicht, daß die Erde um die Sonne läuft; vielmehr: daß das Geld die Erde umrundet. Die Theorie der Kugel ist zugleich die erste Analysis der Macht.“ (Sloterdijk, Sphären II - 56) Dieses Bild vom ‚erdumrundenden Geld‘ ist jedoch insofern problematisch, als „das Geld“ hier um eine in ihrer Rundheit bemühte IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ 239 ‚Erde‘ zirkuliert . Ihre Rundform spiegelt sich dabei in den wiederum runden Planetenbahnen eines heliozentristischen Weltbilds, wobei Sloterdijk die Revolution des heliozentrischen Weltbilds für sekundär erklärt, und das Aufkommen des kapitalistischen Welt-Systems (von dem Sloterdijk im Übrigen auch wortwörtlich spricht; vgl. Weltinnenraum- 21) als eigentliche Neuerung aufwertet. 345 Anders als in dieser Beschreibung Sloterdijks jedoch bewegt sich „das Geld“ - seit Beginn der Expansion des Welt-Systems bis heute - in bestimmte Richtungen. Das Bild vom Zirkulieren ist aufgrund der Vorstellung des Runden und Harmonischen, das es potenziell transportiert, irreführend. Ausgedrückt in der (oft kritisierten) Terminologie von Zentrum und Peripherie der world-systems analysis dagegen, häuft sich das Kapital in Zentren (überwiegend in Europa und Nord-Amerika). Geldflüsse sind gerichtet . Die in Sloterdijks Projekt allgegenwärtige Kugelform verselbstständigt sich hier also, drängt in die Sprache - und produziert missverständliche Bilder vom Zirkulieren und Sich-Runden. Die so beschriebene Erde, bei Sloterdijk begriffen als Gegenstand der Neuzeit par excellence , verstellt den Blick auf Zusammenhänge, wie sie mit Hilfe des Konzepts des Welt -Systems beschrieben werden können. Die Formel des „ one […] and uneqal “ (Moretti, „World-Systems“-70) verknüpft die Vorstellung eines Zusammenhangs - in seiner Entstehung ebenfalls über einen sehr langen Zeitraum betrachtet - mit der unmissverständlichen Betonung der Asymmetrie dieser Ganzheit. Und das obwohl, wie Wallerstein selbst ausführt, die world-systems analysis ebenfalls eine „grand narrative“ darstellt. „World-systems analysts argue that all forms of knowledge activity necessarily involve grand narratives, but that some grand narratives reflect reality more closely than others“ ( World-Systems -21; vgl. hierzu auch die Ausführungen unter-II.2.2). Der vorsichtige Umgang Wallersteins mit der Figur der Ganzheit (FdG) ‚ world ‘ (vgl.- II.1.3) stellt ein eindeutiges Gegenprogramm zur Rolle des in der Glob alisieurng aktualisierten ‚Globus‘ dar. Von dieser Vorsicht Wallersteins bin ich ausgegangen, und gleichzeitig habe ich die Beobachtungen Wallersteins zur Geschichte der Expansion des Welt-Systems als wichtigsten Kontext zur Untersuchung der Texte herangezogen. Der Umgang mit den FdG wurde während der Anwendung in den Analysen bewusst ergebnisoffen gehalten. Fokussiert wurde vor allem auf die Wechselwirkung zwischen literarisch inszenierten Körpern und FdG, welche die Darstellung von Ganzheit in den untersuchten Texten der westlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhundert stark prägt. Die Ergebnisse dieser Analysen sollen nun rekapituliert werden, wobei der streng konsekutive 345 Ich sehe zumindest nicht, dass hier Kepler’sche - d. h. elliptische - Planetenbahnen evoziert werden sollen. 240 IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ Modus der Analyse, der in den Lektüreabschnitten verfolgt wurde, zugunsten eines stärker konstellierenderen Blickwinkels verlassen werden soll. Wie gezeigt wurde, bringen die analysierten literarischen Texte den asymmetrischen Charakter der Ganzheit sowie ihre Expansion/ Kompression zur Anschauung. Im Wechselspiel zwischen FdG und Körpern wurden so Darstellungen des historischen status quo durch die Literatur nachvollzogen, genau wie sich in den Texten Prognosen zur Zukunft dieser Prozesse finden ließen. Dabei konnte ein Spannungsfeld zwischen optimistischen (meistens den ‚Markt‘ betreffenden; vgl. Abschnitte-III.3.5.2 und-III.4.4.3) und pessimistischen Einschätzungen (häufig mit kolonialen Vorgängen assoziiert; vgl. Abschnitte- III.2.6.2,- III.3.5.4 und-III.4.4.5) nachgezeichnet werden. Der Körper stört in den beiden untersuchten Satiren eine optimistische Sicht auf die Ganzheit, indem er die Schattenseiten der Expansion des Welt-Systems hervortreten lässt (wobei vor allem der Sklavenhandel und militärische Konflikte zentrale Thematiken darstellen). Die Travels und der Candide evozieren dabei wiederholt die Erde in ihrer Eigenschaft als Oberfläche . In beiden Texten ist gehäuft dann von ‚ earth ‘ bzw. ‚ terre ‘ die Rede, wenn koloniale Praktiken und deren Konsequenzen besprochen werden, bzw. wird in den Travels gar die Durchführung des Genozids an den Yahoos (deren Körper den kolonialen Zusammenhang zur Darstellung bringen; vgl.-III.2.5.1) mit konkretem Bezug auf die Erdoberfläche besprochen: „The Question to be debated, was, Whether the Yahoos should be exterminated from the Face of the Earth .“ (228/ IV.9; Hervorhebung T.E.) In eine ähnliche Richtung geht diese Beschreibung des Kolonialismus im selben Text: „Ships are sent with the first Opportunity, the Natives driven out or destroyed, their Princes tortured to discover their Gold; a free Licence given to all Acts of Inhumanity and Lust, the Earth reeking with the Blood of its Inhabitants.“ (248/ IV.12; Hervorhebung T.E.) Die FdG ‚ earth ‘ wird hier mit exzessiver kolonialer Gewalt assoziiert. Gleichzeitig betreffen die kolonialen Praktiken dergestalt inszeniert die gesamte Erdoberfläche. Außerdem wird die Erde in diesen Zusammenhängen vor allem in ihrer konkreten Gestalt als Kugel und dezidiert in ihrer Gänze evoziert (man denke zurück an die Kombination mehrerer FdG in ‚ this whole globe of earth ‘; vgl.-III.2.5.2). Anders als Christian Moser es für Sloterdijk beschreibt (s. o.), wohnt dem „globe“ in den Travels dabei jedoch nichts ‚rund-zirkulierendes‘ inne. Diese Struktur findet in Candide zahlreiche Echos, wie an folgender Stelle, in der Tausende von Soldaten von der Erdoberfläche getilgt werden: „[E]nsuite la mousqueterie ôta du meilleur des mondes environ neuf à dix mille coquins qui en infectaient la surface“ (52/ 3). In den Analysen wurde außerdem herausgestellt, dass die vom Text wieder und wieder bemühte meilleure des mondes der Theodizeedebatte als Kontrastfolie IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ 241 zur Asymmetrie des Ganzen dient (vgl.- III.3.2). Die beiden satirischen Texte assoziieren das gewaltsame Geschehen also explizit mit der Erdoberfläche und stellen es so in den größeren Kontext. Weiter ging aus den Analysen hervor, dass beide Parodien eine zunehmend komprimierte Ganzheit inszenieren. Im Falle Swifts geschieht dies über die Darstellung einer immer schneller umrundbaren, von Yahoos bevölkerten Erde (vgl.- III.2.5.2). Im Falle des Candide wird die Kompression als Diminution gefasst, die die FdG ‚ globe ‘ erfasst, und in einen globule wandelt (vgl.- III.3.4.2). Über religiös aufgeladene Körpersemantik wird diese komprimierte Ganzheit im Candide zusätzlich als eine von Gott verlassene - und damit dem Teufel preisgegebene - Ganzheit markiert, so wie der koloniale Zusammenhang einer sich ausbreitenden Krankheit gleichgesetzt wird (vgl.-III.3.5.4). Am Schluss des Candide wird dieser Komplex mit dem Betreten des Gartens, der als petite terre bezeichnet wird (vgl.-III.3.6), vorübergehend verlassen: Doch auch dieser Garten wird, wie der Text deutlich macht, alsbald von der Expansion/ Kompression eingeholt werden. Das Ende der Travels steht in scharfem Kontrast zu einem solchen Eskapismus auf Zeit, insofern im heimischen England, in das Gulliver am Ende zurückkehrt, überraschenderweise ausschließlich ‚Yahoos‘ anzutreffen sind, fleischgewordene Abbilder des Kolonialismus. Was die beiden untersuchten Satiren damit herausstellen, ist die Unausweichlichkeit der von Kjørholt beschriebene Tatsache, dass „the world and its peoples are connected by the joint forces of war and commerce.“ (84) Ganz allgemein umfasst der distanzierte Blick der Parodie die „Totalität der Welt um den Preis ihrer drastischen Schrumpfung“ (Koppenfels- 31). Diese grundlegende Aussage über das Genre konnte neu gedeutet werden, insofern der extrinsische Blick in den beiden untersuchten Parodien nicht nur als Modus der Erniedrigung des Menschen erscheint, sondern auch als Darstellung der europäischen Expansion als Kompression. Dies geschieht, indem die Travels und der Candide in der Darstellung der Totalität ihr allseitiges Verkettet-Sein, und damit ihre Schrumpfung, überbetonen - sei es durch die Bezeichnung der Ganzheit als globule oder das Frühstück einer weiblichen Yahoo, das ein gleich dreifaches Umrunden des Globus voraussetzt, um alle exotischen Zutaten auf den Tisch zu bringen. Das satirische Verfahren blickt nicht ‚nur‘ auf die Menschen herab, sondern es bringt vielmehr stark raumgreifende Prozesse und deren Gewalt zur Anschauung, und zeigt den Menschen in Fernwirkungszusammenhänge eingebunden. Im Roman Moby-Dick- dagegen konnte eine zunehmende Schwierigkeit beim Fassen des Ganzen festgestellt werden, gebunden an die Identifizierung des Wals mit der FdG ‚ world ‘. Über die aufwendige Inszenierung der Tierkörper von Walfischen und Kraken (vgl.-III.4.3.1) wird außerdem auf die dem Menschen ent- 242 IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ zogene Tiefe des Meeres verwiesen, die eine (nicht näher bestimmte) Wahrheit über die ‚Welt‘ verspricht (vgl. Abschnitte-III.4.3.1-2). Melvilles Text steht damit in scharfem Kontrast zur gerade beschriebenen ‚terrestrischen Oberflächlichkeit‘ der zwei untersuchten Satiren. Eine dezidiert ebene Perspektive, die der Roman wiederholt inszeniert und favorisiert, verhindert dabei, wenn man so will, ein ‚Schrumpfen‘ des Menschen zum von Swift bemühten „vermin“ (s. o.). Denn die Außenperspektive - auf der die Parodien so grundlegend fußen - wird im Laufe des Romans zunehmend heftiger abgelehnt, was zur Folge hat, dass die Crew (die nur bedingt für die ‚Menschheit‘ einstehen kann; vgl.-III.4.2.2) aus ebener Perspektive heraus die Dominanz des Meeres auf der Erdoberfläche in aller Deutlichkeit ‚einsehen‘ kann. Die Ganzheit wird im Roman ebenfalls als in einen Zusammenhang, namentlich den ökonomischen des Walfangs, eingebunden dargestellt. Dieser drängt - obgleich er als der weitgreifendste Wirtschaftszweig überhaupt dargestellt wird (vgl.-III.4.4.3) - auf Expansion in die japanischen Gewässer, um deren Walfanggründe nutzen zu können. Trotz der verneinenden Geste gegenüber eines Verstehens von ‚Welt‘ gerät damit im Roman so der Blick für die Ausbreitung des Welt-Systems nicht verloren, insofern über den Bezug auf Japan, bzw. das umgebende Meer, das als Ort des show-downs zwischen Moby-Dick und der Pequod gewählt wird, ein Schwellenereignis im Voranschreiten dieser Expansion in den Fokus genommen wird (vgl.-III.4.4.1-3). Hier wurden Passagen untersucht, die sich mit den zunehmend verzweifelten Versuchen, den weißen Wal zu finden, beschäftigen und diese wurden neu gedeutet als Verhandlungen verschiedener Perspektiven auf das Ganze (vgl.-III.4.4.4). Die Kompression der Ganzheit wird im Roman zwar über den globalen Wirtschaftszweig des Walfangs angesprochen, doch damit wird kein klaustrophobisch kleiner Raum entworfen, sondern ein wirtschaftlicher Komplex, der kurz vor dem Global-Werden steht, dargestellt. Die ‚großzügigere‘ Einschätzung der Größe der Ganzheit in Moby-Dick ist außerdem zu weiten Teilen durch das Romangenre zu erklären, das ein anderes Verhältnis zum Ganzen hat, als die untersuchten Parodien (vgl.- III.4.1). Sie ist jedoch auch dem spezifischen Zeitpunkt geschuldet - kurz vor der ‚Öffnung‘ Japans, die der Roman antizipiert, verbunden mit einer optimistischen Einschätzung des ‚Handels‘, der vor allem in Abgrenzung zum Kolonialismus als positive Kraft gepriesen wird, erscheint die Expansion in ihrer Eigenschaft als Vergrößerung und ‚Erweiterung‘ (und nicht als Kompression). Der Erzähler bricht, so wenig dieser Optimismus aus heutiger Perspektive berechtigt sein mag, vom eigenen Überschwang gleichermaßen überwältigt und geblendet, in einen an die ‚Welt‘ gerichteten Lobgesang aus: „Ah, the world! Oh, the world! “ (99/ 24) Auch in den Travels sind die Leerstellen der europäischen Expansion von zentraler Bedeutung, insofern die ‚weißen Flecken‘ auf der Weltkarte (die noch IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ 243 nicht entdeckte Regionen markieren), die Anfang des 18. Jahrhunderts noch gewaltige Ausdehnungen umfassen, den phantastischen Orten, die Gulliver besucht, eine Projektionsfläche liefern. Der Candide dagegen inszeniert über Eldorado ein Außen der im Text dargestellten Ganzheit. Durch diese Rolle Eldorados wird jedoch die Verstrickung der anderen im Text bereisten Orte in die koloniale und militärische Ein s heit nur umso deutlicher herausgestellt. Darüber hinaus inszeniert auch Candide eine Expansion (dargestellt als um sich greifende Krankheit), die erahnen lässt, dass in Kürze die gesamte Oberfläche der Erde in ein und denselben komprimierten Zusammenhang eingeschlossen werden wird. War Japan in den Travels noch nahtlos einzureihen in eine Kette phantastischer Orte, die von Gulliver besucht werden (vgl. Swift, Travels- 182/ III.11, wo direkt von Luggnagg nach Japan gereist wird), und diente es in Candide als Markierung für eine nie besuchte Peripherie, 346 so steht es in Moby-Dick kurz vor der Integration in den Welt-Markt. So kann das Fortschreiten der Expansion des Welt-Systems anhand der Rolle Japans in den untersuchten Texten nachvollzogen werden. Im Zuge der Zusammenfassung ist abschließend auf einen Extrempunkt des Verhältnisses zwischen der Ganzheit und den von Texten inszenierten Körpern einzugehen. Wie demonstriert wurde, wird der menschliche Körper in allen drei Texten probeweise mit der Ganzheit in eins gesetzt. In den Travels geschieht dies im Rahmen einer Parodie der Darstellung eines königlichen Körpers, mit der Pointe, dass dessen Einflussbereich - trotz kolonialer Ambitionen von globalem Maßstab - auf das eigene Territorium (d. i. das kleine Lilliput) eingeschränkt bleibt (vgl.- III.2.4.1); die Anleihen beim Leviathan (der selbst aufs Engste mit der Kolonialgeschichte seiner Zeit verwoben ist) wurden in den Analysen ebenfalls hervorgehoben. In Candide stand der Körper des pessimistischen Martins für die Vorstellung einer vom Teufel durchdrungenen Ganzheit ein, ausgehend vom Besuch der Sklavenkolonie Surinam. In Moby-Dick- wurde die mögliche Vereinigung des Globus mit der menschlichen Seele im Zuge eines Tagtraums imaginiert - mit der Erkenntnis, dass Ishmael diesen Weg nicht gehen wird, da das Eins-Werden mit der Ganzheit den Tod voraussetzt; auch wenn die Expansion des Welt-Systems in diesem Roman spürbar voranschreitet, so bleibt dem Individuum der Zugang zur Ganzheit doch nachhaltig versperrt. Der menschliche Körper verweigert sich in den untersuchten Texten also der reibungslosen In-Eins-Setzung mit Welt - so war und ist die Titelformel 346 Vgl. diese Textstelle des Candide : „Le vieux savant, qui s’appelait Martin, s’embarqua donc pour Bordeaux avec Candide. L’un et l’autre avaient beaucoup vu et beaucoup souffert- ; et quand le vaisseau aurait dû faire voile de Surinam au Japon par le cap de Bonne-Espérance, ils auraient eu de quoi s’entretenir du mal moral et du mal physique tout le voyage.“ (118/ 20) 244 IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“ ‚Welt als Körper‘ nicht zu verstehen. Der Körper ist jedoch ein in prominenten Texten des 18. und 19. Jahrhunderts oft gewähltes und effektives Mittel um auf die Expansion des Welt-Systems (und die damit einhergehende Kompression), Kolonialismus und die grundsätzliche Asymmetrie der Welt zu reflektieren - vorausgesetzt man berücksichtigt in der literaturwissenschaftlichen Analyse das Verhältnis des Körpers zu Figuren der Ganzheit. Literaturverzeichnis 245 Literaturverzeichnis Altschuler, Sari. „Ain’t One Limb Enough? Historicizing Disability in the American Novel.“ American Literature 86.2 (2014): 245-274. Anderson, Benedict. Imagined Communities. 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Jahrhundert (Welt-System) 79, 91, 99, 112, 136, 157ff., 161, 165, 243 19. Jahrhundert (Welt-System) 16, 19, 35, 47, 67, 173f., 211, 213f., 244 Anatomie 63, 112, 194 Asymmetrie (des Welt-Systems) 20, 40f., 43, 49, 83, 116, 123, 133, 139, 141, 160, 164, 239, 241, 244 Atlas (Mythos) 62 Außenperspektive (auch extrinsische Perspektive) 46f., 50, 67f., 115, 118, 121ff., 129-132, 227f., 242 Begriff (im Verhältnis zu Figur) 28f. Einheit 20, 40, 48f., 54, 73, 157f., 181ff., 185, 187, 190, 207 Einsheit (Unicity) 39ff., 43, 73ff., 83, 123, 131ff., 139ff., 147, 149, 156f., 167f., 171, 182, 186, 221f., 243 Erdumrundung 116, 211, 216, 238 Expansion 16, 19, 22, 25ff., 33, 35, 37f., 41, 43, 48, 67f., 90, 109, 114, 136, 141, 158, 167, 172, 174, 210, 212, 221, 228, 238-244 Festland 175, 185, 192f., 196 Figur 17, 28, 116, 239 Ganzheit 15f., 18, 20ff., 26f., 32, 35, 40, 43-54, 58-62, 70-73, 82ff., 87f., 90f., 94ff., 105, 108f., 116ff., 120-123, 127f., 130-135, 138-142, 144-149, 151-158, 160ff., 166f., 169f., 172ff., 176, 180f., 184f., 188-191, 196f., 200, 202ff., 206, 208f., 212, 218, 220-223, 227-230, 233, 239-244 Globalisierung 19, 25, 39f., 47, 49, 51f., 54, 210, 212, 237f. Größenverhältnis 107, 128 Horizont 178 Hypotypose 21, 58f., 61, 116 Insel 185f. Irland (im kolonialen Kontext) 77-81, 83, 94, 109, 111 Japan (‚Öffnung‘) 67, 166, 172ff., 211ff., 215, 217-220, 222-225, 229-233, 242f. Kannibalismus 80f. Kapitalismus (Welt-System) 33, 36f. Kartografie 61ff., 84, 89f., 92, 194, 197, 225, 227, 229 Kontinent 91, 185f. Kosmosleiber 63, 102 Leviathan (Text und Titelkupfer) 21, 63, 95ff., 99, 102, 106, 108, 182ff., 202, 229, 243 Maßstab (Kartografie) 31, 93, 105, 126f., 243 Meer 60, 86, 97, 155, 171, 175f., 179f., 185f., 189, 192ff., 196, 206, 218, 242 Meteorologie 130, 252 Mikrokosmos/ Makrokosmos 60f., 181 Monster 52, 62, 210, 217, 229f. Nautik 89f. Navigation 229 Netz 39, 220 Neue Welt 155, 157 New Sciences 116ff., 120, 122 256 Register Optimismus 134, 157, 159, 165 Paranoia (Oneworldedness) 52f. Pazifik 111, 113, 166, 172, 175, 178, 215ff., 222 Prothese 233 Reiseliteratur 84, 89, 112 Roman 67f., 171, 173, 175, 178, 181, 186f., 193, 199f., 241, 243 Royal Society 87, 116f., 119 Satire 67, 110, 116ff., 120, 125, 131, 135 Schiff (Crew und ‚Schiffskörper‘) 130, 171, 174, 177, 180ff., 185-189, 200f., 205, 218ff., 227, 229f., 232 Seele (im Verhältnis zum Körper) 74, 106, 131, 205f., 209 Sichtbarkeit (von Ganzheit) 46, 49, 51, 68, 148, 173, 175-178 Siebenjähriger Krieg 137 Sklavenhandel 16, 39, 83, 109, 111, 135ff., 139, 141, 158f., 162, 240 Somnium 44 Staatskörper (body politic) 21, 61 Surinam (im kolonialen Kontext) 139, 141f., 146f., 149, 161-166 Theodizee 16, 133ff., 137, 140ff., 144, 147, 154f., 160, 165, 167 Tischglobus 119, 123 Universum (Figur der Ganzheit) 25, 35, 44, 70, 73, 103 Vortex 172, 190, 202, 204, 208f. Walfang 171f., 177f., 180, 185, 187, 190, 199ff., 205, 210ff., 220-224 Walkunde 190, 196, 198, 200 Welt-Bild 48 Welt-Handel (Welt-Markt) 16, 19 Welt im Kleinen (Synekdoche) 55, 174, 184, 186 Welt-System 16, 19, 25, 27, 33-41, 53, 67f., 93, 109, 115, 136f., 139ff., 158, 160, 164, 174, 210, 212, 214, 238ff., 242ff. Yahoo 109f., 113f., 116, 241