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Dionysische Mythopoiesis im dramatischen Werk von Laurent Gaudé

2019
978-3-7720-5673-4
A. Francke Verlag 
Stefan Müller

Seit dem Prix Goncourt im Jahre 2004 ist Laurent Gaudé ein Autor mit steigendem Bekanntheitsgrad. Durch den großen Erfolg seiner Romane, die bereits in über 35 Sprachen übersetzt sind, werden auch seine Dramen nicht nur in Frankreich regelmäßig gespielt. Auffällig ist Gaudés Vorliebe für die Verarbeitung des Dionysos-Mythos in seinen Texten. Die vorliegende Untersuchung ist die erste Monographie zu Laurent Gaudé im deutschsprachigen Raum und widmet sich dem dionysischen Aspekt der Auflehnung gegen Unterdrückung und institutionalisierte Machtstrukturen in seinen ersten Dramen.

Eine Poetik des rauschhaften Umsturzes Dionysische Mythopoiesis im dramatischen Werk von Laurent Gaudé Stefan Müller Dionysische Mythopoiesis im dramatischen Werk von Laurent Gaudé Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 4 9 Stefan Müller Dionysische Mythopoiesis im dramatischen Werk von Laurent Gaudé Eine Poetik des rauschhaften Umsturzes Dissertation Universität Münster © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8673-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 1 10 2 17 2.1 17 2.2 24 2.3 30 2.3.1 30 2.3.2 33 2.3.3 39 2.3.4 46 2.3.5 52 3 54 3.1 55 3.1.1 55 3.1.2 63 3.1.3 66 3.1.4 74 3.1.5 78 3.2 81 4 88 4.1 89 4.1.1 91 Inhalt Einleitung: Die Mythopoiesis Laurent Gaudés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythos - Gestalten und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythos durch Metamorphose, Metamorphose durch Mythos? - Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Abriss der Mythosdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mythos als philosophische Größe - die Ansätze von Jung, Lévi-Strauss und Blumenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Gustav Jungs Archetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der strukturalistische Ansatz - Claude Lévi-Strauss . . Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Anknüpfungspunkte von Blumenbergs Mythostheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Blumenberg-Rezeption in Frankreich . . . . . . . . . . . Der Mythos des Dionysos: Konkretisierung des Freiheitsstrebens der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundlagen des Dionysos-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der dionysische Lebenszyklus und -kultus . . . . . . . . . . Die Namen des Dionysos - Allegorie und Wesen zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dionysische Gestalten - Gestalten des Mythos . . . . . . . Der Wein - carrefour intertextuel für die dionysische Mythenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dionysos und Apollon, eine mythologische und literaturtheoretische Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dionysische Grundlagen des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „… et je serai indestructible“ - Gaudés dionysische Dramen . . . . . . . Das modernistische französische Mythentheater: Die Vorläufer Gaudés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . André Gide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 95 4.1.3 98 4.1.4 103 4.1.5 106 4.1.6 109 4.1.7 113 4.1.8 118 4.1.9 121 4.1.10 124 4.2 129 4.2.1 130 4.2.2 136 4.2.3 148 4.2.4 168 4.3 182 4.3.1 186 4.3.2 218 4.3.3 222 4.3.4 238 4.4 243 4.4.1 246 4.4.2 250 5 261 6 272 6.1 272 6.1.1 272 Alfred Jarry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Giraudoux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Cocteau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marguerite Yourcenar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samuel Beckett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eugène Ionesco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean Anouilh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernard-Marie Koltès . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das neue Leben des Dionysos: Onysos le furieux . . . . . . . . . . . Mythologische Topo-Graphie - die symbolhafte Umgebung des Zweistromlandes in Onysos le furieux . Gaudé als Rhapsode - orale Mythopoiesis und dramatische Erzählform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekphrasis der Ekstase - der Text als (Stadt-)Labyrinth Gaudés intertextuelles und intermediales Spiel mit dem mythologischen Hintergrund zu Dionysos . . . . . . . . . . Dionysische Gefilde: Combats de possédés, Pluie de cendres und Cendres sur les mains zwischen Ober- und Unterwelt . . . . . . . Gaudés terrain vague: Schau-Platz für chthonische Symbole des Übergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mnemosyne - mythische Erinnerung als intermedialer Ansatz der Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgrenzende Spiel-Anleitungen: Gaudés Didaskalien und Figurennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theater im Theater - Gaudés literarische und poetologische Parabeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dionysische Opferthematik und französisches Algerien-Erbe: Les Sacrifiées . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konzeption des Opfers nach René Girard . . . . . . . . Der Girard’sche Opferdiskurs - ein dionysischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis von Laurent Gaudé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzbiographie Laurent Gaudé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 6.1.2 273 6.1.3 274 6.1.4 274 6.1.5 275 6.1.6 275 6.2 276 6.2.1 276 6.2.2 278 6.2.3 279 6.3 280 6.4 285 Theaterstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedichtsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zu Laurent Gaudé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationen zu Inszenierungen der besprochenen Stücke Gaudés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviews mit und Vorträge von Laurent Gaudé . . . . . Weitere Dokumentationen zum literarischen Schaffen Gaudés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke anderer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Ulrich Prill (†), meinem Doktorvater Der Mythos ist die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe. Thomas Mann Danksagung Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern, meiner Frau und meiner Familie, für ihre Geduld für mein Projekt. Mein herzlicher Dank gilt auch Frau Prof. Dr. Cerstin Bauer-Funke und Herrn Prof. Dr. Tobias Leuker von der Universität Münster, die sich meiner Arbeit so engagiert angenommen haben und mir mit Rat und Tat zur Seite standen, sowie Herrn Prof. Dr. Wilfried Floeck für seine freundliche und unkomplizierte Un‐ terstützung bei der Vorbereitung auf die Publikation. 1 Auch nach mehr als einem Jahrzehnt nach ihrer Erscheinung gibt es über die hier be‐ handelten Stücke Gaudés bis dato kaum literaturwissenschaftliche Forschungsarbeiten, abgesehen von einigen Aufführungskritiken in Zeitungen und Zeitschriften. Rezensi‐ onen zu Gaudés Werken sind fast ausschließlich in den regionalen Tageszeitungen um die Aufführungsstätten (vgl. 6.2.1) sowie im Magazine Littéraire und in La Quinzaine Littéraire erschienen. Stellvertretend seien hier zumindest zwei Rezensionen seiner dramatischen Texte genannt, wobei die zweite insbesondere Les Sacrifiées behandelt: Le Roux, Monique: „Tragédies du temps présent“, in: La Quinzaine Littéraire, 806, Paris, 16. April 2001, 24. Le Roux, Monique: „Trois femmes“, in: La Quinzaine littéraire 874, 1. April 2004, 24. Im Jahre 2004 schaffte es Gaudé immerhin auf die Titelseite der Litera‐ turzeitschrift Le Matricule des Anges (n° 57), in der sich zwei Artikel ihm widmeten: Guichard, Thierry, „Laurent Gaudé: en boulimie du monde“; sowie ders., „Laurent Gaudé: Les oraisons vitales“, in: Le Matricule des Anges (57), 2004, S. 14-23. 1 Einleitung: Die Mythopoiesis Laurent Gaudés Warum eine Untersuchung über Laurent Gaudé, einen 1972 geborenen franzö‐ sischen Autor, dessen Bedeutung in der Literaturwissenschaft bisher kaum dis‐ kutiert wird? 1 Warum dann eine Untersuchung, die Gaudés dramatisches Werk mit dem Mythenkreis um die antike griechische Gottheit des Dionysos, einer festen Größe in der griechischen Mythologie und der Literaturwissenschaft in Verbindung bringt? Warum zuletzt eine Untersuchung, die einige von Gaudés Dramen mit etablierten, ja kanonisierten Autoren und Repräsentanten der drei Hauptgattungen der Literatur vergleicht? Diese Gegenüberstellung scheint auf den ersten Blick der Grundlage der Verhältnismäßigkeit zu entbehren - die Darlegung der Sinnhaftigkeit dieses kühn anmutenden Unterfangens und die mit ihr einhergehende Antwort auf die eingangs aufgeworfenen Fragen sollen die nun folgenden Kapitel geben. Der im Jahre 2004 für den Roman Le soleil des Scorta mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Autor hinterfragt in seinem narrativen, dramatischen und - seit kurzem - auch poetischen Werk die Legitimation von Macht und Unterdrü‐ ckung, geht den Motoren für körperliche und vor allem psychologische Gewalt auf den Grund und setzt Mesalliance mit den Zwängen der modernen Gesell‐ schaft in Kontrast. Auch die ständigen Versuche des schöpferischen Geistes, gegen Machtstrukturen anzukämpfen, sowie die Tragweite der Ideen von ge‐ sellschaftlich ausgegrenzten Personen, die sich mit Esprit gegen ihre Situation wehren, hat Gaudé mit Schlagkraft und Subtilität gleichermaßen dargestellt. Der steigende Bekanntheitsgrad Laurent Gaudés zeigt sich nicht nur seit der Aus‐ zeichnung mit einem der höchsten französischen Literaturpreise, sondern auch 2 Zur Information zu den Übersetzungen ins Deutsche und in die romanischen Sprachen s. 6.1.6. 3 Laurent Gaudé hat eine offizielle Internetpräsenz, die sein bisheriges Schaffen und sein internationales politisches und soziales Engagement dokumentiert: www.laurent-gaude.com (07.09.2018). an den regelmäßigen Inszenierungen seiner Stücke in Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Spanien sowie an der steigenden Zahl der Übersetzungen seiner Romane, die bis dato in 35 Ländern erschienen sind. 2 Das von Jean-Paul Sartre geprägte Postulat der engagierten Literatur trifft vor allem für Gaudés Theaterstücke zu, die sich stets in einen aktuellen Kontext eingebettet finden. Die Dramen des französischen Autors erheben die Stimme gegen die Unterdrückung von Andersdenkenden und gegen jede dafür verwen‐ dete Form von Gewalt. 3 Die Zwänge, in denen sich Gaudés Figuren befinden, rühren oft von unauflösbar erscheinenden Situationen her. Gaudé schafft nicht nur situative, sondern auch soziale Paradoxa, welche die gesellschaftliche Dis‐ kussion zu mehr Durchlässigkeit und Dynamik der immer noch weit verbrei‐ teten, starren Rollen- und Normensysteme anregen. Die ausweglosen Bedin‐ gungen, mit denen sich die Hauptfiguren, meist ohne ihr eigenes Zutun, auseinandersetzen müssen, sind Dreh- und Angelpunkt der Dramen und der bisher erschienenen Romane des französischen Autors. In seinen individual‐ psychologischen Theaterstücken spricht Gaudé auch das hochbrisante Thema der zermürbenden Existenz der Maghrébins an, die nach Frankreich ausgewan‐ dert sind und deren Unterschiede zur einst heimatlichen Kultur immer unüber‐ windbarer werden (vgl. 4.3). Ohne Umschweife beschreibt Gaudé auch die Un‐ terdrückung der Frauen in einer islamistisch durchsetzten Gesellschaft in Nordafrika. Die Schwierigkeit, gegen die rigiden Sozialnormen der afrikani‐ schen Stammesgesellschaften anzukämpfen, verfolgt der Autor gleichfalls mit scharfem Auge. Mithilfe komplexer Personenkonstellationen durchleuchten auch Gaudés Romane perspektivisch die Schicksale von Familien und versuchen die Wirkung kriegerischer Auseinandersetzungen und sozialer Brandmarkung darzustellen. Bei der Lektüre von Gaudés Dramen und Romanen fällt literatur- und kul‐ turwissenschaftlich interessierten Lesern recht schnell auf, dass neben der Ver‐ arbeitung aktueller sozialer Brandherde der Mythenkreis des Dionysos eine Konstante darstellt, vor allem, was seine Dramen angeht. Mythologische Ge‐ stalten versetzt Gaudé in aktuelle Kontexte und konfrontiert sie mit den sozialen Problemen des anbrechenden 21. Jahrhunderts. Er rezipiert sowohl Mythen, die in der Literaturgeschichte vielfach weitergetragen wurden, als auch solche, die bislang in der Mythographie ein Randdasein fristeten und unterzieht sie seiner 11 1 Einleitung 4 Die Daten beziehen sich jeweils auf das Erscheinungsjahr der folgenden Schriften: U. Eco, Opera aperta; R. Barthes, „La mort de l’auteur“; M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un au‐ teur ? “ und G. Genette, Palimpsestes. ganz persönlichen, zeitgeschichtlichen Bearbeitung - oft nutzt er ihre Aussa‐ gekraft, um sich mit seinen Texten in aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten einzumischen. So verhilft Gaudé antiken Mythen mittels literarischer, mythopoietischer Neubearbeitung in seinen Dramen und Romanen zu neuer Bedeutung. Eine Untersuchung auf diese Hypothese hin erscheint folglich für eine interpretatorische Analyse von Gaudés Texten sinnvoll. Weil Gaudé in seiner Literatur zudem aus einem breiten Inventar an Inter‐ texten schöpft und er den kreativen literarischen Umgang mit Mythen (Mytho‐ poiesis oder Mythopoesis) deutlich zur Hauptsache der Gesamtkonstitution seines Werkes macht, ist ein Vergleich zwischen dem jungen französischen Autor und Schriftstellern vielversprechend, die, wie er, die Mythologie als einen sich immerzu darbietenden Jungbrunnen der Inspiration betrachten. Hinzu kommt, dass es - trotz seines literarischen Erfolges und seiner regelmäßigen Publikationen neuer Stücke und Romane (vgl. 6.1) - neben wenigen Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften, bis dato keinen wissenschaftlichen Über‐ blick über Gaudés Werk gibt; seine literarische Prägung einerseits und sein Ein‐ fluss auf die Gegenwartsliteratur andererseits ist folglich noch nicht eingehend untersucht worden. Der so unternommene Versuch zur Verortung seines jungen dramatischen Werkes soll die Bedeutung von Laurent Gaudé kontrastiv begut‐ achten und den würdevollen, nicht aber unterwürfigen Umgang Gaudés mit einigen seiner literarischen Vorfahren veranschaulichen. Diese Untersuchung versteht sich ferner als intertextuelle Recherche im Sinne Umberto Ecos (1962), Roland Barthes’ (1968), Michel Foucaults (1969) und Gérard Genettes (1982); 4 d. h. der vom Autor freigegebene Text steht im Vordergrund, ohne die Koinzi‐ denz mit der tatsächlichen Biographie, Lese- und Studienerfahrung Gaudés zwingend vorauszusetzen. Die typisch Gaudé’sche Verquickung von spielerischer Mythopoiesis und der in seinem Werk anklingenden Sozialkritik ist ebenfalls eine Fragestellung, der in dieser Untersuchung nachgegangen wird (vgl. 4.3.2; 4.3.4; 4.4). Neben der deutlichen Gesellschaftskritik lässt Gaudé seine Texte aber auch immer für sich wirken und versteht sie durchaus auch als Produkte künstlerischen Schaffens (poiesis). Die Kreation und Vernetzung mehrerer Bedeutungsebenen und eine herausgearbeitete Form versetzen Gaudés Werk darüber hinaus in einen poe‐ tologischen Kontext (vgl. 4.3.1; 4.3.4). Da die metafiktionale Ebene von Gaudés Texten den Spielcharakter seines literarischen Schaffens verdeutlicht, können seine Texte unterschiedlichen Lesarten und deren Vergleich untereinander un‐ 12 1 Einleitung terzogen werden. Im Mittelpunkt dieser lecture plurielle wird sich die lecture mythologique befinden, deren Zentrum wiederum die lecture dionysiaque bilden wird - die Untersuchung von Gaudés Texten auf Rezeption und Bearbeitung von Mythenfragmenten hin, welche über die Vita des antiken Gottes Dionysos berichten (vgl. 3). Der vielfältige Bezug auf die griechische und afrikanische Mythologie in Gaudés Werk bietet die Untersuchung der Texte nach der von Claude Lévi-Strauss entwickelten und von Hans Blumenberg weitergeführten Mythenanalyse an (vgl. 2.3). Somit stehen die sich ergänzenden Ansätze Lévi-Strauss’ und Blumenbergs bei der kontrastiven Interpretation der Thea‐ terstücke Gaudés im Zentrum des Interesses. Spuren von Intertexten, die den Charakter von Gaudés Werk als Knoten in einem Netz - „un nœud dans un réseau“ (Foucault 1969: 34) - exemplifizieren, schließen einen Ausblick auf an‐ dere mögliche Verknüpfungen in Gaudés Texten an. Trotz des immensen Fortschreitens der wissenschaftlichen Theorie- und Er‐ kenntnisbildung seit der Aufklärung bleiben die von Blumenberg (1979: 304) als „alte Geschichten“ bezeichnete Mythen, die zur Erklärung physikalischer Phä‐ nomene längst obsolet geworden sind, nach wie vor populär. Laurent Gaudés Texte sind ein Beweis für diese These Blumenbergs; der in Paris lebende Autor entscheidet sich, vielleicht sogar aufgrund der technischen und wissenschaftli‐ chen Perfektionierung des Alltagslebens, für die intensive Beschäftigung mit Geschichten aus dem Mittelmeerraum der Antike, die den Kern seiner Dramen und seiner Erzählprosa bilden. So ergeben sich die Arbeitshypothesen dieser Untersuchung aus der Form des seit der griechisch-römischen Antike in Europa vorherrschenden Mythenkreises, der ein wichtiger Bezugspunkt von Gaudés Literatur ist - wenn man mythopoetische (mythopoietische) Texte nach Ulrich Prill folgendermaßen versteht als • aus Mythemen disparat zusammengesetzte • variationsfähige • strukturell auf Rezeption und Transformation hin angelegte • Polyvalenz generierende • zum Spiel disponierte • ritualisierte und dadurch wiedererkennbare • als mythopoetische vera narratio fungierende, narrative Texte. (Prill 1997: 31) Da der Mythos per se Polyvalenz erzeugt (vgl. 2.1 u. 2.3; Prill 1997: 23), ist der Spielcharakter seit dem Beginn seiner mündlichen Weitergabe eines seiner festen Bestandteile. In der Einführung seiner Habilitationsschrift gibt Ulrich Prill einen Überblick über die postmoderne Mythosforschung und positioniert 13 1 Einleitung sich hierbei dezidiert gegen den von Northrop Frye entwickelten myth criticism (Frye 1957), der die Mythenrezeption aus literarischen Texten wie gelöste Be‐ standteile herausdestillieren will, um an das eigentlich Neue und Schöpferische zu gelangen. Dabei versteht Frye den Mythos als erstarrtes, allgegenwärtiges Instrumentarium, dessen Funktion er als vollkommen bedeutungslos beiseite‐ schiebt und wie ein kryptisches Mysterium behandelt (Prill 1997: 19 ff.): „Im Gegensatz zu Fryes Vorstellung verstehen wir Mythos nicht als statische und sich selbst immer gleiche Wesenheit, sondern als dynamisches, sich im Laufe der Geschichte veränderndes, ja anders als veränderbar gar nicht denkbares narratives Konzept.“ (ebd.: 21 f.) Daher ist der Mythos auch intermedial anpas‐ sungsfähig und seine verschiedenen Realisierungsformen kontrastiv analy‐ sierbar: Der Sprechakt des Mythos [lässt] wie jede andere sprachliche Äußerung die Überset‐ zung in einen anderen Code zu. […] Die verschiedenen Künste können unter diesem Gesichtspunkt als verschiedene Codes des Mythos angesehen werden, wobei der er‐ zählende Code als Basis und Referenzsystem dient. (Weinrich 1985: 170) In ihrer Intertextualität und Intermedialität ist Mythopoiesis die kreative, künstlerische Auseinandersetzung mit Mythen im Allgemeinen, anders ausge‐ drückt: literarisches Werken und Wirken am Mythos ( Jauß 2007: 103; Füger 1998: 41-57) oder „Arbeit am Mythos“, wie sie Hans Blumenberg nennt (1979). Gaudés dramatisches Werk bietet damit eine intertextuelle Untersuchung nicht nur an, sondern verlangt sie geradezu. Der Anthropologe und Religionswissen‐ schaftler Mircea Eliade besteht grundsätzlich auf der Notwendigkeit einer ge‐ wissen mythologischen Vorbildung zum vollständigen Verständnis literarischer Texte (Eliade 1985: 1 f.). Dies wird sich auch bei der literaturwissenschaftlichen Analyse und Interpretation von Gaudés Werk zeigen, dem man ohne die Be‐ rücksichtigung einer lecture mythologique nicht gerecht würde. Bei der Betrachtung der Gaudé’schen Mythopoiesis und der Untersuchung der Quellen für seine Mythenrezeption ist es schwer, sowohl die Auswahl an Autoren zu begründen, die zum Vergleich mit Gaudés dramatischem Werk he‐ rangezogen werden, da es sich bei den in Gaudés Texten auszumachenden Querverweisen nicht immer um schriftlich fixierte oder genau nachzuweisende Texte handelt. Der Einfluss dieser Intertexte auf und die Art ihrer Einbindung in Gaudés Werk müssen erst noch genauer bestimmt werden, was mit dieser Arbeit begonnen werden soll. Da Gaudé sich in seinem epischen und dramatischen Werk nicht nur mit der europäischen Kulturgeschichte auseinandersetzt, sondern sich auch sehr für orientalische, asiatische und afrikanische Mythen interessiert, hat sich diese 14 1 Einleitung 5 Allusionen auf den Dionysos-Mythos sind vor allem in den Dramen Salina (2003), Médée Kali (2003), Sophia douleur (2008), Sodome ma douce (2009) und den Romanen Le soleil des Scorta (2004), Eldorado (2006), La porte des enfers (2008) sowie Pour seul cortège (2012) zu finden. 6 Als eines der wenigen Beispiele finden sich Anklänge einer antiken Charakterdarstellung in Le dieu du carnage (2007) von Yasmina Reza (*1959), das sich in einem dionysisch-eks‐ tatischen Wutrausch der Figuren entlädt. Reza greift jedoch sonst kaum auf die Mytho‐ logie zurück. Auch Olivier Py (*1965) greift in seinem Werk gelegentlich antike Vorlagen auf (z.B. Le Visage d’Orphée, 1997; Les enfants de Saturne, 2007). Arbeit, aufgrund des immensen Inventars an vor allem mythologischen Allusi‐ onen im dramatischen Werk Laurent Gaudés, einschränkend das Ziel gesetzt, einen bestimmten Mythenkreis ins Zentrum des Interesses zu rücken, auf den in den ersten Dramen Gaudés mit auffälliger Häufigkeit angespielt wird. Es sind dies die Referenzen an den Mythenzyklus des Dionysos und damit zugleich an die archaischen Wurzeln des Theaters (vgl. 3.2), die in den Dramen Combats de possédés (1999; CP), Onysos le furieux (2000; OF), Pluie de cendres, (2001; PC), Cendres sur les mains, (2002; CM) und Les Sacrifiées (2004; LS) in einer Weise vertreten sind, dass sie die Stücke nicht nur in einen engen thematischen Zu‐ sammenhang bringen, sondern ihre Interpretation förmlich bestimmend kons‐ tituieren. Auch im weiteren Werk Laurent Gaudés - die Epik eingeschlossen - finden sich immer wieder Passagen, die mit diesem Mythenkreis gefärbt sind. 5 Mit seiner Schreibphilosophie hebt sich Gaudé durchaus von seinen Zeitge‐ nossen ab, da in seinem Werk die Rezeption der antiker Mythen und dramati‐ scher Praktiken besonders stark ist. Als einer der wenigen französischen Drama‐ tiker seiner Zeit schwingt bei ihm stets eine mythopoietische Grundkonstante mit, die oft der bloßen Dramenhandlung ebenbürtig ist. Neben der Tatsache der bisher eher geringen Forschungsaktivität zu seinem Werk macht dies die Untersuchung seiner Dramen gerade besonders interessant. 6 Mythopoiesis hat immer zwei Seiten, die - ähnlich wie Saussures Konzept der Ausdrucks- und Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens - nicht vonein‐ ander getrennt werden können: zum einen die Rezeption von Mythen aus an‐ deren Texten und zum anderen die Verarbeitung dieser Rezeption durch die Schaffung neuer Texte. Der für diese Untersuchung eingeführte Begriff „diony‐ sische Mythopoiesis“ bezeichnet die Mythopoiesis, die bei der lecture dionysi‐ aque von Gaudés Dramen zum Vorschein kommt, d. h. bei der Untersuchung der zum Vergleich herangezogenen Texte auf Mythenmaterial, das die Vita der an‐ 15 1 Einleitung 7 Dementsprechend meint auch das Adjektiv „dionysisch“, das in dieser Untersuchung naturgemäß häufig auftritt, stets Versatzstücke der Dionysosvita und Wesenszüge des Dionysos, die aus dem verwendeten Mythenmaterial und dessen Analyse in Kapitel 3 hervorgehen. tiken griechischen Gottheit Dionysos zum Thema hat und dem rezeptiven als auch produktiv-kreativen Umgang mit diesem. 7 16 1 Einleitung 8 Vgl. Christoph Hönig, „Wer war Homer? “ in: Homers Odyssee - nur ein Schiffermärchen? Die Route der berühmtesten Seereise der Welt (2011), auf den Webseiten der Humboldt-Ge‐ sellschaft: www.humboldtgesellschaft.de/ inhalt.php? name=odyssee#C. (07.09.2018). 2 Mythos - Gestalten und Rezeption 2.1 Mythos durch Metamorphose, Metamorphose durch Mythos? - Begriffsklärung Oft ist im alltäglichen Sprachgebrauch die Rede vom Mythos oder von Mytho‐ logie, doch was genau ist ein Mythos, was ist Mythologie? Das Wort Mythos ist das ins Deutsche übertragene griechische Lexem μύθος. Im weiteren Sinne be‐ deutet „Mythos“ ‚Wort‘, ‚Rede‘, im engeren Sinne wird darunter ‚Erzählung‘, ‚Le‐ gende‘, ‚Sage‘‚ oder ‚Fabel’ verstanden. Der Mythos war in der antiken Welt des Mittelmeerraumes bis in die homerische Epoche hinein Teil der Alltagswirklich‐ keit (ca. 770-700 v. Chr.), 8 die Inhalte der tradierten Mythen wurden als gegebene Realität aufgefasst, ja das gesamte Leben konnte mit numinosen Mächten „gere‐ gelt und bewältigt“ werden: Unsere heutigen Schwierigkeiten, sich dies vorzustellen, kommen nur daher, daß wir den Mythos nicht mehr als eine Lebenswirklichkeit und überdies meist nur bruch‐ stückhaft kennen, ja, daß er uns gerade hauptsächlich als Mythologie vermittelt wird, und zwar besonders dort, wo nach unserer heutigen Vorstellung vor allem die Phan‐ tasie freie Bahn hat, nämlich in der Kunst. (Hübner 1985: 128) Mythen erzählen von Einbrüchen des Heiligen in die Welt (kairos), die stets welt-schöpferisch sind und damit für die menschliche Lebenswirklichkeit ab‐ soluten Realitätsanspruch besitzen (Otto 2013: 17-52). In Mythen treten stets übernatürliche Wesen auf, die durch ihr Wirken die vom Menschen wahrge‐ nommene Welt und sein Wesen konstituieren: le mythe raconte une histoire sacrée; il relate un événement qui a eu lieu dans le temps primordial, le temps fabuleux des « commencements ». […] C’est donc toujours le récit d’une « création » […]. Le mythe ne parle que de ce qui est arrivé réellement, de ce qui s’est pleinement manifesté. En somme, les mythes décrivent les diverses, et parfois dramatiques, irruptions du sacré (ou du « sur-naturel ») dans le Monde. C’est cette irruption du sacré qui fonde réellement le Monde et qui le fait tel qu’il est au‐ jourd’hui. Plus encore : c’est à la suite des interventions des Etres Surnaturels que l’homme est ce qu’il est aujourd’hui, un être mortel, sexué et culturel. (Eliade 1985: 16 f.) In Naturvölkern, wo der Mythos bis heute noch „gelebt“ wird, bildet er einen deutlichen Gegensatz zu „unwahren Geschichten“ (Eliade 1985: 20). Damit ist das Erzählen des Mythos seinem (Nach-)Erleben gleichgesetzt, es unterscheidet sich nicht von der archaischen mythischen Zeremonie (ebd.: 32 f.). Die Mythen‐ erzählung konnte sich „konkret […] ins Festgeschehen“ einfügen (Graf 2004: 113). Vilhelm P. Grønbech merkt an, dass man für das Verständnis der antiken Zeit der Griechen, in der die Mythen noch Gegenstand des alltäglichen Lebens und der Wahrnehmung der Welt waren, die heute als Konvention geltende Un‐ terscheidung zwischen Idealem und Realem aufgeben muss: „Wollen wir die Institutionen der Griechen verstehen und ihren Wirklichkeitssinn erfassen, so sind wir genötigt, unsere Einteilung des Lebens in die Sphäre des Idealen und Realen aufzugeben. Die Sage ist der höchste Realismus, weil das Fest die höchste Realität ist“ (Grønbech 1967: 170 f.). Die Literatur hat sich seit jeher verpflichtet, diese Grenzen aufzuheben. Laurent Gaudé sieht sich daher nicht nur in der Tra‐ dition einer erweiterten Wahrnehmungsstiftung durch die Literatur, sondern auch in der Verpflichtung, die mythischen Traditionen des antiken Griechen‐ lands wieder als lebendigen Bestandteil in die Literatur einzubetten. Das Drama braucht bei Gaudé aber nicht zu seinen Wurzeln zurückzukehren, sondern es zeigt, dass es die Wurzeln immer noch in sich trägt, sie nur hervorkommen lassen muss. Wann immer in dieser Untersuchung von Mythos die Rede ist, meint der Begriff Mythos die Gesamtheit der realisierbaren Mythen, im Verständnis Hans Blumenbergs. Diese Gesamtheit ist zwar nur schwer begreifbar, bildet jedoch als wissenschaftliche Grundlage einen unverzichtbaren Bezugspunkt, durch den die moderne Mythenanalyse, die von Claude Lévi-Strauss, in Anlehnung an Saussures Dichotomie zwischen dem Gesamtinventar (langue) und der Momen‐ tanrealisierung (parole), begehbar gemacht worden ist (vgl. 2.3.2). Ein weiteres Erkennungsmerkmal von Mythen ist, dass sie häufig benutzt werden, um schwer verständliche Phänomene, etwa aus der Meteorologie oder der Astro‐ nomie zu erklären (Lévi-Strauss 1958: 228). Die Beliebtheit der Mythenbildung ist daran zu erkennen, dass Mythen oft im Volksmund verharren, obwohl bereits naturwissenschaftliche Erklärungen für vormals undurchschaubare Ereignisse der menschlichen Umwelt geliefert wurden (ebd.: 228 f.). Ein Beispiel für die Parallelexistenz zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Fortbe‐ stand einer mythologischen Erklärung ist die Lehre von den vier Tempera‐ menten, die zugleich die kulturelle Vermittlung des Mythos untermauert (Elef‐ 18 2 Der Mythos theriadis 1991; Schöner 1964; Trépanier 2004; Schlange-Schöningen 2003; Assmann 2004: 196). Für Martin Buber deutet der Mythos auf eine Spezifizität im Sein selber hin (1964: 52); ein zentrales Charakteristikum von Mythen ist deshalb die Anthro‐ pomorphisierung (Lévi-Strauss 1958: 228). Die in den Mythen vorkommenden Gestalten weisen stets ein am Menschen orientiertes Aussehen und fundamen‐ tale menschliche Charakterzüge auf, die den von Carl Gustav Jung entwickelten psychologischen Archetypen nahestehen. ( Jung 1976: 14). Der Mythos stellt jedoch keinerlei moralische Ansprüche, da er sie überhaupt nicht im Sinn hat: „Le mythe n’est pas, en lui-même, une garantie de « bonté » ni de morale. Sa fonction est de révéler des modèles, et de fournir ainsi une signification au Monde et à l’existence humaine.“ (Eliade 1985: 180) Inhaltlich sind Mythen kon‐ tingent und arbiträr, und sie unterliegen in der Regel keinen Ausschlusskrite‐ rien. So kann in Mythen alles vorkommen, was der Mensch aus seiner Umge‐ bung wahrnimmt und was er in seiner Phantasie aus dem Wahrgenommenen kombiniert - die logischen Regeln von Chronologie und Reihenfolge der Ereig‐ nisse sind für einen Mythos von keinerlei Relevanz. Trotzdem sind Überein‐ stimmungen von Mythen in unterschiedlichen Teilen der Welt zu verzeichnen, was Claude Lévi-Strauss in seinen jahrelangen anthropologischen Forschungen zum Erstaunen vieler konstatierte (Lévi-Strauss 1958: 229; 238). Das heute noch bekannte oder erschließbare Inventar der antiken Mythen‐ erzählung wird oft unter dem Begriff „Mythologie“ geführt. Kurt Hübner grenzt aus diesem Grunde den Begriff des Mythos von dem der Mythologie ab (Hübner 1985: 127). Der Begriff „Mythologie“ ist für Hübner aber kein wissenschaftlicher, sondern ein pseudowissenschaftlicher. Der Begriff des Mythos hingegen sei die konkrete mythische Erfahrungswelt, alles, was die Erfahrungen des Numinosen einschließt. Ausschließlich der Begriff „Mythos“ sei der wissenschaftliche Be‐ griff, den man verwendet, wenn man den Mythos erforscht und nicht „Mytho‐ logie“. Die Mythologie betrachtet Hübner als eine kulturelle Abspaltung vom Mythos, analog zum Verhältnis zwischen Astronomie und Astrologie: Der Mythos zeigt so eine tiefe Sensibilität für die ungeheuere Mannigfaltigkeit des Lebens und das enge Verhältnis von Geschichte und Gottheit; nichts ist ihm fremder als starre Abstraktionen. Götter sind Gestalt gewordene komplexe Erfahrungen, die für die menschliche Welt eine urbildhafte Bedeutung haben. Gerade deswegen sind sie auch für den mythischen Menschen das Vertrauteste und Anschaulichste selbst da, wo sie Schrecken und Schauder auslösen. Die numinosen Wesen des Mythos haben die Wirksamkeit der Urmächte. Es sind Mächte, die in einem bestimmten Lebensraum, unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen gegeben sind und als etwas zugleich 19 2.1 Mythos - Begriffsklärung Individuelles und Allgemeines, Materielles und Ideelles erfasst werden. (Hübner 1985: 127) Hübner unterscheidet zwischen „bloße[r] Mythologie“, die für ihn eher der Mythopoiesis entspricht und „mythische[r] Wirklichkeit“. Er relativiert seine These jedoch wieder damit, dass die Mythologie, sofern man sie der Poesie zu‐ rechnet, zwar ohne reellen Gegenwert aber dennoch „auf den apriorischen Fun‐ damenten des Mythos gewachsen“ sei (Hübner 1985: 150). Diese Begriffsauf‐ fassung ist jedoch nur eine mögliche. Manche Forscher fassen unter „Mythologie“ die Gesamtheit der bekannten Mythen zusammen und betrachten nach dem Pars-pro-toto-Prinzip den Mythos als einzelnen Baustein der Mytho‐ logie. Dies kommt in die Nähe des Ansatzes von Claude Lévi-Strauss, der beide Begriffe in einem wissenschaftlichen Kontext verwendet; seine Begrifflichkeit ist damit das Gegenstück zu der Hübners. Lévi-Strauss sieht die Begriffe des Mythos und der Mythologie analog zu den linguistischen Disziplinen der Seg‐ mentierung und Klassifizierung, wie im Falle der Phonetik und der Phonologie in der Linguistik. In gleicher Weise wie sich Phone und Phoneme zueinander verhalten, kann die wissenschaftliche Klassifizierung der Mytheme erst be‐ ginnen, wenn in einem ersten Schritt der Mythos in einzelne Elemente, Mythen, segmentiert wurde (Lévi-Strauss 1962: 26). Hübner legt besonderes Augenmerk auf die Konkretheit des Mythos. Ihm ist daraufhin alles „vage“, was von dieser Prämisse abweicht, auch Übergänge my‐ thischer Gestalten in der bildenden Kunst und der Literatur, wie bei Ovids Me‐ tamorphosen ersichtlich. Damit ist für ihn die Metamorphose als ursprünglicher Wesenszug des Mythos ein durch die Kunst angedichteter, überformter, über‐ triebener - die Permanenz der Metamorphose sieht Hübner folglich nicht als Wesenszug des Mythos sondern als eine Eigenschaft an, die von der Mythologie an den Mythos herangetragen wurde: Wo jedoch die geschilderte Neigung zu Metamorphosen genuin mythisch ist, da ist sie mit Sicherheit nicht als etwas unbefriedigend Vages empfunden worden. Der Umgang mit den numinosen Mächten war im Gegenteil von so klaren und unterscheidenden Vorstellungen geprägt, daß, wie wir wissen, das gesamte Leben damit geregelt und bewältigt werden konnte. (Hübner 1985: 128) Diese These Hübners beschreibt zweifelsohne einen der grundlegenden Aspekte des Mythos: die Wahrnehmung des Mythos als Erfahrung der Wirklichkeit. Sie deckt sich jedoch nicht mit den vielfältigen Überlieferungen aus der griechi‐ schen Antike, auch den älteren unter ihnen, beispielsweise bei Hesiod und Homer, bei denen die Metamorphose den Mythos bestimmte und der Mythos ohne Metamorphose gar nicht denkbar war. Selbst wenn die Hoch-Zeit des My‐ 20 2 Der Mythos thos zu Zeiten Homers schon vorüber war und die Mehrzahl der Menschen den Mythos bereits nicht mehr als Grundlage ihrer Wahrnehmung betrachteten, so ist doch das Primat der Metamorphose eindeutig dem Mythos und nicht - im Sinne der Hübner’schen Begrifflichkeit - der Mythologie beizuordnen. Hübner bemerkt in der Wahrheit des Mythos selbst: Transsubstantiationen aber sind doch innerhalb des Mythos etwas ständig Vorkom‐ mendes: Beinahe alles kann in alles übergehen. Da werden aus den von Deukalion und Pyrrha geworfenen Steinen Menschen, Phaeton und Orion werden in Sterne ver‐ wandelt, Kadmos wird zu einer Schlange, Daphne zum Lorbeerbaum, Arachne zu einer Spinne und Niobe zu einem Stein. Aus Göttern werden Tiere und Pflanzen, aus Men‐ schen Götter usf. (Hübner 1985: 190) Dennoch sind die meisten Metamorphosen mythischer Gestalten und die Überlieferung mythischer Übergänge für Hübner „bloße Mythologie, die zwar eine Tochter des Mythos ist, aber nicht zu ihrem festen kultischen Bestand ge‐ hört, also nicht ernsthaft geglaubt wird.“ (1985: 127) Auch Karl-Heinz Bohrer macht in seiner Arbeit Das absolute Präsens (1994) auf die Diskrepanz zwischen den antiken Kultmythen und ihren künstlerischen Rezeptionsformen auf‐ merksam. Der Mythos, der heute rezipiert und bearbeitet wird, ist demnach eine Rekonstruktion dessen, was in der griechischen Antike eine feste Glaubensform war: Der moderne Dichter kann nichts mehr mit dem bestimmten Mythos des Tantalus und nichts mit den griechischen Göttern anfangen, sondern nur noch mit dem gene‐ rellen „Mythos“, d. h. einer Abstraktion des archaischen Schreckens. Er findet diesen nicht mehr in den einzelnen Mythen der Griechen beglaubigt, sondern in der eigenen Seele bzw. dem modernen Unterbewußten, das er zum „Mythos“ transformiert. […] Wegen dieses Widerspruchs zwischen Unverbindlichkeit der konkreten griechischen Mythen in der Moderne einerseits und einer fundamentalistischen Sehnsucht nach dem Mythos andererseits kommt es zur Reduktion der mythos-kritischen Tragödie zur mythos-identifizierenden Theatralik. (Bohrer 1994: 84 f.) Blumenberg kennzeichnet diese Unterscheidung mit den Begriffen „Grund-“ und „Kunstmythos“. Mit dem Hinweis, dass beide Begriffe nicht immer klar voneinander trennbar sind und dem Vermerk der poetologischen Leistungsfä‐ higkeit von literarisch verarbeiteten Mythen hebt er Hübners Unterscheidung zwischen Mythos und Mythologie auf. Mehr als eine „Ordnungsleistung poeti‐ schen Ranges“ ist für ihn ein Werk dann, wenn es einen „Mythos des Mythos selbst“ darstellt, also „nicht weniger leistet als Metamorphose der Metamor‐ phosenwelt zu sein“ (Blumenberg 1979: 383). Zugleich wird hieran klar, wie 21 2.1 Mythos - Begriffsklärung wichtig Blumenberg die Eigenschaft der Metamorphose ist. Die Potentialität der „Bedeutungsfüllung“ des Mythos erkennt auch Samuel L. Goldberg, nach dem der Mythos, seitdem er nicht mehr fester Bestandteil des kultischen Lebens ist, als freie gedankliche Form existiert, dessen Bedeutung ständig, je nach dem Kontext variiert, in den er projiziert wird: Once divorced from their origin in implicit, pious belief - and that is he only condition under which we now know the myths of Greece and, for most of us, the myths of Christianity as well - their meanings are perpetually created in our experience, are the colouring they take on from the material into which we project them. The myth is like a potentiality of meaning awaiting actualization in the world we recognize as real, in a specific ‘now and here’“ (Goldberg 1961: 202). Obwohl in Mythen die Verweise auf eine unbestimmte Vergangenheit über‐ wiegen, ist der Mythos in seiner Permanenz gleichzeitig in Vergangenheit, Ge‐ genwart und Zukunft verortet, er ist überzeitlich (Lévi-Strauss 1958: 231). So hat der Mythos eine eigene Ontologie entwickelt (Tomberg 1996: 142), die auf einem „apriorische[n] Fundament“ fußt: Der Mythos erweist sich so in der Tat als ein geschlossenes ontologisches System. Das bedeutet, daß er ein apriorisches Fundament besitzt, wodurch definiert ist, was in‐ nerhalb seiner Wirklichkeitsdeutung ein Objekt ist. Denn dieses wird durch die Mo‐ dalitäten festgelegt, die ihrerseits auf bestimmten apriorischen Bestimmungen über Gegenstände, deren Raum-Zeitverhältnisse, deren regelhafte Zusammenhänge und deren Verbund beruhen. (Hübner 1985: 184 f.) In der für die aufblühende Dionysosforschung des beginnenden 20. Jahrhun‐ derts bahnbrechenden Monographie, Dionysos. Mythos und Kultus, formuliert Walter Friedrich Otto mit seiner ontologischen Definition des Mythos das, was Blumenberg später als „fehlende Rücksicht des Mythos“ bezeichnet hat: Es ist die Art des griechischen Mythos, Grundgestalten des Seienden zu erfassen. Und sie treten, bei aller Klarheit und Bestimmtheit, mit der ganzen Frische des Naturhaften hervor. Alle Milderungen der gerührten Seele, alle Übertreibungen des trotzigen Geistes bleiben ferne. Die Urwelt blickt und atmet aus der lebendigen Form. (Otto 1980: 110) Die doppelte Natur des Mythos, der gleichzeitig synchron und diachron ist, sich nicht nur auf den Ebenen der langue und der parole befindet, sondern die Rela‐ tionen beider Ebenen in sich vereint, vergleicht Lévi-Strauss mit der Musik. Eine Partitur kann in der Reihenfolge ihrer Notation gelesen werden. Doch muss sie, um ihren Sinn vollständig zu entschlüsseln, gleichzeitig horizontal und vertikal 22 2 Der Mythos gelesen werden, da mehrere Instrumente gleichzeitig erklingen. Übertragen auf den Mythos heißt dies, dass ein Mythos gleichermaßen syntagmatisch und pa‐ radigmatisch ist. Die sich hieraus ergebende übergeordnete Ebene, die der My‐ thos aufweist, nennt Lévi-Strauss in Anlehnung an die Musik „Harmonie“ (1958: 234; vgl. 2.3.2). Der Wiedererkennbarkeit in allen menschlichen Kulturen ver‐ dankt der Mythos seine ungebrochene Beliebtheit. Die Unabhängigkeit von for‐ malen und chronologischen Aspekten begünstigt seine Tradierung und ist Ur‐ sache für seine Rekurrenz und seine lange Rezeptionsgeschichte, die sich bis in die heutigen Tage hinein nicht erschöpft hat, und sich wohl auch in Zukunft nicht erschöpfen wird - sowohl in mündlichen Erzählungen als auch in der Literatur, wo der Mythos in allen Gattungen beheimatet ist. Wenn man jemandem einen Mythos aus der griechischen Mythologie er‐ zählen will, merkt man schnell, dass man fast immer ausholen muss, um Hin‐ tergründe zu erklären, die oft grundlegende Beweggründe der Handlungen der Figuren bilden. Ein Auslassen dieser Hintergründe führt oft zu einer defektiven Erzählung. Klar ist, dass man einen Mythos nur herausgelöst, selektiert erzählen kann, denn sonst müsste man die komplette Mythenwelt auferstehen lassen, d. h. man ist gezwungen zu selektieren. So lassen sich die Episoden und zu Ge‐ schichten ausgebauten Handlungsmotive am besten durch Kreise nachzeichnen, die sich gegenseitig berühren oder auch überschneiden. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit der Begriff Mythenkreise nicht nur für Zyklen von Variationen eines Mythos, der sich einer Figur (einem Helden oder einem Gott) zuordnen lässt, verwendet, sondern auch für die organisatorische „Einheit“ eines solchen Mythenkreises im Gesamtspektrum aller uns bis heute bekannten Mythen‐ kreise. Es ergibt sich folglich ein Bild von sich gegenseitig berührenden und überschneidenden Kreisen, die einmal weiter, einmal weniger weit ineinander ragen. Abgeleitet vom griechischen Verb ποιείν (poieín - ,machen‘; ‚tun‘; ‚schaffen‘), ist Mythopoiesis der Prozess des literarischen Schaffens und des herstellenden Tuns (poíesis), der Mythen literarisch verarbeitet. Nach Hans Robert Jauß ist die Poiesis die „produktive Seite der ästhetischen Erfahrung“ (2007: 103). Zentral für die Mythopoiesis ist die künstlerische Freiheit, die der Mythos dem Schrei‐ benden durch seine Variabilität lässt. Johan Huizinga unterstreicht deshalb be‐ sonders den Spielcharakter der Poiesis: „Poiesis ist eine Spielfunktion. Sie geht in einem Spieltraum des Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die der Geist sich schafft.“ (2004: 133) Auch für Blumenberg trägt der Mythos eine „Disposi‐ tion für Spielbarkeit“ in sich (1979: 17). Die Unabhängigkeit von festgelegten Formen stellt den Mythos zunächst sämtlichen literarischen Gattungen entgegen, die ohne eine festgelegte Form 23 2.1 Mythos - Begriffsklärung den Großteil ihrer Bedeutung verlieren würden - damit vor allem den lyrischen Gattungen. Nun ist es gerade verwunderlich, dass sich Mythen in der Lyrik durch sämtliche literarhistorische Epochen hindurch einer außerordentlich regen Rezeption erfreuen, und dies ausgerechnet in den Blütezeiten der for‐ malen Reglementierung - man denke allein an die Dichtung des spanischen Siglo de Oro. Durch seine Flexibilität lässt sich der Mythos nämlich mühelos in jede denkbare Form bringen, ohne dass seine Wiedererkennbarkeit erheblich eingeschränkt wird. Dies liegt daran, dass der Mythos aufgrund seines oralen Primats ad libitum erzählt, ergänzt, reduziert oder modifiziert werden kann. Werden in einigen Strömungen der Lyrik Mythen auch bis zur Unkenntlichkeit deformiert oder travestiert, bedeutet dies nicht zwangsweise das Ende des My‐ thos, sondern es macht gerade den Reiz für den sich hierauf einlassenden Leser aus, die mythische Allusion anhand seines mythologischen Wissensschatzes zu entziffern. Viele elitistische Literaturbewegungen, die, wie die Parnassiens, die Symbolisten und Surrealisten mit dem Wahlspruch l’art pour l’art in Verbindung gebracht werden können, setzen auf die Deformierbarkeit und Reduzierbarkeit des Mythos, um ihn ausschließlich für klassisch gebildete Leser mit weitreich‐ enden literarischen und mythologischen Kenntnissen zugänglich zu machen. Selbst in den literarischen Bewegungen des Barock erschloss eine fundierte Mythenkenntnis erst die tiefer liegenden Bedeutungsebenen eines Textes, meist lyrischer Art, und gab Auskunft über seine Funktionsweise. Dieser Formen‐ reichtum des Mythos ist es auch, der die Grundlage dieser Arbeit bereitet, welche, dem Prinzip des Mythos getreu, einige unterschiedliche Lesarten des von Gaudé zur Verwendung gebrachten mythischen Materials durchleuchten will. 2.2 Historischer Abriss der Mythosdeutung Frühe griechische Geschichtsschreiber wie Herodot und Hesiod haben den My‐ thos nicht als Gegenstück zur Geschichte gesehen, sondern gliederten ihn in ihre Geschichtsschreibung ein, hielten ihn folglich für Geschichte selbst: „Diese Menschenhaftigkeit, Menschlichkeit der Mythenerzählung ist es auch, welche sowohl Epos wie Tragödie zu Gipfelpunkten nicht nur griechischer Literatur machte und den Mythos von da aus bis in die Gegenwart immer hat wirken lassen.“ (Graf 2004: 137) Für die mythosgläubige Kultur der Antike war die my‐ thische Zeit „kein Raum für Geschehnisse, sondern sie war diese Geschehnisse selbst.“ (Hübner 1985: 152) So unterscheidet sich die mythische Auffassung von Zeit erheblich von der Zeitbetrachtung unserer Tage: Die mythische Zeit ist 24 2 Der Mythos erstens kein Medium, in dem sich Ereignisse abspielen, sondern Zeit und Zeitinhalt bilden eine unauflösliche Einheit. Deswegen befinden sich auch zweitens mythische Gegenstände nicht an einem Zeitpunkt dieses Mediums in dem Sinne, daß sie darin markiert werden können, sondern zeigen nur in sich selbst eine bestimmte Ereignis‐ abfolge. Die mythische Zeit ist drittens nicht eindimensional, sondern mehrdimensi‐ onal, da sie aus der profanen und der heiligen Zeit besteht. […] Und so fallen dann im Gegenwärtigen Vergangenes und Zukünftiges zusammen. (Hübner 1985: 157) W. F. Ottos numinose Mythos-Konzeption sieht gerade diese Vergegenwärti‐ gung des Göttlichen vor. Das einzige Kriterium, nach dem man mythische Zeit einteilen kann, ist die arché. Archái sind nicht nur Archetypen psychologischer, gesellschaftlicher oder geschichtlicher Natur: „Eine Arché ist eine Ursprungs‐ geschichte. Irgendeinmal hat ein numinoses Wesen zum ersten Mal (τα πρωτα) eine bestimmte Handlung vollzogen, und seitdem wiederholt sich dieses Er‐ eignis identisch immer wieder.“ (Hübner 1985: 135) Der Akt der Wiederholung verkörpert sich folglich im Mythos, und demnach sind Archái „Ereignisabläufe mythischer Substanzen“ (ebd.: 137), die sich immer wieder von neuem ereignen: Eine Arché ist somit nicht nur ein Schema der Erklärung für einen Vorgang, weil er durch sie geprägt und bestimmt ist, sondern durch sie wird auch sein zeitlicher Verlauf konstituiert: Die in ihr vorkommende Zeitfolge von Ereignissen liegt ausschließlich in ihrem Inhalt beschlossen. Sie ist sozusagen das Paradigma dieser Folge, das sich auf unzählige Weise identisch wiederholt. Es handelt sich um eine identische Wiederho‐ lung, weil es ja das gleiche heilige Urgeschehen ist, das sich überall von neuem ereignet; dieses Geschehen wird buchstäblich immer wieder geholt (Hübner 1985: 142). Fragen nach der Entstehung des Griechischen Mythos werden immer wieder aufgeworfen. Fritz Graf versucht die Mythengenese historisch, anhand von Be‐ legen zu rekonstruieren und stellt sich gegen die These des Ursprungs des grie‐ chischen Mythos in der mykenischen Blütezeit, wie sie etwa M. P. Nilsson (1932) vertritt, indem er sich auf indoeuropäische Zusammenhänge beruft, die in der Mythenerzählung vorliegen, und die auf das dritte Jahrtausend vor Christi Ge‐ burt zurückweisen (Graf 2004: 74 f.). Gaudé weicht dem Problem des Ursprungs aus, indem er nach der Entstehung literarischer Produktionsmethoden Aus‐ schau hält. Er integriert die Entstehung der Schrift in Sumer als festen Bestand‐ teil seines Dionysosmythos (vgl. 4.2.1). Die von Prill dargestellte Revitalisierung der Mythen (1997: 23) und die Gegenwärtigkeit des Mythos findet in Gaudé ein aktuelles Sprachrohr, dessen akribische aber keineswegs schwerfällige Mytho‐ graphie einen entscheidenden Gegenbeweis zu Northrop Fryes Theorie des die 25 2.2 Historie der Mythosdeutung 9 Vgl. hierzu Prill (1997: 18-35), der gegen die von Frye in Anatomy of Criticism (1957) geäußerte Mythenkritik Stellung bezieht. Literatur einschränkenden, auf ihre mythologische Struktur reduzierenden und verklärenden myth criticism liefert (1957). 9 In der hellenistischen Kultur wurde der Mythos allmählich seines metaphy‐ sischen Gehaltes entleert und galt nur noch als Erzählung. Die Implikationen des „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg), die der Mythos in archai‐ schen Zeiten aufwies, werden von Erzählern und Zuhörern nicht mehr wahr‐ genommen: „les Grecs ont progressivement vidé le mythos de toute valeur reli‐ gieuse et métaphysique. Opposé aussi bien à logos que, plus tard, à historia, mythos a fini par dénoter tout « ce qui ne peut pas exister réellement ».“ (Eliade 1985: 12) Im Laufe der Zeit verliert der Mythos folglich „seine Konturen einer gelebten Geschichte“ (Assmann 2004: 206). Die Bilder des Mythos als Form des gesamten Menschheitsgedächtnisses, wie sie Lévi-Strauss in seinen anthropo‐ logischen Forschungen beschreibt, sind „nicht mehr in narrativen Zusammen‐ hängen organisiert, sondern es hängt alles mit allem zusammen“ und wird „im Kunstwerk als Zitat und Montage rearrangiert“ (ebd.). Eine der ersten Mythosdeutungen sind die allegorisierende einerseits und die euhemeristische andererseits, die sich durch ihre entgegengesetzten Perspek‐ tiven gegenüberstehen. Geht die allegorisierende Betrachtungsweise von der Übermenschlichkeit, der „göttlichen Beseeltheit“ der Natur aus, erklärt die eu‐ hemeristische Deutung den Ursprung der Mythen durch die Vergöttlichung he‐ rausragender Persönlichkeiten, die der Nachwelt als göttliche Wesen in Erzäh‐ lungen überliefert wurden: In der allegorisierenden Betrachtung, etwa bei den Stoikern und Epikureern, werden die mythischen Erzählungen hauptsächlich als Gleichnisse und Personifikationen von Naturmächten aufgefasst, welche die Folgen primitiver Unwissenheit und der allge‐ meinen Neigung der Menschen sind, das Unbegreifliche nach Menschenart zu deuten; für die euhemeristische Auffassung dagegen, die auf den griechischen Philosophen Euhemeros zurückgeht (etwa 300 v. Chr.), ist der Mythos vor allem eine Verklärung und Vergottung früherer Könige, Heroen und Weiser, wie sie sich leicht in zunehmen‐ der zeitlicher Entfernung einstellt. (Hübner 1985: 50) Die euhemeristische Mythosdeutung konnte der vorherrschenden Allegorese von Mythen kaum den Rang ablaufen, erfreute sich aber in der frühen theolo‐ gischen Apologetik großer Beliebtheit, da so das allseits präsente antike My‐ theninventar als übertriebenes Fabulieren über hellenische Herrscher abgetan werden konnte, in der Absicht, der christlichen Lehre weiter Vorschub zu leisten 26 2 Der Mythos (Eliade 1985: 193). Diese beiden frühen Deutungen des Mythischen haben sich bis ins 20. Jahrhundert hinein gehalten (Hübner 1985: 50). Noch im 19. Jahrhun‐ dert war die sprachliche Deutung der Mythenherausbildung populär, die haupt‐ sächlich von Max Müller entworfen wurde. Sie ging davon aus, dass sich der Mythos aus dem Sprachgebrauch herausgebildet habe, und sich Wörter in ihrem signifié, durch Welterklärungen Erwachsener ihren Kindern gegenüber, ver‐ selbständigt haben und fortan individualisiert auftraten. Nach Müller ist die Entwicklung der Sprache durch die zunehmende Selbständigkeit der signifiants und die Pluralisierung der signifiés zu verstehen. Die Namengebung aus der Sprache und nicht aus der Weltbetrachtung heraus ließ Müller in der Maxime gipfeln, dass der Mythos ausschließlich eine „Kinderkrankheit“ (1967: 128) und die Götter nur „Masken ohne Schauspieler, die Schöpfung des Menschen, nicht seine Schöpfer“ seien; „sie sind nomina, nicht numina: wesenlose Namen, nicht namenlose Wesen.“ (1869: 68) Dieser Ansatz stand zuvor auch bereits für die Apologie der künstlerischen Freiheit der Autoren in der deutschen Klassik, wo der Mythos nichts mit der Allegorisierung von Wahrnehmungen zu tun hatte, sondern mit der Dichtung gleichgesetzt wurde (Hübner 1985: 52 ff.). Zurück zur göttlichen Wirklichkeit des Mythos kam man in der Romantik, die den Mythos nach einer Zeit der Gleichsetzung mit superstitiösen Tendenzen wieder in eine poetologisch grundlegende Funktion einsetzte. So nahm die symbolistisch-romantische Schule nach anfänglichem Schwanken den Mythos in einer seit der Aufklärung nie dagewesenen Weise ernst […]. Hatten ihn früher die einen für etwas nur Allegorisches, Subjektives oder gar für die Ausgeburt eines fins‐ teren Aberglaubens gehalten, sahen in ihm die anderen eher das Ergebnis einer mehr oder weniger unverbindlichen künstlerischen Phantasie, einen ‚schönen Schein‘, so glaubte man nunmehr im Mythos den Ausdruck einer wieder unmittelbar erfahrbaren göttlichen Wirklichkeit erkennen zu können. Aus diesem Grunde muß man die ro‐ mantische Deutung des Mythos als eine echte geistige Revolution bezeichnen. (Hübner 1985: 75) Interessanterweise war es gerade die romantisch-symbolistische Mythosdeu‐ tung, die half, sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einer theoretischen Weltbetrachtung zu entfernen und sich einer praktisch orientierten Mythos‐ deutung zuzuwenden - man begann, den Mythos wieder als eine Daseinsform zu betrachten. Hier festigte sich der ritualistisch-soziologische Ansatz, der sich bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein hielt (Hübner 1985: 54). Der Mythos hat sich dieser Auffassung nach aus den Ritualen entwickelt. Schwierig nachzuvoll‐ ziehen ist allerdings ein Ritual ohne Mythos, selbst wenn man dem Ritual eine magische Bedeutung zukommen lässt. Der ritualistisch-soziologische Ansatz 27 2.2 Historie der Mythosdeutung hat als erster Ansatz in der Geschichte der Mythosdeutung die gesamte Lebens‐ wirklichkeit bis in alle praktischen Einzelheiten hinein in die Analyse mit ein‐ bezogen. Auch konnte sich diese Deutung, verglichen mit allem, was vor ihr zum Mythos gesagt wurde, auf ein beträchtlich erweitertes und vertieftes eth‐ nologisches Material stützen. Da aber einige, vor allem die Evolutionstheore‐ tiker, dem Mythos das primitive Stadium der Menschheitsentwicklung zu‐ schrieben, erhielt der Mythos auch den Beigeschmack des Vergangenen und der wissenschaftlichen Entwicklung des Menschen Entgegengesetzten. Die These von einer primitiven Geistesdisposition der Naturvölker widerlegte spätestens Claude Lévi-Strauss mit seiner anthropologischen Forschung über die Kultur der Ethnien auf den amerikanischen Kontinenten. Die vor allem von W. R. Smith propagierte „Abhängigkeit des Mythos vom Ritus“ betont, dass „beinahe in jedem Fall der Mythos vom Ritus hergeleitet ist und nicht der Ritus im Mythos wurzelt.“ (Hübner 1985: 55). Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts kam man zu der Auffassung, dass Mythos und Ritus nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen, da sie eine untrenn‐ bare Verbindung eingehen ( J. E. Harrison), und dass der Mythos nicht ein Abs‐ traktum aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen darstellt, der die My‐ thologie als ein Konstrukt a posteriori entwickelt (Hübner 1985: 56 f.), sondern dass die Mythologie auf ein konkretes Erleben und Ausdeuten der direkten Wahrnehmung zurückgeht: Mythos und Ritual sind also eigenständige Gebilde, die Strukturgesetzen folgen. My‐ then sind Erzählungen, gehorchen den Gesetzen der literarischen Gattung, in der sie erzählt werden, sind auch zusammengebaut aus erzählerischen Schemata, die von Mythos zu Mythos wandern […]. Die philologische Methode, innerhalb solcher Motive Prioritäten aufzustellen, ursprüngliche von späteren Versionen trennen zu wollen, erscheint vor diesem Hintergrund voller Probleme. Ganze Mythen ihrerseits wandern von Kult zu Kult (Graf 2004: 111 f.). Dass die Entgegensetzung von Mythos und Ritus in der philologischen Methode anachronistisch ist, zeigt sich allein in der Form, in welcher der Mythos nach dem aktuellen Stand der Forschung dem Rezipienten vorliegt - und ihn damit gleichzeitig zu Produzenten von Mythen werden lässt: „Der Mythos deutet nicht nur den Ritus polyvalent, er selbst wird zum Gegenstand polyvalenter Deu‐ tungen, denn der Mythos geht bereits am Beginn seiner literarischen Bearbei‐ tungen keine feste Verbindung mit einer bestimmten Gattung ein.“ (Prill 1997: 25) Der Mythos lädt demnach bereits von seiner Grunddisposition her zum Kom‐ binations-Spiel ein, er erweist sich als Sonderfall einer ludischen ars combina‐ 28 2 Der Mythos toria (Prill 1997: 25). Nach Georg Friedrich Creuzer (1837/ 1973: 93) ist „durch die poetische Mythik der Griechen der höchste Ernst grauer Vorzeit in ein freies Spiel der Phantasie ausgeartet“. Diese ludische Mythosdeutung kam im beson‐ derem Maße der Psychoanalyse Sigmund Freuds entgegen, die den Mythos da‐ hingehend aufwertete, dass sie ihm eine allgemeine Gültigkeit zuschrieb und ihn als Ausdrucksform der menschlichen Psyche würdigte. Freuds Deutung der Ödipusmythe läutet den Beginn des modernen Umgangs mit dem Mythos ein (Freud 1999). Auch den Totemismus und Tabuismus, von der Bewegung der ritualistisch-soziologischen Mythosdeutung hervorgehoben (Freud 1995), je‐ doch noch als primitiver ritualistischer, magischer Animismus gedeutet, nutzt Freud zur Entwicklung der psychoanalytischen Deutung der Mythologie, bei der die Sublimation des Sexualtriebes im Vordergrund stand (Hübner 1985: 59). Entscheidende Vorarbeit zur psychologischen Mythosauslegung leistete Fried‐ rich Nietzsche, nicht zuletzt durch seine gegen die kategorisierenden Methoden der zeitgenössischen Philologie gerichtete Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). Mit der von Strukturalisten wie Lévi-Strauss scharf kritisierten psychoanaly‐ tischen Sicht (Lévi-Strauss 1971: 560) gewinnt der Mythos seine antike, über‐ zeitliche Bedeutung zurück, wird jedoch als vom menschlichen Seelenleben ausgehend betrachtet. Im Zuge des im 19. Jahrhundert sich ausprägenden Indi‐ vidualitätskultes wird der Mythos folglich zum Ausdruck subjektiven Erlebens. Zur wissenschaftlichen Hypothesenbildung steht die Subjektivität damit end‐ gültig auf derselben Stufe wie die zwar stets erstrebenswerte, jedoch nur theo‐ retisch erreichbare wissenschaftliche Objektivität. Bemerkenswert ist, dass die Konzentration auf die Subjektivität, die seit der cartesianischen Trennung zwi‐ schen Objekt und Subjekt bereits seit Jahrhunderten möglich war, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Mythosforschung berücksichtigt wurde (Hübner 1985: 57). Hieran erkennt man, wie lange der Mythos in Wissenschaftskreisen als Ausdruck menschlicher Primitivität und mangelnder Entwicklung der Spe‐ zies homo sapiens galt. Von den genannten Möglichkeiten der Mythosdeutung und ihrer Weiterent‐ wicklungen eignen sich einige in besonderem Maße als Grundlagentexte für die Untersuchung der dionysischen Mythopoiesis im dramatischen Werk von Lau‐ rent Gaudé. Es sind dies, um die wichtigsten zu nennen, der psychoanalytische Ansatz von Carl Gustav Jung, der strukturalistische Ansatz von Claude Lévi-Strauss sowie der philosophische Ansatz Hans Blumenbergs, die im Fol‐ genden genauer besprochen werden. Die Punkte, die dort anklingen, mögen zunächst ein wenig weit ausgeholt erscheinen, jedoch sind sie nicht nur als 29 2.2 Historie der Mythosdeutung einführende und überblickhafte Erklärung gedacht, sondern werden gerade in der späteren Analyse von Gaudés Dramen aufgegriffen. 2.3 Der Mythos als philosophische Größe - die Ansätze von Jung, Lévi-Strauss und Blumenberg 2.3.1 Carl Gustav Jungs Archetypen In seiner psychoanalytischen Untersuchung Die Archetypen und das kollektive Unbewußte zeigt C. G. Jung, dass der Mythos und die psychoanalytische Schule Sigmund Freuds keinen Widerspruch darstellen müssen. Aus den mythischen αρχάι (archái) hat Carl Gustav Jung die von ihm so bezeichneten Archetypen entwickelt, die er in seiner Therapie als Schlüssel für die Unbewussten Traumata seiner Patienten katalogisierte und miteinander in Beziehung setzte und die in der Folge als Initiationstypen in die Mythosforschung eingegangen sind ( Jacobi 1989). Die Wiederholung und die Gleichgestaltigkeit dieser Typen beruhen auf den Mythen, die menschliche Lebenserfahrungen wie Geburt, Erwachsen‐ werden, Älterwerden und Tod wiedergeben (Hübner 1985: 136 f.). Der von Jung geprägte Begriff des „Archetypus“ ist eine erklärende Umschreibung des plato‐ nischen eidos (‚Bild‘, ‚Idee‘): Bei den „kollektiv-unbewussten Inhalten“ handelt es sich nämlich um „altertümliche oder - besser noch - um urtümliche Typen, das heißt seit alters vorhandene allgemeine Bilder“ ( Jung 1976: 14). Archetypen sind in der Hauptsache Weltursprungsbilder, welche einerseits die Entstehung der vom Menschen wahrgenommenen Welt erzählen und die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung aufzeigen sowie andererseits die Überschreitung dieser Grenzen thematisieren. Nach Fritz Graf gehörte „aitio‐ logische Mythenerzählung […] schon immer zu den griechischen Kulten.“ (2004: 116) Jung stellt anthropologisch-psychologische Grundmuster in den Mittel‐ punkt seiner Analyse. Der Mythos vermittelt seiner Ansicht nach in erster Linie psychologische Urtypen. Der Begriff „Mythos“ wird bei Jung folglich zu einem abstrakten Begriff für den Spiegel des menschlichen Unterbewusstseins. Durch ihre, von Jung angenommene, mythisch anmutende Existenz a priori bilden die Archetypen und das kollektive Unbewusste eine untrennbare Einheit ( Jung 1976: 55 f.). Die aus Mythen analysierbaren Archetypen liefern für den schwei‐ zerischen Psychoanalytiker den Beweis der Kontinuität des Mythischen im kol‐ lektiven Unbewussten und den der Parallelität von Traumereignissen in unter‐ schiedlichen Individuen (ebd.: 65 f.). 30 2 Der Mythos Auch das Dionysische bildet für Jung einen zentralen Aspekt seiner Psycho‐ logie, da er es, stellvertretend für die Funktion des Mythos im Allgemeinen, mit dem kollektiven Unbewussten gleichsetzt (Baeumer 2006: 358). Ähnlich wie im dionysischen Rausch tauchen in Träumen die durch Mythen vermittelten, im Unterbewusstsein eines jeden Menschen schlummernden Archetypen wieder auf. So liefert für Jung der Traum den Beweis, dass die Archetypen ins „kollek‐ tive Unbewußte“ übergegangen sind ( Jung 1976: 13). Archetypen sind, Jung zu‐ folge, „Erlebniskomplexe, die schicksalsmäßig eintreten, und zwar beginnt ihr Wirken in unserem persönlichsten Leben.“ (ebd.: 39) Auch durch diese Sponta‐ neität gewinnen die Archetypen einen dionysischen Aspekt, der sie in literari‐ sche Sachverhalte einbettet, in denen Grenzüberschreitungen und ekstatische Ausbrüche zum Tragen kommen. Archetypen wie der „Wanderer“ und die „Ab‐ fahrt in die Finsternis“ stehen exemplarisch für das Phänomen der Grenzüber‐ schreitung und eignen sich daher für die Analyse dionysischer Mythopoiesis. Für die Untersuchung dionysischer Aspekte in der Literatur bedeutend ist zudem, dass Jung seinen psychoanalytischen Ansatz auf Gegensätze stützt, welche die Archetypen in sich vereinigen können (ebd.: 208; 242 f.). Archetypen sind eng mit Ereignissen, Handlungen und Figuren der antiken Mythologie verknüpft ( Jung 1976: 49; 93) und finden so ihre Einheitlichkeit und ihr „völkergeschichtliches Vorkommen“ (ebd.: 82). Jung greift damit einer These von Lévi-Strauss vor, der in seinen strukturalistisch ausgerichteten, anthropo‐ logischen Untersuchungen eine strukturelle Kontinuität in den Mythen unter‐ schiedlicher Völker selbst über Kontinente hinweg festmachte. Das Inventar an Mythen einer Gemeinschaft ist für Jung Ausdruck des kollektiven Unbewussten (ebd.: 168), das zugleich die Beständigkeit des Mythos ausmacht (ebd.: 280). Das Verhältnis zwischen Mythos und Archetypus sieht Jung ähnlich eng wie das zwischen Mythos und kollektivem Unbewussten. Jedoch umschreibt der Mythos nur den Archetypus, der selbst nicht vollständig als Bedeutungskern entziffert werden kann. Wie der Mythos ist der Archetypus damit im Kern starr, jedoch ist die Peripherie - beim Archetypus sind dies Bilder und Symbole - hochgradig variationsfähig. Wie das Mythem ist das archetypische Symbol nach mehreren Seiten offen und lässt diverse Entwicklungen und Assoziationen zu. Ein Archetypus kann aber nicht genau erfasst, sondern nur übersetzt werden in Bildsprache, in Mythos ( Jung 1976: 170). Jung setzt eine kollektive Einheit von Mythen voraus; für ihn ist die kulturelle Kontinuität der Mythen nicht der „anthropologische Endpunkt“, sondern der Ausgangspunkt, der ihn zu den Ar‐ chetypen und dem kollektiven Unbewussten führt (ebd.: 80). Damit gerät Jungs Ansatz in Widerspruch zur strukturalistischen Mythenanalyse von Lévi-Strauss, 31 2.3 Mythentheoretische Ansätze welche die mythologische Kontinuität als Forschungsergebnis akribischer anth‐ ropologischer Forschungen präsentierte. Wie die ersten Mythosforscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts führt auch Jung die Generierung von Mythen auf naturverbundene Völker zurück, deren geistige Unterentwicklung er mit der Unfähigkeit, zwischen Phantasie und Wahrnehmung zu unterscheiden, begründet ( Jung 1976: 170) - eine Haltung, die auch noch nach Jung zu finden ist. Auch die antiken griechischen Mythen sind für Jung Ausdruck eines primitiven geistigen Stadiums: „Die primitive Geistesverfassung erfindet keine Mythen, sondern sie erlebt sie.“ (ebd.: 168) Jung äußert sich gegen die Theorie der primitiven Urgewalt und stellt sie den Trieben der zivilisierten Menschen gegenüber: „Die im zivilisierten Menschen aufge‐ stauten Triebkräfte sind ungeheuer destruktiv und um vieles gefährlicher als die Triebe des Primitiven, der seine negativen Triebe beständig in bescheidenem Maße lebt.“ (ebd.: 148 f.) Damit ist für Jung die griechische Fundamentalontologie der Wahrnehmung der Welt als Unmittelbarkeit des mythischen Wirkens pri‐ mitiv; er stellt die psychoanalytische Herangehensweise als absolut und über‐ zeitlich geltend über die völlig anders geartete Ontologie des antiken Griechen‐ land. Jung ist der Überzeugung, dass das Psychologische durch die religiöse Entwicklung der Tragödie offen liegt, er stellt folglich den Anspruch der Über‐ einstimmung seiner Fundamentalontologie mit der antiken, was Klaus W. Hempfer als ungerechtfertigte Anmaßung ablehnt. Nach Hempfers Ausfüh‐ rungen kann die Psychoanalyse nicht für sich beanspruchen, sämtliche Onto‐ logieansätze in sich aufzunehmen und damit zu einem allgemein und überzeit‐ lich gültigen Konzept zu werden. Hempfer konstatiert, dass „prinzipiell jedes Wissenschaftssystem respektive jede wissenschaftliche Aussage eine spezifi‐ sche Ontologie impliziert“ (1976: 17). Insofern als Carl Gustav Jung seine Ar‐ chetypen aus der Analyse von Mythen, Sagen und Märchen ableitete, stellt die Arbeit von Kurt Hübner (1985) eine konsequente Weiterentwicklung dar, näm‐ lich die „Wahrheit“ und die Wahrnehmung des Mythos an seiner bewussten und unbewussten Mimesis zu überprüfen (vgl. Auerbach 2015; Petersen 2000: 259-268). Für Jung ist der Kairos, sämtliches Eindringen des Mythischen und Göttlichen in die menschliche Wahrnehmungswelt, keine unmittelbare Erfahrung des Nu‐ minosen, sondern geht aus der Sphäre des Unbewussten der menschlichen Psyche hervor. Folglich ist Jungs Mythenkonzeption ausschließlich psycholo‐ gisch motiviert und hat nichts mit dem gleichzeitigen objektiven und subjek‐ tiven Erfahren des Mythos gemein, das Hübner und Eliade bei den Menschen der griechischen Antike beschreiben (Hübner 1985: 127; Eliade 1985: 17). Jung geht davon aus, dass der Mensch sich seine Realität selber erschafft (1976: 135); 32 2 Der Mythos 10 Die Begriffe Mythem und Mythologem werden in der einschlägigen Forschungsliteratur als Synonyme behandelt; Lévi-Strauss bevorzugt den Begriff Mythem, während Blu‐ menberg und Otto den Begriff Mythologem vorziehen. der Jung’sche Mythosbegriff ist damit endogen und ausschließlich auf psycho‐ analytische Zwecke ausgerichtet, was ihm viel Kritik eingebracht hat. So ver‐ gleicht Eliade den Jung’schen Ansatz mit einem Ursprungsmythos, da er, der geisteswissenschaftlichen Mythosforschung entgegengesetzt, einschränkend zurückgreift, und er gibt zu bedenken: „C’est le processus, le devenir, l’évolution qui corrigent, peu à peu, la pénible pauvreté des « commencements ».“ (Eliade 1985: 101) 2.3.2 Der strukturalistische Ansatz - Claude Lévi-Strauss Claude Lévi-Strauss zeigt die Interferenz der Mythen auf, die er in den ersten drei Bänden seiner Mythologiques anhand der Mythen von Volksstämmen Süd- und Nordamerikas untersucht (1964: 12 f.; 1967: 50; 1968: 315 f.). Hieraus leitet er die These ab, dass alle von ihm analysierten Mythen in genau feststellbaren Relationen zueinander stehen; sie bestehen aus eindeutig segmentierbaren Ele‐ menten, die durch ein aus der Sprachwissenschaft entlehntes strukturalistisches System klassifizierbar sind (1962: 28). Die strukturalistische Phonologie ist für Lévi-Strauss der Anknüpfungspunkt zwischen seiner strukturalistisch orien‐ tierten Mythosforschung und der Anthropologie (Meichsner 2008). Vor allem formale Kriterien sind für den Mitbegründer der modernen Anthropologie grundlegend; sie dienen dazu, einen Mythos wissenschaftlich zu erfassen. Ob‐ gleich der Mythos aufgrund seiner sprachlichen Flexibilität eine Sonderstellung in der Sprache einnimmt, ist er nach Lévi-Strauss nichtsdestotrotz ein Teil der Sprache. Demnach ist es möglich, ihn mit sprachwissenschaftlichen Methoden zu segmentieren und zu klassifizieren, wie es in der Phonologie oder in der Morphologie geschieht. So kann ein Mythos mit all seinen verschiedenen Ver‐ sionen in große konstitutive Einheiten, in Mytheme (mythèmes) 10 untergliedert werden (Lévi-Strauss 1958: 233). Nach dem Prinzip der strukturalistischen Phonologie werden in Lévi-Strauss’ Ansatz die Mytheme ihren „natürlichen“, alltäglichen Kombinationen entrissen, wie die Phoneme aus der Lautkette, und nach ihrer Segmentierung durch Ana‐ lyseverfahren verwissenschaftlicht wieder zusammengebaut, wo sie dann durch Minimaloppositionen ihren festen Platz in der Struktur des Systems erhalten. Diese Art der Mythenanalyse nennt Lévi-Strauss „bricolage intellectuel“ (1962: 26). Der Anthropologe ist sich der Schwierigkeit der Reduktion eines Mythos auf seinen narrativen Kern bewusst und spricht deshalb von Sinneinheiten, die 33 2.3 Mythentheoretische Ansätze in sich kohärent sind und aufgrund ihrer Rekurrenz als solche identifiziert werden können: „Les véritables unités constitutives du mythe ne sont pas les relations isolées, mais des paquets de relations, et que c’est seulement sous forme de combinaisons de tels paquets que les unités constitutives acquièrent une fonction signifiante.“ (1958: 233 f.) So wie Lévi-Strauss eine Verbindung zwischen Linguistik und Anthropologie hergestellt hat, ist für ihn auch eine Übertragung der Methoden der struktura‐ listischen Verfahrensweisen der Linguistik auf Mythen möglich. Hinsichtlich der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Mythen nimmt der Mythos laut Lévi-Strauss eine Sonderstellung im Vergleich zur alltäglichen sprachlichen Re‐ alisierungen ein: „Si nous voulons rendre compte des caractères spécifiques de la pensée mythique, nous devrons donc établir que le mythe est simultanément dans le langage, et au-delà.“ (1958: 230) Erst bei der kulturellen Verbreitung der Mythen kristallisiert sich ihr mythologischer Kern heraus (1971: 560). Solange sie nicht an die Grundbedeutung eines Mythos rühren, kann man bei den un‐ zähligen Mythenversionen durchaus von kombinatorischen Varianten, „vari‐ antes combinatoires“ (Lévi-Strauss 1958: 247), sprechen, andernfalls handelt es sich um „variations significatives“ eines Mythos (ebd.: 245). Eliade teilt die An‐ sicht von Lévi-Strauss, dass Mythen, anhand ihrer im menschlichen Denken verankerten Struktur flächendeckende, Kulturkreise und Kontinente übergrei‐ fende Übereinstimmungen aufweisen: Les mythes indiens, avant d’être « indiens » , sont des « mythes », c’est-à-dire qu’ils font partie d’une catégorie particulière de créations spirituelles de l’humanité ar‐ chaïque; par conséquent, ils peuvent être comparés à n’importe quel autre groupe de mythes traditionnels. (Eliade 1952: 73) Besonderes Augenmerk legt Lévi-Strauss darauf, dass Mythen nur in tra‐ dierter Form vorliegen und bei jeder Rezeption auf individuelle Weise deformiert werden (1971: 576). Für Lévi-Strauss gibt es keinen Urmythos oder Originalmy‐ thos, er betrachtet alle uns bekannten Mythen als Rezeptionen, so dass es über‐ haupt nicht darauf ankommt, nach der ursprünglichen Form zu suchen. Diese Methode macht jeden Mythos, jede Abwandlung zu einem eigenständigen My‐ thos, der analysierbar ist. Ein hoher Grad an Wissenschaftlichkeit kann so er‐ reicht werden, da mit der von Lévi-Strauss eingeführten Methode eine Wertung der Mythen nach der Treue zum Original nicht mehr zulässig ist. Jeder Mythos ist somit ein gleichwertiger Beweis der Mythenrezeption, der sich stets aus der Gesamtheit seiner Versionen und nicht nach deren chronologischer Abfolge de‐ finiert - die Zeitperspektive lässt Lévi-Strauss, typisch für den Strukturalismus, ohnehin außen vor (1958: 240). Dieses Prinzip erläutert Lévi-Strauss mit einem 34 2 Der Mythos markanten Beispiel. Der von Homer oder Sophokles vorgetragene Ödipus-My‐ thos ist nicht etwa der originale Mythos; er ist genauso eine Rezeption wie der Stoff, den Sophokles in seiner Tragödie König Ödipus verarbeitet hat und die Version des Mythos, den Freud rezipiert, wenn er den ödipalen Komplex kon‐ stituiert. Die Gleichwertigkeit der Mythenversionen wird von Lévi-Strauss nachdrücklich unterstrichen: De ce qui précède résulte une conséquence importante. Puisqu’un mythe se compose de l’ensemble de ses variantes, l’analyse structurale devra les considérer toutes au même titre. […] Il n’existe pas de version « vraie » dont toutes les autres seraient des copies ou des échos déformés. Toutes les versions appartiennent au mythe. (Lévi-Strauss 1958: 240 ff.) Um in diese Methode die Unbegrenztheit der möglichen Varianten einzu‐ rechnen, nimmt Lévi-Strauss an, dass der Mythos neben der Vielschichtigkeit seiner Versionen zugleich beständig wächst - eine gegenteilige Meinung zu der vieler moderner Mythosforscher, die schon oft das Ende des Mythos prophezeit haben. Für Lévi-Strauss liegt das Mythenwachstum in den kontradiktorischen Versionen begründet. Ein Mythos kann somit eine unendliche Anzahl von Ver‐ sionen aufweisen. Die Transformation des Mythos geschieht durch die Über‐ lieferung, das Weitertragen des Mythos von Mund zu Mund: Au sein de chaque société, l’ordre du mythe exclut le dialogue : on ne discute pas les mythes du groupe, on les transforme en croyant les répéter. Le long d’une chaîne de narrateurs successifs, le son et le sens, unis dans le discours mythique, se déplacent solidairement de proche en proche […]. (1971: 585 f.) Somit ist jede Rezeption des Mythos zwangsweise eine Abweichung der vorangegangenen Version, ähnlich der Aktivität des Bastelns, bei der jedes handgefertigte Objekt zwar Ähnlichkeit zu vergleichbaren Objekten hat, jedoch ein Unikat ist. Jede Mythomimesis, jede Nachahmung eines Mythos, ist damit zugleich Mythopoiesis, kreativer, schöpferischer Umgang mit Mythen. Jeder Erzähler eines Mythos gibt seiner Erzählung folglich eine poetische, individuelle Note: La poésie du bricolage lui vient aussi, et surtout, de ce qu’il ne se borne pas à accomplir ou exécuter; il « parle », non seulement avec les choses, comme nous l’avons déjà montré, mais aussi au moyen des choses : racontant, par les choix qu’il opère entre des possibles limites, le caractère et la vie de son auteur. Sans jamais remplir son projet, le bricoleur y met toujours quelque chose de soi. (1962: 32) 35 2.3 Mythentheoretische Ansätze Da der Mythos ständiger Veränderung unterworfen ist, gerät selbst die De‐ montage oder die Pervertierung zu einer Transformation des Mythos: La pensée mythique est par essence transformatrice. Chaque mythe, à peine né, se modifie en changeant de narrateur, que ce soit à l’intérieur du groupe tribal ou en se propageant de peuple à peuple; certains éléments tombent, d’autres les remplacent, des séquences s’intervertissent, la structure distordue passe par une série d’états dont les altérations successives préservent néanmoins le caractère de groupe. (1971: 604) Der Umgang mit dem Mythos ist damit eine „forme intellectuelle de bricolage“ (Lévi-Strauss 1962: 32). Das „intellektuelle Basteln“ bringt stets neue Versionen zu Tage, so dass die schriftliche Form dieser bricolage-Technik mit dem Begriff der Mythopoiesis verglichen werden kann. Lévi-Strauss ist davon überzeugt, dass das menschliche Denken nicht ohne den Mythos auskommt. So ist es ihm zufolge un‐ möglich, den Mythos objektiv und unabhängig von anderen Mythen zu erklären: Der Mythos entzieht sich der vollständigen Analyse, jeder Beobachter des Mythos ist gleichzeitig in ihn verstrickt. Es gibt demnach keine Metaebene des Mythos, die mythische Ebene ist der einzig mögliche Bewegungsraum - konsequent logisch und problematisch zugleich ist diese These, da nach dieser Auffassung keine me‐ tasprachliche Behandlung des Mythos möglich wäre. Blumenberg unterstützt die Lévi-Strauss’sche These, wenn er sagt, hinter dem Mythos befinde sich nicht etwa der Meta-Mythos, sondern eine weitere Ebene von Mythen (Blumenberg 1979: 15f.). Erklärungen und Analysen des Mythos sind daher nur durch einen anderen Mythos möglich. Das menschliche Denken ist damit unausweichlich in verschie‐ dene Mythenebenen gegliedert (Lévi-Strauss 1971: 561f.). Nach Lévi-Strauss benutzt jeder Mythos eine invariante Struktur, um seine Botschaft zu transportieren und ist somit durch ein extrahierbares, festschreib‐ bares System analysierbar: Le mythe […] utilise une structure pour produire un objet absolu offrant l’aspect d’un ensemble d’événements (puisque tout mythe raconte une histoire). L’art procède donc à partir d’un ensemble : (objet + événement) et va à la découverte de sa structure; le mythe part d’une structure, au moyen de laquelle il entreprend la construction d’un ensemble : (objet + événement). (1962: 38) Roland Barthes geht Hand in Hand mit Lévi-Strauss, wenn er seinen Blick auf die mythes de tous les jours richtet (Roloff 2004: 25 ff.), deren strukturalistische Analyse er folgendermaßen schematisiert: 36 2 Der Mythos Abbildung 1: Strukturalistische Mythenanalyse nach Roland Barthes Strukturalistische Mythenforscher schaffen sich durch eine derart angelegte Ana‐ lyse (découpage) und die in einem zweiten Schritt erfolgende Neuordnung der Ele‐ mente (agencement) ein Abbild (simulacre) des Objektes und gelangen so zur Struktur der analysierten Mythen - sie leisten folglich einen wichtigen Beitrag zur Freilegung der übergeordneten Struktur des menschlichen Denkens (Barthes 1964: 215ff.). Ähnlich wie für Barthes ist für Lévi-Strauss die folgende, ebenfalls zwei‐ stufige Verfahrensweise für die strukturalistische Mythenanalyse verbindlich, die sich jedoch durch entgegengesetzte Richtungen von Barthes’ Schema abhebt: Structure(s) → objet absolu → événements → histoire = construction Structure(s) ← objet absolu ← événements ← histoire = découverte. (Lévi-Strauss 1962: 38) Auf die (mythopoietische) Literatur übertragen, kennzeichnen die sich aus dem Schema ergebenden Verfahrensrichtungen die Vorgehensweise der münd‐ lich oder schriftlich operierenden Autoren (construction) und die der Rezipienten (découverte). Um die grundlegende Struktur anthropologischer Konstanten, die sich nach Annahme von Lévi-Strauss hinter jedem Mythos verbergen, freizu‐ legen, müssen literaturwissenschaftlich orientierte Mythenanalysten die ent‐ gegengesetzte Richtung des Produktionsprozesses der Mythen einschlagen. Das Lévi-Strauss’sche Schema erweist sich jedoch auch als durchlässig und reagiert damit auf den stets polyvalenten Umgang mit Mythen: Mythenerzähler können nicht umhin, im Produktionsprozess Mythen zunächst zu rezipieren, mitunter gar auseinanderzunehmen, ihnen auf die Spur zu kommen (découverte), bevor sie die Mytheme nach eigener Façon zu einer neuen Version zusammensetzen. Genauso befinden sich Forscher bei ihrer Analyse auch auf der Ebene der Syn‐ these wieder, da sie in ihrer Deutung stets und unumgänglich eine eigene Ver‐ sion des Mythos vorlegen. Der Wissenschaftler, der Mythen analysiert, ist für Lévi-Strauss aber nicht allein Mythologe, sondern leistet überdies einen wich‐ tigen Beitrag zur Entdeckung der Struktur an sich, und zur Bekämpfung der für ihn nur scheinbaren Arbitrarität der Zeichen (Lévi-Strauss 1964: 18). Widersprüchlich bleibt bei den Beobachtungen von Lévi-Strauss allerdings, dass er, entgegen seinen Ausführungen, doch einen invarianten Ursprungs- oder Ausgangsmythos annimmt, wenn er die These aufstellt, dass alle auf der Welt 37 2.3 Mythentheoretische Ansätze zu findenden Mythenversionen eine übergeordnete Struktur des menschlichen Denkens aufdecken. Da Für Lévi-Strauss Mythen durch die Gesamtheit ihrer Mytheme definiert werden (Blumenberg 1979: 300), wie ein Phonem oder Mor‐ phem sich durch all seine Allophone respektive Allomorphe definiert, ist die Zeitperspektive ausgeklammert, was Lévi-Strauss unter den Mythosforschern harsche Kritik eingebracht hat (Hempfer 1976: 20; Hübner 1985: 68): „Der Fall, den das Lévi-Strauss’sche System nicht vorsieht, ist, daß die ‚Version‘ sich von ihrer zugrundeliegenden mythischen Struktur emanzipiert und in ein von he‐ terogenem Interesse bestimmtes Verhältnis zu dieser eintritt.“ (Stierle 1971: 456) Gerade diese Emanzipation aber benötigt man, wenn man Mythopoiesis unter‐ suchen will. Was Lévi-Strauss später selbst als Schwierigkeit seines zweifels‐ ohne fundamentalen Beitrags zur Mythosforschung eingeräumt hat, ist die strukturalistisch-ahistorische Form des Mythos, des bricolage, der zwar die Um‐ wandlung und Neuanordnung mythischen Materials vorsieht, jedoch keine Antwort auf die neuen Tendenzen in der Mythopoiesis findet. Denn seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts wird dieser bricolage immer wieder ins Extreme getrieben; Blumenberg spricht vom „Zuendebringen des Mythos“ (Blumenberg 1971: 31; 79), Stierle von der Grenzerfahrung durch „Radikalisierung der my‐ thischen Ambiguität“ (1971: 461; vgl. Dörr 2004: 45 f.): Die Formel vom ‚Mythos als bricolage‘ bedarf für die jüngste Rezeptionsstufe antiker Mythen der Modifikation. Die Rätselhaftigkeit moderner Versionen antiker Mythen setzt sich von der allegorischen oder symbolischen Durchsichtigkeit vorausliegender Wiederaufnahmen entschieden ab. Das weist auf eine Besonderheit moderner My‐ thenreproduktion: ihre Tendenz, das Gesetz der variationsfundierenden Isotopie auf‐ zubrechen und so den Mythos an eine Grenze zu führen. (Stierle 1971: 460 f.) Die vom Strukturalismus herrührende Entscheidung zur Absolutsetzung der synchronen Betrachtungsweise bringt Blumenberg als zentrale Kritik an Lévi-Strauss’ Ansatz hervor und gibt zu bedenken: „Vielleicht steht die mor‐ phologische Vergleichbarkeit in der synchron-räumlichen Diffusion der My‐ theme sogar in einem Zusammenhang mit ihrer Haltbarkeit im diachronen Transport.“ (Blumenberg 1979: 302 f.) Eben dieses Verhältnis zwischen morpho‐ logischer Vergleichbarkeit und diachroner Haltbarkeit sowie dessen Überprü‐ fung bilden die substantielle Fragestellung vieler aktueller literaturwissen‐ schaftlicher Arbeiten, die sich der Analyse von Mythopoiesis verschrieben haben ( Jünke/ Schwarze 2007; Krüger/ Stillmark 2013). Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Forschungen von Lévi-Strauss für die li‐ teratur- und kulturwissenschaftliche Analyse des Gebrauchs von Mythen sehr hilfreich sind, nicht zuletzt, weil sie die Fähigkeit zu Variation und Abstraktion 38 2 Der Mythos des menschlichen Geistes intersubjektiv verdeutlichen. Da es für einen Mythos seiner Ansicht nach stets eine „Vor-Lage“, nie jedoch ein Original gibt, setzt Lévi-Strauss den Umgang mit Mythen mit der musikalischen Kompositions‐ praxis tema con variazioni gleich (1971: 577; Fuhrmann 1971: 140). Er beschreibt Musik als „Mythe codé en sons au lieu de mots“ (Lévi-Strauss 1971: 589). Aus‐ gehend vom strukturierten Mythos betrachtet Lévi-Strauss anhand seiner empi‐ rischen, anthropologischen Untersuchungen die gesamte Kultur wie ein musi‐ kalisches Thema, das vielfältig variiert wird (1962: 119). Die Verbindung von Mythos und Musik stellt für ihn eine fruchtbare Vereinigung dar, da sie sich auf formale Aspekte stützt, die beiden Disziplinen gemein sind (1971: 599). Der Ver‐ gleich zwischen Musik und Mythologie ist gerade für die Untersuchung von Literatur durchaus fruchtbar, da man so spielerisch Texte unterschiedlichster Couleur zusammenbringen und vergleichen kann, ohne dass sich die zugrun‐ deliegende Auswahl dem Vorwurf der Willkür aussetzt. Hinzu kommt die Eig‐ nung des Lévi-Strauss’schen Ansatzes zur intermedialen Untersuchung von Kunst im weiteren Sinne: Der Spielcharakter der Kunst macht Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen zu „homines ludentes“ (Huizinga 2004; Prill 2002: 8-17), gibt ihnen die Möglichkeit, sowohl für eigene Zwecke zu arbeiten als auch zur Bereicherung der Gesamtheit künstlerischer Ausdrucksformen beizutragen und ist die letztendliche Legitimation jeglicher geisteswissenschaftlicher Ver‐ fahren, die zwangsweise niemals erschöpfend sein können. 2.3.3 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos Hans Blumenberg liefert mehrere detaillierte Definitionen des Mythosdiskurses seit der Antike, wobei im Vordergrund seines Verständnisses immer die grund‐ legende, substanzielle Eigenschaft der Variation steht: Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften ma‐ chen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildne‐ rischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel „Thema mit Variationen“ in seiner Attraktivität für Kom‐ ponisten wie Hörer bekannt ist. Mythen sind daher nicht so etwas wie „heilige Texte“, an denen jedes Jota unberührbar ist. (Blumenberg 1979: 40) Die griechischen Grundbedeutungen des Lexems μύθος allein erfassen für Blu‐ menberg die Tragweite des Begriffes nicht, denn der Blumenberg’sche Mythos‐ begriff umschließt nicht nur Erzählungen, sondern auch die Fähigkeit des Men‐ 39 2.3 Mythentheoretische Ansätze schen, durch Sprache Erzählungen zu formen. Mit dem System, das die vom Menschen wahrgenommene Umgebung benennt, beginnt für Blumenberg be‐ reits er Mythos: Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen. Dieser Sachverhalt steckt in der biblischen Frühgeschichte von der paradiesi‐ schen Namengebung. Er steckt aber auch in dem aller Magie zugrunde liegenden Glauben, wie er noch die Anfänge von Wissenschaft bestimmt, die treffende Benen‐ nung der Dinge werde die Feindschaft zwischen ihnen und dem Menschen aufheben zu reiner Dienstbarkeit. Der Schrecken, der zur Sprache zurückgefunden hat, ist schon ausgestanden. (Blumenberg 1979: 41) Der Prozess, in welchem sich die griechische Göttergenealogie immer weiter von den anfänglichen Schreckensmythen entfernt, nennt Blumenberg die „Ver‐ fahrensordnung“ des Mythos (ebd.: 127), womit er eine Erkenntnis von Lévi-Strauss aufnimmt, nach der Mytheme vielschichtig ineinandergreifen und ein komplexes System bilden, das dem der Sprache ähnelt. Die Mytheme sind demnach aus dem System der Mythen extrahierte, segmentierte Versatzstücke, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte verschiedene Funktionen erfüllen können. Ein Mythos besteht, nach Blumenbergs Übernahme der von Lévi-Strauss auf die Mythologie angewandten strukturalistischen Analyse, aus einem als narrativen Kern klassifizierten, invarianten Mythem, um das sich eine unbegrenzte Anzahl variierbarer Mytheme reihen kann. Ein Mythos kann ge‐ rade deshalb so viele Mytheme haben, wie Varianten seiner Rezeption vor‐ handen sind, da er nicht normativ ist. Die Funktionsweise des Mythos ist zu versichern: Die Entscheidung fällt in der Ferne, räumlich oder zeitlich, spektakulär, nicht moralisch. (Blumenberg 1979: 129) […] Was dem Mythos fehlt, ist jede Tendenz zur ständigen Selbstreinigung, zum Bußritual der Abweichungen, zum Abstoßen des Unzugehörigen als dem Triumph der Reinheit, zur Judikatur der Geister. Der Mythos hat keine Außenseiter, die die dogmatische Ein‐ stellung benötigt, um sich unter Definitionsdruck zu halten. (ebd.: 264) Der narrative Kern bleibt nicht deshalb erhalten, da er vom Mythos oder einer rezipierenden Instanz dogmatisiert wird, sondern er kristallisiert sich gerade durch die Variabilität seiner Peripherie, als minimale aber grundlegende Einheit zum Transport der Erzählung, heraus. Beim Prozess des Erzählens verschmelzen somit Rezeption und bearbeitende Produktion, die „Rezeption der Quellen schafft die Quellen der Rezeption“ (ebd.: 329). Blumenbergs Auseinandersetzung mit den Thesen von Lévi-Strauss führte zu einer Übertragung der Lévi-Strauss’schen Erkenntnisse auf die literarhistori‐ 40 2 Der Mythos sche Mythenrezeption und damit zur Gangbarmachung der Lévi-Strauss’schen Erkenntnisse für die Literaturwissenschaft. Dieses Verdienst ergibt sich vor allem aus der intertextuellen Untersuchung des von Lévi-Strauss verwendeten musikalischen Prinzips tema con variazioni (Blumenberg 1979: 299 ff.). Die Wei‐ terentwicklung der Ergebnisse aus den Mythologiques führt zur zentralen These Blumenbergs, die eine Innovation für die Rezeptions- und Forschungsgeschichte des Mythos mit sich bringt. Dieser These zufolge gibt es keinen Unterschied zwischen dem Mythos und seiner Rezeption; es gibt keinen „Ur-Mythos“, dem eine historische oder gar hierarchische Autorität zukäme und aus dem alle ver‐ fügbaren Varianten hervorgingen. Rezeption wird folglich nicht von außen an den Mythos herangetragen, sondern sie ist ein Wesenselement des Mythos, ist ihm inhärent. Der Mythos begegnet dem Menschen ausschließlich in Form der Rezeption, er hat vielmehr nie in einer anderen Form vorgelegen: Auch wenn ich für literarisch faßbare Zusammenhänge zwischen dem Mythos und seiner Rezeption unterscheide, will ich doch nicht der Annahme Raum lassen, es sei „Mythos“ die primäre archaische Formation, im Verhältnis zu der alles Spätere „Re‐ zeption“ heißen darf. Auch die frühesten uns erreichbaren Mythologeme sind schon Produkte der Arbeit am Mythos. Teilweise ist diese vorliterarische Arbeitsphase in den Mythenverbund eingegangen, der Rezeptionsvorgang also zur Darstellung der Funktionsweise selbst geworden. (Blumenberg 1979: 133) Mit der Ablehnung einer hierarchischen Struktur im Geflecht der Mythenver‐ sionen greift Blumenberg ebenfalls die These der Rhizomatik auf, die von Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelt wurde. Sie überführt den strukturalisti‐ schen Ansatz von Lévi-Strauss in die poststrukturalistische Literaturtheorie und beschreibt mit der Metapher des Rhizoms und seiner mannigfaltigen Verzwei‐ gungen die Flexibilität und Vielfältigkeit des mythischen Materials (Deleuze/ Guattari 1976; Simonis 2013: 156 f.). Dadurch, dass der Mythos ständig von Verwandlungen handelt, zeigt er selbst seine charakteristische Wandelbarkeit. Die Transsubstantiation ist damit eine Eigenschaft sine qua non des Mythos. Blumenbergs zentrale These zusammen‐ fassend, gehört es nach den Worten von Ulrich Prill, „zum Wesen des Mythos, daß er immer nur als bereits in Rezeption übergegangene Erzählung vorliegt, er ist geradezu der Prototyp des rezeptionsgesteuerten Erzählens“ (Prill 1988: 75). Und gerade weil der Rezeptionsvorgang teilweise in die Darstellung von Mythen eingegangen ist, bestätigt sich Blumenbergs These des Nichtvorhandenseins eines Urmythos, die einen Relativismus der Darstellungsformen des an sich in‐ varianten Mythenkerns zugrunde legt. Dieses offensichtliche Paradox wird durch die tatsächliche Präsenz verschiedener Versionen ein und derselben 41 2.3 Mythentheoretische Ansätze Mythe aufgelöst. Was sich ändert, ist die periphere Struktur des Mythos, nicht aber sein Kern. Namen, Attribute und Herkunft von mythischen Figuren können variieren, nicht aber die grundlegende Ausrichtung einer Erzählung über eine mythische Figur. Dies macht die Übertragung der Methoden der strukturalisti‐ schen Linguistik auf die Mythologie möglich, der auch Blumenberg - trotz der relativistischen Grundhaltung seiner Philosophie - Rechnung trägt. Blumen‐ berg spricht selbst von Mythemen, die den Prozess der Segmentierung in ein‐ zelne Mytheme bereits hinter sich haben und zu fixen Formen klassifiziert worden sind. Wie es bereits Lévi-Strauss festgelegt hat, ist der Mythos auch nach Blumen‐ berg nur in rezipierter Form vorhanden, und daher gibt es, wie es Foucault in seinem intertextuellen Ansatz definiert (1969: 34 ff.), keine Prioritäten unter den verschiedenen, mythologisch erfassbaren Intertexten. Die Versionen eines My‐ thos existieren nicht nur nebeneinander, sondern bedingen sich gegenseitig und können nicht in ein hierarchisches System gezwungen werden: Die Auszeichnung eines Mythos als einer letzten und unüberbietbaren Reindarstel‐ lung seiner „Form“ ist höchster Anreiz des Umgangs mit dem Mythischen, aber kein der Evidenz fähiger Zustand der Endgültigkeit. Anfang und Ende sind auch darin symmetrisch, daß sie sich erweisbarer Faßbarkeit entziehen. Der Mythos ist immer schon in Rezeption übergegangen, und er bleibt in ihr, mit welcher Gewaltsamkeit auch immer seine Fesseln gesprengt, seine Endform festgestellt werden sollen. Wenn er nur in Gestalten seiner Rezeption uns vorliegt, gibt es kein Privileg bestimmter Fassungen als ursprünglicher oder endgültiger. (Blumenberg 1979: 299) Das Mythem der Geburt der Aphrodite liefert hierzu ein markantes Beispiel (Graves 2007: 40). Zwar entwickelt die Rezeptionsgeschichte dieses Mythos ver‐ stärkt das Aufgreifen der Geburt der Venus aus dem Schaum des Meeres und ihr anschließender Gang auf die Insel Kreta. Das Material hingegen, aus dem der Meeresschaum besteht, gerät zunehmend in Vergessenheit. An dieser Stelle greift das Mythem von Uranos’ Tod in das Mythem der Geburt der Aphrodite, woran zu erkennen ist, dass die künstlerische Ästhetisierung eines Mythos in der Auswahl seiner Mytheme begründet liegt: Aphrodite ersteht aus dem Schaum der schrecklichen Entmannung des Uranos - das ist wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos. Dennoch ist seine Arbeit damit nicht zu Ende: in Botticellis Venus Anadyomene steigt sie wie aus dem Schaum des Meeres, nur noch für den Mythenkundigen aus dem des Sekrets der schrecklichen Wunde des Uranos, empor. Wenn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts der „Lebensphilosoph“ nach der mythischen Szene der Anadysis greift, um an ihr das Urverhältnis von Leben und Gestalt, von Lebensströmung und Eros aufgehen zu 42 2 Der Mythos lassen, dann erhebt sich für ihn die zeitlose Schönheit der Aphrodite nur noch aus dem vergehenden verwehenden Schaum des bewegten Meeres. Der Hintergrund des Schreckens ist vergessen gemacht, die Ästhetisierung vollendet. (Blumenberg 1979: 45) Wie bereits von anderen Mythosforschern bestätigt, ist für Blumenberg der Begriff der Wirklichkeit dem Mythos inhärent, was wohl auch die ungebrochene Faszinationskraft der Mythen ausmacht, selbst wenn sie heute weit davon ent‐ fernt sind, als Lebensrealität aufgefasst zu werden. Der Mythos hat jedoch nach Blumenberg niemals den Glauben an ihn eingefordert; er nimmt seine Stärke aus dem Gegenstand seines Berichtes: Der Mythos hat einen implikativen Wirklichkeitsbegriff. Was er in seinen Geschichten und an seinen Gestalten als geltende Wirklichkeit zu verstehen gibt, ist die Unver‐ kennbarkeit von Göttern, sofern sie erscheinen wollen, die Unbestreitbarkeit ihrer Anwesenheit für den Gemeinten, zu der das Vorher und Nachher weder etwas bei‐ tragen noch sie zweifelhaft machen kann. Das ist aber nicht die Geltung, die der My‐ thos sich zuzugestehen fordert oder gar zwingt, für die er auch nur wirbt oder gefügig macht, die anzuerkennen er mit Prämien belegen würde. Daß die, von denen er erzählt, Erfahrungen mit Göttern in dieser momentanen Unumgänglichkeit haben sollen, be‐ deutet nichts für die, denen es erzählt wird. (Blumenberg 1979: 261) Das reale Wirken des Mythos ist nichtsdestotrotz permanent zu erkennen, denn selbst in der Naturwissenschaft gibt der Mythos die Namengebung von Neu‐ entdeckungen vor. Blumenberg spricht daher von einer scheinbaren „Objekti‐ vität der mythologischen Namengebung“ (Blumenberg 1979: 50 ff.), wenn er die Nomenklatur der Planeten unseres Sonnensystems im Zuge der Entdeckung der einzelnen zu ihm gehörenden Himmelskörper erläutert. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss ist für Blumenberg folglich die Berücksichtigung der Zeitperspek‐ tive verbindlich, da man sich des Fortschreitens der Arbeit am Mythos für die Erforschung bewusst sein müsse. Fortschritte in der Theoriebildung durch wis‐ senschaftliche Erkenntnisse bestätigen nur die Rezeption und Verbreitung des Mythos im Laufe der Zeit (ebd.: 303). Hierbei sind gerade die Versetzung von Mythen in andere Kontexte und die damit verbundene Verzerrung der Zeitper‐ spektive ein Beweis für die Aktivität der Arbeit am Mythos, die naturgegeben permanent erfolgt: Geschichte, wie wir sie aus den uns verfügbaren Medien entnehmen und wie wir sie verarbeiten, ist individuelle Arbeit am Mythos, die einen Beitrag zum beständigen Fortgang der Mythenrezeption leistet (vgl. De Kerckhove 1995; 2008). Der Begriff „Arbeit am Mythos“ ersetzt bei Blumenberg die Frage nach der Ergründung der Entstehung des Mythos (1979: 413), womit er sich entschieden 43 2.3 Mythentheoretische Ansätze gegen die Überbewertung der Suche nach dem Ursprung des Mythos wendet. Blumenberg spricht nicht von Entstehung, sondern von einer „Mythologie der Entstehung“, da für ihn jede Form des Auftretens von Mythen bereits Arbeit am Mythos ist: Wichtiger als zu wissen, was wir nicht wissen werden: wie der Mythos entstanden ist und welche Erlebnisse seinen Inhalten zugrunde liegen, ist die Aufarbeitung und ge‐ schichtliche Zuordnung der Vorstellungen, die man sich über seinen Ursprung und seine Ursprünglichkeit jeweils gemacht hat. Denn wie die Arbeit an seinen Gestalten und Inhalten selbst, ist auch die Mythologie seiner Entstehung ein Reagens auf eine Form der Arbeit an ihm und auf die hereditäre Hartnäckigkeit seines Mitgehens durch die Geschichte. (Blumenberg 1979: 68) Wiederholbarkeit und Wiedererkennen bilden nach Blumenberg, neben dem ausschließlichen Auftreten in Formen der Rezeption, das Wesen des Mythos: Zur „Natur des Mythos gehört, daß er Wiederholbarkeit suggeriert, ein Wie‐ dererkennen elementarer Geschichten, das der Funktion des Rituals nahe kommt, durch welches die unverbrüchliche Regelmäßigkeit der den Göttern wohlgefälligen Handlungen versichert und eingeprägt wird.“ (Blumenberg 1979: 70) Der Mythos verdankt diesen seinen „Wiederholungszwang“ wahrscheinlich „der Affinität zum kultischen Ritual“ (ebd.: 346). Dass die Wiederholung den Mythos nicht dem Ritus entgegenstellt, sondern vielmehr die Ritualisierung des Mythos aufzeigt, macht Blumenberg an der von Lévi-Strauss begründeten Theorie der abstrakten, invarianten Kernmytheme fest, die gerade in der äu‐ ßersten Strapazierung ihre Gestalt offenbaren: Das Mythologem ist ein ritualisierter Textbestand. Sein konsolidierter Kern widersetzt sich der Abwandlung und provoziert sie auf der spätesten Stufe des Umgangs mit ihm, nachdem periphere Variation und Modifikation den Reiz gesteigert haben, der Kern‐ bestand unter dem Druck der veränderten Rezeptionslage auf seine Haltbarkeit zu erproben und das gehärtete Grundmuster freizulegen. Je kühner diese strapaziert wird, umso prägnanter muß durchscheinen, worauf sich die Überbietung der Zugriffe bezieht (Blumenberg 1979: 165). Da Blumenberg in seinen mythologischen Forschungen vornehmlich die Ver‐ wendung von Mythen in der Literatur untersucht, differenziert er zwischen dem protoliterarisch überlieferten „Grundmythos“ und dem literarisch verarbeiteten „Kunstmythos“. Der Grundmythos ist nach Blumenberg „ein erschlossener transzendentaler Geschichtsfaktor“ (Blumenberg 1979: 198). Ein Kunstmythos hingegen ist ein mithilfe von Grundmythen und deren Allegoresen literarisch (um)gestalteter Mythos. Die vorliegende Untersuchung setzt gerade an diesem 44 2 Der Mythos Punkt an und analysiert das Verhältnis von Grund- und Kunstmythos des Dio‐ nysos im dramatischen Werk von Laurent Gaudé - wobei kritisch festgestellt werden muss, dass, sobald der Mythos in Literatur übergeht, es sich ausschließ‐ lich um Kunstmythen, um Mythopoiesis handelt. Präziser gesagt, der Kunst‐ mythos ist die einzige Möglichkeit, mit Mythen literarisch umzugehen, da der Grundmythos nur theoretisch und a posteriori anhand seines Überganges in Re‐ zeption erschließbar ist. Analog zur von Saussure entwickelten Dichotomie von System (langue) und dessen konkreter Realisierung (parole) entspricht der Grundmythos der Ebene des Abstrakten, nur im Kunstmythos konkretisierbaren Systems. Mittels individuell gestaltbarer Ausformung hilft Mythopoiesis, die Aussage des Grundmythos nachzuempfinden, selbst wenn Letzterer nicht konkret fassbar ist. Jede künstlerische Realisierung eines Mythos, gleich durch welches Medium, gibt folglich Aufschluss über den Grundmythos: „Was zu einem Grund‐ mythos gehört, zeigen Versuche, die Qualitäten des Mythos mit Kunstmitteln nachzuahmen. Dabei scheint auch im Kunstmythos niemals die reine Phantasie am Werk zu sein, sondern die Ausgestaltung elementarer Grundfiguren.“ (Blu‐ menberg 1979: 194) Pervertierungen enthüllen dabei beinahe noch deutlicher den Grundmythos als dies die Technik der Allegorese zu tun imstande ist. Hier‐ aus folgt, dass jegliche Verkehrung oder Andichtung dem Grundmythos nichts anhaben kann - der Mythos hält folglich jeglicher Variation, selbst der Frag‐ mentarisierung stand: Noch in der Variation durchgehalten zu werden, erkennbar zu bleiben, ohne auf der Unantastbarkeit der Formel zu bestehen, erweist sich als spezifischer Modus von Gül‐ tigkeit. Solche Gültigkeit bietet gleichsam Bezugspunkte für ‚Anspielungen‘ und vage Verweisungen: es darf Vertrautes vorausgesetzt werden, ohne daß es eine besondere Sanktion besäße oder dem Zwang einer konservativen Behandlungsweise unter‐ worfen wäre. (Blumenberg 1979: 21) Blumenberg macht damit die überaus wichtige Feststellung, dass der Mythos nicht ausschaltbar ist; selbst seine Pervertierung bedeutet nur eine Art der Re‐ zeption - so bildet gerade die Unmöglichkeit, den Mythos zu einem Endpunkt zu bringen, immer wieder den entscheidenden Anreiz für literarische Äuße‐ rungen: „Alles, was das Dogma erfordert, erlässt der Mythos. Er fordert keine Entscheidungen, keine Bekehrungen, kennt keine Apostaten, keine Reue. Er erlaubt Identität noch in der Verformung zur Unkenntlichkeit, ja noch in der Anstrengung, ihn zu Ende zu bringen.“ (Blumenberg 1979: 269) Nach Fuhrmann wird der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Mythos demzufolge zum „Träger von Sinngehalten“ (Fuhrmann 1971: 143), der sich als dialektischer 45 2.3 Mythentheoretische Ansätze „Prozess von Dogmatisierung und Emanzipation“ (ebd.) durch die gesamte Li‐ teraturgeschichte zieht. Dass Mythen bisweilen auf aggressivste Weise bear‐ beitet werden und trotzdem noch wiedererkennbar sind, liegt nicht nur an ihrem unantastbaren Kern, sondern auch an der außerordentlich hohen Anpassungs‐ fähigkeit von Mythen an veränderte Gegebenheiten, was der hohen Variabilität ihrer Peripherie zuzuschreiben ist. Gerade diese Struktur von varianten und invarianten Bauteilen macht den Mythos (über)lebensfähig. Die Wiedererkenn‐ barkeit gegen alle auf ihn einwirkenden Transformationsbemühungen bestätigt die Festigkeit und die besondere literarische Eignung des Mythos: „Die mytho‐ logische Tradition scheint auf Variation und auf die dadurch manifestierbare Unerschöpflichkeit ihres Ausgangsbestandes angelegt zu sein, wie das Thema musikalischer Variationen darauf, bis an die Grenze der Unkenntlichkeit abge‐ wandelt werden zu können.“ (Blumenberg 1979: 21) 2.3.4 Wissenschaftliche Anknüpfungspunkte von Blumenbergs Mythostheorie Neben Blumenberg sind, unter anderen, die seine Betrachtungen ergänzenden Ansätze von Karl-Heinz Bohrer (Das absolute Präsens, 1994), René Girard (Das Heilige und die Gewalt, 1987) und Fritz Graf (Griechische Mythologie, 2004) her‐ vorzuheben. Wie Blumenberg erkennt auch Fritz Graf einen festen Kern und eine variable Peripherie des Mythos. Graf geht auf die unterschiedliche Dispo‐ sition von mythischem und literarischem Material ein und veranschaulicht mit dem Gegensatzpaar „Autorschaft“ versus „Tradition“ den Spannungsbogen der literarischen Mythopoiesis. Er definiert den Mythos in Anlehnung an Lévi-Strauss und Blumenberg, ohne Letzteren zu nennen: Der Mythos ist nicht der aktuelle Dichtertext, sondern transzendiert ihn: er ist der Stoff, ein in großen Zügen festgelegter Handlungsablauf mit ebenso festen Personen, den der individuelle Dichter nur in Grenzen variieren kann. Die einzelne Variation, das einzelne Dichterwerk, hat einen Autor, der Mythos nicht: er wird von Generation zu Generation gereicht, ohne dass man von einem Mythenmacher wüsste: eben dies meint ‚traditionell‘. (Graf 2004: 8) In Ergänzung zum Ansatz C. G. Jungs erkennt Jan Assmann, dass Mythen einen Großteil des „kollektiven Gedächtnisses“ (M. Halbwachs) ausmachen, mit dessen Hilfe der Mensch imstande ist, sich vom „phobischen Druck der Wirk‐ lichkeit, von Dämonenfurcht und von der Überwältigung durch die Sinne“ zu befreien (Assmann 2004: 116). Mythos ist folglich alles, was der Mensch an geis‐ tiger Leistung aufbringt, um sich vor der eigentlichen Wirklichkeit abzu‐ 46 2 Der Mythos schirmen. Blumenberg betrachtet die vor Realität schützende Wirkung des My‐ thos als inhärent und bezeichnet sie als die „im Mythos schon angelegte und sich immer wieder selbst antreibende Depotenzierung dessen, was noch hinter dem Mythos als das selbst Unmythische, weil Bildlose und Gesichtslose ebenso wie Wortlose steht: das Unheimliche, Unvertraute - die Wirklichkeit als Abso‐ lutismus.“ (Blumenberg 1979: 369) Der Absolutismus der Wirklichkeit kann mit dem Schrecken gleichgesetzt werden, den die Erfahrung absoluter (d. h. noch nicht erfahrener) Realität in sich trägt. Mit der Verbreitung von Mythen ver‐ drängt der Mensch nach Blumenberg die Angst vor der absoluten Realität und schafft sich so ein für ihn erträgliches Weltbild: „Dieses Vergessen, ist die Leis‐ tung der Distanz durch die ‚Arbeit am Mythos‘ selbst. Sie ist Bedingung für alles, was diesseits des Schreckens, des Absolutismus der Wirklichkeit, möglich wurde.“ (ebd.: 15) Der Mythos selbst ist daraufhin als „Manifestation einer Über‐ windung, eines Distanzgewinns, einer Abmilderung des bitteren Ernstes, zu be‐ schreiben.“ (ebd.: 23) Es bildet sich ein „Kampf “ der Wirklichkeit gegen die von der Mythenrezeption gestützte Imagination heraus: „Dem Absolutismus der Wirklichkeit tritt der Absolutismus der Bilder und Wünsche entgegen.“ (ebd.: 14) Blumenberg bemerkt, dass es aus der einmal unternommenen Flucht vor dem Absolutismus der Wirklichkeit in die Welt der Mythen kein Zurück mehr gibt. Der Mensch habe so die Möglichkeit verloren, die absolute Realität überhaupt zu erkennen und von der „Arbeit am Mythos“ zu unterscheiden, er habe den point of no return überschritten (Blumenberg 1979: 15 f.). Es stellt sich hier jedoch die Frage, wie Blumenberg die Arbeit am Mythos überhaupt als solche klassifi‐ zieren konnte. Der zur Theoriebildung unvermeidliche Gang auf die Metaebene ist seit jeher ein Paradox der Wissenschaft und verdeutlicht im Lichte von Blu‐ menbergs Ausführungen, dass auch die wissenschaftliche Theoriebildung nichts anderes ist als ein mythologischer Erklärungsversuch der von den Menschen wahrgenommenen zeitlichen und räumlichen Umgebung. Die Entstehung des Mythos aus der menschlichen Angst vor dem Göttlichen heraus wird bereits von Giambattista Vico in seiner Abhandlung über neue Be‐ trachtungsweisen der Wissenschaften, Principi di una Scienza Nuova (1744), vertreten (Graf 2004: 23). Blumenberg greift dessen Punkt auf - als einzige bei ihm festzustellende Hypothese für den Ursprung des Mythos beschreibt er die Vertreibung der Furcht vor dem Unbekannten und Unbenannten als eine der wichtigsten Funktionen des Mythos: Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden. Entsetzen, für 47 2.3 Mythentheoretische Ansätze das es wenig Äquivalente in anderen Sprachen gibt, wird „namenlos“ als höchste Stufe des Schreckens. Dann ist es die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt, Namen für das Unbestimmte zu finden. Erst dann und daraufhin läßt sich von ihm eine Geschichte erzählen. (Blumenberg 1979: 40 f.) In der Geschichte der Mythenrezeption, gleich in welchem Kulturkreis (Lévi-Strauss 1971: 561 f.; Eliade 1952: 73), haben es sich die Mythenerzähler immer wieder zur Aufgabe gemacht, den Schrecken aus der Ära der Weltschöp‐ fung zu ästhetisieren. So wurden, wie Bohrer feststellt (1994: 55), die Kategorien „Intensität“ und „Geheimnis/ Rätsel“ zu den ästhetischen Bedingungen der Be‐ schreibung des urzeitlichen Schreckens. Die literarische Wiederholung des Schreckens der Urzeit besteht meistens in dem Versuch, „den Mythos in einer Ästhetik des Schreckens zu wiederholen, deren Innovationskapazität aber an einer Rückbeziehung auf den Mythos im Sinne von „Hieroglyphe“ scheitert. […] Die Ästhetik des Schreckens steht im Dienste eines alten Mythos, dessen my‐ thologische Details nicht mehr anwesend sind.“ (Bohrer 1994: 91) Bei Blumen‐ berg sind Poesie und Schrecken die Grundkonstanten, die es ermöglichen, „die Vorstellungen von Ursprung und Ursprünglichkeit des Mythos zu klassifizieren“ (Blumenberg 1979: 68). Anhand der Medusa-Mythe verdeutlicht sich die Dialektik des Schreckens im Mythos - Abmilderung des Absolutismus der Wirklichkeit einerseits und In‐ strumentalisierung des Schreckens andererseits: „Wer der Medusa ins Antlitz sieht, muß sterben, Es ist die äußerste Steigerung der Schrecklichkeit eines We‐ sens, daß sein bloßer Anblick das Leben austreibt“ (Blumenberg 1979: 130). Die Gorgo hatte an Stelle der Haare Schlangen, zwischen einem gewaltigen Gebiss hing ihr die Zunge heraus, sie hatte Hände aus Eisen und Flügel aus Gold sowie ein mit Drachen‐ schuppen besetztes Haupt. Sie gehört zu den Gorgonen, deren Herkunft wie die der meisten Schreckensgestalten auf die Urgeschichte verweist, auf das Übergangsfeld zwischen dem Gestaltlosen und dem Gestalteten, zwischen Chaos und Eros. (Blu‐ menberg 1979: 130) Caravaggios Gemälde Medusa (1590) ist eine Verbildlichung des „schreckenden Erschreckens“ (Bohrer 1994: 55 ff.), der im eigenen Erschrecken begründeten Verbreitung von Schrecken. Die Institutionalisierung von Erlebnissen, die Schrecken hervorrufen, wurde schon von Ernst Cassirer erkannt (2002: 153). Genauso wie die Sprache schrecklicher sein kann als das Bild, kann sie Schreckliches durch „Depotenzierung“, wie es Blumenberg nennt (1979: 73), be‐ seitigen. Der Mythos ist jedoch nicht nur zur Vertreibung der Furcht vor dem Unbekannten fähig, sondern kann selbst Schrecken verbreiten. Damit befindet 48 2 Der Mythos er sich in der komfortablen Lage, einen Spannungsbogen des Schreckens zu generieren, den er selbst wieder nehmen kann. Dies tritt in besonderem Maße immer wieder aus den Dionysosmythen hervor. So kann sich der Mythos, vor allem in der Umgebung religiöser Dogmatik, gleich welcher Couleur, ein Mo‐ nopol für Konfliktlösungen oder Erlösungsverkündigungen verschaffen (Blu‐ menberg 1979: 53). Selbst wenn der Mythos in der Lage ist, Schrecken zu ver‐ breiten, zeichnet er nach Ansicht Blumenbergs, komplementär zu der von Karl-Heinz Bohrer geprägten Ästhetik des Schreckens, den Sieg über den Schre‐ cken nach: Der Mythos war fähig, die alten Schrecken als bezwungene Ungeheuer zurückzu‐ lassen, weil er der Ängste nicht zum Schutz einer Wahrheit oder eines Gesetzes be‐ durfte. Die einzige Institution, die ihn trug, war nicht darauf abgestellt, ihr Publikum zu schrecken und zu ängstigen, sondern im Gegenteil, den gebändigten Schrecken als befreiende Versicherung zu Schönerem vorzuführen. Weder auf den Realismus der entsetzlichen Objekte noch auf deren gänzliches Vergessenlassen war die Rhapso‐ denschaft eingestellt. Ihre Gefälligkeit hing an der Zuverlässigkeit der Distanz, die in dem Satz liegt: Selbst Odysseus war heimgekehrt. Er hatte die ganze Landschaft der möglichen Gefährdungen und Schrecknisse durchmessen, hatte die Zerreißprobe auf das System der Gewaltenteilung gemacht. Das ist, was im Epos, und schon in seinen Vorformen, alle hatten immer wieder hören wollen. (Blumenberg 1979: 267 f.) Der Mythos entzieht sich weitgehend einer räumlichen und zeitlichen Loka‐ lisierung; es ist jedoch gerade seine Spezialität, der Angst des Menschen vor der Leere, seinem horror vacui, zu begegnen (Blumenberg 1979: 46). Bewusst spielen Mythen deshalb mit zeitlicher Ferne und entziehen sich somit jeglicher Hinter‐ fragbarkeit (ebd. 142). Die Furcht vor dem Unbekannten wird durch die Funktion von Ritus und Mythos nivelliert. Im Ritual wird deshalb „der numinose Gegen‐ stand“, das Objekt, auf welches sämtliche Ängste einer Kultgemeinschaft pro‐ jiziert werden, „gezeigt, vorgeführt, mitgeführt, ausgestellt, berührt“. (Blumen‐ berg 1979: 72) Auf diese Weise entwickelt sich die rituelle und mythische Bedeutungszuweisung: Bedeutsamkeit entsteht sowohl durch Steigerung als auch durch Depotenzierung. Durch Steigerung als Zuschuß zu positiven Faktoren, zu nackten Tatsachen, als die nicht nur rhetorische Anreicherung der Sachverhalte; durch Depotenzierung als Mä‐ ßigung des Unerträglichen, Überführung des Erschütternden zum Andringlichen und Bewegenden. (Blumenberg 1979: 85) So liegt die Kreation von Bedeutung und Wertzumessung im ständigen Be‐ wusstsein über neue, noch unbenannte Erkenntnisse, denen erst noch die Er‐ 49 2.3 Mythentheoretische Ansätze scheinungsangst genommen werden muss: „Denn das Bedürfnis nach Bedeut‐ samkeit wurzelt darin, daß wir uns als der Ängstigung nie endgültig enthoben bewußt sind.“ (Blumenberg 1979: 125) René Girard geht auf diese Permanenz der Ängstigung ein und weist seinerseits auf die Herausbildung von Bedeutsamkeit durch die Rezeption und Verbreitung von Mythen hin. Er führt den Mythos auf kultische Gegebenheiten zurück und plädiert damit für eine gleichzeitige und untrennbare Entwicklung von Mythos und Kultus. Seiner Ansicht nach fußt der Mythos auf einer sich aus dem Kultus entwickelnden Spezifizierung, die aus der gedanklichen Reorganisation gewisser kultischer Kollektivphänomene entsteht. Die allmählich verlorengehende „Reziprozität der Gewalt“ zwischen Menschen macht „der Differenz Platz. Von nun an trennt die wesenhafte Differenz den Gott oder den alle Gewalt auf sich ziehenden mythischen Helden von der Gemein‐ schaft.“ Alle Elemente, die sich bei der Bildung des Mythos zusammenfügen, sind der Realität der Krise entnommen; nichts wird beigefügt, nichts wird weggelassen; es gibt keine bewußte Manipulation. Die Mythenbildung ist ein unbewußter Prozess, der auf dem versöhnenden Opfer gründet und auf Kosten der Wahrheit der Gewalt geht; diese Wahrheit wird nicht „verdrängt“, sondern vom Menschen getrennt und vergöttlicht. (Girard 1987: 202) Die Sagbarmachung des (noch) Unsagbaren ist in jeder Epoche der Litera‐ turgeschichte zu finden. Mit ihr wird auch der umgekehrte Weg, die Absolut‐ setzung der Unsagbarkeit, der Topos des ineffabile, populär und von Autoren jeder Epoche als strategisches Stilmittel eingesetzt. Diese Technik wird immer dann angewendet, wenn sie auf die Unmöglichkeit hinweist, einen bestimmten Sachverhalt - z. B. außerordentliche Schönheit, Macht oder Gefühle - mit dem menschlichen Organ der Sprache auszudrücken und ihm, gleich dem von Bohrer und Blumenberg erkannten Schrecken der Urzeit, einen besonderen, Respekt oder Furcht einflößenden Gehalt zu verleihen. Gerade die antiken Mythen von der Entstehung der Welt konstituieren die Startphase der Entwicklung weg vom Unbenannten: „Schöpfungsmythen vermeiden solchen Regress: Die Welt ist aller Erklärung bedürftig, aber was ihren Ursprung erklärt, kommt aus weiter Ferne daher und erträgt keine Fragen nach seinem Ursprung.“ (Blumenberg 1979: 143) Durch die enorme zeitliche Entfernung zur mythischen Form der Wahrneh‐ mung ist es Autoren der neueren Zeit nur noch möglich, mithilfe ihrer rhetori‐ schen Fertigkeiten eine literarische Präsenz des Schreckens der Urzeit zu er‐ zeugen (Bohrer 1994: 89 f.). Auf diese Weise lässt sich eine Verbindung zwischen Bohrers Erkenntnissen und Blumenbergs Ausführungen herstellen, in welchen dieser eine allmähliche Entfernung vom Numinosen in der mythologischen Ge‐ 50 2 Der Mythos 11 Vgl. insbesondere Namen, die in den letzten beiden Dekaden auf den Markt gekommen sind, wobei stets eine semantische oder zumindest assoziative Nähe zum antiken My‐ thos besteht: Automobilnamen wie „Eos“ für ein Cabriolet oder „Phaeton“ für eine lu‐ xuriöse Limousine desselben Herstellers, sprechende Firmennamen wie „Hermes“ oder „Nike“ und auch sprechende Produktnamen wie „Promethean“ für die neue Generation der elektronischen Tafeln (Whiteboards oder Smartboards) an Schulen und Universi‐ täten. nealogie festgestellt hat. Diese Entwicklung setzt sich auch in den Augen Hüb‐ ners fort, sodass spätestens seit der Aufklärung die Verbindung zum ursprün‐ glichen Mythos noch nicht einmal mehr durch Rezeption herzustellen ist. So ist der rezipierte Mythos nur noch formal eine Rezeption, in keiner Weise aber mehr inhaltlich. Dies ermöglicht Autoren ein freies literarisches Spiel mit dem my‐ thologischen Material, das im Sinne Lévi-Strauss’ und Blumenbergs immer wieder neue Ergebnisse hervorbringt, was sich in den folgenden Kapiteln zeigen soll. Ähnlich wie Bohrer und Hübner hat auch Karlheinz Stierle eine andere Sicht auf den Einfluss des antiken Mythos im zeitgenössischen Alltag. Diese äußert er in seinem Aufsatz „Mythos als ‚Bricolage‘ und zwei Endstufen des Prome‐ theus-Mythos“ (1971), der bereits vor Blumenbergs Arbeit am Mythos erschien. Stierle stellt mit Recht fest, dass heutzutage selbst in der Wissenschaft viele Mythen bereits in Vergessenheit geraten sind. Zudem sind viele Mythen seit der Moderne so stark abgewandelt worden, dass ihre Substanz im Vergleich zur Antike nicht mehr dieselbe ist: Die „ursprünglichen Zusammenhänge“ sind „einer neuen Intention“ gewichen, und so lassen sich die Isotopien zum Aus‐ gangsmythos nur noch „gewaltsam erschließen“ (Stierle 1971: 457). Blumenberg hingegen unterstreicht in seiner Abhandlung, dass der gesamte Alltag des mo‐ dernen Menschen ein Folgen mythologischer Pfade ist, gleichgültig ob bewusst oder unbewusst, d. h. der Mensch dem Mythos gar nicht entrinnen kann. Beiden Positionen gegenüber lässt sich jedoch festhalten, dass Gestalten aus der klas‐ sisch-antiken Mythologie in der Nomenklatur vieler wissenschaftlicher Diszi‐ plinen und auch in der wirtschaftlichen Praxis nach wie vor eine gewisse Kon‐ junktur haben - wenngleich die Bedeutung dieser Namen nur noch einem geringen Prozentsatz der lebenden Bevölkerung ein Begriff sind. 11 Wie sich zeigen wird, interessiert sich auch Laurent Gaudé gerade für Son‐ dererscheinungen im Universum der Mythen und holt mythologische Motive hervor, die heute nur noch schwer recherchierbar sind (vgl. 4.2.4). Offensichtlich ist es eine Tendenz in der Gegenwartsliteratur, derart experimentell mit dem Mythos umzugehen, dass ein literaturwissenschaftliches Interesse gerade hierhin gelenkt wird. Das Reizvolle an den seit Jahren florierenden Intertextu‐ 51 2.3 Mythentheoretische Ansätze 12 Vgl. die Internetpräsenz von Jean-Claude Monod bei der Ecole Normale Supérieure: http: / / philosophie.ens.fr/ PUBLICATIONS-SELECTION,285.html? lang=fr (07.09.2018). alitäts- und Mythosforschungen in der Literatur der Moderne liegt nach wie vor an der Beziehung zwischen den Versionen, wie es Volker C. Dörr prägnant fest‐ gestellt hat: Bei aller Plausibilität, die die Beobachtung einer generellen Tendenz zur Auflösung von Mythos-Isotopien für sich reklamieren kann, wird doch in jedem einzelnen Fall einer modernen Mythosadaptation nach dem Verhältnis der mehr oder minder aus‐ gestellten „Isotopie“ zur neuen Intention zu fragen sein. Und: auch eine in einem bricolage-Verfahren synthetisierte neue Intention kann ihrerseits Funktionen des My‐ thos übernehmen. (Dörr 2004: 46) 2.3.5 Zur Blumenberg-Rezeption in Frankreich Da neben den Schriften von Claude Lévi-Strauss, die für die philosophische Entwicklung Frankreichs im 20. Jahrhundert prägend waren, besonders Blu‐ menbergs Arbeit am Mythos eine zentrale Rolle bei der Auswahl und Interpre‐ tation der hier untersuchten Dramen Gaudés einnimmt, sei hier eine kurze Notiz zur Rezeption des philosophischen Schaffens Hans Blumenbergs in Frankreich ergänzt. Der aktuellen Forschungslage nach zu urteilen wird Blumenberg in Frankreich erst mit Jean-Claude Monod - ein Schüler von Claude Lévi-Strauss - so rezipiert, dass man von einer wissenschaftlichen Wahrnehmung seiner Thesen sprechen kann. 12 Monod publiziert erst seit 2004 zu Hans Blumenberg, beginnend mit Übersetzungen, über Aufsätze und Rezensionen, bis hin zu zwei Monographien. Die Rezeption Blumenbergs in Frankreich ist folglich erst sehr jung und geht über Monod kaum hinaus. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass Blumenberg auch in Deutschland, unter anderem wegen des intellektuellen Anspruchs und dem stilistischen Schwierigkeitsgrad seiner Schriften, erst all‐ mählich einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit ein wahrnehmungs‐ würdiger Begriff ist (Buch/ Weidner 2014: 15 ff.). Noch in einem 2012 abgehal‐ tenen Seminar im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin gingen die Sektionsleiter Robert Buch und Daniel Weidner von der These aus, dass „Blumenbergs Beiträge zu so unterschiedlichen Themen wie Neugierde, Les‐ barkeit, Evidenz, oder auch Langeweile, um nur einige zu nennen, […] bislang sowohl in Deutschland als auch in den USA und Frankreich nur punktuell auf‐ gegriffen worden“ sind (Buch/ Weidner 2012: 2). Die aus dieser Tagung hervor‐ gegangene Studie Blumenberg lesen (2014) bestätigt diese These: 52 2 Der Mythos Zwar sind die Bücher [Blumenbergs] in der Regel sehr positiv von der Kritik aufge‐ nommen worden, aber im Vergleich etwa zu Habermas, Luhmann, Foucault oder Der‐ rida sind ihre Folgerungen und möglichen weiterreichenden Konsequenzen schwer zu ermessen. Anders als die Arbeiten jener Autoren haben sie nicht schulbildend oder diskursbegründend gewirkt und blieben daher ungeachtet ihrer Prominenz in ihrer Wirkung vergleichsweise peripher. Ganz besonders gilt das im internationalen Kon‐ text, in dem Blumenbergs Texte zwar in nicht geringem Umfang übersetzt, bisher aber kaum außerhalb eines engen Kreises von Kennern bekannt sind und erst in der jüngsten Zeit auf ein breiteres Interesse stoßen, dessen Richtung noch unbestimmt ist. (Buch/ Weidner 2014: 15) Die Rezeption der Schriften von Claude Lévi-Strauss hingegen ist in Frankreich immer noch allgegenwärtig und beinahe übermächtig. Sie könnte eine weitere Erklärung dafür sein, dass es Blumenberg bisher nicht zu großer Beachtung in Frankreich gebracht hat, da die Thesen der Arbeit am Mythos oft eine Ergänzung der anthropologischen Erkenntnisse von Lévi-Strauss sind (vgl. 2.3.2 u. 2.3.3). Die Verbindung Monods zu Lévi-Strauss einerseits und zu Hans Blumenberg andererseits zeigt jedoch einmal mehr die Nützlichkeit dieser Verbindung für diese Untersuchung auf, da sie die Eignung dieser Texte für die Interpretation von Gaudés philosophischer Haltung untermauern, wenngleich es bisher keine eindeutigen Hinweise gibt, dass Gaudé die Schriften von Monod oder Blumen‐ berg bekannt wären. Sehr wahrscheinlich hingegen ist Gaudés Rezeption der Schriften von Claude Lévi-Strauss während seines Studiums. Gaudés Charaktere scheinen oft die Lévi-Strauss’sche Handschrift zu tragen, wenn ihre conditio humana dargelegt wird (vgl. 4). 53 2.3 Mythentheoretische Ansätze 3 Der Mythos des Dionysos: Konkretisierung des Freiheitsstrebens der Künste Der Mythos weist gerade durch seine literarische Gestaltbarkeit eine besondere Entwicklungsstufe der textuellen Überlieferung auf, was sich deutlich anhand der verschiedenen Versionen des Dionysos-Mythos zeigt, die sich, trotz ihrer vielen Gegensätze, als ergänzend erweisen. Hübner spricht in dieser Hinsicht von „mythischer Substanz“ (1985: 121). Zwischen den vielfältigen und dadurch willkürlich kompiliert anmutenden Eigenschaften der mythischen Gestalten gibt es zwar „mancherlei Beziehungen der Analogie sowie mancherlei logische oder dialektische Strukturen, aber vieles bleibt unauflösbar, zumal die histori‐ schen Ursprünge der den numinosen Wesen zugehörigen Kulte selbst für die Menschen in mythischer Zeit teilweise im Dunklen lagen.“ (Hübner 1985: 134) Anhand von Blumenbergs Erkenntnissen ist zu ergänzen, dass es nicht darauf ankommt, den Ursprung dieser numinosen Wesen zu kennen, weil der Mensch in der vorteilhaften Lage ist, des Mythos mächtig zu sein, der ausschließlich in rezipierter Form auftritt und sich damit von seinem Wesen her gegen die Frage nach dem Ursprung verwahrt. In ihrer Gestalt und in ihrem Inhalt beweisen die Mythen vieler Völker der Erde immer wieder, dass sie sich durch ihre vielfältige Rezeption nicht vonein‐ ander entfernen, sondern sich, um mit Lévi-Strauss zu sprechen, in verwandt‐ schaftlicher Beziehung zueinander verhalten. Die Bestandsaufnahme dieser miteinander in Beziehung stehenden Realitätsverarbeitungen ist den meisten Mythosforschern seit dem 20. Jahrhundert grundlegend und der Suche nach Ur‐ sprung und Herkunft des Mythos klar übergeordnet: „Innerhalb des Mythos hat daher die Frage, warum diese Gestalten so und nicht anders gezeichnet sind, warum sie aus einer denkbaren Welt von Möglichkeiten nicht anders ausge‐ wählt wurde, keinen Sinn. Der mythische Grieche ging vielmehr von ihnen wie von einem Apriori seiner Welterkenntnis aus.“ (Hübner 1985: 134) Folglich ist es nicht verwunderlich, wenn auf den ersten Blick einige We‐ senszüge des Dionysos in ihrer Kombination nicht nur seltsam, sondern gar kontradiktorisch erscheinen, zumal auch sein römisches Pendant, Bacchus, spe‐ zielle Eigenheiten hat. Aus solch einem Dionysos-Bacchus-Synkretismus stellt sich schnell die Annahme ein, dass es nur wenige Charakterzüge und Phäno‐ mene gibt, die nicht auf den gemeinhin als Gott des Weines, des Rausches, der entfesselten Wildheit und der Wandelbarkeit bekannten Dionysos bezogen werden könnten. Dieser Eindruck der Wahllosigkeit verflüchtigt sich jedoch bald nach der ersten Begegnung mit den Gestalten und Wesenszügen des Dio‐ nysos in Literatur und bildender Kunst. 3.1 Die Grundlagen des Dionysos-Mythos Um das Vorhaben dieser Arbeit zu gewährleisten, Gaudés dionysische Mytho‐ poiesis zu untersuchen, muss zunächst geklärt werden, was dionysische My‐ thopoiesis ist, was zum Mythenkreis des Dionysos gehört und wie dieser, wenn überhaupt möglich, einzugrenzen ist. Wie in vielen anderen Teilgebieten der Literaturwissenschaft ist es ist schwierig, die Literatur über Dionysos über‐ blickbar zu halten. Ebenso schwierig ist es zu entscheiden, welche Werke man als Forschungsgrundlage zur Untersuchung der dionysischen Mythopoiesis he‐ ranzieht; eine Auswahl auf diesem Gebiet kann nur eine begrenzte sein. Die hier getroffene Auswahl verschließt sich jeglicher mit ihr in Verbindung zu bring‐ ender Wertung, sondern will sich bewusst jüngerer Dionysosforschung öffnen, ohne Meilensteine des 20. Jahrhunderts zu übergehen. Des Weiteren sind die hier angezeigten Passagen aus der Dionysosforschung primär nach den Ge‐ sichtspunkten ausgerichtet, die zu Gaudés dionysischer Mythopoiesis über‐ leiten. Auf die Gegensätze vereinende Wirkung des Dionysos wird besonders eingegangen werden, da sie einen fundamentalen Bestandteil von Gaudés An‐ satz der Entgrenzung darstellt, der besonders in seinem dramatischen Werk zum Ausdruck kommt. 3.1.1 Der dionysische Lebenszyklus und -kultus So vielfältig wie die Darstellungen und Eigenschaften des Gottes Dionysos sind, setzt sich der Mythos seiner Geburt, seines Lebens, Sterbens und seiner Wie‐ derkehr aus einer Vielzahl von Versionen zusammen. Allein der Mythos der Dionysosgeburt weist viele unterschiedliche Fassungen auf. Dieser Varianten‐ reichtum ist kulturhistorisch begründbar: Es handelt sich um die geradezu quellende Variabilität vieler Mythen. Oft wurde ja dieselbe Geschichte von Ort zu Ort abweichend erzählt. Es gibt […] einander wider‐ sprechende Darstellungen des Dionysos-Mythos und desjenigen Apollos; jedes Le‐ xikon des antiken Mythos liefert für solche Unterschiede zahlreiche Beispiele. Nun soll nicht geleugnet werden, daß dabei bisweilen ernste Meinungsverschieden‐ heiten zwischen verschiedenen Städten, an denen derselbe Gott verehrt wurde, auf‐ traten, andererseits allerdings nicht eben jede Variante ernst genommen wurde […]. 55 3.1 Grundlagen 13 Für eine Besprechung weiterer Versionen des Geburtsmythos und der Elternschaft von Dionysos vgl. Mailahn 2011: 6-10. Dennoch blieb vieles, das kultische Bedeutung hatte und daher kaum mit dichterischer Freiheit erklärt werden kann, nebeneinander bestehen, obgleich es miteinander un‐ vereinbar zu sein scheint. (Hübner 1985: 278) Eine der vielzähligen Versionen des dionysischen Geburtsmythos ist der im phrygisch-griechischen Raum besonders verbreitete Zeus-Semele-Mythos, der von Hesiod (Theogonie, 940 ff.) und Ovid in der Literatur festgehalten wurde. 13 Demnach zeugte Zeus mit der Geliebten Semele einen Sohn. Während ihrer Schwangerschaft wurde Semele von der eifersüchtigen Hera, in Gestalt ihrer Amme, angestachelt, Zeus zu bitten, sich in seiner wahren, göttlichen Gestalt zu zeigen. Diesem Wunsch kommt Zeus nach, und so muss Semele sterben, nicht ohne durch die Gewalt der Epiphanie niedergekommen zu sein. Eine andere Version macht Dionysos zum pyrigenaes, zum Feuergeborenen. Nachdem Zeus widerwillig Semeles Wunsch entsprach, tötete er sie durch sein gefährlichstes Attribut, den Blitz. Noch bevor Semele verbrannte, nahm sich Zeus des unge‐ borenen Kindes an und trug es, in seinen Schenkel eingenäht, aus (Ovid, Meta‐ morphosen III, 4 f.; Kerényi 1994: 78; Blumenberg 1979: 261 ff.). Durch letztere Version wird Dionysos überdies zum dissotokos, zum „Zweimalgeborenen“ (Baeumer 2006: 18). Gleich nach seiner zweiten Geburt wird Dionysos von den durch Hera angestachelten Titanen zerrissen und muss mittels der Zusammen‐ setzung seiner verstreuten Körperteile durch Apollon erneut zum Leben erweckt werden. Wieder eine andere Version des Dionysos-Mythos betitelt Dionysos als Sohn der Persephone, der von Zeus in Schlangengestalt gezeugt wurde (Otto 1980: 178; Kerényi 1994: 80; 82). So weist Dionysos nicht nur mehrere Geburten auf, die in ständigem Wechsel aufeinanderfolgen, sondern spielt auch auf die zent‐ rale Eigenschaft des Mythos an, dessen verschiedene Versionen bisweilen in‐ kompatibel oder auch gegensätzlich sein mögen, den Kern des dionysischen Wesens jedoch recht unverändert wiedergeben. Zugleich gibt der Versionen‐ reichtum der Dionysosmythen dem Autor als Rezipienten und Neugestalter die literarische Berechtigung, den Dionysosmythos nach seiner Façon zu rezipieren und zu gestalten. Die verschiedenen Varianten des Geburtsmythos exemplifi‐ zieren das Ankommen des Mythos in einer Gemeinschaft und dessen rituelle Erneuerung: Sa venue [de Dionysos, Anm. d. Verf.] au monde est un « mythe » central, que les peuples se racontent chacun à sa manière. La fécondation de Sémélé remonte dans le 56 3 Der Mythos des Dionysos passé d’une Thèbes légendaire, elle est liée à la fondation de la ville. Le retour du dieu, venant se faire reconnaître, est une histoire sans âge. Le dieu est toujours jeune, d’une jeunesse qui n’est pas celle des autres dieux; il est toujours nouveau et arrive toujours d’ailleurs, exilé où qu’il soit. (Bollack 2005: 14) Hierbei ist die aus der Fremdheit des Neuankömmlings resultierende Abneigung das konstanteste Element aller Mythenversionen: „La non-reconnaissance […] est la donnée la plus constante de son personnage de dieu.“ (Bollack 2005: 14) Gleichzeitig ist die Verkennung aber auch ein notwendiges Hindernis und eine unumgängliche Station in Richtung der Wiedererkennung des Dionysos und der Herausbildung seines Kultes. Der Geburtsmythos des Dionysos gibt folglich Aufschluss über die Komplexität des Nachvollzugs von göttlicher Evidenz durch den menschlichen Intellekt. Schwierigkeiten sind Dionysos aber bereits in die Wiege gelegt. Trotz aller befreienden Energie, die er ausstrahlt, ist seine Vita ein sich immer wieder von neuem aufrollendes Lebensdrama: Wir haben da den ersten Akt eines mythischen Dramas zurückgewonnen, der dem minoischen Kreta zuzuweisen ist und einen älteren Stil trägt als die Kultur der Paläste. Das Kind, in dessen Geburt dieser Akt mündete, ist gehörnt: Die Stiergestalt, rein oder mit der Menschengestalt vermischt, beherrscht den zweiten Akt. Die rituelle Form dieses Aktes, die Zerreißung oder Zerstückelung eines Stieres oder eines anderen ge‐ hörnten Opfertieres, namentlich eines Bocks, wird zu einer dionysischen Opferhand‐ lung. Diese ist mit allen Einzelheiten, die die Unzerstörbarkeit des Lebens in der Zer‐ störung selbst vergegenwärtigen, rekonstruierbar. (Kerényi 1994: 83.) Somit ist die Überschreitung der Grenze, die „sterblich“ und „unsterblich“ trennt, eine der zentralen Eigenschaften des ambivalenten Dionysos-Kultes. An einer „erotisch-dionysischen Entführung“ kann immer auch die „Geleitung zum Tode“ erkannt werden (Kerényi 1994: 225). Idylle und Apokalypse liegen im dionysischen Mysterium folglich untrennbar zusammen; es handelt sich um ein doppeltes Mysterium, was eindeutig auf eine Zeremonie verweist, in der die Hinführung zur Weitergabe des Lebens für die Überführung in den Tod steht. Hiermit hebt sich zugleich die Ambivalenz und der sich dem Verständnis der Nichteingeweihten entziehende Charakter des Mysteriums hervor. Heiterkeit durfte in dieser auf Tod und Übergang zentrierten Atmosphäre jedoch auch nicht fehlen. Dies lässt sich an der Einführung des Satyrdramas bei den Dionysien erkennen, „ein lachenerregendes Stück nach den Tragödien.“ (Kerényi 1994: 198) Durch die Satyrspiele wird der direkte, unterbrechungslose Übergang vom Tod in die Geburt, der Anfang und Ende des Lebens miteinander vereint, gleichzeitig den Verstorbenen huldigt und die Neugeborenen erweckt, im Dionysoskult erst recht deutlich: 57 3.1 Grundlagen Während die Priester am Grab des Dionysos im Apollotempel den schrecklichen Tod des Gottes durch die Titanen feiern, rufen die Chöre der delphischen und attischen Thyiaden auf den Berggipfeln den Gott und wecken ihn, als Knäblein „in der Wiege (im Korb) liegend“ (liknites), zu neuem Leben. Auf denselben Gipfeln, so glaubte man, tanzte und raste Dionysos einst im Fackelschein mit den Nymphen der korykischen Grotte, weshalb Dionysos diesen Ort auch „im Besitz hat“ (Baeumer 2006: 30 f.). Da Dionysos der Gott der Ankunft ist, der sich immer wieder auf fremdem, bereits kultisch bedientem Territorium eine Heimat sucht, sind Widerstands‐ mythen gegen ihn genauso häufig anzutreffen wie die Mythen über seine Geburt und Herkunft und bilden einen fundamentalen Teil der Dionysosvita (Gesing 1988: 119). Als Eroberer immer neuer Gebiete seines Kultes ist Dionysos aber auch der Gott des Sieges der Freiheit und Übersinnlichkeit. Überall wo der rei‐ sende Gott einzieht, wird er nach anfänglicher Ablehnung verehrt und gefeiert. Seine Begleiterinnen übernehmen all seine freizügigen und wehrhaften Eigen‐ schaften (Otto 1980: 73). So sind die Waffen, die sie gebrauchen, zu mehreren Zwecken tauglich. Nicht nur das Phallische ist den Thyrsosstäben der Mänaden eigen, sondern auch die Gewalt über bewaffnete Männer, Widersacher des Frau‐ enbeglückers, die, verwirrt über das Fortbleiben ihrer sonst an den Haushalt gebundenen Frauen, mit Aggression auf das plötzliche Freiheitsstreben des le‐ bensspendenden und erdverbundenen Geschlechts reagieren. Dionysos ist nicht bloß der jauchzende und Freudenbringer, er ist der leidende und sterbende Gott, der Gott des Tragischen Widerspruchs. Und die innere Gewalt dieser Doppel‐ wesenheit ist so groß, daß er wie ein Sturm unter die Menschen tritt, sie erschüttert und ihren Widerstand mit der Peitsche des Wahnsinns bändigt, Alles Gewohnte und Geordnete muß zersprengt werden. Das Dasein wird plötzlich zum Rausch - zum Rausch der Seligkeit, aber nicht weniger zu dem des Schreckens. (Otto 1980: 74) Jedoch vertreiben auch Dionysos-Mythen die menschliche Todesfurcht: „Die Schrecken des Todes wurden durch die Identifikation des Toten mit Dionysos oder durch den Glauben der liebenden Hingabe der weiblichen Verstorbenen an den Gott überwunden.“ (Kerényi 1994: 228) Die Verschmelzung sämtlicher Höhe- und Tiefpunkte des Lebens im Tod und dessen Entgrenzung durch den Übertritt zu neuem Leben ist in Dionysos in besonderem Maße begründet, der dem Tod zu einer grundlegend positiven Betrachtung verhilft. Diese kommt in den dionysischen Kultzeremonien aber auch in mythopoietischen Texten zum Ausdruck: Entgegen den später oft komödiantisch parodierten und schließlich verballhornten „bacchantischen“ Momenten des Kultes, ist er vielleicht der elementarste und rätsel‐ 58 3 Der Mythos des Dionysos 14 Jünger, Hans-Dieter, „Dionysos - inständig aufständig“, in: Kairos und Kaos. A Place for Dionysian Energies (Internetportal): https: / / www.interment.de/ kairosundkaos/ Essays/ dionysos.htm (07.09.2018). hafteste der Götter, der Hirte und Wanderer zwischen den Welten, das geheimnisvoll mit dem Tod vermählte Leben, gleichsam das personifizierte Fort- und jähe Wieder‐ aufleben jener eruptiven Aufstände, wie sie immer nur im Anfang sind. Dionysos verkörpert jene ebenso paradoxe wie souveräne Lebensenergie selbst, in der die Lust zu Vergehen und zu Werden in eins verschmelzen, in der, mit anderen Worten, in‐ ständiges Sein und grenzenloses Werden noch nicht als „Gegensätze“ empfunden werden. 14 Für Jung deckt sich die Geschichte des jungen Dionysos mit dem archetypi‐ schen Kindgott als Kulturbringer ( Jung 1976: 192 f.): Als Hervorbringer neuen Lebens kommt ein Kindgott häufig aus dem Ursprungselement des Lebens, dem Meer, umgeben von Delphinen und Seegöttern - wie Dionysos, Homer gemäß, nach der Befreiung aus den Händen der tyrrhenischen Seeräuber von Delphinen an Land gebracht wurde. Die Deckungsgleichheit von jugendlichem Dionysos und archetypischem Kindgott kommt in Jungs Erläuterung klar zum Ausdruck: „Das Kind ist daher auch ‚renatus in novam infantiam‘. Es ist also nicht nur ein Anfangs-,sondern auch ein Endwesen. Das Anfangswesen war vor dem Men‐ schen, und das Endwesen ist nach dem Menschen.“ ( Jung 1976: 192) Dionysos steht in besonderer Weise für die Ambivalenz zwischen lebens‐ treibenden und lebensbeendenden Kräften, er ist Verkörperung der Synthese von eros und thanatos (Otto 1980: 101). Im Rausch des eros kommt der Tod dem Leben nahe, und in den wilden ausgelassenen Tänzen, die oftmals todesmutige Waghalsigkeit in ihrer Choreographie enthalten, äußert sich die erotische Eks‐ tase der bewusst inszenierten Todesnähe. Eros und Thanatos „haben sich von jeher schwärmerisch begrüßt und angezogen.“ (Otto 1980: 125) Deshalb ist der in seinem Wesen widersprüchliche, weil Gegensätze vereinende Dionysos so‐ wohl eine Fruchtbarkeitsals auch eine Todesgottheit (ebd.: 126). Der Über‐ gangspunkt vom Leben in den Tod und vom Tod ins Leben liegt in der Ekstase: Im Zustande verzücktesten Daseins wird das Individuum ausgelöscht, es fühlt sich mit dem Alleben eins und löst sich darin auf; da es sich aber gerade deswegen nicht schlechthin ins Nichts und in bloßen Staub zerfallen fühlt, erwartet es auch noch vom Tode Leben, muß auch die Erde das Tote als Lebendiges bergen und wieder gebären. So ist auch die enge Beziehung zwischen Tod und Geschlechtlichkeit zu verstehen, die im griechischen Kult ihren Ausdruck findet. (Hübner 1985: 214) 59 3.1 Grundlagen Die dionysische Ambivalenz gilt eben gerade für die zentrale Dichotomie Leben und Tod, die Dionysos, wie kein anderer Gott der griechischen Mytho‐ logie, in sich vereinigt. Durch die Umfassung dieser grundlegenden, das mensch‐ liche Dasein bestimmenden Gegensätze, wird Dionysos zum Entgrenzer, zum Sinnbild für die Überschreitung von Grenzen, die den Menschen beherrschen und damit zum Inbegriff überbordender Freiheit. In seinem Auftreten ist Dio‐ nysos der „Taumel, der überall kreist, wo gezeugt und geboren wird und dessen Wildheit immer bereit ist, in Zerstörung und Tod fortzuschreiten. Er ist das Leben, das im Überströmen rasend wird, und in seiner tiefsten Lust dem Tode verschwistert ist.“ (Otto 1980: 131) So ist Dionysos vor allem ein Vereiniger von Gegensätzen - eine Qualität, die sich für viele literarische Strömungen eignet, welche den Topos der concordia discors, der Einheit in der Vielheit, zum Grund‐ satz haben. (Kerényi 1994: 131) Es ist diese Fähigkeit des Mythos zur Transformation, die Otto im Dionysos‐ mythos bestätigt sieht: „Wir stoßen hier auf ein Welträtsel: das Mysterium des sich neu gebärenden Lebens.“ (Otto 1980: 124) Das Wesen des Dionysos stößt an den von Blumenberg so genannten Absolutismus der Wirklichkeit an: „Das Ur‐ geheimnis selbst ist wahnsinnig - der Schoß der Doppelheit und der Einheit des Zwiespältigen.“ (ebd.: 125) Blumenbergs Begriff des Absolutismus der Wirk‐ lichkeit ist damit vergleichbar mit dem, was Otto „Urwelt“ genannt hat: Dio‐ nysos „brachte die Urwelt mit. Darum riss sein Sturm das Menschliche aus aller Gewohnheit und bürgerlichen Gesittung heraus in das Leben, das vom Tode berauscht ist, wo es am lebendigsten glüht, wo es liebt, zeugt, gebiert und Früh‐ ling feiert.“ (ebd.: 129) Kaum ein anderer Gott ist so eng mit dem Leben und den Bräuchen der Men‐ schen verbunden, die ihn verehren. Daher steht Dionysos für die Synthese von Mythos und Realität durch seine Verkörperung vieler Bereiche des Alltagslebens im gesamten Mittelmeerraum. Dionysos ist damit Inbegriff des Facettenreich‐ tums und gleichzeitig der Begrenztheit des Lebens; er repräsentiert folglich den Mythos der zoé, des Lebens, das sich einen Weg sucht und immer auch findet: Der Mythos der zoé näherte sich in dem mit großer Kunst aufgebauten attischen Ka‐ lender auf verschiedenen Ebenen seiner Erfüllung. Als eine Ebene darf der Wein auf‐ gefasst werden, als eine zweite die Erzeugung, der embryonale Zustand, die Frühge‐ burt und die Geburt des Kindes und als eine dritte die wieder erlangte Ganzheit eines zerstückelten und entmannten Gottes, der zwölf Monate lang bei den Toten weilte. Das alles mußte auf der Ebene des Sonnenjahres vor sich gehen, das den Inhalt einer Trieteris in sich vereinigte. (Kerényi 1994: 182) 60 3 Der Mythos des Dionysos Im Dionysoskult äußert sich das Erleben der dionysischen zoé durch die di‐ onysische Zweijahresperiode. Der ungewöhnliche Name Trieteris für den Kult‐ zyklus erklärt sich folgendermaßen: In einer Trieteris geschah im zweiten Jahr das Entgegengesetzte dessen, was im ersten Jahr vor sich ging, und erst im dritten Jahr begann die Wiederholung: daher der Name Trieteris für eine Zweijahresperiode. Der Gott, der in beiden Jahren gefeiert wurde, war im Hinblick auf seine Feste, die erst vom dritten Jahr an wiederkehrten, Triete‐ rikós. Er hieß aber auch Amphietes, „der von beiden Jahren“. Denn erst die zwei zu‐ sammen entsprechen ihm völlig, der die beiden mit ihren Gegensätzen in sich verei‐ nigte. (Kerényi 1994: 128) Die dionysischen Schiffskarrenprozessionen während der athenischen An‐ thesterien, die wie „kaum ein anderes antikes Fest […] den weitgefassten gött‐ lichen Charakter des Dionysos“ verdeutlichen (Gesing 1988: 20 f.), beinhalten zwei grundlegende Charakteristika: Den religiösen Kult und die Legende vom Triumph des Dionysos. Von den Anthesterien sind vor allem der „Einzug des Dionysos auf dem Schiffskarren“ sowie „das Mischen des heiligen Weines mit dem darauffolgenden Wetttrinken“ bekannt (Otto 1980: 107). Auch andere Kult‐ veranstaltungen verweisen auf eine Reise des Dionysos über das Mittelmeer von Kleinasien nach Griechenland und mythisieren damit jegliche Theorie über seine Herkunft von vorne herein; jede der Herkunftstheorien findet in dem ein oder anderen Brauch der verschiedenen Kultfeiern des Dionysos im gesamten östlichen Mittelmeerraum ihre Bestätigung. Das immense Inventar an Ansätzen der Herkunft des Dionysos schließt eine klare Verortung des dionysischen Ursprungs aus und bekräftigt zugleich den Wesenszug des Dionysos als immer wieder neu ankommender Gott. Gleichwohl halten die Griechen ihre Dionysoskulte für „uralt“, was beweist, dass der Dio‐ nysoskult trotz seines zwiespältigen Wesens hervorragend an herrschende Ver‐ hältnisse angepasst werden kann. Findet Dionysos einmal Aufnahme in eine Kultur, verschmelzen Ankommen und autochthone Erhabenheit zu einem Ganzen, das Dionysos mindestens gleichberechtigt neben andere Götterkulte stellt. Die Herkunft des Dionysos variiert von Mythos zu Mythos; Diskrepanzen in der Einschätzung über Herkunft und Entstehung des Dionysoskultes sind so vielfältig wie die Versionen des Dionysosmythos. Karl Kerényis Einstehen für den minoischen Ursprung des Dionysoskultes bestätigt Max Baeumer (2006: 12). Für Erwin Rohde (1898/ 1991) hat der Dionysoskult thrakischen Ursprung. Jean Bollack hingegen plädiert für die asiatische Herkunft des Dionysoskultes (2005: 46) - Beleg hierfür sind auch die Bakchen des Euripides, in denen der aus dem 61 3.1 Grundlagen Osten kommende Dionysos exotische Züge erhält (Euripides 1958: 94). Auch Richard Seaford legt die orientalische Herkunft des dionysischen Kultes nahe, da Dionysos Ähnlichkeit mit hinduistischen Gottheiten aufweist (2006: 128). Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, wie Rohde ausgangs des 19. Jahrhunderts aktiv, konkretisiert bereits den Ursprung des Dionysos auf Phrygien; nicht zu‐ letzt, weil „Semele“ sehr wahrscheinlich die griechische Abwandlung des Na‐ mens der phrygischen Göttermutter Zemelo ist (Euripides 1958: 92). Nach dieser Theorie ist der Dionysoskult ca. im achten Jahrhundert v. Chr. über Lydien und das Mittelmeer nach Griechenland gekommen (Baeumer 2006: 12). Otto und Kerényi zufolge ist der Dionysoskult noch älter und bereits seit dem Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus nachweisbar (Otto 1980: 56; Kerényi 1994: 9). Diese Variationen sind eine der Grundeigenschaften des Mythos - der Diony‐ sosmythos ist also genauso wenig wie der Mythos im weiteren Sinne auf feste Versionen fixierbar. Allein die Annahmen früher Mythographen, Dionysos komme aus einem fernen Märchenland (Otto 1980: 57 f., 61), erklärt die nicht abreißende Reihe von Forschungsansätzen und Spekulationen über die Her‐ kunft des Dionysos und seines Kultes. Seit dem Aufflammen der Mythosfor‐ schung Mitte des 19. Jahrhunderts existieren die unterschiedlichsten Theorien nebeneinander. Wie der Dionysos-Mythos auf die Menschen wirkte, zeigt sich in der äußerst regen Rezeption und der Ausübung verschiedener Veranstaltungen des Kultus im Mittelmeerraum über einen langen Zeitraum hinweg. So wurde der Mythos Teil des Lebens der Menschen und zeigte seine völlige Adäquatheit für den All‐ tags- und Festtagsablauf durch die Selbstverständlichkeit, mit der er von den Menschen hingenommen wurde: Konsistent und kohärent mußte ein Mythos sein, wenn man fast ein Jahrtausend lang noch danach lebte und starb, in Ländern und Städten, für die er nicht der Mythos des Staates war, nicht einmal auf jene eigentümliche Weise wie in Athen. Man lebte und starb nach dem Mythos, da der Gott selbst lebte und starb, wiederum auf eine eigen‐ tümliche Weise: Nicht wie die Götter der Vegetation, die dem Menschen als Menschen nur per analogiam etwas bedeuten können. Man erfuhr Dionysos in sich - Männer und Frauen auf die intimste Weise des eigenen Geschlechtes -, und vom Aufhören dieser Erfahrung besaß man keine Erfahrung. Was Tod sein könnte, erfuhr man auf Höhepunkten des gesteigerten Lebens, und das, was fast Tod ist, in der Erschöpfung des Geschlechtes, die der Erschöpfung der zoé so nahe kommt. (Kerényi 1994: 215) Max L. Baeumer leistet in seiner Studie mit dem Titel Dionysos und das Dio‐ nysische in der antiken und deutschen Literatur (2006) einen äußerst informativen Beitrag zur Geschichte der Dionysosforschung (besonders S. 11-88). Nach einem 62 3 Der Mythos des Dionysos neueren Stand Forschung liegt es nahe, dass die Dionysosverehrung ein sehr alter Kult ist, der an mehreren Stellen aufgetreten ist; zwar ist dies nicht gleich‐ zeitig erfolgt, aber aus heutiger Sicht ist es nahezu unmöglich zu rekonstruieren, wann und wo er zum ersten Male auftrat. Dies spielt der Mythologie des dio‐ nysischen Wesens in die Hände, wonach Dionysos ein Gott der Entgrenzung ist, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, an mehreren Orten zugleich aufzutreten. Eine grundlegende Parallele, die für Gaudé die Grundlage der Dionysoskon‐ zeption in seinem Theaterstück Onysos le furieux (OF) geliefert hat, ist die Hei‐ matlosigkeit und die Getriebenheit zu reisen, die aus mangelnder Akzeptanz resultiert. Otto zufolge ist Dionysos in die Gebiete seiner Verehrung „einge‐ drungen“ und hat „seine Anerkennung erst nach Überwindung heftiger Wider‐ stände durchzusetzen vermocht“ (Otto 1980: 51). Auch die Affinität zum Reisen macht Dionysos zu einem ambivalenten Gott. Seine mythische Wanderung, die sich über den gesamten Mittelmeerraum erstreckt (Kerényi 1994: 61), ruft un‐ terschiedliche, bisweilen gegensätzliche Zeremonien seiner Verehrung hervor und lässt damit den Dionysoskult selbst ambivalent werden. Diese Doppelbö‐ digkeit macht jedoch gerade die Spannung aus, mit der das dionysische Wesen in der Literatur auftritt: „In der kultischen Darstellung, im Spiel der ersten Tra‐ gödie und Komödie, denen der Gott Namen und Inhalt gab, verschmelzen der thrakisch-orgiastische Dionysos und der lydisch-phrygische Weingott zu dem einen Bild, das von hier ab in der Literatur erscheint.“ (Baeumer 2006: 37) Somit ist die Ankunft in immer neuen Gebieten eine zentrale dionysische Eigenschaft. Gaudé nutzt die vielzitierte Ankunft des Dionysos in der Stadt als Sinnbild für das Mythische in der Lebens- und Kulturgemeinschaft der Menschen und als Modell für seine Momentanrealisierung des Dionysos-Mythos in New York (OF, 15; Kerényi 1994: 108 f.). 3.1.2 Die Namen des Dionysos - Allegorie und Wesen zugleich Dionysos hat nicht nur einen einzigen Namen, er lebt gerade von seinen Bei‐ namen, die einerseits über eine konkrete Situation seiner Vita Aufschluss geben und andererseits die Fähigkeit zur ständigen Verwandlung als dionysischen Wesenszug ausweisen. Zur Klärung der Namensherkunft des Dionysos offeriert Otto die These der Annahme von Nysa, „eines göttlichen Berglandes in fabel‐ hafter Ferne“ (Otto 1980: 58; Homer 2002: 1. Homerischer Hymnus), dessen Be‐ wohnerinnen, „Nysiai“ oder „Nysiades“, die Frauen seien, die Dionysos aufge‐ zogen haben. Der Name „Dionysos“ bestehe folglich aus zwei Teilen, „Διο“ (Dio): ‚der Göttliche‘ oder ‚Sohn des Zeus‘ und „νυσος“ (nysos): ‚aus Nysa stam‐ mend‘ (Otto 1980: 58 f.). Otto knüpft seine These der Namensherkunft direkt an 63 3.1 Grundlagen die Annahme der Herkunft des Kultes, der, seiner Ansicht nach, mit der Ver‐ breitung des Weines, von Osten in den Mittelmeerraum gekommen ist: „Nysa, der Ort, wo er [Dionysos, d. Verf.] von den Nymphen aufgezogen wurde, hat man sich im fernen Osten gedacht. Im Osten liegen die alten Weinländer, wäh‐ rend der Wein im Westen verhältnismäßig jung ist.“ (ebd.: 179) Baeumer führt Ottos These an, liefert aber selbst eine „moderne etymologi‐ sche Erklärung“ für den Namen „Dionysos“ (2006: 18), die er durch die Verwen‐ dung bei mehreren antiken Autoren bestätigt sieht: Der Name leite sich von der Bezeichnung „Sohn des Zeus“ ab, die Euripides als Periphrase für den Gott am häufigsten gebraucht. Der Name des Dionysos ergibt sich nach Baeumer aus der Zusammensetzung zweier Wörter, „Διος“, als Genitiv von „Zeus“ und „νυσος“, wie bereits Otto ausführte, als Herkunftsbezeichnung des Gottes, der im göttli‐ chen Bergland Nysa nach der Geburt aus dem Schenkel des Zeus von den nach diesem Bergland benannten Nymphen aufgezogen wurde. Nach dem aktuellen Forschungsstand ist der Name „Dionysos“ sehr früh belegt: Im 13. Jahrhundert vor Christus erscheint er zum ersten Male auf Tafeln aus Pylos auf der westli‐ chen Peloponnes sowie in Chania auf Kreta; dort zusammen mit dem Namen „Zeus“ (Seaford 2006: 15) - folglich nicht sehr lange nach der heute angenom‐ menen Entstehung des Schrifttums im Zweistromland (vgl. 4.1.1). Dionysos ist bereits aufgrund seiner Entstehung der Gott der „Doppelwe‐ senheit“, der Gegensätze in sich trägt und damit vereint, folglich durch sein widersprüchliches Wesen Grenzen sprengt (Otto 1980: 70). Einer der vielen Bei‐ namen des Dionysos ist deshalb auch dímorfos oder polýmorfos, der „Zweige‐ staltige“ oder „Vielgestaltige“ (ebd.: 101), der zur permanenten und immer wieder neuen Verwandlung Fähige. Darüber hinaus ist Dionysos ein Gott, dessen Macht und Eigenschaften sich, entgegen der aller anderen olympischen Götter, erst in der Epiphanie entfalten. Sein Kairos verursacht Ekstase und Ra‐ serei; Dionysos kommt mit Lärm und geht mit Totenstille (Otto 1980: 85 ff.). Die Ruhe kann hier nur eine Zwischenstation vor dem erneuten Umbruch sein, der selbst wieder in temporäre Ruhe mündet. Die von vielen Dionysosforschern unterstrichene Abwechslung der Extreme ist jedoch nicht das Ziel des Gottes - es ist ihre Verschmelzung: Der Gott „zeigt sich in seinem Weggang als ebenso wohltätig, wie er durch seine Gegenwart schrecklich war.“ (Girard 1987: 199 f.) Dionysos ist durch die Vereinigung absoluter Gegensätze eine Verkörperung des ineffabile: „Rauschendes Tosen und erstarrtes Schweigen sind nur verschiedene Formen des Namenlosen, alle Fassung Übersteigenden.“ (Otto 1980: 86) Auf diesen Aspekt legt auch Gaudé bei seinem Onysos und anderen Figuren mit dionysischen Charakterzügen besonderes Augenmerk. 64 3 Der Mythos des Dionysos 15 Einige Beinamen, die auch in Gaudés Werk eine Rolle spielen, seien hier vorab genannt: bromios: der Lärmende; pyrigenaes: der Feuergeborene (beides Verweise auf Erschei‐ nung des Zeus als Blitz und Donner bei seiner ersten Geburt); mainómenos: der in den Wahn treibende, zagreus: der Jäger, der Zerreißer, der Verschlinger. Vgl. zudem 3.1.3 u. 3.2. Einige dionysische Beinamen sind onomatopoetische Bildungen, die direkt mit seiner Anrufung und Heraufbeschwörung in Verbindung gebracht werden können. Nicht nur laute Instrumente, sondern auch laute Rufe umgeben ihn. Abgeleitet vom Verb „euarein“ (gr. für ‚jubelnd rufen‘) sind der dionysische Ju‐ belruf „euoi“ oder „euia“ (Bakchai 140; 157) und der dionysische Beiname euios. Der Ausruf „evoe“ wird noch in der Dithyrambendichtung des 18. Jahrhunderts gebraucht, und auch Gaudé spielt wiederholt auf ihn an (OF, 12; 15; 17; 28). Bakchos, aus dem sich die römische Entsprechung des Dionysos, Bacchus he‐ rausgebildet hat, kommt von „bazein“ (gr. für ‚jubeln‘, ‚toben‘). Der Beiname iakchos wiederum ist auf „iakchein“ (gr. für ‚schreien‘, ‚jauchzen‘) zurückzu‐ führen (Baeumer 2006: 17). So steht der dionysische Jubelruf, die Ololygé, der Euphemia, der von Otto erwähnten Stille vor der Epiphanie, diametral entgegen, findet aber gerade in ihr seine Ablösung, um die Stille vor der Epiphanie selbst wieder ablösen zu können: „Zwar fehlt den Reichen anderer Götter das Wider‐ sprechende nicht. Aber keines ist so vom Widerspruch zerrissen, wie das des Dionysos.“ (Otto 1980: 103) Mit wiederum anderen seiner Beinamen übertrifft Dionysos andere, sogar vor ihm gewesene Götter an Schrecken, womit der Gott die von Blumenberg konstatierte Entfernung vom Schrecken in der Abfolge der Göttergenerationen konterkariert. 15 Dionysos erinnert wieder an das „Ungeheuer des ewigen Dun‐ kels“ (Otto 1980: 104) aus den Anfängen der griechischen Göttergenealogie. Die Doppelheit des dionysischen Wesens zeigt sich in der Besitznahme des Irdischen und des Totenreiches, wie man sie keinem anderen Gott zuschreiben kann. Seine Beinamen zeugen daher meist von einer chthonischen Urgewalt: „Keine einzige griechische Gottheit hat auch nur annähernd so schauerliche, von der erbar‐ mungslosesten Wildheit zeugende Beinamen, wie er“ (ebd.: 105 f.). Dass der Name nicht lediglich ein direkter Verweis auf die Person ist, sondern mit der Namensnennung die Anwesenheit des Gerufenen einhergeht, somit Ge‐ stalt und Name eins sind, ist eine in der Antike weit verbreitete Auffassung und damit fundamentaler Bestandteil des dionysischen Namensgeflechts: Zu jeder rituellen Handlung gehört die Anrufung eines Gottes mit seinem Namen. Der Name ist nicht nur etwas Ideelles, sondern er ist bereits mythische Wirklichkeit des Genannten. Durch die Anrufung des Namens in bestimmter, zum Ritus des Gottes 65 3.1 Grundlagen 16 Mit der Anziehungskraft des Dionysos aufgrund seiner Verwandlungskünste und der ekstatischen Wirkung auf den Menschen beschäftigten sich in den letzten Jahren zwei beachtenswerte Kunstausstellungen: „Dionysos - Verwandlung und Ekstase“ (Berlin 2008/ 09 - Ausstellungsband: Schlesier et al. 2008) sowie „Dionysos. Rausch und Ekstase“ (Hamburg 2013/ 14; Dresden 2014 - Ausstellungsband: Bierl et al. 2013). gehöriger Weise, ist der Gott bereits anwesend. Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, daß der Gott mit seinem richtigen und für den jeweiligen Zusammenhang bedeutsamen Namen gerufen wird. […] Dabei spielten die verschiedenen Beinamen eine wichtige Rolle (Hübner 1985: 124). Es ist folglich nicht unerheblich zu wissen, welcher Dionysos gemeint ist, da der Gott seine Gestalt je nach Situation und Zeitpunkt der kultischen Trieteris ändert. Selbst wenn sich Situation und Art der Anrufung zu bestimmten An‐ lässen überschneiden, wird Dionysos niemals ohne Beinamen angerufen: Die Beinamen verbildlichen und konkretisieren seine ständige Verwandlung. Aus‐ gehend vom pyrigenaes, dem Feuergeborenen, verwandelt sich Dionysos be‐ ständig: liknites, mainómenos, zagreus, iakchos, bromios - um nur einige zu nennen. Dass sich die Begriffsfelder der Namen überschneiden können, versteht sich von selbst: Die Bezeichnung trieterikós bezieht sich beispielsweise nicht nur auf den gesamten Lebenszyklus des Dionysos , sondern auch auf den sich wie‐ derholenden Dionysoskult; zagreus verweist auf den zerrissenen, getöteten Di‐ onysos, aber auch auf Dionysos als Zerreißer (Graves 2007: 104). Die Namen beinhalten damit den sich ständig erneuernden Zyklus der Dionysosvita und ihres Kultes. 3.1.3 Dionysische Gestalten - Gestalten des Mythos Eine in der bildenden Kunst überaus häufig vorzufindende Version des Diony‐ sosmythos erzählt von etruskischen Seeräubern, die Dionysos auf der Überfahrt von Ikaria nach Naxos gefangen nahmen (7. Homerischer Hymnus). Die ihm angelegten Fesseln konnten Dionysos nichts anhaben; auch das Schiff brachte Dionysos durch Efeu- und Weinranken zum Stehen. Vor Schreck über das Wirken des Gottes stürzten sich die Seeräuber ins Meer und wurden in Delphine verwandelt, die, sich mit dem Gott versöhnend, den schiffbrüchigen Dionysos später an Land zogen (Baeumer 2006: 35 f.). Dionysos beweist in sämtlichen Mythen, in denen er auftritt, eine ungemeine Wandlungsfähigkeit, mit der er über die Menschen kommt. 16 Sein Wesen und sein Verhalten den Menschen ge‐ genüber ist damit sowohl von einer absoluten Konkretheit aber auch von einer absoluten Unnahbarkeit geprägt. Die Wandlungsfähigkeit hilft ihm einerseits, 66 3 Der Mythos des Dionysos die Menschen mit seinem Wesen zu erfüllen, andererseits aber auch, sich dem Zugriff der Menschen durch seine Verwandlungskünste zu entziehen. W. F. Otto fasst die dionysischen Haupteigenschaften treffend folgender‐ maßen zusammen: Das ganze Altertum hat Dionysos als den Spender des Weines gepriesen. Aber man kannte ihn auch als den Rasenden, dessen Gegenwart die Menschen besessen macht und zur Wildheit, ja zur Blutgier hinreißt. Er war der Vertraute und Genosse der To‐ tengeister. Geheimnisvolle Weihen nannten ihn ihren Meister. Und zu seinem Got‐ tesdienst gehörte das dramatische Spiel, das die Welt um ein Wunder des Geistes bereichert hat. Auch die Frühlingsblumen zeugten von ihm; der Efeu, die Pinie, der Feigenbaum waren ihm lieb; aber hoch über all diesen Segnungen im Reiche der ve‐ getativen Natur stand die tausendfach gebenedeite Gabe des Weinstocks. Dionysos war der Gott des seligsten Rausches und der verzücktesten Liebe. Aber er war auch der Verfolgte, der Leidende und der Sterbende, und alle, die er liebte und die ihn be‐ gleiteten, mußten mit ihm das tragische Schicksal teilen. (Otto 1980: 49) Dionysos ist demnach eine Sondererscheinung unter den Gottheiten, da er eine Reihe von Attributen auf sich vereint, die ihn mit anderen Göttern in Ver‐ bindung bringen, sein Wirken damit zu einem Schlüsselmythos in der Mytho‐ logie der griechischen Götter machen. Die verschiedenen Attribute des Dio‐ nysos determinieren sein großes Inventar an Charaktereigenschaften. So zeigt sich die Nähe des Dionysos zur Literatur und ihren rhetorischen Mitteln be‐ sonders eindrucksvoll, wenn man die Gestalten überblickt, die Dionysos in den unzähligen Mythenversionen annimmt. Dass Dionysos der Gott der Ambivalenz ist, in dessen Wesen die Doppeldeutigkeit begründet ist, zeigt sich bereits durch die Vielzahl an Attributen, die in ihm vereinigt sind (Otto 1980: 62). Fruchtbarkeit gilt bei Dionysos als übergeordnete Qualität. Seine bekannteste pflanzliche Domäne, der Weinstock, steht unter anderem für den Rausch der an Dionysos teilhabenden Weintrinker und für die Ekstase der Bacchantinnen, deren Urheber letztendlich der Gott selbst ist. Bei den buchstäblich rauschenden Festen bedienen die Satyrn und Mänaden mit Thyrsosstäben das maskuline, phallische Symbol der sexuellen Erregung und Aktivität. Die Schlange, die später gerade im Christentum für die Versuchung schlechthin steht, schließt den Kreis dieser Attribute und steht für das Verführerische an Dionysos, das ihm die Macht verleiht, jede Frau in seinen Bann zu ziehen (Kerényi 1994: 87). Gaudé legt einen der Schwerpunkte seiner mythologischen Rezeption des Dionysos‐ kultes auf die Anziehungskraft des Dionysos, die er vor allem auf Frauen aus‐ übte, und der ekstatischen Auswirkungen der von Dionysos provozierten Zu‐ sammenkünfte (OF, 14; 16 f.; 19 f.; 28; 46). Dass dies (noch) bei Homer belegt ist, 67 3.1 Grundlagen zeigt die zentrale Bedeutung dieser dionysischen Eigenschaften. Darüber hinaus ist die Erscheinung des Gottes als einer Synthese aus Gottheit und vielgestal‐ tigen weiteren Attributen typisch für Darstellungen des Dionysos. Es herrscht folglich ein Synkretismus zwischen der Götterfigur Dionysos und den Teilen der irdischen Schöpfung, für die ihn die Menschen verehren: Homer weiß vom ekstatischen Kult, den die Frauen dem Dionysos erwiesen, und wenn er Zeus selbst die Worte in den Mund legt, der Sohn der Semele sei zur Freude der Menschen geboren worden, so denkt er sicher an den Wein. Er weiß aber auch um die ganze ambivalente Macht des Weines und kann mit seiner klaren Vision von den olympischen Göttern nur ein zurückhaltender Zeuge sein auf dem dionysischen Ge‐ biet, wo Tiere, Pflanzen und der Wein selbst in stofflicher Identität mit dem Gott erscheinen. (Kerényi 1994: 49 f.) Somit gehören der Synkretismus, die Vereinigung und die Vereinnahmung, zum universellen Programm des Dionysismus (Bollack 2005: 80). Daher ist Di‐ onysos auch, wenngleich nicht ausschließlich, als Vegetationsgott zu sehen, dessen Einfluss stets aus natürlichen Quellen begründet werden kann: Dionysos ist nicht nur Gott des Weines und des Rausches, als der er insbesondere in Attika verehrt wird, sondern er ist in erweitertem Sinn Gott der Vegetation, der Fruchtbarkeit und des damit verbundenen ewigen Zyklus des alljährlichen Entstehens und Vergehens. Seine Anhänger sind „enthusiasmos“ - „des Gottes voll“; sie sind be‐ seelt von der Kraft der verehrten Gottheit und ekstatisch berauscht von seiner gött‐ lichen Gabe. (Gesing 1988: 15 f.) Eine Zusammenschau der dionysischen Assimilation von Namen, Attributen und Zeichen, lässt bis ins Detail ein komplexes Netz von Isotopien erkennen, die ein Verwandtschaftsverhältnis bilden und sich wechselseitig in Semantik und Intensität ergänzen. Verschiedenste Attribute untermauern die akkumulie‐ rende Funktion des Dionysos, und Dionysos untermauert seinerseits durch seine kultischen Funktionen wiederum die ihm zugeschriebenen Attribute. Die Men‐ schen, die den Dionysoskult betrieben, hatten folglich einen genauen Überblick über diese Komplexität der dionysischen Eigenschaften und ihres Potentials. W. F. Otto beweist, dass eine Beschreibung dieses dichten Bedeutungsgeflechts, das Dionysos umringt, selbst poetische Züge annehmen muss, wenn sie umfassend sein und die Doppelheit von Gegensätzen und Entsprechungen darstellen soll. Stellvertretend für das Bedeutungsgeflecht des dionysischen Diskurses sind, nach Otto, die Attribute des Weines, des Efeus und der Schlange auf semanti‐ scher Ebene, durch ihre Similaritäts- und Kontiguitätsbeziehungen (Schulte-Sasse/ Werner 1997: 111), untrennbar miteinander verwoben: 68 3 Der Mythos des Dionysos Wein und Efeu sind Geschwister, die sich nach entgegengesetzter Richtung entwickelt haben und dennoch ihre Verwandtschaft nicht verleugnen können. Beide machen eine wunderbare Verwandlung durch. Die Rebe liegt in der kühlen Jahreszeit wie erstorben und gleicht in ihrer Dürre einem unnützen Strunk, bis sie unter der erneuten Son‐ nenglut in üppiges Grün und einem feurigen Saft ohnegleichen ausbricht. Nicht we‐ niger merkwürdig ist, was sich am Efeu vollzieht: Sein Wachstum zeigt eine Doppel‐ heit, die gar wohl an das zwiefältige Wesen des Dionysos gemahnen kann. […] Sein Blühen und Früchtetragen aber steht in seltsamer Korrespondenz und Gegensätzlich‐ keit zu dem der Rebe. Er blüht nämlich im Herbste, wenn der Weinstock abgeerntet wird, und trägt im Frühjahr Früchte. Zwischen seiner Blüte und Frucht liegt die Zeit der Dionysischen Epiphanie in den Wintermonaten. […] Und seine Bewegung, mit der er über den Boden hinkriecht oder sich an Bäumen hinaufwindet, kann wirklich an die Schlangen erinnern, die sich die wilden Begleiterinnen des Dionysos um die Haare binden oder in ihren Händen halten. (Otto 1980: 143) Das Efeu ist nicht nur das Pendant zur Weinrebe, da es ein Rankgewächs ist und in seiner Blattform stark dem Weinlaub ähnelt, sondern auch die heilige Heil-Pflanze des Dionysos, die - von Zeus eingesetzt - ihn mit ihren kühlenden Ranken vor dem zerstörenden Brand schützte, den Semele durch Heras Eifer‐ sucht heraufbeschwor (Otto 1980: 62). Neben dem Efeu ist die Schlangengestalt das Symbol für den Kreislauf des Lebens, und mehr noch, für dessen Unzerstör‐ barkeit, denn „zu solchen Verschlingungen ist die Schlangengestalt wie keine andere geeignet. Sie ist die nackteste Form der im höchsten Grad auf sich selbst reduzierten zoé.“ (Kerényi 1994: 82) Dionysos wird nicht nur als Kind in Schlangengestalt, sondern auch als Mann in Stiergestalt dargestellt. Seine Verbildlichungen symbolisieren den Lebens‐ kreislauf: „die Zeugung setzt sich abwechselnd in Schlangen- und Stierform fort.“ (Kerényi 1994: 84) Der Stier ist nicht nur „Symbol der Fruchtbarkeit und Zeugungsfülle“ (Otto 1980: 150), dionysische Raserei und die Wildheit des Stieres sind vielmehr konkomitant. Der dionysischen Zerreißung durch die Ti‐ tanen wird durch das Zerreißen eines Stieres nicht nur auf Kreta gedacht, son‐ dern auch bei den zweijährlich wiederkehrenden Dionysien, die im gesamten östlichen Mittelmeerraum verbreitet waren. Von den Dionysien wird auch der Zerreißungsritus von Schlangen durch die Mänaden berichtet. Die rituellen Tieropfer symbolisieren einen „leidenden, zerstückelten Gott“ (ebd.: 151), wie ihn Gaudé in OF gezeichnet hat. Die dionysische „Strafe“ äußert sich in der wahllosen, der Raserei überantworteten Inanspruchnahme „wahrer“, das heißt unschuldiger Opfer. Ein von Dionysos ausersehener Sündenbock ist deshalb einer, weil er nicht für ein Vergehen bestraft, sondern aus der nicht rational erklärbaren Raserei zum Opfer gemacht wird. Ahnungslosigkeit ist demnach 69 3.1 Grundlagen der zentrale Beweggrund der Auswahl, da sie die größtmögliche Distanz des Menschen zur göttlichen Epiphanie aufweist. Dionysos lebt den Charakter seiner späteren Opfer selbst vor: Seit seiner Geburt hatte er ebenso wenig eine Wahl, der augenblicklichen Ablehnung, Verfolgung und Zerreißung zu ent‐ gehen. Somit lehrt insbesondere die Opferkonzeption des Dionysosmythos das Blumenberg’sche Postulat an die Mythosforscher: nicht zu hinterfragen, weder nach dem Ursprung, noch nach dem Grund. Ein grundlegender dionysischer Aspekt ist die Eigenschaft des betörenden, wahnsinnig machenden mainómenos Dionysos (Otto 1980: 123), der, begleitet von den Mänaden (altgr. „μιναδι“) - den Ammen, die der Mythe nach den „Neu‐ geborenen aufgenommen und erzogen haben“ (ebd.) - über die Lande und durch die Städte zieht, immer wieder zahllose Frauen von Heim und Herd entführt (vgl. OF, 15 f.), um auf den Bergen und in den Wäldern rituelle Beutejagden und ekstatische Tänze aufzuführen. Auf diese Weise schließen sich Milchspende und Blutdurst bei den Mänaden keineswegs aus. Auf den Kultfesten werden nicht nur Prozessionen mit der Zurschaustellung dionysischer Insignien, sondern auch Hetzläufe veranstaltet, die den mainómenos Dionysos ehren. Den Teilneh‐ mern konnte sogar, durch eine für den griechischen Götterkult eher seltene Kommunion zwischen Gott und Mensch, das gleiche Schicksal widerfahren wie der Gottheit: ein blutiges Ende. Gaudé trägt mit der Apposition „le furieux“ im Titel seines Dionysosdramas den vielen Stellen Rechnung, in denen sein Onysos berauschend, wild und zerstörerisch ist und nicht zuletzt von einer Armee Mä‐ naden unterstützt wird. Neben Mischgestalten zwischen Tier und Mensch, die an die theriozephalen, ägyptischen Götterdarstellungen oder gar an einen indianischen Totemgott er‐ innern, wird Dionysos seit der Antike auch vielfach in menschlicher Gestalt abgebildet. Den Übergang zwischen Tier- und Menschgestalt markieren die Mänaden und die Satyrn. Da Dionysos eher selten berauscht aber zumeist als Jüngling oder als Greis dargestellt wird, verweisen die vermenschlichenden Darstellungen des Dionysos auf den Topos puer senex: „Dionysos, Sohn eines Gottes und eines Menschen, auftretend als Jüngling und als Greis, ist aber auch der Gott der Widersprüche und der Verwandlungen, der endlosen Metamor‐ phosen, der rätselhaften Umrißlosigkeit des Daseins, der Verzweiflung und ihrer Überwindung im Rausch.“ (Hocke 1987: 448) Die dionysische Rauschwirkung erzeugt beim Menschen einen „Zustand höchster Steigerung der Lebenskräfte im Menschen gleichsam visionär zu verdeutlichen, bei dem das Bewusste und das Unbewusste wie in einem Durchbruch ineinander übergehen.“ (Kerényi 1994: 94) Da Wahnsinn und Unordnung die Durchbrechung der menschlichen Denkmuster bedeuten, wirkt Dionysos unkontrolliert und unkontrollierbar. Als 70 3 Der Mythos des Dionysos Quelle des Wahnsinns kann Dionysos, sowohl Machtmittel als auch Maßrege‐ lung seiner - menschlichen oder auch göttlichen - Widersacher sein, ohne dass man ihn je instrumentalisieren kann, versteht sich. Wichtig ist festzuhalten, dass, im Gegensatz zu anderen griechischen Haupt‐ göttern, die Epiphanie des Dionysos nicht tötet, wie etwa die des Göttervaters Zeus es an Semele verdeutlicht. Der dionysische Kairos versetzt den Menschen vielmehr in einen wahnhaften Rauschzustand von Wildheit und Raserei: Der Gott der Verzückung und des Schreckens, der Wildheit und der seligsten Be‐ freiung, der wahnsinnige Gott, dessen Erscheinung die Menschen in Raserei versetzt, kündet schon in der Empfängnis und Geburt das Geheimnisvolle und Widersprüch‐ liche seines Wesens an. (Otto 1980: 62) Da Dionysos ein Gott ist, der sich überaus häufig in Epiphanien äußert, eignet er sich hervorragend zu multiplen literarischen Realisierungen, von denen Gaudés Drama OF ein Repräsentant ist. Dionysos ist folglich der Inbegriff der Wandlungsfähigkeit des Mythos und zeigt, dass Wandlung die grundlegende Eigenschaft des Mythos sine qua non ist. Die Tatsache, dass die Affinität zur Transformation der Kern des Dionysosmythos ist, hat sich auch durch den Um‐ gang der Literatur mit Dionysos manifestiert. So vollzieht sich, nach Kerényi, der antike Dionysosmythos in drei Phasen: 1. der tierisch-unterweltlichen, 2. der ebenfalls animalischen, aber auch triebgesteuerten und anthropomorphen irdischen, 3. der Tötung oder Positiv-Negativ-Wandlung. Dank dieses Systems ist es möglich, die widersprüchlichsten und verschiedensten Versionen des Di‐ onysosmythos miteinander in Relation zu bringen: Zeus-Dionysos, der Vorgänger beider griechischen Götter auf Kreta, wechselte seine Form, indem er sich durch die drei, wie die Akte eines Dramas nacheinander folgenden Phasen seines Mythos hindurchwand und sich erzeugte. Die drei Phasen und Akte entsprechen den drei Stufen der zoé, des Lebens, das im Dionysosmythos männlich erscheint, in seiner Beziehung zur Frau. Der erste Akt entspricht der Stufe des Samens, der zweite der des Embryos und der dritte der des Mannes von seinem Säuglingsalter an. Auf der Samenstufe war der sich selbst erzeugende Gott Schlange, auf der Stufe des Embryos eher Tier als Mensch, von der Stufe des Säuglings an der kleine und große Dionysos. Sein weiblicher Gegenpart hieß als Urmutter und Quelle der zoé Rhea, als Gattin, Gebärerin und wieder Gattin: Ariadne. (Kerényi 1994: 85) Zugespitzt formuliert könnte man den Gedanken um die schöpferische Kraft des Dionysos philosophisch deuten: Wenn Dionysos alle Grenzen zu sprengen imstande ist und alle Gegensätze vereint, müsste er auch in der Lage sein, die Blumenberg’sche Opposition zwischen Mythos und Absolutismus der Wirk‐ 71 3.1 Grundlagen 17 Dieses von Dionysos ausgestrahlte „Kraftfeld“ des Übergangs zwischen Leben und Tod wirkt sich vor allem auf die Charaktere aus, die sich in Gaudés Stücken Combats de possédés und Cendres sur les mains auf dem sprichwörtlichen terrain vague umherbe‐ wegen (vgl. 4.3.1). lichkeit zu sprengen. Otto kommt mit einer Formulierung in die Nähe dieser Vermutung, wenn er die Wirkung der Dionysosepiphanie beschreibt: Die Urwelt ist hervorgetreten, die Tiefen des Seins haben sich geöffnet, die Urgestalten alles Schöpferischen und Zerstörerischen, mit ihren unendlichen Wonnen und un‐ endlichen Schrecken, sind emporgestiegen und haben das harmlose Bild der wohlge‐ ordneten Gewohnheitswelt zersprengt. Sie bringen kein Trug und Traum, sie bringen die Wahrheit - eine Wahrheit, die wahnsinnig macht. (Otto 1980: 87 f.) Der Kreislauf der Gewalt gehört zum dionysischen Wesen wie die Verzückung und Freudenbringung. So wie Dionysos als Säugling von den Titanen zerrissen wurde (Otto 1980: 98), werden Frauen im dionysischen Wahnsinn zu blutrüns‐ tigen Menschenzerreißerinnen und schrecken nicht einmal vor ihren eigenen Säuglingen zurück. Die dionysische Ambivalenz ist mehrschichtig. Freude, Ra‐ serei, Gewalt, Zerreißen und Zerrissenwerden, Wahnsinn und dessen Lösung, liegen auf einer Ebene: So spricht die gleiche Grausamkeit aus dem Kulte wie aus dem Mythos. Wir fühlen es deutlich: das Grenzenlose, in dem der Rausch des Lebens wohnt, droht allen, die ihm nahen, mit dem Rausch der Vernichtung; und wohl dem Geiste, dem Dionysos als der „Löser“ (λύσιος: lysios) den Wahnsinn mildert! (Otto 1980: 97) Der „finstere Wahnsinn“, wie Otto den dionysischen Rausch auch nennt, pro‐ voziert blutgierige Gewalttaten (1980: 94), die auch vor zagreus, dem „großen Jäger“ (ebd.: 96), nicht Halt machen: „Der ‚Zerreißer‘ wird selbst zerrissen.“ (ebd.) Als Zeichen des anwesenden Dionysos zagreus hüllen sich die Mänaden in Hirsch- und Rehfelle und tragen Fackeln, als Zeichen des Feuers, das die Ge‐ burtsumstände der Gottheit markiert. Dionysos vereint damit selbst in seinen Beinahmen auseinanderstrebende Extreme. Die zerstörerische Wirkung des Jä‐ gers Dionysos bringt die chthonischen Kräfte dieses Gottes zum Ausdruck, der, erdverbunden und unterwelterfahren, die ganze Kraft der irdischen Natur, so‐ wohl das Gebären als auch das Zerstören von Leben in sich vereint und der gerade an dem Punkt des Zyklus ansetzt, wo aus dem genommenen Leben wieder neues entsteht (ebd.: 99). 17 Dionysos selbst droht von seinen Pflegerinnen die Zerstückelung. Selbst Ino, die Pflegemutter, ist vom Wahnsinn ergriffen und zerstückelt ihren eigenen Sohn Melikertes (ebd.: 97). Dionysos zagreus ist eben seit seiner Geburt Inhaber der Urgewalt, der seine Gefolgsleute zum Ver‐ 72 3 Der Mythos des Dionysos 18 Jünger, Hans-Dieter, „Dionysos - inständig aufständig“, in: Kairos und Kaos. A Place for Dionysian Energies (Internetportal): https: / / www.interment.de/ kairosundkaos/ prestart.htm (07.09.2018). schlingen von rohem Fleisch bringen kann, weshalb die Mänaden oft mit Raub‐ tieren gleichgesetzt werden. Durch das Erlegen von Tieren erhält Dionysos die Züge eines Raubtiers, das nicht, wie bei vielen anderen Gottheiten, ein Symbol für den Gott ist, sondern den Gott selbst, in all seiner Ambivalenz und Reziprozität, bedeutet. Von Tieren ausgestrahlte Gewalt trifft ihn selbst, und folglich nimmt der zum Gejagten ge‐ wordene Jäger die Gestalt des Wildes an. Das Wirkungspotential des Dionysos geht damit über dasjenige vieler Olympier hinaus, die sich im Kultzeremoniell durch ein symbolisches, trügerisches Opfer besänftigen lassen. Dionysos ist hiermit nicht zu blenden: Im Machtbereich des Dionysos muss jeder Opfer bringen, wird selbst zum Opfer (Otto 1980: 100). Durch seine sphärische Ver‐ einnahmung der Lebensbereiche wird Dionysos vom Getöteten und Erweckten zum Herrn über Leben und Tod, was sich in der Dialektik der dionysischen Zweijahresperiode veranschaulicht. Genau diese Dialektik ist für Gaudé zentral und wird von ihm der Struktur von Onysos le furieux zugrunde gelegt. In Ober- und Unterwelt gleichermaßen beheimatet, ist Dionysos der alles Gegensätzliche vereinnahmende Gott, der nach der ekstatischen Übermannung alles Bisherige als neue, übergeordnete Einheit über die Welt ausspeit: Dionysos ist in seinem Charakter zweifellos das Gegenteil einer „einfältigen Einheit“, er ist in denkbar höchstem Maße paradox aufgespannte, exzessiv lebendige, bipolare Einheit in sich selbst: größte Sanftmut und zerstörerische Leidenschaft, würdige Ge‐ lassenheit und panische Entrückung - Dionysos ist gleichsam die immersiv intensi‐ vierte Einheit des denkbar Widersprüchlichsten - und hat vielleicht gerade deshalb für alles Lebendige Platz. Es gibt das monadische Alleinheitsgefühl und das in sich Widersprüchlich-Zerrissene - Dionysos scheint von beiden Polen gleich weit entfernt. Er ist die beides auf die Spitze treibende und zugleich die beides, in dieser Klimax, in Lebenserneuerung auflösende und kosmisch versöhnende Energie selbst. 18 73 3.1 Grundlagen 3.1.4 Der Wein - carrefour intertextuel für die dionysische Mythenwirkung Die häufigste Reaktion von Befragten in der heutigen, scheinbar so mythos‐ fernen Zeit, auf die Frage nach dem Wesen des Dionysos ist das, was gemeinhin als Haupteigenschaft des Gottes gilt: Dionysos als der Gott des Weines und des damit verbundenen Rausches. Mit dieser Antwort ist zwar nur ein geringer, jedoch nicht unwichtiger Anteil des Dionysischen abgedeckt: „Im Weine lebt etwas von dem Geiste der Grenzenlosigkeit, der das Urweltliche wiederbringt.“ (Otto 1980: 93) Wie es bereits die voraufgegangenen Kapitel zeigen, lebt der Dionysosmythos von einem Synkretismus, dessen Einzelformen derart ineinander verranken, dass eine einwandfreie Extraktion der einzelnen Attribute nicht möglich ist. Der Gott wird mit den Beigaben, für die er steht, mit den Naturerzeugnissen, deren Schutzpatron er ist, gleichgesetzt und umgekehrt. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, dann ist bei der Weinherstellung die Kelter eine Zertretung, „Zerstückelung des Gottes“ (Kerényi 1994: 56) und birgt damit das Geheimnis der selbsterneuernden Dionysosvita in sich. Kerényi zufolge lernt Dionysos „von einer Schlange den Genuß der Trauben.“ (ebd.: 51). In dem ausgehöhlten Felsen, in dem er von Rhea und ihren Ammen aufgezogen wurde, bereitet Dio‐ nysos durch das Zertreten von Trauben die Grundlage der Weinerzeugung. Die Höhle, in der er zum Schutze vor Heras Rachegelüsten aufgezogen wurde, wird zur ersten Kelter. Diesem Mythos nach nimmt man den Ursprung des Weines in Kleinasien an (ebd.: 43 f.). Die Wanderung des Dionysos exemplifiziert dabei die Verbreitung des Weines von Kleinasien aus über Kreta nach Griechenland. Dionysos bringt der ihn feiernden Kultgemeinschaft zweierlei Geschenke: Wein und Fruchtbarkeit „als immer wieder zu- und abnehmende Fülle der zoé“ (Kerényi 1994: 179). Der Wein ist in seiner Entstehung Dionysos gleich und damit eine Parabel auf seine Vita: Wie Dionysos stirbt der Wein durch die Pres‐ sung der Trauben und ersteht als geistreiche Flüssigkeit wieder auf, er ist Zwei‐ malgeborener, „ist ein Gleichnis des Gottes selbst.“ (Otto 1980: 133) Wie der Dionysos-Mythos ist der Werdegang des Weines Ausgangspunkt der referenz- und konnotationsreichsten Mythen. Der Wein steht für die dionysische Freiheit und Wesensöffnung und damit für die Wahrheit und chthonische Urkraft (ebd.: 136), er ist zweigesichtig wie Dionysos selbst. Der Rausch des Weines bringt die Menschen in göttliche Sphären. So ist Di‐ onysos eng mit der Fähigkeit der Prophetie verbunden, die aus der berausch‐ enden Wirkung des Weines hervortritt: „Musik, Tanz und Weissagung, diese drei Vollkommenheiten treten, gleich den Herrlichkeiten der erneuten Urwelt, wie selige Wunder aus dem dionysischen Wahnsinn hervor.“ (Otto 1980: 132) 74 3 Der Mythos des Dionysos 19 Dies lässt sich klar und eindrucksvoll an den Figuren Gaudés in vielen seiner Texte beobachten. Als emblematisches Beispiel sei hier, neben den besprochenen Passagen aus Onysos le furieux, die Figur des Elia Scorta Mascalzone im Roman Le soleil des Scorta genannt (SdS, 179-183). Die vom Weinkonsum herrührende Ekstase bringt den Menschen jedoch zu‐ gleich in Todesnähe. Dionysos zerstört aber nicht selbst, sondern bringt durch seine berauschende Wirkung die erdnahe, zerstörerische Kraft im Menschen hervor und macht sie sich in seinem Sinne zunutze. 19 So ist die Trunkenheit der Menschen in der Mythopoiesis stets die schlagkräftigste Waffe des Dionysos gewesen: Der literarischen Überlieferung nach spielt bei dem Feldzug in Indien die Trunkenheit eine entscheidende Rolle, denn sie ist Geschenk und Waffe des Gottes zugleich. Wer ihm und seinen neuen Kultformen gut gesonnen ist, erhält die Weinrebe als Gastge‐ schenk. Seine Feinde und Widersacher dagegen schlägt der Gott durch alkoholische Berauschung. Anfangs ist die Trunkenheit noch die milde Waffe des Gottes, die zwar überwältigt, aber nicht tötet. Im Verlauf der Kämpfe nimmt sie dagegen stetig an Wir‐ kung zu und steht schließlich in starkem Kontrast zur ursprünglich freundlichen Gabe an die Menschheit, wie sie zum Beispiel durch die Ikarios-Sage festgehalten wird. (Gesing 1988: 23) Von einem der dionysischen Hochfeste, den Anthesterien, ist „das Mischen des heiligen Weines mit dem darauffolgenden Wetttrinken“ bekannt (Otto 1980: 107). Wenn sich die Festteilnehmer während der Anthesterien betrinken, dann als Reminiszenz an die erste Weinverkostung, die durch Ikarios ermöglicht wurde. Ikarios, der den Weinbau von Dionysos erlernt hatte und ihn zu den Menschen brachte, wurde der Wein selbst zum Verhängnis, da die Menschen in dem ihnen noch unbekannten Zustand des Rausches außer Kontrolle gerieten und den „Prometheus des Weines“ in der Folge erschlugen. Ikarios erhielt die Strafe für die Weitergabe des Weines an die Sterblichen durch die Menschen selbst und spürte die dionysische Zerstörungsgewalt unmittelbar am Effekt des Weines. Im Ritus ahmen die Menschen nach, was im Mythos vorgegeben ist. Das Schwingen junger Mädchen auf Schaukeln ahmt den Tod durch Erhängen der Erigone nach, die sich aus Kummer über den Tod ihres Vaters Ikarios an einem Baum erhängte (Seaford 2006: 20). Im Schaukeln liegt zugleich ein fundamen‐ taler Zug des Dionysoskultes, in dem sich die Vereinigung lebens- und tod‐ bringender Energien zeigt: Das Schaukeln steht zwar für den Tod durch Er‐ hängen, die erotische Komponente ist jedoch gleichfalls nicht von der Hand zu weisen (Hübner 1985: 193). Die tanzenden Bewegungen der vom Wein Be‐ 75 3.1 Grundlagen rauschten hängen auch eng zusammen mit dem rituellen Akt des Schaukelns der Anthesterien und seinem mythologischen Gehalt (Baeumer 2006: 34): „nicht an ein Fest, mit irgendwelcher mythischer Bedeutung, wird das Schaukeln, als ein sonst selbständiges Spiel, ursprünglich angeschlossen, sondern Schaukeln und Fest verwirklichen den gleichen Mythos.“ (Kerényi 1994: 107) Schaukeln und Ekstase liegen auch metaphorologisch nah beieinander, wobei besonders die erotische Komponente des Schaukelns als assoziatives Bindeglied fungiert: Eine natürliche Zauberhandlung ist das Schaukeln ebenfalls, indem es den Schaukeln‐ den zu seinem außerordentlichen Zustand, einer Art der Ekstase, künstlich verhilft. Es tut dies aber nicht auf eine „magischere Weise“ als das Weintrinken. Zwischen den beiden besteht eine Verwandtschaft. […] Das Schaukeln darf als keusches Vorspiel zur Hochzeit gesehen werden (Kerényi 1994: 107). Dass Initiationsrituale und Todesriten untrennbar miteinander verbunden sind (Metzeltin 1998: 165), zeigt die Dionysosvita wie kaum ein anderer Götter‐ mythos. Die dionysische Lebens- und Todesgeschichte wird von Initiationen förmlich vorangetrieben; mehrfache Geburten und Tode, die Dionysos durch‐ lebt, sind eine Parabel auf die Initiationskulte, die auch für die frühesten Hoch‐ kulturen belegt sind. Die vielfältigen Initiationsorte der Dionysosmythen sind häufig durch Symbole des ewigen Lebens sowie der Nahrung im Überfluss und der Fruchtbarkeit ausgestattet. Als Gott des Überflusses ist Dionysos bei Ovid auch Erfinder des Honigs: Schon als Säugling wurden Dionysos die Lippen mit dem Göttertrank benetzt (Kerényi 1994: 35; 38). Das Distychon des goldenen Zeitalters verwandelt Dionysos in eine Trias, denn überall dort, wo die Mänaden tanzen, fließen Milch, Wein und Honig. Der Honig als dionysisches Produkt weist, ähnlich wie der Wein, ein Geflecht an Referenzen auf. So beschreibt Lévi-Strauss in seinen Mythologiques die Nähe des Honigs zum Wein: „les miels d’abeilles peuvent être eux-mêmes doux ou enivrants.“ (Lévi-Strauss 1966: 44) Aristoteles liefert eine weitere Assoziation des Honigs, die in die dionysische Wirkungssphäre passt: Durch seine Farbe wird der Honig auch mit dem Geburtswasser in Verbindung gebracht. Nach Homer ähnelt die goldene Farbe auch der des Götterblutes ichor (Kerényi 1994: 36 f.). Honig ist Götterspeise und, neben der Milch, das Getränk des goldenen Zeitalters. Honigwasser ist nach der Gärung in der Sonne ein berauschendes Getränk. Nicht nur in seiner Wirkung ist es vergleichbar mit dem germanischen met, selbst etymologisch ergeben sich Gemeinsamkeiten, die, den Kreis schlie‐ ßend, wiederum auf den dionysischen Rausch verweisen: Entsprechend zu met gibt es im Griechischen das Substantiv methey, das Partizip methyein („berauscht sein“) und das Verb methyskein („berauschen“, Kerényi 1994: 38). 76 3 Der Mythos des Dionysos Der Gärungsprozess des Weines wurde in der Antike mit der Verwesung des Körpers gleichgesetzt. Da der gärende Honigtrank mit dem göttlichen Blut gleichgesetzt wurde, bedeutet dies für das Leben, dass es gerade in der Gärung, das heißt in der Verwesung, seine Zugehörigkeit zum Göttlichen und damit zur Unzerstörbarkeit beweist. Der Honigtrank wurde so zum Sinnbild des unzer‐ störbaren Lebens (Kerényi 1994: 40). Dieser Mythos verleiht dem Gott, der diesen Trank verbreitet, Unzerstörbarkeit als eines seiner wichtigsten Attribute, aller Angriffe auf sein Leben zum Trotz. Erkennbar hieraus ist die Wandelbarkeit des Mythos, der bis ins kleinste Detail durch Metamorphosen lebt. Denn selbst die göttlichen Beigaben sind, wie der Mythos selbst, wandelbar - sie werden vom Honig über das Götterblut zum berauschenden Getränk für die Menschen und beweisen damit die Diskurskontinuität der antiken griechischen Kosmovi‐ sion. Nicht nur ist die Unterwelt mit dem Tod und dem Scheiden aus dem Diesseits verbunden, sondern auch mit der im Dionysoskult liegenden Reifung des Weines im Untergrund, um als ein den dionysischen Geist versprühendes Getränk rechtzeitig zum Beginn des Frühlings emporgehoben und serviert zu werden. Der Untergrund des Weinkellers und der Weinbehältnisse, in denen sich der zweijährlich wiederkehrende, trieterische Dionysos-Kult abspielte, steht für die dionysische Eroberung des menschlichen Lebensraumes: „Das dionysische Jahr ist das Jahr der Weinberge, Weinfelder und der Weinkeller. Seine Ereignisse spielen sich am Himmel, auf dem Erdboden und in den Weinbehältern ab, die auch für die unterirdische Sphäre stehen.“ (Kerényi 1994: 99) Die chthonische Wirkung des Dionysos ist damit in jeglicher Hinsicht revolutionär; sie unter‐ gräbt die theogonische Weltordnung, da sie zudem zur chaotischen, präkreato‐ rischen Trunkenheit zurückkehrt (Bollack 2005: 107). In Dionysos äußert sich somit auch die Überbringung einer menschenmöglichen Vision der Transzen‐ denz. Durch die überschreitende Vereinigung sämtlicher den Menschen bestim‐ mender Gegensätze, ist im dionysischen Rausch ein Stück göttlicher Unsterb‐ lichkeit erlebbar: Le dépassement des divisions met Dionysos en état de verser une part d’éternité dans la coupe de la mortalité. Il immortalise. Il n’y parvient qu’en effaçant les frontières, et en apparaissant aux hommes, tout dieu qu’il est. L’épiphanie ne lui est pas réservée, mais ses espèces sont particulières : elles touchent la condition humaine. Une présence du divin est donnée aux hommes, et elle transforme leur existence ordinaire. […] La réconciliation résout la différence, mais elle l’affirme en même temps. (Bollack 2005: 108) 77 3.1 Grundlagen 3.1.5 Dionysos und Apollon, eine mythologische und literaturtheoretische Dichotomie Dass die Gegenüberstellung von Dionysos und Apollon nicht nur eine mytho‐ logische, sondern auch eine literaturtheoretische Dichotomie darstellt, ist spä‐ testens seit der Untersuchung von Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth, klar: „Im Mythos des Dionysos können wir geradezu eine transzendentale Sinn‐ figur sehen für den graeco-orientalischen Bestandteil der griechisch-rö‐ misch-europäischen Kultur, den ‚Asianismus‘, im Mythos des Apollo das Ent‐ sprechende für den ‚Attizismus‘.“ (Hocke 1987: 447) Da Dionysos zwei Reiche umspannt, ist er nicht bei allen Dionysosforschern im Olymp zu finden. In der orphischen Tradition setzt Zeus seinen Sohn Dio‐ nysos auf den Thron und macht ihn zum König über alle Götter (Seaford 2006: 128; Bollack 2006: 107). Bollack verortet ihn im Olymp, während Baeumer dies strikt ablehnt: „Apollo gehört zu den zwölf olympischen Hauptgöttern, Dio‐ nysos nicht. In den Bakchai handelt es sich also darum, Dionysos, den Gott des Rausches, im Kreis der Hauptgötter als großen, ebenbürtigen Gott zu sehen.“ (Baeumer 2006: 25) Anhand der großen Verehrung auch noch in der römischen Antike kann man Dionysos durchaus zu einem der Hauptgötter zählen, wenn‐ gleich er aufgrund seines ständig die Extreme und die Welten wechselnden We‐ sens eigentlich keinen festen Platz auf dem Olymp haben kann. Einhellige Er‐ höhung findet Dionysos nur im Tod; das Grab des Dionysos ist in Delphi, im Heiligtum des Apollon zu finden (Otto 1980: 95; 186) - sei es aus taktischer Klugheit oder aber aus dem Wissen der beiden um die gegenseitige Ergänzung zur allumspannenden Konstitution der Welt: In Apollon ist der ganze Glanz des Olympischen versammelt und den Reichen des ewigen Werdens und Vergehens entgegengestellt. Apollon mit Dionysos, dem trun‐ kenen Reigenführer des Erdkreises - das wäre das ganze Ausmaß der Welt. Damit wäre die Dionysische Zweiheit des Irdischen aufgenommen in eine neue, höhere Zweiheit: in den unendlichen Gegensatz des ruhelos kreisenden Lebens und des stillen, fernblickenden Geistes. (Otto 1980: 188) Der antike Kultkalender besagte, dass, während Dionysos das Orakel von Delphi hütet, Apollon bei den Hyperboreern ist, wie die Griechen das nördlichste ihnen bekannte Volk nannten. Baeumer vertritt jedoch die Auffassung, dass beide Götter unabhängig voneinander verehrt wurden. Für ihn entspricht es keiner höheren Wahrheit, dass beide an ein und demselben Ort ihr Heiligtum hatten: „Dafür, dass die Griechen die beiden Götter in einem besonderen, sich ergän‐ zenden Verhältnis gesehen hätten, haben wir keine Anhaltspunkte.“ (Baeumer 2006: 24) Die Verbindung zwischen den in ihren Eigenschaften gegensätzlichen 78 3 Der Mythos des Dionysos Gottheiten Apollon und Dionysos ist der Schutz des delphischen Orakels. Ein weiterer Vereinigungspunkt ist, dass Zeus Apoll die Glieder des von den Titanen zerrissenen Dionysos übergab, um sie wieder nach Maß und Ordnung zusam‐ menzusetzen. Apollon bestattete die Gliedmaßen des Dionysos symbolisch in Delphi, wo auch die Auferstehung des Dionysos im Winter groß gefeiert wurde. Die Titanen zerrissen Dionysos auf Heras Geheiß in sieben Teile, kochten den zerstückelten Leichnam in einem Topf und brieten ihn anschließend über dem Feuer, bevor sie ihn verschlangen. Eine hieran anschließende Version des My‐ thos besagt, dass der erste Weinstock aus der Asche des Dionysos heraus er‐ wuchs. Ob dieser Spannung zwischen Kanon und Außenseitertum stellt Nietzsche in seiner richtungsweisenden Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die Frage nach der Möglichkeit einer genauen Definition der Beschaf‐ fenheit des dionysischen Wesens, da er Dionysos als zentrales Organ der helle‐ nistischen Befindlichkeit betrachtet: „Vor allem das Problem, daß hier ein Pro‐ blem vorliegt, und daß die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage ‚was ist dionysisch? ‘ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind“ (Nietzsche 1972: 9). Das Dionysische steht, Nietzsche zufolge, für die Wie‐ derherstellung der durch die Zivilisation verloren gegangenen Verbindung zwi‐ schen Mensch und Natur: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“ (ebd.: 25) Die in der Gewalt frei‐ gesetzte Schaffenskraft der von Dionysos verzückten Menschen, die Gaudé be‐ schreibt, findet bei Friedrich Nietzsche eine kunsttheoretische Bestätigung: Ver‐ zaubert durch Dionysos fühlt sich der Mensch als Gott, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: Die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches (Nietzsche 1972: 26). Jung hält die Formel Nietzsches von der Versöhnung zwischen Apollon und Dionysos für das Wunschdenken, das sich aus dem ständigen Kampf des Apol‐ linischen und Dionysischen ergibt. Der permanente Widerstreit beider Gott‐ heiten spiegle sich in der Seele der Griechen als „zivilisierte“, apollinische und „barbarische“, dionysische Hälfte ( Jung 1960: 148). Dionysos und Apollon sind sich nach Jungs Meinung nur durch das kultische Erlebnis des Mythos durch die Menschen einander näher gekommen: „Eben gerade aus der lebendigen Empfindung des Grauens heraus ist ihnen allmählich eine Versöhnung des Di‐ 79 3.1 Grundlagen onysischen mit dem Apollinischen gelungen“. (ebd.: 149) Für Nietzsche sind die beiden, gegeneinanderstrebenden Triebe von fundamentaler Bedeutung, um Kunst überhaupt erzeugen zu können. In einer paradoxen, weil aus ständigem Widerstreit sich ergebenden Fusion von der bildenden, apollinischen und der musikalischen, dionysischen Kunst, gehen beide Kräfte in der attischen Tra‐ gödie auf: An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben ein‐ ander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort „Kunst“ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen „Willens“, mit ein‐ ander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen. (Nietzsche 1972: 21 f.) Die psychoanalytische Interpretation Jungs betrachtet den dionysischen Cha‐ rakter als eine der Grundarten der menschlichen Psyche. Die volle Ausprägung des rauschhaften dionysischen Wesens nennt er „dionysische Expansion“ ( Jung 1960: 152). Das Introvertierte, Apollinische ist demnach das genaue Gegenstück zum Dionysisch-Empfindsamen: Es ist ein Strom mächtigsten All-Empfindens, der unwiderstehlich hervorbricht und wie stärkster Wein den Sinn berauscht. Es ist eine Trunkenheit im höchsten Sinne. An diesem Zustand ist das psychologische Element der Empfindung, sei es der Sin‐ nesempfindung, sei es der Affektempfindung, in höchstem Maße beteiligt. Es handelt sich also um eine Extraversion von Gefühlen, die ununterscheidbar an das Element der Empfindung geknüpft sind, weshalb wir sie als Gefühlsempfindungen bezeichnen. Es sind daher mehr Affekte, welche in diesem Zustande hervorbrechen, also Trieb‐ mäßiges, blind Zwingendes, das sich namentlich in einer Affektion der Körpersphäre ausdrückt. […] Dem gegenüber ist das Apollinische eine Wahrnehmung der inneren Bilder der Schönheit, des Maßes und der in Proportionen gebändigten Gefühle. Der Vergleich mit dem Traum weist deutlich auf den Charakter des apollinischen Zustandes hin: es ist ein Zustand der Introspektion, der nach innen, nach der Traumwelt ewiger Ideen gekehrten Kontemplation, also ein Zustand der Introversion. ( Jung 1960: 152 f.) Für die Herausbildung der Dionysosrezeption ist, nach Baeumer, die produk‐ tive, literarische Mythenrezeption von entscheidender Bedeutung: „Seit über 80 3 Der Mythos des Dionysos 2000 Jahren ist der abendländischen Welt, jedoch zum großen Teil unbewusst, das Dionysische vor allem in der dichterischen Darstellung des Euripides be‐ kannt.“ (Baeumer 2006: 19) Erst viel später jedoch, „in der römisch-hellenisti‐ schen Zeit, im Prozess der Synkretisierung der mittelmeerländischen Kulte und der Profanierung des Religiösen überhaupt, wird Dionysos neben Apollon vor allem in den Zeugnissen von Horaz, Ovid und Vergil zu einem Gott der Dicht‐ kunst.“ (ebd.: 29) Auf diesen Dionysos als Gott der Dichtkunst konzentriert sich die folgende Untersuchung - aber auch auf Dionysos als Gott der Vereinnah‐ mung, der sich durchaus die apollinischen Charakterzüge zu Eigen macht (Eco 2004: 52-59). 3.2 Dionysische Grundlagen des Theaters Die Etymologie des Begriffes „Tragödie“ rührt von der Funktion des Chores im dionysischen Schauspiel her, der zuständig war für den sogenannten Bocksge‐ sang (von gr. τραγωδία, tragodía: ‚Bocksgesang‘ oder ‚Gesang um den Bocks‐ preis‘). So ist der Chor nicht nur Beiwerk des Vorsängers, sondern fundamen‐ taler Bestandteil des dionysischen Kultes, der ohne Begleitung nicht existieren kann. Der Dionysoskult ist folglich in der Öffentlichkeit begründet, denn Dio‐ nysos ist der Gott, der niemals alleine auftritt - stets ist er von Gefolge umgeben. Die dialogische Zusammenarbeit zwischen dem Exarchonten (gr. exarchos: ‚Vor‐ steher‘) und dem Chor sowie den nachhaltigen Einfluss der dionysischen Grundstruktur der Tragödie erläutert Hübner folgendermaßen: Die Chöre, welche Dithyramben sangen, stellten ursprünglich die den Dionysos be‐ gleitenden Satyrn dar und traten deshalb in bocksartiger Verkleidung auf, weswegen man sie Trag-Odoi (von trágos, der Bock und Aoidós, der Sänger), also singende Böcke nannte. Als man später die dithyrambischen Chöre auf den Heroenkult übertrug, also dieses Formelement mit einem anderen, dem Dionysos aber keineswegs fremden In‐ halt verband, trug man weiterhin Maske und Kostüm, stellte aber jetzt den Heros und sein Gefolge dar. Der Name Tragodoi wurde jedoch beibehalten. […] Die Beibehaltung des Namens Tragodoi aber konnte umso leichter fallen, als der Satyrchor mit dem tragischen Chor verbunden blieb: Auf die Tragödie folgte stets das Satyrspiel. (Hübner 1985: 216) Mythos und Tragödie sind in der Entstehung des Theaters untrennbar mit‐ einander verbunden, da der Anlass der Tragödienaufführung mythischen Ur‐ sprungs ist. Nach der archaischen, epischen Epoche der Mythenerzählung fügte sich die attische Tragödie in die Tradition der Mythopoiesis ein: „Der Tragiker 81 3.2 Dionysos und das Theater stellt sich bewusst in die epische Tradition der Mythenerzählung, nichtmythi‐ sche Tragödien sind Experiment geblieben“. (Graf 2004: 138) Als die Tragödi‐ endichtung im fünften Jahrhundert v. Chr. einsetzte, war der Mythos folglich noch aktives Element der Wahrnehmung (vgl. 2.1). So ist die Tragödie aus dem mythischen Widerstreit zweier Mythendomänen hervorgegangen: „Und wieder entsteht etwas Neues dadurch, daß man beide, den chthonischen und den olym‐ pischen Mythos miteinander in Einklang zu bringen sucht. Die Frucht dieser Bemühungen ist die griechische Tragödiendichtung.“ (Hübner 1985: 268) Dass die Tragödie fester Bestandteil des Dionysoskultes war, zeigt sich an der Exklu‐ sivität des Aufführungsanlasses, welche die Heiligkeit dieser frühesten drama‐ turgischen Aufführungsform unter Beweis stellt: „Tragödien werden erst nur an den Dionysia, am städtischen Fest des Dionysos, aufgeführt“ (Graf 2004: 10). Bereits Aristoteles ist sich über den Entwicklungsprozess der Tragödie aus Di‐ thyrambos und Phallos-Umzügen bewusst: [Die Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komödie von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte (Aristoteles 1994: 15). So ist aus den anlässlich der Dionysien aufgeführten Tetralogien, die aus drei Tragödien und einem Satyrspiel bestehen, der antike Theaterbetrieb im We‐ sentlichen hervorgegangen. Die Tetralogie hatte stets den Anspruch, die Dio‐ nysosvita mit dem Akzent auf die Heraufkunft des Dionysos und die seine Macht bestätigende Epiphanie kultisch erlebbar zu machen. Die Tragödie ist das Opfer des Bocks, dem die Strafe vorweggenommen wird, da er von „seiner Sünde nicht weiß, ja, sie noch nicht beging.“ (Kerényi 1994: 196) Die tragische Opferstellvertretung (vgl. 4.3.1) fordert Mitleid heraus: Mit der Tötung des Dionysos symbolisierenden Tieres erleidet der Gott selbst die Opferung, die letztendlich zu seiner Freude und Feier geschieht. Hierin offenbart sich die Ambivalenz des Gottes in ihrer Gänze und lässt Dionysos zum Inbegriff der Tragödie werden. Die Tragödie ist auch insofern von ihrem Ursprung her etwas streng Dionysisches, als dass sie aus einer mythischen Transformation hervorgegangen ist: „Wenn die Tragödie Nietzsche zufolge, den Rausch des Di‐ onysos mit dem Maß Apolls vereinend, aus dem Geiste der Musik geboren ist, so beweist dies den mythischen Ursprung der Tragödie.“ (Hocke 1987: 447) In der gefeierten Gottheit drückt sich der Triumph des sich stets erneuernden Le‐ bens nach Hübner „in der Verzückung des dionysischen Dithyrambus, im dio‐ 82 3 Der Mythos des Dionysos nysischen Rausch und der dionysischen Selbstvergessenheit aus.“ (Hübner 1985: 58) Das Satyrspiel ist, wie der kultisch verehrte Dionysos, ambivalent und gibt dem Dichter zusätzliche künstlerische Freiheit, denn der Satyros „hatte an den Dionysien nach der dreiteiligen Tragödie mit ihren von den Göttern gegen die Menschen verhängten Greueln und Schrecknissen die erschöpften Zuschauer in aufatmende Erleichterung zu versetzen.“ (Blumenberg 1979: 350) Queste, enigmatischer Gestus und die Rätselhaftigkeit gehören zur „Ästhetik des Schreckens“ der antiken Tragödie und sind bei vielen unterschiedlichen Autoren zu finden (Bohrer 1994: 52). Cassirer ist deshalb der Auffassung, dass die meisten Mysterienkulte nicht als bloße Repräsentation eines mythischen Geschehens verstanden werden: „[D]as ist keine bloße nachahmende Darstel‐ lung eines Vorgangs, sondern es ist der Vorgang selbst und sein unmittelbarer Vollzug; es ist ein δρώμενον (drómenon) als ein reales und wirkliches, weil durch und durch wirksames Geschehen.“ So ist das mythische Drama gelebte Wirk‐ lichkeit und erlebte Epiphanie. Hiervon sind alle teilnehmenden Akteure des Dramas betroffen, allen voran der zentrale Darsteller: „der Tänzer ist Gott, wird zum Gott“ (Cassirer 2002: 194). Selbst wenn der Realbezug des Mythos alsbald in den Hintergrund trat, die steigende Popularität der Mythenrepräsentation eine Profanation des kultischen Mythenmaterials zur Folge hatte und das Theater folglich - Hand in Hand mit der Literarisierung und Rhetorisierung des Mythos - die polemische Spannung der Auseinandersetzung mit den ursprünglich kultisch-religiösen Inhalten über‐ wand, zeigt der Mythos gerade durch diese Entwicklung seine hohe Flexibilität (Fuhrmann 1971: 130; 140 ff.). Der „mythisch-kultische Gehalt der Tragödie“, der durch eine Ausdifferenzierung des dramatischen Betriebes und die Inflation der rituellen Praktiken „so schnell verblassen konnte“ (Hübner 1985: 223), verlangte dem archaischen Mythos zwar einiges ab, er erfuhr eine tiefgreifende Verände‐ rung, bisweilen auch eine „Entstellung“ - sein „Erlöschen“ aber muss nicht konstatiert werden (ebd.: 222 f.). Durch die Flexibilität des Mythos kann die Tra‐ gödie sehr wohl als Mittel bezeichnet werden, das die Spannungen zwischen Apollinischem und Dionysischem im griechischen Mythos auf mythische Art und Weise zu schlichten versuchte (ebd.: 226). Die dionysische Tragödie ist folglich eine der lebendigsten Verkörperungen der Arbeit am Mythos: „Man muß sich nun klar machen, daß die Aufführung und kultische Darstellung einer Arché im Sinne des mythischen Zeitverständnisses als deren wirkliche Wieder‐ kehr verstanden wurde. Darüber besteht auch in den Kreisen der Mythos-For‐ scher kaum eine Meinungsverschiedenheit.“ (Hübner 1985: 194) Zu den Umständen der Entstehung der Tragödie skizziert Graf zwei von der Wissenschaft konstatierte Entwicklungen, die das dionysisch anmutende Pa‐ 83 3.2 Dionysos und das Theater radox von Anlassgebundenheit und kreativer inhaltlicher Variation der diony‐ sischen Tragödie erklären: Dass die Tragödie, die doch (um einmal das Allerallgemeinste abzustecken) sich mit der Lage des Menschen in seiner Welt abgibt, dies anhand von Stoffen des Mythos tut, darf nicht verwundern. […] Erstaunlicher - und hier teilt die Antike unsere Verwun‐ derung - ist, dass die Tragödienaufführung ein Bestandteil des Dionysoskultes war, […] dass der Ort immer das Heiligtum des Dionysos im Südhang der Akropolis war, dass sich an die Tragödientrilogie ein Satyrspiel anschloss, dessen „Helden“ ein Chor von Satyrn, Dionysos’ halbtierischen Verehrern, war, dass die Antike denn auch die Tragödie aus Erscheinungen des Dionysoskultes ableitete, dass aber anderseits Tra‐ gödien dionysischen Inhalts verschwindend wenige bezeugt sind. (Graf 2004: 138 f.) Die ursprüngliche Form der antiken griechischen Tragödie ist die monologische Dramenform. Erst mit der Weiterentwicklung des Theaters im antiken Grie‐ chenland wurde unter dem Einfluss der homerischen Streitgespräche die Dia‐ logform eingeführt. Sie erwuchs wohl hauptsächlich aus dem sich fortentwi‐ ckelnden Persönlichkeitsbewusstsein der Menschen: Die Verschmelzung und das Vordringen des chthonischen, des dionysischen und des Heroskultes mußte zu Spannungen mit dem bisher vorherrschenden olympischen Mythos führen. [Die griechische Tragödiendichtung besteht] weitgehend in dem Ver‐ such, diese Spannungen aufzulösen und gleichzeitig dem neu erwachten Persönlich‐ keitsbewußtsein gerecht zu werden. Dies spiegelt sich jedoch nicht nur in ihrem Inhalt wider, sondern auch in ihrer Form. Neben der Lyrik der dithyrambisch singenden Chöre entwickelte sich nun mehr und mehr eine den Homerischen Streitgesprächen zwischen den Helden abgelauschte Dialogform. (Hübner 1985: 216) Alsbald nahmen sich die Dichter der sich aus dem Dithyrambos entwickelnden literarischen Form an und bearbeiteten sie nach ihrem Ermessen: „Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt.“ (Aristoteles 1994: 15) Überträgt man dies auf Gaudés Onysos le furieux, so stellt man schnell fest, dass er die Tragödie in ihrer dionysischen Urform wieder aufleben lässt, um eine aktuelle Realisierung des rezipierten und variierten Dionysos-Mythos zu be‐ treiben. Die unmittelbare Zusammengehörigkeit des Tragischen und Dionysischen zeigt sich am „generischen Erwartungshorizont“ ( Jauß 2007: 665), den die Athener bei der Vorführung der Tragödien während der Dionysien hatten. 84 3 Der Mythos des Dionysos 20 Die Bakchen des Euripides sind die Geschichte des verkannten und vertriebenen Dio‐ nysos, der von Königreich zu Königreich übersetzte, auf der Suche nach Akzeptanz seiner Göttlichkeit und Anerkennung seines Kultes. 21 Le Matricule des Anges Nr. 57, Oktober 2004: www.lmda.net/ / portrait57.html (07.09.2018). Demnach war die schwerwiegendste Schmähung in Richtung des Tragödien‐ dichters die Absprache der Verbindung der Tragödie zu Dionysos: Das Bewußtsein von der teilweisen Identität der dionysischen und der heroischen Sphäre, die auf dem Mythos vom unterirdischen Dionysos beruhte, war die Voraus‐ setzung der Tragödie. Dieses Bewußtsein war erloschen, als ein zum Sprichwort ge‐ wordenes Urteil der Athener nicht mehr verstanden wurde. Sie sagten wegwerfend, wenn ihnen eine Tragödie missfiel: „Ouden pros ton Dionyson - Es hat nichts mit Dionysos zu tun! “. Hätte sich dieses Urteil ausschließlich auf den Stoff bezogen, dann hätte nur die kleinste Zahl der Tragödien mit Dionysos zu tun gehabt. Es war keine materielle Verwerfung, sondern ein Urteil über die bloße Vordergründigkeit eines Stückes, über seine Abgetrenntheit vom Gott, in dessen heiligem Bezirk es aufgeführt wurde. Die Wahrnehmung des immanenten Bezugs, der durch die Möglichkeit eines solchen immateriellen Urteils bewiesen wird, war keine Sache, die allen denjenigen weitergegeben werden konnte, die sich die athenische Bildung aneigneten. (Kerényi 1994: 201) Da das Theater in der Zeit des Euripides bereits die Vermenschlichung von Heroen ins Auge fasste und Menschen im Zentrum der Handlung standen, ist es ein seltenes Phänomen in der zeitlichen Umgebung der Bakchen, dass Dio‐ nysos dort immer noch die Hauptfigur ist (Graf 2004: 139; 149). 20 Gaudés Onysos le furieux nimmt denn auch Bezug auf diese Sonderstellung unter den Tragödien, wenn er sich bemüht, möglichst viele Versionen des Dionysos-Mythos, beson‐ ders die weniger einschlägigen, in seinem Drama zur Sprache zu bringen, wie er in einem Interview bestätigt: Pour la figure d’Onysos, ce qui m’a passionné, c’est de voir que tout était possible avec lui. Il n’est figé dans aucune position, il est à la fois le plus viril, on le voit sur les sculptures grecques avec un sexe énorme, en même temps c’est la porte-parole des femmes. Il y a chez lui une grande violence et une extrême compassion. J’aimais beau‐ coup l’idée de me colleter un personnage qui mêlait toutes les frontières. Ça permet une liberté énorme et ça procure une grande jouissance. 21 So gesehen verpflichtet sich Gaudé in Onysos le furieux der Tradition der Dio‐ nysosmythographen und schreibt Euripides’ thebanischen Dionysosmythos 85 3.2 Dionysos und das Theater fort, indem er einen Gott vorstellt, der auf seiner langen Suche schließlich die Stadt seiner Wünsche findet (OF, 10; 21). Die musikalische Sprachgestaltung der antiken Aufführungen kann als Bin‐ deglied zwischen der Analyse der Mythopoiesis und der gattungsübergrei‐ fenden Techniken im modernen Drama gesehen werden. Daher zeichnet sich die Textualität des dithyrambischen Dramas durch „rituelle Tanzlichkeit“ be‐ ziehungsweise „Pantomime“, „rituelle Gesanglichkeit“ und „rituelle Rezitati‐ vität“ aus (Metzeltin 1998: 30), die sich gegenseitig ergänzen und damit in festem Zusammenhang stehen. Der Akt des herstellenden Schaffens (poiein) einer di‐ thyrambischen Tragödie wurde im antiken Griechenland nicht als bloße ‚Kunst‘ aufgefasst, sondern galt vielmehr als dionysische Epiphanie. Der Exarchont re‐ präsentierte nicht nur Dionysos, er verkörperte den Gott („mi-homme, mi-bouc“, OF, 35) - dementsprechend ging dem dionysischen Drama das kultische Ver‐ kleiden der Jungen und Männer als Satyrn voraus, das einer auf die Gottesbe‐ gleitung einstimmenden Entpersonalisierung gleichkommt. Während der Dio‐ nysien waren als Satyrn verkleidete Männer der Chor des Satyrdramas (Seaford 2006: 24). Die Zuschauer avancierten mit der Akzeptanz der Epiphanie von bloßen Beobachtern zu Teilhabern am dionysischen Mysterium (Baeumler 1965: 62 f.). Die monologischen Dramen Gaudés, insbesondere Onysos le furieux und Le tigre bleu de l’Euphrate, erinnern an die antiken Exarchonten. So wird der ursprünglich an den Dionysien aufgeführte Zwiegesang zwischen Chor und Vorsänger durch die Momentanrealisierung im Theater Gaudés zu einem Dialog zwischen Publikum und Schauspieler. Das Publikum reagiert auf den Schau‐ spieler und bildet aus rezeptionsästhetischer Sicht einen Dialog, der in den her‐ meneutischen Zirkel einführt ( Jauß 2007: 125-165; Gadamer 1975). Durch die monologische Strukturierung des Dramas wendet Gaudé einen Kunstgriff an, der Geehrten und Ehrende verschmelzen lässt. Gaudés Dionysosfigur ist folglich ein Exarchont erster Güte. Der Schauspieler des Dithyrambos ist ursprünglich ein Solist, begleitet von Tänzern, die ausschließlich als tänzerische und gesangliche Begleiter des So‐ listen bestellt waren: „Der Solist in der Mitte stellte Dionysos dar, der wie jedes Leben wächst, leidet, stirbt und wieder aufersteht. Fünfzig Tänzer umkreisten ihn, tanzend, klagend und singend interpretierten sie Dionysos’ Schicksal.“ (Metzeltin 1998: 30) In der literarischen Realisierung wurde der Schauspieler mehr und mehr zu einem Mittler, der in seinem Bericht über göttliches Wirken stets in der dritten Person sprach. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die Bakchen des Euripides: „DIONYSOS. […] Und zu diesem Zeitpunkt kam Backchos, und das Haus erzittert’, und von seiner Mutter Grab wallte Glut auf.“ (Euripides 1958: 114) 86 3 Der Mythos des Dionysos Wichtig ist auch noch ein letztes Kriterium der antiken Theaterpraxis. Wie im Kult, so sind Maske und Verkleidung auch im Theater etwas Ur-Dionysisches (Seaford 2006: 5; 24). Sie deuten nicht zuletzt auf den Aufenthalt des Dionysos in der Unterwelt hin; durch sie vergegenwärtigt ein Schauspieler Dionysos und schreibt so mit der eigenen körperlichen Präsenz die dionysische Kulttradition fort: Die Stimmung des Dramas ist die dionysischer Ekstase, des Festrauschs und der di‐ thyrambischen Begeisterung, und der Schauspieler, für die Zuschauer aus der ge‐ wöhnlichen Welt herausgehoben, fühlt sich in dieser Begeisterung durch die Maske, die er trägt, in das fremde Ich versetzt, das er nicht mehr vorstellt, sondern verge‐ genwärtigt und verwirklicht. In dieses Gefühl reißt er die Zuschauer mit. Die Gewalt des ungewöhnlichen Worts, das Unerhörte der Verbildlichung und des Ausdrucks bei Äschylus ist ganz in Übereinstimmung mit der Heiligkeit des Spiels: es ist aus der Heiligkeit des Spiels heraus erwachsen. (Huizinga 2004: 160) Dass das Wort „Person“ auf die Theaterpraxis zurückgeht, ist am lateinischen Etymon persona zu erkennen, das wiederum von personare (‚hindurchklingen‘), kommt. Die „Maske“ des Schauspielers steht folglich metonymisch für die Figur, die repräsentiert wird. Auch C. G. Jung gebraucht in seiner Psychoanalyse den Begriff der Persona konsequenterweise als Synonym für die Maske, welche die wahre Identität des Menschen verbirgt und die öffentliche Herauskehrung und Verstellung des Menschen ist - eine Maske, die dem Individuum von der Ge‐ sellschaft aufgesetzt worden ist, wie es Juan Ramón Jiménez formuliert: „Qui‐ temos a las cosas sus máscaras momentáneas, veamos sus ocultas facciones eternas.“ ( Jiménez 1990: 260) 87 3.2 Dionysos und das Theater 22 Die dionysische Mythopoiesis in Gaudés Romanen kann hier nicht en détail besprochen werden, wird aber in kurzen Hinweisen erläutert. 23 Einige Dramen Gaudés sind Bearbeitungen einschlägiger Mythenkreise, die bei einer eingehenden Untersuchung einen Interpretationsradius verlangen, der hier aus Platz‐ gründen nicht geleistet werden kann. Es sind dies vor allem die Dramen Le tigre bleu de l’Euphrate (2002), Médée Kali (2003) und Sodome, ma douce (2009). 4 „… et je serai indestructible“ - Gaudés dionysische Dramen Die Hypothese, dass Dionysos, die zentrale Figur der Begründung des antiken griechischen Theaters, die Hauptrolle in Gaudés Mythopoiesis übernimmt, mag zunächst gewagt erscheinen, da auf den ersten Blick nur Onysos le furieux unter den Titeln in Gaudés Werk ins Auge sticht - die übrigen Texte Gaudés scheinen sich nicht primär mit Dionysos auseinanderzusetzen. Bei der Lektüre von Gaudés Texten ergeben sich jedoch schnell situative, charakterliche und hand‐ lungssowie erzähltechnische Konstanten, die auf einige zentrale Eigenschaften des antiken Gottes in der Mythologie zurückzuführen sind. In einigen Texten Gaudés sind die im voraufgegangenen Kapitel besprochenen dionysischen Eigenschaften besonders augenfällig und vielversprechend für eine tieferge‐ hende Analyse. Dies sind, wie eingangs erwähnt, die Dramen Combats de pos‐ sédés (1999; CP), Onysos le furieux (2000; OF), Pluie de cendres, (2001; PC), Cendres sur les mains, (2002; CM) und Les Sacrifiées (2004; LS). Nun erschöpft sich Gaudés dionysische Mythopoiesis gleichwohl nicht in diesen Texten - seine Romane zeugen ebenfalls von dionysischer Mythopoiesis. 22 Mythopoiesis im Allge‐ meinen und dionysische Mythopoiesis im Besonderen zeichnen sich so als roter Faden in seinem Gesamtwerk einerseits und als eine Grundlage seiner Geistes‐ haltung andererseits ab. 23 24 Gaudé stellt den Einfluss großer französischer Dramatiker unumwunden fest, den er in Interviews immer wieder als positive Inspiration für sein eigenes literarisches Schaffen bezeichnet. Vgl. das Interview mit Claire David: „Rencontre avec Laurent Gaudé autour de ses œuvres parues chez Actes Sud“: https: / / www.youtube.com/ watch? v=BoIoGeLoCqs (07.09.2018). 4.1 Das modernistische französische Mythentheater: Die Vorläufer Gaudés Die europäische Literaturgeschichte beweist, dass sich Autoren dramatischer Werke immer wieder an der Antike und der Frühphase des Theaters orientieren. In manchen Schaffensphasen und literarischen Epochen war das Erbe des The‐ aters der Antike und ihrer Stoffe nicht nur übermächtig, sondern wurde gar zum alleinigen Maßstab der Theaterdichtung erhoben - wie dies vor allem in der Renaissance bei Etienne Jodelle, Jacques Grévin, Robert Garnier sowie in der französischen Klassik bei Jean Racine und Pierre Corneille zu sehen ist (Grimm 1994: 119; 158 f.; 162 f.). So ist es kaum verwunderlich, dass die Strahlkraft der antiken dramatischen Stoffe in Frankreich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wirkte und sich einige namhafte Autoren des 20. Jahrhunderts wieder auf dieses Erbe besannen, um sich an ihm „abzuarbeiten“ (Frank 1982: 16 ff.). Zudem hat diese eigenwillige Avantgarde die Welt des Theaters neu geprägt und hat der europäischen Dra‐ menliteratur des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts damit den Weg geebnet. Es ist offensichtlich, dass auch Gaudés Schaffen hiervon be‐ einflusst und vorangetrieben worden ist. 24 Im Folgenden seien nun offensicht‐ liche Ähnlichkeiten mit dem Figureninventar sowie der inhaltlichen und for‐ malen Konzeption erläutert, die sich hauptsächlich mit dem dramatischen Werk folgender Autoren finden: Jean Anouilh, Samuel Beckett, Jean Cocteau, André Gide, Jean Giraudoux, Eugène Ionesco, Alfred Jarry, Bernard-Marie Koltès, Jean-Paul Sartre und Marguerite Yourcenar. Durch intertextuelle Parallelen zu den hier untersuchten Stücken Gaudés rü‐ cken hier vor allem die Autoren in den Fokus, die ohne großen Zweifel zu den Vorläufern Gaudés zählen, da Gaudé sie im Laufe seines Studiums der Lettres modernes und Theaterwissenschaften an der Sorbonne Nouvelle (Paris III) aller 89 4.1 Die Vorläufer Gaudés 25 Hier sei auf die Aufzeichnung der Konferenz „Pourquoi écrire ? “ in der Ecole Alsacienne (Paris) vom 8. März 2011 verwiesen, die auch im Internet abrufbar ist: www.ecole-alsa cienne.org/ spip/ Laurent-Gaude-Pourquoi-ecrire.html (07.09.2018). Dieser Vortrag ist gerade im Hinblick auf Gaudés literarische Prägung besonders interessant, da er hier sein dramatisches Werk in den Kontext seiner schulischen und universitären Ausbil‐ dung und der von ihm rezipierten Literatur einordnet. Zudem gibt er Aufschluss über die Stoffe und Motive, die ihn zum Verfassen seiner Texte animiert haben sowie über die Themen, die für die conditio humana seiner Charaktere von entscheidender Bedeu‐ tung sind. 26 Der Begriff ‚klassisch‘ meint hier die klassische Epoche des griechischen Altertums, ca. 500-336 v. Chr., getreu der heute gängigen historischen Periodisierung (vgl. Scholz 2015: 9-14; Schmidt-Hofner 2016: 7-14). Wahrscheinlichkeit nach kennen gelernt hat. 25 Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass Gaudé die mythologischen Dramen einiger namhafter Autoren des 20. Jahrhunderts in seinen Stücken bewusst rezipiert und sich produktiv mit ihnen auseinandersetzt. Unter seinem Lehrer Michel Corvin, einem Spezialisten auf dem Gebiet des Theaters des 20. Jahrhunderts, fertigte Gaudé im Jahr 1994 eine literaturwissenschaftliche Examensarbeit mit dem Titel „Le thème du combat dans la dramaturgie contemporaine française“ an. Seine Abschlussarbeit in den Theaterwissenschaften, mit dem Titel „Le conflit dans le théâtre contemporain“, betreut von Jean-Pierre Sarrazac, einem Dramaturgen und Beckett-Experten, folgte 1998. Somit zeigen die Themen von Gaudés wissenschaftlichen Arbeiten klar sein Interesse für Konfliktsituationen, die er in seinen Stücken immer wieder behandelt und die in den hier diskutierten Stücken als Leitmotiv auf‐ tauchen. Im Folgenden werden nun kurz diejenigen Werke der wahrscheinlich ein‐ flussgebenden Autoren kurz erwähnt, die einen Stoff aus der antiken griechi‐ schen Mythologie produktiv rezipieren - diese nämlich bilden im engeren Sinne die Grundlage für die Mythopoiesis von Laurent Gaudé. Auf weitere Einflüsse, die diese Autoren wahrscheinlich auf Gaudé ausgeübt haben, wird ebenfalls eingegangen, sofern sie eine offensichtliche Parallele in Gaudés Schaffen auf‐ zeigen. Wie Gaudé ist auch all diesen Vorgängern gemein, dass sie nicht aus‐ schließlich an klassischen griechischen Mythen angelehnte Theaterstücke ge‐ schrieben haben, 26 sondern auch Stücke, die sich, ohne dezidierte Reminiszenzen auf antike Dramen, aktuellen Themen aus ihrer Entstehungszeit widmen. 90 4 Gaudés dionysische Dramen 27 Die angegebenen Daten der literarischen Werke, die in dieser Arbeit erwähnt werden, beziehen sich stets auf die Publikation der Texte. 4.1.1 André Gide André Gide (1869-1951) hat das mythisierende Theater des 20. Jahrhunderts in Frankreich entscheidend mitgeprägt. Insbesondere die mythologisch moti‐ vierten Stücke Gides, Philoctète (1898), 27 Œdipe (1930) und Perséphone (1934) zeigen die typisch modernistische, produktive Rezeption antiker Mythen und die Neufassung antiker Dramen (Sophokles, Philoktet, 409 v. Chr. und König Ödipus, ca. 436-425 v. Chr.). Des Weiteren sind der erhebliche Teil an Eigenin‐ terpretation des Mythos und die Loslösung der conditio humana der Protago‐ nisten vom griechischen „Original“ eine Parallele zu Gaudé, der diese Mythen jedoch wiederum zu ihren literarischen Ursprüngen zurückführt, gerade durch die Verwendung von Nebenschauplätzen und der Verfolgung von Mythenver‐ sionen, die in der Literatur bisher nur ein Randdasein fristeten (vgl. 4.2.4). Stilistische und thematische Anklänge des dramatischen Werkes von André Gide sind auch bei Gaudé zu finden: Die Vermengung von mythologischem Stoff und mehr oder weniger expliziten Anspielungen auf aktuelle politische Pro‐ bleme sind ebenfalls Markenzeichen von Gaudé, das deutlich auf Gide verweist: „Le théâtre grec lui fournit le modèle du héros qui se pousse à bout dans son affrontement avec les dieux afin d’accomplir la vocation de grandeur qu’il a en lui; c’est-à-dire cette forme d’héroïsme que Gide cherche à exprimer dans ses œuvres dramatiques“ (Meseguer 2013: 262). In Gides Philoctète ist dies die Affaire Dreyfus (Mbakop 2003: 28-69; 76-93), bei Gaudé ist dies beispielsweise die Pro‐ blematik des radikalen Islam in der algerischen und französischen Gesellschaft seit dem Algerienkrieg (vgl. Les Sacrifiées, Salina, Sophia Douleur). Auch die Versetzung eines antiken Mythos in die gegenwärtige Umgebung, die den Ein‐ druck einer Spontanrealisierung macht, ist bei Gide wie auch bei Gaudé zu finden (Gide 1925: 13). Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Le Prométhée mal enchaîné (1899). Hier findet sich Prometheus im Paris des Fin de siècle wieder, und es ist zudem eine der ersten Auseinandersetzungen Gides mit dem Motiv des acte gratuit (Gide 1925: 9 f., 16 ff.; Blumenberg 1979: 682 f.; Roebling 2009: 18 f.). Die farceartige, satirische Erzählung strapaziert den Prometheus-Mythos bis aufs Äußerste, indem sie die aus verschiedenen Mythenkreisen stammenden Charaktere und deren Eigenschaften mit der Umgebung des modernen Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts konfrontiert (Gide 1899: 26 f.). Gide zitiert sich bisweilen auch selbst, wenn er Versatzstücke aus anderen Erzählungen wie Paludes (1895) inte‐ griert und auch auf später erscheinende Texte wie Thésée vorausweist (Gide 91 4.1 Die Vorläufer Gaudés 1899: 134-157). Dies bildet die Basis für eine satirische, ins Absurde abgleitende Spiegelung der Pariser Bohème-Welt, die sich als eine ironisch anmutende mise en abyme des Anachronistischen entpuppt, das jedem Text anhaftet, der den Mythos aus der ihm angestammten Zeit enthebt (Dällenbach 1977: 21; Hübner 1985: 128). Mit Blumenberg kann man Gides récit auch lesen als eine „Anstren‐ gung, [den Mythos] zu Ende zu bringen“ (Blumenberg 1979: 269; vgl. 2.3.3). In diesem Zuge kann auch Thésée (1946) berücksichtigt werden - es handelt sich hierbei zwar ebenfalls nicht um ein Theaterstück, sondern um eine Erzäh‐ lung - da Gide aber eine fiktive Autobiographie des Theseus verfasst hat, die in Zügen an die fiktive Autobiographie des Dionysos in Onysos le furieux erinnert, sei sie hier kurz erwähnt. Gaudé ist im Kontrast zu Gide aber weniger auf den satirischen Aspekt seiner Mythenrealisierungen aus, wohingegen bei Gide an vielen Stellen ein beißender satirischer Ton vorherrscht, wie es beispielsweise deutlich wird, wenn Theseus als Ich-Erzähler schildert, was sich ereignet, als er Ariadne auf Naxos zurücklässt (Kapitel XI): Elle me poursuivait, me pourchassait, me traquait […]. L’on dit que, quelques temps après que nous l’y eûmes laissée, Dionysios vint l’y rejoindre et qu’il l’épousa; ce qui peut être une façon de dire qu’elle se consola dans le vin […]. Et l’on me permettra de remarquer que, sans mon abandon, ne fût advenu rien de tout cela, si avantageux pour elle. (Gide 1946: 91-93). Renata Lopes Araujo (2012: 44) spricht von einer banalisierenden Transforma‐ tion, die typisch für Gides Auseinandersetzung mit dem antiken griechischen Mythos ist. Bei Gaudé ist, im Gegensatz zu Gide, viel eher ein mythologischer Ernst vorherrschend, der behutsam mit den Vorlagen umgeht und diese nicht zum Kommentar einer Situation einsetzt, sondern sie förmlich unter den énoncé stellt, um diesen mythologisch zu untermauern - es ist, aufgrund einer gewissen impartialité bei diesem poietischen Vorgehen, am Leser, sich sein Urteil selbst zu bilden, ob nun die mythologische Unterfütterung oder der neu geschaffene Mythos an erster Stelle steht. Auch Gides Abwandlung von einschlägig bekannten und in der Literatur vielfach rezipierten Mythenversionen, die sich am besten mit dem Attribut ad libitum charakterisieren lässt, erinnert an Gaudé: La critique en général considère le Thésée comme une sorte de testament de Gide et un message de sagesse, spécialement parce que c’est son dernier texte de fiction, mais il me semble qu’il s’agit plutôt d’une contestation parodique de la parole littéraire pleine de sous-entendus, un peu comme une espèce de pastiche de l’écriture tragique. Cette contestation ferait « bouger » le mythe, c’est-à-dire, le renouvellerait et le réin‐ terpréterait à la fois, sans pour autant modifier son essence. (Araujo 2012: 44) 92 4 Gaudés dionysische Dramen 28 Prosperpina ist die römische Entsprechung der Persephone (Anm. d. Verf.). Gide verzerrt antike Mythen folglich bewusst, um ihre Haltbarkeit in der Ge‐ genwart auf die Probe zu stellen. Um mit Genette zu sprechen (1982: 11 ff.), bevorzugt Gide die satirischen Hypertexte, genauer: die Travestie (travestisse‐ ment) und die Persiflage (charge), während Gaudé spielerisch mit den Hypo‐ texten der antiken Vorlagen arbeitet - so lässt sich Gaudés häufige Vorgehens‐ weise aufgrund ihrer Diversität und Ludizität nicht eindeutig in Genettes Kategorien einordnen: Sie oszilliert zwischen ernsten und spielerischen Bear‐ beitungen der antiken Vorläufer. Die bewusst inszenierte, provozierende Über‐ heblichkeit und die bewusst offensichtlich wirkende Hypokrisie in Gides Werk, vor allem in seinem Umgang mit literarischen Intertexten ist von Olivier Blan‐ chard hinreichend untersucht worden (Blanchard 2000: 103-110). So ändert Gide in seinem Theaterstück Perséphone ein entscheidendes Detail: Im Vergleich zum Homerischen Demeter-Hymnus (650-550 v. Chr.), dem bis dato frühesten schriftlichen Zeugnis des Persephone-Mythos, wo Persephone von Hades in die Unterwelt entführt und zur Heirat gezwungen wird (Levitz 2012: 27; 69 f.), macht Gide aus der Unterweltreise der Persephone eine freiwillige Entscheidung, aus Mitgefühl für die in der Unterwelt weilenden Seelen. Empa‐ thisch setzt sich Gides Persephone für die Beruhigung der rastlosen Seelen in der Unterwelt ein, was Tamara Levitz hinsichtlich der perspektivischen Ver‐ änderungen prägnant analysiert: „Gide’s moment of inspired melodrama dis‐ rupts the framework of the Homeric Hymn and inverts its focus.“ (Levitz 2012: 82) So kann man in Gides Variation danteske Züge erkennen, denn sein Interesse - wie später auch das Gaudés - verschiebt sich in Richtung des Übergangs zur Unterwelt. Damit verknüpft auch Gide den Persephone-Mythos mit dem oh‐ nehin naheliegenden dionysischen Mythenkreis (vgl. 3.1.1), und zwar mit allen Attributen, die für Dionysos typisch sind: It was widely believed in Gide’s time that Pluto (the Roman Hades) had ravished Prosperpina 28 in Sicily (although this remained a subject of historical debate, with Homer situating her ravishment in Nysa near Elysium) and that this colony had been the first to adopt agriculture. Linked to the erotic, chthonic, theatrical, and playful, the Sicilian Prosperpina intertwined in her imagery Dionysus, the maenads, madness, ecstasy, death, and rebirth. (Levitz 2012: 69) In Gides Philoctète (1898) werden gleichfalls individuelle Mythos-Bearbei‐ tungen deutlich. Laut der Voraussage des troischen Sehers Helenos brauchen die Griechen Pfeile und Bogen des Herakles, um Troja zu besiegen, welche sich jedoch in Händen des Philoktetes befinden, der von den Argonauten auf der 93 4.1 Die Vorläufer Gaudés Insel Lemnos zurückgelassen wurde, weil er eine schwere Wunde am Fuß hatte. Da die griechischen Kampfgefährten den üblen Geruch der Wunde nicht er‐ tragen konnten, ließen sie Philoktetes mit einer von Odysseus ausgeheckten List auf Lemnos zurück. Nun benutzt Odysseus abermals eine List, um den Waffen‐ träger des Herakles, der selbstverständlich einen Groll gegen Odysseus hegt, wieder in die Reihen der Griechen zurückzuholen. Nach einer einschlägigen Version des Mythos, der auch Gide folgt, nimmt Odysseus Neoptolemos, den Sohn des Achilles mit nach Lemnos, den Philoktetes nicht kennt. Auf Lemnos angekommen, macht Odysseus Neoptolemos klar, dass er die Waffen des Hera‐ kles um jeden Preis zurückholen muss, zum Wohl des gesamten griechischen Volkes. Odysseus überreicht Neoptolemos einen Schlaftrunk, den er Philoktetes verabreichen soll. Dieses Gespräch bekommt Philoktetes mit, und er täuscht freudige Überraschung, vor, als er aus seinem Versteck vor die beiden tritt. Die Gewissensbisse, durch das Mitwirken an der Überlistung des Philoktetes seinen und seines Vaters Namen zu entehren, bringen Neoptolemos dazu, Philoktetes den Plan des Odysseus zu offenbaren. An dieser Stelle greift Gide abermals zu einer überraschenden, eigenen Variante des Mythos: Philoktetes entscheidet sich, zur völligen Überraschung des Neoptolemos, den Schlaftrunk aus freiem Willen einzunehmen. Sprichwörtlich entwaffnet und Philoktetes’ Sieg über ihn bestätigend („tu m’as vaincu“), befiehlt Odysseus Neoptolemos, sich der Waffen anzunehmen, nachdem Philoktetes in Schlaf verfallen ist. Wieder lässt Odysseus den Philoktetes auf Lemnos zurück - dieses Mal jedoch, mit dem letzten Wort des Philoktetes, „heureux“. (Gide 1898: 498). Es ist nun nicht verwunderlich, dass Gide auch bei einem der populärsten Mythen seine Handschrift hinterlässt. So schwimmt sein Œdipe auch nicht mit dem Strom der psychoanalytischen Lesarten von König Ödipus des Sophokles, die gerade zu Gides Zeiten en vogue sind, sondern distanziert sich bewusst von diesen, um aus dem Ödipus-Stoff seine ganz eigene condition humaine er‐ wachsen zu lassen. Vorrangig scheint sich Gide für den inneren Konflikt des Ödipus zwischen individueller Freiheit und Unterwürfigkeit zu interessieren (Morales 1999: 97 f.). Gide lässt die Freud’sche Komponente beinahe komplett außen vor, bringt sie nur indirekt ins Spiel, mithilfe einiger ironischer Repliken, die durchaus die kritische Distanz Gides zu einer „Freud-lastigen“ Lesart er‐ kennen lassen. Zugleich unterstreicht Gide sehr oft den Kampf des Ödipus für seine persönliche Freiheit und Selbstverwirklichung, was auch als von Gide an‐ gedichteter Narzismus gelesen werden kann (Morales 1999: 100): ŒDIPE. J’ai longtemps cru que j’étais guidé par un dieu. TIRESIAS. Un dieu qui n’était autre que toi-même; oui, que toi-même divinisé (Gide 1958: 20). 94 4 Gaudés dionysische Dramen Ein weiterer individualistischer Zug ist, dass Gide sich mit seinem Œdipe wohl eher am Thema des Katholizismus abarbeitet, zu dem einige seiner Vertrauten ihn konvertieren wollen (Morales 1999: 112). So ist die einzige Gottheit, die in seinem Stück Gestalt annimmt, eher ein Gott, der mit dem christlichen Gottes‐ verständnis konform geht; im Kontrast zu der sonst polytheistisch geprägten Atmosphäre in den mythisierenden Dramen des beginnenden 20. Jahrhunderts. An Gides mythologischen Stücken wird somit deutlich, dass er sich nicht nur spektakulär sondern durchaus geschickt und bisweilen recht zurückhaltend in die mythologische Diskussion einbringt, indem er beinahe unmerklich seine eigenen Versionen einfließen lässt und ihnen einen zeitgenössischen Eindruck verleiht, der sich oft um die Erörterung von Themen wie individuelle Unabhän‐ gigkeit und Selbstverwirklichung dreht, die aber auch in eine willkürliche Selbstaufopferung münden kann - wie es das freiwillige Trinken des Betäu‐ bungsgemischs durch Philoktetes bescheinigt. Die Zuspitzung zu ausweglosen Situationen, in denen die handelnden Figuren gezwungen sind zu improvisieren und diese Improvisationsleistung meist bravourös mit einer überraschenden Wendung beenden, ist auch bei Gaudé zu finden. Oft sind diese Überraschungs‐ effekte eine extreme Handlung oder Reaktion, die aber den Knoten des Di‐ lemmas lösen. 4.1.2 Alfred Jarry Alfred Jarry (1873-1907) war unter Gaudés prominenten Vorläufern sicherlich die schillerndste und extravaganteste Persönlichkeit, wenngleich ihm zu Leb‐ zeiten ein breiterer Publikumserfolg verwehrt geblieben ist. Jarry war wohl schlicht zu progressiv und bewusst provokativ für seine Zeit. Ähnlichkeiten zu Cocteaus karnevalisierenden Tendenzen im Bacchus (vgl. 4.1.4) weist Ubu roi (1896) auf, wobei jedoch in Ubu roi das Kreatürliche, der groteske Leib im Sinne Michail M. Bachtins (1990), die Brechung von Tabus und die derbe Komik im Vordergrund stehen. Die Subversivität in Ubu roi ist eine Realisierung des Topos mundus inversus, die ins Extreme geführt wird, weil Jarry hier bewusst absurde, ja widersinnige Handlungspassagen und Charakterzüge zur Schau stellt. Die Charaktere Jarrys sind zumeist ein Konvolut von hyperbolischen Eigen‐ schaften, die gerade in ihrer Kombination einen komischen Effekt auslösen. Hierdurch wird den Figuren zugleich ihre Individualität genommen, sodass sie zu einem Sammelsurium an oberflächlicher, unbeholfener Komik werden. Die Unbeirrtheit, mit der Jarry nachgerade konzeptualistisch seine selbst erdachten ästhetischen Prinzipien anwendet und seine Unerschrockenheit, dies in einer nach wie vor sehr strengen Gesellschafts- und Verhaltensordnung des begin‐ 95 4.1 Die Vorläufer Gaudés nenden 20. Jahrhunderts zu tun, ist bemerkenswert (Grimm 1982: 55-62). So musste Jarry wohl von den meisten seiner potentiellen Rezipienten verkannt, ja gehasst werden; er war sozusagen zur Avantgarde verdammt, die ihm nach seinem frühen Tod, vor allem bei seiner Wiederentdeckung nach dem zweiten Weltkrieg erst den Ruhm gebracht hat, den er sich zu Lebzeiten stets wünschte. Jarrys bekanntestes Stück, Ubu roi, dreht sich nun um Folgendes: Angesta‐ chelt von seiner Frau versucht Père Ubu, durch Ermordung der Königsfamilie den polnischen Thron an sich zu reißen. Einmal an der Macht, setzt er - Gaudés Patron in CP um nichts nachstehend - eine immense Tötungsmaschinerie in Gang, um seine Position zu sichern, wird jedoch, auf Hinweis eines abtrünnigen ehemaligen Freundes, Bordure, vom russischen Zaren Alexis und dessen Heer vernichtend geschlagen. Durch eine seltsame Kombination aus Feigheit und Listenreichtum kann Père Ubu jedoch seine Haut retten und sich nach Frank‐ reich absetzen. In Ubus Person vereinen sich sämtliche negativen Eigenschaften, die Monarchen nachgesagt werden können, allen voran Hedonismus und gren‐ zenlose Habgier. Durch seine unkonventionelle Herrschaftsführung ist er je‐ doch paradoxerweise beim Volk nicht unbeliebt. So sehr das Motiv der Machtübernahme aus unkontrollierbarer Ambition her‐ aus an Shakespeares Macbeth erinnert, steht hier jedoch ein Jarry eigenes, lu‐ disch-ridikulisierendes Moment im Vordergrund (Grimm 1982: 63-72). Jarry selbst gibt in der Vorrede eine nicht ganz unmissverständliche Verbindung zwi‐ schen Shakespeare und Père Ubu an ( Jarry 1900: 4). Zudem kann man im Kö‐ nigspaar Ubu eine ins Lächerliche reduzierte Form der Shakespeare-Figuren des King Lear und der Lady Macbeth erkennen: Besonders auf der Handlungsebene von „Ubu Roi“ [sic] sind Parallelen zu den Shake‐ spearedramen „King Lear“ und „Macbeth“ eingearbeitet. Das wesentliche Moment an diesen Einarbeitungen ist aber, daß sie der Literatur nicht ein neues Stück Literatur hinzufügen, sondern wegnehmen. Wenn King Lear mit Caliban und einem dickwans‐ tigen Hanswurst amalgamiert wird, entsteht kein neuer König, sondern zunächst: ein König weniger. (Henke 1997: 35) Wohl auch aus diesem Grund reagierte die Literaturkritik zunächst im besten Falle verhalten auf Jarrys Ubu roi und dessen Nachfolger Ubu cocu (1897), Ubu enchaîné (1899) und Ubu sur la Butte (1906), da ihr viele der dort verwendeten Stoffe, Motive und Charaktere schlicht zu plakativ und zu plump waren, als sie mit irgendetwas Seriösem aus der kanonisierten Literaturgeschichte zu verglei‐ chen. Erst mit dem Einsetzen der Postmoderne öffnete sich das interpretatori‐ sche Interesse für Jarrys Haltung eines enfant terrible in der ohnehin schon auf‐ 96 4 Gaudés dionysische Dramen 29 Animiert durch die von Jarry entwickelte ’Pataphysique gründete ein Kreis von be‐ freundeten Künstlern und Wissenschaftlern um Raymond Queneau im Jahre 1948 das Collège de ’Pataphysique. Hier fanden einige namhafte Künstler, Philosophen und Lite‐ raten Aufnahme, unter ihnen Jaques Prévert, Joan Miró, Eugène Ionesco, Dario Fo, Max Ernst, Umberto Eco, Jean Baudrillard und Fernando Arrabal. Auch die Gruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle, gegründet 1960) geht auf Queneaus Initiative und seine Affinität zu experimenteller Literatur zurück. geschlossenen und international einflussreichen Pariser Literaturlandschaft der beginnenden 1960er Jahre. Die Konstante in Jarrys Werk schlechthin ist die Umstülpung von Werten und Normen -in thematischer aber auch sprachlicher Hinsicht. Selbst Naturgesetze waren nicht vor seiner absurdistischen Kreativität sicher - für sie schuf er mit seiner pseudowissenschaftlichen ’Pataphysik eine selbst von hochrangigen Ge‐ lehrten vielbesuchte Bühne, die ihrerseits wieder eine ähnlich geartete literari‐ sche Vereinigung hervorrief: Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle). 29 In seiner Sprache vermischt Jarry unerschrocken und provokant Schreibweisen, die an das Altfranzösische angelehnt sind, sowie antiquiert anmutende Ausdrücke mit moderner Vulgärsprache und eigenen Neuschöpfungen, was in der Exposition von Ubu roi unmittelbar erkennbar ist: PÈRE UBU. Merdre. MÈRE UBU. Oh ! Voilà du joli, Père Ubu, vous estes un fort grand voyou. PÈRE UBU. Que ne vous assom’je, Mère Ubu ! MÈRE UBU. Ce n’est pas moi, Père Ubu, c’est un autre qu’il faudrait assassiner. PÈRE UBU. De par ma chandelle verte, je ne comprends pas. MÈRE UBU. Comment, Père Ubu, vous estes content de votre sort ? PÈRE UBU. De par ma chandelle verte, merdre, madame, certes oui, je suis content. On le serait à moins : capitaine de dragons, officier de confiance du roi Venceslas, décoré de l’ordre de l’Aigle Rouge de Pologne et ancien roi d’Aragon, que voulez-vous de mieux ? ( Jarry 2007: 13 f.) So kann Ubu roi wohl als das erste in Frankreich aufgeführte absurde Thea‐ terstück bezeichnet werden. Es wird hier deswegen erwähnt, weil es den wohl stärksten Gegensatz zu Gaudés mythologisierendem Theater darstellt. Zugleich zeigt dieser Unterschied auch auf, wie modern die Generation der Autoren des absurden Theaters in der Tat gewesen ist; hier kann man von einer Avantgarde sprechen, die erst Jahre später im europäischen Umland ihre Nachahmung fand (Grimm 1982: 44-54; 73 f.). An Gaudés Theater wiederum lässt sich erkennen, wie sich die französische Theaterlandschaft in den letzten zwei Jahrzehnten wieder hin zu den antiken Vorbildern des Theaters und einem epischen, erzäh‐ 97 4.1 Die Vorläufer Gaudés lenden Theater gewendet hat, was jedoch freilich keine starre imitatorische Rückwendung, sondern durchaus schon eine Weiterentwicklung bedeutet. Jarrys Stücke betreiben Provokation auf allen Bedeutungsebenen, vor allem durch Figuren, die eine radikale und rücksichtslose Entkonventionalisierung inkarnieren, bis hin zu einer in der französischen Literatur selten probierten Irrationalität und Akausalität. An diesem Grad der Extremführung ist abzulesen, dass Jarrys Motive in Gaudés Werk gesucht werden müssen, jedoch könnte sein Theater insoweit Einfluss auf Gaudé gehabt haben, dass in der Unkonventio‐ nalität und in der Deindividualisierung von Gaudés Dienerfiguren, insbesondere der Fossoyeurs in CP und CM, die eine oder andere Spur des „Bohémien délibéré“ zu erkennen ist. Hinzu kommt Gaudés augenzwinkerndes Gebaren, wenn es um die Verlagerung eines Mythos in die momentane Gegenwart geht - vor allem ist dies in OF zu beobachten, wenn Gaudé aus dem beliebten und berüchtigten Dionysos einen obdachlosen Trinker in der New Yorker U-Bahn macht. 4.1.3 Jean Giraudoux Jean Giraudoux (1882-1944) ist gerade durch seine mythisierenden Dramen in Frankreich und weit darüber hinaus bekannt geworden. So hat er auch einige seiner literarischen Zeitgenossen wie Anouilh und Cocteau mit dem neuen an‐ tiken Einfluss geprägt. Giraudoux rüttelt auf mit seinen mythisierenden Dramen und zeigt die zeitliche Spannung, die zwischen den ersten Erzählungen und li‐ terarischen Realisierungen und der heutigen Zeit liegt. In dieser Spannung ist jedoch gleichzeitig der Schluss nahe, dass sich diese Stoffe ohne weiteres in das moderne Drama einfügen lassen, denn sie sind nach wie vor brisante Themen der menschlichen sozialen Existenz. Die zahlreichen Anachronismen, die Gi‐ raudoux bewusst und offensichtlich heraufbeschwört, sorgen für den Eindruck einer Modernität, die der literarischen vogue der Zeit entsprechen will und bringen letztendlich auch die Absurdität des augenscheinlich so normalen All‐ tagslebens ins Spiel, was von Roxana Haidberg treffend zusammengefasst wird: Le drame mythique du XX-e[sic] siècle propose un monde de contradictions où les grandes lignes directrices du mythe sont enrichies d’un vaste arabesque d’ambiguïtés pour offrir au spectateur la possibilité de vivre une double émotion, celle d’être con‐ fronté avec les problèmes de l’existence quotidienne et celle de se retrouver devant un modèle littéraire, dont les riches significations s’ouvrent à la sensibilité contem‐ poraine. (Haidberg 2008: 229) Giraudoux’ Modernisierung des Amphitryon-Mythos ist bereits am Titel zu erkennen: Amphitryon 38 (1929). Die reizend schöne Alkmene, Königin von 98 4 Gaudés dionysische Dramen Theben und Ehefrau von Amphitryon, ist das Objekt der Begierde von Zeus, der mit ihr einen Helden zeugen möchte. Besonders reizt Zeus die zutiefst mensch‐ liche Liebe, die sie mit Amphitryon verbindet, und er ist verwirrt von ihrer kompromisslosen Treue ihrem Gatten gegenüber. Somit ist klar, dass er Alk‐ mene nur in Gestalt des Amphitryon besitzen kann. So heckt er mit Hermes den Plan aus, Amphitryon in den Krieg zu schicken. Hermes kündigt sodann Alk‐ mene an, dass Amphitryon des Nachts heimlich vom Schlachtfeld kommt, um mit ihr die Nacht zu verbringen. Mit Zeus in Gestalt ihres Mannes hegt Alkmene keinen Zweifel daran, dass sie eine schöne Liebesnacht mit ihrem Gatten ver‐ bracht hat. Nun will Zeus aber mehr und lässt Hermes in Theben verkünden, dass der Götterkönig sich mit Alkmene vereinen wird. Die aus allen Wolken fallende Alkmene zieht der Vereinigung mit Zeus den Tod vor, weil sie ihrem Mann partout nicht in Untreue fallen will. Hier fügt es sich nun, dass sich Alk‐ mene und Leda treffen, die Zeus nach einer einzigen Begegnung nun unbedingt wiedersehen will. Durch Leda kann Alkmene von ihren Selbsttötungsabsichten abrücken, denn ihr gelingt es, Leda zu überreden, an ihrer statt das Ehebett mit Zeus zu teilen. Alkmene wirbt um eine Freundschaft mit Zeus, um ihren Mann nicht zu verraten. Nachdem sie akzeptiert, ihren ersten Sohn Herakles zu nennen und dem thebanischen Volk die Ablehnung des Zeus zu erklären, willigt Zeus ein und tut etwas für Götter normalerweise Unmögliches: Er verlässt Alkmene in Freundschaft. So kann sich Alkmene glücklich preisen, ihrem Mann treu ge‐ blieben zu sein. Dennoch plagt sie das Wissen um die Nacht, die sie mit Zeus verbracht hat. Sie bittet diesen daraufhin, ihr diese Nacht vergessen zu machen. Zeus willigt ein und löscht Alkmenes Erinnerung an diese Nacht mit einem Kuss. Zeus selbst ist überrascht ob dem vertraulichen Gefühl, das dieser Kuss auslöst. So kann Alkmene dem thebanischen Volk strategisch geschickt verkünden, dass sie den Gott der Götter zum dritten Mal geküsst hat. Besonders typisch in diesem Stück ist die Mischung von mythologischen Ele‐ menten und Passagen im Stile der Verwechslungskomödie (quiproquos), womit das tragische Moment des Amphitryon-Mythos zeitweise abgeschwächt und ins Komische verkehrt wird. Und an Dramatik fehlt es dem Mythos in der Tat nicht: Amphitryon bedeutet ‚der doppelt Geplagte‘, da er zweimal um das Zusammen‐ sein mit seiner geliebten Alkmene gebracht wird. Zum einen verbringt er eine Nacht mit Leda, da ihn seine Frau für den verwandelten Zeus hält und zum anderen muss er sich kurz danach der Macht des Gottes beugen, und zulassen, dass dieser seine Frau Alkmene begattet, um Herakles zu zeugen. Bei Giraudoux erhält die Figur der Alkmene eine stärkere Persönlichkeit als in den vorherge‐ henden Dramen mit diesem Stoff, wie etwa bei Sophokles, Molière oder Kleist (Andrade 2008: 201 f.). 99 4.1 Die Vorläufer Gaudés Dies ist deutlich im folgenden Textausschnitt zu erkennen. Der typisch mo‐ dernistische, informelle aber gewitzte Plauderton, welcher das non-aptum, die stilistische Diskrepanz zwischen dem sujet und seiner Behandlung zusätzlich ironisiert, die Metasprache und die Diskussionen über den Bedeutungsgehalt gewisser Wörter, der sich natürlich über die Jahrhunderte geändert hat, geben den Blick auf die Metafiktionalität der Figuren frei. Die Diskussion wird damit auch zu einer allgemeineren Debatte über unterschiedliche Auslegungen der signifiés bei verschiedenen Autoren: JUPITER. Quelle nuit divine ! ALCMÈNE. Tu es faible, ce matin, dans tes épithètes, chéri. JUPITER. Je dis divine ! ALCMÈNE. Que tu dises un repas divin, une pièce de bœuf divine, soit, tu n’es pas forcé d’avoir sans cesse de l’invention. Mais, pour cette nuit, tu aurais pu trouver mieux. JUPITER. Qu’aurais-je pu trouver de mieux ? ALCMÈNE. A peu près tous les adjectifs, à part ton mot « divin », vraiment hors d’usage. Le mot « parfait », le mot « charmant ». Le mot « agréable » surtout, qui dit bien des choses de cet ordre : quelle nuit agréable ! JUPITER. Alors la plus agréable de toutes nos nuits, n’est-ce pas, de beaucoup ? ALCMÈNE. C’est à savoir. JUPITER. Comment, c’est à savoir ? ALCMÈNE. As-tu oublié, cher mari, notre nuit de noces, le faible fardeau que j’étais dans tes bras, et cette trouvaille que nous fîmes de nos deux cœurs au milieu des ténèbres qui nous enveloppaient pour la première fois ensemble dans leur ombre ? Voilà notre plus belle nuit. JUPITER. Notre plus belle nuit, soit. Mais la plus agréable, c’est bien celle-ci. ALCMÈNE. Crois-tu ? Et la nuit où un grand incendie se déclara dans Thèbes, d’où tu revins dans l’aurore, doré par elle, et tout chaud comme un pain. Voilà notre nuit la plus agréable, et pas une autre ! JUPITER. Alors, la plus étonnante, si tu veux ? ALCMÈNE. Pourquoi étonnante ? Oui, celle d’avant-hier, quand tu sauvas de la mer cet enfant que le courant déportait, et que tu revins, luisant de varech et de lune, tout salé par les dieux et me sauvant toute la nuit à bras-le-corps dans ton sommeil… Cela était assez étonnant ! … Non, si je voulais donner un adjectif à cette nuit, mon chéri, je dirais qu’elle fut conjugale. Il y avait en elle une sécurité qui m’égayait. Jamais je n’avais été aussi certaine de te retrouver au matin bien rose, bien vivant, avide de ton petit déjeuner et il me manquait cette appréhension divine, que je ressens pourtant toutes les fois, de te voir à chaque minute mourir dans mes bras… JUPITER. Je vois que les femmes aussi emploient le mot « divine » ? 100 4 Gaudés dionysische Dramen ALCMÈNE. Après le mot « appréhension », toujours. Un silence. (Giraudoux 1999: 141 f.) Interessant zu erwähnen sind auch die beiden Stücke Giraudoux’, die kurz vor dem zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, La guerre de Troie n’aura pas lieu (1935) und Electre (1937), da sich hier die strukturelle Funktionsweise des mythisierenden Theaters des 20. Jahrhunderts zeigt: Der antike Mythos dient in den meisten Fällen als seriöse Unterfütterung eines aktuellen Problems, ver‐ bunden mit dem Angebot nicht zuletzt an die Rezipienten, dieses mit der Kenntnis des Mythos zu lösen. Den Stoff der zwei Dramen hat Giraudoux be‐ nutzt, um die drohende Kriegsgefahr vorausschauend zu unterstreichen, die von der Konfrontation sich feindlich gegenüberstehender politischer Lager und massiver Aufrüstung ausgeht. Giraudoux, ein bis zum zweiten Weltkrieg aus‐ genommen germanophil eingestellter Literat, konzentriert seine Bemühungen vor allem auf die gefährdeten deutsch-französischen Beziehungen (Body 1975: 405). So wurde La guerre de Troie n’aura pas lieu oft interpretiert mit der Angst der Franzosen vor Hitlers Aufrüstung und den ständigen Kriegsdrohgebärden. Vor allem die Nachbarstaaten des deutschen Reiches, darunter Frankreich, die Hitler meist klein beigaben, nahmen fast duckmäuserisch eine vom dritten Reich ausgehende Destabilisierung Europas in Kauf, nur um einen Krieg zu vermeiden, auf den sie wohlweißlich nicht ausreichend vorbereitet waren. Die Versetzung des Krieges um Troja in die zeitgenössische Gegenwart lässt die beiden auf Konfrontationskurs befindlichen Parteien klar erkennen: Frankreich als die Trojaner und Deutschland als die Griechen. Wie im Mythos, so ist am Ende des Stückes auch der Kriegsbeginn vorauszusehen, was Giraudoux’ wachsenden Pessimismus aber auch seinen Feinsinn sowie die Gefühlslage vieler Menschen damals widerspiegelt. Giraudoux’ Bühnenstück über den bevorstehenden trojanischen Krieg erzählt die Situation nach dem Raub der Helena, die, trotz vieler Vermittlungsversuche beider Parteien, letztendlich zum Krieg zwischen Griechenland und Troja führt, da die diplomatischen Bemühungen immer wieder von beiderseitigen Provo‐ kationen abgelöst werden. Im Titel liegt bereits der Widerspruch vor, der die Spannung des ganzen Stücks ausmacht. Jeder, der den Mythos kennt, weiß, dass der trojanische Krieg stattgefunden hat, der Titel Giraudoux folglich entweder widersinnig oder aber bewusst provozierend gewählt worden ist. So konzen‐ triert sich der Leser aber verstärkt auf die Erwartung, dass Giraudoux uns viel‐ leicht eines Besseren belehrt und durch irgendeinen Kunstgriff den Krieg ver‐ meidet. Seine Figuren setzen sich demnach auch besonders mit der möglichen Vermeidung des Krieges auseinander, die selbstverständlich, am Ende des Stü‐ ckes, nicht mehr realisierbar ist. 101 4.1 Die Vorläufer Gaudés Nun spaltet sich die Situation, etwas extrem geführt, in kriegslüsterne Deut‐ sche und pazifistische Franzosen auf. Wie bereits angeklungen, ist La guerre de Troie n’aura pas lieu ein Paradebeispiel der neuen produktiven Rezeption antiker Mythen Anfang des 20. Jahrhunderts, die den Mythos als Code für eine gegen‐ wärtige Problemstellung einsetzen, welche sich oft analog zum herangezogenen Mythos verhält oder aber nur leicht abgewandelt ist (Pinkernell 1997: 192-206). Dies rückt Giraudoux in die Nähe Gaudés, vor allem was die Stücke angeht, die den Holocaust implizit behandeln (Combats de possédés, 1999 und Cendres sur les mains, 2002). Auch Gaudé codiert seine Stücke mit mythologisch anmutenden Gestalten, mit dem Vorteil, wie Giraudoux, die eigentlich beabsichtigte The‐ matik nie wörtlich ansprechen zu müssen - so bleibt für den Rezipienten ein, wenngleich geringer, Spielraum für individuelle Interpretationen. Les Sacrifiées erinnert hier an diese Technik Giraudoux’. Die Problematik des Algerienkrieges und der drohenden Gefahr radikaler, islamistischer Bewegungen für die frei‐ heitliche französische und europäische Gesellschaft, die sich sämtliche, dem Krieg entfliehende Menschen so herbeigesehnt haben, wird hier von Gaudé ebenso mythologisch unterfüttert, jedoch auch explizit angesprochen. Mit Electre (1937) blickt Giraudoux sodann globaler auf den drohenden Groß‐ konflikt in Europa. Warnend macht er die Kompromisslosigkeit der Kommu‐ nisten klar, repräsentiert durch Elektra, die trotz drohender Kriegsgefahr aus Deutschland nicht an Aufrüstung denken. Electre wirkt damit wie die ré-écriture des Elektra-Mythos, mit ihren vielen anachronistischen Modifikationen im Ver‐ gleich zu den Versionen in Homers Odyssee oder bei Aischylos, Sophokles und Euripides. Zudem fügt Giraudoux auch mythische Szenen ein, die aus seiner eigenen Feder stammen, z. B. der Krieg mit den Korinthern. Giraudoux’ Electre weist einiges mehr an eigenen Abwandlungen und Zu‐ sätzen im Vergleich zu den antiken Vorlagen des Aischylos, Sophokles und Eu‐ ripides auf als die gleichnamigen Stücke seiner Zeitgenossen (Yourcenar, Sartre, Anouilh). Durch die grundlegende Änderung, dass Elektra nicht von vorne he‐ rein vom Ehebruch ihrer Mutter und vom Mord ihres Vaters wusste, muss Gi‐ raudoux einige Abwandlungen im weiteren Handlungsverlauf vornehmen, die ihm von Seiten der um Tradition und Wahrscheinlichkeit (vraisemblance) be‐ mühten Kritikern einiges an Schelte eingebracht hat. Aus diesem Grunde wirft man Giraudoux auch öfter als seinen Autorenkollegen eine „Desakralisierung“ des mythischen Materials und eine Verlächerlichung des Tragischen in Electre vor. Das Königspaar Aigisthos und Klytaimnestra wird, als zeitgenössisches bürgerliches Paar zu einer burlesken Verklärung des tragischen Paares. Ebenso sorgen der Président und Agathe für komische Elemente in dieser Tragödie, die 102 4 Gaudés dionysische Dramen 30 Vgl. Sophokles 2012: 4-7. bisweilen deplatziert wirken, da sie bewusst anachronistisch eingesetzte, frei von Giraudoux hinzuerfundene Figuren sind. Tessa, la nymphe au cœur fidèle (1934) zeigt, dass Giraudoux auch in seinen nicht historisierenden Dramen eine gewisse Nähe zum antiken Theater einhält. In Ondine (1939) ist die gleichnamige Protagonistin eine Wassernymphe, die wie die griechischen Najaden halbgöttliche Eigenschaften hat; sie bringt untreuen Ehemännern den Tod - dies geschieht auch mit dem von ihr verehrten Hans. In der germanischen Mythologie ist Ondine ein Wassergeist. In L’Apollon de Bellac (1942) kommt die Schönheit des Apoll als Attribut hervor. In diesem modernen Fantasiedrama, benutzt Agnès, die Protagonistin, den Kunstgriff des Schönheitslobs um Männer gefügig zu machen. Mit dem Kompliment „vous êtes beaux comme un Apollon de Bellac“ erreicht sie am Ende des Stückes eine hohe Position im „institut de petites et grandes inventions“ und kann sogar zwischen dem Präsidenten der Institution und einem gewissen Mon‐ sieur de Bellac wählen. Letzterer hat ihr diese Strategie nahegelegt. Die stärkeren Mythenabwandlungen Gaudés können durchaus auf den Ein‐ fluss Giraudoux’ zurückgehen; gerade auch die Herannahme von Mythen, die sonst ein Randdasein fristen, und die recht freie Neuinterpretation einiger Etappen des Dionysosmythos. Gleichfalls ist die ausgesuchtere, an manchen Stellen poetischere Sprache Giraudoux’ im Vergleich zu seinen Dramatikerkol‐ legen auch bei Gaudé zu finden, der sich im Vergleich zu Sartres und Anouilhs Theater bisweilen vornehmer ausdrückt. 4.1.4 Jean Cocteau Jean Cocteau (1889-1963), eine Ausnahmeerscheinung in der französischen Kul‐ turlandschaft, nahezu in sämtlichen kulturellen Darstellungsformen schöpfe‐ risch aktiv (Lyrik, Epik, Dramatik, Musiktheater, Film, bildende Kunst), hatte eine ausgesprochene Vorliebe für mythologische Stoffe der klassischen Antike, insbesondere für die Mythenkreise um Orpheus und Ödipus (vgl. Cestier 2013: 30-82), was sich besonders an den Dramen Antigone (1922), Orphée (1926) und La machine infernale (1934) zeigt. Diese stützen sich direkt auf Werke von So‐ phokles, insbesondere Antigone (Ἀντιγόνη; 442-440 v. Chr.), König Ödipus (Οἰδίπους τύραννος - Oidipous tyrannos; 436-425 v. Chr.) und Ödipus auf Kolonos (Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ - Oidipous epi Kolōnō; 401 v. Chr.). 30 Cocteaus Bearbei‐ tung der Mythen und die unerschrockene Vermischung und Neuanordnung von Mythemen weist klar auf eine neue, moderne Interpretation eines „surrealisti‐ 103 4.1 Die Vorläufer Gaudés schen Mythentheaters“ hin (Roloff 2004 II: 162), das auch bei Gaudé seinen Nie‐ derschlag findet. Cocteau gilt heute sogar als der Auslöser dieser Welle von antikisierenden Dramen, mit denen er seine Pariser Schriftstellerkollegen an‐ steckte; allen voran André Gide. Auf sprachlicher Ebene wirkt die zwischen poetisch-archaisierendem Duktus und français familier oszillierende Neubearbeitung der mythischen Stoffe der oben genannten großen griechischen Dramatiker auf uns heute erfrischend, löste jedoch bei den ersten Aufführungen in den 1920er Jahren heftige Ableh‐ nung aus. Die Wirkung der sich bahnbrechenden Umgangssprache verfehlten Cocteau und seine Kollegen aber nicht - sie erreichten und erreichen bis heute ein breites Publikum, wofür die folgende Passage als Beispiel dienen kann; eine Unterredung zwischen Ödipus und der Sphinx, in der Ödipus den berühmten Orakelspruch darlegt, der sein Leben (und die moderne Psychologie) prägen wird: ŒDIPE. Le vainqueur du Sphinx serait-il le premier venu ? Je connais la récompense. La reine lui est promise. Ne riez pas, soyez bonne… Il faut que vous m’écoutiez. Il faut que je vous prouve que mon rêve n’est pas un simple rêve. Mon père est roi de Co‐ rinthe. Mon père et ma mère me mirent au monde lorsqu’ils étaient déjà vieux, et j’ai vécu dans une cour maussade. Trop de caresses, de confort excitaient en moi je ne sais quel démon d’aventures. Je commençais de languir, de me consumer, lorsqu’un soir un ivrogne me cria que j’étais un bâtard et que j’usurpais la place d’un fils légitime. Il y eut des coups, des insultes; et le lendemain, malgré les larmes de Mérope et de Polybe, je décidai de visiter les sanctuaires et d’interroger les dieux. Tous me répondirent par le même oracle : Tu assassineras ton père et tu épouseras ta mère. LE SPHINX. Hein ? ŒDIPE. Oui… oui… Au premier abord cet oracle suffoque, mais j’ai la tête solide. Je réfléchis à l’absurdité de la chose, je fis la part des dieux et des prêtres et j’arrivai à cette conclusion : ou l’oracle cachait un sens moins grave qu’il s’agissait de com‐ prendre; ou les prêtres, qui correspondent de temple en temple par les oiseaux, trou‐ vaient un avantage à mettre cet oracle dans la bouche des dieux et à m’éloigner du pouvoir. Bref, j’oubliai vite mes craintes et, je l’avoue, je profitai de cette menace de parricide et d’inceste pour fuir la cour et satisfaire ma soif d’inconnu. LE SPHINX. C’est mon tour de me sentir étourdie. Je m’excuse de m’être un peu moquée de vous. Vous me pardonnez, prince ? ŒDIPE. Donnons-nous la main. Puis-je vous demander votre nom ? Moi, je m’appelle Œdipe; j’ai dix-neuf ans. (Gide 1934: 76 f.) Die wichtigste Parallele zwischen Cocteaus und Gaudés dramatischem Werk ist sicherlich ein „»bricolage«-artiger Umgang sowohl mit antiken als auch mit 104 4 Gaudés dionysische Dramen modernen Mythen-Tradierungen“ (Cestier 2013), d. h. die Überlagerung mytho‐ logischer Gegebenheiten mit der Alltagsrealität. Dies ist in besonderer Weise an Bacchus (1951) ersichtlich, in dem der Dionysos-Mythos in die Reformationszeit um 1523 versetzt wird. Cocteaus Bacchus ist eine Art Karnevalskönig, welcher der katholischen Kirche schwer zusetzt, da der Brauch trotz der sich auf dem Vormarsch befindenden Reformation beibehalten wird. In einer deutschen Stadt nahe der Schweizer Grenze wird dieser Bacchus vom Volk, jedoch unter der Aufsicht eines Gremiums der Herrschenden am Erntedankfest der Winzer für eine Woche gewählt und hat in diesen sieben Tagen die absolute Herrschaft inne, wie es sich nach mittelalterlicher Sitte für den Karneval gehört, um der sonst das ganze Jahr über geknechteten Bevölkerung ein Ventil zu geben. Selbst die geistlichen und weltlichen Oberhäupter lassen folglich der Tragikomödie sprichwörtlich freien Lauf, als sie der Wahl des vermeintlichen „Dorftrottels“ Hans stattgeben. Es sind dies der Herzog, der Bischof, der Propst, der Syndikus und der Kardinal Zampi, ein Gesandter aus Rom, der in der Manier eines Ge‐ heimagenten für den Heiligen Stuhl die Fortschritte und Erfolge der Anhänger Luthers beobachten und darüber berichten soll. Es sind hier auch derb-komische Elemente enthalten, wie z. B. die Figur des Ulrich, der älteste Sohn des Herzogs, der sich nach seinem Amt als Bacchus umbringt, weil er, wahrscheinlich aus Gründen der permanenten Unterdrückung durch den Vater, nicht damit zu‐ rechtkommt, seine uneingeschränkte Macht wieder abgeben zu müssen - eine typisch Cocteausche Vermengung von Motiven, die auch auf Gaudés Neuan‐ ordnung von mythologischem Material vorausweist. Die in der karnevalesken Literatur beliebte Methode der Maskierung zur Kritik am Fehlverhalten der Obrigkeit zieht auch in diesem Stück (Bachtin 1995: 345-412): Hinter der beschreibenden Maske der selbst durch die Kirche gedul‐ deten karnevalesken Tradition einer deutschen Provinzstadt entfaltet Cocteau eine harsche Kritik an der Verbohrtheit und Rückständigkeit der katholischen Kirche in Frankreich, die sich krampfhaft an längst überholten Verhaltensregeln festklammert und deren Versuche, der Bevölkerung mit Drohgebärden Angst vor der Lossagung von der Kirche zu machen, kläglich und lächerlich sind. Hans, von der ganzen Stadt als angeblich geistig Beschränkter gemieden, bekommt für eine Woche die Macht, und der scheinbare Dorfidiot, der sich durch gespielten Wahnsinn vor dem Leben schützt, bis er zum Herrscher über Leben und Tod während einer einzigen Karnevalswoche gewählt wird, er rückt nichts weiter. Er deklamiert nur. Aber das mit Bravour. Gegen Kirche und Staat, gegen Parteien, Zünfte, Ordnung und Sicherheit stellt er die indi‐ viduelle Proklamation der ungeteilten Schönheit des Lebens, jenseits von Gut und Böse. Gegen eine Hierarchie ruft er das Ich auf, vertraut dem Chaos, daß es eine neue 105 4.1 Die Vorläufer Gaudés Ordnung gebäre, und ist in seiner hinreißenden Schwärmerei ein lebender Protest gegen alles, was fest, ordentlich, sicher und vernünftig ist. ( Jacobi 1952: 1) Am Ende scheitern beide: Hans wird von einem radikalen Anhänger der ka‐ tholischen Kirche per Pfeil getötet. Selbst dionysisch berauscht durch die ju‐ gendliche Unbefangenheit, mit der Hans über alles richtet, fühlt sich der Kar‐ dinal Zampi an die revolutionäre Aufbruchsstimmung der Urkirche erinnert, die er in einem dionysischen Anflug von Nostalgie bei den vorherrschenden, ver‐ fahrenen Zuständen, in denen sich die Kirche befindet, wieder herstellen möchte. Dieser „Weckruf “ dient dem Kardinal als Warnschuss, nun doch wieder für die althergebrachte strenge, unterdrückende Ordnung im Kirchenvolk zu sorgen. Das Stück beschwor bei seiner Erstaufführung einen Skandal herauf; vor allem ist dieser durch die vehemente Ablehnung des wütenden Romanciers François Mauriac bekannt geworden (Terneuil 2003: 8). Die sich anschließende Pressefehde wurde besonders harsch ausgetragen: „François Mauriac bezich‐ tigte Jean Cocteau der Gotteslästerung, und der Autor warf seinem Kritiker Un‐ bildung vor.“ ( Jacobi 1952: 1) Die zeitliche Entfernung bestätigt den Avant‐ garde-Charakter von Cocteaus Stücken, die heute als moderne Klassiker geschätzt werden und von den vehementen Reaktionen ihrer Premieren weit entfernt sind - dies jedoch mit Sicherheit gerade weil ihre Existenz dem Pub‐ likum erst die Möglichkeit gegeben hat, sich an Grenzgänge der Dramatiker in der stofflichen Bearbeitung zu gewöhnen. 4.1.5 Marguerite Yourcenar Marguerite Yourcenars (1903-1987) Feinfühligkeit und die klangliche Raffinesse ihrer Gedichte und Romane wurden immer wieder gelobt - Gaudé hatte beim Verfassen seiner Texte gewiss stellenweise auch ihre Zeilen im Ohr. Vier ihrer Werke seien hier, im Hinblick auf Gaudés Mythopoiesis, kurz vorgestellt: La nouvelle Eurydice (1931), Le mystère d’Alceste (1942), Electre ou la chute des mas‐ ques (1943) sowie Qui n’a pas son minotaure? (1963). La nouvelle Eurydice (1931) ist zwar kein Drama, hat aber augenscheinlich Gaudé beeinflusst. Ähnlich der situativen Personalisierung des Mythos bei Gaudé transferiert Marguerite Yourcenar den Orpheus-Mythos in ihre eigene Gegenwart und erweitert ihn um die Problematik einer Frau, die sich zwischen zwei Männern entscheiden muss. Als Stanislas erfährt, dass seine Geliebte Thé‐ rèse tot ist, macht er sich auf die Suche nach ihrer Erinnerung. Sodann entdeckt er, dass es sich nicht um diejenige Frau handelt, die er geliebt zu haben glaubt. Während er versucht, die Wahrheit aus einem Netz voller Lügen herauszu‐ 106 4 Gaudés dionysische Dramen 31 Rémy Poignault (Hrsg.), Société Internationale d’Etudes Yourcenariennes: www.yourcenariana.org/ content/ la-nouvelle-eurydice (07.09.2018). finden, die man sich über die tote Thérèse erzählt, entfernt er sich von ihr um ihr schließlich Emmanuel vorzuziehen. In dieser Neufassung des Orpheusmy‐ thos verliert Stanislas neben dem Tod auch die Erinnerung an das Wesen, von dem er nicht mehr weiß, ob es sich lohnt, es zu lieben. Die spannungsgeladene Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei Männern, welche sowohl die heteroals auch die homosexuelle Ebene mit einschließt, durchstreift alle Werke Yourcenars dieser Zeit. 31 Die Momentanrealisierung des Orpheus-Mythos mit zeitlich angepassten Charakteren erinnert stark an Gaudés Dramen, insbeson‐ dere an OF, wo sein Onysos als Hypostase des antiken Gottes, ebenfalls in eine zeitgenössische Rolle schlüpft. Inspiriert durch eine griechische Legende, erzählt der Einakter Le mystère d’Alceste (1942) die Geschichte von Alkestis, die ihr eigenes Leben opfert, um das ihres Ehemannes zu retten. Trotz des Wissens um die übernatürliche Macht, kämpft Alkestis wacker gegen den Orakelspruch, der den Tod des Mannes vo‐ raussagt (Yourcenar 1963: 10-152). Nur durch die Hilfe des Herakles kann sie ihren Mann wieder unbesorgt in die Arme schließen. So steht denn auch die Szene der beiden Hauptkonkurrenten, Herakles und Hades, im Zentrum des Stückes: Reprenant la légende après Euripide, elle réussit à montrer ce qu’elle a de très ar‐ chaïque et de beaucoup plus moderne à la fois, et comment on y voit converger « deux thèmes établis à demeure dans notre inconscient et notre conscience, l’idée de l’im‐ mortalité unie à celle d’un dieu sauveur triomphant de la mort, et l’idée du salut d’un être obtenu par le sacrifice volontaire d’un autre ». […] c’est donner aussi une ex‐ pression littéraire à cet art grave et noble de mourir… (Kanters 1963: 2) Das Drama Electre ou la chute des masques (1943) ist, typisch für Yourcenar, weitgehend eine Rezeption des antiken Mythos, mit einigen individuellen Ab‐ wandlungen (vgl. Blumenberg 1979: 329). Bei Yourcenar entfaltet sich der Elektra-Mythos nun aber folgendermaßen: Klytaimnestra hat Agamemnon, ihren Mann, aus Wut über dessen doppelte Untreue umgebracht. Einerseits war er bereit, seine Tochter Iphigenie zu opfern, um günstigen Wind für die Über‐ fahrt in den trojanischen Krieg zu bekommen, andererseits wirft sie ihm vor, mit Kassandra ein Verhältnis gehabt zu haben. Dieser Mord erregt den Zorn der Elektra gegen ihre Mutter, die daraufhin ihren Bruder Orestes dazu anstachelt, die eigene Mutter zu töten - eines der schlimmsten Vergehen, das man sich in der antiken Gesellschaft vorstellen konnte. Hier kommt nun die Yourcenar ei‐ 107 4.1 Die Vorläufer Gaudés gene Version ins Spiel: Kurz bevor Orestes seine Mutter tötet, erfährt er, dass er nicht Agamemnons Sohn ist, sondern, dass Aigisthos sein Vater ist, der Lieb‐ haber seiner Mutter, die Aigisthos in Agamemnons langjähriger Abwesenheit heiratete, weil sie nicht an seine Rückkehr aus dem trojanischen Krieg glaubte. Dies hält ihn nicht davon ab, seine Mutter zu töten, da er sich dafür entscheidet, die Liebe zu Elektra nicht aufzugeben, die er trotz seines Wissens immer noch als vollwertige Schwester ansieht. Yourcenar intensiviert und individualisiert damit den inneren Konflikt des Orestes und der Elektra. Ähnlich wie Gaudés CM und CP erinnert auch Yourcenars Stück Qui n’a pas son minotaure? (1963) an den Holocaust. Sind es bei Yourcenar die sieben Jüng‐ linge und sieben Jungfrauen, die der Minotaurus jährlich beansprucht, so findet man bei Gaudé die unzähligen, von den Fossoyeurs auf dem terrain vague ver‐ scharrten Leichen. In Qui n’a pas son minotaure? lässt sich Theseus selbst als einer der Jünglinge in die Opferfracht aus Griechenland integrieren. In der Ma‐ nier postmoderner autoreflexiver Texte tritt hier Theseus nicht nur dem Mino‐ taurus gegenüber, sondern in gewisser Weise auch sich selbst - was bereits durch den Titel angedeutet wird, den man als rhetorische Frage lesen kann. So wird aus dem großen Helden der Antike ein zeitgenössischer Alltagsheld mit Fehlern und Schwächen; in den Mittelpunkt gerückt sind nicht mehr die nach außen hin wirkenden Taten des Theseus und die Zeichen seiner Tapferkeit, sondern die nach innen wirkenden Selbstzweifel. Nach Überarbeitungen in den 1940er und 1950er Jahren bekam das Stück klare politisch-historische Konnotationen, durch die es oft wie eine mythologisch untermauerte Absage an den Holocaust gelesen wird (Bonali 2001: 9; Mocan 2006: 192; Delcroix 2006: 121). Der poetische Stil, die vielen Beschreibungen und episierenden Tendenzen in diesem Stück lassen erkennen, dass auch hier si‐ cherlich eine der Inspirationsquellen Gaudés zu finden ist: AUTOLYCOS (seul dans la hune). Que le ciel est bleu ! Il est si bleu qu’il se suffit. Et sous le bleu liquide du ciel, le bleu solide, le bleu dense des vagues. Le vaisseau que j’ai contribué à construire (car j’ai travaillé dans les chantiers d’Athènes), univers clos, prison de condamnés à mort, avance, poussé par le vent, vers son destin de navire, et transporte nos destins d’hommes. Il ne faisait pas plus beau, le jour où, dans la barque d’Ulysse, j’ai crevé l’outre aux tempêtes. Peu importait : je sais nager. Il ne faisait pas plus beau, le soir où je me suis embarqué avec les Argonautes, pour un prêt de quelques pièces de cuivre qui valaient bien la Toison d’Or. (Yourcenar 1963: 153) Die Frage warum gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine intensive Rück‐ besinnung auf das antike Theater stattfand wird oft auf die bedrohliche und schwer zu übersehende politische Situation im Europa der Zwischenkriegszeit 108 4 Gaudés dionysische Dramen und der steigenden Kriegsbedrohung nach der Machtübernahme Hitlers zu‐ rückgeführt. Auch bei Yourcenar ist die Mythologisierung eine eindeutige Re‐ aktion auf die Bedrohung der Menschheit durch den zweiten Weltkrieg: „Comme Gide, Claudel, Cocteau ou Giraudoux, Marguerite Yourcenar a cherché dans l’universalité du langage mythologique une réponse aux angoisses du monde moderne et, en particulier, aux problèmes déchirants auxquels a été confrontée l’humanité pendant les deux guerres mondiales“ (Bonali 2001: 6). Marguerite Yourcenar macht aber deutlich, dass es sich bei dieser Rückbe‐ sinnung auf das klassisch-antike Theater nicht um rein eskapistische Tendenzen handelt, sondern um die Nutzung der antiken Stoffe als überzeitliches Mythen‐ material, das sich in schwer zu überblickenden Zeiten gleichermaßen hervor‐ ragend für Deutungsversuche und die Allegorisierung von Kritik eignet (Poig‐ nault 1995). Wie später von Blumenberg formuliert, bleibt der Mythos - durch die jeweilige Anpassung des Mythenmaterials an die Bedürfnisse und Gege‐ benheiten der Zeit - im Kern, was er ist, nämlich eine Parabel auf die beste‐ henden Verhältnisse, die es zu kritisieren gilt. Nach Yourcenars Ansicht ist es gerade die Bearbeitung, welche die Mythen aktuell hält, parce qu’ils ont cessé d’être d’aucun temps, même des temps antiques. Chacun les porte à sa guise; chacun s’arrange pour verser le plus possible de soi dans ces moules éternels. Électre, Œdipe, Antigone, Pasiphaé, quelques autres encore: nous ne différons jamais autant les uns les autres que quand nous abordons les mêmes thèmes (Your‐ cenar 1954: 27). 4.1.6 Jean-Paul Sartre Jean-Paul Sartre (1905-1980) ist aus der französischen literarischen und intel‐ lektuellen Landschaft nicht wegzudenken. Nach wie vor stehen Sartres Schriften als Anlaufpunkt an erster Stelle, wenn es um philosophische Fragen geht. Der Mitbegründer des Existentialismus hat seine philosophisch-politischen Spuren emblematisch in sein literarisches Werk eingebettet, sodass es ein Spiegel seines weltweit beachteten Schaffens ist. Aus Jean-Paul Sartres Theaterwerk sind ebenfalls Einflüsse bei Gaudé zu finden, sowohl in szenischen Details, im Figu‐ reninventar und im Sprachduktus, als auch in den motivischen Ansätzen. Ge‐ nannt seien hier beispielsweise die beiden Leibwächter in CP, von Gaudé schlicht mit ihrer Berufsbezeichnung „gardes du corps 1 und 2“ versehen, die in ihrer zur Schau getragenen Einfalt stark an Slick und George, die Leibwächter Hoederers in Les mains sales (1948), erinnern (Louët 2009: 4 f.). Zudem bietet Sartres Bearbeitung antiker griechischer Mythenstoffe - ins‐ besondere Les mouches (1943) - insofern eine Parallele zu Gaudés Werk, als bei 109 4.1 Die Vorläufer Gaudés 32 Vgl. insbesondere die Dramen Pluie de cendres, Combats de possédés, Salina und Les Sacrifiées sowie die Romane Cris, La mort du roi Tsongor, Le soleil des Scorta und Eldo‐ rado. beiden stets gesellschaftliches und politisches Engagement mitschwingt. Eben‐ falls ist beiden ähnlich, dass die Figuren häufig über äußere Zwänge reflektieren, die sie zu dem gemacht haben, was sie in ihrer gegenwärtigen Situation sind oder zu sein scheinen. Auch ziehen Gaudés wie auch Sartres Figuren beständig die Möglichkeit der Auflehnung gegen die bestehenden politischen Strukturen in Erwägung - nur selten hingegen vollziehen sie diese Rebellion, sondern ver‐ harren oft starr und so den Zuschauer mahnend in ihrer jeweiligen Lage. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Autoren werden besonders in Les mouches (1943) deutlich, da sich in Sartres Handlungsführung ähnlich ver‐ zwickte Dilemmata ergeben wie später in Gaudés Dramen und Romanen. 32 So sei der Inhalt von Les mouches hier kurz umrissen: Orestes, der nach dem Tod seines Vaters Agamemnon ausgesetzt und von den Athenern erzogen wurde, kehrt nach fünfzehn Jahren in seine Heimatstadt Argos zurück, um sie vom Schreckensregiment zu befreien, das Aigisthos, der Mörder Agamemnons, mit der Billigung des Zeus errichtet hat. Hier trifft er auf seine Schwester Elektra, der er sich zu erkennen gibt und mit der er gemeinsam die Vergeltung für den Vatermord plant, dem auch Klytämnestra, die Mutter der beiden, zum Opfer fallen wird. In mehreren Szenen eröffnen Jupiter und Aigisthos den Zuschauern, dass nun Unheil folgt. Orestes ersticht Aigisthos, und danach seine Mutter Kly‐ tämnestra. Bei Sartre steht allerdings nicht im Vordergrund, dass Orestes den Mord an seinem Vater rächt, sondern vielmehr der Akt der individuellen Frei‐ heit, die durch die Tötung dessen erreicht wird, der so viel Unheil über die Fa‐ milie gebracht und die jahrelange Trennung von Orestes verursacht hat. So setzt Sartres Version der Orestie, im Gegensatz zu den großen griechischen Drama‐ tikern, einen komplett anderen Fokus. War es bei Aischylos und Euripides noch die Beendigung des Systems der Angst, auf die Aigisthos seine gesamte Herr‐ schaft aufgebaut hatte (Sartre 1947: 200), ironisiert Sartre die Schreckensherr‐ schaft des Aigisthos zeitgemäß und passenderweise sarkastisch zu einem The‐ ater im Theater, das der emporgekommene König seinen Untergebenen vorspielt: JUPITER. […] Le secret douloureux des Dieux et des rois : c’est que les hommes sont libres. Ils sont libres, Egisthe. Tu le sais, et ils ne le savent pas. Egisthe. Parbleu, s’ils le savaient, ils mettraient le feu aux quatre coins de mon palais. Voilà quinze ans que je joue la comédie pour leur masquer leur pouvoir. (Sartre 1947: 200) 110 4 Gaudés dionysische Dramen 33 Vgl. die Orestie des Aischylos (458 v. Chr. zu den Dionysien aufgeführt und mit dem ersten Preis ausgezeichnet) sowie Euripides, Iphigenie bei den Taurern (ca. 414-412 v. Chr.) und Elektra (ca. 420-413 v. Chr.); Gañán Martínez 2009: 2; Stevens 2008: 83. Wie Giraudoux, Anouilh, Jarry und Cocteau benutzt Sartre eine ob der ur‐ sprünglichen Thematik oft salopp anmutende Umgangssprache - dieser „langage désacralisé“ ist vor allem dann besonders auffällig, wenn Aigisthos oder Orestes zu Jupiter sprechen (Haidberg 2008: 228 f.). Dieser stilistische Bruch mit dem Sprachregister der antiken Tragödiendichter untermauert auf stilisti‐ scher Ebene die Verfrachtung des Mythos in die zeitliche Umgebung des Autors. Zudem öffnen die recht direkten Formulierungen den Zugang für das breite Publikum. Die Figur des Orestes wird meist als Reflex auf die Situation der Franzosen angesichts der deutschen Besatzung gelesen. Von der deutschen Zensur unbe‐ merkt, will Sartre den Franzosen vorhalten, dass sie sich selbst aufgeben, wenn sie nicht an ihre Freiheit glauben und sich gegen die Besatzung wehren (Gañán Martínez 2009: 4 f.). Die Fliegen, die in diesem Stück auf Orestes gehetzt werden - als strafende Plage zur Sühne des Muttermordes - ersetzen die im Mythos, vor allem bei Aischylos, genannten Erinnyen; die Rachegöttinnen, die jegliches Vergehen gegen den Ehrenkodex der Götter mit schlimmster Heimsuchung be‐ strafen. 33 Die Fliegen repräsentieren in diesem Stück das von den nationalsozi‐ alistischen deutschen Besatzern unterstütze Schreckensregime des Maréchal Pétain: Des mouches-Erinnyes qui mordent c’est sans doute l’une des imaginations sartri‐ ennes primordiales dans cette pièce. Parfois, l’animal dans la littérature est un sym‐ bole. Les écrivains passent souvent par lui pour ouvrir et couvrir leurs sujets. Ces mouches qui s’abattent sur le corps humain font référence au « corps social » parisien qui étouffe sous l’occupation, au corps politique tyrannique nazi pétainiste et au corps religieux qui étrangle les Français à l’époque. Les mouches sont donc un symbole politique, social et religieux, Sartre choisit de passer par les mouches qui ont un rapport particulier à la divinité (la religion), au pouvoir (la politique) et aux humains (la so‐ ciété). (Messaoudi 2015: 37 f.) Sartres tiefgreifende Modernisierung der Orestie, die Fliegenplage als verlän‐ gerter Arm der Rachegöttinnen (Sartre 1947: 211; Messaoudi 2015: 37), ist ein profanierender Kunstgriff, der, verglichen mit der Einsetzung der gnadenlosen Erinnyen bei den antiken Dramatikern, banalisierend wirkt - die Fliegenplage ist jedoch ebenso bedeutungsgeladen, da sie, als im „ursprünglichen“ Mythos nicht existent, von der Literaturwissenschaft in unterschiedliche Richtungen interpretiert wird: Die lästigen Fliegen stellen sowohl die permanente Plage der 111 4.1 Die Vorläufer Gaudés nationalsozialistischen Herrschaft in Frankreich dar und repräsentieren zu‐ gleich das schlechte Gewissen der Franzosen, sich nicht konsequent genug gegen die Nationalsozialisten aufgelehnt zu haben: En créant un héros victorieux qui choisit comme vrai antagoniste le Dieu Jupiter plutôt que le couple qui a assassiné son père, Sartre élargit le sens du mythe et y ajoute une signification actuelle et politique. Les Mouches devient une dénonciation directe du régime de Vichy et de son idéologie et encourage les Français à résister et à prendre conscience de leur situation. (Stevens 2008: 85) Eine profanierende Umarbeitung, die keineswegs eine Simplifizierung des im Mythos dargestellten Problems repräsentiert, ist auch für Gaudés Behandlung des mythologischen Hintergrundes grundlegend. Hier kann der Holocaust in CM und CP erwähnt werden, oder die Reduktion der vielen dionysischen At‐ tribute in OF auf einen trinkenden Obdachlosen in der „Unterwelt“ der New Yorker U-Bahn, der Passanten seine Lebensgeschichte erzählt; unerheblich ob er Zuhörer findet oder nicht. Les mouches ist sehr stark geprägt von Sartres existentialistischem Freiheits‐ begriff, den er in seinen Schriften L’Etre et le néant (1943) und L’Existentialisme est un humanisme (1946) explizit darlegt. So steht weniger die Rache im Vor‐ dergrund als vielmehr die Freiheit des Menschen, selbst über seine Taten zu entscheiden: Als Orestes Aigisthos die Erklärung für seine bevorstehende Er‐ mordung gibt, argumentiert er mit Gerechtigkeit. Aigisthos wirft ihm vor, ein‐ fach nur den Willen der Götter zu erfüllen, worauf Orestes erwidert: „Que m’importe Jupiter ? La justice est une affaire d’hommes, et je n’ai pas besoin d’un Dieu pour me l’enseigner.“ (Sartre 1947: 205). Sartres Orestes hat den Zwang der Götter längst abgeschüttelt, der, selbst wenn der Mythos zur Zeit der großen griechischen Dramatiker nicht mehr mehrheitlich geglaubt wurde, so doch immer noch als kultureller und philosophischer Standard der hellenischen Ge‐ sellschaft gesetzt war (vgl. Hübner 1985). Die durch die Loslösung von den Göt‐ tern freigewordene Leerstelle füllt Sartre mit den Kategorien seiner Philosophie: persönliche Freiheit, Selbstverwirklichung, Verantwortung der Taten des Ein‐ zelnen für die Gesamtheit der Menschen. Les Troyennes (1965), ist eine Adaption und Neubearbeitung Sartres der gleichnamigen Tragödie des Euripides, die vermutlich im März 415 v. Chr. an‐ lässlich der großen Dionysien aufgeführt wurde. Sie gehörte zur Trilogie Ale‐ xandros - Palamedes - Troerinnen, die durch das Satyrspiel Sisyphos ergänzt wurde. Sartre hat die Adaption kurz nach dem Algerienkrieg herausgebracht, was die These vieler Literaturwissenschaftler unterstützt, dass Mythologisie‐ rungen im 20. Jahrhundert in erster Linie dazu dienen, politische Aussagen und 112 4 Gaudés dionysische Dramen Sozialkritik kodifiziert zu transportieren, wie man es, neben Sartre, auch bei Giraudoux und Anouilh finden kann (Gañán Martínez 2009: 5). Das Drama be‐ ginnt nach den zehn Jahren des trojanischen Krieges: Die Trojaner sind alle tot und die trojanischen Frauen, allen voran Kassandra, Hekabe und Andromache, erwarten ihr Schicksal als Kriegsbeute der griechischen Sieger, die ihrerseits später von den Göttern gepeinigt werden. Euripides’ wie auch Sartres Text ist eine Verurteilung aller Kriege (Sartre 1966: 146). Das Stück ist eine Besonderheit in Sartres dramatischem Werk, weil es die poetische Sprache des Euripides transportiert und so gut wie keine Änderungen am Original vornimmt, mit der Ausnahme der Schärfung des Leserinteresses auf die Antikriegsbotschaft: „Quant aux guerres coloniales, c’est le seul point sur lequel je me suis permis d’accentuer un peu le texte.“ (Sartre 1966: 146) So ver‐ urteilt Sartre in seinem Stück jede Form von Kolonialismus: „C’est évidemment cet aspect qui m’a intéressé d’abord. Vous n’ignorez pas que, du temps même d’Euripide, il avait une signification politique précise. Il était une condamnation de la guerre en général, et des expéditions coloniales en particulier.“ (Sartre 1966: 146) Die generelle Absage an den Krieg gerät mit der Zuhilfenahme des antiken Mythos des Krieges um Troja, einer der Kriege der Menschheitsgeschichte schlechthin, zu einem Plädoyer des Pazifismus ex negativo: „Ces mécanismes ont été mis en place pour dramatiser la pièce afin que le public du XX e siècle puisse ressentir, comme disait Sartre, « les vérités profondes exprimées par Eu‐ ripide ».“ (Santos 2011: 183) 4.1.7 Samuel Beckett Mit dem dramatischen Werk Samuel Becketts (1906-1989) erhält das absurde Theater der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Wenngleich Beckett gerade kein Vertreter des antikisierenden Theaters ist, hat sein Werk stark auf Gaudés dramatisches Schaffen gewirkt - daher werden seine Stücke an mancher Stelle die Analyse der hier ausgewählten Dramen Gaudés begleiten. Im Gegensatz zum großen Kontrast zwischen Beckett und Gaudé, was die Ra‐ dikalität der Szenarien angeht, sind andererseits Parallelen augenfällig, die darin liegen, dass aus vermeintlich banalen Alltagssituationen ein (mythologischer) Code erwächst, der die Stücke intellektuell stützt. Hier sei deshalb auf das Ka‐ pitel 4.3.1 verwiesen, in dem einige Vergleiche zwischen Becketts und Gaudés Theater angestellt werden. Beckett ist auch sprachlich betrachtet eine Sondererscheinung, nämlich als bilingualer Autor, der seine Stücke variierend in englischer und französischer Sprache herausgibt und sie dann selbst in die jeweils andere Sprache übersetzt. 113 4.1 Die Vorläufer Gaudés 34 Der von Nathalie Richard gesprochene französische Originaltext wird durch die von Alberto Castrillo Ferrer gesprochene spanische Übersetzung überlagert. Ein zweimi‐ nütiger Mitschnitt der Lesung vom 1. Juni 2003 im Rahmen des Theaterfestivals „Fric‐ tions“ in Dijon kann auf dem französischen Theaterportal Théâtre contemporain im Internet abgerufen werden: http: / / www.theatre-contemporain.tv/ video/ Le-tigre-bleu-de-l-Euphrate? autostart (07.09.2018). 35 Die Uraufführung fand im Naqshineh Theater in Teheran statt; eine Inszenierung von Vahid Rahbani und Mohammadreza Jouze (Gussow 1995; S. Graf 2014: 87). Zwei- und Mehrsprachigkeit stehen gerade im heutigen, multikulturellen Dis‐ kurs im Fokus. Ein ähnliches Projekt hat Gaudés TBE erfahren, das in einer Lesung doppelsprachig aufgeführt wurde; bei dem synchronen Vortrag überla‐ gerten sich die französische und spanische Version des Textes. 34 Die nicht offensichtlich antikisierenden Stücke Becketts haben jedoch bei‐ nahe alle eine mythologische, philosophische und psychologische Ankoppe‐ lungsmöglichkeit, die in der Literaturwissenschaft bereits vielfach untersucht worden ist (Burkman 1987; Simon 1991; Pilling 1994; Ackerley 2006, van Hulle 2015): „Beckett was well versed in the philosophies of his time; indeed, he in‐ serted quite a number of real and mock philosophical odds and ends in his wri‐ ting“ (Levy 2011: 2). Mit Gaudé gemein hat Beckett, dass er keine Adaptionen antiker Stücke beispielsweise von Aischylos oder Euripides schreibt, wie dies noch von Giraudoux, Cocteau oder Anouilh praktiziert wurde. Im Gegensatz zu Gaudé jedoch, der in seinen Titeln teilweise deutliche Anklänge an die verwen‐ deten mythologischen Stoffe setzt, macht Beckett keine solchen Anspielungen in seinen Titeln. Einzige Ausnahme ist Eleutheria (1947), das aber inhaltlich keinen mythologischen Stoff adaptiert. Zudem hat das Stück eine lange und wechselhafte Geschichte hinter sich, bis es 1995 schließlich publiziert wurde und 2005 seine Uraufführung hatte. 35 Aufgrund der Ähnlichkeiten in der Figurenkonstellation und der Dialogse‐ quenzierung wird bei der Analyse von Gaudés Dramen daher immer wieder auf Becketts Dramen geschaut. Ähnlich bei beiden Autoren ist die rhetorische und formale Textkonstitution: Hauptmerkmale hierbei sind die Konzentration lite‐ rarhistorischer, kulturgeschichtlicher Allusionen auf engstem Raum, intertex‐ tuelle Referenzen, Anflüge von mythologischen Sequenzen, gerade in den all‐ täglich anmutenden Passagen, sowie Versatzstücke, die an die symbolistische, aber auch surrealistische Lyrik erinnern. Diese programmatisch anmutende Genremischung erzeugt auf der Inhaltsebene stets eine tragische Grundstim‐ mung - der pessimistische Nachhall ist bei Gaudé fast ebenso wenig zu über‐ hören wie bei Beckett. 114 4 Gaudés dionysische Dramen Die dramatischen Werke Becketts (und auch Gaudés) sind durchzogen von einer starken Neigung zur Verlängerung und Intensivierung des Tragischen an der menschlichen Existenz, wie es beispielsweise in La dernière bande (1959) ge‐ schieht: Die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz wird an der Aufzeichnung von Ereignissen zur Erinnerung exemplifiziert, da diese durch die graduelle Selbst‐ entfremdung im Laufe des Lebens schlicht bedeutungslos werden (Álvarez 2010). Ähnlich wie viele Figuren Gaudés sich durch familiäre, gesellschaftliche oder po‐ litische Dilemmata in ausweglosen Situationen befinden, ist in Becketts Stücken die existentialistische „Geworfenheit“ allgegenwärtig. Gaudés subtile Betrach‐ tungsweise der Charaktere sucht man bei Beckett jedoch vergeblich: Die vorherr‐ schende Perspektive in Becketts Werk ist eine Fokussierung auf den Menschen am Rande der Zerstörung. Für Beckett sind aber nicht Schicksalsschläge Elemente der Tragödie: Seine Peripetie ist eine stationäre, die damit paradoxerweise einem in‐ tensivierten und zugleich seiner Funktion beraubten Wendepunkt entspricht (Simon 1991: 95-136). Eine weitere Parallele zwischen Gaudés Dramen und Becketts bekanntesten Stücken eröffnet sich bei genauerem Hinschauen: Viele Figuren weisen ob ihres Daseins am Rande der Zivilisation eine nahezu gänzliche Motivationslosigkeit auf, was das Ausbleiben emotionaler Regungen der Beckett’schen Charaktere ausmacht. Dieser besinnungslose und sinnlose Lebenszustand beschreibt das tragische Dahinsiechen des Menschen als conditio humana. Ausleben kann die Sinnleere der Welt nur, wer sie mit künstlerischer Vitalität füllt, die den zum Scheitern verurteilten Lebensversuch zumindest in einen échec réussi verwan‐ deln kann. Beckett bringt bewusst extreme Situationen in seine Theaterstücke ein, oder, besser formuliert, die meisten seiner Stücke bestehen in Gänze aus Extremsitu‐ ationen. Sie treiben nicht nur den klassischen Inhalt von Theaterstücken ins Extreme - denn in Becketts Stücken bewegt sich oft nichts - sondern auch die Sprache, die ihre Kommunikationsfähigkeit aufgegeben zu haben scheint. Der Topos des ineffabile ist omnipräsent, wird aber grundlegend pervertiert; es ist nicht, wie in der manieristischen oder symbolistischen Dichtung, ein Spiel mit dem Unsagbaren - es ist Becketts philosophische Haltung und eine bitter ernste Botschaft: Nichts ist mehr sinnvoll sagbar, da die Umgebung des Menschen und das, was dieser aus seiner Umgebung gemacht hat, eine Sinnstiftung nicht mehr zulässt, oder zumindest der Betrachter diese Szenarien in Frage stellen muss - damit hat auch der Unsagbarkeitstopos ausgedient, ist obsolet geworden: „Be‐ ckett seems to have made meticulous and consequent efforts to write (about) the un-writeable.“ (Levy 2011: 2) Unter anderem ist hieran die totale Verwissen‐ schaftlichung der menschlichen Umgebung schuld: Nichts kann heute mehr 115 4.1 Die Vorläufer Gaudés ohne eine theoretisierende Untersuchung ablaufen, der Mensch hat sich selbst quasi „zerforscht“ und damit den Mythos, das letzte kreative Traumspiel, zer‐ stört. Hiermit sind auch die sprachlichen Zeichen ihrer Inhaltsseite (ihres sig‐ nifié, im Sinne Saussures) beraubt. Auch menschliche Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen der verschie‐ denen Lebensalter werden bei Beckett oft aufgespalten, und in dieser Gespal‐ tenheit zeigt er sie auch auf der Bühne - mit allen zu seiner Zeit vorhandenen technischen Möglichkeiten. So ist eines seiner wichtigsten Elemente einer The‐ aterillusion die abgespielte Tonbandaufnahme (La dernière bande, 1959; That time, 1976). Die abgespielten Tonbandaufnahmen verschärfen die Darstellung der fortschreitenden Dekomposition der menschlichen Sinne und damit der menschlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten, was sich auch noch in Becketts spätem Werk hält (Berceuse, 1982). Wenn die Charaktere sprechen, liefern sie sich Repliken, die sich immer wieder gegenseitig unterbrechen, mit dem Er‐ gebnis einer sezierten Sprache, die meist nur noch monologisiert, selten ihre Empfänger so erreicht, wie es der Sender eigentlich intendiert (Landis 2010: 39-54). So hat Beckett einige Stücke bis aufs Fragmentarische heruntergebrochen. Souffle (1969) beispielsweise treibt den Beckett’schen Minimalismus des ab‐ surden Theaters auf die Spitze. Das Stück dauert nur ca. 35 Sekunden und hat in der Essenz ein von zwei Schreien abgelöstes Ein- und Ausatmen zum Inhalt (Beckett 1972: 135). Diese Mini-Stücke werden oft in Gruppen aufgeführt, um dem Zuschauer nicht die Kürze eines einzigen Fragmentes zumuten zu müssen. Dies bedeutet, dass sie in der Aufführungspraxis vom eigentlichen Sinn der Er‐ fahrung eines extremen Theaterstücks weggehen, wenngleich hinzugefügt werden muss, dass Beckett diese Stücke meist auch nicht einzeln sondern in Gruppen publiziert hat. Selbst wenn viele Beckett-Stücke keinen wirklichen Plot zu haben scheinen, so generieren sie durch den Verweischarakter der repetitiven und unvollendeten Repliken eine intellektuelle Herausforderung für die Rezi‐ pienten (Va-et-vient, Play, Film, Beckett 1972: 111-134; Acte sans paroles I und II, Beckett 1972: 93-110). Minimalistisch und repetitiv heißt aber nicht, dass Be‐ cketts Theater nicht facettenreich sei, im Gegenteil: Es behandelt entscheidende Teile der conditio humana und ist metafiktional autoreflexiv. Impromptu d’Ohio beispielsweise setzt sich unter anderem mit dem sinnstiftenden aber auch sinn‐ zerstörenden Rezeptions- und Produktionsprozess von Texten auseinander; so schreibt Beckett ferner auch Stücke über Stücke (Comédie, 1970) und Filme über Filme (Film, 1970). Beckett ist damit um einiges radikaler als Gaudé; aber in der Art und Weise, wie surreale, bewusst transzendentale und ambivalente Szenarien aufgebaut 116 4 Gaudés dionysische Dramen werden, wie auch im Sprachregister, dass zwischen Umgangssprache, die auch bisweilen Vulgäres nicht ausspart, und poetischer Diktion oszilliert, sind sich beide Autoren sehr ähnlich. Gaudé führt in seinen Dramen diese eingeschränkte aber lyrisch wirkende Sprache Becketts fort. Diese rhetorische Technik unter‐ mauert seinen thematischen Schwerpunkt, die Auseinandersetzung mit Unend‐ lichkeit und Tod. Die Szene in seinem bekanntesten Stück, En attendant Godot (1952), in der Vladimir und Estragon menschliche Gebeine finden, ist wie ein Vorläufer zu einer Gaudé’schen Szene zu lesen, in der die Totengräber auf dem terrain vague ihre Arbeit verrichten (CM, 16; 27 f.; 31 ff.; vgl. S. 212) - wortkarg aber explizit, trotz der Reduktion der Stichomythie auf ein Minimum und des sich unvermeidlich einstellenden Eindrucks der banalen Plapperei: VLADIMIR. - D’où viennent tous ces cadavres ? ESTRAGON. - Ces ossements. VLADIMIR. - Voilà. ESTRAGON. - Evidemment. VLADIMIR. - On a dû penser un peu. ESTRAGON. - Tout à fait au commencement. VLADIMIR. - Un charnier, un charnier. ESTRAGON. - Il n’y a qu’à ne pas regarder. VLADIMIR. - Ça tire l’œil. ESTRAGON. - C’est vrai. VLADIMIR. - Malgré qu’on en ait. ESTRAGON. - Comment ? VLADIMIR. - Malgré qu’on en ait. ESTRAGON. - Il faudrait se tourner résolument vers la nature. VLADIMIR. - Nous avons essayé. ESTRAGON. - C’est vrai. (En attendant Godot, 92 f.) Beckett strapaziert jedoch den Mythos dahingehend, dass sich bei ihm die psychologischen Grundkonstanten Eros und Thanatos im Stadium der Dekom‐ position befinden, die wiederum das Dahinsiechen der auf der Bühne zur Schau gestellten Subjekte erklären. Hieraus erwächst eine Selbstillusion, die über ein Stadium, in dem der Mensch nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte ist, hinweg‐ täuscht, was sich beispielsweise besonders deutlich in Oh les beaux jours zeigt (1960), wo sich Winnie und Willie, die beiden einzigen Figuren, im Versuch, den graduellen Verlust ihrer (psycho)motorischen Fähigkeiten zu ignorieren und zu überspielen, förmlich gegenseitig übertreffen. Becketts Stück stellt somit Men‐ schen zur Schau, die aufgrund des beschriebenen Verlusts, nicht mehr in der Lage sind, logisch und situationsadäquat zu handeln. 117 4.1 Die Vorläufer Gaudés Frank Zipfel weist in seiner Studie zu Kombinationsformen zwischen Tragik und Komik im europäischen Theater auf Beckett als eine Sondererscheinung dieser Vermischung hin, insbesondere wenn es um Becketts pessimistisch-exis‐ tentialistische Haltung geht, die er seinen Figuren anhängt: In der sinnlosen Existenz seiner Charaktere setzt Beckett den Fokus auf das Dahinvegetieren in einem bedeutungsleeren Raum, von Zipfel treffend zugespitzt zu „Warten ohne Hoffnung: die Tragik des Geborenseins“ und „Komische Nummern vor tragi‐ schem Hintergrund“ (Zipfel 2017: 237-246; 247-252). Besonders letztere Kapi‐ telüberschrift aus Frank Zipfels Studie ist wie eine Paraphrase der Szenen in Gaudés CM und CP, die sich in einer schwer deutbaren Umgebung zwischen Existenz und Nicht-Existenz befinden, da die Figuren selbst ihre Bedeutungslo‐ sigkeit noch nicht realisiert haben, sondern gerade durch ihr Reden, Protestieren gegen die widrigen Lebensbedingungen und nicht zuletzt durch ihr bloßes Da‐ hinplappern eine Bedeutung stiften, die sich in ihrer bloßen Immanenz er‐ schöpft. Gaudés philosophische Haltung unterscheidet sich nun klar von der Be‐ ckett’schen: Seine „Philosophie der Entgrenzung“, nach der das Streben nach Grenzüberschreitung dem menschlichen Wesen zugrunde liegt - ähnlich wie die Transgression bei Georges Bataille (1957) - führt Gegensätze ins Extreme, um so eine assoziative Kraft darzustellen, die Gegensätze eint, ganz im Sinne des antiken Gottes Dionysos und seiner mythographischen Realisationen. Im Vergleich zu Beckett ist die von Gaudé immer wieder beschriebene conditio hu‐ mana eine noch zu erreichende - sie verhält sich wie eine Wunschvorstellung: Gaudé definiert Menschen, die weiter denken, über konventionelle Grenzen hinaus, die den Drang nach Veränderung verkörpern. 4.1.8 Eugène Ionesco Eugène Ionesco (1909-1994) kann wohl, ähnlich wie Beckett, als Ideengeber für die absurd anmutenden Handlungszüge in Gaudés Dramen verantwortlich zeichnen, gerade wenn es sich um Handlungsabläufe handelt, die hauptsächlich durch wiederkehrende Tätigkeiten und ihre zirkuläre Struktur zu bizarren Ak‐ tionen werden. Die Fossoyeurs auf dem „terrain vague“ in Cendres sur les mains und Combats de possédés erinnern mit ihrem monotonen Tagesablauf und ihrer Tätigkeit - die ob der Menge an Leichen, die sie zu verscharren haben, sisyphisch wirkt - an die zyklischen Absurditäten der Alltagsumgebung von Ionescos Figuren. Ebenfalls ist der Minimalismus, der Ionescos Stücke, vor allem La can‐ tatrice chauve (1950), La leçon (1951) und Les chaises (1952) für kleine Ensembles so beliebt macht, auch in Gaudés Stücken wiederzuerkennen. Begrenztes Figu‐ 118 4 Gaudés dionysische Dramen 36 La cantatrice chauve beispielsweise ist mit dem Zusatz „anti-pièce“ versehen, La leçon mit „drame comique“, was Ionescos Affinität zur bewusst provokativen Genreüber‐ schreitung und zur Extremführung von Handlung und Sprache aufzeigt (Ionesco 1972: 7; 103). reninventar und minimalistische Züge sind ohnehin ein Zeichen des modernen und auch postmodernen Theaters. Diese könnten im Hinblick auf Gaudés Stücke ebenfalls auf Ionesco zurückgehen - auch er brachte gerne Figurenpaare auf die Bühne, um das von der permanenten Streitrede in den Zwiegesprächen aus‐ gehende Potential an Veränderungswillen in den Figuren zu beleuchten (Ioani 2003: 75-80). Eine besondere Eigenheit von Ionesco ist jedoch in ihrer Intensität weder bei Gaudé noch bei den übrigen Vorläufern zu finden: Ionescos Szenarien entfachen, trotz all ihrer Absurdität, stets eine vor Spannung knisternde Komik, welche den Rezipienten zwar ein Aufatmen erlaubt, sie jedoch letztendlich nicht aus der bizarren Extremsituation entlässt. Nachweislich mythisierende Stücke hat Ionesco nicht geschrieben; nichts‐ destoweniger hat er auf die gesamte französische Theaterlandschaft der Nach‐ kriegszeit einen großen Einfluss gehabt. Zwischen 1950 und 1980 erschienen um die 27 Theaterstücke des rumänischstämmigen Autors. Besonders die (Anti-)Stücke La cantatrice chauve (1950), 36 La leçon (1951), Les chaises (1952), Rhinocéros (1959), Délire à deux (1962) und Le roi se meurt (1962) sind sehr be‐ kannte Werke, die stilprägend für das théâtre de l’absurde waren. Über das Stück Le tableau (1955) besteht eine Verbindung zu Alfred Jarry, weil dieses Stück zunächst in den Cahiers du Collège de ’Pataphysique veröffentlicht wurde (vgl. 4.1.2). Beispielhaft für Ionescos Stil sei hier La leçon erwähnt, das eine bizarr-er‐ schreckende Atmosphäre zyklischer Monotonie des zwanghaften Tötens zeichnet: Im Hause eines Professors finden private Einzelstunden statt. Ein zu‐ nächst stets äußerst schüchtern wirkender Professor tritt seinen Studentinnen erst reserviert und klischeehaft menschenscheu gegenüber, bevor sich, in einem für den Zuschauer schnell vorauszusehenden Handlungsablauf, stets die krea‐ türliche, unkontrolliert brutale Seite des Professors herauskehrt. Gegen Ende des Stückes hat er bereits 40 Studentinnen umgebracht - an nur einem Tag. Fortan unterstützt die Haushälterin den ratlosen und ob seiner Taten für einen kurzen Moment selbst entrüsteten Professor, um die Morde zu vertuschen, bevor die nächste Studentin vor der Türe steht, die Planungen der beiden unterbricht und die zirkuläre Handlung - und mit ihr der absurde Teufelskreis - seinen Lauf fortsetzt: 119 4.1 Die Vorläufer Gaudés LE PROFESSEUR. Oui, Marie ! Qu’est-ce qu’on va faire, alors ? LA BONNE. On va l’enterrer… en même temps que les trente-neuf autres… ça va faire quarante cercueils… On va appeler les pompes funèbres et mon amoureux, le curé Auguste… On va commander des couronnes… LE PROFESSEUR. Oui, Marie, merci bien. LA BONNE. Au fait. Ce n’est même pas la peine d’appeler Auguste, puisque vous-même vous êtes un peu curé à vos heures, si on en croit la rumeur publique. LE PROFESSEUR. Pas trop chères, tout de même, les couronnes. Elle n’a pas payé sa leçon. LA BONNE. Ne vous inquiétez pas… Couvrez-la au moins avec son tablier, elle est indécente. Et puis on va l’emporter… LE PROFESSEUR. Oui, Marie, oui. (Il la couvre.) On risque de se faire pincer… avec quarante cercueils… Vous vous imaginez… Les gens seront étonnés. Si on nous de‐ mande ce qu’il y a dedans ? LA BONNE. Ne vous faites donc pas tant de soucis. On dira qu’ils sont vides. D’ailleurs, les gens ne demanderont rien, ils sont habitués. LE PROFESSEUR. Quand même. (Ionesco 2014: 63 f.) Die überzeichnete Brutalität wird durch die dümmlich daherkommende Rede der Figuren zu einer bizarren, selbstoffenbarenden Komik entschärft, die in Zügen auch bei Gaudés Fossoyeurs in CM und CP sichtbar ist. Einerseits sug‐ gerieren beide Situationen eine gewisse berufliche Routine der Figuren, ande‐ rerseits, scheinen sie wohl durch die unsagbare Menge an Leichen, mit denen sie konfrontiert sind, bereits dem Wahn verfallen - der wiederum therapiert sich augenscheinlich von selbst in monotonen, sich in kurzen Sequenzen wiederho‐ lenden Arbeitsabläufen. Wie der Professor und seine Haushälterin halten sich auch Gaudés Totengräber mit ihrer streckenweise armselig wirkenden Bauern‐ schläue für derart strategisch intelligent, dass sie sämtliche Umher- und Au‐ ßenstehenden mit einem blanken Bluff im Handumdrehen düpieren können. Dieses Motiv der Hybris erinnert zudem an die Protestpläne der Totengräber in Gaudés Cendres sur les mains, welche die Fossoyeurs aufgrund der widrigen Arbeitsbedingungen gegen ihre Auftraggeber vorbringen möchten (vgl. 4.3.1). 120 4 Gaudés dionysische Dramen 4.1.9 Jean Anouilh Die Dramen von Jean Anouilh (1910-1987) sind insbesondere seit dem Ende des zweiten Weltkrieges über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt geworden und werden bis heute regelmäßig auf größeren Bühnen gespielt. Damit wurde Anouilh auch in den Literaturgeschichten zu einer Referenz für das neue fran‐ zösische Theater des 20. Jahrhunderts. Unter den mythisierenden Stücken sind vor allem Eurydice (1942), Antigone (1944) und Médée (1946) bedeutend. Euridice hat Anouilh in seine pièces noires eingegliedert, Antigone und Médée sind Teil seiner nouvelles pièces noires. Eurydice, das erste Stück Anouilhs mit mythologischem Hauptthema, ist eine Transposition des Orpheus-Mythos in die zeitgenössische Welt der Theater‐ schauspieler und wird somit auch metafiktional, da es über den Theaterbetrieb an sich reflektiert. Der Inhalt ist schnell erzählt: Eurydike ist Schauspielerin in einer Truppe von sich auf Tournee befindlichen, drittklassigen Akteuren. In einer Bahnhofsgaststätte trifft sie Orpheus, einen Violonisten. Sie verlieben sich ineinander, woraufhin Eurydike die Schauspieltruppe verlässt, um mit Orpheus zusammen zu leben. Das Paar begegnet einem reisenden Angestellten, M. Henri, der einen geheimnisvoll-beunruhigenden Eindruck auf die beiden macht. Nach dieser Begegnung passieren demgemäß auch schicksalhafte Dinge: Der Direktor der Schauspieltruppe verkündet, dass Eurydike seine Geliebte sei. Dies macht Orpheus eifersüchtig, sodass sich die Verliebten überwerfen. Kurze Zeit später wird Eurydike von einem Bus überfahren. Der mitfühlende M. Henri geht einen Kompromiss mit dem Tod ein und holt Eurydike ins Leben zurück, unter der Bedingung jedoch, dass Orpheus sie bis zum nächsten Morgen nicht anschaut. Orpheus kann selbstverständlich nicht bis zum nächsten Morgen widerstehen, so dass sie aufs Neue stirbt. Nun schlägt M. Henri Orpheus das einzige Mittel vor, das die Liebenden vereinen kann, den Tod. In einem charmelosen Hotel‐ zimmer vereinen sich die beiden auf ewig, indem sie gemeinsam in den Freitod gehen (Minaud 2007: 8). Eurydice wurde von der Literaturkritik oft wie eine Replik auf Orphée (1926) von Jean Cocteau gelesen, da bei Anouilh die Perspektive der Eurydike über‐ wiegt (Lenzi 2013: 29 ff.). In kaum einem anderen mythisierenden Stück kann man sehen, wie der Mythos in die zeitgenössische Alltagswelt eindringt, sich breitmacht, manchmal störend - wenn er Regeln auferlegt -, manchmal rettend, wenn er eine Wiederbelebung verkörpert. Anouilh streut ganz bewusst Ana‐ chronismen in seine Stücke ein, sodass er nicht zuletzt den Mythos auf die zeit‐ genössische Alltagswelt „herunterbrechen“ kann. Die Metafiktionalität des Transports eines antiken Mythos in die Moderne haftet Anouilhs Figuren an zentralen Stellen an; sie veranschaulichen so den Transfer eines Mythos, an 121 4.1 Die Vorläufer Gaudés dessen Aktualität sich, im Gegensatz zur Ausdrucksweise der modernisierten Figuren, nichts geändert hat. Zugleich wird aus diesen metafiktionalen Anspielungen auch der Wunsch nach Veränderung laut, den Mythos neu zu schreiben, eine andere Lösung zu finden, bei der die Figuren diskutieren um eine Einigung zu erzielen und we‐ niger, wie in der antiken Mythologie üblich, um verlustreiche Konsequenzen davonzutragen, was sich auch in Antigone (1944) zeigt: ANTIGONE. Non. Vous avez dit « oui ». Vous ne vous arrêterez jamais de payer maintenant ! CRÉON. (la secoue soudain, hors de lui) Mais enfin, Bon Dieu ! Essaie de comprendre une minute, toi aussi, petite idiote ! J’ai bien essayé de te comprendre, moi. Il faut pourtant qu’il y en ait qui disent « oui ». Il faut pourtant qu’il y en ait qui mènent la barque parce que ça prend l’eau, ça prend l’eau de toutes parts, c’est plein de crimes, de bêtise, de misère… Est-ce que tu le comprends, cela ? ANTIGONE. (secoue la tête) Je ne veux pas comprendre. C’est bon pour vous. Moi, je suis là pour autre chose que pour comprendre. Je suis là pour vous dire non et pour mourir. (Anouilh 2016: 48) An Antigone, Anouilhs wohl berühmtestem Stück, zeigt sich auch, wie antike Mythen im modernistischen Theater oft als Deckmantel für aktuelle und bri‐ sante Themen fungieren, die gerade während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich nie durch die Zensur gekommen wären. So kann der kompromisslose Kreon, dem sich Antigone beharrlich widersetzt, als Maréchal Pétain gelesen werden, ohne dass hier deutliche Anhaltspunkte dafür geboten werden. Aus‐ blicke in die aktuelle Zeit macht Anouilh ausschließlich durch die zeitgenössi‐ sche Sprache und einige wenige zeitgenössische Accessoires. Erzählerisch betrachtet setzt das Stück Médée (1946) zehn Jahre nach der Er‐ oberung des goldenen Vlieses ein, nachdem Medea ihren Vater verraten und ihren Bruder für die Liebe zu Jason und die Eroberung des goldenen Vlieses getötet hat. Nachdem sich Jason jedoch in Glauke, die Tochter des Kreon von Korinth verliebt hat, trennt er sich nun von Medea und beeilt sich, die Tochter des Kreon zu heiraten. Bitter enttäuscht über Jasons Trennung, den sie so geliebt hat, sendet Medea der Glauke einen giftigen Schleier als vermeintliches Hoch‐ zeitsgeschenk, der sie innerlich verbrennt. Vergeblich helfen wollend, stirbt auch ihr Vater Kreon. Und Medea zieht weiter umher, um sprichwörtlich Feuer zu legen. Anouilh geht recht frei, aber, ähnlich wie Gaudé, nicht unbehutsam mit dem Mythenmaterial um. Die Handlung von Médée ist konzentriert um einige wenige Figuren (Medea, Jason, Kreon und die Amme der Medea). Der Text endet mit 122 4 Gaudés dionysische Dramen dem Tod der Medea, die in den Flammen stirbt, unter Jasons Augen, der zudem jegliche Intervention verhindert, Medea aus den Flammen zu befreien. Oft än‐ dert Anouilh die Rahmenbedingungen des antiken Mythos in moderne Alltags‐ szenarien ab, welche die Handlung damit skurril daherkommen lassen. Medea beispielsweise lebt in einem Planwagen und hebt sich damit von der normalen Bevölkerung ab (Anouilh 2014: 49). Auch die Frage nach der Beziehung zwischen Mann und Frau wird von Anouilh sehr genau analysiert. Durch eine bewusst entpoetisierte Sprache („langage dé-poétisé“, „degré zéro de la littérarité“; Le Corre/ Barut 2013: 13; Guérin 2007: 175) bildet Anouilhs Theater zusammen mit Cocteau, Gide und Sartre eine neue literarische Bewe‐ gung im dramatischen Genre der französischen Literaturlandschaft. Dies be‐ deutet für die genannten Autoren wie auch für Anouilh aber genausowenig, dass sie keine sprachlich ausgearbeiteten Wendungen verwenden: Vor allem Anouilh glänzt durch seine Bonmots und Tiraden. Jedoch werfen ihm Kritiker gerade deshalb vor, immer die gleiche Machart in seine zirka fünfzig Bühnen‐ stücke einfließen zu lassen, was ihn zu einem „Boulevardier“ machte und von der universitären Forschung lange Zeit ausschloss (Le Corre/ Barut 2013; Guérin 2013). Anouilhs Stücke sorgten, ähnlich wie die von Giraudoux, ob der umgangs‐ sprachlichen Vertrautheit und seinem, weit vom erhabenen Stil und dem aus‐ gesuchten Vokabular der klassischen Ära entfernt, bisweilen vulgären Um‐ gangston, für Aufsehen. Verstärkt wird dieser merkliche Transport eines Materials aus der klassischen Antike, über das siècle classique hinweg, durch nicht historisierende Inszenierungen und bewusst verwendete Spannungen, die anachronistische Details wie Postkarten, Kaffee, Zigaretten, Feuerwaffen, Filme oder Autos erzeugen. Bei Médée ist es ein solches Element des Alltagslebens, das, in all seiner Profanität, den unaufhaltsamen Fortgang des Lebens anzeigt: „Am Rande der Mordtragödie unterhalten sich zum Schluß die Amme und der Wächter bei den Toten über den Küchenzettel.“ (Der Spiegel 45, 1948) Parallelen zu Gaudé ergeben sich durch die Einbettung des mythischen Ma‐ terials in die jeweils aktuelle zeitliche Umgebung und die Fokussierung auf be‐ stimmte, archetypisch anmutende Probleme und Dilemmata der Figuren. Im Vergleich zu Gide ist klar zu erkennen, dass Anouilh, trotz seiner bewusst ein‐ gesetzten modernen Requisiten und der auch in metafiktionale Kommentare eingeflochtenen Umgangssprache, weder die Strapazierung des Mythos bis ins Extreme noch dessen satirisch-ironische Verzerrung verfolgt (Anouilh 1965: 56). Teilweise werden die Mythen dahingehend verdichtet, aber kaum abgeändert. Die Verwendung von umgangssprachlichem, bisweilen vulgärem Sprachre‐ gister ist ebenfalls Anouilh und Gaudé gemein (vgl. insbesondere Gaudés CP 123 4.1 Die Vorläufer Gaudés und LS). Wie seinen Vorgängern, die bereits vor dem zweiten Weltkrieg publi‐ zierten, hat man Anouilh oft vorgeworfen, die altehrwürdigen Stoffe, bisher zumeist nur eingebettet in stilistische Höchstleistungen renommierter Autoren, durch die oft einfache Umgangssprache mit Füßen zu treten (vgl. Corneilles Médée, 1635 oder Œdipe, 1659) - jedoch kann man darauf antworten, dass, ähn‐ lich wie mit der Benutzung der Volkssprache in der Renaissance, nun auch ein breiteres Publikum mit diesen antiquiert anmutenden Themen erreicht wird. Der Mythos wird folglich modern rezipiert - der produktive Teil dieser Rezep‐ tion besteht aus der Fokussierung auf grundlegende Verhaltensmuster des Men‐ schen und die Anspielung auf aktuelle politische Konflikte, die beide Autoren ebenfalls vorsichtig behandeln, indem sie sie zumindest aufzeigen. Während Giraudoux und Anouilh immer wieder das „Zuendebringen“ des Mythos thematisieren (vgl. Blumenberg 1979: 31; 79), kann man bei Gaudé wieder von einer Rückkehr zur Fortführung der Mythenrezeption sprechen. Gaudé nutzt, ganz im postmodernen Verständnis, wieder das Erzählpotential der Mythen einerseits und verarbeitet andererseits die Erfahrungen des äußersten Strapazierens des Mythos in der Moderne. Daher scheint die Rückbesinnung auf den Dionysos-Mythos äußerst konsequent, weil hier die Grundlagen des Thea‐ ters liegen. Die Prägung der neueren französischen Dramenliteratur durch viel‐ beachtete Autoren wie Giraudoux und Anouilh verleugnet er aber keineswegs; vor allem sprachlich und stilistisch lässt er seine Vorgänger des mythologisch geprägten Theaters aufleben. 4.1.10 Bernard-Marie Koltès Bei Bernard-Marie Koltès (1948-1989), einer weiteren international renom‐ mierten Größe des zeitgenössischen französischen Theaters, ist die Einlagerung von mythologischen Figuren nicht mehr groß; jedoch emblematisch für sein Gesamtwerk ist die Einarbeitung von mythologischen Geschehnissen und eine damit verbundene mythologische Überhöhung der Realität, wie es beispiels‐ weise in Combat de nègre et de chiens (1979) der Fall ist. Hier zeigen sich An‐ klänge des Antigone-Mythos des in Frankreich vielfach rezipierten Stückes von Sophokles (ca. 442 v. Chr.). Koltès’ Stück mit dem unkonventionellen Titel ist eine aufwühlende Beschreibung der postkolonialen Konflikte in Afrika, dessen Staaten immer wieder von Machtkämpfen verschiedenster Gruppierungen und ausbeuterischen Interessen sogenannter europäischer Investoren durchge‐ schüttelt werden. 124 4 Gaudés dionysische Dramen 37 Conrad, Jospeh, „An Outpost of Progress“, in: Simmons, Allan H./ Stape, J. H. (Hrsgg.), Tales of Unrest, Cambridge 2012, S. 75-100. Ähnlich wie in Joseph Conrads Kurzgeschichte An Outpost of Progress (1898) 37 werden hier absurderweise einige wenige Weiße von bis auf die Zähne bewaffneten Schwarzen bewacht (vgl. Koltès 1997). Diese politische Brisanz mischt Koltès mit zutiefst alltäglichen, ja banal anmutenden Konflikten, was ihn von der Struktur des Handlungsaufbaus her in die Nähe von Gaudé bringt. Combat de nègre et de chiens erzählt von einem westafrikanischen Land, in dem Nouofia, ein einheimischer Arbeiter, von einem weißen Ingenieur (Cal) auf dem Baustellengelände einer französischen Firma getötet wird. Der Bruder des Er‐ mordeten, Alboury, fordert die Herausgabe des Leichnams. Baustellenvorsteher Horn versucht den Mord als einen Unfall hinzustellen und deckt seinen Inge‐ nieur. Er möchte jeden Ärger vermeiden, da er sich unbeschadet mit seiner Ge‐ liebten Léone von Afrika verabschieden und nach Europa zurückkehren will. Es gelingt ihm nicht, Alboury, der in der Manier der Antigone darum kämpft, den Leichnam des Bruders bestatten zu können, mit Geld und Alkohol von seiner Forderung abzubringen. Unterdessen versucht Cal die Geliebte seines Vorge‐ setzten sexuell gefügig zu machen. Léone aber wehrt sich, angewidert von Cal, und erkennt, dass sie auch kein erotisches Interesse mehr an Horn hat. Als sie sich rasch und heftig in Alboury verliebt, stellt sie fest, dass sie intuitiv auf der Suche nach etwas Neuem, Fremdem ist, das sie in Alboury zu entdecken glaubt. Der schwelende Konflikt zwischen den drei Hauptfiguren bricht nun aus: Ge‐ walt, sexuelle Aggression, Lebenslügen und Verrat kommen hervor. Albourys Auftauchen in der Domäne der Weißen ist nicht nur eine absurd anmutende Grenzüberschreitung (Koltès 1989: 7 ff.; Begenat 2006: 329 ff.), son‐ dern wirkt auch wie ein Kairos chthonischer Gewalten, gerade weil Koltès hier eine Parallele zu seinen eigenen Erfahrungen zieht, in denen er, kurz nach dem Biafra-Krieg (1967-1970), Freunde auf einer Baustelle einer französischen Firma besucht, die dort in einer von der Außenwelt durch Stacheldrahtzäune abge‐ schotteten Kleinsiedlung rund um die Uhr von einheimischen Sicherheits‐ kräften bewacht werden, um sie vor plündernden Banden zu beschützen. Diese Ausgangssituation, die sich auch im Stück befindet, kann wie eine mise en abyme auf die paradoxe Situation in Nigeria nach dem Biafra-Krieg gelesen werden, welche die beiden unvereinbaren Gegensätze zwischen Einheimischen und Fremden aufzeigt, wie es Koltès selbst über sein Stück formuliert: „Elle [la pièce, d. Verf.] parle surtout de trois êtres humains isolés dans un lieu du monde qui leur est étranger, entourés de gardiens énigmatiques.“ (Koltès 1997) Alboury ist, sehr ähnlich den Charakteren Gaudés in den Romanen Le soleil des Scorta (SdS), 125 4.1 Die Vorläufer Gaudés La mort du roi Tsongor (MRT) und Eldorado, körperlich und spirituell mit seiner Heimat verbunden, was bisweilen mythisch und beinahe magisch wirkt. Dem entgegen stehen die Weißen, der Profitgier erlegen, in der Manier des Patron in Gaudés CP (vgl. 4.3): ALBOURY. Moi, je suis seulement venu pour le corps, monsieur, et je repartirai dès que je l’aurai. HORN. Le corps, oui oui oui ! Vous l’aurez demain. Excusez ma nervosité; j’ai de grands soucis. Ma femme vient d’arriver; depuis des heures elle range ses paquets, je n’arrive pas à savoir ses impressions. Une femme ici, c’est un grand bouleversement; je ne suis pas habitué. ALBOURY. C’est très bon, une femme, ici. HORN. Je me suis marié très récemment; très très récemment; enfin, je peux vous le dire, ce n’est même pas tout à fait accompli, je veux dire les formalités. Mais c’est un grand bouleversement quand même, monsieur, de se marier. Je n’ai pas du tout l’ha‐ bitude de ces choses-là; cela me cause beaucoup de soucis, et de ne pas la voir sortir de sa chambre me rend nerveux; elle est là elle est là, et elle range depuis des heures. Buvons un whisky en l’attendant, je vous la présenterai; nous ferons une petite fête et puis, vous pourrez rester. Mais venez donc à table; il n’y a presque plus de lumière ici. Vous savez, j’ai la vue un peu faible. Venez donc vous montrer. ALBOURY. Impossible, monsieur. Regardez les gardiens, regardez-les, là-haut. Ils sur‐ veillent autant dans le camp que dehors, ils me regardent, monsieur. S’ils me voient m’asseoir avec vous, ils se méfieront de moi; ils disent qu’il faut se méfier d’une chèvre vivante dans le repaire du lion. Ne vous fâchez pas de ce qu’ils disent. Être un lion est nettement plus honorable qu’être une chèvre. HORN. Pourtant, ils vous ont laissé entrer. Il faut un laissez-passer, généralement, ou être représentant d’une autorité; ils savent bien cela. (Koltès 1989: 11 f.) Interessant ist, dass der Sprachduktus von Koltès viel poetischer anmutet als der bewusst aufrüttelnde, umgangssprachliche Stil der modernistischen Au‐ toren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Benhamou 1996) - und gerade damit rückt er in unmittelbare Nähe von Gaudés poetisierendem Stil. Nicht zuletzt kann man beim Titel „Combats de possédés“ von einer Hommage an Koltès’ Stück sprechen. Gaudé wird seit den ersten Inszenierungen seiner Stücke immer wieder mit Koltès verglichen; nicht zuletzt hat der einflussreiche Schauspieler und Regisseur Hubert Gignoux beide entdeckt und zur Ausübung des Autoren‐ 126 4 Gaudés dionysische Dramen 38 Vgl. Laurence Liban, „L’épreuve des planches“, in L’Express, 01.03.2004: http: / / livres.lexpress.fr/ portrait.asp/ idC=8009/ idR=5/ idTC=5/ idG=0 (07.09.2018); Kantsteiner, Morton, „Tausend Jahre Sex and Crime“, in: taz, 04.04.2000, S. 14 sowie „Disparitions. Hubert Gignoux“, in: Le Monde, 01.03.2008: http: / / www.lemonde.fr/ disparitions/ article/ 2008/ 03/ 01/ hubert-gignoux-pionnier-dela-decentralisation-theatrale_1017736_3382.html (07.09.2018). 39 Benhamou, Anne- Françoise, „La langue koltésienne“ und „Les personnages : des « su‐ jets » plutôt que des « caractères »“, in: Théâtre aujourd’hui (5) 1996. (Online-Publikation: http: / / educ.theatre-contemporain.net/ pieces/ Combat-de-Negre-etde-Chiens/ textes/ Combat-de-Negre-et-de-Chiens/ texte/ idcontent/ 19402) (07.09.2018). berufs verholfen. 38 Die Nachdenklichkeit in den Stimmen in Koltès’ Theater, die vielen Fragesätze und Antworten, welche die Figuren selbst geben, sind Gaudés Theater sehr nahe. Zudem rückt der Monologstil von Koltès nahe an Gaudés Figuren heran (vgl. CM, CP, PC), gerade weil sich die Figuren oft in abundante wörtliche Rede flüchten, da sie sich scheuen, sich ihre tatsächliche, oft klägliche Situation einzugestehen: Si les personnages koltésiens parlent tant, en effet, ce n’est pas parce qu’ils sont ba‐ vards, mais parce qu’ils tentent, en vain, de se fabriquer dans le langage une identité consistante, de masquer leur agitation, leur incertitude intérieure par de complexes ar‐ chitectures verbales, de recouvrir d’un voile de mensonges et de dénégations cette bles‐ sure secrète qu’ils portent tous en eux et qui les rend étrangers à eux-mêmes. C’est pourquoi, contrairement aux héros du théâtre classique que chaque prise de parole, dialogue ou monologue, fait progresser vers leur être profond, la parole des person‐ nages koltésiens ne les conduit jamais à la pleine possession de leur identité, à une authenticité dernière. (Benhamou 1996) 39 Le retour au désert (1988) ist ebenfalls kein mythologisches Stück, könnte Gaudé aber durch die Thematik des Algerienkrieges beeinflusst haben; insbe‐ sondere ergeben sich thematische Parallelen zu Les Sacrifiées. Das im Titel an‐ klingende „retour“ verweist auf die Rückkehr der Mathilde Serpenoise, die zu Beginn der 1960er Jahre in ihr Elternhaus in einem ostfranzösischen Provinz‐ städchen zurückkehrt, das sie fünfzehn Jahre zuvor in Richtung Algerien ver‐ lassen hatte. Als sie mit ihren Habseligkeiten und ihren Kindern aus Algerien zurückkommt, wird sie mit der Feindseligkeit ihres Bruders konfrontiert, der sie bezichtigt, vor dem Krieg in Algerien zu flüchten und nur zurückzukommen, weil sie ihren Erbteil einfordern wolle. Hinzu kommt eine bedrückende Atmo‐ sphäre der dörflichen Gesellschaft, die mit unerschütterlicher Borniertheit die alten Konflikte zwischen Bauern und Landbesitzern wieder aufflammen lässt, ohne deren wahren Grund zu kennen. Mit der Erhebung der Stimme der dyna‐ mischen Frauenfigur treten, wie in Gaudés LS, alte Streitigkeiten wieder zu Tage, 127 4.1 Die Vorläufer Gaudés und plötzlich scheinen sich die Bewohner wieder genau an die Grenzen ihrer Ländereien zu erinnern, die sie seit langem schon nicht mehr bewirtschaften. Aus dem privaten, familiären Konflikt wird schnell ein von Misstrauen ge‐ prägter Kampf einer ganzen Stadt, die Beschaulichkeit wird rasch als Heuchelei entlarvt. Auf die immer rauer werdenden Umgangsformen weist nun der zweite Teil des Titels („au désert“) nicht ohne Brisanz hin: ADRIEN. Tu as voulu fuir la guerre et, tout naturellement, tu es venue vers la maison où sont tes racines; tu as bien fait. La guerre sera bientôt finie et bientôt tu pourras retourner en Algérie, au bon soleil de l’Algérie. Et ce temps d’incertitude dans laquelle nous sommes tous, tu l’auras traversé ici, dans la sécurité de cette maison. MATHILDE. Mes racines ? Quelles racines ? Je ne suis pas une salade; j’ai des pieds et ils ne sont pas faits pour s’enfoncer dans le sol. Quant à cette guerre-là, mon cher Adrien, je m’en fiche. Je ne fuis aucune guerre; je viens au contraire la porter ici, dans cette bonne ville, où j’ai quelques vieux comptes à régler. Et, si j’ai mis si longtemps à venir régler ici ces quelques comptes, c’est que trop de malheurs m’avaient rendue douce; tandis qu’après quinze années sans malheur les souvenirs me sont revenus, et la rancune, et le visage de mes ennemis. (Koltès 1988: 13) Die Auflehnung gegen die Konventionen und die vermeintliche Familientra‐ dition rückt Mathilde in die Nähe der Frauenfiguren in Gaudés LS. Stilistisch und inhaltlich besteht folglich eine enge Verbindung zwischen Gaudé und Koltès, denn auch den Frauenfiguren in LS werfen die strikt am patriarchali‐ schen System orientierten Männer der Dorfgemeinschaft andauernd Traditi‐ onsbrüche und Verletzungen des öffentlichen Anstandes vor. 128 4 Gaudés dionysische Dramen 40 Das Stück wurde als Lesung von Hubert Gignoux im Théâtre Ouvert in Paris am 17. März 1997 uraufgeführt. Gaudés Manuskript wurde noch im selben Jahr im Verlag des Theaters veröffentlicht (tapuscrit n° 86), bevor es dann im Jahre 2000 bei Actes Sud verlegt wurde. Die erste dramaturgische Inszenierung erfolgte durch Yannis Kokkos am Théâtre National de Strasbourg am 13. Juni 2000. Für weitere Inszenierungen s. 6.2.1. 4.2 Das neue Leben des Dionysos: Onysos le furieux Mit dem monologischen Drama Onysos le furieux (2000) 40 geht Gaudé in der Dramentradition noch weiter zurück als seine Wegbereiter: Er führt seine Re‐ zipienten zu den antiken, dionysischen Ursprüngen der Tragödie zurück und berührt das dramatische Genre an einer sensiblen Stelle, denn der zutiefst my‐ thische Hintergrund der Tragödie geriet selbst in der Schreibpraxis großer grie‐ chischer Dramatiker schnell in Vergessenheit. Mit der Fortentwicklung der an‐ tiken griechischen Gesellschaft einhergehend hatte sich die Theaterpraxis schnell vom Dionysosmythos entfernt (Hübner 1985: 222). Umso selbstbe‐ wusster mythologisiert Gaudé mit OF die unaufhörliche dionysische Trieteris und zeigt durch seine Mythencollage - als folgte er Blumenbergs Ausführungen - dass er nur eine von vielen möglichen Versionen anbietet. So kann Gaudés OF als ein moderner Beitrag zur antiken Tradition des Dichterwettstreits anlässlich der Dionysien betrachtet werden. Das Monologstück, das Leser und Zuschauer zu den Ursprüngen des Theaters zurückführt, ist eines der ersten Werke, die Gaudé verfasst hat. Hier obliegt es einem einzigen Schauspieler, den in den New Yorker Großstadtalltag versetzten Dionysos zu verkörpern. Schauplatz ist irgendeine U-Bahn-Station im geschäf‐ tigen Treiben der Metropole. Der sichtlich gealterte Dionysos - von Gaudé „Onysos“ genannt (vgl. 4.1.4, 188 ff.) - erzählt, in einer durchaus surreal anmu‐ tenden Situation, denjenigen Passanten auf diesem Bahnsteig seine Lebensge‐ schichte, die sich auf seine Anwesenheit einlassen. Allem Anschein nach ist es eine lange Zeit her, dass Onysos unter Menschen war, denn er ist selbst neu‐ gierig, ob sich der Mensch in dieser Zeit seiner Abwesenheit verändert hat. Im Prolog sagt er: „Laisse-moi te contempler que je voie si l’homme a changé.“ (OF, 9) Die Erzählung des Onysos erstreckt sich über den Zeitraum von einer Nacht, in deren Verlauf sein hybrides Wesen hervortritt, das ihn als sowohl als Mensch als auch als Gottheit mit allen Facetten erscheinen lässt, die sowohl inhaltlich als auch stilistisch einen Spagat zwischen pikaresk und heroisch vollziehen. Im Stile eines antiken Rhapsoden erzählt Onysos seine Lebensgeschichte: Begin‐ nend mit seiner Geburt im Zagros-Gebirge (chant I), über die Einnahme Baby‐ lons (chants II und III), seiner Flucht aus Ägypten ins gelobte Land (chants IV 129 4.2 „Onysos le furieux“ 41 Vgl. http: / / www.profil.at/ articles/ 0523/ 560/ 114219_s2/ gebhard-selz-beweis (07.09.2018). und V), bis zu seiner Wiederkunft im Hier und Jetzt New Yorks (chant VI) und einem Ausblick auf sein weiteres Wirken in der Zukunft (Epilog), ist die Vita des Onysos übervoll von tragischen, schmerzhaften, blutrünstigen, gewalttä‐ tigen, rauschhaften und orgiastischen Handlungen und Ereignissen. So zeigt sich auch in der inhaltlichen Zusammenschau dieses epischen Dramas, dass sie sich zu den von Blumenberg beschriebenen Eigenschaften der Mythenerzählungen analog verhält: Der récit des Onysos ist eine von Gaudé individuell gestaltete Mythenversion, die sich aus vielen bereits existierenden Versionen zusammensetzt - in diesem Falle eine für Onysos individualisierte Version der Dionysos-Vita, die hier von ihm selbst vorgetragen wird. 4.2.1 Mythologische Topo-Graphie - die symbolhafte Umgebung des Zweistromlandes in Onysos le furieux Gaudé wählt mit Tepe Sarab als Geburtsort seiner an Dionysos angelehnten Figur gezielt eine Stadt, die in der Forschung über die Herkunft des Dionysoskultes keine Rolle spielt, jedoch für frühe Formen des Fruchtbarkeitskultes bekannt ist. Ausgiebig spielt Gaudé mit dem Mythos der Ankunft des Dionysos aus dem fer‐ neren Osten und unterstützt damit zugleich die These einiger Dionysosforscher, welche für eine orientalische Herkunft des Dionysoskultes einstehen (vgl. 3.1.1). Tepe Sarab ist ein geschichtsträchtiger Ort und liegt im heutigen Iran. Seit dem 15. Jahrhundert v. Chr. begann in und um diese Stadt bereits eine Hochkultur auf‐ zublühen: Tepe Sarab wurde einer der kulturellen Ausstrahlungspunkte des Zweistromlandes, das zu jener Zeit eine Vorreiterstellung sowohl für Asien als auch für Europa einnahm (Schmandt-Besserat 1996: 113; 2007: 41 ff.; Selz 2016: 23-30). Die seit der Blütezeit der babylonischen Kultur entstandenen Kultstätten standen Pate für viele hellenistische Sakralbauten. Gaudé situiert die Wiege seines Dionysoskultes folglich an einem Ort, der bereits in der Frühgeschichte kulturelle Bedeutung erlangte. Zahlreichen Archäologen zufolge wird die Region um Tepe Sarab, neben den in OF ebenfalls erwähnten Städten Uruk und Abydos, 41 als eine Wiege des Schrifttums betrachtet (Schmandt-Besserat 1978: 50-58; 1996: 27; Gro‐ neberg 2004: 20-24). In und um Tepe Sarab wurde folglich der Grundstein für eine nicht mehr wegzudenkende Überlieferungsform gelegt, die aufgrund ihres kon‐ servierenden Charakters für die Unzerstörbarkeit des menschlichen Lebens und, durch ihre vielfältigen Kodierungssysteme, für die Ausdrucksform von Individu‐ 130 4 Gaudés dionysische Dramen 42 Vgl. dagegen Haarmann 2017-I und II sowie Merlini 2009. Die Tatsache, dass es in Süd‐ osteuropa wahrscheinlich noch vor Sumer ein Zeichensystem gab („Donauschrift“, auf Tontafeln, die im rumänischen Dorf Tărtăria im judeţ Alba gefunden wurden, datiert auf ca. 5300 v. Chr.: Haarmann 2017-I: 16-21; 2017-II: 191-197; 209-220), tut der mythologi‐ schen Funktionalität des Zweistromlandes für die Geburt des Onysos bei Gaudé jedoch keinen Abbruch. alität steht. 42 Die Ursprungsmythen, die Tepe Sarab damit ausstrahlt, bieten Gaudé eine willkommene Ergänzung zum hellenischen Dionysos-Mythos und erwei‐ tern, gerade auf der poetologischen Ebene, den Bedeutungsspielraum der von Gaudé verarbeiteten Mytheme. Gaudés mythologische Orientierung nach Osten ist auch ein Tribut an die weitaus älteren Theogoniemythen der Hethiter und Assyrer ab dem 13. Jahr‐ hundert vor Christus, die nachweislich Homer und Hesiod beeinflussten (Graf 2004: 86 ff.; 90 ff.). Immer wieder ergeben sich in OF deutliche Verweise auf das wohl älteste Werk der schriftlichen Literatur, das uns bis heute bekannt ist, das Gilgamesch-Epos (vgl. z. B. OF, 22 f.). Dass dieses Epos im Ursprungsgebiet des Schrifttums entstanden ist und in sumerischer Keilschrift, der vermutlich ersten Schriftsprache, verfasst wurde (ca. 3200 v. Chr., Dietz 2004: 73 ff.), stellt bereits eine thematische und mythologische Verdichtung dar. Mit der Verarbeitung des Gilgamesch-Epos erweitert Gaudé den Dionysos-Mythos intertextuell und er‐ gänzt so den Entstehungsmythos des Dionysos um den Ursprungsmythos der Schrift und der Literatur. Durch die Wahl von Tepe Sarab als Ursprungsort der Figur des Onysos schafft Gaudé folglich die Basis für eine Mythenüberlagerung, die sich als für seinen Schreibstil typisch herauskristallisieren wird. Auch Gaudés Wahl des geographischen Ursprungs seiner Dionysosrezeption ist ein Kunstgriff. Das Gilgamesch-Epos ist eng mit dem „Heimatgebirge“ des Onysos, dem mesopotamischen Zagros-Gebirge, verknüpft. Die von Gaudé er‐ wähnten „monts Zagros“ erstrecken sich auf über 1.500 Kilometer von der Süd‐ spitze des Urmia-Sees im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet bis zur Straße von Hormuz (Michael 2008: 158). Darüber hinaus kann der Name des Gebirges aufgrund der lautlichen Ähnlichkeit als Anspielung auf den dionysi‐ schen Beinamen zagreus verstanden werden (vgl. 3.1.2), die Gaudé zur engeren Zusammenführung der Gilgamesch- und Dionysosmythen verwendet. Die pho‐ netisch motivierte Anspielung auf die mesopotamische Herkunft des Dionysos gewinnt bei Gaudé folglich eine intertextuelle Komponente. So kann die Figur des Onysos auf mehreren Bedeutungsebenen zugleich als direkter Nachkomme Gilgameschs betrachtet werden. Hinzu kommt, dass das Zagros-Gebirge auch Urheimat von einigen indoeu‐ ropäischen Volksgruppen ist, so beispielsweise dem von Gaudé erwähnten 131 4.2 „Onysos le furieux“ 43 „Jener Sin-leqe-unninni […] kann nun mit einiger Gewissheit als der zur Kassitenzeit um 1200 - und vielleicht in Uruk selbst - lebende Verfasser des Gesamtwerkes ange‐ sehen werden.“ (Schmökel 1985: 14). Dies bestätigt Jursa (2004: 118 f.). Bergvolk der Kassiten (vgl. OF, 20), das zwischen dem 15. und dem 13. Jahrhun‐ dert v. Chr. mit der Herrschaft über Babylonien seine Blütezeit feierte (Dietz 2004: 141 ff.). Unter die Kassiten ist auch der vermutliche Verfasser der heute erhaltenen Fragmente des Gilgamesch-Epos zu rechnen: Die Autorschaft des Gelehrten Sin-leqe-unninni scheint sich in den letzten Jahren mehr und mehr zu bestätigen. 43 Aufgrund ihres von vielen Wissenschaftlern untersuchten Sprachstandes soll diese sogenannte Standard-Version des Epos, das bereits in der babylonischen Antike eine lange und komplexe Rezeptionsgeschichte auf‐ weist, im letzten Drittel des zweiten Jahrtausends vor Christus aus verschie‐ denen oralen Überlieferungen zusammengetragen und in sumerischer Keil‐ schrift verfasst worden sein (King 2009: 15 ff.; van der Toorn 2007: 62; Jackson 1997: xv f.; Maul 2007: 126 f.). Gaudé konzentriert demnach geo- und historio‐ graphische Informationen sowie überliefertes Mythenmaterial zu einem neuen Mythos und erschließt mit dieser Art der Mythenrezeption neue mythologische Quellen. Selbst wenn heute der rituelle Hintergrund nur noch teilweise rekonstru‐ ierbar ist, bleiben antike Textzeugnisse wie das Gilgamesch-Epos zugänglich, denn die „verfestigten Strukturen bleiben erhalten, auch wenn die sie ursprüng‐ lich tragenden Riten nicht mehr wahrgenommen werden.“ (Metzeltin 1998: 31) Die zwölfte Tafel des Gilgamesch-Epos weist nicht nur von ihrer Entstehungs‐ geschichte her, sondern auch inhaltlich eine Veränderung im Vergleich zu den elf übrigen Tontafeln auf. Für die Forschung ist es nach aktuellem Stande er‐ wiesen, dass sie später zu den bereits verfassten Teilen hinzugefügt wurde (King 2009: 30; Sallaberger 2013: 101; van der Toorn 2007: 133). Die Planung und wohlüberlegte Textanlage des frühen Autors kann textologisch erklärt werden, da, Michael Metzeltins Annahme zufolge, abgeschlossene Texte grundsätzlich nicht spontan sind, sondern „aufgrund von Planung produziert“ werden (Met‐ zeltin 1998: 30). Stilistisch und inhaltlich weicht der letzte Teil des Gilga‐ mesch-Epos von den vorherigen ab, kommt aber zugleich dem dionysischen Mythenkreis um einiges näher, da es sich um eine Unterwelt-Mythe handelt, in welcher Gilgamesch freiwillig in das Totenreich hinabsteigt, um seinen von den Göttern getöteten Kampfgefährten Enkidu zu suchen. Sowohl im Gilga‐ mesch-Epos als auch in der Vita des Dionysos spielt die Unterwelt damit eine entscheidende Rolle (Graves 2007: 91-97). Werden zirkuläre Strukturen von Riten in der Literatur nachgeahmt, realisiert man sie meist als repetitive Strukturen. Dies trifft im Falle des Gilgamesch-Epos 132 4 Gaudés dionysische Dramen zu, denn es ist, gemäß mesopotamischer Tradition, sehr repetitiv angelegt (Schmökel 1985: 19; Sallaberger 2013: 106 f.), was sich nach Metzeltin aus dem ursprünglichen Zweck der Textualität herleitet, Riten verständlich zu machen (Metzeltin 1998: 31). Metzeltin nimmt deshalb an, dass abgeschlossene Texte „ursprünglich in rituellen Zusammenhängen entstehen und für kollektive Zwecke benutzt werden. Textualität dürfte daher ursprünglich eher anonym und stark wiederholend sein.“ (ebd.: 30) Wenn Texte oral von einer Generation zur anderen überliefert werden, sind sie zumeist repetitiv angelegt, weisen „be‐ stimmte, leicht zu behaltende Kohärenz- und Kohäsionsstrukturen“ auf, „wie rituelle Sequenzierung und Reim“. (ebd.: 30) Eine der Grundeigenschaften des Mythos, die Variationsfähigkeit, drückt sich ebenfalls in der Form der oralen Überlieferung aus: „Innerhalb dieser Strukturen kann die Variation ziemlich groß sein“ (ebd.: 31). In einer nächsten Stufe bilden die oralen Vertextungs‐ formen sodann „im Laufe der Zeit Textserien, die zu verschiedenen Epochen allmählich verschriftlicht werden.“ (ebd.) Literaturwissenschaftlich gesehen weisen beide Mythenzyklen, der Gilga‐ mesch-Zyklus und der dionysische Mythenzyklus, Entsprechungen auf, von denen Gaudé in seiner Mythencollage profitiert und die er durch die Heraus‐ bildung neuer Anknüpfungspunkte erweitert. Grundmotiv des Gilga‐ mesch-Epos ist die permanente Suche nach Unsterblichkeit. Gilgamesch, my‐ thischer Herrscher der Sumerer, ist zwar göttlicher Abstammung, aber nicht vollständig göttlich. Übertragen auf den Text hat sich das Unsterblichkeits‐ streben des Gilgamesch sicherlich gelohnt: Das Epos ist eine der ältesten schrift‐ lichen Überlieferungen überhaupt und steht damit für Permanenz in der Welt literarischer Zeugnisse. Dadurch gilt es immer noch als der älteste schriftlich überlieferte Mythos der Geschichte. Die Auseinandersetzung mit dem Gilga‐ mesch-Epos ist folglich nicht zwingend eine archäologische Suche gemäß dem Ad-fontes-Ideal, sie dient gerade als Beweis des Wesens der Mytheme als aus‐ schließlich in rezipierter Form vorliegender Elemente. Das Gilgamesch-Epos deckt zudem den Zwiespalt zwischen Göttlichkeit und Unsterblichkeit auf, denn Unsterblichkeit ist keine rein göttliche Exklusivität - sie allein macht noch nicht zum göttlichen Wesen. Gilgamesch wird jedoch nicht aufgrund seiner Herkunft als sterblich eingestuft, sondern aufgrund seines Ver‐ haltens den Göttern und den Menschen gegenüber. Sowohl Göttlichkeit als auch Unsterblichkeit sollen ihm versagt bleiben; letztere gibt er, trotz des Rates von Urschanabi, durch eine „menschliche“ Unachtsamkeit, buchstäblich wieder aus der Hand (Soden 2005: 102). Auch für Gaudé steht die Göttlichkeit und Unsterb‐ lichkeit des Dionysos nicht im Vordergrund; es entsteht vielmehr der Eindruck, dass Onysos, Gaudés Dionysos-Hypostase, sie als alltäglichen Ballast mit sich he‐ 133 4.2 „Onysos le furieux“ rumträgt. Gaudé legt den Akzent auf Unsterblichkeit durch Überlieferung, die zweierlei bedeutet: Einerseits verjüngt sich Onysos durch seine erzählerische Ak‐ tivität (Eissen 2007: 46; vgl. 4.2.4), andererseits trägt er durch seine ganz persön‐ liche Erinnerung an Dionysos zur literarischen Unsterblichkeit des Dionysosmy‐ thos bei. So legt Gaudé seinem Dionysosrepräsentanten am Ende des Stückes, die Arbeit am Mythos exemplifizierend, folgendes Unsterblichkeitsmanifest in den Mund: „Le monde m’a oublié, peu m’importe. / Je choisirai un jour où me rap‐ peler à sa mémoire.“ (OF, 46) Gilgamesch hat sterbliches Blut, das ihm aufgrund der göttlichen Entschei‐ dung Enlils durch die Adern fließt (Soden 2005: 17; 119; Groneberg 2004: 58-72). Durch diesen Kunstgriff schafft der Autor des Gilgamesch-Epos zweierlei: ei‐ nerseits die Mythifizierung der bis heute noch nicht sicheren Existenz des Herr‐ schers und andererseits die Authentifizierung des mythischen, heroischen und göttlichen Gilgamesch. Die mythischen Herrscher werden menschlich und damit auch sterblich, womit der rhetorische Übergang vom Mythos zur Ge‐ schichtsschreibung vollzogen ist. Die apokalyptischen Anklänge ähneln sich: Gilgameschs Kampf um die Unsterblichkeit ist mit Dionysos trieterikós ver‐ gleichbar, der in seinem Zyklus immer wieder in die Unterwelt hinabsteigen muss. Die im Dionysoskult gefeierte, zirkuläre Wiederkunft liegt der Geschichte des Gilgamesch nahe: Auch Dionysos muss in die Unterwelt hinabsteigen, kommt aus ihr jedoch als Gott heraus, im Gegensatz zu Gilgamesch, der seine menschliche Gestalt nicht ablegen kann. Der Höllengang ist die Initiation des Gilgamesch, da er als descensus ad inferos mit Allwissenheit und Unsterblichkeit verbunden ist. Lebendig in die Geheimnisse der „chthonischen Gebärmutter“ eingeweiht zu werden nämlich heißt in die Hölle hinabsteigen und sich den Prüfungen stellen, die den Toten vorbehalten sind. Der initiatorische Sinn dieses Abstiegs in die Hölle liegt auf der Hand: wem eine solche Heldentat gelungen ist, der fürchtet den Tod nicht mehr, der hat eine Art Un‐ sterblichkeit errungen, Ziel aller Heldeninitiationen seit Gilgamesch. Aber wir müssen noch ein anderes Element berücksichtigen: das Jenseits ist auch der Ort des Wissens und der Weisheit. Der Herr der Unterwelt ist allwissend, die Toten kennen die Zukunft. In einigen Mythen und Sagen steigt der Held in die Hölle hinab, um die Weisheit zu erringen oder geheime Kenntnisse zu erwerben. (Eliade 1997: 116 f.) Auch der Wald ist bereits im ältesten überlieferten Epos ein Ort der Initiation, da er den Geist benebelt und den Menschen, der sich im Wald befindet, daran hindert, den rechten Weg zu finden (Schmökel 1985: 51 ff., 56; Metzeltin 1998: 104). Enkidu berührt „mit unreiner Hand das Tor zum Zedernwald, um es zu 134 4 Gaudés dionysische Dramen öffnen“ und begeht damit eine rituelle Versündigung (Schmökel 1985: 51). Mit seinem Verhalten statuiert Enkidu das Exempel, dass der Wald ein heiliger Ort ist, gegen den man sich leicht versündigen kann. Dante nimmt damit einen der ersten schriftlich überlieferten Topoi auf, wenn er sich als im Wald verängstigt umherirrend beschreibt (Inf. I, 1-12). Der Wald ist auch bei Dante ein besonderer Ort, wo der Dichter auf sein alter ego, seinen „poetischen Lehrmeister“ Vergil trifft (Kiefer 2002: 103). Zudem wird auch bei Dante noch ein weiterer, bereits zur Blütezeit der Sumererdynastien bekannter Topos bedient, der sich von Ba‐ bylonien aus förmlich durch die gesamte europäische Literaturlandschaft und Literaturgeschichte zieht: die Zwiegestaltigkeit des Helden. Folglich weisen auch Samuel Becketts Stücke auf das Gilgamesch-Epos zurück, wenn sie ein komplementäres Verhältnis der dualistisch-symbiotischen Charaktere zeichnen, die nicht ohne einander auskommen (vgl. 4.2.3 u. 4.3.1). Der Ort im Wald erfährt durch seine besondere literarische Codierung im Laufe der Zeit eine Sakralisierung. „Die Barrieren stellen dann die Einfriedung des sakrali‐ sierten Raumes dar“ (Metzeltin 1998: 64), der somit zu einem témenos wird (Hübner 1985: 164), einem abgegrenzten Bezirk, aus dem sich der Begriff des Tempels entwickelte - ein Ort wird folglich erst durch seine Abgrenzung zu einer heiligen Stätte. Durch die Freundschaft zu Enkidu, einem menschenähnlichen Wesen, das von der Göttin Aruru erschaffen wurde (Soden 2005: 8; vgl. OF, 15 f.), sprechen ihm die Götter die Unsterblichkeit ab. In ähnlicher Weise wie die Engel, die Gottessöhne, sich auf der Erde materialisieren, indem sie mit „Menschentöch‐ tern“ riesenhafte Nachkommen zeugen (Genesis 6, 1-8), lässt sich Gilgamesch mit der Menschheit ein: Die Freundschaft fordert das Opfer der Unsterblichkeit. Im ihrem Kampf gegen rivalisierende Gottheiten erliegt Enkidu später dem gif‐ tigen Atem des Himmelsstieres. Dieser Anlass treibt Gilgamesch in die Unter‐ welt - er begibt sich, ähnlich wie Dionysos in einigen Versionen des Mythos, aus freien Stücken dorthin, um seinen Freund zurückzuholen. Menschliche Ge‐ fühle lassen Gilgamesch metaphysische Grenzen überschreiten, daher ist er prädestiniert, die Philosophie der Entgrenzung Gaudés zu untermauern. Die Vereinigung von Menschlichem und Göttlichem ist auch eine zentrale Prägung des Dionysosmythos; nicht umsonst legt Gaudé gegen Ende seines Dramas be‐ sonderen Wert auf die Repräsentation der menschlichen Züge des Gottes, der in seiner Darstellung sogar Mitleid für so manche unter den Menschen ausge‐ lösten Zerstörungsanfälle empfindet. Onysos berichtet von seinem mythischen Sieg über Babylon in der Kassiten‐ zeit, dem sehr wahrscheinlichen Entstehungszeitraum des Gilgamesch-Epos. Gaudé zeigt mit seiner Version jedoch unmissverständlich, dass seine Diony‐ 135 4.2 „Onysos le furieux“ 44 Vgl. Gaudés Drama zur Vita Alexanders des Großen, Le tigre bleu de l’Euphrate (2002) sowie seinen Roman Pour seul cortège (2012), der von den letzten Lebensstunden Ale‐ xanders des Großen handelt. sosfigur zwar an die antike Überlieferung geknüpft ist, jedoch auch ein litera‐ risches Eigenleben besitzt. In seinem Siegeszug, der mit der Marschroute Ale‐ xanders des Großen auf seinem Feldzug gen Osten verglichen wird (O’Brien 1994: 13, 22, 53, 183), 44 hat Onysos gerade nicht die Strategie Alexanders verfolgt: „J’aurais dû lancer mon armée contre les Kassites, décapiter le roi et planter sa tête en haut d’une lance dans l’herbe du plus haut des jardins suspendus. / Je serais devenu le héros de Babylone.“ (OF, 21) Durch seine eigene Strategie hat Onysos zwar weite Teile seiner dionysischen Armee, bestehend aus Mänaden und Satyrn, eingebüßt, aber trotzdem gesiegt. Zudem wird Onysos explizit mit der dionysischen Ureigenschaft des Jägers (zagreus) verknüpft, was die überna‐ türlichen, dionysischen Fähigkeiten von Gaudés Figur nachhaltig unterstützt - die mythopoietische Verbindung zwischen Onysos und Dionysos ist damit durch sich überlagernde Mythenversionen hergestellt: Mon armée est décimée. Le roi des Kassites a toujours pris soin de me laisser charger en première ligne. Il croit avoir gagné, il croit être indomptable et terrifiant, mais il se trompe, car le nom maudit, le nom que les femmes de Mésopotamie désormais prononcent en tremblant, c’est celui de Zagreus et c’est le mien. Je n’ai plus d’armée mais j’ai gagné ma première bataille. Onysos s’est essayé à la guerre avec une armée de femmes et de vauriens et Onysos a fait tomber Babylone, Le joyau de l’Euphrate. (OF, 20) 4.2.2 Gaudé als Rhapsode - orale Mythopoiesis und dramatische Erzählform Onysos le furieux ist literarisch gelebter Mythos: Die mythologische und inter‐ textuelle Dichte des gerade einmal 47 Seiten umfassenden Textes ist außeror‐ dentlich hoch, jede Zeile dieses epischen Gedichts ist mit Referenzen auf lite‐ rarische und künstlerische Werke verschiedener Epochen durchsetzt, die ihrerseits Anknüpfungspunkte an den Dionysosmythos liefern. Auch bringt Gaudé in nahezu jedem Vers Teile völlig unterschiedlicher Versionen des Dionysos-Mythos zusammen, wobei er Wert darauf legt, die von ihm bearbeitete Form des Mythos in den Vordergrund zu stellen: Nicht nur entsteht so eine Mischung der verschiedenen Dionysos-Rezeptionen aus dem gesamten Mittel‐ 136 4 Gaudés dionysische Dramen 45 In seinen Texten, insbesondere in OF, macht sich Gaudé einen zentralen Gesichtspunkt der Oralität, das Tradieren von Mythen, zu eigen. So unterstreicht er in einem Interview, wie wichtig ihm die orale Tradition der Literatur ist: „Débutant“, in: Le Matricule des Anges (28), Oktober-Dezember 1999, S. 6 f. meerraum, sondern Gaudé konstruiert zudem seinen ganz persönlichen Dionysos-Mythos. Da OF aus einem einzigen Monolog besteht, wird Gaudés Akzentuierung des mündlichen Vortrags auf der formalen Ebene deutlich. Indem er wie ein antiker Rhapsode verschiedene Versionen des Dionysosmythos miteinander verbindet, demonstriert Gaudé die orale Mythopoiesis. Die zahlreichen intertextuellen Verweise untermauern diese bricolage-Technik, ganz so, als wolle Gaudé seinen Text gerade für das gestrenge Urteil der Zuhörer beim mündlichen Vortrag wappnen: Die Zeit der Mündlichkeit war die Phase der ständigen und unmittelbaren Rückmel‐ dung des Erfolgs literarischer Mittel. Sie ist am ehesten den Ursprungssituationen der Rhetorik vergleichbar, bei der aber die konkrete Funktion Interesse und Auswahl der Hörenden bestimmt. Nichts ist schonungsloser für einen Text als der mündliche Vor‐ trag (Blumenberg 1979: 168). Die für Gaudé so fundamentale mündliche Tradierung ist für lange Zeit die vorherrschende textuelle Überlieferung, selbst in Hochkulturen: 45 „Die Reali‐ sierungsform der Texte kann mündlich oder schriftlich sein. Vermutlich hat in den meisten Kulturen lange Zeit die orale Tradition vorgeherrscht. Schriftlo‐ sigkeit bedeutet also nicht Textlosigkeit.“ (Metzeltin 1998: 30) Eben dieser Ent‐ wicklungslinie folgt die Tragödie - von einer langen Phase der ausschließlichen Mündlichkeit in die Schriftlichkeit, vom rituellen Kulttanz bis hin zur literari‐ schen Fixierung mythischer Stoffe -, wobei die rein mündlich agierenden Rhap‐ soden und die Dionysos verkörpernden Exarchonten am Prozess der Literari‐ sierung entscheidenden Anteil hatten. Eine literarische Darstellung von Mythen, die sich metafiktional, wie bei Gaudé, sowohl auf das kultische, epi‐ phanische Mythoserlebnis als auch auf eine rein literarische Mythopoiesis stützt, inhäriert folglich die Spannung zweier Wahrnehmungsformen: Es liegt auf der Hand, daß diese beiden Darstellungsformen jeweils durch einen grundverschiedenen Modus von ‚Wirklichkeit‘ legitimiert waren: Der Kulttanz prä‐ sentierte den Mythos als unmittelbare Gegenwart; die literarischen Gattungen, das Epos und die Lyrik, präsentierten ihn als durch den Bericht vermittelte Vergangenheit. Im Kulttanz fielen der Mythos und die jeweilige Gegenwart zusammen, und die Dar‐ bietenden waren mit dem Dargebotenen identisch; im epischen oder lyrischen Bericht 137 4.2 „Onysos le furieux“ traten der Mythos und die jeweilige Gegenwart auseinander, und der Erzähler dis‐ tanzierte sich vom Erzählten. Im Kulttanz stellten die Personen dar, im epischen oder lyrischen Bericht hingegen das Wort; in dem einen Falle wiederholte sich jeweils das mythische Ereignis selbst, im anderen nur das Abbild des als einmalig vorausgesetzten Geschehens. (Fuhrmann 1971: 141) In dieser Hinsicht macht Gaudés Verschriftlichung der mündlichen brico‐ lage-Technik der Rhapsoden, unter Anwendung der für die Exarchonten typi‐ schen Ich-Perspektive, das Drama um Dionysos zu einer intermedialen Reali‐ sierung, die mit der kultisch-mythischen und der mythopoietischen Repräsentation sowohl unterschiedliche Vortragsformen als auch die mit diesen Repräsentationsformen jeweils in Verbindung stehenden Wahrnehmungs‐ formen - der des Kairos und der seiner, über ihn reflektierenden narratio - vereinnahmt und damit eine besondere, spannungsgeladene Rezeptionssitua‐ tion des Dionysos-Mythos schafft. Dass sich Gaudés OF auf orale Überlieferung in der Tradition des antiken griechischen Mythos stützt, untermauert die Tatsache, dass das aus Prolog, sechs Gesängen (chants) und Epilog bestehende Stück episierende Tendenzen auf‐ weist. Durch die Verwendung epischer Techniken in einem Theaterstück wird nicht nur die Überschreitung von Gattungsgrenzen deutlich, sondern vielmehr der Rückgriff auf die Entstehung des Theaters durch den Dithyrambos, vorge‐ tragen von einem einzigen Schauspieler, der die Dionysos-Vita nicht stellver‐ tretend inszeniert, sondern sie selbst durchlebt und damit einen Erlebnisbericht liefert. OF wird damit zu einem Dionysos-Epos, sich aus vielen Quellen nährend und den Dionysos-Mythos fortschreibend - das Stück ist ein Dithyrambos in antiker Tradition, in dem der Schauspieler Dionysos selbst repräsentiert. Im Hinblick auf die Erzählhaltung der Figur des Onysos kann, wie in den von Ansgar Nünning untersuchten modernen Dramen, „durchaus von einer diskur‐ siven bzw. erzählerischen Vermittlung die Rede sein […]. Besonders klar wird dies, wenn konkret fassbare Erzählfiguren existieren, die, etwa in Prologen und Epilogen, als Aussagesubjekte fungieren und die Handlungsebene kommen‐ tieren.“ (Nünning 2002: 116) Aber nicht nur Onysos, sondern auch andere Cha‐ raktere Gaudés weisen deutliche Spuren eines epischen Rhapsoden im Theater auf. Vor allem die Figur der Rescapée ist hier zu erwähnen: Sie besorgt die er‐ zähldramatischen Züge von CM, da sie die Vorgeschichte zu ihrer aktuellen Befindlichkeit liefert. Meta-dramatisch ist ihr Monolog als Rahmenmonolog für ein Drama im Drama zu sehen. Dies trifft in besonderem Maße auf Prolog und Epilog in CM zu, die jeweils mit „Le récit de la Rescapée“ überschrieben sind. Die Rescapée ist der generative Erzähler des Stückes und zugleich für die me‐ tadramatischen Tendenzen verantwortlich: Sie speichert Erinnerung, indem sie 138 4 Gaudés dionysische Dramen sich tastend die Gesichter der Toten einprägt. Vergleicht man CM mit OF, ist jedoch ein deutlicher Unterschied auszumachen zwischen generativen, internen Erzählern, die Geschichten zum Drama beitragen und „monodramatischen Er‐ zählern, die - etwa im dramatischen Monolog - den gesamten Diskurs verein‐ nahmen.“ (Nünning 2002: 117) Beiden ist wiederum gemein, dass sie homodie‐ getische Erzähler sind, wobei der sogenannte generative Erzähler sich zwar innerhalb der Handlung befindet, aber „auf einer der Handlungsebene überge‐ ordneten Kommunikationsebene anzusiedeln“ ist (ebd.). Gaudé aber über‐ schreitet mit seiner Figur des Onysos die konventionellen Grenzen und schafft einen monologischen Erzähler, der sowohl intern und generativ als auch mo‐ nodramatisch ist. Hinzu kommt ein hohes Maß an Autoreferentialität, die Onysos auf mehreren Bedeutungsebenen des Textes zugleich beweist: Mittels der Reflexionen über sein Leben und die in seinem Lebensbericht verarbeitete Literatur sorgt der Erzähler für eine starke und durchgehende metafiktionale und metadramatische Komponente des Stückes - ein Phänomen, das Nünning in einem seiner erzähltheoretischen Aufsätze folgendermaßen festhält: Die besondere Bedeutung, die dem metatheatre bzw. metadrama aus der Sicht einer narratologisch orientierten Dramenforschung zukommt, beruht auf der Einsicht, dass sich dieser Typus durch Autoreferentialität und Selbstreflexivität auszeichnet, was häufig mit illusionsdurchbrechenden und episierenden Tendenzen einhergeht (Nün‐ ning 2002: 112). Da Onysos über die memoirenhafte Art seiner Lebensbeichte rezeptionsäs‐ thetische und intertextuelle Prozesse formuliert, greift, anhand der narratolo‐ gischen Charakterisierung von Gaudés Figur, die von Nünning entwickelte Ka‐ tegorie des memory play. OF kann damit als Erzähldrama charakterisiert werden, denn zu „den ‚Erzähldramen‘ zählen neben der Sonderform des epi‐ schen Theaters alle Stücke, die aus dem Monolog einer Figur bestehen“ (Nün‐ ning 2002: 123). Die Doppelung in der erinnernden Figur von einerseits hand‐ lungsorientierten und andererseits textorientierten Zügen begünstigt die Übertragung der fiktiven Autobiographie vom rein narrativen auf das szenische Medium. Der Schritt der Zusammenführung romanesker und dramatischer Züge hat aber seine Konsequenzen, vor allem hinsichtlich des bearbeiteten Ma‐ terials, des Lebensberichtes in monologischer Form: Denn die Überführung der fiktiven Autobiographie von der epischen in die dramatische Gattung endet in einer Konstitution des Dramas, die eine extreme Reduktion zur Folge haben muss - eine Reduktion der auf der Bühne präsentierten Textmenge, die der Roman keineswegs mit gleicher Dringlichkeit zu verfolgen hat. Der Lebensbe‐ richt muss aufgrund des eine Theateraufführung bis heute extrem begrenzenden 139 4.2 „Onysos le furieux“ 46 Die Nähe von Gaudés Romanen zum Theater findet auch im französischen Kulturbe‐ trieb ihre Bestätigung. In letzten Jahren wurden immer wieder Romane Gaudés zu Bühnenfassungen arrangiert. So dokumentiert das Theaterportal théâtre contempo‐ rain.net die Bühnenfassungen von Cris, La mort du roi Tsongor, Eldorado, Le soleil des Scorta und „Je finirai à terre“ (eine Novelle aus der Sammlung Les oliviers du Négus): www.theatre-contemporain.net/ biographies/ Laurent-Gaude/ spectacles/ ? start=0 (07.09.2018). Cris wurde zudem am 3. Mai 2017 in einer Inszenierung von der Professorin Sylvaine Guyot an der Harvard University aufgeführt: http: / / frenchculture.org/ visualand-performing-arts/ events/ cris-laurent-gaude-harvard (07.09.2018). Zeitrahmens auf bestimmte Eckpunkte hin verkürzt und im besten Falle inten‐ sivierend verdichtet werden. Dies kommt dem Ursprung des Theaters im Grie‐ chenland der Antike nahe, wo in theatralischen Zeremonien die besonderen Lebensabschnitte der verehrten Gottheiten, in Form höchster Präzision und Konzentration, dargestellt wurden. Die Frage des Theaterwissenschaftlers Jean-Paul Sarrazac, ob die Form des monologischen Theaters direkt auf diese Wurzeln zurückgreift, ist demnach eine rhetorische: Rien d’à priori plus encombrant et informe comme matériau théâtral qu’une vie qui se raconte, qui se débonde, qui se « vide » […]. Porter le vécu d’une personne à la scène, quand bien même cette personne revendiquerait le caractère dramatique ou tragique des événements de son existence, suppose la mise en place d’une forme des plus rigoureuses, d’une forme elliptique qui contienne et, même, contraigne la totalité de ce vécu. Une vie est extrême dilatation, extrême dispersion, et le théâtre réclame, en principe, la plus grande concentration. Si l’on fait abstraction de la démarche spé‐ cifique du « roman dramatique » […] où le théâtre, privé, dans le cadre du récit de vie, de la traditionnelle action dramatique, trouverait-il cette nécessaire concentration sinon dans le temps circulaire d’une cérémonie ? dans cette forme anté-dialectique et anté-dramatique, bref cérémonielle, qui le renvoie à ses propres origines ? (Sarrazac 1989: 120) Der Einfluss seines Lehrers Jean-Pierre Sarrazac ist nicht nur im dramati‐ schen Werk erkennbar; auch als Romancier zeigt Gaudé, besonders in seinem dritten Roman, Le Soleil des Scorta (SdS) - vier Jahre nach seinem Erscheinen bereits in mehr als 34 Ländern verlegt (Bisson 2008: 38) -, wie grundlegend ihm die intensivierende Komprimierung des récit de vie für die Entfaltung seines Erzählstils ist. Für die Familiensaga, die sich über fünf Generationen erstreckt, gestattet er sich - und hier ist seine Herkunft aus dem dramatischen Fach klar zu erkennen - gerade einmal um die zweihundert Seiten. 46 Der heute längst als epische Erzählform etablierte Roman gewinnt in dieser von Gaudé verursachten Spannungssituation zwischen antikem Epos und monologischem Dithyrambos eine Vermittlerfunktion; das Theater nähert sich dem Roman und der Roman 140 4 Gaudés dionysische Dramen wiederum dem Theater an: „Entre le récit de vie et la forme dramatique, le roman sert ici […] de médiateur; le théâtre, selon l’expression de Bakhtine, se « ro‐ manise » […].“ (Sarrazac 1989: 120). So gleicht sich auch die Figur auf der Bühne, die ihren Lebensbericht vorträgt, dieser Mischform an und wird zu einem dio‐ nysisch-doppelgestaltigen Mittler zwischen Roman und Drama: „Le sujet d’un récit de vie débordera fatalement, au théâtre, le traditionnel « personnage agis‐ sant »; il se dédoublera en une figure, apparemment plus passive, de personnage souvenant, c’est-à-dire de témoin de lui-même qui rend compte a posteriori de ses actes et de son existence.“ (ebd.) Betrachtet man die Struktur von Gaudés Theaterstücken, insbesondere seiner monologischen Dramen, sieht man, wie er gattungsmäßig sich gegenüberste‐ hende Erzählformen zueinanderführt. Der die monologisch angelegten Dramen konstituierende Lebensbericht einer Figur bildet eigentlich einen Gegensatz zum dialogischen, handlungsbetonten Theater, wie Sarrazac herausgearbeitet hat: La scène d’un théâtre est le dernier endroit où l’on s’attendrait à voir se dérouler un « récit de vie ». Du moins sous la forme d’un drame. Entre la problématique du récit de vie et la conception aristotélo-hégélienne de la forme dramatique, il existe en effet une double incompatibilité. D’une part, le drame est action et non point narration, il ressortit au mimétique plutôt qu’au diégétique, il n’est pas l’affaire du rhapsode mais celle de l’acteur; et, s’il y a des récits dans un drame, ils sont soigneusement circon‐ scrits, soumis à la structure générale de la relation intersubjective dialoguée, qu’ils n’interrompent un instant que pour mieux la renforcer. D’autre part, l’étendue du drame paraît inextensible à celle du récit de vie. (Sarrazac 1989: 119) Die von Nünning verwendete Terminologie des memory play ist vergleichbar mit dem von Sarrazac verwendeten Begriff des récit de vie. Auch Sarrazac hebt die Sonderstellung der epischen Tendenzen im modernen Drama hervor. Die epische Situation auf der Bühne wirkt für die Zuschauer zunächst, im besten Sinne Bertolt Brechts, befremdlich (Brecht 1963: 182 f.; 193 f.), da sie im Theater keine epische Lebensbeichte erwarten. Sarrazac führt diese Entfremdung auf die augenscheinliche Inkompatibilität zwischen der dialogischen Dramenform und des ausschließlichen Rezitierens einer Lebensgeschichte zurück. Doch gerade die mit der Spätaufklärung und Vorromantik in Mode gekommene autobiogra‐ phische Erzählform, die durch Rousseaus Confessions (1782-89) gleich zu Beginn ihren Höhepunkt erfuhr, bietet Gaudé in OF in fiktiver Version auf und begibt sich damit in ein Spannungsfeld von traditionell sich gegenüberstehenden Gat‐ tungen, der erzählungsorientierten, epischen und der handlungsorientierten, dramatischen Gattung. Diese Verbindung, aus der die Handlungskomponente 141 4.2 „Onysos le furieux“ immer weiter zurückgenommen wurde, ist seit dem théâtre de l’absurde geläufig (vgl. 4.1.7; 4.1.8). Bei Gaudés „Ein-Personen-Stück“ handelt es sich um einen Monolog, der auf einem einseitigen Erzähler-Zuhörer-Verhältnis aufgebaut ist. Onysos spricht als alleiniger Erzähler einen nicht näher definierten Zuhörer an und erzählt ihm seine Lebensgeschichte, unter dem eindringlichen Verbot, seinen epiphanischen Vortrag zu unterbrechen (OF, 10). Durch die fehlende Präzisierung des fiktiven Zuhörers und dessen offensichtliche Abwesenheit auf der Bühne rücken die Zuschauer in den Fokus der angesprochenen Person. Das erste Wort des Thea‐ terstückes unterstreicht seinen dialogischen und interaktiven Charakter: „Tu“ (OF, 9). Die konventionelle Unmöglichkeit für das Publikum, während einer Theatervorstellung am Bühnengeschehen zu partizipieren und Fragen zu stellen, wird durch den Kunstgriff der direkten Anrede des Onysos an die Zu‐ hörer aufgegriffen, denen er suggeriert, dass ihnen aufgrund seiner epiphani‐ schen Wirkung der Mund verschlossen bleibe: „Tu voudrais poser une question, peut-être plusieurs, mais tu ne peux pas. / Est-ce que mon visage et ma voix te font peur ? / La vieillesse de ma peau te répugne-t-elle ? “ (OF, 9 f.) Mit diesen phatischen, die Kommunikationssituation reflektierenden Kommentaren, hebt Onysos die besondere Situation seines Monologes hervor. Er hat sich den U-Bahnhof ausschließlich als atmosphärischen générateur seiner Erzählsitua‐ tion ausgesucht - ein unterirdischer Ort des hektischen und geschäftigen Trei‐ bens und des small talk zwischen Terminen wird so zur Bühne einer individu‐ alpsychologischen Studie: Tu te demandes ce que je fais là, sur le quai de ce métro. Les rames passent et je ne monte dans aucune. Toutes les quatre ou cinq minutes, des centaines de personnes descendent de ces wa‐ gons et je n’en hèle aucune, je ne cherche personne des yeux Et tu le sais puisque tu me regardes depuis longtemps. (OF, 9) Unter göttlicher Aufsicht wird das Stück, trotz oder gerade wegen des alltäg‐ lich anmutenden Schauplatzes, zu einem aus dem Alltag herausgehobenen Mo‐ nolog. Onysos lässt im metadramatischen Prolog denn auch keine Gelegenheit aus, die herausragende Bedeutung seines récit de vie explizit zu machen: „Laisse passer tous ces gens, / Laisse. / Aucun ne fait attention à nous.“ (OF, 10) In Tragödien sind Monologe oft dramatische Kulminationspunkte und werden als dramaturgisches Stilmittel eingesetzt. In dieser Hinsicht ist OF ein konzen‐ trierter dramatischer Höhepunkt. Durch den monologischen Charakter wird OF zu einem Mythos, zu einer antiken Erzählung - mit der Besonderheit, dass der Gott den Menschen selbst den Mythos seiner Lebensgeschichte erzählt. Die 142 4 Gaudés dionysische Dramen Spannung zwischen antikem und Alltagsmythos wird im ersten Gesang, dem dionysischen „chant d’origine“, aufgegriffen: Il m’est difficile de me souvenir de ma terre natale Parce que nous sommes ici dans une ville de lumières où les trottoirs bitumés sont jonchés d’ordures, de canettes de bière et de papiers sales, Où les hommes se pressent par milliers, où les voitures du matin au soir rugissent pare-chocs contre pare-chocs dans des crissements de pneus impuissants Alors que là-bas, il n’y avait qu’une poignée d’hommes et de femmes. (OF, 11) Der fest in der Gegenwart verortete Prolog hingegen wirkt zunächst bekannt und bewährt, birgt nichts Besonderes oder gar Spektakuläres: Ein alter Mann erzählt einem (fingierten) jungen Mann seine Lebensgeschichte. Gegen Ende des Prologs jedoch untermauert die Figur des Onysos sogleich den mythologisch überhöhten Rahmen; Onysos lässt an seiner dem antiken Dithyrambos gemäßen Verschmelzung mit dem Gott Dionysos keinen Zweifel, wodurch ihm, in my‐ thopoietischer Hinsicht, Unsterblichkeit und zirkuläre Wiederkunft einzu‐ räumen sind. Doch erst die konzentrierte mythologische Auskleidung der ge‐ wöhnlich anmutenden Kulisse macht die dionysische Lebensbeichte außergewöhnlich. Eine verwirrende Wechselbeziehung entsteht: Einerseits ver‐ setzt die Rezeption des Dionysos-Mythos den abgegriffenen Rahmen einer ste‐ reotypisierten Greisenerzählung in einen abstrahierend-literarischen Kontext, andererseits bewirkt die Verortung des vielfach rezipierten Dionysos-Mythos in die New Yorker U-Bahn eine Situation, die aus dem eintönigen Großstadtalltag ein besonderes, konkret spürbares Ereignis hervorbringt. David Nelting zufolge kulminiert die in den antiken Mythos eingebettete Großstadt in der artifiziellen Welt der U-Bahn, denn das unterirdische Netz der horizontalen wie vertikalen, sich stellenweise über‐ lagernden Streckenführungen und Gänge ist eine Extremversion des urbanen Textes […]: dieser urbane Subtext ist nicht lesbar, denn die zum Verstehen nötige Aufsicht ist unmöglich. Der Benutzer kann sich in dem unsichtbaren Netzwerk dieser Unterwelt, diesem nicht nur durch den Abstieg motivlichen, sondern auch die „selva oscura“ des ‚Großstadtdschungels’ intensivierenden semantischen Inferno, nur vermittels dem Objekt inadäquater Abstraktionen zurechtfinden. (Nelting 1996: 67) Der Monolog des Onysos bietet zwar durch direkte Ansprachen eines ange‐ deuteten Gegenübers die Möglichkeit eines Dialogs an („Tu écoutes mes récits“, OF, 22; „camarade“: OF, 11; 27) - Onysos gibt sogar an, dass er seinem Zuhörer ein Bier spendiert hat, das dieser im Laufe der Erzählung trinkt (OF, 22). Es meldet sich jedoch im gesamten Stück keine andere Stimme zu Wort. Durch das 143 4.2 „Onysos le furieux“ 47 Die Inszenierung von Emmanuel Besnault mit Jacques Frantz im Théâtre du Chêne Noir (Avignon, Februar 2012; Compagnie L’Éternel Été, Carpentras) verdeutlicht die Dialog‐ situation, indem sie Onysos einen zweiten Schauspieler gegenübertreten lässt, der immer dann erscheint, wenn Onysos die Rezipienten direkt anspricht. Das Portal théâtre contemporain des Centre de Ressources Internationales de la Scène (CRIS) bietet einen kurzen Filmausschnitt hiervon an: www.theatre-contemporain.net/ spectacles/ Onysos -le-furieux-5749/ videos/ (07.09.2018). von Onysos fingierte Gegenüber wird das Publikum folglich auf eine direktere Weise angesprochen, als es im Dialog zwischen Figuren auf der Bühne der Fall ist. So kann man den dithyrambischen Monolog des Onysos als Sonderform bezeichnen; der Vortrag des Onysos wird zu einer besonderen Dialogsituation mit dem Publikum. 47 Dies zeugt nicht nur vom Rekurs auf umwälzende drama‐ turgische Tendenzen um die Mitte des 20. Jahrhunderts, den Gaudés Vortrags‐ form vollzieht - man denke vor allem an die von Brecht geforderte Grenzüber‐ schreitung zwischen Bühne und Zuschauerraum (Brecht 1963: 222) -, sondern Gaudé greift mit dem dithyrambischen Monolog auch und gerade auf die dio‐ nysischen Wurzeln des Theaters zurück. Diese Zeitenthobenheit, die dem von Gaudé weitergetragenen Dionysosmythos innewohnt, kommt in OF ebenfalls heraus, wenn man sich die Erzähltechnik genauer ansieht: Die episodischen Erzählsequenzen greifen mythemartig ineinander und entziehen sich somit der chronologischen Einordnung. Onysos durchkreuzt den Erwartungshorizont des Zuhörers einer Lebensbeichte, indem er zwar eine persönliche Entwicklung aus seinem Bericht erkennen lässt, jedoch seine Lebensgeschichte gerade nicht in streng chronologischer Reihenfolge erzählt. Diese Demonstration der Macht des Erzählers über den Zuhörer passt ins Bild der dionysischen Grenzüberschrei‐ tung. Die immense Kraft, die zu haben Onysos sich beständig rühmt, wird in der Umgebung von Obdachlosen und dem regen Treiben auf dem Bahnsteig selbst zur Marginalie und damit umso unglaubwürdiger. Dies bewirkt eine Internali‐ sierung der bevorstehenden Epiphanie, die Onysos jedoch selbst, aufgrund seiner sich immer weiter ausprägenden menschlichen Züge, zurückhält. Die Erzählsituation des Onysos vermittelt denn auch den Eindruck einer fiktiven Autobiographie, ähnlich, wie sie die episodenhaften, bewusst subjektiv gehal‐ tenen pikaresken Romane aufweisen - mit der Spezialität, dass der die einzige Erzählinstanz verkörpernde Schelm (pícaro) Erlebnisse nach seinem Gutdünken verändern, hinzudichten oder gar erfinden kann (Bauer 1994: 10, 28 ff.; König 1986: 35 ff.). Dem entgegen bewegt sich jedoch die mythologische Isotopien‐ ebene, die derart dicht ist, dass von einer „echten“ Autobiographie des Dionysos auszugehen ist. 144 4 Gaudés dionysische Dramen Gaudé nimmt den Rahmen der Lebensbeichte äußerst ernst und macht deut‐ lich, dass er für den Bericht seines Dionysos durchaus Vollständigkeitscharakter beansprucht - der Bericht ab ovo endet mit gleichwohl deutlichen Todes- und Unsterblichkeitsallusionen (OF, 45 ff.). Es handelt sich folglich um eine voll‐ ständige Trieteris, wie sie bis weit in die römisch-hellenische Antike hinein von den Eingeweihten der Kultgemeinschaften nachgelebt wurde. Kennt man den Mythos und Kultus, der sich um Dionysos rankt, weiß man, dass dieser Tod eine Station des Kreislaufs unzerstörbaren Lebens markiert, folglich eine Vorausset‐ zung schafft, wieder leben zu können. Die zirkuläre Struktur unterstreicht aus formaler Sicht die Vollständigkeit der Erzählung und macht aus mythologischer Sicht deutlich, dass der dionysische Kreislauf sich durch ein erneutes Herauf‐ kommen des Gottes aus der Unterwelt fortsetzt - genau so will es die antike Überlieferung des Dionysos treterikós. Vor diesem Hintergrund wird OF zu einem Eckpfeiler in Gaudés Werk, da dieser Text die poetologische Grundlage seines Gesamtwerkes bildet. Darüber hinaus formen und verstärken die von Gaudé entworfenen dionysischen Gestalten den in seiner Literatur abgebildeten ontologischen Ansatz der grenzüberschreitenden Oppositionsvereinnahmung (vgl. CP, CM, MRT, SdS, Eldorado, La porte des enfers). So nährt Gaudé, der dionysischen Wandlungsfähigkeit getreu, all seine Stücke aus verschiedenen dramatischen Realisierungstechniken, die es ihm erlauben, den Rezeptionsprozess vorab zu steuern. Eine Figur wie Onysos ist durch ihre monologische Position als erzählendes Ich prädestiniert, metanarrative Ansätze zu kommunizieren, wie es Ansgar Nünning über die in den letzten Jahren ent‐ standenen Erzähldramen ausführt: Als Erzähler und Kommentatoren können Erzählerfiguren im Drama eine Vielzahl von Funktionen erfüllen, die in narrativen Texten von expliziten, als Sprecher fass‐ baren Erzählinstanzen übernommen werden. Erstens liefern sie mit ihren Angaben zur zeitlichen und räumlichen Einordnung des historischen Geschehens die deikti‐ schen Ordnungsschemata der dargestellten bzw. erzählten Welt, die sich im Falle von memory plays überhaupt erst in ihren Erinnerungen konstituiert. Zweitens über‐ nehmen Erzählfiguren im Drama oftmals weitgehend die expositorische Informati‐ onsvergabe, da sie die Figuren einführen und charakterisieren und die Handlung ge‐ rafft wiedergeben. Indem sie drittens das Geschehen aus der Rückschau und von seiner privilegierten Position aus vermitteln, kommentieren, analysieren und bewerten, tragen sie maßgeblich zur Rezeptionslenkung bei. Viertens können sie mit ihren selbstreflexiven, auf den Erzählvorgang bezogenen Äußerungen vermittlungsbezo‐ gene, phatische, appellative und metanarrative Funktionen erfüllen. (Nünning 2002: 123) 145 4.2 „Onysos le furieux“ 48 „Débutant“, in: Le Matricule des Anges (28), Oktober-Dezember 1999, S. 6. 49 „Entretien avec Jacques Frantz“ (propos recueillis par Sheila Louinet pour la Revue du Spectacle): www.theatre-contemporain.net/ spectacles/ Onysos-le-furieux-5749/ ensavoirplus/ idcontent/ 27132 (07.09.2018). Ein weiterer Ansatz zur Lesersteuerung, neben den metanarrativen Selbst‐ reflexionen des Onysos, ist der Reichtum an Stilmitteln, der erheblich zur rhe‐ torischen Untermauerung der Mythenbildung und Mythenrezeption beiträgt. Die Vielzahl der Enjambements in OF und in den Monologen von CP, CM und PC verweisen auf die Verse der antiken Gattungen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Gaudés Stücke anknüpfen an die antike Tradition, in der die Tragödien durch Einflussnahme der Chordichtung ebenfalls Versform aufwiesen. Das Drama um die moderne Dionysosfigur steht jedoch zwischen den drei klassi‐ schen Gattungen. Eine lakonische Stellungnahme Gaudés zur Frage nach der Gattung kann als selbstbewusste Feststellung des synkretistischen Formcha‐ rakters von OF interpretiert werden: „C’est plutôt à mon sens un récit poé‐ tique.“ 48 Gaudés vers libre, der weder einem Reimschema noch einem Versmaß folgt, erinnert durch den teilweisen Verzicht auf Satzzeichen und die asyndetischen Konstruktionen, die durch die vielen Enjambements weiter intensiviert werden, an die moderne Lyrik. Jacques Frantz, ein französischer Schauspieler, der in einer vielbeachteten Inszenierung von Emmanuel Besnault den Onysos gab, be‐ zeichnet Gaudés Sprache in OF als „une espèce de langage post-claudélien.“ 49 Die Dichte von Gaudés Mythencollage zeigt sich immer wieder an Passagen, die in asyndetischen Aneinanderreihungen von diversen dionysischen Emblemen kulminieren. Gleichwohl vollzieht sein drame lyrique durch die sprachliche Ver‐ einfachung auf der formalen Ebene eine Gegenbewegung zur mythologischen Bedeutungsaufladung, wie es sich unter anderem in der folgenden Sequenz zeigt: „Je suis le loup, le lion, l’ours et le chacal.“ (OF, 12) Solche, von der Span‐ nung zwischen Form und Inhalt zeugenden Aufzählungen stehen meist zwi‐ schen erzählenden Passagen, die ihrerseits wiederum eine hohe Verdichtung des mythischen Materials aufweisen. An dramaturgisch signifikanten Stellen der Erzählung greift Gaudé gerne auf Assonanz, Anapher und sogar Reim zurück (vgl. OF, 20). Der appellative Cha‐ rakter solcher Stellen lässt das signifikante, reziproke Zusammenspiel von Form und Inhalt deutlich erkennen, einerseits durch den mythologischen Hintergrund der kultischen Dionysosanrufung zur Feier seiner Auferstehung und anderer‐ seits durch die unwiderstehliche Anziehungskraft der dionysischen Rufe: Elles sortent maintenant car l’appel est trop fort. 146 4 Gaudés dionysische Dramen Elles se lèvent dans la nuit, à l’insu de leur famille et déverrouillent les portes. Elles sortent. (OF, 16; eigene Hervorhebungen) Auch die diaphasische Komponente von Gaudés Sprache fungiert als Eingriff in den Rezeptionsprozess des Dionysos-Mythos, da sie nicht nur von der lyri‐ schen Auskleidung mancher Passagen lebt, sondern auch zwischen komplizier‐ teren Konstruktionen mit ausgesuchtem Vokabular und Formulierungen hin- und herwechselt, die bis in den Argot hineinreichen (vgl. OF, 23). Als achtete er peinlich genau auf die Einhaltung des aptum der antiken Rhetorik, begibt sich Gaudé immer nur dann in die „Unterschicht“ der Sprache, wenn sie mit einer kreatürlichen Szene Hand in Hand geht (vgl. OF, 30). Gaudés Sprache ist somit ein Reflex auf die Gemüts- und Wesensverfassung des Onysos. Ein besonders markantes Beispiel dieses Spannungsaufbaus mithilfe gegensätzlicher Sprach‐ register sei hier gegeben - Ausdruck der für Gaudé typischen Juxtaposition der Gegensätze: „Quelques chèvres bondissent de rocher en rocher et montent sur des à-pics inaccessibles aux hommes. / Parfois, une d’elles se tord la patte et roule dans le ravin, / Chute d’aigle dans une frayeur ovine. / On la retrouve déchirée par les rochers plusieurs semaines après, cela pue la mort et fait tourner les corbeaux.“ (OF, 12) Verschmelzungspunkte der stilistischen und formalen Charakteristik von Gaudés Stücken sind immer wieder an der (meta)textuellen Oberfläche auszu‐ machen. An solchen Stellen laufen zugleich Züge der drei klassischen Gattungen zusammen, was sich beispielsweise anhand der von Gaudé gewählten Bezeich‐ nung (chants) für die Akte des Dramas zeigt, die wiederum auf die epische, orale Realisierungsform von Literatur anspielt. Die antiken Rhapsoden „nähten“ aus dem von ihnen Gehörten und Gelernten ihren eigenen Stoff förmlich zusammen (von gr. rhaptein: ‚zusammennähen‘), trugen ihn singend und zumeist in Be‐ gleitung einer Lyra vor und sorgten, durch die Lande ziehend, für die Fortset‐ zung der Mythenüberlieferung. OF schreibt sich damit in die antike Tradition der Arbeit am Mythos durch epischen Vortrag ein. Gaudés dramaturgische und lyrische Verdichtung des ihm zur Verfügung stehenden epischen Materials be‐ stätigt zugleich die These des Mythenforschers Fritz Graf: „Der Mythos trans‐ zendiert die einzelne epische Ausgestaltung.“ (2004: 62) 147 4.2 „Onysos le furieux“ 4.2.3 Ekphrasis der Ekstase - der Text als (Stadt-)Labyrinth Grundlage für die Momentanrealisierung von Gaudés Version des Dionysos‐ mythos sind Naturereignisse, die Entstehung und Vernichtung repräsentieren und die zudem den Anspruch auf Bedeutsamkeit der dionysischen Erzählung unterstreichen. Durch die Begegnung des gegenwärtigen Moments mit antiken, überlieferten Mythen festigt Gaudé die Schaffung einer eigenen, primär im li‐ terarischen Ambitus bestehenden Welt. Diese Intertextualität im weiteren Sinne ist es, mit der Gaudés bricolage, um mit Blumenberg zu sprechen, die „Unüber‐ bietbarkeit der ästhetischen Festlegung“ erlangt (1979: 77). Gaudés Technik ist ein sich in der Literatur äußerster Beliebtheit erfreuender Vorgang zur Mythi‐ sierung eines fiktiv herausgearbeiteten Geschehens, das zur Schaffung einer eigenen, literarischen Umgebung dient: Die Überhöhung geschichtlicher Ereignisse durch die Gleichzeitigkeit kosmischer Spectacula hat etwas mit der Erwartung oder Unterstellung zu tun, die Geschichte würde, wenn schon nicht vom Menschen, so doch für den Menschen gemacht. Das ließ sich ihr noch besser ansinnen, wenn der Mensch nicht als das Subjekt der großen und schicksalhaften Ereignisse, sondern eher als mitwirkende Figur in einem weit‐ gespannten Zusammenhang erschien. Deshalb fällt der Akzent der vermeintlichen kosmischen Bestärkungen oder Warnungen vorzugsweise auf Geburt und Tod als auf den „natürlichen“ Anteil an der Geschichte, dessen vorgegebenen Spielraum Hand‐ lungen gleichsam nur ausfüllen. (Blumenberg 1979: 119) In OF baut Gaudé den Gegensatz zwischen Großstadt und Dorf zur Basis seiner oppositionsvereinnahmenden Dionysosrezeption aus. New York, die Wahlheimat des Onysos, steht seinem Geburtsort, Tepe Sarab im mythisch ent‐ legenen Zweistromland gegenüber. Die Lehmhütten von Tepe Sarab (OF, 11) stehen für die chthonische Urkraft seiner göttlichen Herkunft und bilden eine Opposition zu den Wolkenkratzern der Weltmetropole. Gerade in diesen bauli‐ chen Unterschieden, die in den konventionellen Dionysosmythen nicht mit dem Gott in Verbindung gebracht werden, liegt die Gaudé’sche Neuschöpfung des Dionysosmythos. Nicht nur die Aussage des Onysos, für New York geboren zu sein, verbindet die beiden Orte miteinander, sondern auch die chthonischen Kräfte, die Gaudés Dionysos an beiden Orten wirken sieht: „Je suis né d’abord, j’ai erré à la recherche d’un endroit à ma taille, et je ne l’ai trouvé que maintenant, très longtemps après, à l’instant presque de mourir. / Mais maintenant je sais, et je peux dire que je suis né pour New York.“ (OF, 10) Neben Tepe Sarab setzt Gaudé das antike Babylon dem New York des 21. Jahrhunderts gleich - ein berühmter Vergleich; so schrieb schon Federico García Lorca in einem Brief aus New York an seine Familie (1929): „París y Londres son 148 4 Gaudés dionysische Dramen dos pueblecitos si se comparan con esta Babilonia trepidante y enloquecedora“ (García Lorca 1997: 615). Die Analogie zwischen Babylon und New York äußert sich immer wieder im Text, und Onysos wird nicht müde, New York als die moderne Version der Stadt zu loben, die dem dionysischen Wesen in höchstem Maße entspricht: „Aujourd’hui je regarde New York et je me rends compte à quel point cette cité me ressemble et à quel point j’y suis bien.“ (OF, 21) New Yorks sprichwörtliche Multikulturalität, die an das babylonische Sprachenge‐ wirr erinnert, wird von Onysos freudig bestätigt und als Erfolg der verbindenden und allumspannenden Wirkung des Dionysischen sowie als weiterer Anhalts‐ punkt für die Analogie zwischen der antiken Metropole und der modernen Weltstadt betrachtet: Arméniens, Juifs, Coréens, Cubains, le monde est là, le monde entier entassé à New York, Comme à Babylone autrefois. Même frénésie. C’est l’opulence et la misère, côte à côte, bouche à bouche. Le riche et l’indigent. Chaînes en or et sans abris. C’est ma ville, je le comprends maintenant. Je peux tout faire ici. (OF, 21) Gerade diese dionysischen Aspekte des unaufhörlich pulsierenden und lär‐ menden New York sind es, die Onysos zum Helden der Stadt machen: „Je vais me faire connaître et j’en serai bientôt le maître, car cette ville est faite à ma dimension, / Elle grouille comme moi.“ (OF, 22) Die in der Alltagsaktualität New Yorks möglichen Grenzüberschreitungen bereiten der zeitlich wie räumlich un‐ begrenzten Herrschaft des Onysos den Weg. Gaudé nutzt seine Figur als Bildner reflektiver Analogien, um den Dionysosmythos poetologisch untermauert weiter zu erzählen: Er bettet den Dionysosmythos in die heutige Zeit ein, indem er seine ununterbrochene Fortschreibung exemplifiziert. Die U-Bahn-Station ist eine Anspielung auf die Höhle, in der Dionysos in seiner Jugend zu weilen verurteilt war. Doch selbst diese Allusion wird nicht einfach nur formuliert, sondern mit Isotopien ausgebaut und zu einer Analogi‐ ensequenz weiterentwickelt: Onysos gibt an, dass ihn die Neonbeleuchtung stark blendet, da er lange Zeit völlige Dunkelheit um sich hatte. Der U-Bahn-Schacht wird zum neuzeitlichen Derivat der delphischen Felshöhle am Fuße des Parnass, das Neonlicht zur artifiziellen Imitation des Sonnenlichts über dem heiligsten Ort des antiken Griechenland. Gaudé demonstriert mit dieser Konzeption die Funktionsweise der Arbeit am Mythos - ein Plädoyer dafür, dass 149 4.2 „Onysos le furieux“ der Dionysosmythos bis in die heutige Zeit hin aktuell und fest im Alltagsleben verankert ist. Was wie ein kompletter Anachronismus erscheint, erweist sich als realitätsnahe Szene einer Nacherzählung des Dionysos-Mythos im modernen Rahmen des Zeitgeschehens. In der Mythologie ist Dionysos oft ein heimatloser Gott, der umherziehen muss, verfolgt und entführt wird und an vielen Orten zunächst auf Ablehnung stößt. Obwohl seine Grundeigenschaften der Rauschwirkung, der erotischen Abenteuer und der ausschweifenden Feste fast überall mit Begeisterung prak‐ tiziert werden, findet er unter den Gruppierungen, die der Rauschwirkung ver‐ gorener Getränke entsagen, seine stärksten Widersacher. Mithilfe der dionysi‐ schen Grundeigenschaft der Heimatlosigkeit schafft Gaudé eine neuzeitliche Analogie zu Dionysos, indem er ihn als Obdachlosen in New York neu erschafft. Es ist eine neuzeitliche „Confession d’un dieu sans domicile fixe“. An Onysos wird, in Stellvertretung für Dionysos, exemplarisch die Bearbeitung eines My‐ thos durchgeführt. Hierzu geht Gaudé auf die einfache Landbevölkerung zurück, die begann, die Mythen über Dionysos zu formen. Überdies geht er auf die An‐ nahme ein, dass Dionysos seine „Urankunft“ auf dem Lande feierte, der Diony‐ soskult folglich zunächst außerhalb der Städte gepflegt wurde, bevor die dio‐ nysischen Dithyramben auch an den heiligen Stätten der griechischen Polis vorgetragen wurden (Kerényi 1994: 97). So geht in OF die Bewegungsrichtung der Ankunft des Dionysos von der Natur zur Zivilisation. Überdies erfolgt die grundlegende Vorbereitungsphase der Ankunft stets in einer gemeinhin künst‐ lerisch sehr produktiven Zeit, der Nacht: Lorsque je me suis senti prêt, j’ai commencé à rôder autour des villages, comme le font les chacals. J’ai hanté les faubourgs, la nuit Et les villageois ont eu à s’habituer à ma présence. Ils ont commencé à parler de moi, certains m’avaient aperçu, un soir furtivement. Les récits se sont construits. Ils se sont demandés qui était cet homme à moitié nu qui venait les provoquer la nuit jusqu’aux frontières de leur village, et si c’était un homme ou autre chose. (OF, 15) Die vielen möglichen Landungspunkte des Dionysos unterstützen Gaudés Realisierung der vielfachen Präsenz und Wanderung des Onysos (Kerényi 1994: 100 ff.). Gaudé geht besonders auf den heftigen Widerstand ein, der Dionysos direkt nach seiner Geburt aus allen Richtungen entgegenschlug, sowohl von menschlicher als auch von göttlicher Seite: „Je ungestümer sein Wesen ist, je bedingungsloser die Person den Menschen in Anspruch nimmt, um so hartnä‐ ckiger muß die Weigerung und die Gegenwehr sein.“ (Otto 1980: 72) Da Dionysos 150 4 Gaudés dionysische Dramen durch seine Widersprüchlichkeit selbst die menschlichen Denk- und Ordnungs‐ muster sprengt, ist die Reaktion der auf Gewohnheiten ausgerichteten Men‐ schen ein heftiges Abwehrverhalten. Dionysos fordert die menschliche Abwehr nicht heraus; es liegt am Menschen selbst, sich dem Gott zu widersetzen. Um dionysische Freiheit in Gefolgschaft des Gottes zu erlangen, muss der Mensch über alle seine konventionellen Vorstellungen hinwegsehen, sie überwinden. Damit macht er sich selbst zur Zielscheibe der noch konventionell Denkenden, die damit automatisch zu Dionysos’ Gegnern werden, und muss mit demselben Schicksal rechnen wie der Gott: Verfolgung mit möglicher Todesfolge. Der Wahnsinn, der erst die grenzenlose Freiheit bringt, treibt die von Dionysos Ein‐ genommenen zugleich dazu, wehrlos Ausgelieferte zu zerreißen. Wer Dionysos nachfolgt, nimmt das dionysische Schicksal auf sich, ist als sterblicher nicht vor der Endgültigkeit des Unterweltverbleibs gefeit. Ekstase ist der primäre Wirkungskanal der dionysischen Epiphanie; und ge‐ rade Rauschwirkung und sexuelle Erregungszustände sind es, welche die Grenzen zwischen Menschen und Göttern zu sprengen imstande sind. Daher ist die von Dionysos ausgehende sexuelle Begierde bei Gaudé zugleich einer der menschlichen Züge des Dionysos: Je me souviens de chacune de nos cambrures, De chaque murmure de ta chair Et je donnerai la vigne et mon thyrse, je donnerai mon magnétisme et Les souvenirs d’Egypte, Pour connaître encore La syncope mouillée De nos décharges simultanées. J’ai passé trop peu de nuits Là, au creux de tes cuisses, Dans l’immensité feuillue de ton vagin J’ai sué de trop peu de secousses Et vu trop peu tes lèvres frémir. (OF, 34 f.) Die Jagd ist neben der Verbreitung sexueller Begierde eines der dionysischen Elemente, die Gaudé als Leitmotive einsetzt. Im dionysischen Rausch werden die Mänaden der Überlieferung nach zu Jägerinnen, die alles zerreißen, was ihnen in die Quere kommt und das rohe Fleisch ihrer Beute verschlingen. Sie verkörpern den Topos mundus inversus (Euripides 1958: 131 f.; 134 f.): Comme il fallait manger, J’ai chassé certaines nuits. Les bêtes que j’ai égorgées, je les ai dépecées et j’ai offert ces lambeaux de chair rouge à la bouche de mes femmes. 151 4.2 „Onysos le furieux“ Leurs dents étaient baignées de sang et elles riaient de démence. Femmes de chair. Femmes de foutre. Elles dansent de tout leur corps, Leurs déhanchements saccadés ne cessent qu’à l’aube. Toute la nuit, possédées par le soufre et la sueur, elles tournent sur elles-mêmes, se griffent la peau de jouissance. Les hommes, là-bas, dans leur baraque de terre, parlent d’orgie Et ils n’ont pas tort. J’essaie de les contenter toutes, mais les forces vives s’épuisent parfois et je dois, devant leur appétit, les laisser se caresser de tous leurs doigts de femme et s’enduire des unes les autres de leur foutre rougi par le sang des bêtes dépecées. Les hommes d’abord se sont révoltés. Mais ils ne peuvent rien. (OF, 16 f.) Aus dieser umwälzenden Wirkung heraus ergibt sich der Kern der lösenden, befreienden Kraft des Dionysos lysios, welche die Verhältnisse nicht immer nur ins Chaos wendet, sondern sehr oft schlicht umordnet. Somit ist Dionysos lysios das Gegenstück zur martialischen Politik der Unterwerfung vieler Herrscher: THEIRESIAS. […] Er eignet auch von Ares einen Teil sich zu, denn wenn ein Heer in Waffen kampfgerüstet steht, schreckt Furcht es auseinander, eh’s die Lanze hob: Auch dieses ist ein Rasen, das Dionysos schafft. (Euripides 1958: 103) Die Doppelbödigkeit der rauschhaften „Tollheit“ beinhaltet stets ein Höchstmaß an individueller Befreiung in jeglicher Hinsicht. Bereits zur Geburt des Onysos gibt es ein ausschweifendes, orgiastisches Fest, bei dem selbst Ino, in OF die Mutter des Onysos, betrunken ist und am Bacchanal teilnimmt. So hat Onysos bereits unmittelbar nach seiner Geburt eine rauschhafte Wirkung auf seine Um‐ gebung, womit Gaudé verdeutlicht, dass die dionysische Macht mit der Geburt beginnt: „Ino et Athamas sont ivres. / La jeune mère s’est remise. / La sueur des contractions a vite séché. / C’était il y a deux heures à peine, mais elle n’y pense déjà plus. Elle veut jouir et danser et Athamas, le père de chair, veut boire et hurler.“ (OF, 12) Da Dionysos viele gegensätzliche Eigenschaften in sich vereint, nutzt Gaudé die synthetische Kraft des Dionysos-Mythos für seine eigene, eigenwillige Zu‐ sammensetzung aus. So verbindet er beispielsweise das raubtierähnliche Ge‐ schrei des Dionysos mit der anziehenden und gleichzeitig Ehrfurcht einflö‐ ßenden Wirkung seiner Rufe auf die Frauen: „Seul dans la nuit mésopotamienne, je pousse mes premiers hurlements de jaguar qui font fuir les animaux et 152 4 Gaudés dionysische Dramen trembler les lèvres des femmes.“ (OF, 14) Die sowohl männlichen als auch weib‐ lichen Züge des Dionysos und seine Verkleidung, um ihn vor der Rache der Hera zu schützen, werden von Gaudé in einer Passage rezipiert, in der er den Syn‐ kretismus und die wechselnde Geschlechtlichkeit als Markenzeichen des un‐ konventionellen Gottes herausstreicht (Paglia 1992: 89): „Je me suis travesti pour l’occasion, / Pour que l’on ne me prenne pas pour un de ces grands conquérants superbes. / J’ai le visage fin, les traits efféminés, on dirait une vraie putain. / Je conduis mon armée de va-nu-pieds, fier comme une prêtresse en rut, sur mon âne. […] Je suis belle.“ (OF, 18) Die Kulmination der weiblichen Züge des Onysos liegt in der weiblichen Form des Adjektivs („belle“); Gaudé präsentiert seinen Dionysos als einen Grenzüberschreiter, dessen ständiges Déguisement anhand seiner sprunghaft wechselnden Sprachregistrierung stets präsent ist. Genau die weiblichen Züge des Dionysos sind es, die Baeumer zum Anlass nimmt, den Kern der dionysischen Existenz in der Verwandlung zu sehen: Die eigentümliche Rolle des Weiblichen im Mythos und in der Verehrung des Dionysos hat der Forschung manches Rätsel aufgegeben. So eng ist der Gott mit den Frauen verbunden, dass seine Natur weibliche Züge trägt. Seine bildliche Darstellung vom Typ eines älteren, bärtigen Mannes in langem Gewand hat sich schon früh zu dem eines schönen, aber unathletischen und weichlichen Jünglings gewandelt. Nicht in männlichem Kampf siegt und triumphiert er, sondern immer in verwandelter Gestalt. (Baeumer 2006: 29 f.) Gaudé beschreibt feinfühlig und subtil die Macht des Dionysos als Gott der im Menschen wirkenden sexuellen Begierde. Durch die Epiphanie sind die Frauen Onysos absolut hörig. Die phallische Wirkung erfüllt die Frauen von innen heraus mit Energie, und sie verwandeln sich in Mänaden, die alle Kon‐ ventionen von sich werfen. Es wird klar, dass die göttliche Macht des Dionysos, nicht wie bei den übrigen olympischen Göttern, von ihm selbst ausgeht, sondern dass er den Menschen seinen Willen aufzwingen kann: Chaque nuit je revenais. Chaque nuit, maintenant, je descends de mon refuge de bête sauvage, j’envahis les petites rues de leur village de misère et je hurle à la mort. Il m’a suffi de quelques nuits. Les femmes ont senti naître en elles, au fond du ventre, dans les entrailles de leur corps, une chaleur incandescente. Cela ressemblait à la chaleur du vagin mais cette brûlure nouvelle ne connaissait pas d’apaisement. Les femmes, je les tiens éveillées toute la nuit. Elles ne dorment plus et n’appellent plus à elles leurs enfants peureux. 153 4.2 „Onysos le furieux“ Tout contact avec un être de chair leur est maintenant insupportable. Elles tremblent et roulent des yeux de feu. Je continue. Elles sortent. Je les emmène. Nous montons le long des petits sentiers de rocaille encombrés de fougères et la mon‐ tagne se peuple de nos présences farouches. Tout le long de la montée, elles arrachent leurs vêtements, parce que le tissu leur brûle la peau. Une horde de furies danse autour de moi. Je constitue mon armée. Elles sont nues et se saisissent les cheveux à deux mains. Tout ébouriffées, tout écarquillées de jouissance, elles dansent et font trembler les roches des monts Zagros. C’est une musique étrange, oui, et les danses sont violentes. Les hommes ont peur, ils disent que la bête des montagnes a le pouvoir de rendre folles leurs femmes, Et ils n’ont pas tort. (OF, 16) Die von Gaudé inszenierte Dionysosepiphanie ist besonders stark in ihrem Hereinbrechen in die gegenwärtige Alltagswirklichkeit ausgeprägt, was beson‐ ders an den zu untätigem Zusehen gezwungenen Männern deutlich wird. Daher liegt es nahe, die so konstituierte Epiphanie als Chiffre für ein Phänomen der gegenwärtigen, reizüberfluteten Gesellschaft zu sehen, über die diese Epiphanie hereinbricht. Durch die eigentümliche Monologsituation inmitten des geschäf‐ tigen, rastlosen Treibens einer gestressten Masse bleibt das mythische Ereignis beinahe unbemerkt - Onysos muss erst explizit auf seine Epiphanie hinweisen: „Et oublie ces grappes d’hommes et de femmes qui se déversent sur le quai, ces hordes de noyés ne nous dérangeront pas. / Onysos va parler.“ (OF, 10) Jedoch gerade auf diese Weise bettet sich die Dionysosepiphanie umso fester in die Alltagswirklichkeit der pulsierenden Metropole ein, um so ein Mythos des All‐ tags zu werden (Barthes 1957). Vielleicht fühlt sich Onysos deshalb so wohl in New York, weil die Stadt als Ausgeburt des modernen Labyrinths gerade die Lebenssituation vorspielt, die er mit all seiner Lebenserfahrung als erzählendes Ich beschreibt und die von Jean Baudrillard treffend zusammengefasst wird: Wollte man den gegenwärtigen Stand der Dinge benennen, so würde ich sagen, wir befinden uns nach der Orgie. Die Orgie ist der explosive Augenblick der Moderne, der Augenblick der Befreiung in allen Bereichen. Politische Befreiung, sexuelle Befreiung, Entfesselung der Produktivkräfte, Entfesselung der destruktiven Kräfte, Befreiung der 154 4 Gaudés dionysische Dramen Frau, des Kindes, der unbewußten Triebkräfte, Befreiung der Kunst. Hochjubeln aller Repräsentations- und Antirepräsentationsmodelle. Es war eine totale Orgie des Realen, des Rationalen, des Sexuellen, des Kritischen und Antikritischen, des Wachstums und der Wachstumskrise. Wir sind alle Wege der Pro‐ duktion und virtuellen Überproduktion der Objekte, der Zeichen, Botschaften, Ideo‐ logien und Vergnügungen gegangen. Heute ist alles befreit, das Spiel ist gespielt, und wir stehen gemeinsam vor der ent‐ scheidenden Frage: Was tun nach der Orgie? (Baudrillard 1992: 9) Im vierten Gesang scheint Onysos sodann endgültig in der Gegenwart ange‐ kommen; er schildert eine alltäglich anmutende Szene des Drogenverkaufs im U-Bahn-Untergrund und den anschließenden Rauschgiftkonsum (OF, 39). Einen Obdachlosen, der am Bahnsteig gegenüber Drogen konsumiert, beneidet er um die menschliche Errungenschaft der Rauschwirkung. Dass der Abhängige sich eine Spritze gibt, ohne vor der großen Öffentlichkeit der großstädtischen U-Bahnstation zurückzuschrecken, beeindruckt Onysos und beschwört in ihm Nostalgie herauf: Allein mit sich und dem Schiff auf den unzähligen Überfahrten, hätte sich Onysos auch eine Spritze gesetzt - für Gaudés Dionysosfigur gibt es konsequenterweise keine Anachronismen. Die Drogeninjektion ist für Onysos ein modernes Medium der dionysischen Verzückung; so wird die Beschreibung ihrer Rauschwirkung durch die parallelistische Satzstruktur zu einem gebets‐ artigen Lobgesang verklärt - eine von Gaudé markant eingesetzte Ambiguisie‐ rung des aptum, zwischen einem Höchstmaß an suchtgebender Versklavung, dem Abgrund der menschlichen Existenz und der absoluten Freiheit durch die Programmierbarkeit der Individualekstase: Si j’avais eu comme lui la possibilité d’acheter ce qu’il achète, Si j’avais pu comme lui me brûler la cervelle par les veines, J’aurais pris moi aussi cette liqueur et je me la serais plantée au creux du bras. Mais j’étais seul sur une barque, Calciné par les feux du deuil. C’est sur cette barque que j’ai commencé à vieillir. C’est sur cette barque que mon visage a connu ses premières fatigues. (OF, 39 f.) Hier kommt die dramaturgische, schauspielerische Eigenschaft des Onysos zum Tragen. Ist im antiken Drama der Darsteller nicht Medium, sondern der Gott selbst, zeigt Onysos hier jedoch die „menschliche“ Seite des Darstellers, der im modernen Verständnis die Rolle des Dionysos verkörpert, und zugleich, im antiken Verständnis, mit dem Gott verschmilzt. Diese Verquickung von Antikem und Alltäglich-Modernem zeigt, dass Gaudés Bearbeitung des Mythos zeitent‐ hoben ist, ohne dass die Literatur, die ihn verwendet, es auch wäre - im Ge‐ 155 4.2 „Onysos le furieux“ genteil, gerade die bewusste Setzung von Anachronismen beweist die konstante Verarbeitung von Mythen, gerade auch in einer Zeit, in welcher der Mythos selbst wie ein Anachronismus erscheint. Hierdurch bestätigt Onysos-Dionysos die „ikonische Konstanz von Mythologemen. […] Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, dass sie immer wieder überzeugen, sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins an‐ bieten.“ (Blumenberg 1979: 166) In OF findet sich eine Passage, die besonders auf die dionysische Wirkung anspielt, im Menschen eine ekstatische, rasende Wut zu entfachen, die selbst vor Familienmitgliedern nicht halt macht. Da Onysos als Dionysos verkör‐ pernde Figur selbst in die Szene involviert ist, erhält die Passage eine besondere Brisanz und dient Gaudé zur Unterstreichung der menschlichen Eigenschaften des Dionysos, die sich im Laufe des Dramas stetig verstärken. Gaudé realisiert dies mit einem Verweis auf die Stadt Akkon, in der Antike eine wichtige phö‐ nizische Hafenstadt, die auch während der Kreuzzüge ein wichtiger strategi‐ scher Punkt sein wird (Hauf 2003: 32 f.). Séléna, die Tochter Maradors, König von Akkon, rächt sich an ihrem Vater, da er ihre Liebe zu Onysos zeitlebens abgelehnt hat. Die im folgenden Zitat angewendete Litotes unterstützt die sprachliche Realisierung des steten dionysischen Zerstörungspotentials. Vom dionysischen Geist erfüllt, zeugt Séléna von einer aus der Unterwelt herauf‐ kommenden Kraft. Die Szene drückt auch den Mythosglauben der antiken Ge‐ sellschaft aus, nach dem Tote in der Unterwelt nicht zur Ruhe kommen und die Lebenden heimsuchen, solange Differenzen zwischen Menschen im Diesseits nicht geklärt sind. Die chthonische Kraft des Dionysos, auferstehen zu lassen und damit die Grenze zwischen Ober- und Unterwelt und zu sprengen, wird hier besonders deutlich: Il n’est pas impossible que Séléna elle-même, à cet appel, se soit levée et se soit jetée sur son père, agrippée à lui, par ses jambes et ses bras, comme un insecte, lui dévorant le nez et le visage de sa bouche affamée de morte. […] Le cercueil de Séléna avait chaviré et j’ai vu, une dernière fois, son visage livide me sourire pour cette vengeance sanglante. (OF, 36) Der Dionysosmythos bietet nicht nur inhaltlich eine Fülle von Rezeptions‐ formen, sondern birgt bereits eine metaliterarische Komponente in sich. Da Di‐ onysos der Gott des Theaters ist, vollzieht man mit der Schreibung eines jeden Dithyrambos einen metatheatralischen Akt, man schreibt die mythisch-thea‐ tralische Tradition fort. So ist OF Theater im Theater, und Gaudé kann Onysos allmählich seine Fähigkeiten als Schauspieler entdecken lassen. Als göttliches 156 4 Gaudés dionysische Dramen Wesen kann Onysos selbstverständlich vorgreifen und das vorspielen, was später geschehen wird. Damit offenbart Onysos sowohl auf intratextuellem als auch auf metatheatralischem Wege die Technik der Prolepsis und weist zugleich auf die antiken Ursprünge des Theaters zurück, als die Analogie zu den Ora‐ kelsprüchen noch greifbar war. Hieraus ergibt sich, dass sich Gaudés Dionysosfigur im sechsten und letzten Gesang von OF als selbstbewusster Entdecker und Erfinder des Theaters aus‐ geben kann. Die Figur des Onysos hebt die epische Ausprägung des Theaters hier besonders hervor, indem sie die Entstehung des Theaters in die my‐ thisch-epische Handlung der Ilias einbettet und zum Bestandteil eines rhapso‐ dischen Vortrages macht. Selbstbewusst schreibt sich Gaudé in die antike my‐ thologische Tradition ein, auch weil er in diesem mythischen Rahmen der Urerzählung der hellenistischen Kultur seine eigene, mythopoietische und grenzüberschreitende Theorie der Entstehung des Theaters liefert. Nach der Version seiner Dionysosfigur wird das Theater von Dionysos selbst aus der Taufe gehoben, am Vorabend des Sieges der Achaier über die Trojaner. Gaudé suggeriert, dass die dem Tod und der Unterwelt geweihten Trojaner die ersten sind, welche die kultgenerierenden Qualitäten des Dionysos erkennen - poeto‐ logisch betrachtet ergibt sich hieraus eine Gegenüberstellung, die Gaudés Par‐ teiergreifung für die dionysische Seite der Literatur verrät, da Apoll in der Ilias bekanntlich seine Hand über die Geschicke der Trojaner im Kampf gegen die Achaier hält (Graf 2009: 9-12). Ganz in der Manier des dionysischen Hereinbre‐ chens in die Welt der Menschen lässt Gaudé die Erfindung des Theaters zu einem epiphanischen Moment werden, deren Tragweite durch die dionysische Vehe‐ menz einen eigentümlichen Nachdruck erhält. In seiner Repräsentation spielt Onysos aber nicht Dionysos, wie es die antike Dithyrambentradition verlangt, sondern gibt einen Vorgeschmack auf die Entwicklung des Theaters als mime‐ tisches Spiel, mit allen grundlegenden aristotelischen Kategorien. Eleos und phobos sind in der visionären Repräsentation des Onysos genauso zu finden wie die Katharsis (Aristoteles 1994: 19). Gaudés Figur spielt jedoch zugleich ihre Position des visionären Gottes aus, indem sie den Trojanern ihre Zukunft vor‐ hält. Gaudé mythologisiert den Moment der Entdeckung der dramatischen Gat‐ tung zu einem dionysischen Appell des rauschhaften carpe diem angesichts einer prophetischen Todesschau und dem Verweis auf die Unterwelt als fundamen‐ taler Kultbestandteil: On décida une fête dans le palais de Priam. Hécube et ses filles chantèrent, Et nous bûmes le doux alcool de l’oubli. 157 4.2 „Onysos le furieux“ Mais j’avais envie à mon tour d’offrir à ces hommes admirables un gage de mon ad‐ miration. Je me suis mis bien au centre de la pièce pour que chacun puisse me voir et m’entendre. Et j’ai joué. Je n’avais jamais fait cela auparavant. Je ne sais même pas d’où l’idée a pu naître en moi. Je crois que c’est en contemplant le vieux visage d’Hécube que j’ai su ce qu’était le théâtre. Au milieu des Troyens j’ai joué tour à tour Hécube la mère meurtrie, Hector traîné dans la poussière, Cassandre enchaînée, J’ai joué pour eux et j’ai fait tous les rôles. Et tous ainsi ont pu savoir quelle serait leur mort de demain. Aucun d’eux n’a douté que ce que je jouais ce soir ne se réaliserait demain. Les Troyens ont découvert le théâtre. La veille de leur mort, j’ai joué la chute de Troie et le massacre incendiaire des Achéens. Tous pleuraient. Mais les larmes de cette nuit avaient la douce saveur du soulagement. Et celui qui pleurait, pleurait pour sa femme, son père ou son frère. Celui dont je mimais la souffrance disait aux siens de ne pas pleurer. Tandis que les Achéens s’échauffaient au-dehors, les Troyens pleuraient cette dernière nuit avant les coups sur le corps et les pleurs dans le sable. C’était comme d’apprivoiser la mort et de partager une dernière fois la douce quiétude d’être ensemble. (OF, 42) Blumenberg hat auf die Exemplarität des mythologischen Inhalts eines My‐ thos für die literarische Form und damit auf die gegenseitige Ergänzung zwi‐ schen Form und Inhalt als grundlegende Eigenschaft des verschriftlichten My‐ thos hingewiesen. Dies trifft auch bei Gaudés Onysos zu - die Gegensätze vereinigende Eigenschaft des Dionysos schlägt sich bei Gaudé literarisch in der Verdichtung dreier Ebenen nieder: der sprachlichen, der rhetorisch-stilistischen und der mythologischen. Durch sprachliche Verdichtung erst erhält Gaudé ein hohes Niveau an inhaltlicher Intensivierung; die sprachliche Ebene komplettiert die „Arbeitsebene“ des Mythos und bekräftigt zugleich den Gesamteindruck der mythologischen Verdichtung. Ähnlich wie Gaudé, in der Tradition der antiken Rhapsoden, die verschie‐ denen Versionen des Mythos zusammennäht, lässt er ein dichtes Textgewebe entstehen, das durch die Komplexität der Referenzen einem intertextuellen La‐ byrinth gleichkommt. Manfred Schmeling stellt in seiner Studie Der labyrinthi‐ 158 4 Gaudés dionysische Dramen sche Diskurs (1987) zwei Hauptmerkmale des „labyrinthischen Diskurses“ fest, zum einen den von ihm eingeführten „Autothematismus“, das sich selbst bezei‐ gende Textobjekt und zum anderen die „Intertextualität“ (Schmeling 1987: 41 ff.; 47 ff.; 214 ff.; 269 ff.). Gaudés Texte, insbesondere aber OF, können, im Sinne Schmelings, als intertextuelle Labyrinthe betrachtet werden, da Gaudé nicht nur den Mythos des Labyrinths herausarbeitet, sondern mit seiner Mythopoiesis selbst ein Labyrinth kreiert und folglich „autothematische“ oder „selbstreflexiv offene“ Texte entstehen lässt. Poetologisch gesehen zeugen Gaudés Texte damit vom Selbstverständnis und Selbstbewusstsein eines Werkes, dem nur Leser mit geisteswissenschaftlichem Vorverständnis und der Bereitschaft zur eigenen Ak‐ tivität bei der Bedeutungserschließung gerecht werden können. Die verwirrende Wirkung eines Labyrinths ist jedoch zugleich mit der Ge‐ fangenschaft in einem Netz vergleichbar (Kuhangel 2003: 184). Beide Objekte sind konstruiert, um ein Entrinnen unmöglich zu machen. Das Netz, ein struk‐ turiertes Gebinde von Fäden, kann daher als Verweis auf das Labyrinth dienen. Michel Foucault, einer der Begründer der Intertextualitätstheorie, verwendet die Labyrinthmetapher zur Klärung der Stellung eines Textes zu den übrigen: Er spricht vom Text als einem Knoten in einem Netz (Foucault 1969: 34). Der Faden wiederum, die Grundlage des Netzes, ist das mythische Hilfsmittel des Theseus, um das Labyrinth des kretischen Königs Minos zu überwinden. Anhand des Fadens, den ihm Ariadne mit auf den Weg gibt, gelingt es Theseus, nach der Tötung des Minotaurus wieder aus dem Labyrinth herauszukommen, was bis dahin keinem Menschen gelang. Die mythische Umgebung des minoischen La‐ byrinths ist sehr stark mit metafiktionalen Verweisen aufgeladen, nicht nur, was die Objekte, sondern auch, was das Figureninventar anbetrifft. Die Figuren bilden selbst ein komplexes Netz von Verwicklungen: Ariadne ist nach Hesiods Theogonie die Frau des Dionysos (1991: 947 ff.). Sie verschmäht jedoch bald den Göttlichen für einen Sterblichen, hilft ihm im übertragenen Sinne sogar, aus den Fängen ihres göttlichen Mannes zu kommen, da das göttlichste, mit Göttervater Zeus verbindende Attribut des Dionysos ja der Stier ist. Wenn es Theseus ge‐ lingt, den Minotaurus zu töten, ist dies ein Verweis auf die dionysische Tragik, auf den Gott, der von den Titanen getötet und zerrissen wird - ein Akt, dessen die diesem Mythos folgenden Kultgemeinschaften in Form von Stierzerrei‐ ßungen gedenken. Dionysos muss in dem ihm geltenden Mythengeflecht gar nicht selbst ins Geschehen eingreifen; die intertextuelle Verwicklung seiner At‐ tribute, im Spannungsfeld zwischen Ariadne und Theseus, reichen aus, um seine Präsenz zu bezeugen (Prill 1988: 132 f.). Das Wort „Text“ ist ein Derivat des lateinischen textus (‚gewebt‘), entspricht so einem aus verschiedenen Fäden hergestellter Stoff. Der Ariadnefaden, nimmt 159 4.2 „Onysos le furieux“ man ihn als Grundlage des Netzes, das einen Text bildet, ist so einerseits die Grundlage der Verwebung, der Verwicklung, der Verwirrung und andererseits, aus dem Mythos begründet, das Hilfsmittel zur Entwirrung, zum Ausgang aus dem Labyrinth. Versteht man den Begriff „Text“ nicht nur als Netz versponnener Fäden, sondern als Zusammenspiel von Ariadnefäden, liefert er die einzige Hilfe, um aus dem ihn konstituierenden Labyrinth wieder herauszukommen. Besonders in OF wendet Gaudé die Technik der Allusion an, oft erwähnt er nur Namen von Personen und Städten, die in der europäischen Literatur fre‐ quent rezipiert werden; ähnlich indirekt sind die Allusionen auf konkrete Werke anderer Autoren, die den Erfolg des Nachschlagens unvoreingenommener Leser stark eingrenzen. Der Anspruch Gaudés, nur Rezipienten mit literarischer und kulturwissenschaftlicher Bildung Zutritt zu seinem Spiel-Bezirk der Referenzen und ihrer Kombinationsmöglichkeiten zu gewähren, wird somit deutlich. Je nach hermeneutischem Horizont des Lesers kann OF aber auch nichtsdestowe‐ niger eine intensive, von der Exzentrik in die Introversion übergehende Ge‐ schichte sein. Lassen sich (vorgebildete) Rezipienten auf den mythologischen Gehalt dieses die Kunstformen amalgamierenden Textes ein, werden sie der Überlappung verschiedenster Mytheme gewahr, die sich zu einer übergeord‐ neten intertextuellen, labyrinthischen Isotopie zusammenfügen (vgl. Burrichter 2003: 28-33). Bereits vielfach rezipierte und von Gaudé aufs Neue in die Text‐ produktion eingeführten Mytheme werden auf der metatextuellen Ebene selbst zum Labyrinth - eine Parabel auf das Ineinandergreifen der Mytheme in der griechischen Mythologie. Gaudés Dionysos-Hypostase trägt folglich sämtliche mythopoietischen und metafiktionalen Züge eines (meta)textuellen Labyrinths. Hieraus ergibt sich, dass das Selbstverständnis, das Gaudé bereits bei seinem zweiten zur Aufführung gebrachten Drama unumwunden äußert, mythologisch fundiert ist. Gaudés Dionysos-Epiphanie unterstreicht nämlich das außeror‐ dentlich lange Schweigen (eufémia) der Literatur (Otto 1980: 86), in Hinblick auf ein Werk, das Dionysos gebührend zu Wort kommen lässt: Mes lèvres sont sèches, si sèches que si je riais tout d’un coup aux éclats, elles se fissureraient et du sang probablement en jaillirait. (OF, 9) […] Mais laisse-moi d’abord te parler et ne m’interromps pas et mes mots viennent len‐ tement, car je n’ai pas parlé depuis si longtemps que mes lèvres sont ankylosées de ces milliers d’années de silence. (OF, 10) Dieses Schweigen bezieht sich nicht nur auf die Stille, welche die Mitglieder des Kultes verspüren, wenn Dionysos in der Unterwelt weilt; das Erscheinen des Dionysos wird metafiktional zu einer selbstbewussten literarhistorischen An‐ spielung auf den langen Zeitabschnitt, in dem es kein dithyrambisches, allein 160 4 Gaudés dionysische Dramen Dionysos gewidmetes Stück gegeben hat. Der Autor Gaudé ist damit, im kulti‐ schen Sinne, ein Wiederbeleber, ein Evokator des Dionysos. Gaudés Eröffnung markiert folglich den entscheidenden Wendepunkt in der Lebensgeschichte des Gottes, denn die Stille ist, nach Otto, der Vorbote und Platzhalter der lärmenden Dionysos-Epiphanie. Somit kann Gaudés Dionysos-Hypostase, mit den Worten Bohrers (1994: 41), aufgrund ihrer „ästhetischen […] Ausdrucksqualitäten“, als eine Art der „plötzlichen Erscheinung, der selbstreferenziellen Epiphanie“ be‐ zeichnet werden. Gaudé lässt die besondere Signifikanz von bestimmten Textpassagen durch den Kunstgriff der mise en abyme entstehen, welche nicht nur die Vorgehens‐ weise seiner kreativen Mythenrezeption vorführt, sondern auch, aufgrund des Zusammenspiels von Form und Inhalt, als generelle mise en abyme seiner poe‐ tologischen Haltung interpretiert werden kann. Die mise en abyme regt den Austausch der Bedeutungsebenen an, so dass eine mitgeführte, jedoch bis zur Realisierung der mise en abyme latent gebliebene Bedeutungsebene an die Ober‐ fläche gelangt: „une réciprocité des regards qui fait osciller l’intérieur et l’exté‐ rieur, et pousse l’image à « sortir de son cadre »“ (Dällenbach 1977: 21). Lucien Dällenbach bemerkt in seiner Studie, dass es gerade die Übergangsstätten sind, die als mise en abyme in der Literatur Verwendung finden: „On ne saurait donc être surpris qu’il serve d’ordinaire à connoter ces abymes par excellence que sont la mer, le ciel, le gouffre et les enfers“ (ebd.: 17). In OF sind es die Unter‐ weltsmythen des Dionysos, vorgetragen im New Yorker Untergrund, welche die moderne großstädtische Unterwelt mythographisch auf den Prüfstand stellen; der urbane Text wird, auch bei Gaudé, „mythischer Zeichenraum und ‚généra‐ teur‘“ (Nelting 1996: 129). Dies erinnert stark an Federico García Lorcas Stadtgedichtszyklus Poeta en Nueva York (PNY; 1929/ 30; 1940), welcher ebenfalls in besonderer Weise von einer abysmalen Grundstruktur zeugt, die autobiographisch als Lebenseinstel‐ lung in Lorcas gesamtem Werk in Erscheinung tritt: „Él, poeta que se incorpora a Nueva York como a un abismo lleno de lo vital y de lo mortal, como a una ruptura salvadora.“ (Harretche 2000: 188) Für Lorca verkörpert die Megapolis New York Eros und Thanatos zugleich und wird damit, ähnlich wie später bei Alain Robbe-Grillet, durch permanente erotische und Todesisotopien „erogeni‐ siert“ (Nelting 1996: 122). Lorca präsentiert ein New York, das kontaminiert ist „mit europäischen bzw. archäologischen Chiffren für kulturellen Verfall“ und trägt auch poetologisch zur Darstellung New Yorks als kontaminierte, dem Zer‐ fall anheimgestellte Großstadt dar: 161 4.2 „Onysos le furieux“ Es liegt auf der Hand, dass die Zerstörung des urbanen Textes in der Literatur keine Abkehr vom urbanen Text impliziert, sondern das apokalyptische Szenario im urbanen Text als Bestandteil der gängigen ‚imagerie‘ absorbiert wird. Die vorrangige Funktion der Stadt, der Austausch von Zeichen, wird trotz der (literarischen) Zerstörung der Stadt als dargestelltem steinernem Gebilde nicht aufgelöst. (Nelting 1996: 129) In sehr ähnlicher Weise wie es Nelting bereits im Werk Robbe-Grillets fest‐ gestellt hat, wird bei Lorca „direkt über dargestellte Ruinosität […] die Stadt‐ landschaft im Text zerstört.“ (Nelting 1996: 122) Lorcas Präferenz der Dekom‐ position und des durch Zerstörung hervorgerufenen hoffnungslosen Zustandes erkennt Miguel García-Posada in einem „semantismo de lo roto, de lo mutilado“ (1981: 110; Hervorhebungen im Original). Um mit dem Romantitel von Alain Robbe-Grillet zu sprechen, betreibt Lorca mit seinem Stadtzyklus, noch vor Robbe-Grillet, ein „projet pour une révolution à New York“. Einige Ergebnisse von David Neltings Dissertation lassen sich vom eben genannten Roman Robbe-Grillets auch auf die vom urbanen Text geschaffenen mises en abyme übertragen, die in PNY und OF gleichermaßen zu erkennen sind: „Der selbstre‐ flexive und sich selbst generierende Text stellt schon in seiner äußeren Form eine abysmale Gesamtstruktur dar. Und auf der Aussageebene der eigentlichen Erzählung findet sich eine überbordende Fülle von ‚mises en abyme“ (Nelting 1996: 112). Zusätzlich rückt der Aspekt des Unterirdischen den urbanen Text ins Zentrum des Interesses der vorliegenden Untersuchung, da die Evokation der Unterwelt eine der zentralen Merkmale dionysischer Mythopoiesis ist: Ein großer Teil der Episoden spielt in der U-Bahn. Die Subway ist einer der wichtigen Aufenthaltsorte der Protagonisten; sie verbringen ihre Zeit sowohl in den Wagen als auch in den Gängen des unterirdischen Systems scheinbar ohne erkennbar sinnvolles Ziel […]. [D]as Transportmittel und Medium ‚U-Bahn’ wird selber zu einer im mo‐ dernen Sinn zweckfreien Information und nimmt so einen wichtigen Platz in der postmodernen Zeichenwelt ein, einen Platz, der ihm auch vorher schon durch seine Versammlung der zur Arbeit fahrenden Massen sicher war. (Nelting 1996: 66 f.) Die Strukturen der sich ständig zyklisch erneuernden Gedichte Lorcas und des Gaudé’schen Lebensberichtes des Dionysos können folglich mit der textu‐ ellen Reproduktion bei Robbe-Grillet in Zusammenhang gebracht werden, ge‐ rade weil sie sich durch eine Art genetischen Code und eine „mémoire cyber‐ nétique accumulée“ ( J. Baudrillard) ständig selbst fortschreiben. Zudem decken sich Destruktion und Konstruktion des urbanen Textes der drei Autoren mittels Textelementen, die auf transformative Elemente der Dionysosvita verweisen, dergestalt dass keiner der mythopoietischen Realisierungen eine lineare 162 4 Gaudés dionysische Dramen Struktur ausreicht. Das eigentliche Movens von Lorcas, Robbe-Grillets und auch Gaudés Texten ist vielmehr die permanente Grenzüberschreitung: Der Text destruiert […] sich inhaltlich und strukturell selber, absorbiert diese Auto‐ destruktion jedoch als Grundlage der eigenen Konstitution und generiert sich durch den nicht abschließbaren Akt des Lesens stets von Neuem. Wichtig ist dabei, dass diese Fort-Schrift der Stadt wie bei Robbe-Grillet nicht linear vonstatten geht (Nelting 1996: 130). Eine weitere Perspektive eröffnet sich durch die Aufgewühltheit von Lorcas Versen: Dichtung, die derart auf die Stadt fixiert ist, bietet eine autoreflexive Komponente an, die gänzlich auf das Innenleben des lyrischen Ichs gerichtet ist. Diese autoreferenzielle Haltung wird bereits im ersten Teil der Sammlung, „Po‐ emas de soledad en Columbia University“, deutlich, die sehr stark auf das bis‐ herige Leben des Dichters Bezug nimmt und seine Einsamkeit in der fremden und übervölkerten Weltmetropole problematisiert (Sanabre 2000; Díez 1998: 31-38). In OF sind diese autoreflexiven Tendenzen, die eine narratologische mise en abyme exemplifizieren, ebenfalls zu erkennen. Die schon postmoderne Praxis der totalen Destruktion in PNY, die mit der textuellen Autodestruktion einhergehende, förmliche Zerstückelung der kon‐ ventionellen, auf Invarianz gründenden Denkmuster, ist sowohl der dionysi‐ schen als auch der urbanen Mythopoiesis gemein. Unter Anwendung einer lectura dionisíaca liegt im Akt eines solch umfassenden Ikonoklasmus zwangs‐ weise eine vollständige Erneuerung; die Zerstörung bahnt somit der Erneuerung den Weg (Rodríguez 2006: 149-183). Im urbanen Text bedeutet der Untergang der irdischen Stadt folglich nicht ihr Ende, sondern gehört zum urbanen System des Textes: „Die Grenze zwischen Tod und Wiederauferstehung des urbanen Körpers ist nicht mehr historisch, sondern immanent und fließend“. Urbane und dionysische Mythopoiesis zeichnen sich somit durch einen „unablässige[n] Übergang von Zerstörung und Konstruktion“ aus (Nelting 1996: 131). Dass in Lorcas Stadtzyklus der Begriff decomposición eine zentrale Rolle spielt, wird auch durch die völlig unterschiedlichen Formen der einzelnen Gedichte deutlich (Pastor 1998: 39-53). Der Zyklus dekomponiert sich förmlich selbst, was nicht nur über die gesamte Sammlung hinweg, sondern auch innerhalb der ein‐ zelnen Gedichte geschieht. Das Praktizieren des verso libre, neben der Verwen‐ dung traditioneller, gebundener Versformen wie des Alexandriners („Naci‐ miento de Cristo“, „Oda a Walt Whitman“) und des klassischen spanischen Elfsilblers („Tu infancia en Mentón“), sowie der weitgehende Verzicht auf ex‐ plizite gongorinische Reminiszenzen - ganz im Gegensatz zu anderen Gedicht‐ zyklen wie Sonetos del amor oscuro (García-Posada 1981: 195-204) - verhilft PNY 163 4.2 „Onysos le furieux“ auch innerhalb von Lorcas Werk zu einer Sonderstellung. Was von den Ver‐ weisen auf Góngora bleibt, ist in PNY maskiert, nicht mehr auf der expliziten Leseebene des Textes zu finden, sondern in die spielerischen, experimentellen Eigenschaften des Schreibprozesses eingebunden, welche die Gedichtsamm‐ lung, ganz entgegen ihrem äußeren Erscheinungsbild, mit manieristischen Ten‐ denzen in Verbindung bringen: „Durch die Lust am Spiel mit entlegenen My‐ themen und die Erfindung und Reinszenierung homoerotischer Geheimcodes stellt sich Lorca in eine manieristische Tradition und macht sich die gongorini‐ sche Poetik des Verbergens zu eigen.“ (Felten 1998: 58) Die von Nelting so präzise erkannte poetologische Funktion urbaner Texte weist durch den Vergleich mit den hier untersuchten Werken dionysische Pro‐ zesse auf, die Texte sich selbst zerstören und wieder neu produzieren lassen: „Daraus ergibt sich, dass der dem urbanen Text inhärenten Zerstörung stets eine Wiederherstellung folgt, da die textualisierte Stadt die eigene Destruktion über ihre mythologische Dimension absorbiert.“ (Nelting 1996: 130) In OF gibt es kaum eine Seite, in der nicht die kompromisslos kämpferische, zerstörerische Natur des Dionysos thematisiert wird - bei den Zerstörungen geht es fast aus‐ schließlich um gesamte Städte, die Dionysos im Laufe seiner Vita besucht und heimgesucht hat. Somit überschneiden sich lecture urbaine und lecture dionysi‐ aque nicht nur, sondern ergänzen sich gegenseitig. Am prägnantesten lässt sich die Autodestruktion und Autokonstruktion des urbanen aber auch des dionysi‐ schen Textes mit dem von Juan Goytisolo entwickelten, verschachtelten Begriff der de(con)strucción zusammenfassen (1977: 64). In unzähligen Hafenstädten des Mittelmeeres wird der ankommende Dio‐ nysos mit dem Symbol des Schiffes gekennzeichnet. Da das Schiff in der Poesie weithin als autoreflexives Symbol für die Dichtung an sich gilt - sehr ein‐ drucksvoll in Góngoras Soledades (1636) belegt - kann Dionysos neben Apollon als der Gott der Dichtung bezeichnet werden. Hinzu kommt, dass der Diony‐ soskult Anlass für eine literarische Form war, die am besten seinem Wesen nachkommt: das Theater. Als Begründer einer Gattung wird Dionysos damit, wie Apollon, in der europäischen Kultur ein Exempel für eine die Literatur in‐ karnierende Gottheit. In den dionysischen Kultzeremonien werden Schiff‐ bruchs- und Stadtgründungsmythen, die laut Blumenberg eng zusammenge‐ hören (1979: 134), zu einem Diesseits und Jenseits vereinenden Unterfangen, nicht zuletzt, weil die Seefahrt immer auch eine Todeskomponente in sich birgt: „Zur See gehen, das böse Meer mit einem verächtlich kleinen Holz befahren, ist ein Spiel mit dem Tode, eine unmittelbare Nachbarschaft zum Hades - und darum schon geeignet, zum Symbol zu werden für die Fahrt des Lebens, die im Hafen des Todes endet.“ (Rahner 1945: 430 f.) Dies überrascht nicht, sind doch 164 4 Gaudés dionysische Dramen die Schifffahrt aber auch der Schiffbruch und das Stranden, mit ihrer innova‐ tiven Wirkung auf eine bestehende soziale Gemeinschaft, spätestens seit Gón‐ gora eine poetologische Chiffre. Gaudé trägt diesen dionysischen Wesensele‐ menten Rechnung, indem er in OF unermüdlich Schiffbruch und Stadtgründung aufeinander folgen lässt und beide somit zur Konstante der dionysischen Ab‐ wechslung seiner dithyrambischen Dramenfigur erhebt. Dies hat nicht zuletzt handfeste erzähltechnische Gründe: Gaudé behält stets die metafiktionale Ebene im Auge, wenn er seine Version des dionysischen Le‐ bensberichtes fortschreibt. So stattet Gaudé die intratextuell operierende Figur mit poetologischen Handlungsvollmachten aus. Durch die Berücksichtigung dieser metafiktionalen Semantisierung der dithyrambischen Dramenfigur und ihres Lebensberichtes eröffnet OF eine konsequente Linienführung mythischer Wiederholung: Gaudés Persona ist aufgrund unzähliger Schiffsüberfahrten im Mittelmeer - und die ebenso unzähligen Mythenversionen hierüber - stark ge‐ altert. Seinem Wesen als Neuerer gemäß, sucht sich Onysos einen Ruheplatz fernab der ausgetretenen mythologischen Pfade und der hinlänglich bekannten dionysischen Umgebung (OF, 40). Anhand dieser mise en abyme kann Onysos nach seiner Façon New York neu gründen. Für die metafiktionale, poetologische Ebene bedeutet dies: Der Autor erschafft durch seine Figur sowohl eine neue mythologische Identität des Dionysos als auch eine neue literarische Realität dieser Metropole par excellence. Schiffbruch erleidet Onysos nicht nur konkret in den Versionen des Mythos, wenn er an unzähligen Hafenstädten anlegt und offener Ablehnung der Be‐ wohner gegenübertritt - bei Gaudé erleidet er den Schiffbruch vielmehr sym‐ bolisch, auf seine Person bezogen: durch Rückbesinnung auf seine zerstörende Wirkung, wenn seine menschlichen Züge hervortreten. Dies macht sich beson‐ ders in der Erzählung von der Zerstörung Babylons bemerkbar, in der Onysos explizit Reue zeigt (OF, 19 f.). Der Stadtgründungsmythos ist nach Eliade der Schöpfungsmythos im Mikrokosmos: „The history of Rome, as well as the his‐ tory of other cities or peoples, begins with the foundation of the town; that is to say, the foundation is tantamount to a cosmogony. Every new city represents a new beginning of the world.“ (Eliade 1976: 22) Die Neugründung New Yorks durch Onysos, als Konsequenz der Zerstörung Babylons, ist damit die Schaffung eines poetologischen Mikrokosmos, der in Form einer mise en abyme konstruiert wird. Was wie ein provokanter Anachronismus erscheint - New York als die Schaustätte der Öffnung der Unterwelt und des Wirkens des aus der Antike zum modernen Menschen emporrufenden Dionysos - wird von Gaudé bewusst gegen die Beschleunigung der medientechnischen Entwicklung des ausge‐ henden 20. und frühen 21. Jahrhunderts gesetzt, die den Zwang zur Folge hat, 165 4.2 „Onysos le furieux“ das Hauptaugenmerk auf die Ausschließlichkeit einer scheinbaren Aktualität zu richten, die nur dazu da ist, noch beschleunigter als zuvor zu Vergangenheit zu werden. Das Innehalten des Onysos, inmitten der großstädtischen Geschäftig‐ keit eines von permanenter Hektik, unaufhörlichem va-et-vient erfüllten Bahn‐ steiges, erinnert stark an die von Lorca in PNY eingestreuten mythologischen Naturidyllen, die, zwischen den düsteren Zeichnungen einer ausschließlich auf materielles Fortkommen ausgerichteten Weltmetropole, wie ein erquickendes Atemholen in einem von sich überstürzenden Kataklysmen in die Länge getrie‐ benen Todesszenario wirken. Als kommender Gott ist Dionysos ein Heimatloser und wird dementspre‐ chend von Gaudé als Obdachloser in der New Yorker U-Bahn dargestellt. Die intertextuelle Einflechtung dionysischer Mythenversionen in die Masse an Li‐ teratur, die New York zum Thema haben, machen Onysos zu einem in der Ak‐ tualität angekommenen Gott, der die Säulen des Herkules überschritten hat. Bei Baudrillard findet die von Gaudé verdeutlichte Wirkung New Yorks als moderne Fortsetzung der antiken Zentren von Mythos und Kult ihre Bestätigung: „l’hé‐ ritière de tout à la fois, Athènes, Alexandrie, Persépolis: New York.“ (1986: 32) Angefangen mit dem Geburtsmythos in Tepe Sarab, über die Rezeption des bac‐ chischen Triumphes in Asien, beschreibt Gaudé mithilfe der Weltstadt New York - einer Stadt, die selbst Mythengenerator ist - die räumliche und auch zeitliche Welteroberung und damit die konsequente, moderne Fortsetzung des dionysi‐ schen Triumphzuges. Gaudé verweist damit eindringlich auf das Fortbestehen der literarischen Tradition der Mythographie, beginnend mit dem Gilga‐ mesch-Epos, dem bis dato ältesten schriftlich erhaltenen literarischen Text der Menschheit. Der Lobgesang von Gaudés Onysos über die Multikulturalität New Yorks deckt sich fast mit der von Lorca angesprochenen Pluralität, die er zugleich als Lebensader New Yorks und Rettungsanker vor der Übermacht der Oligarchie der Profiteure des Kapitalismus betrachtet, wie er in einem seiner Gedichtvor‐ träge verlauten lässt. Lorca gibt sich dionysisch-kämpferisch, wenn er den Sieg des Einzelnen über die Metropole, die „gran urbe“, fordert. Bei dieser Einfluss‐ nahme und ihrer künstlerischen Verpflichtung an die Autoren sieht er die Rolle der negriden Menschen als eine zentrale, aufgrund der spirituellen und mytho‐ logischen Tradition, die sie aus ihrem Mutterkontinent Afrika mitgebracht haben und die sie, wie keine zweite Kultur auf dem nordamerikanischen Kon‐ tinent, pflegen und bewahren: Hay que salir a la ciudad y hay que vencerla, no se puede uno entregar a las reacciones líricas sin haberse rozado con las personas de las avenidas y con la baraja de hombres de todo el mundo. Y me lanzo a la calle y me encuentro con los negros. En Nueva York 166 4 Gaudés dionysische Dramen se dan cita las razas de toda la tierra, pero chinos, armenios, rusos, alemanes siguen siendo extranjeros. Todos menos los negros. Es indudable que ellos ejercen enorme influencia en Norteamérica y, pese a quien pese, son lo más espiritual y lo más delicado de aquel mundo. Porque creen, porque esperan, porque cantan y porque tienen una exquisita pereza religiosa que los salva de todos sus peligrosos afanes actuales. (Lorca 1996: 169) Bei Lorca und bei Gaudé produziert der urbane Text Mythologie, sowohl in‐ tratextuell als auch poetologisch gesehen. Gaudés und Lorcas urbane Mytho‐ poetiken widersetzen sich - nach Nelting und ganz im Sinne Blumenbergs - der Beendigung der produzierten Mythen: „Die Funktion der Stadt, urbane Mytho‐ logie zu produzieren, - und somit auch als Gebilde selber - absorbiert alle Auf‐ lösungsversuche, seien sie natürlicher, katastrophischer, politischer oder litera‐ risch-textueller Art“ (Nelting 1996: 130) Gaudé lässt Dionysos zwar aus dem permanenten Kreislauf ausbrechen, deutet das Ende des zirkulären dionysischen Weltbildes jedoch nur an; nicht vergessend, dass Dionysos als reisender Gott immer auch ein steter Neuankömmling ist. Mit dem „Sturz“ des Dionysos in die Aktualität, in das unbedeutend erscheinende Alltagsleben, vollzieht Gaudé eine literarische und poetologische Paraphrasierung, nicht nur der ständigen Versu‐ chung der Postmoderne, den Mythos an einen Abgrund zu führen, sondern auch des metafiktionalen Prozesses der Verschmelzung eines antiken, kontinuierlich fortgeführten Mythos mit der Unmittelbarkeit der „absoluten Gegenwart“ (Bohrer 1994: 89 f.). Zugleich nimmt sich in OF die Wucht dieser Epiphanie zurück, zu einer un‐ scheinbaren, nicht aus der Masse hervortretenden Erscheinung eines Obdach‐ losen, dessen Notbehausung im Untergrund, mythologisch gestützt, zu einer vollen und endgültigen Heimat wird. In Gaudés Momentanrealisierung des Di‐ onysosmythos gerät das Übersehbare zum Außergewöhnlichen, im Einklang mit der Spezialität, dass seine Dionysosfigur aus reicher Erfahrung zu berichten vermag. Die Epiphanie erlebt ihre absolute Profanation durch die Verwandlung in eine unaufdringliche Einladung, der Lebensgeschichte eines literarisch viel‐ rezipierten Gottes zu lauschen (OF, 10). Der Drang zu erzählen treibt Onysos an, sich ein Gegenüber zu suchen - doch ist gerade die allegorisierende Reprä‐ sentation einer Epiphanie ohne Wahrnehmung, die Bühnendarbietung eines „Schiffbruches ohne Zuschauer“ (vgl. Blumenberg 2005), das Revolutionäre an Gaudés Dionysos-Hypostase. Durch Gaudés Onysos lädt der Mythos ein, aus seiner Erfahrung zu lernen, genügt und reflektiert sich aber zugleich selbst, weil er ohnehin substantieller Teil der menschlichen Wahrnehmung ist, den Men‐ schen stets umgibt und gerade deshalb nicht beiseitegeschoben werden kann. 167 4.2 „Onysos le furieux“ 4.2.4 Gaudés intertextuelles und intermediales Spiel mit dem mythologischen Hintergrund zu Dionysos Gaudés monologischer, in den Weltalltag versetzter Dithyrambos erwächst erst durch bricolage des mythes; die kreative, intertextuelle Rezeption von Mythemen verschiedenster Mythenversionen als fundamentaler Bestandteil des Textes schafft neue Quellen, die ihrerseits wieder Grundlage einer Rezeption darstellen. Die Momentanrealisierung des archaischen Dionysoskultes verweist auf mo‐ dernistische Tendenzen der Mythopoiesis - man wird neben den französischen Vorläufern Gaudés leicht an Joyces Alltagsrealisierung der Odyssee erinnert (Iser 1972: 281; vgl. 4.1). Gaudés Bearbeitung der Dionysosmythen ist jedoch nicht ausschließlich intertextuell angelegt, denn Anspielungen auf typische Darstellungsweisen des Dionysos machen den intermedialen Anspruch von Gaudés Text geltend. Die an vielen markanten Stellen eingebauten Kurzsätze weisen auf die visuelle Komponente des Werkes hin, da sie beim Lesen durch ihre Prägnanz einen visuellen Eindruck entstehen lassen. Man gewinnt den Eindruck, vor einer bildlichen Darstellung des Dionysos zu stehen, wenn man folgende Sätze liest: „La nuit est ma fureur. […] Je suis nu. […] J’apprends à être furieux et insaisissable. […] Je suis le lion chevelu des monts Zagros.“ (OF, 14). So alludiert Gaudé auf Dionysosbildnisse aus verschiedensten Epochen, greift die Beschreibung textuell auf und schafft einen bedeutungserweiternden, in‐ termedialen Horizont für OF. In Anlehnung an die überbordende Wildheit als eine Eigenschaft des Dionysos kann man aufgrund des Dramentitels und den vielen „Wildheiten“ in der Lebensgeschichte des Onysos hier zudem von einem furor poeticus des Onysos sprechen, denn als Sprachrohr des Autors beweist er eine ungezähmte poetische Produktivität, die ihrerseits die intertextuelle Kon‐ nektivität des Dramas nährt. Gaudé macht von Beginn seines Dramas an klar, dass sein Umgang mit Dio‐ nysos ein anderer ist: Onysos wird bei Gaudé nicht - wie in der Mythologie weithin akzeptiert - von Semele ausgetragen, sondern von deren Schwester Ino (OF, 22). Ino spielt in der Mythologie zwar eine durchaus bedeutende Rolle als die Schwester Semeles und Amme des Dionysos, die Erhebung der Ino zur Di‐ onysosmutter ist jedoch eine individuelle Variante Gaudés. Laut einer Vielzahl von Mythen (Otto 1980: 97) lässt sich Ino, die zunächst nicht an die Göttlichkeit des von Zeus ausgetragenen Kindes glauben will, durch die Worte des Hermes von der Divinität des Dionysos überzeugen. Nach der Schenkelgeburt des Zeus nimmt sie das Kind auf, erzieht es und schirmt es gegen die Eifersucht der Hera ab, die sich anschickt, die Familie der verbrannten Ehebrecherin ihre Rache spüren zu lassen. 168 4 Gaudés dionysische Dramen Die vollständige Abwesenheit des Namens der Semele bei Gaudé und seine Konzentration auf deren Schwester Ino, die Dionysos vielen Mythenversionen zufolge an Semeles statt großgezogen hat, ist eine mise en abyme des individu‐ ellen Gehalts von Gaudés dramatischem Text (Dällenbach 1977: 21). Gaudé ko‐ piert nicht einfach die bekanntesten Dionysos-Mythen, sondern setzt mit seinem eigenen bricolage die Akzente nach seinem Befinden, lenkt damit seine Version des Mythos poetologisch in eine bestimmte Richtung, die eindeutig von den ausgetretenen Pfaden der meistzitierten Mythen wegführt. Den beiden großen Varianten des Dionysos-Mythos, dem Mythos vom Sohn der Persephone einerseits und dem Mythos vom Sohn der Semele andererseits, schreibt Otto Einheitlichkeit zu, da beide ergänzend das Wesen des Dionysos erklären: „in der ursprünglichen Anschauung sind beide eins. Der gestaltenreiche Gott, der Herr und Erstling des Lebens und des Todes, ist sowohl von Semele wie von Perse‐ phone geboren, ist sowohl in den Hades wie in den Olymp eingegangen.“ (Otto 1980: 178) Gaudé ergänzt diese beiden einheitlichen Großrichtungen des Dio‐ nysosmythos durch eine eigene Variation. Dass Ino von Gaudé als Mutter des Dionysos betrachtet wird, ist ein Zeichen der Fokussierung Gaudés auf die Er‐ ziehung eines Kindes und eine bewusste Abkehr der vielzitierten ersten Diony‐ sosgeburt, die bei der sterblichen Semele durch das Erscheinen des Zeus in seiner „wahren Gestalt“ hervorgerufen wurde (Blumenberg 1979: 261 ff.). Geburt und Erziehung des Dionysos werden damit von Gaudé als gleichwertig betrachtet, womit Ino von der Position der Ziehmutter aufrücken und zu mütterlichen Ehren gelangen kann. Die Konzentration auf Ino zeigt, dass Gaudé für seine Dionysosgeschichte weniger bekannte Mythen miteinander verknüpft, die an den Leser einige An‐ forderungen stellen. Damit gelingt es ihm, die Individualität jeder Mythenre‐ zeption zu unterstreichen. Neue Quellen für nachfolgende Rezipienten werden nicht nur durch das Fortführen der bekanntesten Mytheme erzeugt, sondern es ist gerade die Gemeinschaft aller Mytheme, welche die Rezeption vorantreibt. Gaudé schreibt damit auch gegen das Vergessen von weniger bekannten My‐ themen an und trägt somit seinen Teil dazu bei, dass die antiken Wurzeln des Mythos als alltägliche Wahrnehmungsform nicht in Vergessenheit geraten. Gaudés Erwähnung von Ino könnte aus der Dionysossage von Brasai stammen, nach welcher eine Lade mit Dionysos und der leblosen Semele an der lakoni‐ schen Ostküste angeschwemmt wurde, woraufhin Dionysos von der Semele‐ schwester Ino erzogen wurde. In vollem (Selbst)bewusstsein als bricoleur wan‐ delt Gaudé den Mythos kurzerhand ab und macht Ino zur leiblichen Dionysosmutter. Wenn Dionysos „also am Festtage auf einem Schiff Einzug 169 4.2 „Onysos le furieux“ 50 Für die Wirkung von Gottheiten in der Mythologie des afrikanischen Kontinents und der Vergleich zu den europäischen Mythologien ist die Studie von Nazaire Bitoto-Abeng (2005) besonders aufschlussreich. Auf die Rezeption afrikanischer Mythologie im Werk von Laurent Gaudé kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur kurz erwähnt, dass vor allem in Gaudés Roman La mort du roi Tsongor (2002), der in einem my‐ thisch-entrückten Afrika spielt, die afrikanische Mythologie und ihre intertextuellen Anknüpfungspunkte zur griechischen Mythologie eine fundamentale Rolle spielen. Vielerlei Anspielungen auf die Mythologie Afrikas weisen auch der Roman Eldorado (2006) und die drei Novellen der Sammlung Dans la nuit mozambique (2007) auf. hielt, so bedeutet das nichts anderes als seine Epiphanie aus dem Meere.“ (Otto 1980: 61; vgl. OF, 40) Gleichwohl rezipiert Gaudé den Mythos der zweiten Dionysosgeburt aus dem Schenkel des Zeus: „Je suis celui qui n’est pas né d’une femme.“ (OF, 11) Um für Klarheit zu sorgen, spricht Onysos daraufhin von seinem Vater als dem „maître des dieux“, und macht deutlich, dass es sich bei der zweiten um eine übernatür‐ liche Geburt handelt: „il n’était pas besoin d’une femme pour que je sois projeté dans la poussière des monts Zagros.“ (OF, 11) Die im Dionysosmythos mit der Geburt einhergehende Tötung und Zerstückelung des Dionysoskindes markiert auch den Beginn von OF. Sie erfüllt eine bestimmte Funktion: Der Mythos von der Tötung des Dionysoskindes behielt in seinem ursprünglichen Sinne, als Beweis der Unzerstörbarkeit des Lebens, seine außerordentliche Bedeutung. Das Erleiden der mystischen Opferhandlung wurde als eine notwendige Phase im dionysischen Bios aufgefasst, als eine symbolische Selbstaufopferung, welche die frü‐ he Identifikation mit dem Gott bewirken sollte (Kerényi 1994: 228 f.). Gaudé sorgt von Beginn des Stückes an für die Verdichtung der grundle‐ genden Eckpunkte des dionysischen Mysteriums: Die Geburt wird mit dem Tod assoziiert und umgekehrt. So nennt sich Onysos „mort né“ (OF, 14). Die Ver‐ bindung von Ottos These der Abwechslung der Gegensätze und Kerényis These der synthetischen Kraft des Dionysos zeigt sich deutlich in der Gaudé’schen Geburtssequenz des Onysos: Der Göttervater formt aus dem zerstückelten Körper wieder einen lebendigen Junggott und bedient sich dabei des Herzens, das von den Titanen nicht zerstört wurde (OF, 13). Zusätzlich hilft sich Gaudé bei seiner Verdichtung gerade mit entlegeneren Mythen aus, die zugleich die Synthese der dionysischen Eigenschaften und, epistemologisch gesehen, auch die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zusammenbringen. Neben der Situierung in den Kontext der griechischen Mythologie wird Onysos ebenfalls in der afrikanischen Mythologie verortet, wo die Geburt durch das Wirken eines männlichen Gottes sehr verbreitet ist. 50 170 4 Gaudés dionysische Dramen Gaudé lässt zudem den Entstehungsmythos des Dionysos im östlichen Mit‐ telmeerraum nicht unbeachtet (OF, 14; Bollack 2005: 46; Baeumer 2006: 12). Die Tatsache, dass Alexander der Große - dessen Indienfeldzug oft mit dem diony‐ sischen Triumphzug Richtung Osten in einer literarisch entstandenen Analogie a posteriori gleichgesetzt wird (vgl. Bosworth 1996: 140-166) - Babylon als letzte Ruhestätte angesteuert hat, treibt die Brisanz des Gaudé’schen Stoffes, auch im literarhistorischen Sinne, weiter voran. Gaudés Onysos ist zwar ein tief im Osten verorteter Dionysos, dessen zentrale Geschichte sein östlicher Triumphzug ist. Gaudé baut jedoch eine völlig neue Komponente ein: Neben dem allseits be‐ kannten dionysischen Triumphzug Richtung Osten ist es der Triumphzug nach Westen, der Gaudés Onysos ausmacht. Die Urzwänge, die Gaudés Onysos hervorruft, decken sich mit denen, die von Dionysos ausgehen - sie führten „nach Auffassung der späteren Griechen aus von chthonischen und blutrünstigen Mächten der Tiefe beherrschten Zuständen in die Helle einer späteren Zivilisation […]; ein Prozess, in dem sie keine anderen als numinose Ursachen sahen.“ (Hübner 1985: 132) Der Schrecken der Urzeit wird nicht nur durch den Mythos abgelegt, sondern seine Ablegung zeigt sich im Inhalt des Mythos selbst. Denn erst wenn die Götter untereinander zu einer zivilisatorischen Ordnung gefunden haben, können sie nach Auffassung der mythisch denkenden Griechen diese Entscheidung weitergeben. In jeder Gegend, in die Onysos kommt, ist er neu und unbekannt. Die Men‐ schen, die mit Onysos in Berührung kommen, bilden daraufhin Mythen um ihn und geben ihm Namen, um dem Unbekannten mit einem mythologischen Schutzschild zu begegnen (Blumenberg 1979: 41). Gaudé nimmt den Gott des Ankommens ins Zentrum seiner literarischen und philosophischen Betrach‐ tungen. Der Dionysosmythos zeigt das Durchsetzungsvermögen des Dionysos gegen die vehemente Ablehnung, ihn im Kult zu ehren: Die Sagenstoffe spiegeln zugleich die Schwierigkeiten wider, denen sich der neue Kult ausgesetzt sah. Sie verlegen den Schauplatz der Auseinandersetzungen nach Indien und berichten von zahlreichen Kämpfen, in deren Verlauf Dionysos seine Widersacher nach anfänglichen Niederlagen vernichtet, um schließlich als ein Wel‐ teneroberer gefeiert zu werden. (Gesing 1988: 23) Da sich die Ankunft, welche die Lebensgeschichte des Onysos einrahmt, in New York vollzieht, ergeben sich intertextuelle Parallelen zum spanischen Dichter Federico García Lorca, der nach einer Amerikareise den Gedichtband Poeta en Nueva York (1929/ 30) vorgelegt hat, in dem viele Gedichte ebenfalls von diony‐ sischen Aspekten geprägt sind. In Lorcas Tradition macht Gaudé den Dichter in New York zu einem Dionysos in New York. Er verbindet, ähnlich wie Lorca in 171 4.2 „Onysos le furieux“ 51 Die von Gaudé „Proscumnos“ genannte Figur hat in der antiken Mythographie ver‐ schiedene Realisierungen: Pausanias nennt ihn „Polymnos“, bei Hyginus Mythographus ist es „Hyplipnos“ - alle Namensversionen verbindet, dass sie die Seme ‚Schlaf ‘ und ‚Tod‘ beinhalten (Creuzer 1837/ 1973: 369). seiner New Yorker Gedichtsammlung, die dionysischen Aspekte der Großstadt mit dem Dionysos-Mythos, indem er seine Dionysosfigur als Teil der Metropole auftreten lässt. Die bei Lorca gleichfalls stattfindende Rückführung vieler Mo‐ tive auf mythologische Wurzeln wird bei Gaudé durch die explizite Integration der Figur des Gottes noch intensiviert. Indem Gaudé seinem Onysos die Gestalt der von der Großstadt Gezeichneten, aus dem Raster des permanenten Erfolgs‐ drucks Herausgefallenen annehmen lässt, repräsentiert der von Gaudé bearbei‐ tete Dionysosmythos das Wirken dionysischer Grenzüberschreitung in der all‐ täglichen Aktualität. In dieser modernen Gaudé’schen Interpretation des Dionysosmythos ist Dionysos der Gott der Obdachlosen, Alleingelassenen und Vergessenen (OF, 9 f.; 47). Die Momentanrealisierung des Mythos um den an‐ kommenden Dionysos, der in vielen Versionen bei seiner Ankunft stets abge‐ lehnt und ausgestoßen wird und daher genauso heimatlos wie überall zu Hause ist, macht sich Gaudé zu eigenen Zwecken zunutze, nicht ohne die Tradition der dionysischen Mythenrezeption zu beachten. Das Dionysos in vielen Mythenversionen anhaftende Klischee des Einzel‐ gängers und des heimatlosen, ständig zum Weiterreisen gezwungenen Gottes wird in Gaudés Stück durch den Tod des Proscumnos deutlich herausgestellt, der Onysos hart trifft. Auf der mythographischen Ebene erweitert Gaudé den Eindruck des Einzelgängertums seiner Dionysosfigur durch Einführung von Figuren, die in der antiken Mythologie nur ein Randdasein fristen. Die Figur des Proscumnos beispielsweise ist nur schwer in der griechischen Mythologie auf‐ zufinden. 51 Sie wurde vielmehr in der Spätantike von christlichen Autoren be‐ nutzt, um die Vita Jesu Christi deutlich von der des Dionysos abzugrenzen. Die Episode, in der Proscumnos von Dionysos einen Liebesdienst als Pfand für die Fahrt zur Mitte des halkyonischen Sees bei Lerna verlangt, wo sich der Eintritt in die Unterwelt befinden soll, eignete sich nur zu gut, um den bekannten heid‐ nischen Dionysos gegenüber dem „neuen“ Christus in Misskredit zu bringen, da frisch zum christlichen Glauben missionierte Menschen nur zu leicht in Christus eine Allegorese der Dionysosvita entdecken konnten (Chapeaurouge 2012: 13-67; Rahner 1945; Seaford 2006: 5). Die Proscumnos-Episode besagt, dass Di‐ onysos, nachdem er aus der Unterwelt zurückgekehrt ist, Proscumnos tot auf‐ findet und den homosexuellen Liebesdienst mithilfe eines Feigenholzes post mortem erbringt (Pausanias 1998: II, 37, 5; Hyginus 1992: 2, 5). Die Pros‐ cumnos-Episode kann jedoch auch als Teil des dionysischen Synkretismus be‐ 172 4 Gaudés dionysische Dramen trachtet werden (Baur 1825: 363 f.): Demnach ist die Pflanzung des Phallus ge‐ neralistisch zu verstehen und ein Verweis auf die Zusammenführung von kosmischer Männlichkeit und Weiblichkeit, Erde (Semele) und Fruchtbarkeit (Dionysos). Gaudé deutet vorsichtig auf diese Variante hin, wenn Onysos einen Feigenbaum zu Ehren des Proscumnos pflanzen lässt - Holz und Früchte des Feigenbaums sind Elemente, welche die fruchtbare, phallische Seite des Dio‐ nysos hervorheben (OF, 23). Bei Gaudé trifft Onysos Proscumnos vor den Toren der mesopotamischen Stadt Ur. Wieder einmal atopisch und jenseits der ausge‐ tretenen Pfade, vermengt Gaudé verschiedenste Dionysosmythen, und passt eine kaum belegte Mythe in die ostwärts gerückte dionysische Sphäre ein. In der Proscumnos-Episode kommen die menschlichen Züge des Onysos deutlich zum Tragen, die für Gaudé von entscheidender Bedeutung sind. In seiner Jugend ist Onysos vor Zerstörungswut kaum zu zügeln; als gealterter, weiserer Onysos, der bereits eine Reihe an trieterischen Zyklen hinter sich hat, ist er jedoch zurückhaltender und lässt eine Verhaltensänderung erkennen, spricht sogar von einem Fehler, als junger Gott derart zerstörungslüstern ge‐ wesen zu sein, und gelobt, New York seine positive Entwicklung spüren zu lassen: „Mais j’étais trop jeune encore et il me fallait une ville à brûler. / J’ai réduit à néant Babylone, tapissant le pays des Deux-Fleuves de cendres chaudes. / Je ne ferai pas deux fois la même erreur, je ne détruirai pas New York.“ (OF, 21) Im Gegensatz zu anderen Städten will er in New York, am Ziel seiner Träume angekommen, nicht von seiner zerstörerischen Neigung Gebrauch ma‐ chen, ähnlich dem besänftigten Gott der Israeliten im Alten Testament: Der Herr roch den beruhigenden Duft, und der Herr sprach bei sich: Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe. So lange die Erde besteht, / sollen nicht aufhören / Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, / Sommer und Winter, Tag und Nacht. (Genesis 8, 21-22) In der Nähe des gelobten Landes lässt Gaudé denn auch eine Art Taufe des Onysos stattfinden, durch die er die Verbindung zwischen klassisch-antiker und christlicher Mythologie erwirkt und der Inbesitznahme von Mythen durch ein‐ zelne Strömungen eine klare Absage erteilt. Onysos wäscht sich im Roten Meer von den Gräueltaten rein, zu denen er die Menschen durch seine berauschende Wirkung veranlasste. Gaudé lässt diese Kombination aus körperlicher und sym‐ bolischer Reinwaschung und Taufe gerade an einem der religionsgeschichtlich markantesten Orte geschehen - in dem Meer, das Moses auf Jahwes Geheiß für den Exodus der Juden aus Ägypten teilte und das die ägyptischen Verfolger verschlang (Exodus 14, 15-31): „L’eau sur mon corps a lavé les taches de sang 173 4.2 „Onysos le furieux“ séché et les rigoles de sueur, l’eau sur ma peau a étanché la soif de mes muscles et j’ai bu par tous les pores de ma peau.“ (OF, 25) Im Roten Meer wäscht Onysos nicht nur seinen Körper, sondern symbolisch auch sein Blut rein und lässt damit keinen Zweifel an der Verbindung des Dionysoskultes mit der christlichen Lehre: „J’ai été jusqu’à Napata et pour la première fois de ma vie, il m’a semblé être loin de Tepe Sarab et de cette nuit d’écartèlements et de cris.“ (OF, 25) Damit geht Gaudé auf die verbindende Funktion des Dionysosmythos ein, lässt Dio‐ nysos eine Brücke zwischen den von den einschlägigen Dionysosforschern un‐ terschiedlich abgesteckten Kultbereichen schlagen und relativiert damit auf seine eigene Art die Diskussion um die Herkunft des Dionysoskultes. Durch den rituellen Akt der Reinwaschung fühlt sich Onysos befreit und hat eine persönliche Entwicklung weg von der Gewalt vollzogen: „J’ai nagé du bon‐ heur de n’être plus souillé par tant de saleté.“ (OF, 25) Damit erhält OF Züge eines Entwicklungsdramas, in dem ein Gott durch seine menschlichen Züge eine psychische Entwicklung erfährt. Onysos will sich im Nil auf das Gründlichste reinigen. Diese Reinwaschung aber geht über den rein religiös-rituellen Akt hinaus - es ist eine zutiefst individuelle Demarkationslinie zwischen dem von mythischer Urgewalt geprägten Vorleben und einer menschlich-empfindsamen Natur der Gottheit. Onysos wäscht sich in erster Linie, um zu vergessen, alle seine Erinnerungen auszulöschen und seine Vergangenheit zu vernichten: „J’ai souhaité m’immerger tout entier dans le fleuve, de la tête au pied et ressortir sur l’autre rive, plus vierge qu’un enfant, sans souvenir et sans entaille.“ (OF, 28) Jedoch muss er feststellen, dass dies nicht möglich ist, da er ein Gott und un‐ sterblich ist. Hier wird auch Fluch der Unsterblichkeit deutlich, der auf den Göttlichen lastet. Des Weiteren setzt Gaudé den Nil mit Lethe, dem Fluss und der Göttin des Vergessens in Wesensunion, gleich: „J’ai souhaité que le Nil soit le Léthé d’Orient et que je puisse m’annihiler dans ses eaux plates oubliant mes blessures et mes haines, oubliant mon nom et Babylone.“ (OF, 28) Dies erleichtert Gaudé die Einbettung seiner Dionysos-Hypostase in die Tagesaktualität. So ge‐ lingt es ihm, mythische Lokalitäten, die durch den Massentourismus und die hohe Medienpräsenz wie inhaltsentleerte Sehenswürdigkeiten wirken, wieder mit mythologischem Leben zu füllen: Kalabchah, Kom-Ombo, Edfou, Tell el-Amarna, je marche sur les rives du Nil, je marche et mes pieds s’enfoncent dans le sable mouillé de soleil. J’ai passé les cinq cataractes, le tropique du Cancer et les nécropoles de Luqsor. J’étais seul et je jure que je n’ai rien fait que marcher, saluant, peut-être parfois d’un geste humble de la tête ceux que je croisais et qui labouraient, sur le bord de la route, des champs immergés. 174 4 Gaudés dionysische Dramen Mais je n’ai rien fait et pourtant, après Abydos, je me suis aperçu qu’un nuage de poussière me suivait. (OF, 28) Mit dem Übertritt über den Fluss des Vergessens seiner Dionysosfigur voll‐ zieht Gaudé - zumindest poetologisch - den Ausbruch aus der zirkulären, trie‐ terischen Struktur des Dionysosmythos und stellt damit nicht nur den Anspruch auf Neuformulierung, sondern auch auf Beendigung des Mythos. Da diese Be‐ endigung jedoch nur, wie Blumenberg aufgezeigt hat, eine von vielen Möglich‐ keiten der Rezeption ist und nicht etwa das Aus einer steten Aktivität der Re‐ zeption und Produktion markiert, sondern gerade das Forttragen des Mythos bestätigt, verstärkt sich die poetologische Komponente dieser Gaudé’schen Ex‐ pedition der Beendigung des Mythos. Die Trieteris des Dionysos ist, wie der Mythos selbst, ein unwiderrufbarer Zyklus, in dem Versuche von Autoren, ein‐ zelne Komponenten herauszuheben und teleologisch zu instrumentalisieren, nur eine Form der Rezeption, der Arbeit am Mythos sein können. Im Zuge der selbstreinigenden Taufe vollzieht sich in Ägypten die Anagno‐ risis, erkennt Onysos sich selbst, sein vormals zerstörerisches Wesen, aber auch seine menschlichen Züge, wodurch er mit den ägyptischen Frauen seine ersten, bewussten Dionysien feiern kann. Onysos entwickelt sich vom chthonischen, urgewaltigen, zerstörungswilligen Gott, der an die ersten griechischen Götter‐ generationen erinnert, zu einem Wesen, das Bezugspunkt für die kreatürlichen und subjektiven Eigenschaften der Menschen ist. Stilistisch wird die Anagno‐ risis durch einen Parallelismus untermauert, der Onysos gebetsartig die Er‐ kenntnis seiner Anziehungskraft wiederholen lässt: Je me suis retourné et j’ai attendu pour voir s’il s’agissait de l’escorte de quelque pharaon. Mais c’est une horde silencieuse de femmes empoussiérées que j’ai vue arriver et d’aussi loin qu’elles m’ont reconnu, elles se sont arrêtées à leur tour, n’osant approcher plus avant de leur dieu de chair. Je les ai aimées, comme j’ai aimé les femmes mortes à Babylone. Elles étaient mes misérables femmes. Elles avaient abandonné leur village pour suivre cette silhouette chevelue qui était passée sur la route. Leurs hommes ont crié certainement mais elles n’ont pas répondu. Leurs enfants ont pleuré certainement mais elles n’ont pas répondu. Je comprends aujourd’hui, sur les bords du Nil, que je suis Onysos et que cela ne peut s’effacer. Toutes ces femmes me le rappellent. Alors, à Abydos, je me suis arrêté. 175 4.2 „Onysos le furieux“ J’ai fait un énorme feu sur les bords du grand fleuve pharaon et j’ai invité mon armée de princesses en haillons à venir danser et rire. (OF, 28) Die Wahl der Retrospektive in dieser Passage ist ein weiteres Indiz für die be‐ vorstehende Anagnorisis, die, als Gegenstand eines proleptischen Kunstgriffs, vom erzählenden Ich zum zweiten Male erlebt werden kann. Diese passagen‐ weise Verschmelzung von erlebendem und erzählendem Ich ist typisch für Gaudés dramatisches Poem (vgl. OF, 12). Mit dem menschlichen Akt der Ana‐ gnorisis beweist Onysos nicht nur seine Anthropomorphie, sondern vielmehr seine menschliche Psyche, die ihm, der sich sonst ausschließlich durch die Wir‐ kung auf seine Umgebung definiert und, dialektisch gedacht, eigentlich nur hier‐ aus seine Daseinsberechtigung ableiten kann, zu einer ungekannten Individu‐ alität verhilft, die er in vollen Zügen auskostet: „Le long voyage sur les bords du Nil, ces heures passées à arpenter l’Egypte de Napata à Abydos, ont été les seuls instants de ma vie où j’ai pu me soustraire à l’incendie, les seuls instants où je ne fus qu’un homme.“ (OF, 29) Als erzählender Gott verfügt Onysos über die Macht, Mythen nach seinem Gutdünken zu variieren und als erlebt darzustellen. So erzählt er den Mythos des Pentheus von Theben neu (OF, 29-32), der auf der Jagd nach Dionysos auf dem Kithairon von seiner eigenen Schwester getötet und enthauptet wurde, und dessen Kopf aufgespießt auf einem Stab in die Stadt getragen wurde. Der Pen‐ theus-Mythos aus den Bakchen des Euripides wird vermischt mit dem Tri‐ umphzug des Dionysos und von Gaudé kurzerhand nach Ägypten, in die ge‐ schichts- und legendenträchtige Stadt Achet-Aton, das heutige Tell el Amarna, verlegt. Die Bewohner der unter Pharao Echnaton (14. Jh. v. Chr.) gegründeten, ehemaligen Hauptstadt Ägyptens betrieben einen intensiven Sonnenkult (Dreyer 2008). Zudem kann der Homograph „Theben“ mit der Stadt Theben in Ägypten in Verbindung gebracht und geographisch als „enharmonische Ver‐ wechslung“ (Prill) des thebanischen Dionysosmythos gelesen werden (Michael 2008: 125; 139), den Gaudé, frei nach dem von Lévi-Strauss geprägten Motto tema con variazioni, abwandelt. Durch diese geographische Doppelung ver‐ kleidet Gaudé den Mythos und lässt, durch sprachliches Spiel, verschiedene mythenträchtige Orte miteinander verschmelzen, womit er die mythologische Bedeutung der Stadt Theben als eines der dionysischen Zentren intensiviert. Zudem kann Gaudés Verbindung des Dionysos nach Ägypten ikonographisch auf die Übereinstimmung in den Kategorien Theriomorphie und Theriozephalie gestützt werden (Bollack 2005: 106): Oft wird Dionysos nämlich, wie ägyptische Gottheiten, mit Tierkopf oder komplett als Tier dargestellt (Stier, Panther, Löwe etc.). So erlangt Gaudé eine intermediale Verbindung der lecture-Ebenen und schafft nicht nur übergreifende sprachliche, sondern auch mythologische und 176 4 Gaudés dionysische Dramen ikonographische Isotopien. Seine enharmonische Verwechslung von Theben leitet über zum religiösen Synkretismus vom Jenseitsglauben der Ägypter, Me‐ sopotamier und Hellenen. Die Theriozephalie verweist zugleich auf die Mas‐ kierung und Wandlungsfähigkeit des Dionysos, wobei die Tiermaske wiederum ein Verweis auf die persona ist, die Dionysos im Dithyrambos repräsentiert. Vielfältige Transgressionen machen Dionysos zum Herrn über jegliche Meta‐ morphose; Dionysos inkarniert die Ressourcen der Metamorphose, wie es Bol‐ lack formuliert. Auch die enge Beziehung zu einer Konstante in der Mythologie ist anhand von Dionysos zu erkennen, die wiederum auf die Lévi-strauss’schen Theorien verweist: die absolute Freiheit der unbegrenzten Transformation und die berauschende göttliche Wirkung, die sich, mit pantheistischer Ausprägung, in Naturprodukten wiederfindet: La transgression des limites fait de Dionysos le maître sans limites de toutes les mé‐ tamorphoses. Il ne se sert pas seulement des travestissements de chair, comme le fait son père à volonté en vue d’arriver à ses fins. Dionysos incarne les ressources de la métamorphose; il retrouve aussi bien la figure primordiale de la bête cornue que la drogue dans le végétal, et la boisson qui délivre les hommes : son essence par eux s’y fait chair. C’est le vin qu’il est en premier, comme si tout le reste était dans le jus de la vigne. (Bollack 2005: 107) In den Bakchen mündet der vergebliche Widerstand gegen den Gott in der Partizipation des Pentheus, der sich verkleidet, um unerkannt an den Baccha‐ nalen teilnehmen zu können. Hier stützt sich Gaudé auf den in den Bakchen erzählten Mythos, schließt seine Version aber mit einer Verdichtung der von ihm verarbeiteten Mytheme ab. Er verbindet die mythologische Vergangenheit des Onysos mit der Pflanzung eines Weinstocks, in dessen Früchten sich die zurückliegenden Gewaltorgien und die kürzlich vollzogene Anagnorisis des Onysos verbergen: Pour sceller cette nuit incomparable, j’ai fait pousser sur cette colline nocturne des pieds de vignes sauvages. Ils ont poussé maintenant et leurs troncs doivent être plus larges qu’un bras d’homme. On m’a dit que le vin qu’ils donnent est acide. Je ne m’en étonne pas, les plantes se sont nourries de ton sang et de ta sueur. Il y a dans ces raisins du Nil Quelque chose d’un vin carnivore. (OF, 31) Dass Rezeption und Bearbeitung eines Mythos untrennbar miteinander ver‐ bunden sind, zeigt sich besonders deutlich an Gaudés Namengebung. Um seine Arbeit am Mythos zu rechtfertigen und von bisherigen Dionysos-Rezeptionen 177 4.2 „Onysos le furieux“ abzugrenzen, wählt er einen eigenen, jedoch dem des Gottes sehr ähnlichen Namen. Dass Onysos nicht von Dionysos zu trennen ist, verdeutlicht sich allein durch die graphische Ähnlichkeit zwischen den beiden Namen. Einerseits ist „Onysos“ ein Teil von „Dionysos“, da der Name in „Dionysos“ enthalten ist, in ihm sozusagen aufgeht. Dies ist zugleich ein Verweis auf das Verhältnis zwi‐ schen beiden Figuren, das von einer kultischen Homogenität geprägt ist: Onysos als Dithyrambensänger verkörpert den Gott Dionysos. Der Kunstname von Gaudés Dramenfigur schafft aber auch einen Spiel-Raum, der es ermöglicht, um eine mögliche Etymologie von „Onysos“ zu rätseln. Der Name ist offensichtlich eine Synkope des Namens „Dionysos“; ihm ist mit den beiden Buchstaben „Di-“sozusagen ein Teil des Göttlichen genommen worden (gr. διο: „göttlich“) , was demnach auf eine Vermenschlichung der Götterfigur und auf einen mehr den Menschen zugewandten Charakter derselben verweist, die sich wiederum in vielen direkten Appellen an Leser und Zuschauer niederschlägt (z. B. OF 11; 22; 27). Zugleich deutet der geschaffene Name wiederum auf den Referenzcharakter von Gaudés Literatur, der ständig Mythen aufgreift, um sie neu zu kombinieren. Es entsteht der Eindruck, dass Gaudé nicht für seine Autorschaft, sondern für seine Figur ein Pseudonym benutzt, was an Kierkegaard erinnert, dessen spre‐ chende Aliasnamen auf den bewussten Einsatz eines Pseudonyms schließen lassen. Kierkegaard stritt seine Autorschaft der unter Pseudonym veröffent‐ lichten Werke immer wieder ab: „In the pseudonymous works, there is not a single word which is mine. I have no opinion about these works except as a third person, no knowledge of their meaning, except as a reader, not the remotest private relation to them.“ (Kierkegaard 1998: 38). Mit diesem Paradox zeigt Kier‐ kegaard seine Abneigung gegen die vereinfachende These der Betrachtung seiner Schriften als einheitliches philosophisches System. Dieses Paradox zwi‐ schen Autor und Sprachrohr ist bei Gaudé auf der Stufe der Dramenfigur wie‐ derzufinden. Gaudé kann sich mit diesem Kunstgriff, ähnlich wie Kierkegaard, unnahbar zeigen, einerseits vollends in der geschaffenen Figur aufgehen und andererseits sich gänzlich vom Erzähler lösen, da er die Lebensgeschichte einer der zentralen mythologischen Gestalten des Abendlandes unter dem Pseu‐ donym „Onysos“ im äußersten, anonymisierten Alltag einer New Yorker U-Bahn-Station verlauten lässt. Trennt man den Namen in „Ony-sos“ und liest die Silbe „Ony-“als Teil des griechischen Wortes oneiros (‚Traum‘), könnte sich mittels der Figur des Onysos eine Traumform, ein Traumdiskurs des Dionysos-Mythos abbilden. Diese Be‐ trachtungsweise würde beide Figuren durchaus nicht voneinander entfernen, da der discours onirique auch mit dem dionysischen Rausch in Verbindung steht. 178 4 Gaudés dionysische Dramen Onysos dient somit als Zeichen der literarischen Rezeption des Mythos im dio‐ nysischen Zustand des Rausches, in vollständiger dionysischer Ergriffenheit. Dieses Konglomerat an sich offenbarenden multiplen Bedeutungen und der da‐ raus resultierenden Anregung zu immer neuen Deutungen lässt OF zu einer Synthese aus Mythenrezeption und Mythenbearbeitung werden. Mit den Denk‐ anstößen, die sich aus Gaudés Nomenklatur ergeben, kann das Drama um Onysos als ein immer wieder neues, den Prozess der produktiven Rezeption akzentuierendes, Gewahrwerden des Dionysosmythos und in letzter Konse‐ quenz als ein durch Epiphanie ausgelöstes Fort-Schreiben der dionysischen Vita verstanden werden. Da sich der Name „Dionysos“ in die beiden Wörter „Διο“ („Dio“) und „νυσος“ („nysos“) trennen lässt (vgl. 3.1.2), kann man bei Onysos auch die Variante „O-nysos“ annehmen. So kann statt dem Omikron aus „Dio“ auch ein Omega als Anfangsbuchstabe gelesen werden („Ω-νυσος“). Hinter dieser Lesart könnte sich ein Hinweis auf den Anreiz aller modernen Literatur verbergen, den Mythos zu einem Ende zu führen (vgl. 2.3.3). Dies sollen aber nur einige Beispiele der möglichen Zusammensetzung des Namens sein. Fest steht, dass Gaudés Namensschöpfung zwar eine Reduktion des ursprünglichen Götternamens ist, keineswegs aber eine Reduktion seines semantischen Ambitus. Vielleicht ist es am Ende gerade diese einfachste Erklä‐ rungsmöglichkeit, die Gaudé durch seine Figur Zuschauern wie Lesern mit auf den Weg gibt: die schlichte Reduzierung des Namens als Zeichen der Integration der Onysos-Geschichte in den Dionysos-Mythos und der Einschreibung von Gaudés individuellem Dionysos-bricolage in die Tradition dionysischer Lite‐ ratur. Auch den Konflikt zwischen dem Überschuss an Namen (zagreus, iakchos, bromios, bakchos, dissotokos etc.) und der Namenlosigkeit des Dionysos bringt Gaudé zur Sprache - womit Blumenbergs These Rechnung getragen ist, dass der Mythos mit der Namengebung beginnt. Die mehrfache Austragung seines Leibes vor seiner endgültigen Geburt einerseits und die nicht einheitlich fest‐ zulegende Herkunft des Dionysoskultes andererseits mögen eine Erklärung für seine, im Mythos immer wieder erwähnte, anfängliche Namenlosigkeit sein. Diese Unnennbarkeit des Gottes nutzt Gaudé für einen literarischen Kunstgriff: Er lässt seine Figur selbst einen Namen wählen. Onysos will für Klarheit sorgen und die verschiedensten Mythenversionen, in denen die dionysischen Namen je nach Situation stark variieren, durch einen einheitlichen Namen zusammen‐ führen, um so die sich durch Diversität äußernde dionysische Macht zu kana‐ lisieren und literarisch erfahrbar zu machen. Die dionysische Selbsternennung gibt Gaudés Version des Dionysosmythos daher eine individuelle Note: „Per‐ 179 4.2 „Onysos le furieux“ 52 Zur Konzeption des mythischen Raumes sei auf Hübner 1985: 169 ff. verwiesen. sonne encore ne tremble à l’évocation de mon nom mais c’est parce que per‐ sonne, encore, ne m’a donné de nom. […] / Désormais je m’appelle Onysos et c’est ce nom que j’imposerai aux hommes.“ (OF, 14) Eindrucksvoll zeigt sich in OF an einigen Stellen, dass die Wirkung des My‐ thos mit der Namengebung beginnt. Onysos erprobt vor seiner endgültigen Be‐ nennung mehrere Namen dionysischer Tiere und erfährt unverzüglich deren Wirkung, indem er die entsprechende tierische Gestalt annimmt (OF, 14). Die Ursprungsmythen des Dionysos belegen zudem sein Entstehen an vielen ver‐ schiedenen Orten, ein von der Kultgemeinschaft getragener und gewollter Wi‐ derspruch; Dionysos ist von seinem Wesen her ein Mehrfacherscheinender, der das Verständnis des Raumes und der Zeit im mythosgläubigen griechischen Raum metaphorisiert. 52 Keineswegs vernachlässigt Gaudé die in den überlie‐ ferten Mythen fallenden Beinamen des Dionysos, zeigt aber, dass diese von der Dionysos rezipierenden Kultgemeinschaft verliehen werden. Die Identifikation durch traditionelle dionysische Beinamen macht Gaudés Anspruch der Veror‐ tung seines Dionysos-Mythos im dichten Geflecht der Dionysosmytheme un‐ missverständlich: Die Biographie des Dionysos und die Geschichte seiner Epi‐ theta sind eins und lassen sich als „mythisches Drama“ darstellen, das Gaudé eine nicht nur mythologische, sondern auch poetologische Berechtigung der Rezeption und Darstellung des Dionysosmythos in dramatischer Form gibt. Einer der wichtigsten Aspekte von Dionysosrepräsentationen - egal welcher Kunstform - ist die verjüngende Wirkung des Dionysos. Im Kult bereits un‐ missverständlich begründet, verjüngt sich Dionysos ohne fremdes Zutun, was im zweijährigen Rhythmus des Dionysos trieterikós und sowohl in der den Kult begleitenden als auch der ihn im Nachhinein beschreibenden Literatur Ausdruck findet. So spüren Kadmos und Theiresias in den Bakchen deutlich den dionysi‐ schen Jungbrunnen: KADMOS. […] ach wie gern vergess ich es, dass ich ein Greis bin. THEIRESIAS. Also geht es dir wie mir: Auch ich verjüngt, Herr, gürte mich zum Reigentanz. (Euripides 1958: 99) Die Inversion der menschlichen Lebenskurve kann von Gaudé nicht außer Acht gelassen werden. Bereits zu Beginn des Stückes nimmt Onysos prophetisch seine Verjüngung vorweg: „La vieillesse de ma peau te répugne-t-elle ? Ne t’inquiète pas, je rajeunirai.“ (OF, 10) Der Topos puer senex begleitet den gesamten récit de vie und bettet die Erzählung des Onysos in einen literarisch-rhetorischen Kon‐ 180 4 Gaudés dionysische Dramen text ein. Onysos verweist mit Nachdruck auf seine Verkörperung der Unzer‐ störbarkeit des Lebens und zeigt, dass er als Gott die Zeit überdauert, während der Alterungsprozess an den Sterblichen unaufhaltsam nagt. Poetologisch be‐ trachtet wird durch Gaudés Stück die Praxis des Erzählens der dionysischen Lebensgeschichte und ihre Versetzung in die Gegenwart zum Prinzip der Ver‐ jüngung, womit Gaudés Drama die verjüngende Kraft der Mythenrezeption im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen postuliert. Gaudé schreibt seine Figur zugleich auf mehreren Bedeutungsebenen des Textes ein und macht die poetologische Komponente des Textes zu einem der entscheidenden Überle‐ benshilfen seiner Figur. Onysos beschreibt das Erzählen an sich als Akt der Ver‐ jüngung und nimmt das auf die Zuschauer verweisende imaginäre Gegenüber zum Zeugen dieser rückwärtigen, den Zyklus durchkreuzenden Transforma‐ tion: Ne vois-tu pas, déjà, comme j’ai rajeuni et combien mon visage compte moins de rides. Je sens mon corps qui se réchauffe, mes muscles sont plus fermes, Je pourrais me dénuder et tu verrais que mon corps n’est plus celui d’un vieillard. Je pourrais presque déjà te terrasser à la lutte. (OF, 10) […] Est-ce parce que tu viens juste de constater combien mon visage a changé, et combien il est plus ferme et plus jeune que lorsque nous avons commencé à parler ? Je t’avais dit - et j’avais bien vu alors que tu ne me croyais pas - que parler me ferait rajeunir, et que si tu me laissais finir mon long récit, mon corps serait à la fin plus vigoureux que le tien, si bien que quand nous nous lèverions pour nous séparer, tu serais vieux - car le temps tandis que je parle continue sur toi son travail de termite - et je serai indestructible. (OF, 33) Die verjüngende Kraft von Literatur wird nicht nur mythologisch unter‐ mauert, sondern an Onysos, als dithyrambische, personifizierende Rezeption des Dionysos-Mythos, exemplifiziert. Die von Gaudé gestiftete Opposition zu einer linear verlaufenden Erzählzeit und die Konterkarierung des puer-senex-Topos durch die initiatorische Geschichte des zum Sterben gezwungenen Gottes ver‐ deutlichen Gaudés poetologische Zentriertheit auf die Welt des Mythos, in der Mytheme - seien sie auch noch so konträr - unaufhörlich ineinandergreifen. Dem Eingang des Lebensberichtes liegt die Überlagerung gleich mehrerer Topoi zugrunde - eine für Gaudé typische Intensivierung der poetologischen Aussage durch eigenständige Neukombination rhetorischer Mittel: Es ist dies die Ver‐ mischung der Topoi puer senex und tempus fugit, wobei letzterer wiederum auf die Unumgänglichkeit des Todes für die Weiterführung und Erneuerung des Lebens verweist. Mit Onysos kommt ein erfahrener, einsamer Beobachter der Menschheit, der sich lange Zeit zurückgezogen hat, wieder zum Vorschein - 181 4.2 „Onysos le furieux“ 53 Bemerkenswerterweise wurde Combats de possédés, in deutscher Sprache, nach einer Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, unter dem Titel Kampfhunde (erhältlich über den Rowohlt Theater-Verlag), am 1. April 2000 am Schauspiel Essen in einer In‐ szenierung von Jürgen Bosse uraufgeführt. Cendres sur les mains wurde am 07. Juli 2001 in einer Inszenierung Jean-Marc Bourg mit der Compagnie Labyrinthes (Montpellier) im Theater Chartreuse de Villeneuve lez Avignon uraufgeführt. Pluie de Cendres wurde am 14. Oktober 1997 in einer Lesung von Laurent Gaudé im Théâtre Ouvert in Paris uraufgeführt. Gaudés Manuskript wurde noch im selben Jahr im Verlag des Théâtre Ouvert veröffentlicht (tapuscrit n° 89). Am 14. März 2001 erfolgte dann die dramaturgische Uraufführung in einer Inszenierung von Michel Favory im Studio-Théâtre der Comédie-Française. Für weitere Inszenierungen dieser Stücke s. 6.2.1. zwar sprichwörtlich im Untergrund und augenscheinlich nur einem einzigen Individuum gegenüber, jedoch nichtsdestoweniger manifest: Mes yeux sont fragiles d’avoir trop longtemps scruté l’obscurité, et cette étrange lu‐ mière bleue de néon qui clignote me brûle l’iris. Laisse-moi te contempler que je voie si l’homme a changé. Il n’y a plus de boue. (OF, 9) Gaudés Dionysos intensiviert die Zeitspanne seiner Abwesenheit durch die Evokation der prometheischen Menschenformung und verweist damit zugleich autoreflexiv auf die lange Tradition und die Intermedialität der Repräsentati‐ onen des polymorphen Gottes. Betrachtet man die Geschichte der Dionysos-Darstellungen, kann man in der Tat eine Verjüngung des Gottes von den antiken zu den neuzeitlichen Werken hin feststellen (Gesing 1988: 26; Ba‐ eumer 2006: 37 ff.). Diesem Phänomen Rechnung tragend, verjüngen sich Onysos und Dionysos gleichermaßen intermedial, mit jeder künstlerischen Re‐ alisierung und jeder Bearbeitung des überlieferten Mythenmaterials. 4.3 Dionysische Gefilde: Combats de possédés, Pluie de cendres und Cendres sur les mains zwischen Ober- und Unterwelt Die Dramen Combats de possédés (CP; 1999), Cendres sur les mains (CM; 2002) und Pluie de cendres (PC; 2001) weisen gemeinsame Merkmale der Dionysosre‐ zeption auf, die es anbietet, sie intertextuell näher zu untersuchen. 53 Durch die zeitliche Nähe ihrer Veröffentlichung liegt die Vermutung nahe, dass sie ein loses Triptychon darstellen, zumal sie auch formal und thematisch eng zusammen‐ hängen. Es handelt sich im Gegensatz zu OF nicht um Monologdramen, sondern um dialogisch angelegte Gesellschaftsdramen, die einen individualpsychologi‐ 182 4 Gaudés dionysische Dramen schen Schwerpunkt erkennen lassen. Gemeinsam mit OF ist ihnen jedoch die poetologische Semantisierung der Grenzüberschreitung zwischen Diesseits und Jenseits. Die transzendentale Atmosphäre und das Vorkommen einiger mar‐ kanter Eigenschaften des Gottes Dionysos sowie einiger Motive aus seiner Vita, laden dazu ein, diese drei Dramen ebenfalls einer lecture dionysiaque zu unter‐ ziehen. Combats de possédés ist ein modernes Mafia-Drama, dessen Figuren von Un‐ terdrückung und Kontrolle geprägt sind. Auf den Chef (le Patron) einer mafiösen Organisation wird ein Anschlag verübt, den dieser jedoch überlebt. Fortan ist es sein Bestreben, den Attentäter (l’Assassin) aufspüren. Als man ihm den jungen Mann schließlich präsentiert, beschließt der Patron jedoch, ihn zu ver‐ schonen. Da der Patron kinderlos ist, entscheidet er kurzerhand, den Assassin zu adoptieren und ihn zu seinem Nachfolger heranzuziehen, um sein skrupel‐ loses System von Korruption und Gewalt noch weiter zu perfektionieren. Seine Rechnung scheint aufzugehen, jedoch ist der Assassin ein erbitterter Gegen‐ spieler; er spielt seinem Ziehvater eine wachsende Loyalität vor, um insgeheim seinen finalen Schlag vorzubereiten - ist der Assassin doch fest entschlossen, am Patron für das Auslöschen seiner gesamten Familie Rache zu nehmen. Der Patron muss schließlich einsehen, dass er die emotionale Bindung zu seinem Zögling nicht mit seinem angehäuften Kapital erkaufen kann. Am Ende des Stückes werden beide Antagonisten in einem Niemandsland (terrain vague), das wohl für die Fehler und Vergehen des spätkapitalistischen Europa an den dort lebenden Menschen steht, von den Totengräbern (Fossoyeurs) des Patron ei‐ genhändig vergraben, die sich vor Arbeit kaum retten können. In der finalen Szene bleibt nur ein Fossoyeur zurück, da der zweite dem psychischen Druck des Imperiums und der Masse an zu verscharrenden Opfern nicht mehr ge‐ wachsen ist und unter mysteriösen Bedingungen umkommt. CP ist ein düsteres, pessimistisches Drama, das Züge eines Thrillers der Kriminalliteratur des aus‐ gehenden 20. Jahrhunderts aufweist. Schonungslos portraitiert Gaudé die gna‐ denlosen Mechanismen der freien Marktwirtschaft, denen er menschliche Emo‐ tionen als hoffnungslos unterlegen gegenübergestellt. Der im Titel verwendete Begriff possédés spielt sehr wahrscheinlich auf die große Masse der dem Kapi‐ talismus untergeordneten Subjekte der westlichen Gesellschaft an, welche die Inhaber großer Firmen als ihren Besitz betrachten, über den sie nach Belieben verfügen können. Was den terrain vague betrifft, knüpft Cendres sur les mains an CP an: Zwei Männer verbrennen die unzähligen Leichen in einem vom Krieg verwüsteten, nicht näher bestimmten Land. Aus der Masse der Toten erhebt sich plötzlich eine Frau (la Rescapée), von den Männern nicht weiter beachtet, da eigentlich 183 4.3 Dionysische Gefilde bereits für tot befunden. Überrascht und zunächst maßlos überfordert, da sie ausschließlich an den Kontakt zu Toten gewöhnt sind und die soziale Interaktion mit lebendigen Menschen verlernt haben, versuchen die beiden sie zu pflegen und ihr ins Leben zurückzuhelfen. Die Rescapée, die den Männern bei der täg‐ lichen Arbeit des Verbrennens der Leichen hilft, ist, ähnlich wie die beiden To‐ tengräber, ausschließlich auf die Toten fixiert, zu denen sie eine besondere Be‐ ziehung hat: Sie spricht zu ihnen, streicht mit den Händen über sie und versucht so, sämtliche Leiber haptisch zu memorisieren und damit die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten. Während sich CP und CM mit den Auswirkungen von Gewalt und Kriegs‐ handlungen auseinandersetzt, sind die kriegerischen Handlungen in Pluie de cendres noch in vollem Gange: Eine nicht näher definierte Stadt befindet sich seit einer unbestimmten, aber sehr lange anmutenden Zeit im Belagerungszu‐ stand. Die wenigen noch verbliebenen Einwohner scheinen langsam am tägli‐ chen Trommelfeuer der gnadenlos agierenden Belagerer zugrunde zu gehen. Die umzingelnde Armee setzt eine Vernichtungsmaschinerie mit schwersten Waffen ein, die regelmäßig Asche über den Häusern abregnen lässt - ein tägli‐ cher Ascheregen, der den Himmel verdunkelt und immer wieder alles unter sich zu begraben droht. Trotz der unvermeidlich erscheinenden, vernichtenden Nie‐ derlage sind die Bewohner der Stadt weiterhin fest entschlossen, ihre Verteidi‐ gung aufrecht zu erhalten - unter den Augen von Korée, einer jungen Frau, die sich zur Standarte und zum Gesicht der Stadt entwickelt hat. Dies mutet ob der belagernden Übermacht absurd an; genauso absurd jedoch erscheint der mili‐ tärische Stillstand - der Konflikt stagniert offensichtlich, trotz der militärischen Übermacht der Belagerer. Die Figur des Ajac, Korées Geliebter, ist aus diesem Grunde der einzige, der sich gegen ein weiteres Aufbäumen ausspricht. Seine einzigen Gedanken sind die Flucht und ein Weg, seine geliebte Korée aus der Schusslinie zu schleusen. Mysteriöserweise ist Korée jedoch für ihn unauf‐ findbar - so streift er nachts in den Ruinen umher, durchkämmt die Straßen und gräbt in den Trümmern, unermüdlich denn fest entschlossen, Korée dem sinn‐ losen Belagerungszustand zu entreißen. Aber als er schließlich Korée wieder‐ findet und zudem ein Mittel parat zu haben scheint, sie und sich selbst aus dem permamenten Bombardement zu retten, weist sie ihn vehement zurück. Durch ihren dramatischen Freitod am Ende des Stückes wertet sie zugleich den Status des Ajac als letzter verbliebener Bürger der belagerten Stadt auf und unter‐ streicht damit Ajacs ungebrochenen Willen zum Widerstand. Die Figur des Argo wird am Ende des Stückes, ähnlich wie die Rescapée zu Beginn von CM, zum Medium der Erinnerung an sämtliche Toten und Verschollenen. 184 4 Gaudés dionysische Dramen 54 Eine Stellungnahme Laurent Gaudés zu PC im Theaterportal théâtre contemporain.net: http: / / www.theatre-contemporain.net/ spectacles/ Pluie-de-cendres/ ensavoirplus/ (07.09.2018). Das dystopisch anmutende Endzeitszenario in PC erinnert selbstverständlich an die unzähligen Belagerungen von Städten bei militärischen Konflikten - ge‐ rade in der jüngeren Geschichte, und nicht ohne Assoziationen an derzeitige Konfliktherde auszulösen. Laurent Gaudé hat sich selbst zur universellen Trag‐ weite seines Stückes geäußert: Pluie de cendres n’est pas une pièce d’actualité. La réalité dont la pièce se nourrit peut être, c’est vrai, celle de Srebrenica, de Grozny ou de Stalingrad, mais est-elle très dif‐ férente de celle de Carthage ou de Troie ? Les photos des journaux nous le montrent tous les jours. Nous découvrons régulièrement des visages et des silhouettes que l’on croyait appartenir à l’antiquité : de vieilles femmes ridées qui pleurent sur leur maison. De jeunes femmes endeuillées qui hurlent au ciel. Des combattants exsangues qui montent se cacher dans les collines, à dos de cheval. Des gamins, en loques, qui lancent des pierres. À chaque nouvelle guerre, nous nous rendons compte, avec stupéfaction, que l’antiquité est contemporaine. Ou plutôt que l’actualité est barbare. Je ne cherche pas à décrire de façon réaliste la chute d’une ville - à ce jeu, le théâtre ne pourra jamais rivaliser avec le cinéma. Ce que je cherche, c’est à faire entendre le chant sans âge de la tragédie. Faire résonner la voix de ceux que le sort écrase. Être avec eux, par la magie du théâtre. Les accompagner. Suivre leurs trajectoires. Et épouser, le temps de la représentation, leur destin. 54 In PC tritt zudem Gaudés Verbundenheit zum antiken Theater und sein Selbstverständnis der behutsamen Modernisierung besonders deutlich hervor. Viele Handlungssequenzen erinnern an große Tragödien der Antike sowie der französischen Klassik - beispielsweise Racines Phèdre (1677). Hier ist der Kon‐ flikt zwischen öffentlichem Pflichtbewusstsein und individuellem Glück zu nennen, aber auch die aus Phèdre bekannte Kraft des erotischen Verlangens und der Machthunger bei den Protagonisten (Firges 2008: 85-92; 106-114; Krauß 2003: 245-276). Die Figurennamen tun ihr Übriges, um mit ihrer lautlichen Ähnlichkeit zum Griechischen ein antikes Isotopiengeflecht zu bilden. Argo erinnert an die Stadt Argos auf der Peloponnes - eines der Zentren der mykenischen Kultur, Ajac erinnert an Ajax (gr. Αἴας: Aias), den mutigen und unermüdlichen grie‐ chischen Kämpfer im Trojanischen Krieg. Am deutlichsten wird die Verbun‐ denheit bei Korée, die buchstäblich an das griechische Wort κόρη (Kore: Jung‐ frau, Tochter; auch der Beiname der Persephone) erinnert. Die liebevolle Pflege des Körpers der toten Korée durch Ajac und Argo erinnert, mit vertauschten Geschlechtern, an Antigones Beerdigungsritual ihres toten Bruders. Wenngleich 185 4.3 Dionysische Gefilde das Drama, wie CP und CM, weniger sprachgewaltig daherkommt als OF, so ist es doch eine universelle Präsentation der conditio humana in einer gegenwarts‐ nahen Zeitsituation und einer unwirtlichen, von Kriegen immer wieder be‐ drohten und geplagten Welt. Mit CP, CM und PC hat Gaudé drei Stücke geschaffen, die ihre Aussage durch thematische Zusammenhänge potenzieren und so eine kontrastive Untersu‐ chung vorantreiben - beispielsweise das Asche-Motiv in CM und PC (vgl. 4.3.1) oder die bedrückende Atmosphäre der permanenten Leichenbeseitigung in CP und CM. Zudem verbunden durch den rekurrenten Schauplatz des verwüsteten, öden Niemandslandes, dessen Ausweglosigkeit sich damit noch verstärkt, ent‐ wickeln diese drei dystopischen Stücke eine besondere wechselwirksame Kraft. Darüber hinaus werden im Folgenden die emotionalen, ekstatischen Eruptionen einiger Figuren unter die Lupe genommen, welche die Stücke in den Fokus einer dionysischen Lesart rücken, die letztlich nicht nur die weithin bekannten Züge des antiken Gottes offenbart, sondern auch auf versteckte „Qualitäten“ der Gottheit hinweisen. 4.3.1 Gaudés terrain vague: Schau-Platz für chthonische Symbole des Übergangs Angst vor dem Übergang vom Diesseits ins Jenseits haben Gaudés Figuren, wie die meisten Menschen, permanent. Sie entwickeln verschiedene, stets paradoxe und mythisch genährte Techniken, dem Übergang zu entgehen oder ihn aus‐ findig zu machen. Scheitern müssen sie alle an ihrem Vorhaben. Hierbei spielen zudem typisch irdische, d. h. von der Erde ausgehende und in sie zurückkehrende Dinge eine zentrale Rolle. Gerade in ihrem Scheitern werden die Figuren zu chthonischen Symbolen des Übergangs. In PC werden vehemente Versuche der Figuren deutlich, sich gegen den be‐ vorstehenden Tod hinwegzusetzen. Angesichts der permanenten Bedrohung durch ein nicht näher spezifiziertes feindliches Heer, das wie ein Damokles‐ schwert über der gesamten Handlung schwebt, geraten diese Versuche zu kläg‐ lichen, vergeblichen Auflehnungen gegen den Tod. Ajac betrachtet den Tod als eine Macht, die man demütigen und damit zu einer Abwehrreaktion zwingen kann. So ist er überzeugt, durch Schändung der Toten den Tod zu brüskieren und dazu zu bringen, ihn nicht heimzusuchen (PC, 20). Dem Übertritt in die Unterwelt kann jedoch auch nicht durch Ajacs systematisch angelegte Leichen‐ fledderei entgangen werden - der Tod hat seine Verbündeten in den Reihen der Lebenden: Die von allen übrigen totgeglaubte Figur des Argo, der Ajacs Ma‐ chenschaften beobachtet, durchkreuzt dessen Strategie durch eine einfache 186 4 Gaudés dionysische Dramen 55 Vgl. http: / / parutions.com/ index.php? pid=1&rid=1&srid=141&ida=3282 (07.09.2018). Geste: Er übergibt Ajac seine Habseligkeiten und zeigt ihm mit einem lakoni‐ schen Kommentar die Sinnlosigkeit seiner Handlung auf: „Tu seras bientôt riche, Ajac. Riche comme le roi des morts.“ (PC, 23). Ajac erlangt so die Gewissheit, dass er sich weder vom Tod freikaufen noch Abstand zu den engagiert kämp‐ fenden Gesellschaftsmitgliedern aufbauen kann, die den Tod stets im Blick haben. Korées Freitod bringt Ajac dazu, sich auch dann für die Gemeinschaft zu schlagen, wenn sie nicht mehr reell, sondern nur noch ideell existiert (PC, 36 f.). Erst im Tod aller übrigen die Gemeinschaft bildenden Figuren erkennt Ajac die integrative und die individuelle Identität stärkende Wirkung der Gemeinschaft. Ajacs Überzeugung schlägt damit von einem Extrem ins andere um und zeigt die emotionale Vereinnahmung durch soziale Konventionen auf. Die Ideale der Gruppe um Ajac bestimmen folglich als oberste Gebote stets über die Geschicke der Gemeinschaft und werden selbst dann noch verfochten, wenn die Gemein‐ schaft bereits nicht mehr existiert. Mit der Wandlung Ajacs wird aber vor allem der gemeinschaftliche Charakter der Arbeit am Mythos deutlich. Gestützt durch die gemeinschaftliche Überlieferung des Mythos hat das Individuum eine ex‐ poniertere Position gegenüber dem Absolutismus der Wirklichkeit. Dies kann als Plädoyer der Fundamentalität des Mythos für die menschliche Ontologie gelesen werden, das Gaudé in die Figur des Ajac hineinlegt. Selbst wenn Mythen über den Zerfall einer Gemeinschaft durch Krieg und Zerstörung hinwegtäu‐ schen, machen sie jedoch das Leben erträglicher und füllen es erst mit emotio‐ nalen Werten. Der Ascheregen, der dem Stück seinen Namen gibt, breitet sich, wie von einem Vulkan herrührend, über die gesamte Stadt aus und droht sie zu ver‐ schlingen (PC, 24). Die multifunktionale Szene des Vulkanausbruchs ergänzt sich durch eine Aktualitätskomponente, da Gaudé das Stück während des kurz zuvor ausgebrochenen Jugoslawienkrieges verfasste. Damit kommt die my‐ thisch-mystische Komponente des Stückes auch auf der Ebene der Geschehnisse zum Tragen. 55 Der Ascheregen, der den ständigen Krieg in PC symbolisiert und einer permanenten Terrorisierung der unabsichtlich Beteiligten gleichkommt, erinnert nicht nur an die omnipräsente Asche der vernichteten Leichen in CM und das System der Gewalt des Patron in CP, gegen welches einige Figuren erbittert und bis zuletzt kämpfen. Die Markiertheit der Asche in allen drei Stü‐ cken verweist auf den Lévi-strauss’schen Chiasmus von Honig und Tabak, dem der Anthropologe in seiner Studie Du miel aux cendres (1966) durch die Gegen‐ überstellung dieser Elemente und ihrer Eigenschaften auf den Grund geht. In 187 4.3 Dionysische Gefilde Gaudés Werk spielen Tabak und Asche eine ähnliche Schlüsselrolle, wenn es um Zerstörung, Umwälzung und Neubeginn geht. Zu diesen Elementen gesellen sich in CM der mythenumwobene Honig und der für die moderne Industrie stehende Kalk; der zweite Totengräber setzt am Ende des Stückes den angelie‐ ferten Kalk nämlich mit den Honigflüssen des goldenen Zeitalters gleich (vgl. 3.1.4). Die besondere Dynamik an der von Lévi-Strauss übernommenen linearen und chiastischen Gegenüberstellung zeigt sich an den Verbindungen zur ent‐ gegengesetzten Seite. Auf diese Weise kann die Asche nicht nur giftig und töd‐ lich sein, sondern in Form des Tabaks auch die berauschende Wirkung entfalten, die in der Antike von Honig bekannt ist: Abbildung 2: Chiasmus von Honig, Milch, Tabak und Asche Sowohl der Honig als auch der Tabak schwanken zwischen zwei Wesenseigen‐ schaften, zwei Zuständen („états“): „celui d’un aliment suprême et celui d’un poison extrême.“ (Lévi-Strauss 1966: 54) Diese Erkenntnis von Lévi-Strauss aus den Mythen der Ureinwohner beider amerikanischer Kontinente verweist auf die ambivalenten Eigenschaften der dionysischen Insignien in der griechischen Mythologie. Nicht zuletzt wegen seiner narkotischen Wirkung kann man den Tabak mit dem Effekt des vergorenen Honigtrankes vergleichen und als diony‐ sisches Instrument ansehen: „Comme le miel par conséquent, le tabac que son usage profane permet de classer au nombre des nourritures peut, dans ses autres fonctions prendre une valeur exactement opposée : celle d’émétique et même de poison.“ (ebd.: 48 f.) Der Tabak verweist auf die Mythen der Entstehung des Feuers und damit auf den prometheischen Mythenkreis, nicht zuletzt weil der Tabak zumeist in bren‐ nender Form konsumiert wird (Lévi-Strauss 1966: 49). Im Vergleich zum Feuer, das dem Rohverzehr ein Ende setzte und damit einen entscheidenden zivilisa‐ torischen Schritt in der Menschheitsentwicklung leistete, ist das Rauchen jedoch 188 4 Gaudés dionysische Dramen gesondert zu betrachten; es wird von Lévi-Strauss als „ultrakulinarischer“ Akt bezeichnet, da der Tabak, im Gegensatz zur Nahrung, verbrannt wird, um kon‐ sumiert zu werden (ebd.: 52). Bei Gaudé ist der Tabak Symbol für das Leben, das sich, wie eine brennende Zigarette, schnell verflüchtigt und nur als Asche zu‐ rückbleibt. Die Metaphorik und mythische Allegorie des Tabaks tritt in Gaudés Roman SdS (2004) besonders deutlich zu Tage (vgl. SdS, 105; 178-189). Durch die Evokation des Goldenen Zeitalters formt der Fossoyeur 2 (CM) die für beide Totengräber ausweglose Situation zu einem entwicklungsgeschichtli‐ chen Chiasmus aus; die zivilisatorische Entwicklung hin zum Gebrauch des Feuers wird von der Linie der ursprünglichen Erdgaben, Milch und Honig, durchkreuzt. Gaudés mythologische Extremführung der Gabe des Prometheus hin zum Mittel der Vertuschung eines Massenmordes wird durch den Kalk in‐ tensiviert, der für die Totengräber, in farblicher Übereinstimmung mit der Milch, eine vielgepriesene göttliche Gabe und die Wiederkehr des goldenen Zeitalters darstellt. Die poetische und mythologische Ausgestaltung dieser Szene ver‐ schärft die vorliegende Gräueltat und die Allgegenwart des Todes. Hinzu kommt, dass Feuer, Asche, Milch und Honig direkte Zeichen der unmittelbaren dionysischen Präsenz sind (vgl. 3.1.4). Im antiken mythologischen Verständnis etwa des Hesiod drückt sich die Gleichheit des Materiellen und Ideellen gerade durch die Stoffe aus, mit denen göttliche Wesen in Verbindung gebracht werden (Hübner 1985: 113). So decken Feuer, Asche, Milch und Honig die komplette Dionysos-Mythe von der ersten Geburt bis zum Gang in den Hades ab. Der Feuergeborene, den Semele durch die blitzgestaltige Zeusepiphanie zur Welt bringt, von den Mänaden mit Milch und Honig aufgezogen, kann durch seine berauschende Wirkung eine Zerstörung in Gang bringen, die manches Mal nur Asche zurücklässt. Die Geburtsumstände des Dionysos erläutern dies: Um den vom Efeu geschützten Dionysos-Säugling herum verbrannte alles, seine leib‐ liche Mutter mit eingeschlossen (vgl. 3.1.1). Der Fossoyeur 2 betrachtet den Kalk als heilbringendes Mittel gegen alle Leiden und Bedürfnisse. Er evoziert das Goldene Zeitalter unter Hinzuziehung einer erneuten Parallele zum Dionysos-Mythos: Milch und Honig fließen vor dem Hintergrund des krassen Gegensatzes zwischen irdischem Paradies und der massenhaften Menschenvernichtung, welche die Totengräber stets psychisch zu verdrängen suchen. Der Fossoyeur 2 wirkt in dieser zentralen Szene des Stü‐ ckes wie der antike Exarchont der Dithyramben und eine wild umhertanzende Figur in einem, vereint folglich fundamentale Wesenszüge des ursprünglichen, dionysischen Theaters. In seinem rauschhaften Zustand, der an die Mänaden erinnert, schwärmt der Fossoyeur 2 vom Kalk als einem Elixier, das den beiden fortan die Beschwerden des Qualms der Leichenverbrennung ersparen wird. 189 4.3 Dionysische Gefilde Gaudés Totengräber verklärt aber nicht nur die Arbeitssituation, sondern das Dasein der beiden als solches zu einem paradiesischen Zustand: Fossoyeur 2 revient en courant, portant des sacs de chaux. FOSSOYEUR 2. Vite. Il faut que tu te lèves. Vite. Incroyable. Là. Sur la route. C’étaient eux. Tu ne peux pas imaginer. On a gagné. La chaux. Là. Tu ne vas pas me croire. Des dizaines de sacs. Des centaines de sacs. Une montagne. Un camion entier. Laissés comme ça. Sur le bord de la route. Déversés d’un coup. C’est tout pour nous. Ils s’en vont. Ils me l’ont dit. Ils reviendront plus. La guerre finie. Ils l’ont dit. Hurlé par la fenêtre du camion. Sans s’arrêter. Pressés de partir. Ils n’ont pas traîné. La guerre finie. Tu parles. C’est la grève. Oui. La nôtre. Qui les a mis à genoux. Tu n’en croiras pas tes yeux. Vite. Il faut que tu voies ça. On a gagné. Un camion entier. Jamais vu ça. Un tas énorme. Bien plus haut que moi. Tu vois. J’ai ramené ça. Mais c’est rien par rapport à ce qu’il y a. Dérisoire. Une montagne entière, je te dis. Tu vois ? Incroyable. Tu m’en‐ tends ? Regarde. De la chaux. (Il ouvre un des sacs et sort de la chaux à pleines mains.) Tu dis rien. Tout va aller bien maintenant. Tu vas voir. Ça va reprendre. Le travail. Plus facile. Comme tu disais. Tout bien. Tu verras. J’ai du mal avec la respiration. Ça brûle. C’est tout enflé. L’air passe plus. J’ai soif. Ça te faisait ça, toi aussi ? Le feu, partout ? Qui bouffe. La soif. C’est pas grave. Ils ont pensé à nous. Une montagne entière. Tu en veux ? (Il saisit à mains nues des poignées de chaux qu’il fait pleuvoir sur le corps du Fossoyeur 1.) C’est pas bon, ça ? Une pluie d’été. C’est fini, mon vieux. C’est la fin des peines et des fatigues. Le repos, maintenant. Mieux qu’à l’infirmerie. (Il entame la danse de la chaux, dans une sorte de démence épuisée. Il danse en répandant partout de la chaux.) Un bain de lait. Plus besoin de savon. C’est doux tu sens ? Finie la soif. (Il mange de la chaux à pleine bouche.) Du miel. On y a droit. Du miel sur nos plaies. Pour ne plus rien sentir. Plus rien. Que la douceur du lait sur nos peaux. Il s’effondre par terre. (CM, 37 f.) Dieser Lobgesang eines Berauschten bietet alles auf, was auch in einem Di‐ thyrambos zu finden ist: Der Sänger steigert sich immer weiter in die ihm auf‐ getragene Rolle des Dionysos mainómenos hinein, was deutlich wird an der Gradatio, die der Fossoyeur 2 vorführt, indem er durch die gesamte Szene hin‐ durch von einer quantitativ ansteigenden, hyperbolisch anmutenden Menge an Kalk spricht, die den Totengräbern zurückgelassen wurde. Die Szene ist am Ende des Stückes situiert, kurz vor dem Ableben der beiden Fossoyeurs. Der Monolog des zweiten Totengräbers suggeriert den schleichenden Tod des ersten Toten‐ gräbers, der bereits nicht mehr in der Lage ist zu sprechen, da er trotz mehrfacher Ansprache nichts mehr von sich gibt. Dies ist typisch für einen dionysisch be‐ rauschten Menschen, der, dem Tod nahe, sich in der äußersten Ekstase, in einer, wie Gaudé es ausdrückt, „démence épuisée“ befindet - diese entlädt sich beim 190 4 Gaudés dionysische Dramen zweiten Totengräber in einer wilden, überbordenden Tanzszene und einer rauschhaften Wahrnehmungsverzerrung, hält er doch den Kalk für Milch. Selbst die zugehörige Didaskalie unterstützt diese perzeptive Veränderung mit dem Verb „pleuvoir“. Der immer wieder geäußerte Unmut über die Arbeitsbedin‐ gungen hat nicht den Erfolg vollbracht, den der Fossoyeur am Ende seines Mo‐ nologs ankündigt; es obliegt Lesern und Zuschauern die dramatische Ironie zu entschlüsseln, dass es vielmehr einzig der nahende Tod ist, der die verheißene und vielgepriesene Erleichterung bringt. Unterstützt durch den Wunsch, nichts mehr zu spüren als die Milch (respektive den Kalk) auf seinem Körper -sarkas‐ tischerweise ist der Kalk ja dazu bestimmt, über die zu verscharrenden Toten geschüttet zu werden - nähert sich der zweite Totengräber dem ersten an, der sich bereits aus dem Reich der Lebenden verabschiedet hat. Der Fossoyeur 2 ist davon überzeugt, dass der Kalk, der eilig von einem Last‐ wagen im Vorbeifahren abgeworfen wird, ein Siegeszeichen ist, das den Erfolg des Protests der Totengräber bescheinigt. Die einzige Information, die, indirekt über den Totengräber vorgetragen, von der Außenwelt in die Isolation des Büh‐ nengeschehens eindringt, ist ein flüchtiger Ruf, der das Ende des Krieges sig‐ nalisiert. Die Geschwindigkeit, mit der das Militärfahrzeug wegfährt, ist sowohl ein Zeichen für die abstoßende Atmosphäre des Ortes - dessen Isolation durch die Kalklieferung nicht aufgebrochen wird - als auch ein Signal für das erfolg‐ reiche Ende eines fingierten Arbeitskampfes, der einseitig, weil in der Isolation, geführt wurde. Ein Übriges leistet die vom zweiten Totengräber erzeugte Dop‐ peldeutigkeit der Passage: Die Aussage „La guerre finie“ bezieht der Fossoyeur 2 nicht nur auf den Krieg zwischen zwei unbekannten Parteien, dessen ver‐ nichtende Spuren die Totengräber zu beseitigen beauftragt sind, sondern auch auf den Arbeitskampf zwischen den Totengräbern und ihren Befehlshabern (CM, 37 f.). Die Zuschauer respektive Leser haben keinen textuellen Beweis dafür, dass Kommunikation zwischen den Insassen des Lastwagens und den Totengräbern stattgefunden hat. Man hat nur das Wort des zweiten Totengräbers, die manisch anmutende Wiederholung seiner Zeugnisnahme. Zugleich eröffnet der Mo‐ nolog des zweiten Totengräbers eine naive Ehrlichkeit, wenn er die strikte Grenzziehung zwischen der Außenwelt und dem Terrain der Totengräber da‐ durch zur Sprache bringt, dass die Insassen des Lastwagens im Vorbeifahren das Ende des Krieges schreiend proklamiert haben, ohne eine Tür zu öffnen. Die Angst vor Übergriffen seitens des offensichtlich siegreichen Feindes rechtfertigt zwar die Eile, nicht aber die äußerst zurückhaltende Form des Kontakts mit den Totengräbern - die Totengräber scheinen für die Insassen des Fahrzeugs ein‐ deutig einer beängstigenden, nicht zum Diesseits zählenden Welt anzugehören. 191 4.3 Dionysische Gefilde Die Figurenkonstellation in CM ergibt, hinsichtlich der Disposition zur Kom‐ munikation und zu sozialer Interaktion, einen Chiasmus, der an die zuvor be‐ nannte chiastische Anordnung von Tabak und Honig erinnert. Beide Gruppen, sowohl die Totengräber, als auch die Rescapée, ergänzen, trotz der offensichtli‐ chen strukturellen Alternanz, den dionysischen Diskurs der Grenzüberschrei‐ tung zwischen Ober- und Unterwelt. In der Makrostruktur wird die Stichomy‐ thie in den Szenen der Fossoyeurs abgelöst von den ausgedehnten Monologen der Rescapée. Selbst in der Mikrostruktur alternieren die Dialoge untereinander, was die Dialogführung betrifft. In der siebten Szene eröffnet der Fossoyeur 1 und hat auch die Gesprächsführung inne, in der neunten Szene ist es der Fos‐ soyeur 2, der die Diskussion leitet. Unterbrochen sind die beiden Szenen durch den Monolog der Rescapée, der strukturell, stilistisch und formal komplett an‐ dere Akzente setzt und eher dem Monolog des Onysos gleichkommt. Gaudé vereint in seinem Drama demnach zwei völlig unterschiedliche dramaturgische Praktiken, die einerseits die gegensätzlichen Charaktere der Figuren unter‐ mauern, andererseits aber, durch die inhaltlichen Anknüpfungspunkte, an die vereinende, manieristische Technik der concordia discors erinnern. Diese litera‐ rische Technik dient somit zur Komplettierung der den dionysischen Diskurs der Entgrenzung ausdrückenden Bedeutungsebenen. Hinzu kommt, dass das Stück von der Rescapée mit je einem récit eingerahmt wird. Im abschließenden récit erzählt die Rescapée, dass sie, nach langem, stra‐ paziösem Umherirren einen Ort mit Gleichgesinnten gefunden hat, die ähnlich einschneidende Erlebnisse mit Toten hatten (CM, 40 f.). Sie will all die Leichen benennen, die sie in ihr Gedächtnis aufgenommen hat, und hofft, dass sie von zumindest einem Insassen des Flüchtlingslagers erkannt wird, der ihr über ihre Vergangenheit erzählen kann, welche sie, um die Toten speichern zu können, aus ihrem Gedächtnis verbannt hat. Die Liste der haptisch gespeicherten Toten in ihrem Gedächtnis wird den Betroffenen helfen, über den Verbleib der Ange‐ hörigen zu erfahren. Aus der Kenntnis des abschließenden récit kann auch die Bedeutung des im Eröffnungsmonolog von der Rescapée häufig verwendeten, jedoch nicht näher definierten Wortes „elle“ gefolgert werden (CM, 9 ff.). Abge‐ leitet aus dem Geschehen in CM kann das Personalpronomen als Platzhalter für den Krieg („la guerre“) interpretiert werden, der, nachdem er im gesamten Stück nicht explizit definiert wird, nun von der Rescapée personifiziert und zum Ar‐ chetypus des Grauens erhoben, aber auch zu dem Symbol des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits schlechthin stilisiert wird. Das verlassene Gelände, der terrain vague, der in CM den Schauplatz stellt, ist auch in CP als ein Schauplatz des Patron-Imperiums vertreten (CP, 51). Der terrain vague dient dem Patron als Grundlage einer pervertierenden Rezeption 192 4 Gaudés dionysische Dramen des Prometheus-Mythos. Da sein Reichtum mit dem Leben anderer erkauft ist, folglich auf einem Sockel des Todes ruht, trägt der Patron nicht zur Schöpfung, sondern zur Vernichtung des Menschen bei, verhilft ihm nicht zur zivilisatori‐ schen Entwicklung, sondern errichtet ein anti-prometheisches, die Mehrzahl der Menschen ausschließendes, materielles Imperium aus Luxus und minutiöser Kontrolle, dessen Grundsubstanz die zu Erde gewordenen Menschen sind: LE PATRON. […] Tout est construit sur un tas de fumier. C’est ainsi. Ce n’est pas quelque chose de honteux qu’il faut oublier. Imagine un immense building de cin‐ quante étages. […] Et plus tu descends, plus les choses deviennent triviales. […] C’est là qu’il faut aller voir, fils, c’est là qu’il ne faut pas craindre de descendre car tout repose sur cela: un tas de merde et de boue. Des égouts puants. A perte de vue. Immense comme l’étaient les salles de réception du quarante-neuvième étage. La merde du sous-sol, fils, j’y vais tous les jours. Le jour où j’oublierai ce terrain vague, le jour où je croirai que mon empire n’a pas besoin de ce terrain pour tenir, je serai perdu. (CP, 51 f.) Die Reputation des Patron beruht auf seinen beständigen, einschüchternden Tötungsakten. Einher mit dem Schwelgen im Luxus geht stets die Angst vor der Rache der Feinde: „Je n’oublie jamais sur quoi j’ai construit ma richesse, d’où me vient cet argent qui déforme mes poches. Je n’oublie jamais mes ennemis. Ils sont là. Et ils sont innombrables.“ (CP, 52) Um nicht zu vergessen, was seine Position garantiert, betritt er jeden Tag den terrain vague. Mit jedem Auftrags‐ mord steigt das Misstrauen auf mögliche Racheakte, deren Potential gerade im Tod enthalten ist, denn die Hinterbliebenen, die der Patron nicht töten konnte, sind seine zukünftigen Widersacher. Paradebeispiel hierfür ist der Assassin selbst. Daher auch der Versuch des Patron, den Assassin auf seine Seite zu ziehen und ihn zu seinem Adoptivsohn zu machen: „Reste ici, fils. Imprègne-toi de ce lieu. Arpente ce terrain. Apprends tout entier mon secret. Fais-le tien. Que nous soyons unis de cette terre-là aussi.“ (CP, 52) Dass dies ein anspruchsvoller Wunsch ist, liegt nahe, da irgendwo auf dem terrain vague die Familie des As‐ sassin liegt, die der Patron auslöschen ließ. Eine der Arbeitsanweisungen des Patron an die Totengräber verlangt das Fesseln der Leichen (CP, 27), was die Immensität des Misstrauens des Patron symbolisch darstellt und zeigt, dass er die Grenzenlosigkeit von dionysischen Neigungen im Menschen erkannt zu haben scheint. Der Assassin antwortet auf dieses transzendentale Misstrauen des Patron, indem er den Toten die Fesseln löst und einer grenzüberschreitenden, die Angstphantasien des Patron näh‐ renden Vergeltung den Weg ebnet. Von dieser über den Tod hinausgehenden Paranoia, die der Patron entwickelt, bleiben auch die übrigen Figuren nicht un‐ 193 4.3 Dionysische Gefilde berührt. So berichtet der Fossoyeur 1, dass er im Traum die Toten aus der Erde emporkommen sieht, und begründet dies damit, dass die Totengräber ihnen durch ihre ständigen Erdbewegungen keine Ruhe gönnen (CP, 22). Er zeichnet nicht nur mystische Szenarien, sondern zeigt mit der Interpretation seiner Träume ein düsteres Bild vom thanatos des Patron auf, der mit seinen Machen‐ schaften gleichzeitig seinen Tötungszwang und seine Todesangst überspielen will. Permanente Endzeitgedanken hegen auch die Totengräber in CM. Der Sturm, den der erste Totengräber nach der mysteriösen Windstille prophezeit (CM, 30 f.), wird seiner Ansicht nach auch im übertragenen Sinne agieren und die Schuld der beiden Totengräber tilgen, da sie wie Zahnräder in einer großen Maschinerie des Massenmordes fungieren. Die dionysische Komponente der „Schuld“ als bloße Involviertheit in die unmittelbare Nähe des Gottes und seines rasenden Gefolges ist hier nicht von der Hand zu weisen (Hübner 1985: 327). Durch die Kombination moralischer Gesichtspunkte von Schuld und Schuldfä‐ higkeit in der Diskussion des Figurenpaares und deren mythopoietische Ver‐ quickung mit dem dionysischen Aspekt des ahnungslosen Sündenbocks bringt Gaudé neue, differenzierte Betrachtungsweisen für Zuschauer und Leser hervor, die auf einer kreativen Kombination thematisch verwandter aber literarhisto‐ risch und ideengeschichtlich nicht unbedingt naheliegender Quellen beruhen (vgl. Buber 1964: 52 ff.). Dies legt die Worte Hugo Rahners nahe, der die Arbeit der antiken Denker folgendermaßen würdigte: „Diese gelassene Sicherheit der umarmenden Geste, in der sich Hellas und Kirche finden, ist die feinste Frucht eines wahren Humanismus.“ (1945: 491) Im Anbetracht der in keinem TV-Nachrichtenblock fehlenden Berichte über Katastrophen, Gewalttaten und Kriege, die zum Tagesgeschäft zu gehören scheinen und deren menschliche Verluste am folgenden Tag wieder vergessen sind, da sie neuerlichen Toten weichen müssen, ist die Rescapée mit ihrer trans‐ zendentalen Fähigkeit eine Gegenreaktion und ein Zeichen, jedem Menschen‐ leben wieder seinen, bereits in Vergessenheit geratenen, Stellenwert zurückzu‐ geben. Aber weit davon entfernt, nur den moralischen Zeigefinger zu erheben, zeigt Gaudés Drama durch die Konzentration auf den Tod eine jenseitsorien‐ tierte Handlung, die antike Mythen über chthonische und unterweltliche Ge‐ walten mit einer Thematik verbindet, die das 20. Jahrhundert von Beginn an geprägt hat und auch das 21. Jahrhundert nicht loszulassen scheint. In CM beklagen sich die beiden Totengräber immer wieder über übelste Ar‐ beitsbedingungen, intensiviert durch den Bericht von unverhältnismäßig hartem körperlichen Einsatz. Ihre detaillierte, pragmatische, stets der Arbeit zugewandte Beschreibung eröffnet indirekt die Perspektive eines Völkermords, 194 4 Gaudés dionysische Dramen der an den Holocaust erinnert (CM, 12-16). In der Reflexion der Totengräber spielt lediglich die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die effektivere Ver‐ brennung und Beseitigung der Toten, den Einsatz von Kalk zur Zersetzung der Leichen, eine Rolle und nicht die Tatsache, dass die beiden Totengräber in die Maschinerie eines von langer Hand geplanten Massenmordes eingespannt sind. Der die schockierenden Tatsachen verwischende Pragmatismus der beiden To‐ tengräber äußert sich besonders am Ende der Szene (CM, 16), als die Rescapée, die sie gerade wegtragen wollen, wieder lebendig wird. Die entrüstete Reaktion des zweiten Totengräbers zeigt in aller Deutlichkeit, dass er und sein Partner derart in den monotonen Arbeitsablauf der Totenvernichtung eingespannt sind, dass sie mit lebenden Menschen nichts mehr anzufangen wissen: „Oui, non, mais tu vois, ça, ça m’énerve ! Ils se foutent de nous ! Même plus capables de faire leur travail. Ils nous amènent des cadavres vivants, maintenant. Qu’est-ce qu’on va faire ? “ (CM, 16) CP bietet ein ähnliches Bild der ausweglosen Permanenz in der Nekropolis: Da das vorbereitende Ausheben der Gräber, wie es der Fossoyeur 1 vorschlägt, zwar praktisch ist, aber das System des Patron untergräbt, befiehlt der Fossoyeur 2, stets hörig zu bleiben und von dieser Arbeitserleichterung abzusehen, da sie den Patron kritisch mit seinem Instrumentarium konfrontieren und folglich die Gewissheit der Totengräber über die stete Fortsetzung der Auftragsmorde de‐ monstrieren würde: FOSSOYEUR 2. Bon. Et quelle tête aurait fait le type, à ton avis, si tout à l’heure, lorsqu’il nous a apporté le premier corps, il avait vu deux trous ? Tu y as pensé à ça ? FOSSOYEUR 1. Non. FOSSOYEUR 2. C’est pour cela que tu n’es pas patron. Parce que tu ne penses pas à ces petits détails. Il faut que tu fasses confiance au système tel qu’il a été conçu par le patron, parce que le patron est infiniment plus intelligent que toi et moi. C’est pour cela qu’on ne t’a rien dit. (CP, 26) Mit diesem Problem stoßen die Totengräber zugleich auf die unterschiedliche Informationsverteilung und entdecken, dass sie die am geringsten Informierten im System des Patron sind. Ein hierarchisches System, auf Misstrauen aufgebaut, begünstigt so das gedankliche Aufbegehren des Fossoyeur 1. Der Intellekt der Fossoyeurs erweist sich dadurch, dass sie, wenngleich nur zum Funktionieren verurteilt, durch ihre Diskussion die Struktur des Systems selbständig aufdecken und sich als Schlusslicht der Informationskette wahrnehmen (CP, 27). Der Fos‐ soyeur 1 hat nicht die Fähigkeit zur Entwicklung eines Pflichtbewusstseins und ist damit zu politischer Instrumentalisierung ungeeignet. („Je n’avais pas pensé 195 4.3 Dionysische Gefilde à ça“, CP, 70). Er verharrt indes im Pragmatismus, der zwar beständig den Sinn der Arbeit hinterfragt, aber keine Möglichkeit zur aktiven Auflehnung vorsieht. In CM erhält die Flucht in den Pragmatismus vor dem Hintergrund einer von Ferne gesteuerten Gräueltat, bei welcher die Totengräber als Instrumente am Ende einer industriell durchorganisierten Kette fungieren, durch den lebhaften, umgangssprachlichen Dialog - der typisch ist für Gaudés Theaterstücke - eine besondere Wucht. Die Diskussion zwischen den Totengräbern geht darum, ob der Fossoyeur 2 sich wahrhaftig für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt hat. Der politischen Redegewandtheit des ersten Totengräbers hat der Fossoyeur 2 nichts entgegenzusetzen. Die Schädigungen der Tätigkeit zeigen sich bei ihm auf psychosomatischer Ebene - er leidet unter Waschzwang: „Donne-m’en un. (Fossoyeur 1 va chercher un savon dans la caisse et le lui donne. Avec sa gourde, il lui verse de l’eau sur les mains.) C’est devenu comme une manie, tu vois. Tous les jours. Plusieurs fois par jour. Il faut que je frotte. Ça me démange.“ (CM, 15) Die Dialoge der Totengräber in CM und CP fungieren vermehrt als antithe‐ tische Gespräche; in erster Linie sind es Streit- oder Erörterungsgespräche, und die Figurenrede, die zwischen Stichomythie und längeren, teils monologischen Passagen oszilliert, ist oft von Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsqua‐ lität gekennzeichnet. Diese Forderungen werden nach außen, an nicht weiter präzisierte Personen gestellt. Dass diese Personen im Stück außen vor bleiben, zeigt die Abgeschiedenheit und Isolation der Fossoyeurs und zugleich die Ver‐ bannung solch unangenehmer Aspekte durch die moderne Gesellschaft. Der erste Totengräber geht in seinen Reflexionen jedoch weit über das rein Materi‐ elle hinaus. Gaudé verbindet hier das Politische mit dem Materiellen und stellt es dem Philosophischen gegenüber, veranschaulicht an den dichotomischen Ansichten der beiden Totengräber: FOSSOYEUR 1. Il faudra bien, un jour, que l’on paie. Je peux sentir, chaque jour qui passe, le poids des dettes qui s’accumulent et je sais déjà que je n’ai pas de quoi rem‐ bourser. Que je n’aurai jamais de quoi. Je suis un criminel et je n’ai pas le moindre début du premier sou pour mon rachat. (CP, 49) Es ergibt sich ein gravierendes, folgenschweres Missverständnis: Der Fosso‐ yeur 2 ist rein finanziell orientiert und versteht daher die metaphorische Sprache des ersten Totengräbers rein denotativ, was sich darin äußert, dass er auf den geringen Profit der Arbeit anspielt (CP, 49 f.). Aus dieser Situation ist zu ersehen, dass sich der Fossoyeur 1 zum verbalen Element entwickelt, wohingegen sein Mitstreiter das aktionsorientierte Element darstellt. In der anfänglich sachlich geführten Diskussion ergibt ein Wort das andere, woraus sich ein Streitgespräch entwickelt, das sich allmählich vom eigentlichen Anlass wegbewegt - ein Mar‐ 196 4 Gaudés dionysische Dramen kenzeichen der Figuren Samuel Becketts (Phalèse 1998: 37-45). So liegt es nicht fern, festzuhalten, dass die Fossoyeurs, gemeinsam mit Becketts Figurenpaaren in Fin de partie (1957) und En attendant Godot (1952) auch mit den Totengräbern in William Shakespeares Hamlet Gemeinsamkeiten teilen, nicht zuletzt, was das Sprachregister und den Argumentationsverlauf angeht. Auch in Hamlet (V, 1) sind beide Totengräber stets davon überzeugt, eine hochbrisante, ja philosophi‐ sche Grundsatzdiskussion zu führen (Shakespeare 2003: 225-227). Die Würze dieser Spannungssituation zwischen dem Sachverhalt und seiner Verbalisierung liegt zudem in der Kategorisierung der beiden Figuren, die als „Clowns“ einge‐ führt werden (Hadaegh 2012: 2647). Wie Kinder streiten sich die Totengräber in CM um den Sieg im spielerisch anmutenden Wettstreit um die Kontaktaufnahme mit der Rescapée - ein Zeug‐ nis für ihre außerordentlichen Schwierigkeiten, mit lebenden Menschen umzu‐ gehen. Auf der Handlungsebene wird die Komplementarität der beiden Ele‐ mente deutlich: Während der Fossoyeur 1 beständig die Missstände der Arbeitssituation anprangert und zur Handlung aufruft, ist es der Fossoyeur 2, der ausführt. Er ist es, der mit der Rescapée Kontakt aufnimmt und ihr Nahrung gibt. Der Wettkampf der beiden Totengräber stellt, poetologisch betrachtet, eine direkte Verbindung vom kindlichen Spiel zum Spielcharakter der poiesis her, wobei die Isolation der beiden Charaktere zusätzlich auf die von Huizinga an‐ gesprochene unausweichliche Vermischung von komischen und tragischen As‐ pekten im Spiel aufmerksam macht (Huizinga 2004: 147 f.; 160). Sarrazac sieht den entscheidenden Zug in der Entwicklung des Beckett’schen Dramas im Verzicht auf die Beziehung zwischen eigenständigen Individuen. Wenn bei Beckett unterschiedliche, individuell anmutende Figuren auftreten, geschieht dies meist in Figurenpaaren, die sich im Sinne der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik gegenseitig bedingen und demnach eine Symbiose ein‐ gehen (Hegel 1986: 145-155). Getrennt nicht existenzfähig, erinnern Vladimir und Estragon in En attendant Godot (G) sowie Hamm und Clov in Fin de partie (FP) an ego und alter ego einer schizophrenen Person. So ist die Beckett’sche Dramenfigur stets in Dissonanz mit sich selbst, da die zugrundegelegte Persön‐ lichkeitsspaltung die Möglichkeit verschiedener Seelenzustände nicht nur suk‐ zessive, sondern gerade auch simultan, folglich die Achse der Zeit durchbre‐ chend, vorspielt (Sarrazac 1989: 127). Vladimir und Estragon veranschaulichen das Paradox dieser Dissonanz, das nur in der grenzüberschreitenden Zusam‐ menschau begreifbar ist: „Aufgrund der Symmetrie und des Gleichgewichts der beiden Kräfte stellen Vladimir und Estragon eine unentschiedene Situation dar. Sie können sich weder in Harmonie vereinen noch endgültig voneinander trennen. Stattdessen behindern sie sich gegenseitig“ (Veit 2002: 122). Der die 197 4.3 Dionysische Gefilde Handlung aufrechterhaltende Antagonismus ist in CP nicht nur zwischen Pa‐ tron und Assassin zu erkennen, sondern bringt auch Paare gegeneinander, die sich im Laufe der Handlung immer wieder neu formieren. Dieser dynamische Antagonismus ist für Gaudé keinesfalls durch den Tod aufhebbar: Bei ihm geht das Drama in der Unterwelt weiter, wovon die Totengräber in CM und CP in eigentümlicher Weise zeugen. Dieser an Beckett angelehnte, sich in der Stichomythie aufzulösen scheinende Dualismus gilt gleichermaßen für die Leibwächter in CP sowie für die Toten‐ gräber in CP und CM. Die an einen politischen Disput erinnernde Unterredung wird nicht nur von umgangssprachlichen Ausdrücken der Totengräber durch‐ zogen, sondern auch mit Vokabular aus anderen Fachgebieten überlagert und weist dadurch bereits auf die Interpretierbarkeit des Textmaterials in unter‐ schiedliche Richtungen hin. Sowohl die Arbeitgeberanweisung (CM, 22) als auch die Sprache der Fossoyeurs zeichnet sich durch ein ausgesuchtes, an politische Debatten erinnerndes Vokabular aus. An der Verwendung dieses „Gewerk‐ schaftsvokabulars“, das vor dem absurden Hintergrund der völligen Isolation der beiden Figuren gleichermaßen lächerlich und tragisch wirkt, wird die In‐ strumentalisierung der Sprache durch den ersten Totengräber veranschaulicht, die sich durch das gesamte Stück zieht und sich zu einer eigenen Bedeutungs‐ ebene entwickelt - einmal mehr wird das Mythologische in den Kontext der alltäglichen Gegenwart versetzt. Wie in CM, so tritt auch in CP die Vermischung von philosophischer Rede durch politisierende Thesen ebenfalls deutlich hervor (CP, 20). Der erste Toten‐ gräber fordert beständig Änderungen im Arbeitsablauf, um die enormen Unan‐ nehmlichkeiten der Arbeit aufzufangen: „Les règles sont faites pour être chan‐ gées.“ (CP, 21) Der Fossoyeur 1 führt das Problem der unterschiedlichen Größe der Leichname ein, jedoch in der pragmatischen Betrachtungsweise eines rou‐ tinierten Fachmannes, der den Schwerpunkt darauf legt, nachträgliche Vergrö‐ ßerungen des vorbereiteten Erdloches zu vermeiden. Da offenbar so viele Lei‐ chen begraben werden müssen, dass selbst der Platz auf dem grenzenlos erscheinenden terrain vague knapp wird, verstärkt der rein logistische Gedanke die makabre Situation. Der erste Totengräber führt hier eine subtile Problematik an, die einem mehrschichtigen Interessenskonflikt entspringt. Aus der befehls‐ konform orientierten Sicht des Fossoyeur 2 vermutet der Fossoyeur 1 ein Pro‐ blem, wo keines ist. Jedoch gewinnt die augenscheinlich banale Situation bei genauerer Betrachtung an für Leser und Charaktere gleichermaßen bedrän‐ gender Bedeutungsschwere. Auf Initiative des Fossoyeur 1 hin, beschließen die Totengräber in CM zu streiken, und zu allem Überfluss fordert der Fossoyeur 1 seinen Kollegen auf, 198 4 Gaudés dionysische Dramen „das bestreikte Gelände“ nicht zu verlassen (CM, 26 ff.). Doch damit nicht genug: Die politisch instrumentalisierte Reflexion über die Möglichkeit, die Leichen‐ berge mit Kalk zu zersetzen, gerät durch die Szenerie eines von der Außenwelt isolierten Terrain zu einer Beckett sehr ähnlichen, rhetorischen Inszenierung vor dem gähnenden Abgrund der Absurdität (CM, 21 f.). Dass die dialogische Unterredung die absurde Lage jedoch aushebeln kann, beweist die Diskussion um die Arbeitsbedingungen, die sich auf eine, auch in Becketts Stücken stets aufgeworfene ontologische Frage hinbewegt. Über die Diskussion erfahren die beiden Totengräber erst die Absurdität ihres Diskussionsgegenstandes und ge‐ wärtigen die eigentliche Problematik: die der Verortung ihrer Existenz, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann. Durch den ausschließlichen Kontakt mit Leichen beginnt der Fossoyeur 2 zu glauben, dass er und sein Partner bereits tot sind (CM, 27). Allein dadurch, dass er gedanklich der Mög‐ lichkeit gewahr wird, seinen Tod nicht bemerkt zu haben - tot zu sein und doch noch das Gespür eines Lebendigen zu haben -, überschreitet der zweite Toten‐ gräber die Grenze zwischen Leben und Tod und verkörpert das rastlose Leben in der Unterwelt: FOSSOYEUR 1. On est vivants, je te dis. FOSSOYEUR 2. Pourquoi ? FOSSOYEUR 1. Parce que ça nous gratte. (Temps.) C’est une preuve, ça. On est vivants, mon vieux. Tant que ça nous démangera. FOSSOYEUR 2. Et si c’était pire que ça ? FOSSOYEUR 1. Qu’est-ce que tu veux dire ? FOSSOYEUR 2. Non seulement morts. Mais des morts que ça gratte encore. FOSSOYEUR 1. Il faut être vicieux pour penser ça. T’es vivant, compris ? Tu te tais. Tu réfléchis plus. T’es vivant. C’est comme ça. (CM, 27 f.) Der erste Totengräber kann das Argument seines Kollegen jedoch nicht plau‐ sibel widerlegen, da es ihm nicht gelingt, einen eindeutigen Beweis zu bringen, dass die beiden sich nach konventioneller Vorstellung im Diesseits befinden. Die mangelnde Beweisfähigkeit ergibt sich aus der Situation: Die Totengräber werden der Rescapée gewahr, einer Person, von der sie nicht sicher wissen, ob sie tot oder lebendig ist. Die Figur der Rescapée bildet die Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits und wird zum Indikator einer Jenseitswanderung, die sich als schleichender, unmerklicher descensus ad inferos ausnimmt. An dieser Stelle tritt Gaudés dionysische Theaterkonzeption deutlich hervor. Für die Gaudé’schen Figuren gibt es ein Weiterleben in der Unterwelt, gemäß dem Abstieg des Dionysos in die Unterwelt und seiner zyklischen Wiederkunft im Diesseits. Die Fossoyeurs, die in ihrem ganzen Wesen vom Tode erfüllt sind, 199 4.3 Dionysische Gefilde da sie die Arbeit, Leichen zu verbrennen und zu vergraben, als einzige Daseins‐ berechtigung aufweisen können, exemplifizieren die dionysische Konzeption der Bestätigung des Lebens durch die Umgebung des Todes. Die Sprache als Konstituente der Existenz spielt eine zentrale Rolle: Der Fossoyeur 1 warnt sein Pendant vor dem „unschicklichen“ Gedanken der Grenzüberschreitung und quittiert die Überzeugung des Fossoyeurs 2, dass die Grenze zwischen Leben und Tod unmerklich übertreten wurde, mit Entsetzen. Er bringt Dante’sche Anklänge als Gegenargument ins Spiel, indem er seinen Kollegen der Arglist bezichtigt (Inf. XXXIII, 16 ff.; Prill 1999: 134-139). Der erste Totengräber ist über‐ zeugt von der eigenen Schuldfähigkeit durch progressives Denken, das vom Regelkatalog abweicht, der den Totengräbern durch äußere Zwänge auferlegt ist. Doch gerade die Verbalisierung dieser ontologischen Neugierde ist es, mit der die Gaudé’schen Figuren Existenz definieren und sich über den räumlichen Imperativ hinwegsetzen können. Aus der Rede der Totengräber in CP und CM erwächst die These, dass das Wissen über die Welt und ihr Eingebettetsein in eine düstere Umgebung, die sich den Zuschauern wie ein gähnender Abgrund auftut, eine äußere und damit unerreichbare Macht darstellt. Wer wie der Fossoyeur 2 am Ende von CM die Erkenntnis darüber erlangt, erfährt eine Epiphanie (CM, 37 f.), wird dionysisch berauscht und steht damit dem Diesseits nicht mehr zur Verfügung, da er un‐ zurechnungsfähig ist. Gaudé stellt durch die Form der antiken Theaterpraxis des Zwiegesprächs und mithilfe der Evokation antiker Jenseitsmetaphern sowie moderner gesellschaftlicher Phänomene und Missstände die Unwissenheit des Menschen nicht nur mythisch, sondern auch kulturhistorisch umfassend dar. Die ständige Mythenrezeption der Figuren und des Theatertextes, in den diese sich unwiderruflich eingebettet finden, liest sich als die einzige Antwort, die dem Menschen auf den „Absolutismus der Wirklichkeit“ bleibt. Eine dialogische Struktur von Texten ist seit der Antike in vielen Schriften zu finden, die ein Thema kontrovers diskutieren. Ausgehend von der platoni‐ schen dialektiké téchne (διαλεκτική τέχνη; lat. ars dialectica), ist die Kunst der Diskussion kontroverser Themen in der Literatur seit der Antike ausgeprägt und gab im Bereich der Erzähltechnik Anstoß zur Entwicklung der Polyphonie und Multiperspektivität. Auf die platonischen Dialoge geht auch die Form zu‐ rück, die John Dryden für sein methodologisches und literaturkritisches Essay of Dramatick Poesie (1668) verwendet hat. Pate für diese direkt ausgetragene Diskussion der fiktiven Gesprächspartner Crites, Eugenius, Lisideius und Ne‐ ander standen Corneilles drei dramentheoretische Discours (1660), deren Argu‐ mentation jedoch in Form einer monoperspektivischen essayistischen Erörte‐ rung vorliegt. Das kritisch hinterfragende, erörternde System beschränkt sich 200 4 Gaudés dionysische Dramen nicht nur auf poetologische Schriften, sondern findet in der Literatur allgemein ihren Niederschlag. Werden die Themen nicht direkt von Gesprächspartnern vorgetragen, sondern äußern sich indirekt über die formale Gestaltung eines Textes - beispielsweise in der Haltung der Diener- und Narrenfiguren gegen‐ über ihren Herren - so ist die dialogische Form in die Struktur des Textes ein‐ gegangen. In der Folge wurde die dialogische Struktur von Texten zur Bedingung sub‐ versiver, die herrschenden Zustände hinterfragender Literatur. Der russische Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin hat die dialogische Struktur durch die Literaturgeschichte in einer Reihe von Texten nachgewiesen (vgl. Bachtin 1990). Die Strömung von subversiven Texten mit dialogischer Struktur nennt er kar‐ nevaleske Literatur, da sie sich, wie der mittelalterliche Karneval, gegen eine bestehende Machtstruktur und damit gegen eine bestimmte Obrigkeitshörigkeit wendet. CP und CM reihen sich durch die dialogische Struktur folglich in die Linie der dialogisch strukturierten Literatur ein. Das Mikrosystem der dialo‐ gischen Struktur eines Textes deutet auf ein ähnlich geartetes Makrosystem, denn die Strömung der karnevalisierenden Literatur existiert nur, weil sie in der Dekarnevalisierung der Literatur ein Pendant findet. Durch die permanente Gegenbewegung der Strömungen, wie der Wechsel zwischen Karneval und kirchlichen Feiertagen, kann die literaturwissenschaft‐ liche Komponente der dialogischen Struktur in eine philosophische Dialektik überführt werden, die Züge von Hegels Herr-Knecht-Dialektik aufweist. In der Herr-Knecht-Dialektik kann der Herr seine Daseinsberechtigung als Herr‐ schender lediglich aus der Tatsache ziehen, dass es eine Person gibt, die ihm untergeben ist (Hegel 1986 II: 80 f.). Dies kommt, exemplifiziert durch Patron und zweiten Leibwächter, in CP deutlich zum Ausdruck. Auch die pure Forma‐ lität der Hierarchie, die oftmals von einem zur Herrschaftssituation umgekehrt proportionalen Intellekt des Dieners pervertiert wird, ist in Gaudés Stück nicht zu übersehen, vor allem weil der Patron fortwährend vorgibt, bei weitem intel‐ ligenter zu sein als alle übrigen Personen um ihn herum. Der Patron ist zwar durch seine klugen Schachzüge zunächst in der Lage, seine Machtposition zu behaupten, doch wird im Verlauf des Stückes zunehmend der höhere Intellekt seiner Untergebenen offensichtlich. Mit der Einführung der Herr-Knecht-Dia‐ lektik stellt Gaudé sein Stück in die philosophisch-literarische Tradition von Denis Diderot, der Hegel durch seinen Roman Jacques le fataliste et son maître (1796) einen Denkanstoß für die Entwicklung der Herr-Knecht-Dialektik gab. Jacques le fataliste lässt die Infragestellung der Machtstrukturen des Ancien ré‐ gime bis auf die metafiktionale Ebene wirken, indem er die poetologischen Prin‐ 201 4.3 Dionysische Gefilde zipien des Romans selbst in Frage stellt und somit die vollständige Unabhän‐ gigkeit des Romanciers von der literarischen Form postuliert. Die alles hinterfragende, dialogisch-dialektische Struktur von Diderots Roman wird von Beginn an deutlich. Indem der Roman mit einer Frage eröffnet („Comment s’étaient-ils rencontrés ? “, Diderot 1981: 23), die vom Erzähler auf‐ geworfen wird, realisiert Diderot die Einbindung des Lesers in den Prozess der Sinnstiftung des Textes. Selbst wenn Diderots Erzähler die meisten seiner Fragen selbst beantwortet, gehen von ihm die entscheidenden Impulse für die Leser‐ aktivierung aus. Der Erzähler ist nicht mehr allwissend und gibt dies auch un‐ umwunden in direkten Leseransprachen preis, zeigt den Lesern jedoch ebenso unmissverständlich seine exponierte Position an, die es ihm ermöglicht, eine Geschichte nach Belieben zu erfinden, zu konstruieren und sie durch eigene Einwürfe zu dekonstruieren und infragestellend zu kommentieren: Vous voyez, lecteur, que je suis en beau chemin, et qu’il ne tiendrait qu’à moi de vous faire attendre un an, deux ans, trois ans, le récit des amours de Jacques, en le séparant de son maître et en leur faisant courir à chacun tous les hasards qu’il me plairait. Qu’est-ce qui m’empêcherait de marier le maître et de le faire cocu ? d’embarquer Jacques pour les îles ? d’y conduire son maître ? de les ramener tous les deux en France sur le même vaisseau ? Qu’il est facile de faire des contes ! Mais ils en seront quittes l’un et l’autre pour une mauvaise nuit, et vous pour ce délai. (Diderot 1981: 244) Das Innovative und zugleich Revolutionäre an Diderots Roman ist, dass, wie sich bereits im Titel zeigt, dem Diener Jacques der Vortritt überlassen ist. Die eigentliche, nämlich intellektuelle Machtposition über die gesamte Dialogsitu‐ ation hat Jacques inne. Mit kritischen Fragen erschweren und begünstigen Jacques und der Erzähler gleichermaßen den Fortgang des Romans, indem sie immer wieder neue Anregungen für philosophische Argumentationen geben und episodische Exkurse einfügen. Ähnlich wie in Lawrence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman (1759-67) wird der Fortgang von Jacques le fataliste eher durch die Digressionen als durch die Handlung selbst erzielt. Ähnlich freizügig wie Diderots Jacques spricht der erste Leibwächter in CP unverhohlen zu seinem Herrn. Dass beide Parteien das Beschäftigungsver‐ hältnis zu ihrem eigenen Vorteil nutzen wollen, beweist die zumindest eben‐ bürtige intellektuelle Position und das Selbstverständnis von der persönlichen Freiheit des Leibwächters, der bei seinem Chef unermüdlich eine bessere Ent‐ lohnung einfordert für die lebensgefährliche Arbeit, die weder Fehler noch Er‐ holungspausen erlaubt (CP, 12 ff.). Dass dieser für seine Freizügigkeit letztend‐ lich doch mit dem Leben bezahlt, ist einerseits ein Beweis der Rückständigkeit des Patron gegenüber Diderots aufgeklärtem maître und andererseits eine Un‐ 202 4 Gaudés dionysische Dramen termauerung der intellektuellen Unterlegenheit, die den Patron zur Anwendung roher Gewalt hinreißt. Die Extremführung traditioneller literarischer Topoi bei Gaudé wird bereits früh im Stück skizziert. Der Patron misstraut dem Garde du corps 1 bereits seit dessen ausgebliebener Schutzreaktion während des Attentatsversuchs durch den Assassin. Ab diesem Zeitpunkt steht der Leibwächter mit dem Patron in‐ tellektuell auf einer Stufe: Er fordert seinen Vorgesetzten auf intellektueller Ebene heraus, während er zuvor nie nachgedacht, sondern stets reflexartig ge‐ handelt hat und damit auch uneingeschränkt erfolgreich war (CP, 24 f.). Der Leibwächter erkennt seinen Ausbruch aus der unkritischen Professionalität un‐ missverständlich als Folge seiner gerade entdeckten Fähigkeit zur Reflexion. Durch die Eigeninitiative des Nachdenkens hat er sich von seiner Bestimmung als Leibwächter entfernt und verzeichnet den Endpunkt seiner Entwicklung als nunmehr komplette Opposition zu seinem roboterartig handelnden Kollegen, mit dem er fortan keine homogene Einheit mehr bildet. Durch seine kritische Reflexion ist der Garde du corps 1 eine Gefahr für das System des Patron ge‐ worden und muss eliminiert werden, da ihm der Herr intellektuell nichts mehr entgegenzusetzen hat. Dass sich die Machtstrukturen bei dieser „Dialektik von unten“, wie bei Di‐ derot, nur im Gedankenspiel verschieben, wird gegen Ende des Stückes deutlich. Die Herr-Knecht-Dialektik „funktioniert“ nicht, wenn eine Seite ausfällt, weil sämtliche Kategorien hinfällig werden - dies erfahren die Totengräber nach dem Tod des Patron am eigenen Leibe, da sie keine Rückmeldung darüber erhalten, ob die Befehle zur Zufriedenheit des Vorgesetzten ausgeführt wurden: „FOS‐ SOYEUR 2. Le patron est mort. Qui pourra savoir si, oui ou non, nous avons respecté les instructions ? “ (CP, 69) Der zweite Totengräber ist noch nicht in der Lage zu sehen, dass sich die Situation des Untergebenseins aufgelöst hat, weist aber, wenn auch unbewusst, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf, da er die Möglichkeit der Suche nach einem neuen Herrn in Betracht zieht. Als uner‐ müdlicher Verfechter der „conscience professionnelle“ sieht er in dieser Mög‐ lichkeit einen Beweis dafür, dass es sich auszahlt, stets obrigkeitshörig zu sein und die herrschenden Machstrukturen nicht zu unterminieren. So bemerkt er, im Gegensatz zu seinem Partner, auch nicht, dass sich, in Abwesenheit des Pa‐ tron, die Herr-Knecht-Dialektik auf das Figurenpaar der Totengräber überträgt. Der zweite Totengräber entwickelt sich zwar zum befehlenden Part, findet je‐ doch, intellektuell gesehen, im subversiv denkenden und lakonisch wirkenden ersten Totengräber seinen Meister (vgl. CP, 69 f.). Es ist zu erkennen, dass Gaudés Herr-Knecht-Dialektik nur zum Teil mit der Hegel’schen und Diderot’schen Herr-Knecht-Dialektik übereinstimmt und ver‐ 203 4.3 Dionysische Gefilde mehrt neue, eigenwillige Wege geht. Gaudés Dialektik äußert sich nicht nur zwischen Herr und Knecht, sondern auch zwischen vermeintlich Gleichge‐ stellten, die sich durch die dynamischen Stichomythien in ständiger Bewegung befinden. In CP wird dies neben den Totengräbern an den Figurenpaaren Pute - Femme du patron, Assassin - Clandestin sowie an den Leibwächtern deutlich. Sowohl in CP als auch in CM rezipiert Gaudé die literarisch angewandte Herr-Knecht-Dialektik, die in Frankreich seit Diderot eine große literarische Tradition hat, in ihrer extremsten Konsequenz. Gaudé lehnt seine symbiotischen Personenkonstellationen deutlich an Be‐ cketts dichotomische Figurenpaare an. Wie zwischen Becketts Vladimir und Estragon (G) durchbricht die Geworfenheit in eine Grenzsituation der Existenz die Hierarchie zwischen dem Fossoyeur 1 und 2. Am Ende von CP und CM beschließen die Totengräber, an Vladimir und Estragon erinnernd, auf ein au‐ ßerordentliches, die Ödheit durchbrechendes Ereignis zu warten, obwohl sie bereits die Gewissheit verlassen hat, dass sie sich wirklich im Diesseits befinden. Die Komplementarität der beiden Figuren zeigt sich durch ihre ausschließlich auf Gegensätzen aufgebaute Ergänzung: Sowohl bei Beckett als auch bei Gaudé besetzt eine Komponente des Paares mehr die geistige Sphäre, während sich die andere eher durch die physische Sphäre auszeichnet. Dadurch ist, einer Sym‐ biose gleich, die Einzelexistenz nicht möglich, der Tod eines Partners würde sofort die Spannung zwischen Dies- und Jenseits aufheben. Der Gegensatz be‐ zeichnet hier zwei Pole, die, einer Dichotomie gleich, nicht voneinander zu trennen sind - zugespitzt formuliert: Die dichotomische Symbiose dieser Be‐ ckett’schen und Gaudé’schen Minimalfiguren besteht aus einem kühl be‐ rechnenden, logisch sinnierenden, nach Ordnung und Maßhaltung strebenden, apollinischen sowie einem stets die Transgression suchenden, dionysischen Teil. So erfährt die Interdependenz, das Kernstück der Herr-Knecht-Dialektik, eine maximale Reduktion auf die Dichotomie - die Referenz an berühmte Paare der Weltliteratur wie Don Quijote und Sancho Panza, Jacques le Fataliste und seinen Herrn ist nicht zu übersehen. Diese Figurenkonzeption erinnert an die dichotomische Einteilung der lite‐ rarischen Strömungen in apollinische und dionysische durch Hocke, der diese bis in Figurenkonstellationen des Theaters hinein bestätigt sieht. Das „Erha‐ benes“ und „Komisches“ vereinende Absurde in Becketts und Gaudés dramati‐ schen Szenarien ist damit Ausdruck, dass in der extremen Reduktion Kategorien übergreifende Erkenntnis und geistige Weltumspannung liegen. So wird das antithetisch angelegte dionysische Wesen des Theaters selbst zum Spiegel der Dionysos-Apollon-Dichotomie und damit zu einer Parabel auf die Kunst: 204 4 Gaudés dionysische Dramen Der dionysische Mensch hat nach Nietzsche ‚Ähnlichkeit mit Hamlet‘. Beide haben das Wesen der Dinge erkannt, und es ekelt sie zu handeln. Gegenüber der Erkenntnis ‚grauenhafter Wahrheit‘ ‚verfängt kein Trost mehr‘. Nur die Kunst kann retten, und zwar ‚das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Ko‐ mische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden‘. (Hocke 1987: 448) Durch die Isolation des Bühnengeschehens (vgl. CM, 12; CP, 69) verlieren sich die Totengräber in einem entkategorisierten Raum, der bei Diderot bereits an‐ gedeutet wird, jedoch bei Gaudé die gleiche radikale Umsetzung erfährt wie bei Beckett. Auch bei Gaudé bilden sich die Kategorien ausschließlich durch die Dynamik des Dialoges: Stets nimmt sich eine der Figuren als Wortführerin aus, die zweite bildet jedoch durch ihre metaphysischen Reflexionen das eigentliche Movens der Auseinandersetzung mit Hierarchie und Grenzziehung. Einerseits repräsentieren die Figuren die gesamte Welt - die Bühne als Universum - an‐ dererseits fristen sie ein absurd anmutendes Dasein in absoluter und sinnzer‐ störender Isolation. Das fundamentale Element der Verbalisierung vor dem Ab‐ grund des Absurden unterstreicht gerade die transformative Flexibilität des Mythos und seine Festigkeit in jeglicher Strapazierung. Vergleicht man die Theaterpraxis Becketts mit den anlässlich der Dionysien aufgeführten Tetralogien (vgl. 3.2), ist man zunächst geneigt, Becketts Methode als komplette Abkehr vom Ursprung des Theaters, als Kult der Abwesenheit, zu behandeln. Jedoch muss man nicht zwingend von einer Pervertierung der an‐ tiken Theaterpraxis durch Beckett sprechen. Betrachtet man den dionysischen Lebenslauf, wird es möglich, Becketts Vorgehensweise als eine konsequent di‐ onysische Auslegung zu bezeichnen, welche die mythologische Abwesenheit des Dionysos trieterikós auf allen dem Theater zustehenden Bedeutungsebenen thematisiert und damit den Wurzeln des Theaters alles andere als fremd ist. Die Rede von Becketts Dramenfiguren erscheint in diesem Kontext als das im Dio‐ nysoskult fest verankerte Rufen der Menschen, das den Gott zu einer Rückkehr aus der Unterwelt bewegen soll. Die aus Becketts Stücken hervorgehende conditio humana eröffnet sich den Zuschauern und Lesern in der Form des (Auto-)Portraits, dass durch dionysische Juxtaposition von Gegensätzen erreicht wird. Ferner ist Beckett ein Theater eigen, in dem der mentale Verfall und das Soliloquium zelebriert werden (Sar‐ razac 1989: 139). Dass Gaudé, wie vor ihm Beckett, eine Vorliebe für eine sich aus dionysischen Extremen herausbildende condition humaine hat, die zu schöp‐ ferischer Grenzüberschreitung veranlasst, äußert sich sehr häufig im Wechsel‐ spiel zwischen Form und Inhalt seiner Stücke, das den offensichtlichen Akti‐ onsrahmen stets zu sprengen und auf eine tiefere, philosophische und metaphysische Problematik zu verweisen bereit ist. Für Gaudé gibt es folglich 205 4.3 Dionysische Gefilde keine Grenzen - er setzt provokante Akzente und vermeidet aristotelische Maß‐ haltung, indem er in die Extreme geht. Gaudé überstrapaziert die überlieferten literarischen Grundlagen jedoch nicht, er spielt sie lediglich immer wieder ge‐ geneinander aus und demonstriert damit auf poetologischer Ebene die Funktion des kritischen Intellekts. Gaudés und Becketts Theaterkonzeptionen weisen jedoch nicht nur Gemein‐ samkeiten auf: Ist das Paradox, das Dilemma und die Unauflöslichkeit bei Be‐ ckett noch die sich aus dem Gesehenen ergebende Konsequenz, lässt Gaudé die Tendenz erkennen, das monotone Dahinexisiteren der Beckett’schen Charak‐ tere wieder mit Sinn zu füllen. Für Gaudés Charaktere ist es nicht mehr, wie in Becketts Existentialismus, gleich, wo man sich befindet. Es ist aber gerade auch die spezifische Dynamik von Becketts Stücken, die man in Gaudés Theater be‐ stätigt sieht und die in Gaudés Werk weiterentwickelt wird. Gaudé, Beckett weiterführend, nimmt das von Beckett entwickelte absolute Paradox als Aus‐ gangspunkt einer zumeist zirkulären Handlung, die sich hauptsächlich im Grenzgebiet zwischen Diesseits und Jenseits bewegt und die Grenze zwischen beiden neutralisiert. Bei Beckett spielt es keine Rolle, ob man die Zeit, in der seine Dramen ver‐ laufen, als Diesseits oder Jenseits bezeichnet, da es bei ihm nur den einen er‐ bärmlichen und hoffnungslosen Kreislauf gibt. Gaudé nutzt in seiner Realisie‐ rung der dionysischen Konzeption sehr wohl beide Welten. Zwar neutralisiert er auch wie Beckett die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, jedoch ist der Schwerpunkt ein anderer, da Gaudé den Akzent klar auf das bei Beckett stets latent vorhandene aber nie explizit gemachte Jenseits legt. Die sprachliche Ab‐ wesenheit der den Schauplatz umgebenden Welt schafft bei Gaudé, durch Ab‐ solutsetzung und Sinnentleerung gleichermaßen, eine Atmosphäre der Bedrü‐ ckung, deren alleinige Konsequenz sein könnte, dass der vor allem von der Naturwissenschaft unaufhörlich zu ergründen gesuchte Absolutismus der Wirklichkeit gerade der dunkle und sinnentleerte Abgrund des chaos ist. Die von Beckett entwickelte und von Gaudé weitergeführte conditio humana macht den Mythos zur einzig gültigen Lebensgrundlage des Menschen. Sie betreibt, was sich Blumenberg verbittet: die Veranschaulichung der Frage nach Grund und Ursprung des Mythos - aber nicht etwa, um ihr nachzugehen, sondern um noch einmal verstärkt ihre Sinn- und Grundlosigkeit zu untermauern. Der dionysische Kreislauf ist Beckett ein willkommenes Stilmittel, um die Camus’sche, sinnlose Repetition zu untermauern. Albert Camus liefert in Le mythe de Sisyphe (1942) eine Definition des Absurden, die sich wie eine der Grundlagen von Becketts Dramenkonzeption ausnimmt: 206 4 Gaudés dionysische Dramen Un monde qu’on peut expliquer même avec de mauvaises raisons est un monde fa‐ milier. Mais au contraire, dans un univers soudain privé d’illusions et de lumières, l’homme se sent un étranger. Cet exil est sans recours puisqu’il est privé des souvenirs d’une partie perdue ou de l’espoir d’une terre promise. Ce divorce entre l’homme et sa vie, l’acteur et son décor, c’est proprement le sentiment de l’absurdité. (Camus 1985: 15) Indizien in G verweisen auf eine lecture dionysiaque, eine kohärente dionysische Lesart von Becketts Theater. Pozzo äußert die unvermeidliche Perpetuität, die für die Sinnentleerung des irdischen Lebens verantwortlich zeichnet: „Le ciel pâle et lumineux s’est mis à perdre son éclat, à pâlir, pâlir toujours un peu plus, jusqu’à ce que vlan ! fini ! il ne bouge plus - mais derrière ce voile de douceur et de calme, la nuit galope. C’est comme ça que ça se passe sur cette putain de terre.“ (G, 60 f.) Der von Beckett geschaffene sinnlose Lebenskreislauf der Figuren setzt die Unterscheidung zwischen Leben und Tod außer Kraft. Die un‐ merkliche Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod ist auch eines der Markenzeichen Gaudés. Dieser integriert jedoch, im Gegensatz zu Beckett, das Jenseits als feste Größe seiner Dramenkonzeption. Die literarische Existenz der Charaktere wird damit poetologisch zu einer Transzendenz, zur Fähigkeit der Überbrückung sämtlicher den Menschen eingrenzender Phänomene. In Becketts Berceuse (1982) wird die Unterwelt, in der sich die Figur - stell‐ vertretend für Dionysos - befindet, klar dargelegt: „l’être, absent à lui-même, de lui-même, retourne, ne peut que retourner, sans que rien ne cesse totalement, à sa chambre mentale obscure dont l’extinction des feux de la scène peut donner une image“ (Gavard-Perret 2001: 108). Das Verlöschen des Bühnenlichts, die Reduktion des Sichtbaren, markiert den Übertritt in die Unterwelt und ist neben Berceuse auch in Quoi où zentraler Gegenstand: Avec Beckett, la scène du théâtre n’est plus sous l’emprise du visible, du visualisable. Cette scène n’est plus prétexte à ornementation, tout comme la mise en scène n’est plus prétexte à une dramaturgie, au sens classique du terme. L’auteur et dramaturge élimine peu à peu le nombre des personnages. Il limite le champ visuel du spectateur à un espace scénique réduit au minimum en laissant la majeure partie de la scène dans le noir. (Gavard-Perret 2001: 106) Die Figur mit der bloßen typographischen Bezeichnung „F“ deutet das Jenseits an, das jedoch keine Aussicht auf Veränderung im Vergleich zum Diesseits bietet. Die syntaktische Reduktion ergänzt nur die fortschreitende Reduktion der Be‐ deutungsebenen: „Au-delà du noir au-delà. Lumières fantômes. Nuit fantômes. Funérailles fantômes.“ (Beckett 1986: 26) Gaudés terrain vague erscheint in ähn‐ licher Weise wie ein Phantom, das aus einer dreifachen Entgrenzung entsteht: 207 4.3 Dionysische Gefilde der sprachlichen, topographischen und zeitlichen - damit stellt Gaudé den drei klassischen Einheiten des Theaters seine dreigestaltige Entgrenzung gegenüber. Die Figur „F“ in Berceuse scheint mehr von ihrem Schaukelstuhl bewegt zu werden als dass sie selbst den Stuhl bewegt. Das Schaukeln als Verweis auf die orgiastischen Anthesterien (vgl. 3.1.4) wird in den Didaskalien als passives, in geistiger Umnachtung des Schaukelnden geschehendes Ereignis an den Rand der Existenzgrenze gebracht und als Vorstufe des Unterweltdaseins präsentiert: „réglé mécaniquement, sans l’aide de F.“ (Beckett 1986: 54) Dem Schaukeln, nicht der die Sinne berauschenden, wohl aber der mänadisch-phallischen Funktion beraubt, schreibt Beckett in den Regieanweisungen eine eindeutige Charakte‐ ristik zu. Die sexuelle Komponente überspringt er: Der Schaukelstuhl symbo‐ lisiert vordergründig den Mutterleib und liefert damit eine Bestätigung der zyk‐ lischen Monotonie, die bereits im pränatalen Stadium ihren Lauf nimmt (Breuer 1976: 92). Wie Gaudé nimmt Beckett in seinen Dramen Bezug auf Dantes Vorhölle (Inf. III), führt seine Charaktere in den Tod, lässt sie aber, wie Dantes unentschlos‐ sene, „laue“ Seelen, nicht sterben, sondern in einer den Institutionen vorge‐ schalteten Raum vor sich hin vegetieren, in der quälenden Ungewissheit über die Dauer des Wartens. Er hebelt die Endlichkeit literarisch aus und traktiert die Charaktere buchstäblich durch das Verstreichen der Zeit. Durch eingestreute Lichtblicke, in welchen sich der Nachen des Charon zu zeigen scheint, ohne jedoch die sich Sehnenden mitzunehmen, verstärkt sich die Qual. Die Existenz tritt somit als schlimmste aller Strafen hervor, daher machen sich Becketts Figuren auch bezüglich des Jenseits keine Hoffnung auf Milderung der Qualen, wie es Hamm in FP auf den Punkt bringt: „Au-delà c’est… l’autre enfer“ (FP, 164). In gewisser Weise spiegelt diese Geworfenheit von Becketts Figuren auch den Dante’schen contrappasso wider (Payton 1992: 37), die Entscheidungslosig‐ keit seiner Figuren erscheint wie die Sühne der durch die bloße Existenz her‐ vorgerufenen Schuld (vgl. LeGoff 1982). Angesichts ihrer beständigen Plapperei erwecken Becketts Figuren den Eindruck, durch die Dante’sche Strafpraxis des contrappasso wie Belacqua dazu verdammt zu sein, nicht verstummen zu können. Dieses sprachliche Indiz ist der eindrucksvollste Beweis für die Unfä‐ higkeit der Beckett’schen Charaktere, zu sterben (Krämer 2004: 143; Hirdt 1989: 21-34). In seiner pessimistischen Haltung und dem aus ihr hervorgehenden innova‐ torischen Geist, der nach dem Zusammenbruch der tradierten Wertvorstel‐ lungen trachtet, gleicht Beckett Dante : „È toccato a Dante quello che è toccato ad altri uomini in periodi di crisi profonda, in periodi in cui sembra che vadano distrutti tutti i valori creati dai secoli precedenti, e nello sforzo di creare situa‐ 208 4 Gaudés dionysische Dramen zioni nuove, di inventare nuovi temi, nuovi mondi, si getta via tutto, anche gli elementi positivi, vitali della realtà passata.“ (Sapegno 2002: 48) Die von Dante konzipierten Kategorien der Hölle und des Purgatoriums haben für Beckett zentrale Bedeutung, jedoch kann man nicht von direkter Übernahme sprechen, sondern vielmehr von „produktiver Rezeption“ Becketts (Kuon 1993: 10), welche die Dante’sche Vorlage bisweilen in- oder gar pervertiert (Krämer 2004: 39). Hebeln Becketts dramatische Figuren den Tod durch die Allmacht des War‐ tens und die ewige Wiederholung aus, eliminiert Gaudé den Unterschied zwi‐ schen Leben und Tod, da er den Übergangspunkt zwischen Dies- und Jenseits absolut setzt. Becketts Figuren gründen ihre Existenz auf die Essenz des War‐ tens, Gaudés Figuren die ihre auf die Dauerhaftmachung des Übergangs zwi‐ schen Leben und Tod, zugleich Ausgangspunkt der Erneuerung des Lebens und seines Fortgangs. So kommen Becketts Figuren, entgegen Gaudés Charakteren, nicht in den „Genuss“ des Jenseitserlebnisses, da das Jenseits in Becketts Philo‐ sophie keine Rolle spielt, nur mehr als signifiant, nicht aber als signifié besteht. Mit der fortschreitenden Elimination des signifié bereitet Beckett die Neubele‐ gung der sprachlichen Zeichen mit Bedeutungen vor, die ihm eine eigene Be‐ deutungsstiftung und stilistische Disposition des Wortmaterials ermöglicht. Das Verwischen der Bedeutungsseite als ideale, weil die Sprache neu erschaffende Eigenschaft der literarischen écriture, begründete später das literarische Pro‐ gramm der Strömung Tel-Quel (Kuon 1993: 400 f.). Die Aufkündigung konventioneller Beziehungen scheint in Becketts Theater allumfassend zu werden. Jedoch ist gerade in dieser Konfrontation mit der Ab‐ surdität eine Rückbesinnung auf die antiken, dithyrambischen Ursprünge des Theaters zu erkennen. Beckett setzt die radikale Modernität seiner Gedanken mit der dionysischen Opferkonzeption in Beziehung. In einem sinnentleerten Kontinuum gibt es keinen logos, genauso wenig wie es ihn in der dionysischen Opferkonzeption gibt. Vladimir und Estragon sind demnach im Dilemma dio‐ nysischer Sündenböcke gefangen: Sie sorgen sich um Vergebung, die sich nicht in Form von vorheriger Schuld begründen lässt. Die von Dionysos verfolgten und Heimgesuchten wissen nicht, warum es sie trifft - ihre Unwissenheit ist die Essenz der dionysischen Unschuld. Nur nicht in das Mysterium Eingeweihte können in die dionysische Epiphanie einbezogen werden (Girard 1987: 13). Wie es bei Becketts Figuren deutlich wird, konstituiert bereits die Geburt des Men‐ schen die Möglichkeit des Heimgesuchtwerdens (Krämer 2004: 110). In Pas moi kulminiert das dionysische Konzept der Opferung unschuldiger in der Verwi‐ schung des Begriffes des Bestraftwerdens. Bereits dem Titel nach deutet Pas moi auf die Zurückweisung einer Beschuldigung. Becketts Figuren kehren die Dan‐ 209 4.3 Dionysische Gefilde te’sche Situation um und erheben die Existenz zur schlimmstmöglichen Strafe, wie es Clov in FP äußert: „On ne peut plus me punir.“ (FP, 144) Gaudés Charaktere verspüren die in der bloßen Existenz begründete Schuld‐ haftigkeit in ähnlicher Weise wie Becketts Hamm und Clov oder Vladimir und Estragon. Jedoch erschließen sich dem Zuschauer von Gaudés Stücken allmäh‐ lich konkrete Anhaltspunkte für eine Schuldfähigkeit der Figuren, die in der für Gaudé typischen Vorgeschichte seiner stets analytischen Dramen liegen. In CM betrachtet der Fossoyeur 2 die Abwesenheit des Windes, im Gegensatz zu seinem Partner, nicht als einen flagranten Klimawandel, sondern als eine göttliche Be‐ strafung der beiden; er gesteht überzeugt seine Schuldfähigkeit ein (CM, 28-30). Für die Leichenberge, die sie täglich zu beseitigen haben, können die Toten‐ gräber nur bedingt verantwortlich gemacht werden; da sie aber Teil eines in‐ dustriell organisierten Vernichtungssystems sind, machen sie sich der Mittäter‐ schaft an einem Massenmord schuldig. Wenngleich dieses System auf äußeren Zwängen gründet, machen sie sich zu Verrätern an der menschlichen Existenz - eine Sünde, deren Bestrafung Dante in den innersten Höllenkreis verbannt (Inf. XXXIII; Prill 1999: 134-139). Die szenische Situation der Fossoyeurs ent‐ spricht damit dem Dante’schen contrappasso, sie werden durch die Tat bestraft, die sie selbst begangen haben. Von der Außenwelt abgeschnitten, befinden sich die Totengräber ausschließlich unter Toten, was ihre Wahrnehmung derart ver‐ zerrt, dass sie die Qual erleiden müssen, nicht mehr zu wissen, ob sie selbst noch leben oder bereits im Totenreich weilen. Diese Unwissenheit wiederum bringt sie mit der dionysischen Opferkonzeption und der Lage von Becketts Charak‐ teren in Verbindung. Auf dem terrain vague, an den eine kriegerische Mensch‐ heit ihr schlechtes oder gar abhanden gekommenes Gewissen abschiebt, wirken Gaudés Fossoyeurs sowohl wie dionysische Sündenböcke am Übergangspunkt zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten als auch wie ein Mahnmal für die Abgründe des menschlichen Geistes. Die Arbeit der Totengräber in CP und CM kann als eine Substitution des endlosen Wartens in Becketts Dramen gesehen werden, denn der Raum, in dem sich die Figuren befinden, ist ähnlich. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass Gaudé das Warten von Becketts Figuren aufarbeitet. Figuren wie Gaudés Rescapée bereits scheinen den infernalen Imperativ der Beckett’schen Existenz überwunden zu haben, sich nämlich permanent in einem Übergangsbereich zwischen Leben und Tod aufzuhalten. Gaudés Figuren teilen die sich bei Beckett bisweilen einstellende embryonale Haltung eines Molloy und Moran - beides Figuren in Becketts Roman Molloy - nicht; sie erwecken nicht den Eindruck, in den Mutterleib zurückkehren zu wollen, sondern streben nach dem Hauptakt des dionysischen Mysteriums (Krämer 2004: 42; Simon 1991: 237-239), dem 210 4 Gaudés dionysische Dramen Übertritt in und das Hervorkommen aus der Unterwelt. Die gebückte Haltung, welche die Figuren an den Rand des „Purzelbaumschlagens“ bringt, wie es Sar‐ razac ausdrückt (1989: 126), ist allein typisch für Becketts Werk. Becketts om‐ nipräsente negative Grundhaltung, immer wieder durch die Konkomitanz von wörtlicher Rede und dem Dahinsiechen des Körpers zum sprachlichen Ausdruck gebracht, lässt die Entkörperlichung umso frappierender geraten und den To‐ deskampf zum Zentrum des Bühnengeschehens werden, zum einzig darstell‐ baren, und damit einzig „sinnvollen“ Ereignis. Die Selbstreflexion Clovs gegen Ende von FP ähnelt einigen Passagen in CP und CM, in denen die Totengräber jeweils versuchen, gegen ihre phantomartig erscheinenden Vorgesetzten in der Außenwelt vorzugehen, oder diese zu täu‐ schen, um sich zumindest die Illusion einer Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu verschaffen. In FP sinniert Clov: „Je me dis - quelquefois, Clov, il faut que tu arrives à souffrir mieux que ça, si tu veux qu’on se lasse de te punir - un jour. Je me dis - quelquefois, Clov, il faut que tu sois là mieux que ça, si tu veux qu’on te laisser partir - un jour.“ (FP, 213) Wie die Fossoyeurs sieht Clov die Qual von außen auf sich zukommen, von einer nicht näher definierten externen Welt. Auch für Hamm ist die Existenz eine einzige Qual, die Dantes Inferno gleicht: „Mais réfléchissez, réfléchissez, vous êtes sur terre, c’est sans remède ! “. (FP, 201) Die Beckett’schen Charaktere „sterben lebend, aber erleben nicht ihren Tod.“ (Simon 1992: 69) Gerade in FP und G spielt Beckett geradezu sadistisch mit dem Ende und lässt es als nicht eintretende Möglichkeit er‐ scheinen, das die Figuren noch tiefer in das Drama ihrer Diesseitigkeit zurück‐ wirft. Dies bringt Raymond Federman in seiner Charakterisierung von Becketts Helden der frühen Prosawerke auf den Punkt: „Death never comes to these Dying Gladiators, […] nor do they have the courage or the strength to commit suicide.“ (Federman 1965: 187) Wenn Becketts Charaktere ein Wesen der qualvollen Dauerexistenz haben - „Their self-made condition is in fact death in progress“ (Federman 1965: 200) - vollziehen sie die in einem Moment zusammenfallenden Eckpunkte des Lebens, Geburt und Tod, in einer permanenten Zeitlupe. Zieht man diese von Manfred Beyer als „Lebensschrumpfung“ (1990: 270) bezeichnete Haltung in Betracht, kann man bei Gaudés Figuren von einer absoluten Existenzerweiterung spre‐ chen. Das Beckett’sche „wombtomb“ wird bei Gaudé zu einem Leben-Tod-Jen‐ seitszyklus und durch den Aspekt der Unzerstörbarkeit des Lebens ins Positive gewendet. „Ohne enden zu können ist das körperlich existierende Individuum dennoch dazu verurteilt, beständig aufs Neue zu enden.“ (Kelleter 1997: 223) Die Sprache ist in Becketts Dramen letztendlich die einzige Existenzgrundlage in der un‐ 211 4.3 Dionysische Gefilde wirklich anmutenden, unbegrenzten Welt des ewigen Zustandes, der Nicht-Ver‐ änderung, in der es weder Geburt noch Tod gibt. Daher sind die Figuren ihrer Zeitlichkeit beraubt, sie sind einzig und allein geworfen auf die von Beckett konstruierte Metaebene (Simon 1991: 137-142). So streben die Charaktere nach einer allein dem Dramenzuschauer bekannten außersprachlichen Wirklichkeit, die ihnen nicht zur Verfügung steht (Hempfer 1976: 33; 49; 86 f.). Die von Beckett praktizierte Verlängerung des antemortalen Zustandes führt das Streben nach der metaphysischen Initiation, die mit dem Tod vollzogen wird, ad absurdum. Der Tod ist aber nicht nur unbedeutend, sondern gar inexistent, da es für Beckett eben kein au-delà, sondern nur die eine, ununterbrochene, sinnlose Existenz gibt (Simon 1991: 74-94). Beckett prägt somit einen perfor‐ mativen Theaterbegriff, der allen Sinn in die Prozesshaftigkeit der Darstellung legt. Die einzige Freiheit, die Becketts Charakteren - auch denen seiner narra‐ tiven Texte - bleibt, ist das Sinnieren über die dauerhafte Geworfenheit und die Träumerei vom Tod, der durch seine Unerreichbarkeit zum erlösenden Nichts stilisiert wird: At this moment Murphy would willingly have waived his expectation of Antepurga‐ tory for five minutes in his chair, renounced the lee of Belacqua’s rock and his em‐ bryonal repose, looking down at dawn across the reeds to the trembling of the austral sea and the sun obliquing to the north as it rose, immune from expiation until he should have dreamed it all through again, with the downright dreaming of an infant, from the spermarium to the crematorium. He thought so highly of this post-mortem situation, its advantages were present in such detail to his mind, that he actually hoped he might live to be old. Then he would have a long time lying there dreaming, watching the dayspring run through its zodiac, before the toil up hill to Paradise. The gradient was outrageous, one in less than one. God grant no godly chandler would shorten his time with a good prayer. This was his Belacqua phantasy and perhaps the most highly systematised of the whole collection. It belonged to those that lay just beyond the frontiers of suffering, it was the first landscape of freedom. (Beckett 1970: 77 f.) Ähnlich wie die Handlung reduziert Beckett auch die Requisite auf den puren Akt der Repräsentation (Noudelmann 1998: 62). Das bei Beckett-Inszenierungen verwendete Material des Bodenbelages weist auf die Schauplätze von Gaudés Theater voraus, der seine szenographische mise en abyme, ähnlich derer Be‐ cketts, mit der Herauslösung des Schauplatzes aus seiner Umgebung erreicht. In CP und CM werden die Zuschauer einer leeren Einöde gewahr, die sich fernab von jeglicher Zivilisation befindet. So gilt für Gaudés décor, was François Nou‐ delmann bereits für Becketts Dramen festgestellt hat: „Le plateau peut être re‐ 212 4 Gaudés dionysische Dramen couvert de boue ou de cendres, pour signer la déchéance, de résidus champêtres, rappelant le note sur « la campagne », de sable, renvoyant au désert, ou se résumer à une forme, accentuant la pureté géométrique.“ (Noudelmann 1998: 63) Gaudés terrain vague in CP und CM ist folglich als Anlehnung an die Be‐ ckett’schen Schauplätze in G und FP zu betrachten. Das Besondere an Becketts und Gaudés szenischer Konzeption ist nicht nur, dass sie der Requisite einen intermedialen Symbolgehalt zuweisen, der die Textaussage visuell ergänzt und sich mit ihr in Einklang befindet (Gehse: 2001); vielmehr erfährt der szenische Raum durch die übergreifende Isotopie „Isolation“ eine Textualisierung und tritt als weitere Textebene besonders in Erscheinung: La localisation s’inscrit en effet dans une stratégie globale et relève d’une exactitude inhérente à la méthode du dramaturge. Les pièces de Beckett témoignent d’une rigueur géométrique […], de telle sorte que l’enjeu spatial constitue peu à peu, au fil des créa‐ tions visuelles de l’auteur, un sujet à part entière. L’espace ne se limite pas à une dimension au sein de laquelle se déploie une action, il fonde le sens de l’œuvre et présente le lieu à titre de question. (Noudelmann 1998: 43) Auch Jean-Paul Gavard-Perret spricht von einer spezifischen Bedeutungs‐ stiftung des Beckett’schen Niemandslandes: Beckett „transforme l’espace scé‐ nique en un lieu où l’expression no man’s land prend toute sa signification.“ (Gavard-Perret 2001: 94). Was die Konstitution der Kulisse betrifft, geht Gaudé mit Beckett Hand in Hand: Seine Figuren sind gefangen in einem unwirklich anmutenden Niemandsland und machen hauptsächlich durch ihre Äußerungen auf ihre Existenz aufmerksam. Ähnlich wie Becketts Figuren leben Gaudés Fos‐ soyeurs (CP, CM) ebenfalls nach dem Grundsatz narro ergo sum; anhand der räumlichen Reduktion erhält das gesprochene Wort ein größeres Gewicht. Die Figuren Becketts werden, durch die rein sprachliche Identifikation ihrer Exis‐ tenz, zu literarisch immanenten Figuren, die nur im Text und nicht außerhalb existieren können. Peter Kuon spricht daher von einem „textuellen Ich“ Becketts (Kuon 1993: 213). In ähnlicher Weise ist auch das Verhältnis von Raum und gesprochenem Wort in Gaudés Theater angelegt. Jedoch sind die Gaudé’schen Figuren nicht wie Becketts Charaktere in einer sisyphischen Struktur des per‐ manenten Verlaufes gefangen, nicht „zum Weitermachen verdammt“ (Iser 1975: 55), sondern in der Lage zu sterben, und aus dem Jenseits zum Zuschauer zu sprechen: Cependant Beckett ne cherche pas à montrer l’impossibilité de sortir de l’existence ou du regard des autres. L’évacuation des rêves, des souvenirs et de toutes les sorties vers l’imaginaire vise plutôt à maintenir une présence strictement scénique et à mettre en œuvre son questionnement (Noudelmann 1998: 44). 213 4.3 Dionysische Gefilde Dies erklärt die unterschiedliche Herangehensweise an den Handlungsspiel‐ raum der Figuren. Die „Enteignung“ der dramaturgischen Handlungsmöglich‐ keiten, die Beckett betreibt, ist zwar auch bei Gaudé auszumachen, jedoch ver‐ zichtet dieser auf die Totalreduzierung der Figuren, wie sie Gavard-Perret bei Beckett festgestellt hat: Le théâtre représente dans la logique de son œuvre un nouveau lieu de dépossession, un lieu où cette dépossession devient scénique dans la mesure où l’image tend à s’ef‐ facer jusqu’à la disparition de celui qui, à la fois, incarne l’humain et reste la raison d’être du théâtre : l’acteur. De celui-ci ne subsiste qu’un ersatz qui finit par disparaître pratiquement en un dispositif que les œuvres postérieures pousseront encore plus loin. (Gavard-Perret 2001: 94) In G erreicht die räumliche Reduktion ihren Höhepunkt, deren Ambivalenz sich zugleich durch die resultierende Ungebundenheit der Figuren äußert: „L’évide‐ ment de la scène dans En attendant Godot participe d’une mise à nu des con‐ ventions dramaturgiques quant à l’espace. […] Sans territoire préétabli, les per‐ sonnages semblent livrés à une pseudo-liberté dramaturgique.“ (Noudelmann 1998: 44) Die scheinbar offene „route à la campagne“ (G, 9) entpuppt sich durch die Aussagen der handelnden Figuren wiederum als geschlossener Raum, aus dem es kein Entrinnen gibt - die Demystifikation des Illusionsraumes Bühne ist perfekt, wenn Estragon bei seinem Fluchtversuch in der Begrenzung des Büh‐ nenraumes hängen bleibt (G, 107; Noudelmann 1998: 62). Gaudés Theater befindet sich zwar im von Beckett entworfenen Niemands‐ land, ist jedoch ständig bestrebt, dieses durch substantielle Auseinandersetzung mit dem dionysischen Element des Todes hinter sich zu lassen. In CM funktio‐ niert die Unterredung zwischen Lebenden nur noch anhand der beiden Toten‐ gräber; mit der Außenwelt sind die Figuren kommunikationsunfähig. Der von Gaudé in den Didaskalien entworfene terrain vague (CP, 12) ist ohnehin nahezu komplett von der Außenwelt abgeschnitten, die Zuschauer erfahren aus der Er‐ zählung der Totengräber, dass Kontakt nur durch die Lieferungen neuer Leichen erfolgt, welche die Totengräber verbrennen und beerdigen müssen. Hierfür steht ihnen das metaphorisierte Bühnengelände in seiner Vollständigkeit zur Verfü‐ gung. Die in gleich zwei Stücken Gaudés auftretenden Totengräber sind Ver‐ walter ihrer eigenen Metamorphose, des dionysischen Übergangs vom Diesseits in den Hades. Bei CM kann man, ähnlich wie bei La dernière bande, von einer dichotomi‐ schen Bühnengestaltung sprechen. Die Außenwelt bleibt dem Zuschauer ver‐ borgen, wie der dem Zuschauer ständig abgewandte Raum hinter Krapps Zimmer, in welchen Krapp „alle Dinge verbannt, die er ein Leben lang bemüht 214 4 Gaudés dionysische Dramen ist abzulegen.“ (Veit 2002: 158) Der Kalk in CM kommt plötzlich aus der Außen‐ welt zum Vorschein, wie Krapps Utensilien aus dem hinteren, für den Zuschauer nicht einsehbaren Bereich, mit denen er allmählich sein Zimmer anfüllt (Veit 2002: 158). Beckett ist zudem stets bestrebt, eine Simultanität zwischen ge‐ spielter Zeit und Spielzeit zu erreichen, um den Eindruck der Endlosigkeit und der Auflösung der konventionellen Zeitebene zu verstärken: L’emploi de la didascalie chez Beckett est entièrement soumis à la découverte simul‐ tanée des actions des personnages et de leurs discours ; cette attitude de scripteur participe d’une attitude plus générale, que l’on retrouvera par la suite, de calquer la diégèse de la fable sur son déroulement, orientant ainsi la construction de la pièce dans la perspective de la lecture linéaire : chez Beckett, la pièce de théâtre est égale‐ ment le récit de la pièce de théâtre. (Bismuth 1998: 74) Der Titel des Stückes Actes sans paroles (I 1956, II 1959) verweist auf die Zen‐ trierung der Stille im Theater, die Beckett immer fasziniert zu haben scheint (Alexandre-Bergues 1998: 43). Auch in den Didaskalien von FP und G häufen sich Anweisungen wie „silence“, „grand silence“, „long silence“, „pause“, „pause dramatique“, „repos“ und „un temps“. Auch bei den ausführlichen Beschrei‐ bungen des oft pantomimischen Gebärdens der Figuren in den Didaskalien spielt das Schweigen eine große Rolle. Anweisungen wie „il réfléchit“ und die ana‐ leptische Didaskalie „ayant réfléchi“ ergänzen die große Zahl an Sprechpausen (Alexandre-Bergues 1998: 44). Am deutlichsten werden die dionysisch anmu‐ tenden Züge des Wechsels zwischen Stille und Lärm an der Tirade von Lucky in G (Alexandre-Bergues 1998: 47). Die Steigerung der Lautstärke wird am Ende der Tirade durch Zwischenrufe der anderen Figuren zu einem einzigen tumult‐ haften Getöse, bevor wieder große Stille eintritt: „Exclamations de Vladimir et Estragon. […] Tous crient. Lucky tire sur la corde, trébuche, hurle. Tous se jettent sur Lucky qui se débat, hurle son texte […] Grand silence.“ (G, 64 f.) Die Stille hat denn auch die dionysischen Konnotationen des Sterbens und des Neubeginns (Alexandre-Bergues 1998: 55). Laut Pascale Alexandre-Bergues rückt Beckett die Repräsentation der Abwe‐ senheit in den Mittelpunkt seiner Stücke: „Face au vertige du silence, ils n’ont d’autre solution que de parler, conscients à la fois du vide et de la nécessité de cette parole qui les fait exister. C’est assigner au théâtre la fonction, qui res‐ semble fort à une gageure pour le genre dramatique, de représenter sur scène l’absence et le manque.“ (Alexandre-Bergues 1998: 55) Wo Beckett aufhört, be‐ ginnt Gaudé, der nicht die Abwesenheit darstellt, sondern das Jenseits und damit alles was über diesseitige Existenz und Tod hinausgeht. Evoziert Beckett die 215 4.3 Dionysische Gefilde Nicht-Existenz als höchste Form der Transzendenz, so kann man Gaudé eine permanente Darstellung der Transzendenz bescheinigen. Im Gegensatz zu Gaudés Theater lässt sich Beckett nicht zu offenen Gewalt‐ szenen hinreißen - seine Gewalt über Figuren und Zuschauer ist das quälende Dahinplätschern des Bühnenvorgangs. Beckett braucht daher keine Verstüm‐ melungsszenen zu zeichnen, er lässt die Gewalt subtil und psychologisch durch Nichtbeendigung, Nichtauflösung und die gegenseitige Abhängigkeit der Figuren entstehen. Der Tod einer Figur würde bei Beckett den Tod aller Betei‐ ligten zur Folge haben: Nous sommes loin des scènes de mutilation […]. La cruauté, plus subtile, plus cachée, plus sourde, résulte de l’état d’extrême dépendance qui rive entre eux les quatre pro‐ tagonistes, tout aussi prisonniers du « refuge » et d’eux-mêmes que les hommes de Platon de leur caverne. Ils se font souffrir et se tuent parce qu’ils ne peuvent exister les uns sans les autres. Et, surcroît de cruauté, cette aliénation est la seule situation viable que puissent concevoir les quatre personnages, puisque le départ de l’un sig‐ nerait la mort de tous. (Hubert 1998: 63) Bei aller aufrüttelnden Modernität von Becketts räumlicher Konzeption stellt Hervé Bismuth, besonders in G, Parallelen zum klassischen Theater fest: „L’im‐ mobilité de l’espace « avec arbre », qui semble ne perdurer que parce qu’il est sans cesse habité, à la façon de l’espace de jeu de la tragédie classique, dans lequel l’unité de lieu implique que la scène ne reste pas vide.“ (Bismuth 1998: 81 f.) Bismuth bemerkt folgerichtig, dass die Einheit des Ortes der Handlung nur zum Tragen kommt, damit die Bühne zu keiner Zeit des Stückes leer bleibt. Das offene Ende, das sämtliche Gaudé’schen Stücke auszeichnet, ist auch ein Mar‐ kenzeichen Becketts, der stets darauf bedacht ist, den Vorhang niemals endgültig fallen zu lassen: Au « Rideau » de ces deux pièces, le spectacle est certes interrompu, mais la fable, elle, continue, et recommence peut-être depuis le début. Cette circularité est également signifiée dans les fins de section d’En attendant Godot, où la mention « Rideau » est précédée à chaque fin d’acte par la même didascalie, elle-même précédée du même rituel, dont les paroles sont interchangeables : Un temps. ESTRAGON (ou VLADIMIR). Alors, on y va? VLADIMIR (ou ESTRAGON). Allons-y. Ils ne bougent pas. (Bismuth 1998: 81) Die Übermacht der zeitlichen und räumlichen Zwänge, die Beckett auf der Bühne entwirft, und die, wie in den Schlussdidaskalien von G zu ersehen, zu 216 4 Gaudés dionysische Dramen einer Austauschbarkeit der Figuren und damit zur Repräsentation der formalen Disposition des Theatertextes führt, teilt Gaudé nicht; „mit dem vorrangigen Interesse an der Form geht eine zunehmende wirkungsästhetische Ausrichtung einher, mit der Beckett das Bühnengeschehen, seine Fiktion also, in der außer‐ fiktionalen Realität der Zuschauer verankern will.“ (Veit 2002: 151) Gaudé hin‐ gegen legt wieder mehr Gewicht auf den Textinhalt, bewegt sich in dieser Hin‐ sicht mit der seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Rückbesinnung auf das erzählende Theater (vgl. 4.2.2), ohne jedoch auf die performative Wirkung des Theatertextes zu verzichten. Die bei Beckett ausgehebelte Katharsis durch das permanente Verharren bei eleos und phobos, wird bei Gaudé hingeführt zu einer Katharsis, welche die Figuren (und damit auch die Zuschauer) über die Grenzen des Diesseits hinausführt. Wo Beckett versucht, den Mythos an seine Grenzen, ja vollständig zu demythifizieren, verlagert er seine Fiktion gerade nicht auf die außerfiktionale, sondern auf die mythologische Ebene. Beckett geht mit der Auflösung der Kategorien schließlich weiter als Gaudé, der die versöhnende Komponente des dionysischen Wesens zu keiner Zeit außer Acht lässt. Die dionysische Transformation kann jedoch bei beiden Autoren als für ihre jeweilige literarische Ausformung stellvertretend betrachtet werden. Der Mythos des Dionysos ist die mythologische Entsprechung des transforma‐ torischen literarischen Schaffens von der Imitation bis zur Extremführung und zugleich Autoreflexion der Arbeit am Mythos, da er als einziger die Metamor‐ phose durch beständigen Widerstreit der Extreme darstellt. Blumenbergs These, dass durch die Namengebungs- und Bezeichnungsfunktion als Grundelement der Sprache immer Mythen erzeugt werden, trifft auch bei Samuel Beckett zu, selbst wenn der von Beckett geschaffene Mythos alles bisher Dagewesene per‐ vertieren oder auf die Ebene der Diskursivität heben will. Becketts metaphori‐ scher, metafiktionaler Bühnenraum wird zu einem Bewusstseinsraum, wobei die Bühnenfiguren den Figuren und Stimmen in den Köpfen der Erzähler in den Romanen entsprechen: Sie sind die Konkretionen von Bewusst‐ seinsvorgängen. Der Inhalt des Bewusstseinsraums besteht, wie in den Romanen, im internalisierten Ich-andere-Konflikt, der sich in den beiden Figurenpaaren auf der Bühne und den zahlreichen Dichotomien manifestiert. (Veit 2002: 120 f.) Die Dynamik von Becketts Theatertext liegt folglich darin, dass er sich als medienübergreifendes Ereignis darstellt. Durch seine Strapazierung und die Extremführung sämtlicher Bedeutungsebenen wird der Text intermedial, der‐ gestalt dass er sich zwischen sprachlichem und performativem Medium bewegt: „die Bewusstseinsstrukturen [bestimmen] die formale Gestaltung in Fin de partie […] - das Innere wird zum Äußeren, zur Form. Die Inhalte von Becketts Texten 217 4.3 Dionysische Gefilde beginnen, an der Oberfläche zu liegen und sich jenseits der Sprache unmittelbar und performativ mitzuteilen.“ (Veit 2002: 152) Der Text wird damit zum diony‐ sischen Ereignis, er ist es, der den Zuschauer einnimmt und mitreißt, und zwar nicht länger nur von seiner semantischen Seite aus, sondern vielmehr durch seine prozesshafte, kinetische Funktion. Mit der produzierten Ungewissheit über den dies- oder jenseitigen Aufenthaltsort der Figuren und mit der zirku‐ lären Struktur setzt Gaudé eine Linie fort, für die vornehmlich Beckett verant‐ wortlich zeichnet. Gaudé geht jedoch, den Beckett’schen Einfluss nicht scheuend, eigene Wege, und führt das Drama wieder zu seinen mythologischen, rituellen, dionysischen Wurzeln zurück. 4.3.2 Mnemosyne - mythische Erinnerung als intermedialer Ansatz der Grenzüberschreitung Jan Assmann hat mit seinen zehn Studien über Religion und kulturelles Ge‐ dächtnis einen wichtigen Beitrag zur Forschung über die Funktion des Mythos bei der kulturellen Erinnerung geleistet. Seine Erkenntnisse über die Erinnerung von Individuen und sozialen Gruppen beschreiben die Vorgehensweise der Figur der Rescapée (CM) bei der Erinnerungsarbeit. Die Rescapée wendet eine beson‐ dere Memotechnik an, mit der sie für die Hinterbliebenen der Getöteten die Vergangenheit rekonstruieren will. Sie möchte damit die verbindende Funktion des Gedächtnisses, von Assmann „konnetikves Gedächtnis“ genannt (2004: 108), nutzen und sich zum Medium der Übertragung von Erinnerung machen. Der Charakter des Mediums verstärkt sich durch die Art und Weise, auf welche die Rescapée die Körper der unzähligen Leichen auf dem terrain vague speichert. Die Erinnerung der Rescapée verläuft, wie in Prousts Recherche (1913-1927), über synästhetische Prozesse (Assmann 2004: 115). Jedoch ist die Rescapée nicht an einem individuellen Festhalten der Erinnerung interessiert, sondern stellt ihre Fähigkeiten ausdrücklich in den Dienst einer „kollektiven Rekonstruktion“ (M. Halbwachs). In CM gibt es zwei Schauplätze und zwei Handlungsstränge, die miteinander verwoben sind und stetig alternieren. Sie sind nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich kontrapunktisch. Während sich die beiden Totengräber mit me‐ taphysischen und philosophischen Fragen auseinandersetzen, ist die Rescapée in ihrem Monolog mit den rein körperlichen Aspekten beschäftigt und definiert ihr Wesen und das der anderen vornehmlich über ihren Tastsinn. In ihrem Vor‐ haben, gegen das Vergessen der zum Verbrennen bestimmten Leichenberge an‐ zukämpfen, indem sie alle Toten in ihrem Gedächtnis speichert, zieht die Res‐ capée das Haptische dem Visuellen vor. Dieser Paradigmenwechsel in der 218 4 Gaudés dionysische Dramen Aufbereitung der Vergangenheit bedeutet, aufgrund der direkten Berührung der Körper, an die es zu erinnern gilt, eine Intensivierung der Intimität der Erinne‐ rung: LA RESCAPÉE. C’est possible. Apprendre un corps avec les mains. Je les touche. Du bout des doigts. Ces yeux ouverts qui m’appellent. Je pose la main doucement, sur le front d’abord, puis je glisse le long du visage. J’apprends les corps. C’est possible ça. Et mes mains s’en souviennent. De tous ces corps caressés, mes mains s’en souvien‐ nent. (CM, 28) Zugleich verweist dieser Paradigmenwechsel in der Erinnerungsarbeit auf die „subtile Kunst der Informationsverweigerung“ der Rescapée (Weinrich 2005: 266), ihrer bewussten Ablehnung des in der heutigen Zeit der elektronisch-me‐ dialen Informationsvermittlung nicht selten überfrachteten, visuellen Kanals und ihrer Konzentration auf den, angesichts der Zunahme der virtuellen Ar‐ beitsvorgänge im gegenwärtigen Alltag, immer weiter zurückgedrängten hap‐ tischen Kanal. Der Versuch der Rescapée, alles bisherige Weltwissen aus ihrem Gedächtnis zu entfernen, um Platz zu schaffen, sich alle Toten auf dem terrain vague tastend merken zu können (CM, 30), erscheint auf der inhaltlichen Ebene als rein moralischer Dienst am kollektiven Gedächtnis und Gewissen. Die Re‐ ferenz an die Göttin des Gedächtnisses, Mnemosyne, liegt auf der Hand, nicht zuletzt, weil die Toten gemäß dem Verständnis der griechischen Mythologie nach dem Übertritt in den Hades ihrer Erinnerung beraubt sind, da diese in den Besitz der Göttin übergeht (Eliade 1985: 150 f.). Jedoch nur die poetologische Interpretation führt zum Kern dieser gewiss aufrüttelnden Tätigkeit einer einsam zwischen Diesseits und Jenseits umherstreifenden Frau: Der von der Rescapée durchgeführte Akt der Memorisierung ist Ausdruck des intermedialen Ambitus von Gaudés Theaterwerk. Gaudé bereitet die Verwandlung der Rescapée in eine rein haptisch operie‐ rende Mnemosyne behutsam vor, so dass sich die intermediale Wandlung schlüssig aus dem Handlungsverlauf ergibt. Da die Rescapée dem Umherirren zwischen den Welten ausgeliefert ist, macht sie aus der Not eine Tugend und beginnt, in Ermangelung menschlicher Gesellschaft, mit ihnen zu sprechen - die Totengräber ignorieren sie ebenfalls, da sie den Umgang mit lebenden Men‐ schen verlernt haben (CM, 29). Auch biologisch kehrt die Rescapée zu ihren Ursprüngen zurück - sie wird wieder zur Jungfrau, weil sie mit der Erinnerung auch ihre körperlichen Erfahrungen willentlich verliert, um die unzähligen Toten in ihrem Gedächtnis speichern zu können (CM, 31). Ihr früheres Leben wird zum Zwecke der Vergangenheitsbewältigung völlig ausgelöscht, womit sie an sich selbst bereits den Übertritt vom Diesseits ins Jenseits exemplifiziert, der 219 4.3 Dionysische Gefilde den Verlust der Erinnerung an das eigene Leben nach sich zieht. Zudem vertritt sie damit die These der ausschließlichen Möglichkeit der Fremdanamnese durch eigene Amnesie: Sie ist überzeugt, dass allein die Erinnerung die Existenz aus‐ macht. Ohne Erinnerung ist die Existenz des Menschen nicht gesichert, denn alles bisher Gewesene würde durch den Verlust der Erinnerung ungeschehen gemacht. Gerade aus diesem Grunde versucht die Rescapée, das Vergessen der Toten zu verhindern und zum lebendigen Mahnmal der menschlichen Anma‐ ßung zu werden, sich über Leben und Tod zu erheben. So wird sie zum leben‐ digen Zeugnis des Todes und zur Grenzüberschreiterin zwischen Leben und Tod. Die bewusste Begrenzung auf eine Art der Sinneswahrnehmung, zugunsten einer universalistischen Idee, ist absolute Einschränkung und Öffnung ins Un‐ endliche zugleich. Bis auf einen gibt die Rescapée all ihre Sinne auf, um sich auf diesen zu spezialisieren und dessen Funktion zu vervollkommnen. Das Para‐ doxon, das sich hieraus ergibt, ist der Literatur spätestens mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Begriff. Eine Referenz für die universalistische Mono‐ manie der Rescapée findet sich in Stefan Zweigs Schachnovelle (1941). Hier liefert der Ich-Erzähler eine Personenbeschreibung, die genauso gut für die Rescapée gelten könnte. Es ist dies ein Erzählerkommentar über die Figur des Schach‐ weltmeisters Mirko Czentovic, eines stets in sich gekehrten, wortkargen und weltfern erscheinenden Individuums, das sein gesamtes Leben auf das Schach‐ brett zu reduzieren scheint: Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt, denn je mehr sich einer begrenzt, umso mehr ist er ande‐ rerseits dem Unendlichen nahe; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Ab‐ breviatur der Welt. (Zweig 2004: 19) Des Weiteren bestätigt die mediale Aufzeichnung von Erinnerung durch die Figur der Rescapée die Theorie Marshall McLuhans (2002: 45 ff.), der die Medien als Ausweitungen des Zentralnervensystems verstand. Das Besondere an der Gedächtnisarbeit der Rescapée weist nämlich gerade der mediale Paradigmen‐ wechsel aus, den sie, weg vom Visuellen und hin zum Haptischen vollzieht: Durch ihr Ertasten der Leichname und das Speichern dieser Eindrücke wird sie zu einem Medium der haptischen Erinnerung. Ihre mediale Funktion beruht folglich auf der Intensivierung des medialen Eindrucks durch die Konzentration auf den Tastsinn, die sensorisch gesehen direkteste, unmittelbarste Art der Wahrnehmung. Für die Lebenden ist sie eher tot als lebendig, doch für die Toten hat sie eine immens wichtige Bedeutung: Sie inkarniert den Kampf gegen das Vergessen, sie allein ist die Instanz der kollektiven Erinnerung und des kon‐ 220 4 Gaudés dionysische Dramen 56 Zur Transzendenz von Mallarmés poésie pure vgl. insbes. das Sonett „Ses purs ongles“ (Motte 2004: 39-85). nektiven Gedächtnisses. Inhaltlicher Beleg und körperliches Zeichen für die Existenz der Rescapée als vermittelndes Wesen, als Medium zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten fallen zusammen: Ihre angesengte Haut lässt darauf schließen, dass sie sich zuvor bereits in der Verbrennungsanlage der beiden Fossoyeurs befunden hat (CM, 15). Intermedial gelesen bedeutet der Paradigmenwechsel in der Erinnerungsar‐ beit, den die Rescapée hier vorträgt, einen Wechsel des Mediums, das die Erin‐ nerung transportiert. Es ist eine dionysisch interpretierbare Intermedialität, welche die nicht eindeutig zu ortende Position der Rescapée zwischen Diesseits und Jenseits nicht nur inhaltlich sondern auch poetologisch bestärkt. Ähnlich wie die intermediale liegt die poetologische Lesart des mnemosynischen As‐ pektes in CM nicht fern, welche bei Gaudé stets in die mythologischen lectures eingearbeitet ist. Laut Hesiod ist Mnemosyne die Göttin der Erinnerung und die Mutter der Musen, die einen ewigen Gesang über den Kreislauf des Kosmos vollführen (Theogonie XXXII, 38; XLV, 115). Als Schwester des Zeitgottes Kronos ist Mnemosyne allwissend und sprengt somit die durch die zeitlichen Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgegebenen Grenzen. Eliade zufolge ist ein Dichter bei der Musenanrufung nicht nur der Göttin Mnemosyne ergeben, er geht auch, den Musen gemäß, stets zu den Ursprüngen zurück. Da der re‐ gressus ad originem nach antik-mythischem Verständnis nur über das initiato‐ rische Ereignis des Todes möglich ist, nimmt der Dichter gleichermaßen einen descensus ad inferos vor. Ein Dichter, der sich in die Hände der Mnemosyne gibt, durchlebt den Übertritt ins Jenseits und den Leben erst generierenden Tod: Er muss sich aus irdischen Gefilden verabschieden, um poetisch überirdisch wirken zu können (Eliade 1985: 151 ff.). Bei diesem Übertritt muss der Poet eine Fahrt über die Lethe vollziehen (Weinrich 1997: 270 f.) - dies tut in Gaudés CM, stell‐ vertretend für den Dichter, die Figur der Rescapée, die ihre irdische Erinnerung auslöscht, um die personifizierte Erinnerung des Jenseitigen zu werden. In der Verbindung von Ober- und Unterwelt verknüpft sich der mnemosynische mit dem dionysischen Diskurs; beide sind Grundlage der lecture poétologique von Gaudés Dramen - anhand ihres Zusammenwirkens unterstützen beide My‐ thenkreise der Erneuerung durch Grenzübertritt ins Jenseits die Gaudé’sche Philosophie der Entgrenzung (vgl. 3.1), die Kernpunkt all seiner Texte ist. Was beim dichterischen Übertritt vom Diesseits ins Jenseits bleibt, ist - spä‐ testens seit Mallarmé - nur noch der geschaffene Text, die Poesie, selbst (Fried‐ rich 1956: 83 ff.). 56 Der moderne Dichter tritt nicht nur hinter die Poesie zurück, 221 4.3 Dionysische Gefilde sondern überlässt es ihr allein, überzutreten. Autor und Leser neutralisieren sich bei diesem Vorgang (Bataille 1957: 204); so ist nicht der Dichter transzendent, sondern allein die Dichtung vermag es, transzendent zu sein. Poetologisch ge‐ sehen ist Gaudés terrain vague damit ein Initiationsort des poetischen Schaffens (Metzeltin 1998: 94); folglich unterstützt der mythologische Diskurs - der Dis‐ kurs für die Transformation schlechthin - der sich auf dem terrain vague ab‐ spielt, Gaudés Sicht des poetologischen Diskurses als ständig im Übertritt und in Transformation begriffen. Diese dionysische Komplexität und Vielschichtig‐ keit der poetologischen Disposition von Gaudés Werken zeigt sich gerade an der Figur der Rescapée: Sie ist dem Tod entronnen, hat ihn überwunden, um zugleich respektvoll mit und an ihm zu arbeiten - in einem vagen, nicht sichtbar begrenzten Raum des Übertritts, welcher die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits zu markieren scheint. Somit inkarniert Gaudés Figur die von seiner Literatur vorgetragene Entgrenzung des poetologischen Diskurses. 4.3.3 Entgrenzende Spiel-Anleitungen: Gaudés Didaskalien und Figurennamen Die Didaskalien spielen in Gaudés dionysischen Dramen eine entscheidende Rolle. Sie zu lesen ist ein Privileg, das die Zuschauer dieses eigentlich für die Vorführung konzipierten Genres nicht besitzen - damit werden die Didaskalien zum Paradox der dramatischen Gattung. Hervé Bismuth liefert eine konzise Definition der Textart Didaskalie: Sie weist den Dramaturgen selbst als Erzähler aus, da er nicht nur narrativ, sondern auch normativ in Aktion tritt. Der Kunst‐ griff der Didaskalie besteht nun darin, dass der Dramaturg trotzdem unauf‐ dringlich wirken kann, da er den Text für sich selbst sprechen lässt und somit ganz hinter den didaskalischen Diskurs zurückzutreten scheint. Ein Merkmal dieser Technik ist das didaskalische Präsens. Es ist Dreh- und Angelpunkt der Zeitperspektive, da es sowohl für die Zeitdauer der Repräsentation als auch für die in der Handlung repräsentierte Zeit steht. Alles geht von diesem didaskali‐ schen Präsens aus und wird über es (re)konstruiert: L’énonciateur de ce discours est le dramaturge lui-même: il est à la fois narrateur et prescripteur et son discours est un compromis entre le discours narratif (fonction référentielle) et le discours prescriptif (fonction conative). Les marques de ce com‐ promis sont d’une part l’effacement de la personne de l’énonciateur derrière son dis‐ cours […], d’autre part l’utilisation du présent (indicatif ou participial) pour indiquer la simultanéité de l’événement et du moment de l’énonciation auquel il vient se placer. De part et d’autre de ce présent de référence, les autres temps utilisés par ce discours, 222 4 Gaudés dionysische Dramen futur et passé composé, renvoient respectivement aux actions postérieures ou anté‐ rieures à l’énonciation (Bismuth 1998: 73). Die Didaskalie ist nach Bismuth eine besondere Art des literarischen énoncé und füllt zwei Funktionen zugleich aus, nämlich die der Erzählung (fabula) und die der Anleitung zur Interpretation dieser fabula: Parce qu’il désigne et impose à la fois une réalité double, celle de la « fable » et celle de la représentation scénique, on définira le discours didascalique comme un discours écrit - le seul discours littéraire par ailleurs - emplissant exclusivement et simultané‐ ment les fonctions référentielle et conative, à la fois information et direction de lec‐ ture. (Bismuth 1998: 72) Zudem kategorisiert Bismuth mehrere Typen von Didaskalien (1998: 84-89). Für die Betrachtung der Bühnenanweisungen in Gaudés Dramen ist vor allem die Kategorie ad lectorem von Belang, da dieser Typ der Regieanweisung in Gaudés Dramen verstärkt zum Einsatz kommt. Die Bezeichnung ad lectorem wählt Bis‐ muth für Didaskalien, die allein auf die Leser abzielen und die nicht auf der Bühne hörbar oder ersichtlich sind, da sie metafiktionalen, metadramatischen, bisweilen sogar poetologischen Charakter haben. Besonders in PC semantisiert Gaudé durch Didaskalien ad lectorem die vorangehende und nachfolgende Handlung. Ohne die Kenntnis der Bühnenanweisungen ist der Zuschauer dem Regisseur ausgeliefert. Gaudé verpflichtet geradezu die Regisseure seiner Stücke zur Originaltreue, da eine von Gaudés Didaskalien abweichende Repräsentation schon beinahe zwingend zu einer Abänderung des Handlungsverlaufs führen würde. Neben den Didaskalien können mit dem Prolog, Epilog und Chor noch andere aus dem antiken Theater stammende Textsorten als narrative und damit meta‐ theatralische Techniken des Dramas betrachtet werden. Auch der epische Er‐ zähler ist eine narrative Technik, die im dramatischen Genre immer wieder Ver‐ wendung findet. Während jedoch „die ersten drei metadramatischen Techniken bereits in der Antike bekannt waren […], kann der epische Erzähler als moderne Variante des Chors betrachtet werden“ (Nünning 2002: 113). In PC übernimmt Ajac diesen Part, die Rescapée ist epische Erzählerin in CM, OF besteht komplett aus einer epischen Erzählung, während in CP die Anteile so vielschichtig verteilt sind, dass sich einzig die Didaskalien als das Geschehen abstrahierend betrach‐ tende narrative Elemente herauskristallisieren. Die vier Akte von PC sind mit je einer Generaldidaskalie überschrieben, die das Geschehen durch eine poeti‐ sche Beschreibung in eine bestimmte Richtung lenken (PC, 9; 16; 24; 34). Im gesamten Stück wird die unaufhaltsame Bewegung der Handlung hin zum fi‐ nalen Todesszenario durch Didaskalien geleitet, die jedem der vier Akte voran‐ 223 4.3 Dionysische Gefilde gestellt sind. Die thanatologische Wirkung in der Beschreibung wird von Akt zu Akt intensiver, die Todesisotopien nehmen zu, werden eindeutiger: Acte I Dans un ciel d’encre, les rayons du soleil s’embrasent et illuminent les rues de la ville d’une étrange lueur de chair. Et c’est comme s’il restait désormais dans l’air quelque chose de ce sang solaire. (PC, 9) Acte II Le mortier parle de nouveau et sa voix de titan couvre toutes les autres. Il hurle du haut des collines, ses postillons de métal déchiquettent les maisons et éventrent la terre. Le rythme des obus est la seule horloge que connaisse la ville. (PC, 16) Acte III Il pleut des cendres et cette averse incandescente dessine sur le visage des habitants des ombres inconnues. Ils n’ont plus peur, ils sourient et étreignent de toute la force de leurs muscles la folie. (PC, 24) Acte IV Il faudrait pouvoir penser que les derniers cris, les dernières suppliques des habitants seront entendus. Le vent les emporte, le vent doucement caresse les murs meurtris de la ville, comme une main qui glisse sur le visage d’un mort et lui ferme les yeux. (PC, 34) Gaudés Aufwertung der Textart Didaskalie macht sich auch an der Szenen‐ unterteilung bemerkbar; so bestehen die erste und vierte Szene des ersten Aktes von PC ausschließlich aus einer Didaskalie. Auf der metapoetischen Ebene der Didaskalien vollzieht Gaudé jedoch eine Gratwanderung zwischen dem tradi‐ tionellen Charakter der Bühnenanweisungen und einer besonderen stilistischen Ausarbeitung derselben. Die Anweisung der ersten Szene von CP ist traditionell kurz gehalten und steht damit in direktem Kontrast zu der eher langen Didas‐ kalie, die als allgemeine Einleitung vor das Stück gestellt ist und genauso gut den Beginn eines Romans markieren könnte: Un coup de feu éclate et fait frémir la ville d’une détonation éclair. Pour les habitants, c’est un coup de feu solitaire qui fait sursauter les femmes et s’envoler les pigeons. Pour les hommes d’affaires, c’est un incident qu’il faut étudier car il peut avoir une influence sur le marché. Pour eux deux, c’est le dernier coup de feu d’une lointaine fusillade. Inconnu de tout autre. Comme une balle qui aurait mis plusieurs jours à atteindre sa cible. Comme un cri poussé il y a longtemps et qui ne retentit qu’aujourd’hui. (CP, 5) Die Verquickung des dramatischen und des narrativen Genres erfolgt bei Gaudé folglich keineswegs zufällig; solche Didaskalien verleihen dem Theaterstück romanhafte Züge und rücken die narrativen Elemente des dramatischen Textes 224 4 Gaudés dionysische Dramen 57 Beispiele für lange Eingangsdidaskalien, die erzählend auf ein Drama einwirken, finden sich reichlich in der europäischen Literatur der letzten Jahrzehnte. Exemplarisch sei hier auf die mehrseitige Einleitung von Friedrich Dürrenmatts Die Physiker verwiesen, da diese mit ihrer Länge und ihrer stilistischen Konzeption gleichwohl die Praxis der narrativen Regieanweisungen parodiert (Dürrenmatt 1985: 11-14). 58 Wohl aufgrund dieser Eigenschaften ist auch Cris bereits aufgeführt worden, vgl. Fuß‐ note 46 . in den Vordergrund. 57 Der Gegensatz zwischen der poetischen Beschreibung in den Didaskalien und den umgangssprachlichen Monologen repräsentiert Gaudés stilistische Bandbreite auf engem Raum und seinen Hang zur vermi‐ schenden Gegenüberstellung von Gegensätzen. Diese Vermischung stilistischer und gattungsgeschichtlicher Unterschiede erinnert auch an die Monologe in Cris (2001), das als Roman gekennzeichnet ist, jedoch genauso gut als eine drama‐ turgische Sukzession von Monologen gesehen werden kann, zumal jeder Ab‐ schnitt mit dem Namen einer der vertretenen Figuren eingeleitet wird. 58 Mit einem ausgesuchten Stil versehen, drängen sich Gaudés Didaskalien in den dramatischen Text hinein und entwickeln sich von Randerscheinungen zu zentralen Elementen des Theatertextes. Ausgefallene Wörter und Satzkon‐ struktionen überraschen und suggerieren eine anspruchsvolle interpretatori‐ sche Situation. Dies hat zur Folge, dass die Bühnenanweisungen bei Gaudé über weite Strecken einer für narrative Texte typischen Berücksichtigung bedürfen. Ein Regisseur, der Gaudés Stücke zur Aufführung bringen will, muss die Didas‐ kalien zuvor einer literarischen Deutung unterziehen. Der didaskalische Meta‐ text verweist so unmissverständlich auf die Verantwortung des Regisseurs, dem Publikum erst nach eingehender Textarbeit eine Aufführung zu präsentieren und verstärkt zugleich den Eindruck, dass der metteur en scène einer von vielen Interpreten ist, der nicht die Umsetzung des Textes schlechthin, sondern ledig‐ lich eine von vielen möglichen Auslegungen liefert. Von Beginn an enthüllt CP metafiktionale Züge, die auf die Pluralität der Bedeutungsebenen der dramatischen Gattung hinweisen und diese voll aus‐ schöpfen. Im Einführungsmonolog des Assassin finden sich konkrete und di‐ rekte Zuschaueransprachen, die zeigen, dass Gaudé nicht nur Didaskalien an das narrative Genre heranführt, sondern auch Repliken metadramatisch, leserbeziehungsweise zuschauersteuernd, einsetzt: „J’ai besoin d’aide. Appro‐ chez-vous, vous qui m’accompagnez. Penchez-vous légèrement et aidez-moi.“ (CP, 5) Die Zuschauer werden aufgefordert, sich nicht nur in die Lage des As‐ sassin hineinzuversetzen, sondern diesem aktiv beizustehen. Der Assassin duldet dabei keine Ausnahmen. Jeder der anwesenden Zuschauer wird zur ak‐ tiven Empathie aufgefordert: „Approchez-vous tous. A quoi sert que vous soyez 225 4.3 Dionysische Gefilde 59 Der Charakter des Namens als Typbezeichnung wird durch die Regieanweisungen deutlich, wo Gaudé vor die jeweiligen Bezeichnungen den bestimmten Artikel setzt (z. B. „L’Assassin“: CP, 5), der bei Personennamen im Französischen nicht üblich ist. ici, si vous ne parlez pas ? J’ai besoin que vous m’aidiez. Je tremble. Il faut que je me concentre sur ma respiration. J’ai besoin de vous sentir à mes côtés. Que vous vous concentriez, vous aussi, sur ma respiration.“ (CP, 6) Diese Appelle verweisen auf das absolute Theater von Bertolt Brecht, in dem die Trennung zwischen Zuschauern und Darstellern räumlich und auch inhaltlich aufgehoben wird (Brecht 1963: 222; 239). Das Fazit des Assassin, „Vous avez décidé de vous taire ? “, spricht den für das klassische Theater typischen Zuschaueraspekt der Passivität an und ist ein letztes rhetorisches Aufbäumen gegen das zu erwar‐ tende Verharren der Zuschauer in der Konventionalität. Ähnlich wie die Didaskalien nehmen auch die Figurennamen bei Gaudé eine Sonderstellung ein. Alle Stücke Gaudés kommen mit einem reduzierten Figu‐ reninventar aus, das meist sprechende Namen aufweist. Die Bezeichnungen gehen von reinen sprachlichen Zeichen wie „Fossoyeur“ (CP, CM), deren selbst‐ bezeigender Charakter durch die Nummerierung noch verstärkt wird, bis hin zu kryptischen Namen wie „Ajac“ oder „Bratsch“ (PC). In CP haben die Figuren linguistisch betrachtet keine Namen, sondern sind mit sprachlichen Zeichen wie „L’Assassin“, „Le Patron“, „Le Clandestin“, „La Pute“ oder „Le Frère“ versehen. 59 Auch untereinander sprechen sich die Figuren nicht namentlich an; die eigent‐ lichen Personennamen werden, falls überhaupt, ausschließlich in den Didaska‐ lien genannt. Die durch diese Nomenklatur entstehenden, nicht weiter spezifi‐ zierten Typen formen ein Mikrouniversum, das die Allgemeingültigkeit von CP verstärkt. Die Stereotypen Charaktere stehen für die in allen Gesellschaften wiederfindbaren Gruppen, die sie repräsentieren. Diese Art der Nomenklatur findet sich auch in CM. Gaudés Nomenklatur weist jedoch auch einige Paradoxa auf, da die spre‐ chenden Namen seiner Figuren bisweilen nicht mit dem signifié überein‐ stimmen, den der Begriff normalerweise liefert. Der sprechende Name „As‐ sassin“ in CP suggeriert, dass die Figur ein Mörder oder ein Auftragskiller ist. Die charakterliche Disposition des Assassin deckt sich mit keinem dieser beiden Bedeutungen, da der Assassin erst durch die vom Patron veranlasste Ermordung seiner Familie Racheabsichten hegt - viel eher scheint der Begriff „Assassin“ auf die Leibwächter des Patron zu passen. Da die Figur des Assassin zwangsweise in das Bild des Killers gedrängt worden ist, kann sie als Pendant zum Patron gesehen werden. Das Faktum, dass der Patron im Assassin einen Ersatz für den unerfüllten Wunsch eines männlichen Erben sieht, unterstützt die Bildung eines symbiotisch ausgeprägten Figurenpaares à la Beckett, ähnlich dem Paar der 226 4 Gaudés dionysische Dramen Leibwächter und dem der Totengräber in CP und CM. Die Paarbildung erfolgt jedoch eher auf der inhaltlichen Ebene und ist nicht derart offensichtlich wie bei den anhand der Nomenklatur als Paare ausgelegten Figuren. In intellektu‐ eller Ergänzung zur Frau des Patron, die ausschließlich bestrebt ist, die Position ihres Mannes zu unterhöhlen, hinterfragt der Assassin in seinen philosophisch anmutenden Reflexionen die Position des Patron auf radikalste Weise. Obwohl der Begriff der Identität meist in Abgrenzung zu anderen Individuen entsteht, hat der Begriff gerade in seiner Etymologie die gegenteilige Bedeutung (von lat. idem - „derselbe“, „der gleiche“). Der Begriff „Identität“ beruht jedoch in den meisten Wissenschaftsdisziplinen auf der Unterscheidung und wird oft aus einem Wechselspiel von „Dazugehören“ und „Abgrenzen“ entwickelt. Dies streicht auch Michael Metzeltin in seinem Aufsatz über die Herausbildung na‐ tionalstaatlicher Identität (2000) heraus. Für ihn schließt Identität als Gleichsein und Zugehörigkeit auch die Unterscheidung von anderen, nicht gleichen mit ein: Wurzelnd im lateinischen idem (derselbe, der gleiche) bezeichnet Identität den Zu‐ stand des Gleich-seins, des Zugehörigseins, die Existenz von Gemeinsamkeiten. […] Die Tatsache, jemandem zu gleichen, einer Gemeinschaft anzugehören, bestimmte Eigenschaften mit jemandem zu teilen, impliziert immer auch, einer anderen Gruppe nicht anzugehören oder sich anhand verschiedener Charakteristika von jemandem zu unterscheiden. […] Das Gleich- oder Anderssein kann sich entweder auf das spezifi‐ sche Empfinden einer Einzelperson beziehen oder jenes einer Gruppe umfassen, daher spricht man von den grundsätzlichen Formen der individuellen und der kollektiven Identität. (Metzeltin 2000: 29) Neuere soziologische Forschungen stellen die Unterschiede zwischen indivi‐ dueller und sozialer Identität heraus und diskutieren sie kontrovers. Nach so‐ ziologischen Gesichtspunkten erfolgt Identitätsstiftung entweder aus der menschlichen Fähigkeit zur Selbstreflexivität heraus (Frey 1987), oder sie geht über die soziale Interaktion, wofür der von George Herbert Mead (1995) mitbe‐ gründete Sozialbehaviorismus steht. Erik H. Erikson (2004) weist in seinen Stu‐ dien zudem auf psychosoziale und psychosexuelle Aspekte der Identitätsdeter‐ minierung hin, Karl Haußer entwickelt gar eine Identitätspsychologie (1983; 1995). Erving Goffman (1994) geht es um die Entwicklung der Ich-Identität aus der sprachlichen Interaktion, und auch Jürgen Habermas (1997) geht in seinen Studien auf die Moralentwicklung und Ich-Identität durch sprachliche Interak‐ tion ein. Diese sprachliche Entwicklung der Identität kann rezeptionsästhetisch aus Gaudés Werk abgeleitet werden. Ein Teil der an Beckett angelehnten Doppel‐ 227 4.3 Dionysische Gefilde charaktere Gaudés füllt stets den ihn bezeichnenden Begriff aus, während der andere ihn negiert. Gaudé zeigt damit die Begrenztheit der Sprache auf, die in vielen Situationen nur unzureichend bezeichnet. Es entstehen um einen Begriff herum eine Menge von Bedeutungen, dergestalt dass jeder Name einen Mythos darstellt, der Geschichten und Gerüchte um den Namen herum initiiert. Mythi‐ sierung und Demythisierung erfolgt, besonders in CP, über den Figurennamen und dessen Konnotationen. Unterteilt in die Bereiche „Begriffserfüllung“ und „Menschlichkeit“ lässt sich in folgendem Diagramm die Disposition zur cha‐ rakterlichen Veränderung der Figuren veranschaulichen: Begriffserfüllung Dynamik Menschlichkeit Patron keine Dynamik Fossoyeur 2 keine Dynamik Fossoyeur 1 Garde du corps 1 keine Dynamik Garde du corps 2 Pute → Dynamik im Laufe der Handlung ← Pute Assassin → Dynamik im Laufe der Handlung ← Assassin Femme du Patron → Dynamik im Laufe der Handlung ← Femme du Patron Tabelle 1: Charakterliche Disposition der Figuren in CP Patron, Fossoyeur 2 und Garde du corps 1 zeigen keinerlei Dynamik, sondern bleiben ihren „Namen“ treu, die sich an der dreigliedrigen Hierarchie des durch den Patron begründeten totalitären Systems orientieren. Leser und Zuschauer werden eines kompromisslos handelnden Patron gewahr, der aus Angst vor dem Machtverlust jeden potentiellen Gegner im Voraus auszuschalten befiehlt, eines Leibwächters, der sämtliche Tötungsbefehle des Patrons umsetzt, und eines To‐ tengräbers, der sich ausschließlich dem Verschwindenlassen der Menschen widmet, die den Auftragstötungen des Leibwächters zum Opfer gefallen sind. Die komplexe Dynamik des Stückes entwickelt sich durch eine weitere Trias (Pute, Assassin, Femme du Patron), die im Laufe der Handlung das Terrain der Begriffserfüllung in Richtung Menschlichkeit, d. h. sowohl hin zu mehr sozialer Interaktion als auch zu Individualität und Selbstbestimmung geht. Die Prosti‐ tuierte wird hierbei von der Frau des Patron unterstützt, die stets von ihrer Hilfsbedürftigkeit überzeugt ist. Die Frau des Patron entfernt sich ebenfalls von dem ihr vorgegebenen Namen: Sie erweckt den Schein einer hörigen Gattin, 228 4 Gaudés dionysische Dramen entpuppt sich jedoch auf der Handlungsebene, durch das permanente Bestreben, ihren Mann zu demontieren, als das Gegenteil. So betrachtet sie ihren Mann ausschließlich auf der Ebene der Öffentlichkeit und sieht ihn als Despoten, den es, wie Pentheus in den Bakchen, im Stile der ausufernden Gewalt des thebani‐ schen Dionysos, zu stürzen gilt. Hieran ist zu erkennen, dass die Interpretation des Namens einer Figur durch die übrigen Charaktere das Movens für die Dynamik der Figuren ist. Die Aus‐ einandersetzungen der Figuren mit sich selbst und untereinander eröffnen eine weitere Bedeutungsebene des Dramas: Es bildet sich ein Spannungsverhältnis zwischen Selbstbild (auto-image) und Fremdbild (image) heraus (Dyserinck 1991: 125-133). Die im Titel angedeuteten Kämpfe („Combats de possédés“) sind nicht nur Auseinandersetzungen zwischen den Figuren, sondern betreffen auch ihr Innenleben. Reflektiert wird diese Spannung in der Mythologisierung der Figurennamen. Getreu dem Hegel’schen Prinzip der Herr-Knecht-Dialektik ist der Patron nur dann der Befehlshaber, wenn sein System der Machtentfaltung von sämtlichen anderen Figuren anerkannt wird. So bildet der Patron das au‐ genscheinliche Zentrum der Nomenklatur. Sobald aber die Figuren in ihrer Selbst- und Fremdbetrachtung das System des Patrons anzweifeln, bewegen sie sich von der ursprünglichen Namensgebung weg und entwickeln eine Indivi‐ dualität, welche die starren, weil begriffserfüllenden Figuren entbehren. Durch die eindeutige Nomenklatur der dramatis personae orientiert sich jegliche In‐ terpretation, selbst die Negation des Namens, an den begrifflichen Vorgaben. Gaudés Nomenklatur liefert damit einen Beweis für den Bedeutungsstiftungs‐ prozess des Mythos, der durch das menschliche Bedürfnis nach Benennung des Wahrgenommenen in Gang gesetzt wird, sich verselbständigt und an dem sich selbst seine Negation zwangsweise orientiert. In CP eröffnet sich, auch auf der Mikroebene, eine Struktur der Kontrolle und Diktatur durch den Patron. Die Bediensteten werden nicht müde, sich als psy‐ chisch und intellektuell Unterlegene des Patron zu präsentieren. Ihre blasse Präsenz scheint sich darauf zu beschränken, die Suggestivfragen des Patron mit einem kurzen „oui“ oder „non“ zu beantworten (CP, 18). So festigen die Diener‐ figuren die Opposition zwischen Instinkt und Intelligenz, die vom Diktator (Pa‐ tron) propagiert wird. Dementsprechend sind die Mitglieder der Leibgarde davon überzeugt, dass der Patron intelligenter ist als sämtliche Untergebenen, denen lediglich primitive Instinkte bescheinigt werden können, was an Hoe‐ derers Leibwächter Slick und Georges in Sartres Les mains sales (1948) erinnert (Louët 2009: 4 f.): GARDE DU CORPS 1. Non. Même s’il me les expliquait lentement, patiemment, il est probable que je ne comprendrais rien à ses plans. Parce qu’il est infiniment plus subtil 229 4.3 Dionysische Gefilde 60 Auch die Verwendung der Umgangssprache setzte Valle-Inclán als sprachlichen Ver‐ zerrungseffekt in das Theater ein, dessen Zuschauer bis dato nur höhere Stilebenen gewohnt waren (vgl. Bermejo Marcos 1971; Cardona/ Zahareas 1981; Lyon 1983). que moi, que son esprit voit infiniment plus loin. Cela, je le sais. Mais il reste que mon instinct continue à me dire que tu es un danger. (CP, 41) Die sprechenden Namen der Figuren - „L’Assassin“, „Le Patron“, „Le Clan‐ destin“, „La Pute“ oder „Le Frère“ - verweisen zusätzlich auf eine förmlich bis in die metafiktionale Ebene hineinreichende Diktatur. Lediglich auf der inhalt‐ lichen Ebene spricht sich ein Figurenpaar, das durch den Handlungsverlauf zu‐ sammengeführt wird, mit Namen an. Es sind dies die „Pute“, die auf den Namen „Isa“ hört, und der „Clandestin“, der „Tarek“ genannt wird (CP, 14; 17). Der of‐ fensichtliche Entzug des Namensrechts spielt auf die immense Macht des Patron an, der alle übrigen Figuren als Untergebene ohne Recht auf Individualität be‐ trachtet und sie der Funktionalität halber in Kategorien unterteilt. Auch unter‐ streicht die auffällige Nomenklatur den stereotypen Charakter der Figuren, die eine universelle Gültigkeit des im Drama dargestellten Konfliktes zwischen äu‐ ßeren Zwängen und des nach Freiheit strebenden Inneren repräsentieren. Es ist eben dieses Spannungsverhältnis, das Ramon María del Valle-Inclán veranlasste, die Technik des Zerrspiegels (esperpento) anzuwenden, um die Tragik der Ge‐ sellschaft seiner Zeitgenossen in seinen Stücken abbilden zu können (Cardona/ Zahareas 1981; Zamora Vicente 1969: 54 ff.; Lyon 1983). Valle-Incláns Vorge‐ hensweise entspricht, in der Versächlichung und Entindividualisierung der Cha‐ raktere, dem Theater Becketts und Gaudés. 60 Im Theater Francisco Nievas, einem der großen Nachfolger Valle-Incláns, was die Innovation des spanischen Theaters betrifft, finden sich ähnliche Techniken. In den von Nieva selbst als Teatro furioso (TF) und Teatro de farsa y calamidad kategorisierten (TFC) Schaffensphasen setzt Nieva besonders auf die Puppen‐ haftigkeit der Figuren, die in ihrem mechanischen Auftreten widerstrebende Charakterzüge nicht miteinander vereinbaren können. Es sind zumeist Figuren ohne psychische Dynamik, die, im Stile der dionysischen mainómenoi, bisweilen auf tierische Instinkte reduziert werden. Hierin liegt gerade auch die apokalyp‐ tische Stimmung von Nievas Stücken, in denen sich die Figuren, auf der Suche nach der absoluten Freiheit, in eine dionysische Ekstase hineinsteigern. So über‐ schreiten die Figuren in Nievas mittlerer Schaffensphase (TF, TFC) ständig die von der Norm vorgegebenen Grenzen auf der Suche nach ihrem Selbst und stimmen hierin mit Gaudés Figuren überein. Ebenso ruft Nieva die dunklen Zonen des Seins auf den Plan, die durch die dionysische Verbindung von eros und thanatos entstehen. Diese Verquickung deutet auf den Wunsch, die Grenze 230 4 Gaudés dionysische Dramen zwischen Diesseits und Jenseits zu überschreiten (Peña Martín 2001-I: 38 ff.). Auch ergeben sich, wie bei Gaudé, absurde Situationen. Bei Nieva entstehen diese jedoch durch überschnelle Wechsel von Handlung und Einstellung der Figuren zu dieser Handlung, was im spanischen Theater seinerzeit ein Novum darstellte. In ähnlicher Weise innovativ ist die Intertextualität von Nievas Stü‐ cken (Barrajón 2000), dessen Stimmungen, Schauplätze und Figurennamen, an Collage und bricolage erinnernd, aus Werken anderer Autoren übernommen werden - eine weitere Parallele zu Gaudé. Wie bei Beckett und Gaudé erfahren auch bei Nieva belanglose, isolierte Schauplätze eine Remythisierung zu mys‐ tisch anmutenden témenoi. Die augenfällige Intertextualität geht Hand in Hand mit der Metatheatralität: In Nievas Stücken kommentieren die Figuren lebhaft ihre eigenen Handlungen (vgl. Nieva 1988). Besonders deutlich hebt sich in Nievas Theater die Dimension eines totalen Spektakels hervor, dem Brecht’‐ schen Postulat der Aufhebung der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum nachkommend. Gaudé ähnlich ist auch die metalinguistische Reflexion der Figuren über ihre Ausdrucksweise und der abrupte Wechsel zwischen stilistisch ausgesuchter und vulgärer Sprache, die, wie bei Beckett und Gaudé gesehen, einen eigentümlichen Lyrismus entstehen lässt. Bei Nieva sind die poetischen Passagen jedoch intensiver, und es verstärkt sich, im Gegensatz zu Beckett und Gaudé, der Eindruck, dass es sich um reine Lektüredramen handelt (Barrajón 2000: 595). Nievas TF und TFC zeichnen sich zudem durch eine Sprache aus, die, an Beckett erinnernd, auf der Zerstückelung der logischen Beziehungen basiert und auf das grenzüberschreitende dionysische Delirium weist. Innerhalb der Gruppe der sich ergänzenden Helferfiguren Gaudés, der To‐ tengräber und der Leibwächter, ist eine Überkreuzstellung zu erkennen. Somit ist der erste Leibwächter, der seinem funktionellen Namen gerecht wird, dem ersten Totengräber diametral gegenübergestellt. Dass der Assassin, entgegen der voraufgegangenen Darlegung, eine Dynamik in Richtung der Kategorie der Begriffserfüllung aufweist, kann mit seinen Positionierungsversuchen erklärt werden, da er immer wieder zwischen dem Angebot der Adoption durch den Patron und dem Ziel seiner Rache hin- und hergerissen ist. Gerade gegen Ende des Stückes entwickelt der Assassin Rachegedanken, die ihn in die Nähe der Begriffserfüllung bringen; er kehrt aber schlussendlich zu seiner kritischen In‐ dividualität zurück. Der Patron hingegen, ist, trotz seiner Anwandlungen, den Assassin als sein Sohn zu akzeptieren, nicht fähig, sich im Laufe des Dramas zur menschlichen Seite hin zu entwickeln. Zur emotionalen Beruhigung und um die Gewissheit zu haben, dass sein Werk weitergeführt wird, braucht er das Wissen um die Existenz eines Sohnes. Sein Ansinnen wird erst auf der metafiktionalen 231 4.3 Dionysische Gefilde Ebene, im Vergleich mit den übrigen Figurenpaaren, klar: Es ist auch die Dy‐ namik der übrigen Figuren, die ihn zur Suche nach einem Pendant drängt. Die Verschmelzung der beiden Gardes du corps geht nach der Ansicht des Garde du corps 2 soweit, dass die individuelle Identität keine Rolle mehr spielt, da alle dem Patron untergebenen Menschen nur noch durch eine Kollektividen‐ tität erkennbar sind, die sich gerade durch das Untergebensein konzipiert. Dies schlägt sich auf der textuellen Ebene in der Nomenklatur der Figuren nieder. Die Leibwächter sind nicht etwa von ihrem Namen her, sondern nur durch ihre Nummerierung voneinander unterscheidbar, worauf der Garde du corps 2 hin‐ weist: „Et on ne pouvait dire véritablement qui était qui. Nous n’avions pas de nom. Juste les deux gardes du corps du patron.“ (CP, 24) Mit dieser Aussage macht der zweite Leibwächter die Nomenklatur nicht nur zu einem metafikti‐ onalen, sondern auch zu einem poetologischen Schachzug. Die Grenzen zwi‐ schen Fiktion und Metafiktion scheinen zugunsten des absoluten Theaters be‐ seitigt, das den Zuschauern eindeutig zu erkennen gibt, dass ein Theaterstück nichts als Fiktion ist (Brecht 1963: 182 f.). Die Aufhebung der Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum bedeuten jedoch umgekehrt auch den absoluten Realitätsanspruch des Theaters und sämtlicher von ihm konstruierter Mythi‐ sierungen. Die Figuren in CP erinnern mit ihrer vollständigen Abhängigkeit vom Patron an die psychischen Manipulationen, die für das Théâtre de l’absurde charakte‐ ristisch sind - man denke beispielsweise an die Gehirnwäsche, die der Lehrer in Eugène Ionescos La leçon (1951) systematisch an seinen Schülerinnen durch‐ führt (vgl. 4.1.8). Der Patron ist vor allem hinsichtlich der Kontrolle seiner Un‐ tergebenen ein absoluter Herrscher, er verfügt über ein System der totalen Überwachung. Der Umgang des Patron mit seinen Untergebenen erinnert an die Behandlung des Josef K. in Franz Kafkas Roman Der Proceß (1925). Kafkas Protagonist, der nicht zufällig einen auf die Initiale reduzierten Nachnamen hat, reflektiert ebenfalls kritisch über den Gerichtsapparat und greift dabei den Kernpunkt der Herr-Knecht-Dialektik auf, die Anerkennung durch die Unter‐ gebenen: „es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne“ (Kafka 2005: 56). Mit diesem Satz wird klar, dass Josef K. die Mythisierung seines ei‐ genen Verurteiltseins akzeptiert, aus der er selbst über seine Exekution hinaus nicht ausbricht. Das Panoptikon in Kafkas Roman, mit dem eine unbekannte Größe ihre Kon‐ trolle über Josef K. und andere Häftlinge ausübt, erscheint für die Hauptfigur zu keiner Zeit fassbar. In CP stellt sich der Patron selbst wie das Zentrum eines Panoptikons dar, das vollständigen Überblick über seine Untergebenen hat und den daraufhin niemand überraschen kann. Ihm scheint nichts zu entgehen, und 232 4 Gaudés dionysische Dramen er liebt es, als Urheber von Macht und Willkür von jedem gekannt und gefürchtet zu werden, sieht sich jedoch - zunächst von außerhalb seines Apparates, später auch aus seinen eigenen Reihen - engagiertem Widerstand gegenüber. Gaudés Stück scheint folglich kein Konstrukt einer Figur zu sein, sondern einer höheren Realität zu entsprechen, der sich selbst der Patron unterordnen muss. Wie der Patron, dessen Vorkehrungen schlussendlich nicht ausreichen, um die Macht dauerhaft an sich zu binden, ist Josef K. Opfer seines eigenen Konstruktes, aus dem er aus freiem Willen nicht ausbricht: „war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.“ (Kafka 2005: 78) Der vom Patron konstruierte Mythos muss sich mit dem idealistischen Mythos seiner freiheitsliebenden Umgebung auseinander‐ setzen und unterliegt am Ende. Die an Josef K. vorgeführte Internalisierung der Selbstdisziplinierung, der freiwilligen Unterwerfung unter selbst konstruierte Kontrollinstanzen, führte Michel Foucault später auf die Mentalität der Kontrolle in der abendländischen Gesellschaft zurück (Foucault 1987: 220-229). Die technische Möglichkeit der Überwachung, die vor allem durch die Medien geleistet wird, ersetzt damit weitgehend die Kontrolle durch festgefahrene Sozialnormen, wie sie noch im 19. Jahrhundert stattgefunden hat. In seiner machtphilosophischen Schrift Sur‐ veiller et punir (1975) greift Foucault unter anderem das Panoptikon-Modell von Jeremy Bentham auf, eines britischen Rechtsphilosophen und Utilitaristen. Ben‐ tham verstand sein Konzept als Anregung für die Architektur, um Gebäude zu entwerfen, in denen man von einem zentralen Punkt aus alle sich in ihm be‐ findlichen Personen überwachen konnte (Bentham 1791; Foucault 1987: Abb. 17). Wurden Benthams Pläne auch nie vollständig in die Tat umgesetzt, so setzte George Orwell dem Panoptikon-Modell in seinem dystopischen Roman 1984 (1949) zumindest ein literarisches Manifest, in dem sich zugleich die technische Fortentwicklung des Panoptikons in einer totalen elektronischen Überwachung niederschlägt. Bei Orwell entsteht eine spezifische Spannung, auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik verweisend, zwischen der Möglichkeit der Anerken‐ nungsverweigerung und der stillschweigenden Akzeptanz des knechtenden Überwachungssystems. Diese Verinnerlichung des Kontrollsystems hat zur Folge, dass sich die Figuren dazu gedrängt sehen, eine Helferfunktion im Netz‐ werk der universalen Kontrolle auszuführen, womit das Bewusstwerden der totalitären Normen als von außen an eine Gesellschaft herangetragener Regel‐ komplex nicht möglich ist. In ähnlicher Weise wie in George Orwells 1984 hat der Garde du corps 1 in CP das Kontrollnetzwerk des Patron angenommen - er beweist auf der textu‐ ellen Ebene seinen beschränkten Intellekt, indem er sich als Tötungsmaschine vorstellt, als Bestie, die sich nur über physische Gewalt definiert. Immer wieder 233 4.3 Dionysische Gefilde beschreibt er seinen sadistischen eros, seine Erregung bei Gewaltanwendung an anderen und seine Expertise, was das Foltern anbetrifft, womit er seinem Chef gegenüber absolute Loyalität bescheinigt (CP, 41 f.). Die hier deutlich werdende Fähigkeit zur Selbstanalyse ist dem Leibwächter vollkommen unbewusst - im Gegensatz zur Figur der Pute. Sie geht bereits einen Schritt weiter: Augen‐ scheinlich macht sie ihrer Bezeichnung alle Ehre, scheint ausschließlich auf ihre Pflichten konzentriert zu sein (CP, 43). Jedoch gibt sie nur vor, dumm zu sein, denn sie ist fähig zu einer schonungslosen Analyse ihrer psychischen Disposi‐ tion, in der sie ihr maschinenartiges Verhalten, lediglich zu funktionieren und keine Emotionen zu zeigen, aufgibt und die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Ab‐ straktion innerhalb ihres hermeneutischen Horizonts beweist. In Ermangelung anderer Mittel will der Patron seine Vereinigung mit dem Assassin über die Pute besiegeln. Durch den Geschlechtsverkehr mit derselben Frau soll eine Identitätskongruenz, eine dem totalitären System des Patron ent‐ sprechende Kollektividentität, hergestellt werden (CP, 43). Der Patron versucht das konstruierte Vater-Sohn-Verhältnis auf allen nur möglichen Ebenen zum Ausdruck zu bringen. So fordert er den Assassin auf, einen ödipalen Komplex zu erzeugen, der die Vaterschaft des Patron psychoanalytisch bescheinigen würde. Literarhistorisch betrachtet zeigt Gaudé hier die Vielschichtigkeit seiner Texte, die nur bei einer sorgfältigen Interpretationsarbeit zu Tage tritt. Die me‐ tafiktionale Herausforderung und Pervertierung des ödipalen Komplexes stellt den Konflikt zwischen der Macht, einen Mythos durch Einbildungskraft zu be‐ arbeiten und neu zu formulieren und der Konfrontation dieses Mythos mit dem Absolutismus der Wirklichkeit dar. Der Versuch, den Mythos des Ödipus zu instrumentalisieren, ist eine Demonstration der absoluten Macht des Patron und gleichzeitig seines absoluten Scheiterns. Um mit den Erkenntnissen Lévi- Strauss’ und Blumenbergs zu sprechen, erkennt der Patron nicht, dass die Per‐ vertierung eines Mythos ebenfalls einer Rezeption entspricht. Mit der Figur des Patron exemplifiziert Gaudé so die von Blumenberg propagierte Unausweich‐ lichkeit des Mythos. Im Gegensatz zum Patron schreckt der Assassin vor der oktroyierten Kon‐ struktion eines ödipalen Komplexes zurück - damit akzeptiert er diesen als feste mythologische Größe, die auch nicht durch willkürliches Diktat manipuliert werden kann. Für den Assassin ist die Abneigung gegen den vom Patron ge‐ forderten Initiationsritus folglich Ausdruck der Anerkennung einer beständigen Konstruktion von Mythen, die vom Menschen getätigt, jedoch nicht vollends gesteuert werden kann - Mythenbildung äußert sich im dramatischen Werk von Gaudé als fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Durch das Scheitern an ihren eigenen Vorgaben liefern der Patron und der erste Leibwächter den Be‐ 234 4 Gaudés dionysische Dramen weis, dass sie letztendlich der bestimmenden Kraft des Mythos als Ausdruck der menschlichen Wahrnehmungsverarbeitung ausgeliefert sind. Allein die Fähig‐ keit, über die Triebhaftigkeit zu reflektieren, wie es hier anhand der Figuren der Pute und des Assassin vorgeführt wird, zeigt eine Stufe höherer Intelligenz, der es gelungen ist, aus der unreflektierten Instinkthaftigkeit auszubrechen, ohne jedoch der beständigen Mythenrezeption und Mythentransformation entrinnen zu können. Der vom Patron geforderte Initiationsritus des Assassin kommt einem Höl‐ lengang gleich, einem Abstieg in die Unterwelt, der im Falle der Totengräber, sowohl in CP als auch in CM, bereits erfolgt zu sein scheint. Mit der ausschließ‐ lichen Bestattungstätigkeit und dem ihnen auferlegten Verbot, den terrain vague zu verlassen - in CP durch den Patron, in CM durch ein nicht näher spezifi‐ ziertes, totalitäres Staatsgebilde -, sind sie Initiierte, die sich bereits jenseits der Grenze zwischen Diesseits und Unterwelt befinden. Der Zusammenhang zwi‐ schen Initiation und descensus ad inferos, für Eliade seit dem Gilgamesch-Epos eine literarische Chiffre (Eliade 1988: 116 f.), wird von der Frau des Patron be‐ stätigt, da diese den rein literarischen Charakter der Initiation anhand des vom Patron an eine Grenze getriebenen ödipalen Komplexes aufzeigt. Die Gattin des Patron streitet die Realexistenz eines Familienverhältnisses zum Assassin ve‐ hement ab (CP, 46); sie hält das Vorgehen ihres Mannes hingegen für ein Kin‐ derspiel (Huizinga 2004: 22), ein Spiel mit Bezeichnungen, das erst im totalitären System des Patron Bedeutung erlangt. Die Geisteshaltung der Frau des Patron verweist auf die These Max Müllers, dass der Mythos eine „Kinderkrankheit“ ist (Hübner 1985: 51), die in einem geistig noch nicht voll ausgebildeten Stadium zum Tragen kommt, um die Welt zu erklären. Folglich erkennt die Frau des Patron die letztendliche Konsequenz der Suche ihres Mannes nach Zuneigung, die in einem sprachlichen Spiel mündet und damit das Fortschreiten der geis‐ tigen Simplifizierung der Figuren durch die Schreckensherrschaft des Patron verbildlicht: LA FEMME DU PATRON. Je ne sais pas. Mais il n’y a pas de fils ni de père. Ils ne savent pas ce que c’est. Tu ne dois pas les croire. Ce ne sont que des noms qu’ils se donnent pour se distraire. Comme lorsque l’on est petit et que l’on décide d’appeler une table une chaise et une chaise un couteau. (CP, 47) Während das Vater-Sohn-Verhältnis nur als Wunschtraum des Patron exis‐ tiert, zeichnet sich auf der Ebene einer anderen Personenkonstellation ein ähn‐ lich ungewöhnliches aber sehr enges Verhältnis ab. Mit der seltsam erschei‐ nenden Zuneigung zwischen der Frau eines einflussreichen Mannes und einer Nebenbuhlerin ihres Gatten, die den äußersten Rand der Gesellschaft repräsen‐ 235 4.3 Dionysische Gefilde tiert, bricht die Frau des Patron ein Tabu. Sie fühlt sich sicher in der Nähe der Frau, mit der ihr Mann Ehebruch begeht und lässt ein auf Emotionen aufge‐ bautes Mutter-Tochter-Verhältnis entstehen, das dem rein rationalen, konstru‐ ierten und auf wirtschaftliche Ziele ausgerichteten Vater-Sohn-Verhältnis zwi‐ schen dem Patron und dem Assassin gegenübersteht. Um die Erniedrigung der Pute rückgängig zu machen und um dem Patron nach dem Dante’schen Prinzip des analogischen contrappasso genauso zu hintergehen, wie er seine Frau hin‐ tergeht, zahlt die Frau des Patron der Pute stets die Summe, die auch der Patron für ihre Liebesdienste bezahlt. Damit unterminiert die Gattin des Patron die Dominanz ihres Mannes und treibt die Unabhängigkeit seiner Untergebenen voran (CP, 45). Nicht zuletzt hierauf ist zurückzuführen, dass die Totengräber gegen Ende des Stückes sich gleichfalls zu einer Interessengemeinschaft zu‐ sammenschließen, deren Ziel der Ausbruch aus der Schreckensherrschaft des Patron und das Ende ihres combat de possédés sein soll. Durch seine Rachegelüste gerät der Assassin in einen dionysischen Wut‐ rausch, in dem er sich zu einer Patronenkugel reifiziert und metaphorisiert: „Je suis une balle. Personne ne s’interpose entre une balle et sa cible.“ (CP, 60) Hier wird ein krasser Gegensatz zwischen dem Assassin und der Pute deutlich, denn der Pute gelingt es, aus dem vom Patron errichteten System der permanenten Überwachung und Unterdrückung auszubrechen. Als Fluchthelferin weiß sie die Frau des Patron auf ihrer Seite. Der Assassin hingegen befindet sich durch seine immer wieder aufkeimenden Rachegedanken im Sog der Gewalt des Pa‐ tron, spielt somit nach dessen Regeln und kommt in puncto Brutalität dem Pa‐ tron gleich. Dies schafft die paradoxe Situation, dass der Assassin, in der Inten‐ tion völliger Ablehnung, das vom Patron fingierte Vater-Sohn-Verhältnis ausfüllt und die Erbschaft des Patron anzutreten im Begriff ist. Die Pute erkennt dies, versucht den Assassin aus der Einflusssphäre des Patron herauszuholen und dem Assassin wieder zu seiner individuellen Identität zu verhelfen, indem sie die Opposition zwischen der vom Patron konstruierten Kollektividentität und der Ausgangssituation des Assassins demonstriert (CP, 60 f.). Mit dieser Vorgehensweise zeigt die Pute das Prinzip der Identitätsstiftung von Gaudés Figuren auf. Identitätsstiftung bei Gaudés Charakteren definiert sich folglich stets und ausschließlich durch Prozesshaftigkeit und Grenzüberschreitung. In ihrem Rollenverständnis erinnert die Figur der Pute an Lizzie, die Prosti‐ tuierte in Sartres Drama La putain respectueuse (1946). Der gesellschaftliche Zwang, der die Menschen in ihre Rollen hineindrängt und einen Ausbruch nicht zulässt, verbindet beide Figuren miteinander. Gaudé greift den von Sartre be‐ handelten Mythos des gesellschaftlichen Tabus der Prostitution auf, verkehrt ihn jedoch. Wo bei Sartre die gesellschaftlich ausgegrenzte Figur, wenn auch 236 4 Gaudés dionysische Dramen vergeblich, um ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin eines brutalen Mordes bemüht ist, folglich versucht, aus dem gesellschaftlichen Tabu auszubrechen, ist Gaudés Figur um das Gegenteil bemüht, bis zu ihrer Anagnorisis, der Erkenntnis des vom Patron oktroyierten hierarchischen Konstruktes. Bis zu ihrem Ausbruch aus dem System des Patron ist die Pute bestrebt, eine klassische Prostituierte abzugeben, als personifizierte Definition der Prostituierten aufzutreten. Die No‐ menklatur der Figur bei Gaudé weist auf diese Verschärfung der Figurenrolle hin. Während die Prostituierte bei Sartre noch einen Namen trägt, erhält sie in Gaudés Stück, wie die übrigen Figuren auch, allein die begriffliche Bezeichnung ihrer gesellschaftlichen Position - Isa, ihr eigentlicher Name, bleibt den Zu‐ schauern vorenthalten und ist nur den Lesern zugänglich, da er nur in den Di‐ daskalien erscheint. Die Frau des Patron bestätigt in ihren Aussagen nur scheinbar die von ihrem Ehemann aufgezwungene patriarchalische Rollenverteilung von Mann und Frau; sie spricht Frauen jegliches Fachwissen ab: „Puisque ce sont des hommes, comme vous, qui ont inventé les voitures, c’est votre faute si je suis dans la détresse.“ (CP, 29) Das Plädoyer für die althergebrachte Rollenverteilung gerät zu einer Farce, da es hier überzeichnet und obendrein von einer Frau geäußert wird. So wird die Dynamik von CP durch die permanenten Versuche der Figuren deutlich, aus dem System des Patron auszubrechen und eine unabhängige In‐ dividualidentität herauszubilden. Im Endeffekt sind es jedoch nur die Leser, welche die vom Patron konstruierte hierarchische Opposition vollends aufzu‐ heben imstande sind, da sie aufgrund ihrer Textkenntnis und Interpretations‐ leistung erkennen können, dass die von den Figuren vorgegebene Verteilung von Intelligenz und geistiger Beschränktheit eine Täuschung ist. Damit zeigt Gaudés Stück die Rezeption und bearbeitende Realisierung des Mythos von der Intelligenz der Herrschenden. Die Opposition zwischen Instinkt und Intelligenz und die daraus resultierende gesellschaftliche Hierarchie kann damit von den Lesern als vom Patron entworfener Mythos entziffert werden. Das Herrschen mit all seinen Facetten wird, wie es Huizinga ausführlich dargelegt hat, zu einem Spiel (Huizinga 2004: 22). Gaudé zeigt, dass sämtliche Gesellschaftsmodelle, auch die, von denen die moderne Gesellschaft überzeugt ist und die sie für fort‐ schrittlich, aufgeklärt und gerecht hält, nichts anderes sind als ein Spiel, das über die Neigungen des Menschen zu dionysischen Extremen hinwegtäuscht. CP ist der Ausdruck dieser unüberwindbaren Extreme. Das Spiel mit Mythen und Be‐ deutungen führt Gaudé auf sämtlichen Ebenen des Textes vor und lässt das sich aus unterschiedlichen Bedeutungsebenen nährende Isotopiengeflecht beson‐ ders auf der poetologischen Ebene kulminieren. 237 4.3 Dionysische Gefilde 4.3.4 Theater im Theater - Gaudés literarische und poetologische Parabeln Die Parabeln in CP bieten nicht nur ein Gegenstück zur bisweilen von Brutalität überschatteten Handlung, sondern auch eine poetologische Komponente, die über die Exemplifizierung „bloßer“ Intertextualität hinausgeht. Sie nehmen in CP eine Sonderstellung ein, deren genauere Betrachtung lohnend erscheint. Die „Mongolenparabel“ des Assassin nimmt eine zentrale Position ein, da sie einiges über die erheblichen intellektuellen Unterschiede zwischen den Figuren in CP verrät. Vom Leibwächter überwältigt und des sicheren Todes gewiss, warnt der Assassin den Leibwächter vor der Zerstörungskraft der Habgier derer, die sich um den Nachlass des Patron streiten. Er vergleicht in seiner Parabel die Konflikte um das Erbe des Patron mit dem rituellen Wettbewerb der mongoli‐ schen Reiter, die versuchen, sich gegenseitig einen Bock zu entreißen (CP, 68). Im Anschluss an die „Mongolenparabel“ tötet der Garde du corps 1 den Assassin ohne jegliche geistige und emotionale Regung, aus simpler conscience profession‐ nelle und in Ermangelung der Fähigkeit zu selbständiger Reflexion, dem Patron folglich über dessen Tod hinaus vollständig hörig. Mit einer weiteren und noch bedeutungsschwereren Parabel wartet der erste Totengräber auf. Dieser stets kritisch hinterfragende Geist klärt mit einer Pa‐ rabel seinen Partner über die Folgenschwere der Handlangertätigkeit für den Patron auf (CP, 50 f.). Er erzählt seinem Compagnon von Ticomán, einem ehe‐ maligen Dorf im Norden des Distrito Federal von Mexiko, heute ein archäologi‐ scher Ausgrabungsort. In der Parabel wird Ticomán - in der für Gaudés Literatur typischen Manier der Verquickung von Realität und Fiktion - als real existier‐ ender Fundort archäologisch wertvoller Reliquien fiktional als ein Ort darge‐ stellt, an dem ein seit Jahren angehäuftes Massengrab von einem apokalyptisch anmutenden Regen, der fünf Tage und fünf Nächte anhält, emporgespült wird. Der erste Totengräber erzählt von einer großen Anzahl von Leichen, die, in mehreren Schichten übereinander gestapelt, in die Erde verbracht wurden. Die Menschen, die Augenzeugen dieser Manifestation eines Massenmordes wurden, nannten den Ort, an dem sich das Massengrab befand, „le cimetière de la pluie“ (CP, 50). Die Ticomán-Parabel ist intratextuell betrachtet ein zentrales kompo‐ sitorisches Versatzstück in CP, da sie das schlechte Gewissen der Totengräber auf eine symbolische Ebene hebt. Somit ist der allegorische Gehalt dieser Parabel nicht zu übersehen, und ein Verweis auf analoge Intertexte ist freilich nicht von der Hand zu weisen. Das mehrschichtige Massengrab von Ticomán erinnert unübersehbar an die mystische Stadt Comala in Juan Rulfos Roman Pedro Pá‐ ramo (PP; 1955). Wie in PP eröffnet sich in der Parabel des ersten Totengräbers nicht nur das Totenreich, sondern gleichzeitig auch mehrere Bedeutungs‐ 238 4 Gaudés dionysische Dramen schichten (Link-Heer 1992: 268), die jeweils durch eine mise en abyme zu Tage gefördert werden. Comala wird mit dem sich öffnenden Höllentor gleichgesetzt und markiert den descensus Pedros, einer der Hauptfiguren. Immer wieder haben Literatur‐ wissenschaftler den Antagonismus zwischen Hölle und Paradies in PP heraus‐ gestellt (Portal 1981: 142; Ezquerro 1986: 87 ff.; Ortega Galindo 1984: 84 ff.). Ur‐ sula Link-Heer sieht „die Lektüre Pedro Páramos in der Dreifachperspektive von Paradies, Inferno und Purgatorium - mit der unhintergehbaren intertextuellen Folie der Divina Commedia.“ Jedoch sind, im Gegensatz zu Dante, „Himmel, Hölle und Fegefeuer bei Rulfo gleichzeitig gegeben, wodurch sie auch bereits dissoziiert erscheinen.“ (Link-Heer 1992: 272) Von der Romanfigur Dolores Pre‐ ciado wird Comala als paradiesischer Ort beschrieben, der in eine Stadt der Un‐ terwelt verkehrt wurde, als Pedro Páramo, Juan Preciados Vater, ihn erblickte. Nach Comala gekommen, macht Juan ähnliche Grenzerfahrungen wie sein Vater, nimmt Menschen wahr, die bereits tot sind und übertritt, auf der Suche nach Antworten über den Lebenswandel seines Vaters, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Die Geisterstadt Comala ist aber nicht nur nach einer lectura mitológica, sondern auch erzähltechnisch gesehen der Dreh- und An‐ gelpunkt des Romans. Der Handlungsstrang der Queste Juans und der des Le‐ bens Pedro Páramos werden, mit Berichten von unbekannten Dritten, inein‐ ander verquickt und verschmelzen durch die ausgestreuten intertextuellen Fährten zu einer Schatzkammer literarischer Stoffe und Motive, die zu öffnen allein den Lesern überlassen ist. Ähnlich wie Ticomán und der terrain vague, ist Comala eine Repräsentation des Übergangs zwischen Ober- und Unterwelt. Die Stadt als Ort der Verbindung von Diesseits und Jenseits, wie sie auch in Lorcas Stadtpoesie Poeta en Nueva York zu Tage tritt (vgl. García Lorca 2000), dient beiden Autoren als Zentrum der ludischen Disposition ihrer Literatur (Prill 2002: 8-17). Bei Rulfo ist es die einst florierende Stadt Comala, in der Parabel des Totengräbers bei Gaudé ist es Ticomán, unweit der Metropole Mexiko D.F. gelegen, die den descensus ad inferos an die Oberfläche trägt. Bei beiden Autoren ermöglicht die urbane Atmosphäre die Entfesselung der chthonischen Kräfte. Durch den Schutz der Unterweltstadt gelangen die Toten in PP wieder ins Diesseits und offenbaren sich den Lebenden, um gemeinsam in der glorreichen Vergangenheit der Stadt zu schwelgen. Die emporkommenden Toten werden zu Ausgeburten des Chthonischen, die nach der Vereinigung von Diesseits und Jenseits streben: „Comala […] está sobre las brasas de la tierra, en la mera boca del infierno. Con decirle que muchos de los que allí se mueren, al llegar al infierno regresan por su cobija.“ (Rulfo 2014: 75) Somit erscheinen die Toten in PP nicht selten als Lebendige, die an der Handlung 239 4.3 Dionysische Gefilde beteiligt sind. Juan Preciado kann sich folglich nicht immer über die Verortung seiner Gesprächspartner im Klaren sein und ist des Öfteren gezwungen, nach‐ zufragen: „—¿No están ustedes muertos? —les pregunté.“ (Rulfo 2014: 115) Von einem Moment auf den anderen stülpt sich in Rulfos Roman die Unterwelt nach oben und umgekehrt. Wie Gaudé schafft Rulfo damit permanente Grenzüber‐ schreitungen, die die jedoch zumeist abrupt erfolgen und über welche die Figuren, ganz im Gegensatz zu denen Gaudés, durchaus unterrichtet sind: „Lo que pasa con estos muertos viejos es que en cuanto les llega la humedad co‐ mienzan a removerse. Y despiertan.“ (Rulfo 2014: 144) Wie im eben angeklungenen Zitat repräsentiert der Regen in PP den kairos in der Unterweltstadt Comala: „Sobre los campos del valle de Comala está cayendo la lluvia. Una lluvia menuda, extraña para estas tierras que sólo saben de aguaceros.“ (Rulfo 2014: 150) Der kairos vollzieht sich in PP stets aus zwei Richtungen, die sich gegenseitig bedingen: Die Naturgewalt bricht von oben in die „Realität“ ein, woraufhin die Toten Comalas aus den Abgründen empor‐ kommen. Der Regen in PP ist Zeichen für die Ambivalenz der chthonischen Mächte, die den Menschen einerseits Nahrung spenden, andererseits jedoch auch ein Segen für die nicht zur Ruhe kommenden Toten bedeuten. Die Illus‐ tration des apokalyptischen Charakters des Regens erfahren die Leser anhand der Fragmentarisierung des menschlichen Lebens und damit der sich allmählich dissoziierenden Identität der Figuren: „Lluvia que puede ser también símbolo de una vida que se va deshaciendo en gotas“ (Ortega Galindo 1984: 87). Für die Alteingesessenen besteht bereits im Vorfeld eine Endzeitstimmung, die von der Gewissheit über die Macht der Unterwelt zeugt: Entre los surcos, donde está naciendo el maíz, corre el agua en ríos. Los hombres no han venido hoy al mercado, ocupados en romper sus surcos para que el agua busque nuevos cauces y no arrastre la milpa tierna. Andan en grupos, navegando en la tierra anegada, bajo la lluvia, quebrando con sus palas los blandos terrones, ligando con sus manos la milpa y tratando de protegerla para que crezca sin trabajo. Los indios esperan. Sienten que es un mal día. Quizá por eso tiemblan debajo de sus mojados «gabanes» de paja; no de frío, sino de temor. Y miran la lluvia desmenuzada y al cielo, que no suelta sus nubes. Nadie viene. El pueblo parece estar solo. (Rulfo 2014: 150 f.) Wann immer er auftritt, ist der Regen Sinnbild der Sintflut; er spült, wie in Gaudés Ticomán-Parabel, die Unterwelt hervor, und versinnbildlicht den Kampf der Elemente, wenn er auf die kochend heiße Erde trifft, die sich öffnet, um die Unterwelt hervorzubringen. Hierbei wird auch die reinigende Kraft der Sintflut 240 4 Gaudés dionysische Dramen („diluviando“) explizit, welche die Hitze der Unterwelt abkühlt und damit eine allgemeine Katharsis durchführt: Allá afuera se oía el caer de la lluvia sobre las hojas de los plátanos, se sentía como si el agua hirviera sobre el agua estancada en la tierra. Las sábanas estaban frías de humedad. Los caños borbotaban, hacían espuma, cansados de trabajar durante el día, durante la noche, durante el día. El agua seguía corriendo, diluviando en incesantes burbujas. (Rulfo 2014: 153) Eine solche universelle Katharsis wünscht sich auch der erste Totengräber in CP, damit alle kriminelle Energie des Patron und seiner Machenschaften zu Tage kommt, an der er sich mitschuldig fühlt (CP, 49 f.). Der Totengräber ist fest davon überzeugt, dass diese durch Mittäterschaft aufgebaute Schuld nur durch einen mystischen, purgatorischen Regen getilgt werden kann: „J’ai peur, moi, de cette averse. Et cependant, parfois, il m’arrive de la souhaiter, de toute mon âme, que les choses soient dites. Je me dis parfois que cela nous sauverait. Qu’il faudrait une pluie torrentielle longue d’au moins cinq jours et cinq nuits. Mais il ne pleut jamais ici.“ (CP, 50 f.) Die tilgende Wirkung der Sintflut und die Möglichkeit des Neuanfangs sind es, die der Totengräber herbeisehnt, jedoch in der dantesk an‐ mutenden Szenerie von CP nicht zu hoffen wagt. Zugleich ist die Ticomán-Pa‐ rabel als Verweis auf die Sintflutgeschichten des Gilgamesch-Epos und des Alten Testaments ein Zeichen für eine Erneuerung, die nur in mythologischer Rück‐ besinnung liegen kann. Sowohl inhaltlich als auch metafiktional geht die Lebensgeschichte des Juan Preciado über den Tod hinaus. Nicht nur unterhält sich Juan, bereits im Grab liegend, mit anderen Toten, sondern es sind die vielen sich überlagernden Hand‐ lungsstränge, die von einer nahezu heimsuchenden Unendlichkeit des Romans zeugen. Die Totengräber (CP), die als einzige Überlebende am Ende des Dramas auf dem terrain vague verbleiben, und die Rescapée (CM) sind, wie Juan Preciado, transzendentale Charaktere, die einen dantesken Gang durch die Unterwelt vollführen (Prill 1999: 142-152). Der sprechende Name von Juans Vater, Pedro Páramo, ist Programm für die Gestalt, die er im Tode annimmt (span. pedro < lat. petrus: ‚Fels‘; span. páramo: ‚Einöde‘, ‚Steinwüste‘). Dies ist zugleich ein Verweis auf die Struktur des Ro‐ mans: Wie die Steinkügelchen, deren Form Pedro Páramo repräsentiert, ist auch der Roman ein Mosaik, der aus losen, nur bisweilen in chronologischen Blöcken auftretenden Episoden besteht. PP wird damit zu einer mise en abyme auf den Variationsreichtum eines Autors, der mit verschiedenen mythologischen Inter‐ texten aufwartet. Rulfo variiert beständig zwischen unterschiedlichen Perspek‐ tiven und zeigt damit, dass sein literarisches Spiel die Textproduktion und ihre 241 4.3 Dionysische Gefilde Interpretation dergestalt zusammenführt, dass sie sich in Form eines sprach‐ mächtigen Hermetismus äußern (Link-Heer 1992: 277). Sämtliche Interpretati‐ onsansätze, die in PP unterschiedliche Tiefenstrukturen erkannt haben, erliegen letztendlich der spielerischen Inkonsequenz des Autors und zeigen die anar‐ chistische Seite der Transformation des Mythos und des literarischen Spiels auf (Huizinga 2004: 156 f.). Dies ist jedoch keine Handreichung zur Hierarchisierung der Oberfläche als der „eigentlich signifikanten Ebene“ (Link-Heer 1992: 276), denn den Reichtum von Rulfos literarischem Spiel macht gerade die Gleichbe‐ rechtigung aller möglichen Strukturen in ihrem Zusammen-Spiel aus. Die Ticomán-Parabel veranschaulicht die intertextuelle Aufladung von Gaudés Dramen und zeigt, dass Gaudés Mythopoiesis gerade im Detail lebt und durch zentrale Versatzstücke den Zusammenhang stiftenden und grenzüber‐ schreitenden Charakter seiner Texte untermauert. Überdies versinnbildlicht die Ticomán-Parabel als coup de théâtre Gaudés Grenzüberschreitung auf poetolo‐ gischer Ebene: Die narrativen Elemente seiner Dramen äußern sich damit nach‐ weislich nicht nur in seinen Monologstücken (OF, TBE). Zudem kann die Fabel des ersten Totengräbers als mise en abyme verstanden werden, da sie textuell und formal den Eingang in die Unterwelt markiert und obendrein eine Analogie zur Situation der Totengräber darstellt. Gaudé nutzt die von Blumenberg defi‐ nierte Grundeigenschaft des Mythos in umgekehrter Richtung aus: Er leitet die Figuren durch Furcht vor dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ und schafft ein komplexes System der Mythenverarbeitung. Die Figuren erfinden Mythen, um sich gegen die angebliche und sprichwörtliche Macht des Patron zu wehren. Dessen Imperium ist jedoch selbst allein auf der Verbreitung von Schreckens‐ mythen aufgebaut. Diese Schreckensmythen konterkarieren die ursprüngliche Funktion des Mythos zur Vertreibung der Furcht und als Manifestierung der allmählichen Übernahme der Weltherrschaft durch die Menschen (vgl. 2.3.4). Der Patron kämpft mit seinem Mythos gegen alle anderen Figuren, die er in seiner Furcht vor dem Verlust seiner Herrschaft als Gegner sieht. Folglich ist der „combat de possédés“ vor allem ein Kampf zwischen konkurrierenden Mythen‐ versionen. 242 4 Gaudés dionysische Dramen 61 Bei diesem Stück handelt es sich um ein Auftragswerk für das Théâtre des Amandiers in Nanterre. Uraufführung des Stückes war am 05. März 2004 in ebendiesem Theater, in einer von Jean-Louis Martinelli inszenierten Koproduktion der ansässigen Theater‐ truppe und der Comédie de Genève (cf. LS, 112). Für weitere Inszenierungen s. 6.2.1. 4.4 Dionysische Opferthematik und französisches Algerien-Erbe: Les Sacrifiées In der Dramentrilogie Les Sacrifiées (2004; LS), 61 beschreibt Gaudé drei Genera‐ tionen von Frauen, die vergeblich aber trotzdem unermüdlich um ihre Akzep‐ tanz in der algerischen Gesellschaft kämpfen. Da die drei Dramen eine kohärente Handlung beschreiben, können sie auch als Akte ein und desselben Dramas aufgefasst werden. Die Teildramen sind jeweils mit einem weiblichen Namen überschrieben und bezeichnen die drei Hauptfiguren des Dramas: Raïssa, Saïda und Leïla. Beginnend mit Raïssa, erzählt LS die leidvolle Geschichte junger Frauen in Algerien, die sich wacker über alle sie knechtenden Konventionen hinwegsetzen und frech für ein neues Lebensgefühl der individuellen und sexuellen Freiheit kämpfen. Schon von klein auf ist Raïssa ein sonderbares Mädchen, das nicht wie alle anderen in ihrem kleinen algerischen Dorf lebt, sondern in den umliegenden Hügeln haust, da sie im Ort als Outlaw gilt. Sie ist eine Verfluchte: Ihre Mutter starb im Kindbett, was Raïssa zu einer Geächteten macht, da sie in den Augen der Dorfältesten den Tod ihrer Mutter verschuldet hat und somit eine Art Erb‐ sünde mit sich trägt. Über drei Generationen hinweg - von Raïssa über Leïla und Saïda - äußert sich dieser Fluch immer wieder und in unterschiedlichen Ausprägungen entlang der Kolonialgeschichte Frankreichs in Algerien, sei es im franko-algerischen Krieg (1954-1962), in der Auswanderungswelle der 1970er und 1980er Jahre oder zuletzt im raschen und intensiven Anstieg des religiösen Fanatismus im Algerien der 1990er Jahre, d. h. einige Jahre vor den Revoluti‐ onsbewegungen des sogenannten arabischen Frühlings, der im Zentrum seines jüngst publizierten Theaterstückes steht (Gaudé 2018). Raïssas Familienlinie trotzt all diesen Schwierigkeiten: Jede der drei Frauen kämpft tapfer und aufopferungsvoll gegen den Lauf der Geschichte, immer wieder versuchend, den Schicksalsschlägen, die alles durcheinanderwerfen, die Stirn zu bieten. Das Kämpfertum der Raïssa zeigt sich bereits früh, an ihrer Spionagetätigkeit für die algerische Armee, zu welcher sie durch ihre Kenntnisse des algerischen Hinterlandes bestens geeignet ist - mühelos durchstreift sie die Stellungen der französischen Truppen und liefert der algerischen Seite über Jahre hinweg geheime strategische Informationen. Jede der drei Frauen, stößt aber auch auf ihre ganz eigene Art und Weise den Schrei der Revolte und des 243 4.4 „Les Sacrifiées“ Kampfes der Sacrifiées, der zum Opfer für das Kollektiv Verdammten, aus. So durchlaufen die drei Frauenfiguren drei Generationen und damit einen be‐ trächtlichen Abschnitt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Raïssa selbst Mutter wird, kommt sie mit dem auf ihr lastenden seelischen Druck nicht mehr zurecht. Sie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Ge‐ danke, dass ihre Mutter durch ihre Geburt sterben musste, lässt sie nicht mehr los. So setzt Raïssa ihre Tochter aus. Die telepathisch anmutende Seelenverbin‐ dung zwischen Mutter und Tochter bleibt aber, trotz dieser folgenschweren Tat, das gesamte Stück hindurch bestehen; es ist eine Suche Leïlas nach ihrer Mutter, bis zu ihrer erneuten Begegnung, als Leïla bereits volljährig ist. Erst durch das Wiedersehen mit der Mutter löst sich bei Leïla eine psychosomatische Blockade, und sie bekommt ihre erste Menstruation - ohne den direkten Kontakt zur Mutter wollte Leïlas Körper förmlich nicht erwachsen werden. Die immense Gewalteinwirkung durch die willkürliche Trennung der Mutter von der Tochter setzt bei Leïla Aggressionen frei, die in Selbstverstümmelung und einem Selbstmordversuch kumulieren. Ihre Schönheit und der deutlich hel‐ lerer Teint als der der Mutter wird von dieser ausdrücklich gerühmt. Leïla wird von einem Ehepaar aufgenommen und adoptiert. Als junge Erwachsene wan‐ dert Leïla nach Frankreich aus, um dort ihr Glück zu versuchen, scheitert aber in zweifacher Hinsicht. Sie enttäuscht einerseits die hohen Erwartungen der algerischen Einwanderer in Frankreich, die in Leïlas kämpferischem Charakter einen Hoffnungsträger sehen, andererseits findet Algerien nicht zur Ruhe und verhindert somit die Rückkehr Leïlas und der Frankreich-Auswanderer, die stets auf eine baldige Rückkehr in die Heimat hofften (vgl. LS, 70 f.). Saïda, die dritte der Generationslinie, fällt vor allem durch ihre freizügige Weise auf, sich zu kleiden und geht nimmt damit den Zeitgeist im westlichen Europa auf. Sie erregt damit, ganz in der Tradition Raïssas und Leïlas, die Wut der erzkonservativen Mitglieder einer communauté der Einwanderer aus Alge‐ rien, die in der Zeit weit zurückgeblieben scheint. Sie kämpft nun den letzten Kampf gegen das Patriarchat, der in ihrer Lebensumgebung aussichtslos er‐ scheint. Zudem wird sie, durch die Reputation ihrer Mütter, wie keine andere der drei Frauen in die Rolle des Sündenbocks hineingedrängt. Der von Islam‐ wissenschaftlern vielfach kritisierte Ehrbegriff in konservativen islamischen Familien zeigt sich an der Figur der Saïda am Intensivsten, die, aufgrund ihrer aufreizend freizügigen Lebensweise von ihrem eigenen Bruder verstoßen wird, 244 4 Gaudés dionysische Dramen 62 Christiane Schirrmacher liefert einen interessanten Überblick über die Problematik der Konzeption der Familienehre in islamischen Gesellschaften: Ehrenmorde zwischen Mi‐ gration und Tradition, Bonn: Institut für Islamfragen, 2008, S. 3-24. 63 Gaudé scheint von der ambivalenten Spannung zwischen Profanation im Tod und der mythologischen Überhöhung des Todes fasziniert zu sein. Wie ein Leitmotiv tauchen sowohl die Symbolik der Begräbnisverweigerung als auch der Freitod, von Individuen ausgewählt und von einer aufgebrachten Gruppe vollstreckt, immer wieder in seinen Dramen und Romanen auf. Vgl. folgende Todesszenen: Roberto Scorta Mascalzone und Pfarrer Don Carlo Bozzoni in Le soleil des Scorta (S. 25 f.; 95 f.), Salvatore Piracci in Eldorado (S. 237 ff.). der ihr bewusst nicht zur Hilfe eilt als die Konservativsten unter den Bewohnern des Stadtviertels Saïda verbrennen wollen. 62 Im Gegensatz zu den beiden Figurennamen Raïssa und Leïla, die, bis auf ihren recht häufigen Gebrauch im arabischen Kulturraum keine offensichtlichen ex‐ tratextuellen Referenzen anbieten, spielt der Name Saïda sehr wahrscheinlich auf den gleichnamigen Ort an, der in der Kolonialgeschichte Algeriens über lange Zeit hart umkämpft war. Beim Aufbau einer kolonialen Infrastruktur war diese Stadt von essenzieller Bedeutung für die Französen (Aouli 1994; Neufend 2012: 49 ff.). Saïda wurde schließlich von Emir Abd-el-Kader 1841 selbst ange‐ zündet, noch bevor es die Franzosen einnehmen konnten. Die zwischen beiden Kulturen hin- und hergerissene Figur der Saïda ist wohl die Inkarnation des heftigen Aufeinandertreffens französischer und algerischer Interessen in dieser Stadt und von wird von Gaudé als Allegorie der gesamten, bis heute andau‐ ernden humanitären Krise eingesetzt, die von diesem kolonialen Konflikt aus‐ gegangen ist. Am Ende der Trilogie kommt es zur lang ersehnten Vereinigung der drei Frauen, als Saïda in das das Haus der Raïssa einzieht. Nach dieser Zusammen‐ führung der Familie ist Raïssa auf die Erhaltung ihres Vermächtnisses bedacht und opfert sich, um ihre Tochter und ihre Enkelin zu schützen. Sie lässt sich von einer aufgebrachten Menschenmenge steinigen, mit aller Ruhe einer Person, die bereits voraussieht, dass sich an ihr Aggressionen entladen, stellvertretend für alle individualistisch agierenden Frauen in einer vom konservativen Islam ge‐ prägten und zugleich gepeinigten Gesellschaft (vgl. LS, 108 f.). 63 Ganz im Einklang mit den Ursprüngen des Theaters stimmt der Chor in die tragischen Gesänge der drei Frauenfiguren ein. Auch in diesem epischen Drama spielt er eine wichtige Rolle der Informationsvermittlung, da er sowohl die Stimme der Soldaten beider Seiten als auch die der der Auswanderer und der zurückgebliebenen Dorfbewohner erklingen lässt. Über den Chor erlebt der Leser hautnah die individuellen und kollektiven Krisen der von beiderseitigen Gräueltaten traumatisierten französischen Soldaten, die, kriegsmüde nach dem 245 4.4 „Les Sacrifiées“ zweiten Weltkrieg und dem sich anschließenden Krieg in Algerien, nur noch die Stellung halten, weil ihnen dies von der Obrigkeit befohlen worden ist. Nicht nur aufgrund der Zahl der Akte bezieht sich das Stück auf die griechi‐ schen Wurzeln des Dramas zurück. Auch der Chor, der in jedem Akt die Ein‐ führung in die Handlung übernimmt, verweist deutlich auf die griechischen Dramen. Von den drei Einheiten wird allerdings lediglich eine berücksichtigt. Es ist die von Aristoteles eingeführte Einheit der Handlung. Die aristotelische Einheit des Ortes wird durch die Flucht Saïdas nach Frankreich durchbrochen. Am wenigsten achtet Gaudé auf die von Castelvetro - um die Bildung einer kanonischen Trias bemüht - im 16. Jh. zusätzlich eingeführte Einheit der Zeit (Castelvetro 1968; Buck 1994: 31; Schanze 1994: 180 f.). Gaudé tätigt aus poeto‐ logischer Sicht folglich eine klare Aussage über das Modell seiner Dramen und kündigt eine Rückorientierung zu den Wurzeln des Dramas der klassischen An‐ tike an. 4.4.1 Die Konzeption des Opfers nach René Girard Die Konzeption des Opfers nach René Girard (1972) kommt in Les Sacrifiées (LS) besonders deutlich zum Tragen. Sie hilft vor allem, den dionysischen Diskurs in diesem politisch hochbrisanten Stück nachzuvollziehen. Deshalb ist es ange‐ bracht, in einem eigenen Kapitel zu erläutern, was Girard unter einem Opfer versteht und warum für ihn alle soziokulturellen Institutionen auf Gewalt gründen. Die von René Girard in La violence et le sacré (1972; Üb. 1987) entwickelte Opfertheorie öffnet einen wertvollen Interpretationsspielraum für Gaudés LS. Zentrum von Girards Theorie ist das „versöhnende Opfer“ (1987: 179), das einem „endlosen Antagonismus“ (ebd.: 185) der Gewalt gegenübersteht. Gibt es kein Opfer, das den menschlichen Gewalttrieb befriedigt, schraubt sich die Spirale der Gewalt zwischen den Menschen immer höher. Dieses Verhältnis der gegen‐ seitigen Gewalt beschreibt Girard als „Krise des Opferkultes“ folgendermaßen: Die Krise des Opferkultes, d. h. der Verlust des Opfers, ist der Verlust der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz verlorengeht, dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende, d. h. gegenseitige Gewalt breitet sich in der Gemeinschaft aus. (Girard 1987: 77) Konsequenz dieser Opferkultkrise ist die Aufhebung von Gegensätzen, die an die lösende und alles vereinende Wirkung der dionysischen Gewalt erinnert. Dionysos als ankommender Neuerer kann als die Verkörperung der Opferkult‐ krise betrachtet werden (Girard 1987: 188 f.), da die Opferkultkrise mit der Krise 246 4 Gaudés dionysische Dramen vergleichbar ist, welche eine dionysische Epiphanie hervorruft (Seaford 2006: 40). „Die opferkultische Differenz, der Unterschied zwischen dem Reinen und dem Unreinen, kann nicht aufgehoben werden, ohne alle anderen Unterschiede mitzureißen. Es handelt sich hier um ein und denselben Prozess der Überflutung durch die gewalttätige Reziprozität.“ (Girard 1987: 77) Girard nennt die Opfer‐ kultkrise, die sich stets als Krise der gesamten kulturellen Ordnung auswirkt, demnach auch die „Krise der Unterschiede“, denn „kulturelle Ordnung“ hingegen ist „ein organisiertes System von Unterschieden; es ist dieses graduelle Gefälle von Unterschieden, das den Individuen ihre „Identität“ verleiht und so deren Zuordnung zueinander ermöglicht.“ (ebd.) Dionysos hebt in seinem Kult die in‐ dividuelle Identität auf: Silenen, Satyrn, Mänaden und die vom dionysischen Gefolge Ergriffenen werden zu einer ununterscheidbaren Masse, welche den Eindruck der Vehemenz des dionysischen Wirkens noch weiter verstärkt (Sea‐ ford 2006: 40). Während der Opferkultkrise kommt es nach Girards Worten denn auch zu einer „gewalttätigen Einmütigkeit“ (Girard 1987: 185). Mit der Aufhebung der Gegensätze während der Opferkultkrise geht auch die Unterscheidung zwischen Schuld und Unschuld verloren. Die von Girard defi‐ nierte Opferstellvertretung beruht daher auf einer gewissen Abstraktion, da dem Geopferten als Urheber der Missstände eine Kollektivschuld aufgebürdet wird, um die Wirksamkeit der Opferung zu gewährleisten: Die Opferstellvertretung ist mit einer gewissen Verkennung verbunden. Solange der Opferkult lebendig ist, kann die Opferung die Verschiebung, auf der sie beruht, nicht offenkundig machen. Sie darf weder das ursprüngliche Objekt noch die Verlagerung von diesem Objekt auf das tatsächlich dargebrachte Opfer gänzlich vergessen machen, denn sonst gäbe es überhaupt keine Stellvertretung mehr und das Opfer würde seiner Wirksamkeit verlustig gehen. (Girard 1987: 15) Der Girard’sche Opferbegriff hat folglich nichts mit Schuld und Unschuld zu tun. Damit gleicht er dem dionysischen Opferbegriff. Ein dionysischer Sünden‐ bock ist nicht deshalb einer, weil er schuldig ist, sondern weil er als Unbeteiligter mit dem als Schuld instrumentalisierten Gewalttrieb verbunden und damit stell‐ vertretend für alle Gewaltoperationen geopfert werden kann, um den Gewalt‐ trieb in der Gesellschaft zu stillen (Girard 1987: 13). Girards Definition liefert die genaue Entsprechung des dionysischen Sündenbocks, der unwissend und unschuldig geopfert wird, wie es Dionysos selbst bei der Zerreißung durch die Titanen widerfahren ist. Die Opferstellvertretung bezieht sich stets auf die ge‐ samte Gemeinschaft und verdeutlicht durch den Kollektivakt ein besonderes Paradoxon: Das Opfer 247 4.4 „Les Sacrifiées“ tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft von ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise be‐ schwichtigt. (Girard 1987: 18) Der Akt der Opferung wird damit zu einer Kanalisierung der kollektiven und reziproken Gewalt, stellt den Höhepunkt aber auch gleichzeitig den vorläufigen Endpunkt der Opferkultkrise dar. Girard verankert den dionysischen Rausch, der mit der Aufhebung des Un‐ terschiedes zwischen Mensch und Gott alle menschlichen Grenzen über‐ schreitet, fest in seinem System des Opferkultes. Dionysos ist die Verkörperung der allumfassenden Grenzüberschreitung, wird vom Menschen zum Gott und im Bacchanal wiederum vom Gott zum Menschen. Girard erklärt das von Dio‐ nysos verkörperte Opfergeheimnis, einerseits Sündenbock zu sein und ande‐ rerseits sich selbst Opfer zu suchen, für die „dionysische Orthodoxie“, die den Kulten großer Religionen um nichts nachsteht. Wenn es der Kult vorsieht, Di‐ onysos anzurufen und damit zum Erscheinen zu bewegen (vgl. Bakchen, 581 f.), hat Dionysos die Grundlage geschaffen, die es ihm ermöglicht, sich die ihn Ver‐ ehrenden anzugleichen, wie dies in den Bakchen des Euripides klar hervortritt: In der dionysischen Ekstase scheint sich jeder Unterschied zwischen dem Gott und dem Menschen aufzuheben. Wenn es im Drama eine Stimme der dionysischen Or‐ thodoxie gibt, dann sicherlich jene der lydischen Mänaden, die sich unzweideutig aussprechen; der Rausch macht aus jedem Besessenen einen weiteren Dionysos […]. Auf der Ebene der allgemeinen Handlung verliert sich der Unterschied zwischen dem Gott und dem Menschen nie: sie wird am Anfang und am Ende der Tragödie stark betont. Aber während der ganzen tragischen Handlung verhält es sich anders. Hier vermischen und verlieren sich alle Unterschiede, sogar der zwischen Menschsein und Gottsein. (Girard 1987: 191) In der Opferung des Gottes selbst liegen der Höhepunkt des Kultes und die Kraft der Erneuerung zugleich, so dass durch die Selbstopferung des Gottes die Opferkultkrise auf besonders deutliche Weise überwunden wird. Gerade die Selbstopferung des Gottes ist es, die das Geheimnis seines Kultes enthüllt, denn nicht die Gewalt ist Zentrum des Dionysoskultes, sondern das Gleichgewicht der Gegensätze - und dieses kann nur aus einer gewalttätigen Läuterung her‐ rühren: 248 4 Gaudés dionysische Dramen Um den Ritus zu verstehen, muß man ihn mit etwas anderem in Zusammenhang bringen als mit bewußten oder unbewußten psychischen Motivationen. Allem An‐ schein zum Trotz hat er nichts mit grundlosem Sadismus zu tun; er ist nicht auf Gewalt, sondern auf Ordnung und Ruhe ausgerichtet. Der einzige Typus von Gewalt, den er wiederzugeben versucht, ist jener, der die Gewalt vertreibt. (Girard 1987: 196) Dynamik und Regulierung gehen dabei vom Gott selbst aus; Dionysos ist es, der Unruhe stiftet, um durch sie eine Läuterung durchzuführen. Der Gott der stän‐ digen Neuerung kann nur durch Umsturz verändern, in den er selbst verwickelt ist und an dessen Kulminationspunkt er selbst geopfert wird: Nun wird leicht verständlich, weshalb es einen Gott gibt und weshalb dieser Gott verehrt wird. Die Legitimität des Gottes ist nicht daran zu erkennen, dass er den Frieden stört, sondern dass er den von ihm selbst gestörten Frieden wiederherstellt. Damit wird diese Störung des Friedens im Nachhinein gerechtfertigt (Girard 1987: 198 f.). Auch durch die „willkürliche Wahl des Opfers“ und der Opferstellvertretung kann die Einheit der durch die Opferkultkrise zerrütteten Gemeinschaft wieder hergestellt werden: „Der Gott ist Herr des Spiels; er bereitet von langer Hand die erste Opferung - die ihm eigene, schrecklichste und wirksamste Opferung, die die zerrissene Gemeinschaft tatsächlich befreit.“ (Girard 1987: 195 f.) Die von Dionysos hervorgerufenen Opferungsszenen verselbständigen sich durch die Imitation der Gemeinschaft, die sich „die heilbringenden Gesten aneignen“ will (ebd.: 195). Eine ähnliche Verselbständigung kann bei der Untersuchung der Struktur der Bakchen beobachtet werden: „Hier wie auch sonst befindet sich die Tragödie in einer doppeldeutigen Zwischenposition zwischen dem Ritual und dem spon‐ tanen Modell, welches das Ritual zu wiederholen sucht.“ (Girard 1987: 195) Das Ritual wird folglich bereits bei Euripides zu einem poetologischen Modell der Realisierung einer Tragödie: Die Omnipräsenz der dionysischen Kraft drückt einerseits die dionysische Spontaneität und das jeglicher Begründung entbeh‐ rende Ungestüm des Gottes aus und andererseits die literarische Festschreibung einer kultischen Handlung, die sich nach kultischen Regeln wiederholt und deren literarische Realisierung ein Durchgang dieser Wiederholung ist. Kritisch ist anzumerken, dass Girard die dionysischen Aspekte seiner Opfer‐ theorie fast ausschließlich vom Handlungsverlauf der Bakchen des Euripides ableitet, was keine erschöpfende Erklärung der dionysischen Opferthematik sein kann. In Ermangelung an Zeugnissen über die Vorgänge der mystischen Kultzeremonien, deren Beteiligte der vorgeschriebenen Geheimhaltung nach‐ weislich nicht mit Wortbruch begegnet sind, rechtfertigen die Bakchen durch 249 4.4 „Les Sacrifiées“ ihre explizite und ausführliche Darstellung der Funktionsweise des dionysi‐ schen Opfersystems die rege Nutzung als Informationsquelle. Gerade weil Eu‐ ripides nicht mehr mythosgläubig war (Bollack 2005: 21), kann man davon aus‐ gehen, dass das dionysische Opfersystem hier mit kritischer Distanz und in all seiner Härte beschrieben wird. Das Fehlen von Alternativen einerseits und die Verlässlichkeit andererseits haben die Bakchen folglich zur wichtigsten Quelle für die Dionysos-Rezeption der nachantiken Literatur werden lassen: „In den Bakchai fanden spätere griechenbegeisterte Dichter nicht nur die lebhafteste Schilderung des bakchischen Rasens, sondern auch eine umfassende Darstel‐ lung der Entwicklung des dionysischen Kultes in der kleinasiatisch-griechischen Welt.“ (Baeumer 2006: 17) Bei Girard bilden Ritus und Gewalt eine Einheit, ohne die Gewaltlosigkeit in der Gemeinschaft nicht möglich wäre: „Zwar entstammt der Ritus der Gewalt und ist von ihr geprägt, gleichwohl aber ist er auf Friede ausgerichtet; nur er bemüht sich nämlich wirklich aktiv darum, die Harmonie zwischen den Gliedern der Gemeinschaft zu fördern.“ (Girard 1987: 203) Der aus den Dionysosmythen erwachsende Kult hat folglich eine grundlegend läuternde Funktion und wird damit zum Exempel für Girards Verständnis der Funktion von Religion, die durch die Gewalt und den ausgelösten Schrecken die Menschen von der ur‐ sprünglichen Gewalt der Opferkultkrise entfernt (ebd.: 199 f.). Durch die Wie‐ derherstellung der alten Ordnung vor der Opferkultkrise mittels eines auserko‐ renen Kollektivopfers entspricht Girards Opfertheorie der Lévi-Strauss’schen und Blumenberg’schen Mythostheorie: Auch und gerade durch Zerstörung wird der bestehende Mythos in seinem Wesen bestärkt. 4.4.2 Der Girard’sche Opferdiskurs - ein dionysischer Diskurs Gaudé verzichtet in LS, in dem die Identitätsproblematik der algerischstäm‐ migen Einwanderer und die Schwierigkeiten, die ihnen in Frankreich begegnen, unumwunden thematisiert werden, nicht auf die Fortführung des mythologi‐ schen und insbesondere dionysischen Diskurses, der auch die vorher bespro‐ chenen Stücke prägte. Zu keiner Zeit sprechen die Figuren explizit die Vorgänge auf der Bühne an - der Kommentar des Bühnengeschehens bleibt, nach antikem Vorbild, dem Chor vorbehalten. Die Choreröffnungen in LS thematisieren die zentrale Problematik, mit der sich die Figuren auseinandersetzen müssen. Sig‐ nifikant ist ebenfalls die Namengebung des Chores: Im ersten Akt trägt der Chor den Namen „Chœur des soldats“, im zweiten Akt ist es der „Chœur des émigrés algériens“ und im dritten Akt handelt es sich um den „Chœur des gens du quar‐ tier“. So zeichnet Gaudé eine Entwicklung des Stückes vor, das sich, mit dem 250 4 Gaudés dionysische Dramen Algerienkrieg beginnend, auf die Emigranten und ihre Probleme in den Vor‐ städten von Frankreichs Metropolen konzentriert. In aller Deutlichkeit beschreibt der „Chœur des gens du quartier“ den dras‐ tisch zunehmenden Islamismus, der mit ersten terroristischen Anschlägen auf Andersdenkende einhergeht, aber auch vor der Allgemeinheit nicht Halt macht. Unumwunden erwähnt der Chorbericht, wie in Algerien öffentliche Einrich‐ tungen für Unterhaltung und Kultur, von den Islamisten abgelehnt, durch Sprengstoffanschläge in Orte des Schreckens verwandelt werden (LS, 89 f.). Auch die Not der maghrebinischen Einwanderer in Frankreich, die dazu ver‐ dammt sind, nicht aus den ärmlichen Verhältnissen im Land ihrer ehemaligen Feinde hinauszukommmen, erhält eine Stimme (LS, 95 f.). Die gesellschaftliche Tragweite der sich in den Szenen abspielenden Umwälzungen wird durch die im Stück dominierende Umgangssprache noch greifbarer. Die frappierende Ak‐ tualität der Informationen des Chores, der von Gaudé nach der Praxis des an‐ tiken Theaters ausgerichtet wird, sowie allgemeine Ereignisse, die sich, sowohl räumlich als auch zeitlich, um den Bühnenschauplatz herum ereignen, ge‐ winnen durch die Juxtaposition von antiker Form und aktuellem Inhalt noch weiter an Schlagkraft. Aufgrund der langen Zeitspanne, über die sich das Stück erstreckt, erhält LS die epische Breite einer Familiensaga. Festzustellen ist dem‐ nach nicht nur eine Rückbesinnung auf das klassische griechische Drama, son‐ dern auch eine Vermischung der beiden Gattungen, in denen Gaudé hauptsäch‐ lich schreibt, der dramatischen und der epischen. Gewalt- und Opferungsszenen wechseln in LS einander ab, was deutlich auf die Opferkultkrise und ihre Beendigung durch das in Stellvertretung darge‐ brachte Opfer verweist. Ausgangpunkt der Marginalisierung der drei Frauen ist das Dilemma, in welchem sich Raïssa unwillkürlich befindet. Da ihre Mutter bei der Geburt starb, ist sie gesellschaftlich gebrandmarkt. Von den Einwohnern des Dorfes, die dem Ältestenrat ohne jede Hinterfragung hörig sind, wird sie als Muttermörderin verflucht. Die Konzeption der Opferstellvertretung kommt in LS deutlich heraus, da eine Doppelung der Opfer stattfindet: Nicht nur bezahlt Raïssas Mutter die Geburt ihrer Tochter mit dem eigenen Leben, auch ihre Tochter Raïssa wird durch die Gemeinschaft in die Opferrolle gedrängt. Raïssa ist daher bereits durch ihre Geburt ein Sündenbock; ihre Opferung würde den Hunger nach Gewalt im Dorf stillen und die durch ihre Geburt geschaffene Op‐ ferkultkrise beenden: Die Beziehung zwischen potentiellem Opfer und tatsächlichem Opfer soll nicht in Begriffen von Schuld und Unschuld dargestellt werden. Es gibt nichts zu „sühnen“. Die Gesellschaft bemüht sich, eine Gewalt, die ihre eigenen, um jeden Preis zu schüt‐ 251 4.4 „Les Sacrifiées“ zenden Mitglieder treffen könnte, auf ein relativ wertfreies, „opferfähiges“ Opfer zu leiten. (Girard 1987: 13) Die Girard’sche Voraussetzung, dass das Opfer nicht Mitglied der Gemein‐ schaft sein kann, um die kollektive Gewalt einer Gemeinschaft zu kanalisieren und den sozialen Zusammenhalt zu verstärken (Girard 1987: 19; 25 f.), wird in LS erfüllt, da Raïssa vom Ältestenrat als persona non grata deklariert wird: „En‐ fant doublement maudite. Elle priait pour avoir un fils et tu es une fille. Elle voulait donner la vie et tu lui as offert la mort.“ (LS, 12) In einer stets misogynen Umgebung wird der Opfercharakter der Frauen von Generation zu Generation weitervererbt, ausgehend vom Fluch, mit dem Raïssa von den Dorfältesten kon‐ frontiert wird: HOMME 1. Alors écoute encore ceci. Oui, écoute sa dernière prophétie. Et ne reviens jamais. Ecoute bien, c’est ta mère qui parle par notre voix. « Raïssa, fille tueuse de mère, tu auras plus de maris que de doigts. » HOMME 3. « Ta fille naîtra sur ton épaule à l’âge de trente ans. » HOMME 2. « Et tes petites-filles seront heureuses, les unes après les autres, heureuses, dans la peine. » (LS, 13) Interessant ist die Exklusivität der indirekten Überlieferung des Fluches. Raïssa kann sich zeit ihres Lebens nicht sicher sein, ob der von der Mutter auferlegte Fluch nur ein Gerücht der Dorfgemeinschaft ist, die Raïssa ohnehin verachtet. Für den Mythos des Fluches bleibt unerheblich, ob er erfunden wurde oder nicht: Er ist durch seine Überlieferung und Verbreitung gewachsen und somit für Raïssa unumstößlich, gleich dem griechischen Mythos der Vorsokratiker, der für unumgängliche Realität gehalten und ernsthaft geglaubt wurde (Hübner 1985: 128). Der Mythos zeichnet als Handlungsmotor und Ausschlaggeber der Iden‐ titätskrisen der Hauptfiguren verantwortlich: Durch den Mythos erhält Raïssa erst den ihr zugeschriebenen Opfercharakter. So konzipiert der Mythos den Dramentext als Beschreibung einer Opferkultkrise, die sich durch die Aufleh‐ nung der Frauen immer wieder neu belebt. Nach Girard ist jede Textsorte, welche die Kriterien der Opferstellvertretung erfüllt, dazu fähig, Opfercharakter zu verkörpern und damit zum „Gründungs‐ mythos eines Opfersystems“ zu werden: Der Text erzählt nicht direkt die seltsame Täuschung, die die Opferstellvertretung definiert, aber er geht auch nicht einfach schweigend darüber hinweg; vielmehr ver‐ mischt er sie mit einer anderen Stellvertretung und lässt sie uns, freilich nur flüchtig und indirekt, erahnen. Das bedeutet nichts anderes, als dass er vielleicht selbst Op‐ fercharakter besitzt. Er gibt vor, ein Phänomen der Stellvertretung zu enthüllen, ent‐ 252 4 Gaudés dionysische Dramen hält jedoch ein weiteres, das sich hinter dem ersten halb verbirgt. Es besteht Grund zur Annahme, dass wir es hier mit dem Gründungsmythos eines Opfersystems zu tun haben. (Girard 1987: 15 f.) Gaudés Stück erfüllt die Girard’sche These, da die drei Hauptfiguren, die Ge‐ nerationslinie der Frauen Raïssa, Leïla und Saïda, als Opfer für die Gewalt fun‐ gieren, die aus den Umbrüchen des Algerienkrieges südlich und nördlich des Mittelmeeres hervorgehen (Heiler 2005: 13-16). Gaudés Fortsetzungsdrama weist die drei Frauen einerseits als Opfer aus, liefert andererseits aber selbst, durch den permanent präsenten Opferdiskurs und die textuelle Forttragung des Opfersystems, eine Opferstellvertretung - dies wird noch weiter intensiviert: Dadurch, dass es sich um eine Dramentrilogie handelt, die das Schicksal dreier Generationen nachzeichnet, stellt LS in besonderer Weise den Gründungsmy‐ thos eines Opfersystems dar. Girard verweist in seiner Studie zudem auf die poetologische Komponente des Opfercharakters. Für ihn haben einige Märchen, Mythen und biblische Erzählungen Opfercharakter, weil sie die Opferstellver‐ tretung nicht nur intratextuell, sondern auch auf der narratologischen Ebene exemplifizieren. Durch ihre Eigenschaft als Ersatzopfer, helfen sie den Men‐ schen, ihre Furcht vor dem Absolutismus der Wirklichkeit abzureagieren: Jene Eigenschaften - blinde Brutalität und Absurdität der Entfesselung -, die der Ge‐ walt ihren Schrecken verleihen, haben ihren Gegenpart: sie sind eins mit dem ihnen eigenen befremdlichen Hang, sich auf Ersatzopfer zu stürzen; sie machen es möglich, die Gewalt als Feindin zu überlisten und ihr im geeigneten Augenblick jene lächerliche Beute vorzuwerfen, die sie zufriedenstellen wird. (Girard 1987: 13) Die Ausweglosigkeit, aus der sich Raïssa, Saïda und Leila zu befreien versu‐ chen, bestätigt den Fluch der Raïssa und damit die Tragik, die stets als äußerer Zwang unüberwindbar auf die Figuren einwirkt. Der Fortgang des Mythos ist ebenfalls bestätigt: Alle Anstrengungen der Figuren kommen auf den tragischen Zwang und damit auf den Mythos zurück. Damit wehren sich Gaudés Figuren beständig aber erfolglos, wenngleich in den meisten Fällen unwillkürlich, gegen den Fortgang des Mythos (Blumenberg 1979: 269). Auch in aussichtslosen Situ‐ ationen kämpfen die drei Frauen um die Überlieferung ihrer Botschaft als un‐ schuldige, allein freiheitsliebende Individuen und den Erhalt ihrer Identität, die gerade dazu ausgelegt ist, gegen den Strom zu schwimmen und sich niemals den Konventionen unterzuordnen - diese würden nämlich den Mythos von der le‐ benslänglichen Opferrolle sofort zerstören, wenngleich die diese Konventionen stiftende Gemeinschaft ihn paradoxerweise selbst ins Leben gerufen hat. Die drei Frauenfiguren sind eben dazu verdammt, der in der Gemeinschaft 253 4.4 „Les Sacrifiées“ schwelenden, opferkritischen Gewalt „im geeigneten Augenblick jene lächer‐ liche Beute vorzuwerfen, die sie zufriedenstellen wird.“ (Girard 1987: 13) Raïssa gibt in ihrem Kampf, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, nicht auf, obgleich dieser durch den Opferstatus, den sie innehat, ein aussichts‐ loser Kampf bleiben muss. Durch ihren Kampfgeist macht Raïssa aus ihrem Da‐ sein als Ausgestoßene eine Tugend, indem sie sich eifrig als Botin für Kriegs‐ nachrichten zwischen den algerischen Dörfern betätigt. Ihr Versteck sind die Hinterlassenschaften der Gewalt der französischen Besatzer: Verlassene Bau‐ ernhäuser, deren Bewohner oft auf brutalste Art und Weise ermordet worden sind. Da sie als gesellschaftlicher Outlaw zum Vagabundentum gezwungen ist, wird sie zu einer leichten Beute für die französischen Soldaten, womit sie ihre Opferrolle erneut unterstreicht: Einem ihrer Monologe ist zu entnehmen, dass sie mehrfach und äußerst brutal vergewaltigt wird (LS, 36 f.). Die Dorfbewohner sehen die Vergewaltigung Raïssas einerseits als Bestätigung des Fluches, der auf ihr lastet aber andererseits auch als Opferung Raissas, die einen entscheidenden Beitrag zur Wiederherstellung der althergebrachten Ordnung leistet. Die in den dramatis personae als junges Mädchen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren eingeführte Raïssa, die vom Kokettieren träumt (LS, 26), sieht sich gezwungen, mit den Toten zu sprechen, weil niemand bereit ist, sich ihrer anzunehmen. Aus diesem Grunde lebt sie seit dem Ende des Algerienkrieges auf dem Friedhof: „Je vis ici. Tu sais pourquoi ? Parce que les morts m’ont toujours fait moins de mal que les vivants.“ (LS, 70) Wie die Rescapée in CM fühlt sich Raïssa, nach ihren enttäuschenden Erfahrungen mit den Lebenden, zu den Toten hingezogen. Durch den Fluch der Ältesten sieht sie sich den Toten ohnehin näher als den Lebenden. Da sie nicht weiß, wo ihre Mutter begraben ist, und sie ihr folglich nicht die letzte Ehre erweisen kann, sieht Raïssa im Gespräch mit den Toten einen weiteren Sinn: Ihre Hoffnung, dass die Verstorbenen ihr den Platz verraten, an dem ihre Mutter beerdigt ist. Der Opfercharakter der Raïssa strahlt auf weitere Figuren aus und sorgt für eine Zunahme der Gewalt in der Gesellschaft, was den Einfluss der Opferkult‐ krise nachhaltig bestätigt. Da sie vom Ältestenrat des algerischen Dorfes ver‐ flucht ist, werden ihre sämtlichen Handlungen als Gewalttaten gegen die Ge‐ meinschaft angesehen. Das Begräbnis des Vorstehers des Ältestenrates bei lebendigem Leibe ist jedoch keine Opferungsszene im Sinne Girards, da der Mann in der Bestrebung, die Gunst der Stunde zu nutzen und zum Märtyrer zu avancieren, seinen Tod herausfordert (LS, 16). Er trägt folglich nicht dazu bei, die Opferkultkrise zu beenden, da er zum einen ein wichtiges Mitglied der Ge‐ meinschaft ist und zum anderen nicht von der Gemeinschaft als Opfer ausge‐ 254 4 Gaudés dionysische Dramen wählt wurde; vielmehr stachelt er die Gewalt durch dieses selbstdarstellerische Vorgehen weiter an. In Leïla setzt sich mit dem mütterlichen Fluch auch der Opferdiskurs fort, jedoch auch der Kampf der ausgestoßenen und unterdrückten Frauen für Frei‐ heit und Selbstentfaltung, wie es ihr Raïssa anvertraut: Tu es belle. Plus belle que je ne l’ai jamais été. […] Tu es comme moi. Accidentée. Et humiliée. Tu es comme moi. Je te reconnais. Tu es blanche mais je reconnais chacun de tes traits. Mère et fille. Tu es venue jusqu’à moi. Ne pleure pas. Le passé est sous nos pieds. Nous enterrons la malédiction. Leïla. Il faut que la vie commence pour toi. (LS, 70) Obwohl sie von ihrer Mutter ausgesetzt wurde und nie Kontakt zu ihr hatte, ist der Opfercharakter Raïssas in Leïla stark präsent. Die Verbindung zwischen Mutter und Tochter wird besonders deutlich an der Tatsache, dass Leïla, bereits volljährig, noch keine Menstruation hatte (LS, 73). Erst als Mutter und Tochter sich begegnen und Raïssa ihr die Prophezeiung ihres Opfercharakters weiter‐ gegeben hat, ist Leïla auch biologisch eine Frau und hat ihre erste Regelblutung (ebd.). Wie ihre Mutter will sich Leïla sowohl der Prophezeiung als auch ihrem Schicksal und ihrer Körperlichkeit widersetzen. Leïla tut dies aber auf eine an‐ dere Weise, indem sie die Aggressionen, welche die Exklusion auslöst, mehr‐ heitlich gegen sich selbst richtet. Die Selbstkasteiung Leïlas erreicht nach dem Selbstmordversuch, bei dem sie sich mit einer zerbrochenen Flasche die Puls‐ adern aufschneidet, ihren Höhepunkt, als sie willkürlich ihr Geschlechtsorgan verletzt. Dies kommentiert sie als Versuch, die Weitergabe des Fluches mit ihrer Generation zu beenden (ebd.). Die Mutter weist ihrer Tochter jedoch in der Ma‐ nier eines Orakels auf ihre unwiderrufliche Opferrolle hin: „La malédiction, Leïla. Qui nous frappe de mère en fille. La malédiction qui te frappera à ton tour et qui veut que nous ne transmettions rien d’autre à nos filles que la grimace du malheur.“ (LS, 72) Sicherheit im Kampf gegen ein Patriarchat, das, um an der Macht zu bleiben, vehement unterdrückt, gibt Raïssa ihr dennoch mit auf den Weg - in Form eines intimen, magisch anmutenden Spruches: Je te transmets le combat, ma fille. Je te transmets la tête haute et le regard droit. La vie nous a usées mais elle ne viendra pas à bout de nous. Je te transmets mes souvenirs de juillet, L’ivresse de la foule, […] Je te transmets la rage du combat. Pose, Pose, ma fille, 255 4.4 „Les Sacrifiées“ Pose ta tête sur mon sein Et sens ma fierté tout autour de toi. (LS, 76 f.) Das Besondere an der Opferrolle Leïlas ist, dass sie sich räumlich ausweitet und vom afrikanischen Kontinent auf Europa übergeht. Die in Frankreich le‐ benden Emigranten, die seit Jahren auf eine Rückkehr in ihre algerische Heimat warten, setzen ihre Hoffnungen auf den kämpferischen Charakter der Leïla. Als sich gegen alle Erwartungen in Algerien keine Veränderung vollzieht und daher die ersehnte Aufbruchsstimmung in Frankreich ausbleibt, die durch die sym‐ bolisch aufgeladene Rückkehr der Leïla nach Algerien einsetzen sollte, konzen‐ triert sich die Wut der pieds-noirs auf Leïla, die als auserkorene Hoffnungsträ‐ gerin die Emigranten enttäuscht hat. Der Chor erhebt sie daraufhin zu einem Opfer, das zwar in Abwesenheit die Wut der Einwanderer auf sich zieht, damit aber umso deutlicher die Opferstellvertretung repräsentiert: D’un côté et de l’autre de la Méditerranée, Nous attendions. Nous pensions que la traversée de Leïla marquerait le début d’un long retour. […] Leïla était partie et rien ne changeait. Alors oui, D’un côté et de l’autre de la Méditerranée, nous l’avons maudite. Leïla. La difforme. De corps et d’esprit renversés. Nous sommes retournés à notre attente. Le pays continuait à se vider. […] Nous avons maudit le soleil qui ne nous offrait rien que la même fatigue sans cesse répétée. (LS, 70 f.) Die Vermischung von aktuellen Konfliktstoffen und einer omnipräsenten mythologischen Kraft in Gaudés Stücken ist gut an der Adoptionsszene der Leïla ersichtlich, bei der ein dionysisches Wunder geschieht. Ein Ehepaar, das die Vermischung von Besatzern und Autochthonen symbolisiert, nimmt das Fin‐ delkind Leïla bei sich auf. Meriem, die Frau des Soldaten Messaoud, ist, ohne selbst ein Kind bekommen zu haben, wie die dionysischen Ammen imstande, Milch zu geben, nachdem sie sich des Säuglings angenommen hat. Überwältigt von diesem Ereignis, ist sie nicht nur von der Richtigkeit der Adoption, sondern auch von der Tatsache überzeugt, dass Leïla ihre Tochter ist: „Dans la nuit, je me souviens, j’ai eu une montée de lait. Tu étais notre fille.“ (LS, 57) Auch in der Figur der Raïssa bestätigt sich die dionysische Einflusssphäre; sie wird in den Didaskalien wiederholt als besessen, dionysisch rasend dargestellt: „Raïssa tape 256 4 Gaudés dionysische Dramen du pied par terre, comme une furie, elle semble possédée.“ (LS, 68) Zudem ist auch die Beschreibung der Geburtsumstände Raïssas ist mit einer Gewalt-Isotopie durchzogen: HOMME 2. Tu lui as déjà enlevé la vie. Laisse-la en paix maintenant. RAÏSSA. Je n’ai rien fait. HOMME 2. Tu l’as tuée. […] HOMME 2. Par ta simple naissance. HOMME 1. Fille maudite. HOMME 2. Pour que tu naisses, elle a écarté les cuisses jusqu’à s’en déchirer le ventre. Les cris que tu lui as fait pousser l’ont étouffée. Elle est morte, là, dans sa couche. Le ventre baigné de sang. Sentant que ce petit être chaud lui prenait la vie. HOMME 3. De plus en plus froide. Elle se sentait devenir de plus en plus froide. Avec ce petit bout de chair brûlant qui la terrassait. Tes cris sont les derniers sons qu’elle a entendus, les cris, comme des hurlements de victoire au moment où ses yeux chavi‐ raient. (LS, 12 f.) Zudem erinnern die Geburtsumstände der Raïssa an die Geburt des Dionysos, die immer untrennbar mit dem Tod der Mutter verwoben ist (vgl. 3.1.1). Vom Vokabular her sind denn auch Parallelen zu Gaudés Beschreibung der Geburt des Onysos auszumachen, in beiden Fällen wird von einem „bout de chair“ (OF, 13) gesprochen. Außerdem macht die mehrfache Erwähnung von Lärm und Ge‐ schrei auf eine dionysische Epiphanie aufmerksam („cris“, „hurlements“). Die Weitergabe des dionysischen Einflusses geschieht bei Raïssa durch eine Veräu‐ ßerung, die in der Mythologie immer wieder bei den Mänaden beschrieben wird: Entstellt durch die wiederholte Vergewaltigung durch französische Soldaten, fühlt sich Raïssa während ihrer Schwangerschaft wie ein dionysisches Opfertier. Das Kind in ihr betrachtet sie als Fremdkörper, ähnlich wie sie selbst als Fremd‐ körper ihrer Mutter betrachtet wird (LS, 39). Dionysisch berauscht tanzt Raïssa am Ende des ersten Teiles der Trilogie vor Freude, da sie die Bedingungen für einen Neubeginn als erfüllt ansieht. Auf‐ grund des Sieges über die französische Besatzungsmacht, an welchem sie durch ihre Spionagetätigkeiten nicht unerheblich beteiligt war, sieht Raïssa die lan‐ gersehnte Initiation, im Sinne Eliades (1988: 211), in die Gemeinschaft als durch‐ geführt an und führt daraufhin einen mänadischen Tanz auf. Die zweite Initia‐ tion zeigt sich in der Geburt ihrer Tochter, die befreiend auf sie wirkt, da sie sich von den unmittelbaren körperlichen Folgen der Vergewaltigung trennen kann. Während das Volk die Unabhängigkeit von Frankreich feiert, zelebriert Raïssa ihren ganz persönlichen Sieg, den Sieg der Hoffnung auf einen Neubeginn und das Finden einer eigenen Identität: 257 4.4 „Les Sacrifiées“ Raïssa. Je suis Raïssa. Je marchais de colline en colline. Vous vous souvenez de moi ? J’ai aidé à la victoire. J’ai aidé. Je veux danser avec vous toute la nuit. Le vieux monde est sous nos pieds. La Djemâa. Ma mère. Je ne chercherai plus. Je suis Raïssa. Re‐ gardez-moi danser. Je suis belle. Je suis redevenue comme avant. […] Regardez-moi danser. Je suis Raïssa, la mendiante des collines. Nous avons gagné. Je danse. La vie nouvelle va commencer. J’aurai un mari. Tout va commencer. Chaque jour, mainte‐ nant, je danserai de joie. (LS, 42) Saïda, Tochter von Leïla und Enkelin von Raïssa, folgt den beiden Frauen, was die Außenseiterstellung in der Gesellschaft angeht. Durch ihre freizügige Le‐ bensweise und die Art sich zu kleiden, fällt sie bei den konservativen Männern im islamisch geprägten französischen Stadtviertel in Ungnade. Da sie sich nicht von den Drohungen seitens der Männer beeindrucken lässt und ihr Leben mit Courage nach ihrem Willen gestaltet, plant das konservativ-islamistische Lager bereits Saïdas Steinigung (LS, 91 f.). Selbst Selim, der eigene Bruder, behandelt Saïda wie eine Aussätzige (LS, 83 f.). Von vermeintlich traditionsbewussten Männern wird Saïda verprügelt, beschimpft und schließlich mit Vitriol über‐ gossen (LS, 94 ff.), um sie als Schande für alle islamischen Bewohner des Viertels zu brandmarken. Da seither keine die Opferkultkrise bereinigende Opferung stattgefunden hat, sind die Voraussetzungen hierfür bereitet - es verschärfen sich die Aggressionen gegen Saïda, die ihrerseits mit unbekümmerter Provoka‐ tion nicht nur für das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch für die dio‐ nysischen Seiten der Frau, Freizügigkeit und Verführungskraft, kämpft. Oben‐ drein versucht Saïda, weitere Mitglieder für eine mänadische Überwindung des Patriarchats zu rekrutieren. Am Monolog der Saïda ist der Kernpunkt der mä‐ nadischen Provokation ersichtlich, nämlich, dass die Mänaden in ihrer Verfüh‐ rung keinerlei Gewalt anwenden und doch Gewalt über die Verführten besitzen: SAÏDA. Oui. J’ai compris. La gifle pour m’avertir qu’il y aura pire. J’ai compris. Mais je suis indécente, souvenez-vous. De mère indécente. De sang dépravé. Je me relève. Sur le trottoir. Là où vous m’avez laissée. Et je relève ma jupe pour laisser voir mes genoux. Je suis obscène mais cela ne me suffit plus. Je veux être nombreuse. Je veux être contagieuse. Je séduis. Avec les jambes que je montre. Avec les yeux que je ma‐ quille. Avec ces cheveux qui me tombent sur les épaules. Je séduis. De quoi avez-vous peur ? Je n’use d’aucune violence. Je touche la main qui me donne du feu. Rien de plus. Je souris à qui me sourit. Je joue avec qui veut bien jouer. Je suis provocante. Oui. Vous me l’avez dit. Par le sang. Et la mère de ma mère. Je m’en rends compte. Je suis pro‐ vocante. Avec volupté. (LS, 94) Durch ihren herausfordernden Mut macht sich Saïda zur Zielscheibe des Zornes einer desillusionierten Schar von algerischen Einwanderern der zweiten 258 4 Gaudés dionysische Dramen Generation, die sich aus purer Verzweiflung über den gescheiterten Traum eines besseren Lebens in Frankreich auf ihre längst abgelegten Traditionen zurück‐ besinnt und deren Werte nicht mehr traditionell, sondern anachronistisch und extrem interpretiert. Interessant ist, dass es gerade die Nachkommen der Ein‐ wanderer sind, die, ohne direkten Kontakt zur Heimat ihrer Eltern und ohne sich jemals ein Bild der gegenwärtigen Umstände in Algerien gemacht zu haben, ihre Religion reaktionär auslegen (LS, 81 f.). In den Augen der verbitterten Ein‐ wandererkinder lädt Saïda alle Schuld für die gescheiterte Rückkehr nach Afrika auf sich. Die dramatische Überzeichnung beider Parteien - einerseits der reak‐ tionären, allem Neuen und Freizügigen feindlich gegenüberstehende zweite Einwanderergeneration, die ihrer Verzweiflung, weder in Frankreich noch in Algerien beheimatet zu sein, durch ihre Gewalt gegenüber den wenigen Inte‐ grationswilligen Luft verschafft, sowie andererseits die mänadisch-aufreizende Saïda - dient Gaudé, in Einklang mit anderen zeitgenössischen Dramenautoren einerseits und nach antikem Vorbild andererseits, zur Einarbeitung dionysischer Extreme, wie sie bereits in den Bakchen und anderen antiken Dramen festgestellt wurde (Bollack 2005: 107 f.). Da sie durch ihre Familienlinie unausweichlich auf ihren Opfercharakter festgelegt wird (LS, 88), ist Saïda nicht nur prädestiniert, ein dionysischer Sün‐ denbock zu werden, sondern ihre immer wieder betonte Außenseiterstellung zu unterstreichen - in Übereinstimmung mit Girards Opfertheorie ist dies die Grundlage für Saïdas Eignung als Opfer. So wird sie bereits als kleines Mädchen ausweglos aus der Gesellschaft heraus- und in ihre Opferrolle hineingedrängt. Die Bewohner des Viertels belassen es nicht dabei, Saïda zu meiden, sie lassen vielmehr keine Gelegenheit zu ihrer Verleumdung aus (LS, 92; 99). Mit Saïdas Heimkehr in das Haus der Ausgestoßenen (LS, 100 f.), und der damit verbun‐ denen endgültigen Zusammenführung der drei Generationen, bilden die Frauen eine Trias, die in den Augen der Umstehenden den unmoralischen Charakter noch bestärkt: „La folle, / La pute, / Et la criminelle“ (LS, 106). Durch die Dramentrilogie hindurch spitzt sich die Opferkultkrise immer weiter zu und kulminiert mit dem Aufruf des „Chœur des gens du quartier“ zur Jagd auf die als Inbegriff der Sünde erachteten Frauen (LS, 106 f.). Stark gealtert und am Ende ihrer Kräfte ist Raïssa bereit, sich der rasenden Meute zu opfern. So kann sie mit ihrem Leben auch dem mütterlichen Fluch ein Ende setzen. Raïssa stillt als Opfer im Girard’schen Verständnis die Gewalt, die bald jedoch erneut auszubrechen und unter den algerischen Immigranten um sich zu greifen droht (LS, 108 f.). Raïssa tut in mystisch-ritueller Hinsicht mit ihrer Opferung nicht nur dem Kollektiv, sondern auch sich selbst einen Gefallen, da sie, aus freiem Willen unbeerdigt, der Begegnung mit ihrer Mutter in der Unterwelt 259 4.4 „Les Sacrifiées“ entkommt. In Raïssas Monolog, an den sich ihr Freitod anschließt, gipfeln der für den dionysischen Kultzyklus typische Bezug zwischen individuellem See‐ lenfrieden und der Bereinigung der Opferkultkrise durch die Aufnahme aller in der Gesellschaft sich entladenden Gewalt sowie die tiefe, archaisch anmutende, mythologische Verwurzelung von Gaudés Charakteren: RAÏSSA. Pendant toutes ces années, j’ai tremblé à l’idée de mourir. Ce n’était pas mourir qui me faisait peur mais je ne voulais pas être ensevelie. Là. Sous terre. […] Et ma mère qui attend avec impatience. Depuis toutes ces années. Ma mère qui m’a maudite. Qui est cachée sous terre et brûle de fondre sur moi. Pendant toutes ces années, je n’ai pensé qu’à cela. Mais aujourd’hui, Leïla, aujourd’hui cette foule qui nous chasse, cette foule est un cadeau. Ils me tueront, oui. Jets de pierre et crachats. Ils me battront. Puis ils me traîneront encore car leur haine ne sera pas étanchée. Ils ne m’enterreront pas. Non. Mon corps, ils le disloqueront et le laisseront sur cette route, ouvert au vent. Je sais. Je me décomposerai sans sépulture. C’est bien. Mes os seront là, éparpillés par les chiens. Il ne faut pas pleurer. C’est ce que je veux. Epar‐ pillée. D’une colline à l’autre. Comme ma vie d’autrefois. Je ne serai pas en terre. Je serai morte, oui, mais j’échapperai aux mâchoires de ma mère. C’est ce que je veux, Leïla. Ils seront bientôt sur moi et je rirai sous leurs coups, je rirai du cadeau qu’ils me font. (LS, 108 f.) 260 4 Gaudés dionysische Dramen 5 Schlussbetrachtungen und Ausblick La poésie invite, à travers des jeux d’échos, des métaphores, des associations d’idées, à développer l’imaginaire et l’émotion. Laurent Gaudé Die Funktion von Mythenkreisen, die sich aus anthropologischen und histori‐ ographischen Untersuchungen ergibt, ist die Erklärung der Welt, der um den Menschen herum vorgehenden Phänomene. Durch ihre kohärente Poetik be‐ sitzen viele Mythenkreise Strahlkraft weit über die Akzeptanz von naturwis‐ senschaftlichen Beweisführungen hinaus, die sie eigentlich widerlegt und ob‐ solet macht (vgl. 2.1). Ein ganz wichtiger Teil vor allem der griechisch-römischen Mythenkreise ist aber nicht zuletzt dem Menschen selbst gewidmet, ein zur Psyche des Menschen hingewendeter Erklärungsansatz. So verkörpert jede Figur im Mythenkreis auch eine bestimmte psychische Situation des Mensch‐ seins und ist damit integraler Bestandteil der conditio humana - wohl eine Be‐ gründung für die ungebrochene Beliebtheit mythischer Motive in der Literatur. Die aus der Interpretation einiger Texte Gaudés hervorgehende Erkenntnis, dass die Figuren sich einerseits mit großer Rekurrenz in Extremsituationen befinden und andererseits in diesen Situationen häufig Eigenschaften des Gottes Dio‐ nysos aufweisen, hat die Feststellung nahegelegt, dass Gaudé mit diesen We‐ senheiten eine philosophische Haltung verbindet. Das Rauschhafte, Aufbrau‐ sende, Überbordende, Wilde, nach Freiheit und Grenzüberschreitung Strebende, das Gaudés Figuren in nahezu allen seinen Werken aufweisen, wenn sie von äußeren Umständen oder anderen Menschen unter Druck gesetzt werden, ver‐ weist auf die Philosophie der Entgrenzung Gaudés. Seit seinem Erstwerk widmet sich der Autor mit Hingabe den Extremsituationen der von so vielen Einflüssen geprägten momentanen Gesellschaft und gibt ihr mit seinen Visionen der dio‐ nysischen Grenzüberschreitung einen poetisch fundierten Hinweis auf eine Veränderungsrichtung. Gleichzeitig stellt Gaudés philosophische Haltung ein tiefes Bekenntnis zu einer der furchterregenden Situationen des Menschseins dar, Situationen in denen viele Menschen Angst vor sich selbst bekommen. Die Verbindung zweier dionysischer Eigenschaften verdeutlicht die philoso‐ phische Haltung in Gaudés Stücken: das Rauschhafte und der Übergang zwi‐ schen Ober- und Unterwelt. Die Verbindung von sich sehr emotional verhal‐ tenden Charakteren, die ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs, oft in Rage und ekstatisch sind, sowie der permanente Aufenthalt in Umgebungen, die unwirtlich anmuten und, wie beschrieben, eine unaufgelöste Situation zwischen Diesseits und Jenseits darstellen, sich sozusagen am Punkt des Übertritts, am Scheideweg der Transgression, der Transzendenz befinden, weisen auch die Stücke CP, CM, PC und LS klar als dionysisch aus. Darüber hinaus wird durch diese Stücke Gaudés intensives Interesse für Grenzsituationen offenbar - ganz in der Tradition Samuel Becketts, jedoch mit dem Unterschied, dass bei Beckett die Depression über die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz bereits fest‐ steht, während bei Gaudé das Augenmerk auf der Hoffnung einer Besserung durch den Übertritt ins Jenseits besteht (vgl. 4.3.1). Wie sich in den vorausgegangenen Kapiteln gezeigt hat, ist die Vielzahl inter‐ textueller Referenzen, die Gaudés Stücke aufweisen, nicht von der Hand zu weisen. Besonders interessant erscheint eine bestimmte Art der Rezeption von Inter‐ texten, die in seinem Werk stark rekurrent ist. Gerade in den vier untersuchten Dramen lässt sich eine Schwerpunktsetzung auf den für Dionysosmythen typi‐ schen, entgrenzenden, lösenden, befreienden und Gegensätze vereinenden Cha‐ rakter von Texten feststellen (vgl. 4.2.4). Gerade die rege Unterfütterung mit lite‐ rarischem Material anderer Autoren aus verschiedenen Epochen trägt dazu bei, dass Gaudés Werk diesen dionysischen Charakter der Entgrenzung verkörpern kann. Diese literarische Grundstimmung, die permanent aus Gaudés Werk spricht, kann somit auch als Geisteshaltung des Autors aufgefasst werden. In nahezu jeder künstlerischen Bewegung haben es sich Kunstschaffende immer wieder zur Aufgabe gemacht, das dionysische Freiheitsstreben nicht nur zum Ausdruck zu bringen, sondern es sich, im Sinne einer Apologie der jewei‐ ligen Kunstform, zu eigen zu machen. Die Grundlagen hierfür liefern die ver‐ schiedenen Versionen der Vita eines Gottes, dessen Wesen in der Ekstase so offen und zugleich so unergründlich ist. Der Dionysosmythos ist einer der My‐ then, die als „Archetypus des ‚stupore‘ verstanden“ werden können (Prill 1988: 84). Stupore zu erzeugen wiederum ist das grundlegende Werkzeug der Manie‐ risten. Weiht man Dionysos einen Text oder macht ihn gar zum Gegenstand einer Dichtung, stellt man das Werk somit in einen manieristischen, gegenklas‐ sischen Kontext (vgl. Curtius 1993: 277 f.). Zum Dichtergott Apollon fungiert Dionysos nicht nur im traditionellen, antiken Kult komplementär: Als lysios, Löser, Befreier, als Gott der Grenzenlosigkeit, der Überraschung, des Kairos, des dichterischen Rausches, steht er Pate für alle gegenklassischen, einem klaren und strikt normativen ästhetischen Regelsystem gehorchenden Strömungen (vgl. 3.1.5). Gaudés Stücke und auch seine Romane zeugen allesamt von diesem dionysischen Wirken in der Literatur. Zudem äußert sich Mythenbildung im 262 5 Schlussbetrachtungen dramatischen Werk des französischen Autors als fester Bestandteil der mensch‐ lichen Existenz; Gaudé entwickelt folglich eine an Blumenberg angelehnte my‐ thologische Ontologie, welcher zufolge der Mensch die Mythenbildung weder steuern noch unterdrücken kann, da sie sich im menschlichen Denken verselb‐ ständigt. Dionysos regt als ständig wiederkehrender Neuerer zu schöpferischen Um‐ stürzen an und ist die zentrale Schaltstelle von Gaudés Philosophie der Ent‐ grenzung (vgl. 3.1.1). Er dient nicht zuletzt als Symbol für die Grenzüberschrei‐ tung schlechthin, die alle Entgrenzungen in sich vereint, um daraus wieder Neues entstehen zu lassen. Dionysische Aspekte gehören zum Aktuellsten, was die Literatur zu bieten hat, gerade weil sie der Intertextualität verpflichtet sind und für die Flexibilität und Wandelbarkeit der Literatur stehen, wie sie vor allem seit dem Beginn der Postmoderne regelrecht zelebriert wird. Gaudés mytho‐ poietische Rückbesinnung auf den antiken Dionysosmythos mit all seinem Fa‐ cettenreichtum trägt deshalb der Fortschreibung und Transformation des My‐ thos und vor allem seiner literarischen Ausgestaltung in der gegenwärtigen Literaturlandschaft in besonderer Weise Rechnung. Die intertextuelle Praxis des Laurent Gaudé entspricht einer Rezeption des dionysischen Wesens bis ins Detail hinein. Da das Apollinische nach Nietzsche (1972: 9-26) per se dem Dionysischen gegenübersteht, als das gemeinhin Ge‐ mäßigte, wohl Überlegte, Rationale, ist der Dionysos-Mythos überdies beson‐ ders geeignet, Gaudés Philosophie der Entgrenzung zu metaphorisieren. In dieser Gaudé’schen Ontologie der Abolition aller Gegensätze durch Verschmel‐ zung kommen, vor allem in OF, PC, CP und CM, existentialistische Züge heraus, die durch die dionysische Juxtaposition von Gegensätzen nicht nur eine Neues schöpfende Vereinigung bewirken, sondern auch die Absurdität der Existenz im Stile des Camus’schen Existentialismus kritisch beleuchtet. Gaudés dionysische Mythopoiesis steht darüber hinaus, wie es viele kreative Rezeptionen des Dionysosmythos tun, emblematisch für die von Bachtin er‐ forschte „karnevalisierende“ Strömung in der Literatur, die in jeder literarischen Epoche vorhanden ist oder zumindest eine Reaktion auf eine nicht karnevali‐ sierende Epoche darstellt. Die karnevalisierende Strömung ist gezeichnet von der subversiven, für Herrschende unbequemen, experimentellen, die Weltord‐ nung auf den Kopf stellenden Literatur. Diese ist in ihrem Wesen dialogisch, d. h. sie funktioniert nach einem Aktions-Reaktions-Schema, das stets das Be‐ stehende mit dem Subversiven abwägt. Bachtins karnevaleske Literatur hat folglich mit Gaudés Philosophie der Entgrenzung einiges gemein: die Loslösung von althergebrachten Normen, die Infragestellung des gegenwärtigen Zu‐ standes, die unbefangene Kritik an vorhandenen Missständen sowie die derb-ra‐ 263 5 Schlussbetrachtungen biate Zerstörung des Unliebsamen. In der Zerstörung liegt jedoch auch immer - im Karneval ähnlich den transgressiven Wesenszügen des Dionysos - eine schöpferische Kraft und damit ein Neubeginn, aus dem man Kraft schöpfen und Schlechtes verbessern kann. Gaudés Onysos zerstört, um Verändertes zu er‐ schaffen und mit einer nachhaltigen Botschaft zu versehen. Auch in anderen Stücken ist diese Neuordnung nach ekstatischer Zerstörung sichtbar: der As‐ sassin in CP beispielsweise sorgt mit seinem Einsatz dafür, dass es eine Ära nach dem Patron gibt, dass der Umsturz nicht den Endpunkt bedeutet. Eine große Differenz haben der Karneval und die dionysisch-karnevalistische Literatur je‐ doch: Der Karneval ist eine zeitlich genau eingegrenzte Periode, bei der die Herrschenden nicht viel zu befürchten haben, weil sie bereits vorher wissen, dass sie nach dem karnevalistischen „Spuk“ wieder unverändert herrschen können. Die Literatur hat sich diese Regel gleichwohl nicht auferlegen lassen und karnevalisiert munter weiter, ohne zeitliche Begrenzung, was für Herr‐ schende weitaus unangenehmer ausfallen kann. Die Angewohnheit des Dionysos, permanent von Menschen und auch Gott‐ heiten gesetzte Grenzen zu überschreiten, nutzt Gaudé, um sowohl poetologi‐ sche, als auch philosophische Aussagen zu treffen. Gaudé äußert die Eigendy‐ namik des Dionysosmythos zumeist in der Umgebung einer von Menschen geschaffenen, modernen Unterwelt. Er veranschaulicht die Verbindung zwi‐ schen Mythologie und Literatur intertextuell, und dies nicht nur mithilfe an‐ derer Autoren; auch seine eigenen Stücke vernetzt er durch Querverweise, Leit‐ motive und Isotopien - eine besondere Rolle nehmen hierbei die Unterweltisotopien ein. Von den mythologischen Erkenntnissen über Eigen‐ schaften des Dionysos her gesehen wird Onysos le furieux in diesem Isotopien‐ netz zu einem zentralen Stück in Gaudés Werk, weil es die poetologische Grund‐ lage seines dramatischen Schaffens bildet; Gaudés dramatische Poetik orientiert sich folglich an den in OF bearbeiteten dionysischen Attributen (vgl. 3.1). Innerhalb der Stücke wirken Gaudés Verspinnungen der Handlungsstränge und personenkonstellatorische Dilemmata hochgradig leseraktivierend. Sie regen die Leser zu einer aporetischen Haltung an, die diese Probleme zu lösen oder zumindest zu erörtern versucht. Es gelingt Gaudé immer wieder, aus cha‐ rakterlichen Kontrasten bestehende, paradoxe Situationen zu schaffen. In jedem seiner Dramen bildet er komplexe inhaltliche Strukturen und ein ineinander verwobenes Verhältnis der oft von ihrem historischen Hintergrund und Cha‐ rakter her entgegengesetzten Figuren aus, derem Streben meist nicht durch das Ende der Dramenhandlung Einhalt geboten werden kann. Eine Stellungnahme Manfred Fuhrmanns zum modernen Drama trifft somit auf Gaudés dramatisches Werk zu, denn einige von Gaudés Dramen sind geprägt von einer Struktur der 264 5 Schlussbetrachtungen Wiederholung, mit einem meist offenen und paradoxen Ausgang (vgl. OF, LS, CP). Dadurch scheitert die Anstrengung des zu verstehen suchenden Rezi‐ pienten „an dem sich wiederholenden und sich zu einer Art ‚Schicksal‘ verge‐ genständlichenden Handlungsgefüge; sie entlässt den Zuschauer mit der Frage, ob Fatalität nicht durch subjektive Voraussetzungen bedingt sei, so dass dem für unüberwindbar Geltenden die Chance der Unüberwindbarkeit inhärieren würde.“ (Fuhrmann 1971: 140) So geraten Gaudés Stücke des Öfteren in die Nähe des absurden Theaters, was die Vorliebe des Autors für Paradoxa auf der Figuren- und Handlungsebene noch einmal unterstreicht. Die Szenen in Gaudés Dramen sind zumeist nach dem Prinzip des Aufeinandertreffens von sich aus‐ schließenden Phänomenen angelegt, wobei ihnen die Unaufgelöstheit dieser Dilemmata über das Stück hinaus eine besondere Dringlichkeit verleiht. Demnach ist die Figurendisposition vieler seiner Stücke und Romane ver‐ gleichbar mit dem Mythos vom thebanischen Fuchs und dem athenischen Hund: Ersterer besitzt die Eigenheit, durch niemanden gefangen werden zu können, wohingegen der Letztere imstande ist, alles zu fangen, was er verfolgt. Blumen‐ berg bringt die Konsequenz dieser unmöglichen Verbindung auf den Punkt: „So mußte sich beim Aufeinandertreffen der beiden Tiere die peinlichste Lage für eine zuverlässige Weltverwaltung ergeben.“ (1979: 161) In dieser aussichtslosen Lage wird sogar Zeusens Macht der Vorsehung in Frage gestellt, denn diese scheint nicht auszureichen, um die Begegnung der beiden zu verhindern - der Göttervater muss reagieren, beide Tiere in Stein verwandeln, um dieses Para‐ doxon aus der Welt zu schaffen und um zu vermeiden, dass an den Grundfesten des logischen Weltzusammenhangs gerüttelt wird. Gaudé indes rüttelt gerne an konventionellen logischen Gebilden; er betreibt mythologische Konfrontation, indem er die Diskurse miteinander kollidieren lässt. Betrachtet man jedoch Gaudés dramatisches, mythopoietisches Wirken im Lichte der Blumenberg’‐ schen Erkenntnis, wird klar, dass Gaudé damit keinen Raubbau am Mythos be‐ geht, sondern er ihn vielmehr in einen „neuen Aggregatszustand“ versetzt (Blu‐ menberg 1979: 166). Gaudés Sprache oszilliert, ungeachtet des Sujets, immer zwischen poetisch archaisierend und umgangssprachlich. Dazwischen lehnt er sich oft und gerne an große französische Schriftsteller an - in der Tradition eines klassischen The‐ aters, das an Racine und Corneille erinnert. Die oft überraschenden Übergänge zwischen sublimer, pathetischer Stilistik und dem Ironischen und Vulgären der großstädtischen Alltagssprache der einfachen Leute erinnert an die großen Vor‐ gänger des modernistischen, antikisierenden Theaters: Giraudoux, Anouilh und Cocteau (vgl. 4.1). Sie fasziniert durch die hierdurch hervorgerufenen Span‐ 265 5 Schlussbetrachtungen nungen und ist, trotz ihrer dargestellten Bandbreite, klanglich durchaus reizvoll und regt somit zur Rezitation an. Mit seiner literarischen „Perfomance“ beweist sich Gaudé zugleich als My‐ thograph und Mythoklast (vgl. Prill 1997). Seine komplexe Zusammenführung von Mythen mehrerer Kulturkreise sowie deren Rezeption und Variation lassen aus den von ihm teilweise zerstückelten Mythen wieder neue Mythen, neue Quellen der Rezeption erstehen. Auf diese Weise führt Gaudé das Theater zu einer Demonstration der menschlichen Aktivität der Mythenbildung. Die Ver‐ schmelzung der dionysischen Erscheinungen und Gestalten unterstützen das Gaudé’sche Ideal der Entgrenzung - scheinbar starker Dualismus wird zu‐ gunsten fundamentaler Einheit überwunden. Gaudé verbindet vieles Gegen‐ sätzliche und durch Opposition Getrennte - so verwischt er in seinen Dramen das Diesseits und das Jenseits, genauso wie diese Grenze von Dionysos trieterikós immer wieder aufs Neue in zweierlei Richtung überschritten wird (vgl. 3.1.1). Die verbindende Wirkung von Ober- und Unterwelt verspüren die Leser durch eine Mythenrezeption, die mit dem Übertritt von der einen in die andere Welt zu tun hat, und gerade auf diesen Punkt konzentriert Gaudé die gesamte Auf‐ merksamkeit seiner Dramen. Die von Blumenberg propagierte, geglückte Machtübernahme der Welt durch den Mythos sieht man dementsprechend in Gaudés Werk erfüllt. In seinen Dramen versucht der Mensch, sich durch den Mythos in der Welt unentbehrlich zu machen und es tritt zutage, dass die Theodizee und - in ihrer „Umbesetzung“ - die spekulative Ge‐ schichtsphilosophie die heimlichste Sehnsucht des Mythos endlich erfüllen, das Machtgefälle zwischen Göttern und Menschen nicht nur zu mildern und um seinen bittersten Ernst zu bringen, sondern umzukehren. Als Verteidiger des Gottes, als Sub‐ jekt der Geschichte tritt der Mensch in die Rolle seiner Unentbehrlichkeit ein. Nicht allein für die Welt ist er als deren Betrachter und Akteur, ja Beschaffer ihrer „Wirk‐ lichkeit“, unwegdenklich geworden, sondern mittelbar über diese Weltrolle für den Gott, dessen „Glück“ im Verdacht steht, in den Händen des Menschen zu liegen. (Blu‐ menberg 1979: 39) Dem Faktum Rechnung tragend, dass der Dionysosmythos in der literari‐ schen Tradition Europas ein Verbindung stiftender Grundmythos ist, der in li‐ terarischen Blütezeiten vielfach zum Kunstmythos ausgebaut wurde, führt Gaudé die Traditionslinien zusammen; er schafft mit seiner Rezeption ein neues Ganzes, einen neuen Kunstmythos, und damit die Grundlagen für eine erneute Rezeption - ganz im Verständnis Blumenbergs. Diese literarische Zusammen‐ führung der Mythenversionen schafft erst die Basis für eine intermediale Er‐ weiterung der mythologischen Rezeption, die vor allem in Cendres sur les mains 266 5 Schlussbetrachtungen anklingt. Dies ist keineswegs ein Novum, denn selbst die mythologische Figur des Dionysos lebt die Intermedialität bereits vor. Der Dionysos-Mythos ist durch seine transformable Beschaffenheit bis in sein Verfahren selbst hinein geradezu prädestiniert, als Leitfaden und Hauptaugenmerk der Gaudé’schen Mytho‐ poiesis zu fungieren. In recht ähnlicher Weise wie es Ulrich Prill bereits bei Benito Pérez Galdós festgestellt hat, verarbeitet der Mythograph Gaudé dem‐ nach vorgefundene Materialien aus ‚grauer Vorzeit‘ zu einem neuen Ganzen. Anders for‐ muliert: er setzt Prä-Texte in einem souveränen Spiel zu einem neuen Text zusammen und entspricht damit - intertextuell betrachtet - sowohl der von Lévi-Strauss für die ‚pensée mythologique‘ als typisch charakterisierten Haltung des ‚bricolage‘ als auch einer gängigen Mythosdeutung aus [seinem] zeitlichen Umfeld. (Prill 1997: 26) Da „alle Varianten […] Anspruch auf den gleichen mythologischen Ernst“ haben (Blumenberg 1979: 299), verrichtet Gaudé als „bricoleur de mythes“ (Lévi-Strauss) mit seinen neu zusammengestellten Dionysos-Mythen ebenso grundlegende „Arbeit am Mythos“ wie die antiken Tragödiendichter, ohne je‐ doch die Konsequenzen seiner eigenen Zeitlichkeit zu übersehen. Damit be‐ stärkt Gaudé die soziokulturelle und zeitliche Ebene als zentralen Faktor nicht nur für seine „produktive Rezeption“ von Mythen (P. Kuon), sondern auch für die Analyse der von ihm verarbeiteten Mythen. Er nutzt überdies die Enthisto‐ risierung und Setzung von „objets absolus“ des Strukturalismus (Lévi-Strauss), ohne dessen Errungenschaften für die Mythosforschung zu entwürdigen, als Grundlage seiner künstlerischen Freiheit. Denn - um eine fundamentale These Blumenbergs auf Gaudé zu übertragen - die Arbeit am Mythos ist mit Gaudé keineswegs beendet, im Gegenteil: Seine „Rezeption der Quellen“ schafft nur wieder neue „Quellen der Rezeption“. Relativierend kann dem Ansatz der Schwerpunktsetzung auf dionysische As‐ pekte von Gaudés Frühwerk entgegengehalten werden, dass man grundsätzlich in jedem Anfall von Wildheit und Berauschung eine dionysische Ursache sehen kann; so wäre eben jeder einzelne künstlerische Beitrag, in dem diese Züge vor‐ kommen, eine - wenn auch möglicherweise unbewusste - Rezeption und Weiter‐ tragung des Dionysosmythos. Im literaturwissenschaftlich gesehenen engeren Sinne kann dies selbstverständlich nur für bewusst angelegte, isotopiengestützte Textpassagen gelten. Die hier untersuchten Dramen Gaudés sind eindeutig diesem engeren Sinne zuzuordnen und unterscheiden sich vom erstgenannten extensiven Begriff in Intensität, Dichte und Komposition der verwendeten dionysischen Mo‐ tive. 267 5 Schlussbetrachtungen 64 Vgl. 6.2.1 sowie die Einträge der Stücke Gaudés im Theaterportal théâtre contemporain.net: http: / / www.theatre-contemporain.net/ biographies/ Laurent-Gaude/ (07.09.2018). 65 Die Kontroverse hat Agathe Charnet präzise in einem Zeitungsartikel zusammengefasst: „Bac 2015 : Laurent Gaudé défend son « Tigre bleu », sujet de l’épreuve de français“, in: Le Monde, 23.06.2015: http: / / www.lemonde.fr/ bac-lycee/ article/ 2015/ 06/ 23/ bac-2015-laurent-gaude-defendson-tigre-bleu_4659828_4401499.html (07.09.2018). Gaudé kann folglich als ein Autor betrachtet werden, der die Tradition des mythologischen Theaters in Frankreich im Sinne einiger seiner Vorgänger fort‐ führt, aber auch als ein Autor, der - nach einem Bruch von rund fünf Jahrzehnten - die antike Tradition des französischen Theaters wieder aufgegriffen hat. Sprachlich betrachtet ist sein Werk sehr facettenreich, denn er nimmt die Re‐ naissance des antikisierenden Theaters seiner namhaften Vorgänger vom Be‐ ginn des 20. Jahrhunderts auf und reichert seine Texte auch mit absurden Se‐ quenzen eines Beckett und Ionesco sowie mit epischen und stellenweise didaktisierenden Aspekten eines Bertolt Brecht an, ohne dabei seine ganz eigene Handschrift zu vernachlässigen. Bisweilen sind seine Stücke weitaus stärker poetisierend als dies noch bei Giraudoux, Cocteau, Anouilh und Sartre der Fall war. Gaudé lässt diese doch recht gegensätzlichen Aspekte nicht permanent miteinander konkurrieren, sondern hält sie nebeneinander aufrecht, ohne dass diese Diversität seinen Stücken Originalität oder Bedeutungsgehalt entziehen würde. Der Tradition großer französischer Dramatiker verpflichtet, führt Gaudé be‐ wusst eine stilistische Linie fort, die mit dem avantgardistischen Mythentheater des beginnenden 20. Jahrhunderts in Frankreich neu belebt wurde, und setzt zudem bewusst Akzente gegen den kommerzialistischen Krimi- und Thriller-Mainstream auf der einen Seite und das bewusst aufreizende, bisweilen extrem groteske, „ent‐ wirklichte Erzählen“ beispielsweise eines Frédéric Beigbeder oder Michel Houellebecq auf der anderen Seite (Sänger 2013: 177-216). Trotz seines frühen Er‐ folges mit dem Prix Goncourt 2004 und des beachtlichen internationalen An‐ klangs fast aller seiner bisher publizierten Romane (vgl. 6.1.6), sind seine Theater‐ stücke eher aufgrund ihres intellektuellen Anspruchs bekannt, obwohl sie bereits mit einiger Regelmäßigkeit auf den französischen und europäischen Bühnen ge‐ spielt werden. 64 So löste die Auswahl eines Auszugs aus Gaudés Le tigre bleu de l’Euphrate (2002) als Prüfungstext für das schriftliche Abitur 2015 in Frankreich einen Sturm der Entrüstung und große Diskussionen unter Schülern und Eltern gleichermaßen aus - vor allem wegen des hohen Schwierigkeitsgrades selbst für Muttersprachler, der sich, vergleichbar mit Onysos le furieux, aus einer Vielzahl intertextueller Allusionen und einem poetischen Sprachduktus ergibt. 65 Zugleich 268 5 Schlussbetrachtungen 66 Im Jahre 2012 war bereits ein Auszug aus Pluie de cendres (2001) Prüfungsaufgabe für das Abitur in Frankreich. unterstreicht dieser Sachverhalt aber auch die Aufmerksamkeit, mit der das fran‐ zösische Bildungsministerium nunmehr Gaudés Wirken auf die zeitgenössische französische Literatur wahrnimmt. 66 Den Dramen Gaudés wird diese Öffentlichkeit sicherlich für einen Bekannt‐ heitszuwachs nutzen; für gewöhnlich schaffen es nämlich nur kanonisierte Klassiker, deren literarischer und soziokultureller Gehalt durch Forschung und zeitliche Distanz gebührend gesichert ist, in schulische Prüfungen, wie die vor allem in den elektronischen sozialen Netzwerken hitzig geführte Debatte um moderne Abiturtexte bescheinigt. Dominique Viart, Literaturprofessor an der Universität Paris X (Nanterre), nimmt Gaudé in Schutz und bricht angesichts der heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit, die in einem Zeitungsartikel gar als „chasse à l’homme virtuelle“ bezeichnet wurden (Charnet 2015), eine Lanze für Gaudés Text: „Opposer la littérature contemporaine à la littérature patrimo‐ niale revient à oublier que n’importe quelle littérature a été contemporaine“ (ebd.) - womit er zugleich den mythologischen Gehalt von Gaudés Dramen treffend charakterisiert. Den Vorteil zeitgenössischer Texte sieht Viart zudem darin, dass sie ihre motivatorische Wirkung aus ihrem noch nicht verklungenen Schaffensprozess nehmen. Vor allem für Lernende heißt dies in Viarts Worten: „convoquer la culture littéraire précédemment acquise dans le bain vivant de la création“ (ebd.). Gaudé selbst nahm zur Diskussion unter anderem mit dem diese Schlussbetrachtungen einleitenden Zitat Stellung, sowie dem Ausdruck seiner Zufriedenheit, einen Beitrag für die literarische Schulbildung in Frankreich leisten zu dürfen - nicht zuletzt mit Freude über die Wertschätzung der Leistung der zeitgenössischen jungen französischen Autoren: „Une manière pour le pays […] de saluer la voix vivante de ses écrivains“ (Charnet 2015). Bei der Produktivität Gaudés, der seit seiner Erstpublikation beinahe jedes Jahr mindestens einen Text veröffentlicht, stellt sich selbstverständlich die Frage, ob sich die hier analysierte literarische Haltung in fünf seiner frühen Werke auch in den neueren Veröffentlichungen zeigt. Überschaut man die nach‐ folgenden Publikationen, so kann man feststellen, dass Gaudé seiner Linie treu bleibt: Stilistisch gesehen setzt er die Tradition der poetischen Prosa fort und bleibt auch weiterhin der Mythologie verhaftet; sei es die hellenistisch-römische (Le Tigre Bleu de l’Euphrate; Sodome, ma douce), die afrikanische (La mort du roi Tsongor; Salina) oder eine Mischung aus diversen Kulturkreisen (Médée Kali - eine Juxtaposition von indischen und griechischen Mythen). Weiterhin bleibt es sein offensichtliches Ziel, die mythologisch durchsetzte, poetische Sprache quasi 269 5 Schlussbetrachtungen 67 Beispielsweise die Dramen Sophia Douleur; Mille orphelins; Les enfants fleuve; Cail‐ lasses, die Romane Eldorado; Ouragan; Ecoutez nos défaites sowie die Novellen „Sang négrier“; „Dans la nuit mozambique“; „Tombeau pour Palerme“; „Le bâtard du bout du monde“. 68 Aus seinem Besuch des Flüchtlingslagers Kawergorsk (franz. „Kawergosk“) im kurdi‐ schen Gebiet des Irak, in dem viele syrische Flüchtlinge Zuflucht fanden, ist sein erster Gedichtband, De sang et de lumière (2017), entstanden. Seine modernen, im vers libre verfassten Gedichte vermischen bewusst Poesie und Prosa miteinander und erinnern stark an den Stil von OF oder TBE. als Grundfarbe seiner Texte beizubehalten. Es ist dies seine philosophische Hal‐ tung zu Poesie und Mythologie, die Absicht, eine verjüngte und verjüngende französische und europäische Literaturtradition zu präsentieren, die so ganz anders ist als die stilistische Haltung der vielen radikal gegenwärtigen Autoren der Jahrtausendwende. Am Wortlaut einiger seiner Titel wird auch deutlich, dass Gaudé sein politi‐ sches und soziales Engagement ab ca. 2004 deutlich ausweitet. 67 Durch Reisen in Krisengebiete macht er sich selbst ein Bild der Lage und entdeckt mit der Reportage und der Dichtung neue Gebiete des Schreibens für sich - hervorzu‐ heben sind hier ein Besuch in Haiti, das 2010 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde, und ein mehrtägiger Aufenthalt im irakischen Flüchtlings‐ lager Kawergorsk (2013), das gemeinsam mit anderen Zufluchtsorten in den Nachbarstaaten des vom Bürgerkrieg heimgesuchten Syrien zum Symbol einer durch militärische Konflikte provozierten humanitären Krise geworden ist. 68 Die in Europa kaum vorhandene Berichterstattung über die humanitäre Lage in der Nähe Syriens mag ein Beweggrund für Gaudés Exkursion gewesen sein (vgl. 6.2.3). Neben seinem politischen Engagement, das durch einige seiner Texte spricht - insbesondere ab Les Sacrifiées (2004) - stellt Gaudé auch seine jüngeren Publikationen in eine traditionsbewusste Linie: Nach wie vor erinnert der Sprachduktus stellenweise an große französische Dichter, Romanciers und Dra‐ maturgen. So untermauern seine Texte dichterisch - teils implizit, teils explizit - seine politischen Aussagen, insbesondere durch den intensiven und auskom‐ ponierten Einsatz mythischer Elemente. Des Weiteren scheut Gaudé sich nicht davor - trotz der Bedrohungen und terroristischen Angriffe in Frankreich und Europa - Probleme anzusprechen, die aus Radikalismen erwachsen - sei es der Islamismus oder auch die Mafia-Oli‐ garchie im Süden Italiens. In einem Interview aus dem Jahre 2015 bringt er sein thematisches Interesse an der Schriftstellerei auf den Punkt: „Je suis attiré par 270 5 Schlussbetrachtungen 69 Genecand, Marie-Pierre, „Laurent Gaudé : « Je suis attiré par des sujets qui portent du tragique »“, in: Le Temps, 27.09.2015: https: / / www.letemps.ch/ culture/ 2015/ 09/ 27/ laurent-gaude-suis-attire-sujets-portent-tragique (07.09.2018). des sujets qui portent du tragique“ (Genecand 2015). 69 Auch setzt er ohne Furcht mythologische Motive in die moderne Alltagswelt ein - nicht nur in seinen Dramen, sondern auch in seinen Romanen. Besonders deutlich spürbar wird dies in La porte des enfers (2008), indem der Protagonist den Leser auf beinahe dan‐ teske Weise überrascht, indem er ihn auf seiner Queste mit in die Unterwelt nimmt. In seinem Roman Pour seul cortège (2012) greift Gaudé, zehn Jahre nach dem Drama Le tigre bleu de l’Euphrate (2002), erneut die antiken Erzählungen um Alexander den Großen auf. In seinem bis dato neuesten Roman Ecoutez nos défaites (2016) verwebt Gaudé die Queste eines französischen Geheimagenten mit der einer Archäologin. Sein Auftrag ist es, einen in Ungnade gefallenen amerikanischen Agenten ausfindig zu machen; sie sucht historische Schätze im Schutt der historischen Stätten, die von der Terrormiliz des selbsternannten „Is‐ lamischen Staates“ zerstört wurden. Stilistisch untermauert wird diese moderne Suche nach Bedeutsamkeit mit einer Rückschau auf historische, mythisch ge‐ wordene Schlachten und deren Urheber - von Hannibal gegen Scipio bis auf Konflikte und Krisen der jüngeren Vergangenheit. Aufgrund ihres mythischen Status haben diese die Zeit überdauert, wie die kostbaren Reliquien, welche die Archäologin auszugraben sucht. In ihrem - typisch für Gaudé - unvorbereiteten und unvermittelten Zusammentreffen sprengen beide Figuren den Rahmen ihrer ursprünglichen Aufgabe, um mit einem durch die Begegnung erweiterten Bewusstsein ihre jeweilige Queste fortzuführen. Es lässt sich folglich absehen, dass die mythischen und insbesondere die di‐ onysischen Aspekte des Menschseins - Grenzüberschreitung, Emotionalität, Wildheit, Unkontrolliertheit - weiterhin die zentralen Betrachtungspunkte in Gaudés literarischem Schaffen bleiben. Mit seiner Mythopoiesis sorgt Gaudé, gerade was die von Nietzsche herausgearbeiteten dionysischen Aspekte der Li‐ teratur angeht (vgl. 3.1.5), um die hundert Jahre nach der modernistischen Re‐ naissance des mythischen Theaters, erneut für eine Wiederbelebung des Mythos durch eine (dramatische) Literatur, deren erfrischende Aktualität durch die vo‐ raufgegangen Kapitel aufzuzeigen versucht wurde und deren Strahlkraft hof‐ fentlich auch in Zukunft für weitere Überraschungen, Diskussionen und Unter‐ suchungen sorgen wird. 271 5 Schlussbetrachtungen 70 Laurence Liban, „L’épreuve des planches“, in L’Express, 01.03.2004: http: / / livres.lexpress.fr/ portrait.asp/ idC=8009/ idR=5/ idTC=5/ idG=0 (07.09.2018). 71 http: / / academie-goncourt.fr/ ? article=1229180042 (07.09.2018). 6 Bibliographie 6.1 Werkverzeichnis von Laurent Gaudé J’ai regretté que le Goncourt écrase mes œuvres précédentes. On a fait comme si j’é‐ tais tout neuf alors que j’avais déjà deux ro‐ mans et une dizaine d’années de théâtre der‐ rière moi, loin de l’image d’auteur populaire qu’on a voulu me coller. Laurent Gaudé 6.1.1 Kurzbiographie Laurent Gaudé Laurent Gaudé wird 1972 in Paris geboren. Nach dem Abitur an der Ecole Al‐ sacienne studiert er Lettres Modernes und Theaterwissenschaften an der Sor‐ bonne Nouvelle in Paris. Seine Abschlussarbeiten widmen sich, seinem Haupt‐ interesse entsprechend, Sachverhalten der Gegenwartsdramatik (vgl. 4.1). Im Jahre 1997 betritt Gaudé, mit Hilfe von Hubert Gignoux, die öffentliche Bühne als Theaterschriftsteller: Das erste Stück aus seiner Feder, Onysos le furieux, wird in einer Lesung im Théâtre Ouvert in Paris präsentiert. Gaudé versucht sein Glück, indem er dem namhaften Schauspieler und Regisseur Gignoux ein Ma‐ nuskript des Textes zusendet - dieser ist überzeugt von der schriftstellerischen Qualität Gaudés und sorgt nicht nur für zwei öffentliche Lesungen (eine davon über den Radiosender France Culture), sondern ermöglicht Gaudé auch ein Auskommen als hauptberuflicher Schriftsteller. Über Lucien Atoun vom Théâtre Ouvert kann Gaudé mit Claire David vom Verlagshaus Actes Sud in Kontakt treten, das fortan alle seine Texte veröffentlicht. 70 Im Jahre 2001 folgt mit Cris Gaudés erster Roman. 2002 erhält Gaudé den Prix Goncourt des Lycéens und den Prix des Libraires für La mort du roi Tsongor. Der „große“ Prix Goncourt, der einen erheblichen Anteil an seinem internationalen Renommee hat, folgt dann im Jahre 2004 für Le soleil des Scorta. 71 Zwei der Ju‐ roren, Didier Decoin und Michel Tournier, lobten vor allem Gaudés bild- und 72 „Le soleil des Scorta, de Laurent Gaudé, Goncourt 2014“, in: Le Nouvel Observateur, 15.11.2004: http: / / tempsreel.nouvelobs.com/ culture/ 20041108.OBS0989/ le-soleil-des-scorta-de-laurent-gaude-goncourt-2004.html (07.09.2018). 73 http: / / www.fondation-pb-ysl.net/ fr/ Prix-Jean-Giono-538.html (07.09.2018). 74 Ausführliche und aktuelle Informationen zum Schaffen Gaudés bietet seine persönliche Internetpräsenz: www.laurent-gaude.com (07.09.2018). sprachgewaltige Beschreibungen, die den Leser fulminant in seine Szenarien entführen. 72 Ebenfalls 2004 bekommt Gaudé für diesen Roman den Preis der Jury des Grand Prix Jean Giono. 73 In den darauffolgenden Jahren publiziert Gaudé mit beachtlicher Häufigkeit weitere Theaterstücke und Romane. Seine Stücke werden regelmäßig auf französischen und europäischen Bühnen aufgeführt. 2010 erhält er für Eldorado den Euregio Schüler-Literaturpreis. Zum Ende des Jahres 2018 kann Gaudé nun auf 20 Theaterstücke, zehn Romane, acht Novellen und einen Gedichtband zurückblicken. 74 6.1.2 Theaterstücke Bis dato hat Gaudé 20 Theaterstücke verfasst und publiziert. In Klammern sind jeweils die Siglen der am häufigsten zitierten Werke angegeben, die in dieser Arbeit zur besseren Lesbarkeit benutzt werden. Combats de possédés, Arles: Actes Sud, 1999. (CP) Onysos le furieux, Arles: Actes Sud, 2000. (OF) Pluie de cendres, Arles: Actes Sud, 2001. (PC) Cendres sur les mains, Arles: Actes Sud, 2002. (CM) Elle attend d’être à moi, Paris: Espaces 34, 2002. Le tigre bleu de l’Euphrate, Arles: Actes Sud, 2002. Salina, Arles: Actes Sud, 2003. Médée Kali, Arles: Actes Sud, 2003. „Dans les draps blancs d’autrefois“, in: Darley Emmanuel/ Gaudé, Laurent/ Glück Michaël (Hrsgg.), Kaboul, Paris 2003. „Le jour ne se serait jamais plus levé“, in: Marion Aubert, Marion/ Darley, Emmanuel/ Gaudé, Laurent et al. (Hrsgg.), Monologues pour et autres textes, Paris: Espaces 34, 2003. Les Sacrifiées, Arles: Actes Sud, 2004. (LS) Sophia Douleur, Arles: Actes Sud, 2008. Sodome, ma douce, Arles: Actes Sud, 2009. Mille orphelins suivi de Les Enfants Fleuve, Arles: Actes Sud, 2011. Caillasses, Arles: Actes Sud, 2012. 273 6.1 Werkverzeichnis von Laurent Gaudé Daral Shaga suivi de Maudits les Innocents, Arles: Actes Sud, 2014. Danse, Morob, Arles: Actes Sud, 2016. Et les colosses tomberont, Arles: Actes Sud, 2018. 6.1.3 Romane Bis dato hat Gaudé zehn Romane verfasst und publiziert. In Klammern sind jeweils die Siglen der am häufigsten zitierten Werke angegeben, die in dieser Arbeit zur besseren Lesbarkeit benutzt werden. Cris, Arles: Actes Sud, 2001. La mort du roi Tsongor, Arles: Actes Sud, 2002. (MRT) Le soleil des Scorta, Arles: Actes Sud, 2004. (SdS) Eldorado, Arles: Actes Sud, 2006. La porte des enfers, Arles: Actes Sud, 2008. Ouragan, Arles: Actes Sud, 2010. Pour seul cortège, Arles: Actes Sud, 2012. Danser les ombres, Arles: Actes Sud, 2015. Ecoutez nos défaites, Arles: Actes Sud, 2016. Salina, les trois exils, Arles: Actes Sud, 2018. 6.1.4 Erzählungen Bis dato hat Gaudé acht Novellen verfasst und publiziert. Bei den angegebenen Titeln handelt es sich um Novellensammlungen mit jeweils vier Novellen. Dans la nuit Mozambique, Arles: Actes Sud, 2007. („Sang négrier“, „Le colonel Barbaque“, „Gramercy Park Hotel“, „Dans la nuit Mozam‐ bique“.) Les oliviers du Négus, Arles: Actes Sud, 2011. („Les oliviers du Négus“, „Tombeau pour Palerme“, „Je finirai à terre“, „Le bâtard du bout du monde“.) Zusammen mit dem Fotografen Oan Kim hat Laurent Gaudé ein Buch mit Fotografien und Texten herausgebracht: Je suis le chien Pitié. Oan Kim et Laurent Gaudé, Arles: Actes Sud, 2009. 274 6 Bibliographie 75 Stand ist Herbst 2018. Auf Laurent Gaudés Internetseiten befindet sich eine vollständige Liste der Übersetzungen, die regelmäßig aktualisiert wird: www.laurent-gaude.com/ laurent-gaude-3/ traductions/ (07.09.2018) 6.1.5 Gedichtsammlung Bis dato hat Gaudé acht Gedichte verfasst und publiziert, die im folgenden Band enthalten sind: De sang et de lumière. Poésie, Arles: Actes Sud, 2017. 6.1.6 Übersetzungen Bisher sind einige von Gaudés Romanen und Erzählungen ins Deutsche und in 34 weitere Sprachen übersetzt worden. 75 Im Anschluss findet sich eine Liste der Übersetzungen ins Deutsche und in die romanischen Sprachen: 1. Ins Deutsche Bisher sind vier seiner Romane ins Deutsche übersetzt worden, erschienen beim Deutschen Taschenbuch Verlag. Der Tod des Königs Tsongor (2004) Die Sonne der Scorta (2005) Eldorado (2007) Das Tor zur Unterwelt (2010) 2. Ins Spanische La mort du roi Tsongor (El legado del rey Tsongor, 2003) Le soleil des Scorta (El sol de los Scorta, 2006) Eldorado (2007) La porte des enfers (La puerta de los infiernos, 2009) Dans la nuit Mozambique (Una noche en Mozambique, 2010) Pour seul cortège (El último cortejo, 2013) 3. Ins Portugiesische La mort du roi Tsongor (A Morte do Rei Tsongor, 2004) Le soleil des Scorta (O Sol dos Scorta, 2004) Eldorado (2008) La porte des enfers (A Porta dos Infernos, 2009) Dans la nuit Mozambique (Noite Dentro, Moçambique e Outras Narrativas, 2009) 275 6.1 Werkverzeichnis von Laurent Gaudé 76 www.theatre-contemporain.net/ textes/ Onysos-le-furieux/ mises-en-scene/ (07.09.2018). 4. Ins Italienische La mort du roi Tsongor (La morte di re Tsongor, 2004) Le soleil des Scorta (Gli Scorta, 2005) Eldorado (2007) La porte des enfers (La porta degli inferi, 2009) 5. Ins Rumänische Le soleil des Scorta (Soarele neamului Scorta, 2006) 6.2 Sekundärliteratur zu Laurent Gaudé 6.2.1 Informationen zu Inszenierungen der besprochenen Stücke Gaudés Zu den bisherigen nennenswerten Inszenierungen der in dieser Arbeit unter‐ suchten Stücke von Laurent Gaudé sind jeweils der verantwortliche Regisseur und das Jahr der Aufführung angegeben. 1. Onysos le furieux a) Frankreich: UA Hubert Gignoux: Paris (Théâtre Ouvert) 1997; Yannis Kokkos: Strasbourg 2000; Charlie Brozzoni: Annecy/ Chambéry/ Saint-Priest 2007; Bruno Ladet: Cergy 2008; Nicolas Guépin: Lyon 2008/ 2016/ 2017; Emmanuel Besnault: Avignon/ Boulogne-sur-Mer 2012/ 2013; Blandine Savetier: Strasbourg 2018 (Lesung der Groupe 44: 2. Jahrgangsstufe der Thea‐ terschule des Théâtre national de Strasbourg). b) International: Séverine Ruset: Onysos the Wild, London/ Edinburgh 2005/ 2006; 76 Hassane Kassi Kouyaté: Sion (Schweiz) 2013. 276 6 Bibliographie 77 Das Kartäuserkloster Notre-Dame-du-Val-de-Bénédiction in Villeneuve lez Avignon ist Centre National des Ecritures du Spectacle (CNES) und eine der Aufführungsstätten des jährlich stattfindenden, international renommierten Theaterfestivals von Avignon - http: / / chartreuse.org/ site/ (07.09.2018). 2. Combats de possédés a) Frankreich: Patrick Sueur: Le Mans 2003; Vincent Dussart: Soissons 2006. b) International: UA: Kampfhunde: Jürgen Bosse, Essen 2000; Gerhard Willert: Linz 2002. 3. Cendres sur les mains a) Frankreich: UA Jean-Marc Bourg: Kartäuserkloster Villeneuve lez Avignon 2001; 77 Jean-Marc Bourg: Paris (Théâtre Ouvert) 2002; Jérôme Goudour: Grasse 2011; Camille Saint-Martin: Eragny-sur-Oise 2015. b) International: Trus Teatro: Cinzas nas mans (galizisch; Üb. v. Sheyla Fariña García), Vimianzo/ Santiago de Compostela (Spanien) 2013, 2014; Cristina Drut: Cenizas en las manos (Üb.: Jaime Arrambide), Buenos Aires (Argentinien) 2004 und 2008. 4. Pluie de cendres a) Frankreich: UA Michel Favory: Paris (Studio-Théâtre) 2001; Frédéric Vern: La Réole 2003; Serge Lipszyc: Auxerre 2005. 5. Les Sacrifiées a) Frankreich: UA Jean-Louis Martinelli: Nanterre 2004; Adaption als Oper: Christian Gagneron (Thierry Pécou, Libretto): UA Nanterre 2008; Rouen/ Reims u. a. 2008; Fernsehausstrahlung 27.09.2008 (Mezzo); Stéphanie Loïk: Limoges 2012; Magali Serra: Paris u. a. 2012; Clémence Solignac: Angers u. a. 2012/ 2013; 277 6.2 Sekundärliteratur zu Laurent Gaudé Véronique Mounib (bearbeitete Fassung): Malakoff 2013 b) International: Jean-Louis Martinelli: Genf 2004. Viele der angegebenen Inszenierungen sind im Internet abrufbar über: www.theatre-contemporain.net/ biographies/ Laurent-Gaude/ textes/ (07.09.2018) Das Portal théâtre contemporain.net des Centre de Ressources Internationales de la Scène (CRIS) in Besançon, das vom französischen Kulturministerium, der Region Bourgogne-Franche-Comté und der Stadt Besançon finanziell unter‐ stützt wird, informiert über Theateraufführungen in Frankreich: www.theatrecontemporain.net. Hier sind auch mehrere Ausschnitte aus Filmaufzeichnungen von Onysos le furieux zu finden: www.theatre-contemporain.net/ biographies/ Laurent-Gaude/ videos. Sehr zu empfehlen sind auch die Hörspielfassungen, die im Jahre 2014 von France Culture produziert und ausgestrahlt wurden. Sie unterstreichen noch einmal die Wichtigkeit dieser Frühwerke Gaudés und den Einfluss, den sie auf das zeitgenössische Theater in Frankreich momentan haben: Les Sacrifiées, Erstausstrahlung am 02.11.2014 (Regie: Laure Egoroff): www.franceculture.fr/ emissions/ fictions-theatre-et-cie/ cycle-laurent-gaude- 14-les-sacrifiees (07.09.2018). Onysos le furieux, Ausstrahlung am 23.11.2014 (Wiederholung der Erstausstrahlung vom 6. September 1997, Regie: Jacques Taroni): www.franceculture.fr/ emissions/ fictionstheatre-et-cie/ cycle-laurent-gaude-44-onysos-le-furieux (07.09.2018). 6.2.2 Interviews mit und Vorträge von Laurent Gaudé 1. Interviews B I S S O N , Julien, „Entretien avec Laurent Gaudé, Prix Goncourt 2004 pour « Le soleil des Scorta » (Actes Sud)“, in: Lire, 359, Oktober 2008, 38. C AZA U X , Laurence, „Débutant“ (Interview), in: Le Matricule des Anges (28), Oktober-De‐ zember 1999, 6 f.. C AZA U X , Laurence/ G U I C HA R D , Thierry, „Portrait. Laurent Gaudé. Les oraisons vitales“, in: Le Matricule des Anges (57), Oktober 2004, S. 14-24. D AV I D , Claire: „Rencontre avec Laurent Gaudé autour de ses œuvres parues chez Actes Sud“: www.youtube.com/ watch? v=BoIoGeLoCqs (07.09.2018). 278 6 Bibliographie J O U B E R T , Sophie: „Laurent Gaudé: „La guerre moderne, sans victoire ni héros ? “, in: L’Humanité, 08.09.2016 (www.humanite.fr/ la-guerre-moderne-sans-victoireni-heros-615317; 07.09.2018). Ein weiteres aufschlussreiches Interview zu Gaudé als Theaterschriftsteller befindet sich ebenfalls auf théâtre contemporain.net: www.theatre-contemporain.net/ biographies/ Laurent-Gaude/ playlist/ id/ 5-questiona-Laurent-Gaude/ (07.09.2018). 2. Vorträge Aufzeichnung der Konferenz „Pourquoi écrire? “ in der Ecole Alsacienne (Paris) vom 8. März 2011: www.ecole-alsacienne.org/ spip/ Laurent-Gaude-Pourquoi-ecrire.html (07.09.2018) 6.2.3 Weitere Dokumentationen zum literarischen Schaffen Gaudés Seit 2004 schreibt Laurent Gaudé, neben seinem außerordentlichen Interesse für das Theater und die Mythopoiesis, auch über aktuelle Problemlagen. So geht er in Eldorado (2006) auf das Dilemma vieler Emigranten aus dem nahen Osten und aus Afrika ein, die alles geben und riskieren, um nach Europa zu gelangen und dort ein besseres Leben zu haben. Er zeichnet ein Szenario an Europas Küsten vor (insbesondere in Ceuta, Melilla und bei Lampedusa), wie es sich einige Jahre später in seiner Intensität und Tragik immer wieder abspielen soll. Dement‐ sprechend setzt er mit dem Drama Daral Shaga (2014) ein weiteres Ausrufezei‐ chen zur Migrationsproblematik vom südlichen Mittelmeerraum nach Europa. Neben Les Sacrifiées (2004) handelt auch das Drama Sophia Douleur (2008) von der Identitätsproblematik und dem kulturellen Dilemma, welche die Frauen in einer islamistisch geprägten Gemeinschaft haben, die sich der immer liberaler werdenden westlichen, europäischen Weltanschauung öffnen. Ähnlich nah am Zeitgeschehen und an den involvierten Menschen ist auch Caillasses (2012), das sich der Radikalisierungsproblematik gerade der jüngeren Bevölkerung im ge‐ teilten Palästina und des schwelenden, ständig wiederaufflammenden israe‐ lisch-palästinensischen Konfliktes annimmt - realistisch und poetisch, de‐ skriptiv und warnend, ohne je eine normative Wertung auszusprechen. Zudem setzt sich Gaudé für die Opfer der süditalienischen Mafia ein - Com‐ bats de possédés (1999) ist ein erster Beleg hierfür (vgl. 4.3). Im Oktober 2014 ist Gaudé an der Produktion des Dokumentarfilms „Jamais, Palerme“ für die Sen‐ dung „Square“ des Fernsehsenders arte beteiligt, die sich mit dem italienischen Staatsanwalt Nino di Matteo (*1961) beschäftigt, welcher für sein furchtloses Engagement gegen die sizilianische „Cosa nostra“ seit bereits mehr als zwei 279 6.2 Sekundärliteratur zu Laurent Gaudé 78 http: / / www.amnesty.fr/ Documents/ Texte-de-Laurent-Gaude-pour-la-campagne-Amnesty-International-contre-la-torture (07.09.2018) 79 Vgl. die Dokumentation von Laurent Gaudé über seine Haiti-Reise im Figaro: „Haïti, l’île martyre“, in: Le Figaro, 27.09.2013. http: / / www.lefigaro.fr/ international/ 2013/ 09/ 27/ 01003-20130927ARTFIG00286-haiti-l-ile-martyre.php (07.09.2018) 80 http: / / info.arte.tv/ de/ 5-tage-im-lager-kawergosk-mit-dem-schriftsteller-laurent-gaude (07.09.2018). Reportage über die Reise nach Erbil und ins Flüchtlingslager Kawergorsk, in Zusam‐ menarbeit mit arte, im Dezember 2013: http: / / info.arte.tv/ fr/ cinq-jours-au-camp-de-kawergosk-avec-laurent-gaude-ecrivain (07.09.2018) Jahrzehnten bekannt ist. Als Aktivist der Menschenrechtsorganisation Amnesty International setzt sich Gaudé außerdem gegen die Folter in jedweder Form ein. 78 Nachbetrachtend schreibt Gaudé zudem über den Hurrican „Katrina“ (2005), der die Südküste der USA, vor allem die Region um New Orleans verwüstete (Ouragan, 2010) sowie über die Erdbebenkatastrophe in Haiti (2010), die das ohnehin sehr arme Land in eine extreme Krise stürzte (Mille orphelins/ Les enfants fleuve, 2011; Danser les ombres, 2015). 79 Die wie in seinem Frühwerk nach wie vor präsente Unmittelbarkeit und Intensität seiner dramatischen Schilderung lässt durchaus erkennen, dass er selbst vor Ort war, um sich ein Bild vom Kri‐ sengebiet zu machen. Bewegt von der Flüchtlingskrise aufgrund des seit Jahren andauernden Bür‐ gerkriegs in Syrien hält sich Gaudé 2013 für einige Tage im Flüchtlingslager Kawergorsk im kurdischen Teil des Irak auf. Aus den Eindrücken dieses Auf‐ enthalts entsteht sein erster Gedichtband, De sang et de lumière (2017). Der deutsch-französische Kulturkanal arte hat diese Reise in einer ausführlichen Dokumentation festgehalten, die einen Reisebericht, einige Gedichte - vom Autor selbst vorgetragen - und ein Interview mit dem Schriftsteller umfasst. 80 6.3 Werke anderer Autoren Anmerkung: Die Siglen für häufig zitierte Werktitel sind am Ende der Litera‐ turangabe zu finden. A I S C H Y L O S , Orestie, üb. v. Peter Stein, München: Beck, 3 2014. A L I G HI E R I , Dante, La Divina commedia, hg. v. Fredi Chiappelli, Mailand: Ugo Mursia, 2003. 280 6 Bibliographie Alighieri, Dante, Die göttliche Komödie, üb. v. Friedrich Fr. von Falkenhausen, Frankfurt a. M.: Insel, 2011. A N O U I L H , Jean, Eurydice suivi de Roméo et Jeannette, Paris: Gallimard, 1980. Anouilh, Jean, Théâtre, hg. v. Bernard Beugnot, Bd. 1, Paris: Gallimard, 2007. Anouilh, Jean, Antigone, Paris: La Table Ronde, 2008. Anouilh, Jean, Médée, hg. v. Grégoire Schmitzberger, Paris: Flammarion, 2014. A R I S T O P HA N E S , Die Frösche, herausgegeben von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M.: Insel, 1971. Aristophanes, Lysistrate, üb. v. Ludwig Seeger, Anmerkungen und Nachwort von Otto Seel, Stuttgart: Reclam, 2004. A R I S T O T E L E S , Poetik, hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1994. B AT AI L L E , Georges, Le bleu du ciel, Paris: Gallimard, 1970. B E C K E T T , Samuel, Molloy, Paris: Les Editions de Minuit, 1951. Beckett, Samuel, Nouvelles et textes pour rien, Paris: Les Editions de Minuit, 1958. Beckett, Samuel, La dernière bande suivi de Cendre, Paris: Les Editions de Minuit, 1960. Beckett, Samuel, Oh les beaux jours, Paris: Les Editions de Minuit, 1963. 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