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Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext

2019
978-3-7720-5676-5
A. Francke Verlag 
Andreas Leben
Alenka Koron

Die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit befindet sich in einer Phase der Konsolidierung, aber auch zunehmender theoretischer, methodologischer und kontextueller Diversifikation. Vor dem Hintergrund des zu Einsprachigkeit tendierenden Literaturbetriebs erörtern die Beiträge grundlegende literatursystemische und gesellschaftliche Fragen sowie neue konzeptuelle Zugänge zu kleinen, minoritären, überregionalen, polyphonen, migrantischen oder transkulturellen Literaturen. Zum anderen beleuchten sie anhand von Texten minoritärer oder migrierter Autor*innen wie Florjan Lipus, Peter Handke, Vladimir Vertlib, Tomer Gardi, Goran Vojnovic, Josip Osti, Ivan Tavcar, Fulvio Tomizza, Diego Runko, Ada Christen und Zofka Kveder unterschiedliche Formen und Funktionen literarischer Ein- und Mehrsprachigkeit mit Fokus auf den österreichischen und slowenischen Kontext einschließlich Friaul-Julisch Venetiens und Istriens. Die Publikation richtet sich gleichermaßen an ein interessiertes Fachpublikum wie an Unterrichtende und Studierende.

Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Mainz) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 2 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) unter Mitarbeit von Claudia Mayr-Veselinović Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung der Universität Graz. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8676-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5676-5 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0097-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Marko Juvan (Ljubljana) Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Andreas Leben (Graz) Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums (ausgehend von der Literatur der Kärntner Slowen_innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Erwin Köstler (Wien) Institutionen, Akteure, Modelle: Das Kärntner zweisprachige literarische Feld als Anziehungspunkt für deutschsprachige Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Dominik Srienc (Klagenfurt) Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? Zum literarischen Selbstverständnis neuerer Kärntner slowenischer Literatur im Spannungsfeld zwischen Mehrsprachigkeit und Innovation . . . . . . . . . . . 97 Felix Oliver Kohl (Graz) Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen . . . . . . . . 111 Silvija Borovnik (Maribor) Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6 Inhalt Vanessa Hannesschläger (Wien) „Wahrheit des Klangs“: Die vielen Sprachen und ihre Funktion(en) im dramatischen Werk Peter Handkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Elena Messner (Wien) Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer aus dem Serbokroatischen seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Alenka Koron (Ljubljana) Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in den literarischen Werken von Josip Osti und Goran Vojnović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Lidija Dimkovska (Ljubljana) Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Miran Košuta (Triest) Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Nives Zudič Antonič (Koper) Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien . . . . . . . . . 213 Johann Strutz (Klagenfurt) Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Sandra Vlasta (Mainz) Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur - Formen, Funktionen und Rezeption bei Tomer Gardi, Semier Insayif und Vladimir Vertlib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung in den Jahren des Großen Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Alexandra Millner (Wien) Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Inhalt 7 Miran Hladnik (Ljubljana) Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Vorwort 9 Vorwort Der vorliegende Band geht auf die Tagung „Literarische Mehrsprachigkeit in Österreich und Slowenien“ zurück, die im April 2018 vom Institut für Slawistik der Universität Graz in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste (ZRC SAZU) in Graz veranstaltet wurde. Anlass für das Zusammentreffen von in Deutschland, Italien, Luxemburg, Österreich und Slowenien tätigen Forscherinnen und Forschern war das vom Fonds zur Förderung der Wissenschaft finanzierte Projekt „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“, dessen Gegenstand nicht nur die Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten war, sondern Literatur jedweder Provenienz, die in einem rezeptiven, partizipativen oder produktiven Verhältnis zu dieser Literatur und ihren Produktionsweisen steht. Ziel der Tagung war es, den methodischen Zugang und erste Projektergebnisse im erweiterten Kontext aktueller slowenistischer, germanistischer und romanistischer literaturwissenschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung zu erörtern. Den Ausgangspunkt bildeten mit Österreich und Slowenien jene beiden Länder, auf die sich im Wesentlichen auch der im Projekt untersuchte Interaktionsraum erstreckt. Durch diesen Bezug sollte nicht nur ein diskursiver Rahmen für die Diskussion und den Vergleich mehrsprachiger literarischer Praxen bei minoritären und/ oder migrierten Autorinnen und Autoren umrissen werden, vielmehr ging es auch darum, die behandelten Themen in ein Spannungsverhältnis zu den in beiden Ländern vorherrschenden monolingualen Paradigmen und den damit verbundenen Problemfeldern zu setzen. Die Engführung zweier konkreter staatlicher bzw. nationaler Zusammenhänge und die Notwendigkeit, diese ständig durchbrechen zu müssen, erwies sich für die Diskussion theoretischer Konzeptionen und Modelle wie auch für die Auseinandersetzung mit Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit als überaus erhellend. Für den gegenständlichen Band konnte das Spektrum der auf der Tagung behandelten Fragestellungen wesentlich erweitert werden: zum einen dank der Kolleginnen und Kollegen, die an der Tagung persönlich nicht teilnehmen konnten, jedoch von Anfang an in das Buchprojekt eingebunden waren; zum anderen dank jener Beiträge, die auf Anfrage eigens für diese Publikation verfasst wurden und vor allem den Blick auf die ‚kakanische‘ Dimension literarischer Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext vertiefen. 10 Vorwort Dass gut ein Jahr nach einer Konferenz auch schon die dazugehörige Publikation nachgereicht werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Möglich gemacht haben dies zu allererst die Beitragenden sowie die Übersetzerinnen und Übersetzer, die sich alle an die relativ straffen Zeitvorgaben gehalten haben, wofür wir ihnen als Herausgeberin und Herausgeber herzlich danken möchten. Gedankt sei an dieser Stelle der Università degli Studi di Trieste und den anderen Förderern, die Mittel für die Übersetzung einzelner Beiträge bereitgestellt haben, Claudia Mayr-Veselinović für ihre tatkräftige Mitarbeit bei der Organisation der Tagung und der redaktionellen Betreuung der Texte sowie Rolf Parr und Till Dembeck, die uns die Möglichkeit eröffnet haben, den Band in der Reihe „Literarische Mehrsprachigkeit/ Literary Multilingualism“ zu publizieren. Unser besonderer Dank gilt schließlich der Universität Graz und dem Wissenschaftlichen Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste für die großzügige Förderung des Gesamtprojekts, das im Herbst dieses Jahres mit dem Erscheinen der slowenischen Fassung dieses Bandes im Verlag ZRC SAZU seinen vorläufigen Abschluss finden wird. Graz und Ljubljana, Mai 2019 Andreas Leben und Alenka Koron Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 11 Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Mit seiner Themensetzung, der literarischen Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext, positioniert sich der vorliegende Band an einer Schnittstelle slawistischer, germanistischer, romanistischer und komparatistischer Forschung. Länder-, regionen- und sprachenübergreifende Vergleiche sind im literaturwissenschaftlichen Feld gewiss keine Seltenheit, sie zielen in der Regel jedoch auf Fragestellungen ab, die eine eingehendere Befassung mit den dahinterstehenden nationalen literarischen Systemen nicht unbedingt erforderlich machen. Eben diese Absicht liegt den hier versammelten Beiträgen zugrunde, die ausgehend von den heutigen literarischen Verhältnissen die Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit, aber auch das Neben- und Miteinander mehrsprachiger Literaturen anhand zweier nationaler bzw. staatlicher Gebilde, nämlich Österreich und Slowenien, aufeinander beziehen. Die beiden Nachbarländer scheinen für einen solchen Zugang nicht nur aufgrund zahlreicher historischer, politischer und kultureller Gemeinsamkeiten und Verwerfungen besonders geeignet, sondern auch weil sie trotz ihrer gewachsenen sprachlichen Vielfalt auch ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit homogenisierender nationaler Ideen sind. Monolinguale Nationalliteraturen mögen in der Tat „eine allenfalls pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion“ (Schmitz-Emans 2004: 11) sein, nichtsdestoweniger ist hier die Hegemonie des Deutschen, dort die Hegemonie des Slowenischen nicht zu übersehen, weshalb der Blick auf Minderheiten-, Migrationsanderssprachige oder mehrsprachige Literaturen in beiden Ländern lange Zeit verdeckt blieb. Einleitend sei daher zumindest skizzenhaft auf die Entstehung und die Auswirkungen dieser hegemonialen Verhältnisse eingegangen, die sowohl für die mehrsprachige literarische Produktion als auch für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen von maßgeblicher Bedeutung sind, die aber signifikante Unterschiede aufweisen. Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass der Literatur im slowenischen Zusammenhang eine ungleich höhere identitätsstiftende nationale Funktion zugeschrieben wird, als dies in Österreich der Fall ist, dennoch darf die Bedeutung von Literatur für die Herausbildung und Entwicklung des heutigen 12 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Österreich-Bewusstseins nicht unterschätzt werden. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als sich das politische Österreich in Anlehnung an die Moskauer Deklaration als ‚erstes‘ Opfer der nationalsozialistischen Aggression zu verstehen begann (vgl. Uhl 2001), löste man sich von der Idee der Zugehörigkeit zur ‚deutschen Sprachnation‘, bis sich schließlich in den 1970er Jahren die Vorstellung von Österreich als einer souveränen Staatsnation mit eigener Identität mehrheitlich etablierte (vgl. Bruckmüller 1998). In fortschreitender Abgrenzung von Deutschland kam es auch zu einer „Nationalisierung des literarischen Feldes“ (Sievers 2016: 23-30), die insbesondere die literarischen Strukturen betraf, von denen viele in den 1970er und 1980er Jahren neu geschaffen wurden. Auch die österreichische Germanistik begann den Staat nun als eigenen Literaturraum zu begreifen (vgl. Zeyringer 1995: 42-53), wobei der Fokus ganz auf der deutschsprachigen Literatur zu liegen kam, obwohl eingeräumt wurde, „daß es hier auch Literatur in mehreren Sprachen zu betrachten gilt“ (Schmidt-Dengler/ Zeyringer 1995: 16). Auch der durchschlagende Erfolg des von Peter Handke und Helga Mračnikar ins Deutsche übertragenen Romans Der Zögling Tjaž (1981) von Florjan Lipuš vermochte zunächst nur wenig an der Randposition nichtdeutschsprachiger Literatur zu verändern. Noch 1986 stellte der Lyriker Jani Oswald ironisch fest, dass durch das Gerede um eine Literatur, die im Original fast niemand kenne und die nur zum Teil über gute Übersetzungen zugänglich sei, die Rolle der Kärntner slowenischen Autor_innen als „Exoten“ auf dem Schauplatz der österreichischen Literatur lediglich einzementiert werde (Oswald 1986: 16). Erst mit dem Ende des realen Sozialismus und der politischen Neuordnung Europas begann sich das österreichische literarische Feld für die Literatur der sogenannten Volksgruppen oder autochthonen Sprachminderheiten, vor allem der Kärntner Slowen_innen, später auch für die Literatur von zugewanderten Autor_innen (vgl. Sievers 2017: 30-35) zu öffnen. Ein erstes Zeichen der Sichtbarmachung nichtdeutschsprachiger Autor_innen war Gerald Nitsches Anthologie Österreichische Lyrik … und kein Wort Deutsch (1990) mit Texten von knapp 40 Migrant_innen und Minderheitenangehörigen, 1 der noch weitere Anthologien dieser Art folgten, allerdings blieb das wissenschaftliche Interesse an Migrant_innenliteratur wie auch am Thema Migration bis in die frühen 2000er Jahre verhalten. 2 Zur bereits früher einsetzenden und zunächst breiteren Wahrnehmung der Literatur der Kärntner Slowen_innen trugen neben der regen literarischen Produktion auch die slowenischen bzw. zweisprachigen Kärntner Verlage, die aufkommende Übersetzungstätigkeit und nicht zuletzt 1 Die erweiterte Neuauflage der Anthologie umfasste bereits ca. 120 Autor_innen (vgl. Kurdoğlu Nitsche/ Gitterle 2008). 2 Vgl. die Bibliographie zu Literatur und Migration in Österreich von Wiebke Sievers und Sandra Vlasta (2013). Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 13 die im Bereich literarischer Mehrsprachigkeit anzusiedelnden komparatistischen und literaturpädagogischen Forschungen an der Universität Klagenfurt wesentlich bei. 3 Diese sind auch deshalb von Bedeutung, weil dadurch Texte Kärntner slowenischer Autor_innen Aufnahme in den sich herausbildenden literarischen Mehrsprachigkeitsdiskurs fanden (vgl. Strutz/ Zima 1996). 4 Vor allem die Literaturpädagogik war bestrebt, die Literaturen von Minderheiten und Migrant_innen gleichwertig zu vermitteln (vgl. Wintersteiner 2006: 115, 146-148; Mitterer/ Wintersteiner 2009) und räumte ihnen aufgrund ihrer interkulturellen und interlingualen Eigenschaften auch einen Platz innerhalb des Konzepts kulturvermittelnder Weltliteratur ein (Wintersteiner 2006: 240-242, 269-272). Folgerichtig stellte die neuere Literaturgeschichtsschreibung schließlich fest, dass „Mehrsprachigkeit und Multikulturalität am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zu einem wichtigen Element der österreichischen Literatur“ geworden sind (Kriegleder 2011: 571), und nahm daher auch Literatur migrierter oder einer ethnischen Minderheit zuordenbarer Autor_innen in die Gesamtdarstellung österreichischer Literatur auf (vgl. Kriegleder 2011; Zeyringer/ Gollner 2012). Nicht alle Institutionen im österreichischen literarischen Feld halten mit dieser Entwicklung Schritt, weshalb sich immer wieder die Notwendigkeit ergibt, Anpassungen vorzunehmen, beispielsweise um auch nicht Deutsch schreibende Autor_innen mit wichtigen nationalen Auszeichnungen und Preisen würdigen zu können. 5 In der Grundtendenz ähnlich und doch wesentlich verschieden sind die Verhältnisse in Bezug auf nichtslowenische Literatur und literarische Mehrsprachigkeit in Slowenien. Die im 19. Jahrhundert postulierte Existenz einer slowenischen Sprach- und Kulturnation, die sich unter anderem gerade durch die Berufung auf die Literatur legitimierte und emanzipierte, fand gewissermaßen ihre Erfüllung in der 1991 ausgerufenen staatlichen Souveränität Sloweniens. 6 Die Literatur und ihre Repräsentanten und Institutionen verloren 3 Hervorzuheben sind der 1984 eingerichtete Schwerpunkt zu den Literaturen im Alpen- Adria-Raum (vgl. Strutz 2003 sowie dessen Beitrag in diesem Band) und die germanistische regionale Literaturgeschichtsschreibung (vgl. Amann 2003) sowie die Forschungen und Projekte im Bereich der transkulturellen und friedenskulturellen Literaturpädagogik seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Wintersteiner 2006). 4 Die literarische Mehrsprachigkeitsforschung nimmt insbesondere auf Jani Oswald und Maja Haderlap immer wieder Bezug (Kremnitz 2015: 213-214; Helmich 2016: 492). 5 So änderte die Stadt Graz die Satzungen des Franz-Nabl-Preises, um ihn 2013 an Florian Lipuš vergeben zu können, der 2018 auch den Großen Österreichischen Staatspreis erhielt. Die Auszeichnung war ihm 2016 noch mit der Begründung versagt geblieben, dass er nicht auf Deutsch schreibe ( Jung 2017). 6 Zum Konnex von Sprache, Literatur, Ideologie und Politik sowie zur kritischen Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Modellen des ‚slowenischen Kultursyndroms‘ und der ‚Prešerenʼschen Struktur‘ vgl. Dović (2017: 282-292). 14 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) danach rasch an ‚nationaler‘ Bedeutung, jedoch etablierte sich das Slowenische als die gesellschaftlich und literarisch dominante Sprache. Die autochthonen ethnischen Minderheiten erhielten umfassende Rechte, wurden aber genauso wie die zahlenmäßig zum Teil weitaus stärkeren, als Minderheit jedoch nicht anerkannten Ethnien aus den anderen ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens im neu entstandenen slowenischen literarischen Feld marginalisiert. 7 Folglich gab es kaum Anlass, unter ‚slowenischer Literatur‘ etwas anderes zu verstehen als in slowenischer Sprache geschriebene Literatur, und zwar unabhängig davon, wo sie entsteht und veröffentlicht wird. Nicht zuletzt wird dieses Bild durch die slowenische Literaturgeschichte verfestigt, die seit ihren Anfängen auf in slowenischer Sprache geschriebene Literatur abgestellt ist. 8 Eine neue, konzeptuell die Gesamtheit der Sprachen und Literaturen Sloweniens berücksichtigende Literaturgeschichte liegt zwar nicht vor, jedoch hat Miran Hladnik bereits nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Begriff ‚slowenische Literatur‘ wesentlich breiter gefasst werden muss, als dies in den bisher erschienenen Literaturgeschichten der Fall ist. Seiner Ansicht nach ist Slowenisch als Sprache des Originals für die Einordnung eines Textes unter diesen Begriff kein Schlüsselkriterium mehr, vielmehr seien auch Übersetzungen ins oder aus dem Slowenischen und anderssprachige Literatur slowenischer oder anderer Autor_innen, die in Slowenien gelesen werden, ebenfalls zu berücksichtigen (Hladnik 2013: 323). Um überhaupt eine „emanzipierte Diskussion“ über die verschiedenen Literaturformen im slowenischen Zusammenhang zu ermöglichen, schlug er des Weiteren vor, statt des üblichen Terminus ‚slowenische Literatur‘ den Begriff „literatura na Slovenskem“ (‚Literatur im slowenischen Raum‘) zu verwenden (Hladnik 2016: 49). 9 Die Bestrebungen, die interkulturelle Verfasstheit der slowenischen Gesellschaft und Literatur stärker ins Bewusstsein zu heben, nehmen ihren Ausgang Mitte der 2000er Jahre, als die Anglistin und Literaturhistorikerin Meta Grosman 2004 einen vielbeachteten Band zum Thema 7 Mit der Dominanz des Slowenischen und der Situation anderssprachiger Literaturen in Slowenien beschäftigen sich in diesem Band Alenka Koron und Lidija Dimkovska. 8 Die ‚neuesten‘ slowenischen literarhistorischen Überblickswerke datieren aus den Jahren 1998 bis 2001 (Pogačnik 1998; Zadravec 1999; Pogačnik u. a. 2001) und gehen auf die verbreitete literarische Mehrsprachigkeit slowenischer Autor_innen kaum ein. Auch das mit 14 Auflagen am weitesten verbreitete Lehrbuch zur slowenischen Literaturgeschichte (Kos 2010) klammert nicht slowenische Literatur völlig aus. Ähnlich wie das literarische Leben der slowenischen Minderheiten in den Nachbarländern nach 1918 zumeist in eigenen Publikationen und in Parenthese gegenüber dem zentralslowenischen Raum behandelt wurde (z. B. Pogačnik 1972), erfuhr auch die reichhaltige slowenische Emigrationsliteratur erst Ende der 1990er Jahre erstmals eine umfassende Darstellung (Žitnik/ Glušič 1999). 9 Vergleiche auch den Beitrag von Miran Hladnik in diesem Band. Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 15 Literatur in der interkulturellen Kommunikation veröffentlichte. Schon im darauffolgenden Jahr war das traditionelle Sommerseminar an der Universität Ljubljana der Multikulturalität in der slowenischen Sprache, Literatur und Kultur gewidmet (vgl. Stabej 2005), und in den Jahren 2004 bis 2007 beschäftigten sich Janja Žitnik Serafin, Lidija Dimkovska und Maruša Mugerli Lavrenčič in einem Forschungsprojekt mit dem literarischen und kulturellen Bild der Einwanderer in Slowenien, aus dem unter anderem eine bis heute zentrale Monographie zur Lage der Migrantenliteratur und -kultur im slowenischen Raum hervorging (vgl. Žitnik Serafin 2008). Ebenfalls 2008, im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs unter slowenischer EU-Ratspräsidentschaft, wurde anlässlich des Slowenischen Slawistenkongresses in Klagenfurt, der zugleich dem 500. Geburtstag des Reformators und Begründers der slowenischen Schriftsprache Primož Trubar gewidmet war, der Versuch unternommen, die interkulturelle Slowenistik in Fachvorträgen (vgl. Košuta 2008) und durch einen Runden Tisch zum Thema 10 stärker zu profilieren. Mittlerweile haben die Themen Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Eingang in zahlreiche gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Forschungsbereiche gefunden, zumal es in Slowenien eine lange Tradition in der Ethnizitäts- und Minderheitenforschung gibt, wohingegen sie in der slowenistischen Literaturwissenschaft, aber auch im slowenischen literarischen Feld insgesamt noch immer eher ein Randthema sind. Neben Miran Hladnik, der in seinen Forschungen in erster Linie die Literaturbeziehungen in der älteren slowenischen Literatur in den Blick nimmt, und Silvija Borovnik, die sich seit den 1990er Jahren mit interkulturellen Aspekten und Mehrfachzugehörigkeiten in der zeitgenössischen slowenischen Literatur auseinandersetzt (vgl. Borovnik 2017), widmen sich zwar auch zahlreiche andere Forscher_innen mitunter diesem Themenkomplex, trotzdem hat sich weder in der slowenischen noch in der slawistischen noch in der vergleichenden Literaturwissenschaft ein Forschungszweig herausgebildet, der sich speziell mit literarischer Mehrsprachigkeit beschäftigen würde. Sogar der Begriff ‚literarische Mehrsprachigkeit‘, dem im Slowenischen die Bezeichnungen ‚literarna večjezičnost‘ oder ‚literarno večjezičje‘ entsprechen, scheint, gemessen an der Häufigkeit seiner Verwendung, fast noch ein Neologismus zu sein. Dass die Konzeption und Anwendung inter- und transkultureller Forschungszugänge, aber auch die Verhältnisse und Regelungen im slowenischen literarischen Feld in Bezug auf literarische Mehrsprachigkeit auf verschiedene Hindernisse stoßen, wie sie auch in den Beiträgen dieses Bandes zur Sprache kommen werden, mögen folgende Beispiele illustrieren: 2012 änderte der Slowenische 10 Die Diskussion zur interkulturellen Slowenistik wurde als eigener Themenschwerpunkt in der Zeitschrift Jezik in slovstvo (2009/ 54: 2, 101-131) dokumentiert. 16 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Schriftstellerverband seine Statuten dahingehend, dass auch nicht Slowenisch schreibende Autor_innen dem Verband beitreten können. Dieser ermöglichte auch das Erscheinen einer mehrsprachigen Literaturanthologie (Dimkovska 2014), in der 34 Migrant_innen und Angehörige der autochthonen Minderheiten in Slowenien vertreten sind, die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen zur Förderung und Verbreitung anderssprachiger oder mehrsprachiger Literatur haben sich ansonsten aber kaum verändert. So gibt es in Slowenien bis heute keine Institution, die etwa mit dem Verein Exil, der Initiative Minderheiten oder Initiativen wie dem Hohenemser Literaturpreis vergleichbar wäre. 11 Nach wie vor virulent ist die von der in Slowenien lebenden US-amerikanischen Schriftstellerin Erica Johnson Debeljak (2013) aufgeworfene Frage, wer eigentlich ein slowenischer Schriftsteller sein darf, und ob es nicht möglich sein sollte, den renommierten Kresnik-Preis auch an Autor_innen wie die Deutsch schreibende Kärntner Slowenin Maja Haderlap zu vergeben. In gewisser Weise hat das slowenische Schulwesen diese Frage jüngst beantwortet, denn als Thema für den Essay bei der Zentralmatura 2019 aus dem Fach Slowenisch hat die zuständige Kommission Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens in der Übersetzung von Štefan Vevar ausgewählt (Božič/ Špacapan/ Adam 2018). Die hier skizzierten Entwicklungslinien im österreichischen und slowenischen Diskurs rund um Mehrsprachigkeit und Literatur machen auch deutlich, dass der Grad individueller, kollektiver, gesellschaftlicher, territorialer und institutioneller Mehrsprachigkeit für sich genommen für deren Präsenz und Akzeptanz nur wenig Aussagekraft hat. So zählt Slowenien in Bezug auf die Zwei- und Mehrsprachigkeit seiner Bewohner_innen zu den Spitzenreitern in der Europäischen Union (European Commission 2012: 15), trotzdem scheinen gegenwärtig die Voraussetzungen für die Produktion, Verbreitung und Rezeption mehrsprachiger Literatur in Österreich, das sich statistisch gesehen lediglich im europäischen Mittelfeld befindet (ebd.), wenn auch nicht ideal, so doch ungleich besser zu sein. 12 Dabei nimmt die Mehrsprachigkeit der EU-Bevölkerung im Vergleich 11 Der Verein Exil wurde 1988 in Wien gegründet. Er vergibt seit 1997 die exil-Literaturpreise und ist Herausgeber der Reihe edition exil (vgl. Stippinger 2009). Die Initiative Minderheiten besteht seit 1991 als nichtstaatliche Organisation und versteht sich als Plattform, Netzwerk und Vermittlerin für Minderheiten in Österreich (http: / / minderheiten.at/ index. php/ initiative-minderheiten). 12 Laut der bis dato jüngsten Eurobarometer-Umfrage von 2012 ist in Slowenien, wo nach offiziellen Angaben mehr als 50 Sprachen gesprochen werden, der Anteil des Slowenischen als Erstsprache auf 93 % gestiegen, jedoch sind 34 % der Bewohner_innen in der Lage, sich in mehr als zwei Sprachen zu verständigen. In Österreich beträgt dieser Anteil 9 %, obwohl hierzulande ca. 250 Sprachen gesprochen werden und der Anteil des Deutschen als Erstsprache mit 93 % gleich wie in Slowenien ist (European Commission 2012: 11, 15). Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 17 zu 2005, wie aus den von der Europäischen Union in Auftrag gegebenen Umfragen hervorgeht, grosso modo ab (ebd.: 5, 142). Die „Polygamie der Sprachen“, von der Beck und Grande in ihrem Appell für eine „innere Kosmopolitisierung“ Europas sprechen, womit sie das Erlernen von Englisch als Drittsprache und einer weiteren europäischen oder nichteuropäischen Sprache als Zweitsprache meinen, scheint demnach auf der Stelle zu treten. Mehr noch: Die Feststellung, dass manche europäischen Länder eine zugleich protektionistische und imperialistische Sprachenpolitik betreiben und die nationale Kultur und Identität ihrer Sprache „schützen“ und in ihrem Geltungsbereich „ausdehnen“ wollen, während andere um das Überleben ihrer Sprache „kämpfen“ und wiederum andere sich auf der globalen Geltung ihrer Sprache „ausruhen“ können (Beck/ Grande 2004: 158), hat nichts an Gültigkeit verloren, wobei die Wortwahl wohl nicht von ungefähr daran erinnert, dass Sprachenpolitik als ein umkämpftes Feld widerstreitender Interessen aufgefasst werden muss. Von daher scheint es geboten, den Mehrsprachigkeitsdiskurs - ob in den Erziehungswissenschaften, der Fremdsprachendidaktik, der Linguistik oder den Literaturwissenschaften - immer auch im Kontext der jeweiligen politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und Kräfteverhältnisse zu denken, zumal die enge gesellschaftliche Bindung auch dafür ausschlaggebend sein dürfte, dass dieser Forschungszweig seit Jahrzehnten einen beachtlichen Boom verzeichnet, der längst auch die Literaturwissenschaften erreicht hat. Aus der Forschungsgeschichte geht überdies hervor, dass das Phänomen literarischer Mehrsprachigkeit zumeist innerhalb von Einzelphilologien untersucht wird, die im Normalfall nur wenig Notiz voneinander nehmen. 13 Als „ruhmreiche Ausnahme von der Blindheit der Nationalphilologien für Sprachwechsel und -mischung“ (Dembeck 2017: 153) kann die Romanistik genannt werden, die „immer schon mehrere Sprachgebiete und Nationen abdeckt“. Ähnliche Voraussetzungen böte an sich die Slawistik, vor allem jene außerhalb der slawischen Länder, 14 allerdings kann das weitgehende Fehlen aussagekräftiger Bestandsaufnahmen zu diesem Thema als Hinweis darauf gelten, dass in der Slawistik wie auch in den Nationalphilologien vieler slawischer Länder, so in Slowenien, die literarische Mehrsprachigkeit ein relativ junges und wenig etabliertes Forschungsfeld ist. 15 13 Zur Forschungsgeschichte und deren Problematik vgl. Helmich (2016: 22-29) und Dembeck (2017: 147-153). 14 Exemplarisch sei auf die Arbeiten der Wiener Slawisten Günther Wytrzens (2009) und Stefan Simonek (2002, 2016), die Beiträge zur literarischen Mehrsprachigkeit bei slawischen Autor_innen in der Habsburgermonarchie (König/ Hofeneder 2016) und zu slawischen Literaturen als Weltliteratur (Hutzke/ Finkelstein 2018) hingewiesen. 15 Neben der Slowenistik in Slowenien kann auch die tschechische Bohemistik als Indiz dafür genannt werden, dass in den Nationalphilologien der slawischen Länder erst nach 18 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Wenn die lebensweltliche Mehrsprachigkeit einer Gesellschaft oder eines Landes nicht zwangsläufig zu einer größeren Sichtbarkeit literarischer Mehrsprachigkeit führt, unterstreicht dies die Bedeutung der Verhältnisse im literarischen Feld und der Intensität der Bindung der jeweils dominanten (Literatur-) Sprache an essenzialistische Kategorien und Konstruktionen wie Ethnizität, Nation, Identität. Im slowenischen Kontext sind diese Kategorien in deutlich größerem Maß wirksam, was sich auch am literaturwissenschaftlichen Diskurs ablesen lässt. Dies gilt auch für den Umgang mit der slowenischen Literatur in Kärnten bzw. der Literatur der Kärntner Slowen_innen, die ein zentrales Bindeglied zwischen Österreich und Slowenien bzw. zwischen der Germanistik, Slawistik und Komparatistik der beiden Länder darstellt. Denn während die österreichische Literaturwissenschaft seit mehreren Jahrzehnten zumeist die interkulturellen, zwei- oder mehrsprachigen Aspekte dieser Literatur in den Mittelpunkt rückt, wurde insbesondere das deutschsprachige literarische Schaffen der Kärntner Slowen_innen seitens der slowenischen Literaturwissenschaft bis vor wenigen Jahren mit wenigen Ausnahmen außer Acht gelassen. Später wurde diese Praxis mitunter als mögliches Anzeichen von Assimilation (vgl. Bandelj 2008: 175) oder schlicht als trauriges Faktum gedeutet (vgl. Borovnik 2008: 53-54), während sie heute - zusammen mit der Literatur von Slowenien nach Österreich migrierter Autor_innen - wiederum als „Musterfall“ literarischer Interkulturalität erachtet wird (Borovnik 2017: 71). Die zwei- und mehrsprachige literarische Praxis der Kärntner Slowen_innen diente auch als Angelpunkt für die hier versammelten Beiträge. Denn was sie über den österreichischen und slowenischen Kontext hinaus interessant macht, ist nicht nur ihre heterogene Entwicklung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten, sondern auch die Tatsache, dass sie Gegenstand einer breit gefächerten, nicht nur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, wie sie für eine kleine Literatur keine Selbstverständlichkeit darstellt. So bietet diese Literatur mit ihren vielfältigen Formen, Funktionen und Paradoxen, ihren Institutionen und ihrer Einbindung in Diskurse, die von traditioneller Heimatliteratur bis hin zur Weltliteratur reichen, ideale Voraussetzungen für die Anbindung an Fragen nach der Funktionsweise literarischer Felder und Systeme wie auch für die Diskussion minoritärer, überregionaler, polyphoner, migrantischer und transkultureller Literaturen, deren gemeinsames Merkmal Mehrsprachigkeit ist. Obwohl es sich angeboten hätte, die Beiträge nach Kriterien wie diesen in mehrere Abschnitte zu gliedern, werden sie hier in loser Abfolge, die vom Allgemeinen zum Speziellen führt, aneinandergereiht, auch um die unterschiedli- 2000 eine verstärkte Auseinandersetzung mit literarischer Mehrsprachigkeit zu verzeichnen ist (vgl. Mareš 2017). Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 19 chen Zugänge zu den behandelten Themen nicht durch einen hervorgehobenen theoretisch-methodischen Teil zu überlagern. Zugleich soll die Anordnung die Möglichkeit bieten, bestimmten Diskurslinien in der Auseinandersetzung mit der Literatur der Kärntner Slowen_innen, der Slowen_innen in Italien und der italienischen Minderheit im kroatischen und slowenischen Istrien sowie der Literatur mehrsprachiger oder migrierter Autor_innen im österreichischen und slowenischen Kontext zu folgen, wobei ein Bogen gespannt wird, der von der Gegenwart bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Am Beginn steht der Beitrag von Marko Juvan, der ausgehend vom multilingualen und weltliterarischen Diskurs analysiert, wie das welt-systemische Kapital Druck auf die seit etwa 200 Jahren vorherrschenden nationalen literarischen Systeme und das literarische Welt-System ausübt und zu (literarischer) Einsprachigkeit zwingt. Periphere, minoritäre, regionale oder migrantische Literaturen erweisen sich aus dieser Perspektive als Refugien der sterbenden liberalen Idee der Multikulturalität, die selbst wiederum die marktbedingten Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse lediglich verschleiert. Wenn jenseits linksliberaler intellektueller Kritik und religiös-fundamentalistischer, nationalistisch-rassistischer und populistischer Bewegungen Widerstand gegen die ökonomische Logik des Kapitals formiert und Mehrsprachigkeit mit tatsächlicher Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung ausgestattet werden soll, gelte es, fortschrittliche gesellschaftliche Praktiken, eine andere theoretische Sprache und ein alternatives literarisches Ökosystem zu etablieren. Im Spannungsfeld von nationalen und weltliterarischen Konzeptionen, des Zentrum-Peripherie- Diskurses und marktökonomischer Aspekte ist auch der Beitrag von Jeanne E. Glesener angesiedelt, der in kritischer Auseinandersetzung mit Deleuze und Guattari den vielschichtigen Terminus ‚kleine Literaturen‘ aus forschungsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Mit Blick auf die Rolle der Mehrsprachigkeit wird eine differenzierte Begriffstypologie erstellt, die auch berücksichtigt, ob es sich bei den gebräuchlichen Begriffen um Fremd zu schreibungen dominanter oder Selbst be schreibungen dominierter Literatursysteme handelt. Die daraus resultierende vorläufige Typologie kleiner europäischer Literaturen legt nahe, kleine Literaturen außerhalb nationaler und einsprachiger Prämissen zu denken, ihre womöglich eigenen Ästhetiken verstärkt zu untersuchen und deren literaturtheoretisches Potenzial für eine pluralistisch angelegte Literaturentwicklung zu nutzen. Solche Potenziale legt gerade auch die literarische Komparatistik der Alpen-Adria-Region frei, an die das von Andreas Leben am Beispiel der Literatur der Kärntner Slowen_innen vorgestellte Modell für die Erforschung überregionaler, zwei- oder mehrsprachiger literarischer Interaktionsräume methodologisch anschließt. Von anderen raumbasierten Konzepten un- 20 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) terscheidet sich das an Bourdieu, Lefebvre und Lotman orientierte Modell, das ohne ethnische, nationale und identitätsbildende Kategorisierungen auszukommen versucht, vor allem darin, dass es sich nicht mit exemplarischen Beobachtungen begnügt, sondern die Erhebung empirischer Daten voraussetzt, anhand derer konkrete Aussagen über die Beschaffenheit und Stabilität inkorporierter mehrsprachiger literarischer Felder möglich sind. Die Einbettung der Literatur von Kärntner Slowen_innen in einen solchen Interaktionsraum ermöglicht nicht nur einen anderen konzeptuellen Zugang zu literarischer Mehrsprachigkeit, sondern auch zu den damit verbundenen Institutionen, Repertoires und Modellen, die Erwin Köstler in den Blick nimmt, und zwar unter dem Aspekt, dass auch deutschsprachige Autor_innen in zunehmendem Ausmaß diese Angebote und Möglichkeiten nutzen, was auch Auswirkungen auf die Formen literarischer Mehrsprachigkeit auf der Textebene bei deutschsprachigen Autor_innen verschiedener Provenienz wie Peter Handke, Hugo Ramnek, Simone Schönett, Thomas Podhostnik, Mathias Grilj und Peter Waterhouse nach sich zieht. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich die Kärntner slowenischen Autor_innen zusehends von den traditionellen Verlagen und Modellen abwenden, wie Dominik Srienc in seinem Beitrag darlegt. Er fokussiert auf die zwischen Tradition und Innovation oszillierenden zwei- und mehrsprachigen, intermedialen und digitalen Praxen bei Autor_innen wie Nikolaj Efendi, Stefan Feinig, Verena Gotthardt, Amina Majetić, Elena Messner, Aljaž Pestotnik, Dominik Srienc und Nina Zdouc, die zur neuen Kärntner slowenischen Literatur gezählt werden können und deren Literatur nicht mehr an einen spezifischen Ort oder eine spezifische Sprache gebunden ist, was auch den Begriff der ‚Kärntner slowenischen Literatur’ zu einem uneindeutigen, von Transformationsprozessen geprägten, beweglichen Gefüge macht. Als ein Feld der Uneindeutigkeiten erweisen sich auch die Biographien Kärntner slowenischer Autor_innen, denen Felix Kohl in repräsentativen slowenischen und deutschsprachigen Nachschlagewerken und Internetplattformen nachspürt. Auch hier zeigt sich, dass die Anwendung nationalstaatlicher, ethnischer und sprachlicher Kriterien - je nach Dominanz des zugrundeliegenden national(sprachlich)en literarischen Systems - zu durchwegs unterschiedlichen oder eklektischen Repräsentationen führt, die in Summe wiederum Spiegel der literarischen Praxen und der Position dieser Autor_innen an der Peripherie zweier literarischer Systeme sind und als solche für die Biographieforschung eine besondere Herausforderung darstellen. Florjan Lipuš, einer der wenigen Kärntner slowenischen Autoren, die sich selbst immer als ‚slowenische Schriftsteller‘ bezeichnet haben, schreibt und publiziert fast ausschließlich in slowenischer Sprache. Dass sein Werk dennoch von Mehrsprachigkeit geprägt und durchzogen ist, zeigt der Beitrag von Silvija Borovnik, in dem Lipušʼ Sprache und die metadiskursive Auseinandersetzung mit Sprache, Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 21 insbesondere mit der Muttersprache, in seinen drei jüngsten Erzählungen analysiert wird. Der Mehrsprachigkeit im Werk eines weiteren Kärntner Schriftstellers, der dem zweisprachigen literarischen Feld zugezählt werden kann, widmet sich Vanessa Hannesschläger, indem sie der Frage nachgeht, welche Rolle Vielsprachigkeit in den Bühnentexten Peter Handkes spielt, wie sie sich manifestiert und verändert. Der Analyse liegen ausgewählte Texte aus der Datenbank Handke: in Zungen zugrunde, die belegen, dass der Autor in den letzten zwei Jahrzehnten den integrierten Sprachenkanon signifikant erweitert hat, darunter auf ‚Randsprachen‘ wie Arabisch und die südslawischen Sprachen. Was die Vermittlung serbokroatischer bzw. kroatischer, bosnischer und serbischer Literatur in den deutschsprachigen Raum mit dem zweisprachigen literarischen Feld zu tun hat, erläutert Elena Messner anhand der Vermittlungsarbeit der Kärntner slowenischen Verlage Drava und Wieser. Dass zwei Kleinverlage zuweilen den Import dieser Literatur(en) entscheidend mitbestimmen konnten, führt die Verfasserin auch auf die Minderheitenbzw. Identitätspolitik der Kärntner Slowen_innen zurück, die eine primär kulturell und politisch ausgerichtete Verlagstätigkeit hervorgebracht hat, die über das nötige kulturelle Kapital verfügte, als das Interesse an ex-jugoslawischer Literatur in den 1990er Jahren zunahm. Der Zerfall Jugoslawiens hatte nicht nur einschneidende Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Leben vieler Menschen in Slowenien, er veränderte auch die Schreibsituation von Autor_innen und das slowenische literarische Feld, wie Alenka Koron am Beispiel des mehrsprachigen literarischen Schaffens des bosnischen ‚Zuwanderers‘ Josip Osti und des in Ljubljana geborenen ‚Bestsellerautors‘ Goran Vojnović ausführt. Doch ebenso, wie viele Menschen aus den Teilrepubliken des ehemals gemeinsamen Staates im unabhängigen Slowenien nicht integriert wurden, blieben auch die meisten der in erster oder zweiter Generation zugewanderten Autor_innen isoliert und wurden bzw. werden nur in Ausnahmefällen von der slowenischen literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Gründe für diese Ghettoisierung führt Lidija Dimkovska in ihrem Beitrag auf, in dem sie auch Vorschläge für eine Verbesserung der Situation nach Slowenien zugewanderter Autor_innen macht, die in ihrer Erst- oder Zweitsprache schreiben. Ein gänzlich anderes Umfeld finden die slowenischen Literaturschaffenden in Friaul-Julisch Venetien vor, das Miran Košuta anhand eines typologisch fundierten Panoramas der zwei- oder mehrsprachigen literarischen Praxen von ca. sechzig zeitgenössischen Literaturschaffenden von Boris Pahor bis Igor Pison entfaltet. Viele schreiben nur auf Slowenisch, manche auch in slowenischer Mundart oder auf Italienisch, etliche übersetzen sich selbst in eine der beiden Sprachen, aber nur wenige von ihnen können als tatsächlich literarisch zweisprachig gelten. Ähnliches gilt für die italienischsprachigen Autor_innen im kroatischen und slowenischen Istrien, 22 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) deren Schaffen Nives Zudič Antonič in einem umfassenden Abriss vorstellt. Die meisten von ihnen schreiben in einer Standardvarietät des Italienischen oder einem der istrovenezianischen oder istroromanischen Dialekte, verwenden aber in ihren Texten oft dialektale Ausdrücke oder Lehnwörter aus den in der Region gebräuchlichen oder auch aus anderen Sprachen, wie am Beispiel eines Dramentextes von Diego Runko erläutert wird. Dass sich gerade Istrien im Gefüge des ungewöhnlich vielfältigen Kontinuums der Literaturen der Alpen-Adria-Region aufgrund der mehrsprachigen Produktions- und Rezeptionsbedingungen durch ein besonders hohes Maß an kultureller Pluralität und Polyphonie auszeichnet, verdeutlicht Johann Strutz in seinem Plädoyer für regionale Sprachspiele und literarische Spielräume, die als reales und utopisches Moment in der Lage sind, durch permanente Sprachmischung die Kohärenz nationaler literarischer Felder erfolgreich zu unterlaufen, wie unter anderem am Beispiel Fulvio Tomizza und Milan Rakovac gezeigt wird. Wenn das literarische Schaffen in der Erstsprache als ein Fundament für das Überleben der italienischen Volksgruppe in Istrien oder auch der slowenischen Minderheit in Kärnten erachtet werden kann, so verhält es sich mit der Literatur und Sprachwahl migrierter Autor_innen sichtlich anders. Nicht in der Erstsprache zu schreiben, ist ein gemeinsames Merkmal so unterschiedlicher Autoren wie Vladimir Vertlib, Semier Insayif und Tomer Gardi, an deren Beispiel sich Sandra Vlasta mit Formen latenter Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit in deutschsprachigen Texten österreichischer Migrationsliteratur beschäftigt, die sie nicht biographisch, sondern thematisch per se als mehrsprachige Literatur definiert. Eingegangen wird auch auf die Rezeption der behandelten Texte und die Schwierigkeit der Partizipation mehrsprachiger Autor_innen und Texte am deutschsprachigen Literaturbetrieb. Die abschließenden Beiträge kontrastieren die heutige Situation mit den literarischen, nationalen und ideologischen Gegebenheiten während des Ersten Weltkriegs sowie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Matjaž Birk und Sašo Zver untersuchen anhand der in der Marburger Zeitung zwischen 1914 und 1918 veröffentlichten Erzählungen und Gedichte Deutsch schreibender Autor_innen die darin repräsentierten Identitätsnarrative, die in zeitgeschichtlichen, insbesondere mit dem Krieg verbundenen Themen zum Ausdruck kommen und in der Regel auf dem Mechanismus der Abgrenzung bzw. des Ausschlusses des Anderen beruhen. Die traditionelle kulturelle und sprachliche Heterogenität der steirischen und Krainer Region wird dabei programmatisch ausgeblendet, es finden sich jedoch Repräsentationen entfernter, pluriethnischer, multilingualer Räume an den Grenzgebieten der Habsburgermonarchie und insbesondere Deutschlands, denen stellenweise Mehrsprachigkeit eingeschrieben ist, die aber aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Einflusses von Patriotismus, Heimatideologie und Religiösität die Ansätze für Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit 23 Mehrsprachigkeit ebenso versiegen lassen wie für die Inszenierung alternativer sozialer Praktiken. Dass die deutschsprachige Literatur solche alternativen, binäre Inklusions-Exklusions-Schemata überwindende Inszenierungen durchaus kannte, erhellt der Beitrag von Alexandra Millner. Ausgehend von ihren auf Transdifferenz und Intersektionalität beruhenden Forschungen zur Literatur (binnen-)migrierter Autorinnen in Österreich-Ungarn im Zeitraum von 1867 bis 1918 illustriert die Verfasserin anhand eines Textes der Wiener Wanderschauspielerin und Autorin Ada Christen aus dem Jahr 1876, wie der universalistische Anspruch gesellschaftlicher Normen und kodifizierte Verhaltensweisen durchbrochen wurden. Am Beispiel der Slowenisch, Deutsch und Kroatisch schreibenden Autorin Zofka Kveder wird auf die Problematik ungenauer oder verfälschter Sprachbiographien aufmerksam gemacht, die ihren Ursprung in den tradierten nationalistisch geprägten Diskursen zu haben scheinen. Einen solchen Diskurs nimmt abschließend Miran Hladnik in den Blick, der sich in seinem Beitrag mit dem in der slowenischen Literaturgeschichte unterrepräsentierten Aspekt der Deutsch und Slowenisch schreibenden Autor_innen im slowenischen Raum des 19. Jahrhunderts beschäftigt und mit seiner Darstellung dezidiert von den bisher praktizierten Mustern ‚slowenischer‘ Literaturgeschichte als Geschichte der in slowenischer Sprache verfassten Literatur abrückt. Im Fokus steht das von nationalen Interessen, Programmen und Spannungen geprägte Verhältnis zwischen den um den Erhalt ihrer kulturellen Hegemonie ringenden ‚Deutschen‘ und den sich kulturell emanzipierenden ‚Slowenen‘. Der Beitrag will nicht als akademische Randnotiz verstanden werden, sondern soll Anreiz für eine breitenwirksame Neuverhandlung der Sinngebung von Identität bieten, zumal das Scheitern damaliger alternativer interkultureller Kulturkonzepte darauf zurückgeführt werden kann, dass nur die slowenischen Autor_innen zweisprachig waren. Indem Hladnik als Inspiration für seine neuerliche Auseinandersetzung mit den slowenisch-deutschen Verhältnissen im literarischen 19. Jahrhundert die Aufnahme von Autor_innen wie Maja Haderlap und Erika Johnson Debeljak in das gegenwärtige System slowenischer Literatur nennt, schließt sich in gewisser Weise auch der Kreis der in diesem Band behandelten Themen. Viele der angesprochenen Bereiche, die mit literarischer Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext zu tun haben, konnten nur gestreift werden, andere mussten hier gänzlich außer Acht gelassen werden. Doch wenn der Band mehr Fragen aufwirft als er zu beantworten vorgibt, dann, so die Hoffnung der Herausgeberin und des Herausgebers, vermag er vielleicht auch über den Mehrsprachigkeitsdiskurs hinaus etwas zu bewegen. 24 Andreas Leben (Graz), Alenka Koron (Ljubljana) Literaturverzeichnis Amann, Klaus (2003). Écrire une histoire littéraire régionale: Lʼexemple de la Carinthie. Übers. v. Bernard Banoun. In: Banoun, Bernard (Hrsg.). 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Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 29 Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme Marko Juvan (Ljubljana) Abstract: Drawing on Yildiz’s recent book on multilingualism and Beecroft’s work on the ecology of world literature, the present study focuses on the tendency of the social system of literature to reduce multilingualism in favour of either a single mother tongue (‘national’ literary language within national literary systems) or a single world language (within the world literary system). Whereas world literature initially evolves as a multilingual and autonomous system that is believed to transcend national literatures because of its universal values, particular national literatures fashion their individuality in the international space and having regard to the aesthetic transcendence of world literature. In late modern Europe, national literary systems normally show the transition from vernaculars functioning in a multilingual context (usually dominated by a cosmopolitan language) to monolingualism dominated by the ‘national’ literary language, whose standardisation underpins the public sphere of a particular national community. On the other hand, the world literary system is originally multilingual. Foregrounding multidirectional translation, world literature requires cosmopolitanism and polyglottism from its mediators. However, due to the asymmetric distribution of cultural capital, the world literary system tends towards monolingualism; that is, the global hegemony of world languages. Contrary to the cores of literary systems, national and global alike, which lean toward monolingualism, the systemic margins reproduce and even stimulate multilingualism (e.g. minority, regional or mobile literary practices). Keywords: literary systems, world literature, national literature, multilingualism, monolingualism Globalisierung ist ein allgemein verbreiteter Euphemismus für die Hegemonie der multinationalen Konzerne in den Händen der transnationalen Plutokratie, den schnellen Transfer von Finanzkapital, für Migration und die ungezügelte Ausbeutung von peripheren Arbeitskräften und Arbeitsmitteln, die neoliberale 30 Marko Juvan (Ljubljana) Unterminierung der Nationalstaaten und die militärische Vernichtung ungehorsamer Peripherien. In der Ideologie ihrer Metropolen erzeugte die sogenannte Globalisierung neben der Theorie und Praxis der Multikulturalität ein weiteres Phänomen: Auch in der Literaturwissenschaft verbreitet sich in letzter Zeit die These, das literarische Schaffen werde zunehmend mehrsprachig, oft auch sprachlich hybrid, sodass es sich in ein transnationales Phänomen im Spannungsfeld zwischen der Vorherrschaft des Englischen im literarischen Welt-System einerseits und der Polyzentralität und Mobilität der Schriftstellerinnen und Schriftsteller andererseits verwandle (vgl. Yildiz 2012: 1-29; Dembeck/ Parr 2017: 10-17; Gilmour/ Steinitz 2018: 1-15). Doch genau so verhält es sich mit dem Schrifttum in Europa bereits von der archaischen Zeit über die Antike und das Mittelalter bis hin zur frühen Neuzeit, nicht nur in der Literatur des Westens, sondern auch in anderen Zivilisationen (vgl. Forster 1970). Blickt man zurück in die Vergangenheit des heutigen Slowenien und seiner näheren Umgebung, so stößt man zwangsläufig auf viele Spuren von Mehrsprachigkeit. Neben den Freisinger Denkmälern ( Brižinski spomeniki ), der Sitticher Handschrift ( Stiški rokopis ) und den anderen Dokumenten des Schrifttums der Sprache, die im 19. Jahrhundert unter dem Namen Slowenisch standardisiert wurde, können die lateinischen und deutschen Handschriften für den kirchlichen und weltlichen Gebrauch nicht übersehen werden. Primož Trubar, der als Wegbereiter der slowenischen Literatur gilt, schrieb seine Briefe und die Vorworte zu seinen reformatorischen Schriften auf Deutsch, der Kaisersprache des Heiligen Römischen Reiches. Als solche war das Deutsche neben dem Lateinischen und Italienischen auch bei anderen Schreibern in Krain in Verwendung, angefangen von der Gegenreformation und dem Barock, über die Aufklärung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei dem Universalgelehrten Johann Weichard Valvasor, dem slowenischen Komödienschreiber Anton Tomaž Linhart und sogar dem sog. Nationaldichter France Prešeren. Diese Kultursprachen ermöglichten den Gelehrten die Arbeit in der europäischen ‚literarischen Republik‘. Davon zeugen die handschriftlichen Nachlässe Valvasors, Johann Ludwig Schönlebens, Siegmund Herbersteins, der Mitglieder der Academia operosorum in Ljubljana (Vidmar 2013), vor allem aber jene des Aufklärers Žiga Zois und des „Patriarchen der Slawistik“ Jernej Kopitar (Vidmar 2010). Und heute? Die Dezentralisierung der slowenischen Standardsprache kann bereits seit den umstürzlerischen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts verfolgt werden, welche im Umfeld der Studentenbewegung den ökonomisch-wirtschaftlichen Status quo zum Bröckeln brachten, und zwar auch mithilfe der theoretischen und literarisch-künstlerischen Dekonstruktion von allem, was bis dahin eine zentrale Position innehatte, von der herrschenden Partei und der bipolaren Weltordnung bis hin zur Literatursprache und Nationalliteratur, Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 31 zum Kunstwerk und zur kohärenten Struktur des Textes. Der Dichter Tomaž Šalamun gehörte zu den ersten, die in literarische Texte umgangssprachliche, englische, italienische und serbokroatische Elemente einflochten, der Dichter und Dramatiker Milan Jesih sowie der Schriftsteller Marko Švabić fügten alldem noch slowenische literarische Archaismen hinzu. Mit ihrem Spiel der Signifikanten, ihrem Ludismus, öffneten sich die Türen der Literatur für die Pluralisierung und Hybridisierung der slowenischen Literatursprache mit Fragmenten aus Dialekten, Soziolekten, benachbarten Sprachen und Weltsprachen sowie der ‚Kreolsprache‘ der Zuwanderer. Dennoch blieb die Autorenfunktion innerhalb des slowenischen literarischen Systems sowohl damals als auch in den folgenden Jahrzehnten noch jenen verwehrt, die für ihre Arbeit und ihre Publikationen nicht die slowenische Standardsprache verwendeten und nicht die slowenische Staatsbürgerschaft besaßen. Sogar Literaturschaffende der slowenischen Volksgruppen in Italien, Österreich oder Ungarn wurden im literarischen Feld des sog. Mutterlandes - ungeachtet der ihnen von Zeit zu Zeit verliehenen Literaturpreise - mehrheitlich eher an den Rand gedrängt. Bis zum kürzlich erfolgten internationalen Durchbruch der Triester literarischen Autorität Boris Pahor traten sie nicht als exponierte Protagonisten auf, welche die slowenische künstlerische Entwicklung und politische Geschichte mitbestimmen. Auch die slowenische Dialektliteratur konnte keine wirklich bemerkbare Strömung erzeugen, sondern wurde als kurzfristige Nische innerhalb des postmodernen Ethno-Angebots angenommen. Seit der Erlangung der Unabhängigkeit des Staates Slowenien machen sich im literarischen Feld auch Autorinnen und Autoren bemerkbar, die (teilweise) einen Migrationshintergrund haben und zweisprachig sind. Josip Osti, Lidija Dimkovska, Goran Vojnović und andere haben sich mit Publikationen in slowenischer Sprache in die Medien, Institutionen und Verbände des slowenischen literarischen Systems integriert; als slowenische Autoren setzen sie sich auch international durch. Jene Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund, die nicht auf Slowenisch schreiben und publizieren, sind jedoch immer noch ghettoisiert. Dies liegt einerseits an der Trägheit des „monolingualen Paradigmas“ (der Begriff stammt von Yildiz (2012)), das derartige Phänomene als Emigrationsbzw. Migrationsliteratur bezeichnet, d. h. als dislozierte Einheit aus anderssprachigen literarischen Systemen (vgl. Žitnik Serafin 2008). 1 Ihren Teil zur Exklusion haben in Slowenien auch die Fremdenfeindlichkeit und die Überlegenheitskomplexe gegenüber dem sog. Balkan beigetragen, die als Phä- 1 Žitnik Serafin (2008) spricht sich für ein Modell der Integration der Literatur von Einwanderern in das slowenische literarische Polysystem aus, womit sie dem liberalen Ideal der Multikulturalität und Integration folgt. 32 Marko Juvan (Ljubljana) nomen des nesting orientalism (Bakić-Hayden 1995) ebenso in anderen aus den Trümmern des Ostblocks und des blockfreien Jugoslawien entstandenen Staaten bekannt sind. Wenn also bereits ein oberflächlicher Blick offenbart, dass die Literatur in Slowenien nie lediglich einsprachig slowenisch war, wie kann man sich dann erklären, dass wir uns trotz der noch bis vor Kurzem den Diskurs der Political Correctness beherrschenden Idee der Multikulturalität 2 so hartnäckig an die Vorstellung klammern, dass sich jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller nur in der sog. Muttersprache authentisch ausdrücken könne, und dass jedem einzelnen Volk nur eine einzige Literatursprache und Literatur gehörten? Warum betrachten wir auch die Weltliteratur als Verbindung nationaler Literaturen in voneinander unterscheidbaren Sprachen, die ebenso räumlich getrennt und abgezählt werden können? Bei der Beantwortung dieser Fragen stütze ich mich auf zwei aktuelle Konzeptionen - auf Yildiz’ (2012) Kritik des „monolingualen Paradigmas“ und Beecrofts (2015) „Ökologie der Weltliteratur“ - und stelle die Problematik in einen breiteren historisch-theoretischen Kontext zwischen Bachtins (1979: 154-300) Idee der Heteroglossie und systemischen Zugängen (Even-Zohar 1990). Michail Bachtin betont die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Redevielfalt als diskursive Situation im Gegensatz zur einheitlichen Rede und Monologizität, d. h. der Vorherrschaft einer Rede über alle anderen. Die Redevielfalt bringt im Gegensatz zur Monologizität die Dialogizität hervor. Durch die Konfrontation, Verflechtung, Interaktion und Kreuzung unterschiedlicher Sprachen öffnet sich die Gesellschaft, die Durchsetzung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und konfliktträchtiger ideologischer Perspektiven wird ermöglicht. Somit nähert sich die (dialogisierte) Bedeutungsstruktur des gesellschaftlichen Diskurses an die unvollendete Komplexität der Wirklichkeit an, weshalb sie im wahrsten Sinne des Wortes modern, gleichzeitig zum Geschehen der Wirklichkeit selbst wird. Auch Itamar Even-Zohar betont in seiner Polysystemtheorie - darin interpretiert er das Kommunikationsschema bedeutungsvoll in Kategorien des Marktes - die evolutionäre Rolle der Heteroglossie, der Heterogenität und der Interferenzen, d. h. der Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Sprachen und Systemen. Mit Interferenzen könne nach 2 Bereits seit dem Anstieg des islamischen Radikalismus und Terrorismus sowie der islamophoben Reaktion des Westens darauf, viel stärker aber noch seit der sog. Migrationskrise in den letzten fünf Jahren weicht der liberale Gerechtigkeitsjargon mitsamt seiner Idee der Multikulturalität einem restaurativen nationalistisch-faschistischen und rassistischen Populismus, der in die öffentlichen Medien und die etablierte Politik, mit dem aktuellen US-Präsidenten auch in die internationale Wirtschaft und Geopolitik vorgedrungen ist. Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 33 Even-Zohar die Stagnation in den Systemen, die sich ansonsten an ihr eigenes Repertoire klammern und zu erstarren drohen, überwunden werden. Vor dem Hintergrund von Bachtins und Even-Zohars Auffassungen, welche die Mehrsprachigkeit als Triebfeder der literarischen Entwicklung sowie als Kriterium für Modernität betrachten, stellt sich noch viel dringlicher die Frage, warum gerade die schon seit etwa 200 Jahren vorherrschenden modernen literarischen Systeme (die nationalen literarischen Systeme und das literarische Welt-System) in ihrer Entwicklung von der Mehrsprachigkeit zur Einsprachigkeit strebten. Sowohl Yasemin Yildiz als auch Alexander Beecroft weisen die feste Formel ‚Eine Sprache - ein Volk - eine Literatur‘ zurück. Selbst eine Sprache, die über eine eindeutige ethnische Denomination und sprachwissenschaftliche Standardisierung verfügt, ist tatsächlich nur eine von mehreren dialektal, funktional und soziolektal varianten Praktiken, welche durch einige phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische Merkmale zu einer Einheit verbunden werden. Die Standardvariante nimmt im sprachlichen Diasystem aufgrund ihrer durch die Verschriftlichung und die Medien unterstützten Normierung, Stabilität und allgemeinen Verbreitung, noch mehr aber aufgrund ihrer Repräsentativität bei der Gestaltung und Verbreitung von für den Bestand des Staates, der Religion, der Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit bedeutenden Inhalten eine zentrale Stellung ein. Die innere Schichtung und Varianz, in der die einzelne Sprache lebt, wird durch die Durchlässigkeit zwischen ihren Dialekten und den Dialekten der Nachbarsprachen noch zusätzlich verkompliziert. Die Abgrenzungen zwischen ihnen sind nicht linguistischer Art, sondern das historische Produkt von Ideologien sowie geopolitischen und religiösen Faktoren. Nicht zuletzt haben auch langfristigere Kontakte zwischen den Sprachen unterschiedlicher Völker, zu welchen es aufgrund von Migrationen, Eroberungen oder der Herrschaft des einen Volkes über andere kam, in jede Sprache auch fremdsprachige Beimengungen gebracht; demzufolge ist keine Sprache rein und autonom. Ähnlich wie mit den Sprachen verhält es sich mit den Literaturen der Welt. Obwohl der Begriff Literatur zweifellos moderner und europäischer Herkunft ist, möchte uns Beecroft (2015: 8-14) davon überzeugen, dass eine nicht-eurozentrische Erörterung dieses Phänomens nichtsdestotrotz möglich sei, existierten doch auch in anderen Zivilisationen Konzeptionen, welche - ähnlich der europäischen Ästhetik ab dem 18. Jahrhundert - einen Diskurs hervorbringen, der anspruchsvoller gestaltet und schwerer begreifbar für ein gebildetes Publikum bestimmt und imaginativ sei. Literatur ist also etwas Universelles. Und was ist mit den Literaturen, könnte man mit Beecroft (2015: 14-17) fragen. Gehört jede Literatur einer räumlich und ethnisch festgelegten Gemeinschaft? 34 Marko Juvan (Ljubljana) Johann Wolfgang von Goethe, der nach August Ludwig von Schlözer, Historiker der Aufklärung und Begründer des Begriffs Weltliteratur , ebendiesen in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts unter den europäischen Weltbürgern verbreitete, stellte sich im Aufsatz Epochen geselliger Bildung im Jahr 1831 die weltweite Entwicklung des literarischen Schaffens als Abfolge von der „idyllischen“ Epoche der engen, sprachlich selbstgenügsamen Gemeinschaften bis zur kommenden „universellen“ Epoche der weltweiten kulturellen Interaktion vor (Goethe 1999: 554-555). Nach ähnlichen Überlegungen über verschiedenartige soziale Gemeinschaften, innerhalb welcher in unterschiedlichen Zeitabschnitten und Zivilisationen die Wortkunst lebte, integrierten im 20. Jahrhundert die vergleichenden Literaturwissenschaftler Dionýz Ďurišin (1984: 273-308; 1992: 109-138) und Irina Neupokoeva (2012) das Konzept der Nationalliteraturen in ein System von Begriffen für sozialgeschichtliche Einheiten der literarischen Kommunikation; solche Begriffe sind zum Beispiel der Stamm, der antike und mittelalterliche Stadtstaat, die mittelalterliche Ethnie, die moderne Minderheit, die regionale Zone oder die interliterarische Gemeinschaft, welche durch Sprache, Religion, geographische Lage oder einen staatlich-politischen Rahmen verbunden ist. In der heutigen Zeit, die erstaunlicherweise auch in der Geisteswissenschaft zwischen dem transnationalen Trieb der (neo)liberalen Globalisierung und einem neu erweckten Nationalismus und Rassismus des rechtspopulistischen Widerstands gegen die Globalisierung pendelt, versucht mit ähnlichen Kategorien wie Neupokoeva und Ďurišin auch Alexander Beecroft die tief verwurzelte Annahme in Frage zu stellen, dass die Nationalliteratur das Elementarteilchen der Weltliteratur sei. In der Geschichte des Nordens und Südens, des Ostens und Westens der Welt schält er nämlich neben dem nationalen noch viele andere „Ökosysteme“ des Literaturkreislaufs heraus, welche die Weltliteratur geprägt haben. Er nennt sie die epichorische, panchorische, kosmopolitische, vernakuläre, nationale und globale Literatur (Beecroft 2015). Archaische isolierte Gemeinschaften, zum Beispiel die griechische Polis oder die altchinesischen Stadtstaaten, gehen laut Beecroft von der sog. epichorischen zur panchorischen Ökologie über, sobald sich ihr selbstgenügsames Schrifttum und ihre Sprache über die gemeinsame Schrift und mythologisch-historische Vorstellungswelt oder über andere Gemeinsamkeiten mit ähnlichen Gemeinschaften in der näheren oder weiteren Nachbarschaft verbinden. Der zwischen ihnen stattfindende Austausch von Artefakten und Erzählungen, in welchen die Attribute der einzelnen Poleis und Gegenden zusammengefasst sind, schafft das Bewusstsein einer gemeinsamen sprachlich-kulturellen Zugehörigkeit, in welcher die lokalen epichorischen Kulturen eine Rolle erhalten, die über ihren Raum hinausgeht, so zum Beispiel im antiken Panhellenismus und dessen System von regional-dialektal markierten Stilen und Genres. Die sog. kosmopolitischen Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 35 Ökologien, charakteristisch auch für das römische Imperium oder das islamische Kalifat, entstanden in Gebieten, wo jahrhundertelang eine prestigeträchtige Religions- oder Herrschaftssprache vorherrschte und verschiedene Völker, die ansonsten unterschiedliche lokale Sprachen verwendeten, miteinander verband. Aus den kosmopolitischen Ökologien entstanden später (in Europa ab dem späten Mittelalter) zahlreiche vernakuläre Ökologien, denen Beecroft besondere Aufmerksamkeit widmet. In diesen statteten die Gelehrten nach dem Vorbild der kosmopolitischen Sprachen die heimischen Sprachen mit einer passenden Schrift aus, normierten sie grammatikalisch und verwendeten sie bewusst als Ausdruck einer höheren Kultur, vor allem der Literatur. Wie die Beispiele Martin Luthers und Primož Trubars zeigen, entstanden die Vernakulare oftmals aus den Bedürfnissen religiöser Bewegungen wie der Reformation, aufgrund derer es zur Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen kam, die damit auf die literatursprachliche Ebene gehoben wurden. An den Ausgangspunkten der vernakulären Manifeste, wie Beecroft Dantes Aufsatz De vulgari eloquentia oder Du Bellays Apologie La Défense et illustration de la langue française nennt, begannen sich die dem Lateinischen als Sprache der kosmopolitischen literarischen Republik untergeordneten Volkssprachen in ihrem Bestreben, die ungleichen Schichten der engeren ethnisch-sprachlichen bzw. religiösen Gemeinschaften gleichermaßen anzusprechen und zu verbinden, literarisch zu verselbstständigen. Beecroft erklärt in weiterer Folge, wie sich, basierend auf der vernakulären Ökologie und unter dem Einfluss der bürgerlich-revolutionären Idee von der Souveränität der Nation und des deutschen Kulturnationalismus, in Europa die nationalen Ökologien verbreiteten. Die Nationalismen brachten im langen 19. Jahrhundert retrospektive Interpretationen hervor, welche die ältere literarische Produktion (vor allem die vernakuläre) als Beweis für die kontinuierliche hundertjährige Geschichte einer erdachten Nation heranzogen. Gerade innerhalb dieser ideologischen Konstellation, die sich aus Johann Gottfried von Herder und Wilhelm von Humboldt speiste, erhärtete sich auch das „monolinguale Paradigma“, von dem Yildiz (2012: 1-4) spricht. Die nationale literarische Ökologie zeichnet sich nämlich durch ihre Vorstellung aus, die „Muttersprache“ sei die natürliche Ausdrucksform des Sprachkünstlers und Identitätsmarker des Volkes, welchem eben jener von Geburt angehört; einzig und allein in der Muttersprache ist der Geist eines Volkes, seine unverwechselbare Eigenart, verkörpert (ebd.: 6-14). Meinen Feststellungen zufolge begann sich die globale Ökologie, die nach Beecroft erst für den heutigen Kreislauf der Literatur in den Weltsprachen auf dem internationalen Buchmarkt typisch ist, 3 bereits parallel zur nationalen Öko- 3 Darin entspricht sie auf kultureller Ebene dem Transnationalismus des globalen Kapitals. Die globale Ökologie übersteigt nach Beecroft den Rahmen der internationalen Ökologie 36 Marko Juvan (Ljubljana) logie herauszubilden, wenngleich ich Beecrofts These zustimme, dass die heutige globale Ökologie das System der modernen Nationalliteraturen als Elemente der Weltliteratur noch übertrifft. Beecroft vergisst, dass gerade das Konzept der Weltliteratur, das im 19. Jahrhundert gemeinsam mit den Nationalliteraturen eingeführt wurde ( Juvan 2012: 153-160), bereits Ansätze der Marktglobalisierung enthielt, welche damals den literarischen Kreislauf und Austausch zu bestimmen begann. Das exklusive Paar „national - weltweit“, durch das die Vorstellung von der Weltliteratur als internationaler Literatur geschaffen wurde, geht auf Goethes meistbeachtete Definition der Weltliteratur zurück. Goethe führt nämlich die Weltliteratur im Gespräch mit Eckermann als neue Entwicklungsstufe der Wortkunst ein, auf welcher die Nationalliteratur ihre Bedeutung verliert. 4 Er sieht sie als Ankündigung einer Epoche, in welcher die angebliche Selbstgenügsamkeit der Nationalliteratur - eines von Herder Ende der Sechzigerjahre des 18. Jahrhunderts eingeführten Begriffs - durch den Kontakt der gebildeten bürgerlichen Eliten aus verschiedenen Teilen der Welt sowie den durch Handel und Übersetzungen bedingten Austausch von literarischen Gütern zwischen den Völkern, Sprachen und Zivilisationen überwunden wird. Eine derartige Interaktion mit dem Andersartigen sowie die Suche nach dem „allgemein Menschlichen“ sollte nach Goethe auch die einzelnen Sprachen und Literaturen schöpferisch erneuern. Andererseits erahnte er in seinen ökonomischen Metaphern bereits die Umrisse des internationalen Literaturmarktes, auf dem die nicht gleichberechtigten Nationalliteraturen sowie die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ungleichen Sprachen nicht nur ihre geistigen Waren austauschen und sich so in wechselseitigem Verständnis und Dialog gegenseitig befruchten, sondern auch miteinander konkurrieren und um die Gleichberechtigung auf Ebene der kulturellen Ökonomie kämpfen. Mehr noch, Goethe sah als Anhänger einer kosmopolitischen kulturellen Aristokratie sogar die Gefahr voraus, dass der transnationale Buchmarkt einer trivialen Massenproduktion den Vorzug geben könnte, die sich mit ihrer ästhetisch unwürdigen Uniformität bei den Massen beliebt machen würde (Goethe 1999: 866-867; Juvan 2012: 121). (die den Hintergrund für den traditionellen Begriff der Weltliteratur bildet) auf zwei sich scheinbar widersprechende Weisen: durch die von den dominanten Weltsprachen und ökonomisch zentralen, politisch hegemonistischen Staaten ausgehende sprachlich-literarische Homogenisierung und durch die Affirmation kleiner Minderheitensprachen und -praktiken. (Beecroft bringt dies nicht in Zusammenhang mit der neoliberalen Idee des Multikulturalismus, die lediglich eine Fassade für die Praktiken der Homogenisierung und Hegemonie bildet.) 4 „Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ (Eckermann 1955: 211). Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 37 Wie ich an anderer Stelle im Detail erörtere, begründete Goethe seine Idee der Weltliteratur im halbperipheren, zersplitterten Deutschland, das scheinbar hinter Frankreich und England, dem Zentrum der westlichen Welt, zurückblieb ( Juvan 2012: 109-111). Als kosmopolitische Utopie, in welcher sich die Begeisterung über einen internationalen Kulturmarkt mit der Idee von der ästhetischen und interliterarischen Kultivierung einer allgemein menschlichen Ethik verflicht, brachte sie einen andauernden Metadiskurs über die Universalität der Weltliteratur hervor - jedoch, und das ist symptomatisch, aus einem partikulären, nationalistischen Blickwinkel. Goethe sah nämlich im Kreislauf der literarischen Werke über nationale und sprachliche Grenzen hinaus sowie im Aufschwung des geistigen Austausches eine Gelegenheit dafür, dass sich eine halbperiphere Nationalliteratur, was die deutsche seiner Ansicht nach war, sowohl mit ihrer Original-Produktion als auch mit ihren Übersetzungs- und Vermittlungskompetenzen international durchsetzt; immerhin war das Deutsche eine kaiserliche, zahlreichen kleineren Sprachen überlegene Sprache. Auch die Praxis der Weltliteratur, die mit Übersetzungen, Inszenierungen, Kritiken und ähnlichen Rezeptionsformen die wirksame Präsenz literarischer Werke außerhalb ihres heimatlichen Umfeldes ermöglichte (vgl. Damrosch 2003: 4), entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert vor dem Horizont des Metadiskurses über die Wortkunst als ästhetisch autonomem Raum für den sprachlich-kulturellen Austausch zwischen den Völkern und Zivilisationen weiter. Wie Pascale Casanova (1999: 155) betont, waren die Nationalliteraturen im langen 19. Jahrhundert zwischen zwei Pole gespannt: Eine Seite sprach sich für die Verwurzelung der Heimatsprache und -literatur aus, die andere Seite hingegen orientierte sich an den vorgeblich höher entwickelten, moderneren Zentren. Aus dieser Perspektive hätten sich die Nationalliteraturen mit der Verinnerlichung universeller ästhetischer und humanistischer Werte der Weltliteratur auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben. Allgemein positionierten sich die Nationalliteraturen international, durch gegenseitige Nachahmung und wettbewerbsorientierte Vergleiche, auch wenn das von ihren Protagonisten geleugnet wurde. Als Maßstab für die internationale Anerkennung der Werke einer Nationalliteratur, die auf die Bestätigung durch die Eliten der Metropolen warteten, stellte man sich auf dem kosmopolitischen Pol eine generalisierte ästhetische Transzendenz aus Musterwerken vor, die sich im ewigen Kanon der Menschheit gefestigt hatten oder internationalen Ruhm genossen. Das moderne nationale Literatursystem formierte sich - insbesondere wenn es ein peripheres war - typischerweise so, dass das multifunktionale Schrifttum, das in einer Situation wirkte, in welcher die Volkssprache im Schatten der kosmopolitischen, staatlichen beziehungsweise imperialen Sprache stand, 38 Marko Juvan (Ljubljana) nach und nach zu einer einsprachigen Literatur mit ästhetischer Bestimmung bereinigt wurde. Das Paradoxe daran ist, dass die Standardsprache, die in der sog. nationalen Ökologie zum Identitätsmarker der Volksgruppe wurde, als Vernakular nach dem Muster einer kosmopolitischen oder kaiserlich-imperialen Sprache - zum Beispiel des Lateinischen - grammatikalisch standardisiert wurde (vgl. Beecroft 2015: 153-178). Dabei wurde die nationale Standardsprache grammatikalisch, lexikalisch und rhetorisch auf eine Weise kultiviert, die mit dem Verhältnis zwischen dem Nationalen und dem Weltweiten in der Literatur übereinstimmt: Über den Wissenschafts- und Kunstdiskurs sowie die bildungsbürgerliche Eloquenz absorbierte sie Thematiken, Register und Imaginationen, die von internationalem Prestige, zivilisatorischer Zentralität und Universalität zeugen sollten. Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Nationalem und Weltweitem bei der Entstehung der ästhetischen Literatur kann durch die Geschichte vom Übergang vom multifunktionalen, mehrsprachigen Schrifttum in Slowenien zur einsprachigen slowenischen Literatur veranschaulicht werden (vgl. Juvan 2012: 235-284). Ende des 18. Jahrhunderts formuliert der Protagonist des ersten slowenischen Lyrik-Almanachs Pisanice od lepeh umetnost , der Klassizist Anton Feliks Dev, in seinen slowenischen Gedichten das utopische Programm für die lexikalisch-grammatikalische Standardisierung einer ( Krainer ) Volkssprache, auf welche die Blütezeit der Krainer Literatur und die Geburt der hiesigen Klassik nach Vorbild des antiken Parnass folgen sollten. Wie Beecroft also für die Vernakularisierung allgemein feststellt, positioniert Dev das entstehende nationale literarische Ökosystem vor dem normativen Hintergrund des latinistischen Kosmopolitismus und der griechisch-lateinischen Klassik. Fortgesetzt wird die Geschichte mit dem romantischen Dichter Prešeren, der zwar auch in der Kaisersprache Deutsch publizierte, seine Lyrik in slowenischer Sprache jedoch als Beitrag zum Kultivierungsprozess verstand, durch welchen die slowenische Standardsprache gerade auf dem Gebiet der Lyrik die Stufe einer höher entwickelten und einflussreicheren Kultursprache erreichen sollte. Im Kreise des Lyrik-Almanachs Krajnska čbelica stellte er, unterstützt durch die ästhetisch-philosophischen und komparatistischen Konzepte Matija Čops, die im Entstehen begriffene nationale Ökologie vor den Hintergrund einer globalen Ökologie, d. h. in Beziehung zur Weltliteratur. Diese erhielt in Goethes Weimar gerade zu dieser Zeit ihre Begrifflichkeit. Im Geiste des ästhetischen Universalismus der Gebrüder Schlegel versuchte Prešeren das lyrische Slowenisch auf eine international vergleichbare Ebene zu stellen, indem er die Vorstellungswelten, Versformen und Stilregister der Weltliteratur von der antiken Klassik über europaweit anerkannte mittelalterliche und neuzeitliche Meister der Dichtkunst bis hin zu neueren berühmten Autoren wie zum Beispiel Gottfried A. Bürger, Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 39 George N. Byron oder Adam Mickiewicz intertextuell verarbeitete. 5 Als die Nationalbewegung in ihrer politischen Phase Prešeren bis zum Ende des Jahrhunderts posthum als Nationaldichter kanonisierte, vollendete sich auch der Prozess, durch welchen die einsprachige ästhetische Literatur zur nationalen Institution wird (vgl. Močnik 2006: 219-226). Der Kulturnationalismus begreift die slowenische Literatur auf Grundlage des nationalen Ökosystems nach Beecroft als fundamentale gesellschaftliche Bindung, die in den öffentlichen Medien die in unterschiedliche Klassen, Territorien, verwaltungspolitische und dialektale Einheiten gespaltene Gemeinschaft der Slowenen vereinheitlicht. Die Ansätze einer nationalen Literaturgeschichte mit ihren narrativen Interpretationen ergänzen auf fachlicher Ebene die innerliterarischen und politischen Strategien, mit welchen sich eine Nation ein Vergangenheitsbild erschafft, indem sie sich - wie in Beecrofts allgemeinem Konzept der nationalen Literaturökologie (2015: 197-215) dargestellt - selektiv die vernakuläre Überlieferung aneignet, andererseits aber die frühere Mehrsprachigkeit marginalisiert und auf die Vorherrschaft des kosmopolitischen Lateinischen vergisst. Mehr noch, im 19. Jahrhundert entsteht die lang andauernde ideologische Vorstellung von der Nationalliteratur als Ersatz für die fehlenden politischen Institutionen. Und die Weltliteratur? In ihrem ursprünglichen Konzept, das den transnationalen Kreislauf, den gleichberechtigten interkulturellen Austausch zwischen den Nationen und Zivilisationen, ihren wechselseitigen Dialog und ihr gegenseitiges Verständnis begrüßte, war die Weltliteratur mehrsprachig. Sie forderte kosmopolitische Offenheit und Polyglottismus, pries jedoch gleichzeitig die vermittelnde Bedeutung des Übersetzens. Die vergleichende Literaturwissenschaft als neue literaturgeschichtliche Disziplin, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte, die nationale Literaturgeschichte zu übertreffen, berücksichtigte von ihren Anfängen an den über das Nationale hinausgehenden Horizont (vgl. Schulz/ Rein 1973). Auch bei der Behandlung der Weltliteratur betont sie bis heute die Mehrsprachigkeit und fordert deshalb den philologischen Vergleich von Texten im Original (vgl. Étiemble 2012; Spivak 2003; Apter 2013). Anders als die vergleichende Literaturwissenschaft halten sich die World Literature Studies, die sich aus der akademischen Auseinandersetzung mit den großen Werken der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, lieber an die Übersetzung. Wie unter anderen auch Astradur Eysteinsson (2006) betont, ist die überwiegende Daseinsform der Weltliteratur gerade die Übersetzung. Jede Sprache und jede Nationalliteratur aktualisiert über die Übersetzungen auf ihre Weise die Reper- 5 Darin entspricht Prešeren dem Muster der Vernakulisierungsstrategien, welche die Volkssprache auf ähnliche Weise durch Nachahmung des kosmopolitischen Kanons und der Sprache kultivieren (vgl. Beecroft 2015: 159-173). 40 Marko Juvan (Ljubljana) toires der Weltliteratur. Die Weltliteratur ist also mehrsprachig, jedoch nicht so sehr aufgrund der Mehrsprachigkeit der Originale als vielmehr wegen der Mehrsprachigkeit der Übersetzungen. Jedoch waren die Sprachen, deren Literaturen die Weltliteratur bilden, nie gleichberechtigt, und auch die einzelnen Literaturen hatten nicht den gleichen Zugang zu transnationaler Zirkulation. Davon sprachen bereits vor Jahren Pascale Casanova (1999) und Franco Moretti (2000, 2016), die beiden Theoretiker der Asymmetrie zwischen den Zentren und Peripherien im weltweiten literarischen Raum. So beherrschen die Weltliteratur bereits seit zumindest zweihundert Jahren die Nationalliteraturen der großen, staatspolitisch und militärisch einflussreichen Staaten, welche dem Zentrum des wirtschaftlichen Welt-Systems angehören. Unter den Sprachen, welche die Repertoires der Weltliteratur bildeten und distribuierten, herrschen also die sog. Weltsprachen vor (vgl. Eoyang 2003; Heilbron 2010). Wie bei der ersten unter ihnen, dem globalen Englisch, handelt es sich hierbei in der Regel um große Sprachen mit imperialem oder kolonialem Hintergrund. Den ökonomischen Schnittpunkt zwischen den beiden asymmetrischen Systemen der Sprachen und der Literaturen bildet das transnationale Verlagswesen. Die Metropolen, in welchen sich die transnationalen Verlage befinden, sind also der bedeutendste Faktor, sie „konsekrieren“ ein einzelnes Werk und schicken es durch die Übersetzung in eine Weltsprache und mit den Empfehlungen der Autoritäten aus den Metropolen in den weltweiten Umlauf (Casanova 1999: 165-175, 180-187; Sapiro 2016). Erich Auerbach ahnte bereits im Jahr 1952 die Gefahr hinter einer derartigen Globalisierung des Literarischen. Er sah voraus, dass sich die Weltliteratur von einer humanistischen Mehrsprachigkeit und kulturellen Vielfalt zu einer einsprachigen - weltsprachlichen - und kulturell vereinheitlichten Ware wandeln wird: Unsere Erde, die die Welt der Weltliteratur ist, wird kleiner und verliert an Mannigfaltigkeit. […] Und was geschieht heute, was bereitet sich vor? Aus tausend Gründen, die jeder kennt, vereinheitlicht sich das Leben der Menschen auf dem ganzen Planeten. Der Überlagerungsprozeß, der ursprünglich von Europa ausging, wirkt weiter und untergräbt alle Sondertraditionen. Zwar ist überall der Nationalwille stärker und lauter als je, aber überall treibt er zu den gleichen, nämlich den modernen Lebensformen […] Die europäischen oder von Europäern gegründeten Kulturen, an langen fruchtbaren Verkehr miteinander gewöhnt und überdies durch das Bewußtsein ihrer Geltung und Zeitgemäßheit gestützt, bewahren noch am besten ihre Eigenständigkeit gegeneinander, obwohl auch hier der Ausgleichsprozeß weit rascher fortschreitet als früher. Über alles andere breitet sich die Standardisierung […] Sollte es der Menschheit gelingen, sich durch die Erschütterungen hindurchzuretten, die ein so gewaltiger, so reißend schneller und innerlich so schlecht vorbereiteter Konzentrationsprozeß mit Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 41 sich bringt, so wird man sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß auf einer einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur, ja selbst in vergleichsweise kurzer Zeit nur wenige literarische Sprachen, bald vielleicht nur eine, als lebend übrigbleiben. Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört. (Auerbach 1952: 39) Wie wir festgestellt haben, hat der sich nach der Aufklärung entwickelnde Kulturnationalismus die Nationalliteratur und das monolinguale Paradigma als Institutionen konstituiert, die der imaginierten Nation gesellschaftliche Kohäsion nach innen sowie internationale Erkennbarkeit und Vergleichbarkeit nach außen gewährleisten. Das globale Ökosystem, in dem die Nationalliteraturen aufeinandertreffen, miteinander konkurrieren und sich miteinander verbinden, wird von der Weltliteratur durch die Universalisierung des westlichen ästhetischen Diskurses definiert. Die ausschließlich in der zur Standardsprache erhobenen Muttersprache gedruckte Nationalliteratur wurde von den Nationalbewegungen, die der imperial-kosmopolitischen Ökologie untergeordnet waren, ideologisch als Weg zur politischen Subjektivität aufgefasst. Ihr Ideal - auch wenn es nicht realisierbar war und durch Kompromisse ersetzt wurde - war der Nationalstaat. Der Nationalstaat wiederum ist eine Größe der kapitalistischen Ökonomie, die einen gemeinsamen Markt schafft, lokale Hindernisse beseitigt sowie ideologisch und juristisch Klassenunterschiede neutralisiert. Wie Immanuel Wallerstein (1991: 140-156; 2006) zeigt, förderte der Kapitalismus deshalb bei seiner Expansion zum Welt-System die Entstehung von Nationalstaaten, auch außerhalb Europas. Je nach Akkumulierung des global geschaffenen Mehrwerts gab die Wirtschaft den Staaten strukturell ihre Position im weltweiten Zentrum, an der Halbperipherie oder Peripherie vor. Aufgrund der Verflechtung wirtschaftlicher, sprachlicher, politischer und kultureller Faktoren, die den internationalen Buchmarkt bestimmen, entwickelte sich in den letzten zwei Jahrhunderten auch im internationalen literarischen Welt-System eine Trennung in Zentren und Peripherien (vgl. Habjan 2012; Steiner 2012; Sapiro 2016; Brouillette 2016). Auf diesen Grundlagen erfolgt die Schlussfolgerung, in welcher nun endlich auch der im Titel des Beitrages angekündigte Systembegriff thematisiert wird. Eine zwingende Voraussetzung für die Entstehung von jeglicher Art von System ist, dass es sich von seiner komplexen Umgebung abgrenzt und sich über die Aufrechterhaltung dieser Abgrenzung in seinem Inneren strukturiert. Das System reduziert die Komplexität der Umgebung, indem es die ihm inhärenten Begrenzungen und (Aus-)Wahlmöglichkeiten einführt, welche ihm das nötige Gleichgewicht verleihen (vgl. Luhmann 2006: 45-52). Literatur als System reduziert also unausweichlich die Komplexität der bestehenden gesellschaftlichen 42 Marko Juvan (Ljubljana) Interaktion und Heteroglossie (vgl. auch Apter 2013: 45-56), und zwar über die Selektion ihrer Elemente aus dem in ihrer Umgebung verfügbaren Material und die Strukturierung der Verhältnisse zwischen ihnen. Das literarische System - sowohl das nationale als auch das Welt-System - weist nicht nur die erwähnte allgemeine systemische Reduktion der Komplexität auf; ein weiteres Charakteristikum ist seine gesellschaftlich-institutionelle Daseins- und Funktionsart (vgl. Schmidt 1980: VIII-IX). Die Sozialität des literarischen Systems hat im neuzeitlichen Kapitalismus, dem weltweiten Kriterium für Modernität, gleichzeitig eine marktfähige Grundlage. Even-Zohar (1990: 31) reinterpretiert in diesem Sinne Jakobsons strukturalistisches Kommunikationsschema auf materialistische Weise: Die Verbindung zwischen Produzenten und Konsumenten, welche durch das Produkt (d. h. Jakobsons Mitteilung, der literarische Text) gebildet wird, wird ermöglicht durch die Institution (in der Rolle des Kontextes), das Repertoire (in der Rolle des Codes) und den Markt, der anstelle des strukturalistischen Kanals auftritt. Der Begriff System zielt also in Zusammenhang mit Literatur auf die Akteure ab, die über spezialisierte Institutionen und Medien mit ihrem Tun literarische Produkte auf den Markt und von dort in einen diskursiven Umlauf begleiten, in welchem den Texten auf Grundlage der Semiose gesellschaftliche Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben werden. Gerade ein solches System neigt bei Regulierung seiner Struktur zur selektiven Reduktion der verfügbaren Elemente, sodass seiner internen Logik zufolge der literarischen Einsprachigkeit der Vorzug gegenüber der vorsystemischen Mehrsprachigkeit gegeben wird. Warum? Der Buchdruck als neuzeitliches Medium, das durch die verhältnismäßig kostengünstige Reproduktion von Texten deren Zirkulieren unter zahlreichen Leserinnen und Lesern ermöglichte (während die Handschriften vor allem eine Domäne der Eliten waren), benötigte für seine materielle Reproduktion den Massenkonsumenten. Deshalb strebte der Kapitalismus des Buchdrucks zusammen mit dem Buch- und Zeitungsmarkt nach wirtschaftlicher Logik auch eine Vereinheitlichung der Sprache an, über welche höhere Auflagen der gedruckten Texte leichter an einen weiteren Kreis von Leserinnen und Lesern - die ansonsten unterschiedliche Dialekte und Soziolekte verwendeten - vermittelt werden konnten. Die ökonomische Logik des Kapitalismus des Buchdrucks, die wachsende Reichweite gedruckter Medien und der philologische Eifer der sog. „nationalen Erneuerer“ sowie die nationalistische Politik betonten also die Nation als moderne Form der Gemeinschaft, wie Benedict Anderson (1998: 39-47, 77-133) in seinem berühmten Buch erläutert. Nach der gleichen Logik bildet sich auch die Nationalliteratur in der vereinheitlichten Standardsprache heraus. Sobald sich die multifunktionelle und mehrsprachige literarische Schaffenskraft innerhalb eines Systems der Nationalliteratur zu organisieren beginnt, das mit Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme 43 seinen gedruckten Medien in bürgerlichen Gesellschaften für die ästhetische Konsumation und nationale Identifikation bestimmt ist, reduziert sie sich in der einsprachigen ästhetischen Literatur. Diese kann eine räumlich zerstreute und heterogenisierte Öffentlichkeit ansprechen und sie über den Buchdruck und den Buchhandel, welche über den feudalen Länder-Partikularismus hinausreichen, zu einer imaginären Einheit eines nationalen Körpers vereinen. Die Reduktion der sprachlichen Komplexität der Umwelt auf die vorherrschende Einsprachigkeit des Drucks übernahm gerade durch die ästhetische Vervollkommnung der einen und einmaligen Sprache in den Texten des literarischen Systems eine repräsentative Funktion. 6 Die Literatur begründete aufgrund ihrer Repräsentativität das Modell der Standardsprache, die kanonisierten Schriftsteller bildeten einen Fundus an Vorbildern für zukünftige grammatikalische Normen. Als die Literaturen der Welt - parallel zur modernen Nationalisierung und zum Ausbau der einzelnen literarischen Systeme - sich im langen 19. Jahrhundert in ein literarisches Welt-System zu organisieren beginnen, das durch eine institutionelle Asymmetrie zwischen den Kerngebieten der Konsekration und den ihnen untergeordneten Randgebieten gekennzeichnet ist, beginnt sich über die Dominanz von Übersetzungen und Verlagen auf dem transnationalen Markt auch die Vielzahl der Sprachen zu verringern; die eine globale Sprache verschlingt sie. Die Institutionen und Medien literarischer Systeme sind demnach eine Form der Materialisierung von Kapital, schließlich benötigen sie dieses für ihren Fortbestand und ihre Reproduktion. Die nationalen literarischen Systeme haben ihre Funktion nicht nur als Marktsektor der nationalen Ökonomie, sondern auch als ideologisches Attribut und Identitätsmarker des Nationalstaates. Das internationale literarische System ist, analog dazu, nicht nur ein globaler Kulturmarkt, sondern auch ein ideologisches Attribut der globalen kulturellen Dominanz der ökonomisch und politisch zentralen Staaten. Michail Bachtin, Jurij Lotman und Itamar Even-Zohar zufolge tendieren die Zentren kultureller Systeme zu Einsprachigkeit, Stabilität und ideologischer Einförmigkeit, die Randgebiete hingegen förderten Mehrsprachigkeit und seien deshalb in ihrer Entwicklung dynamisch, ideologisch pluralistisch und konfliktträchtig (vgl. Kliger 2010). Ohne Input aus den Randgebieten würden die Kulturen stagnieren, ohne die Peripherien würden aber auch die Zentren der Weltwirtschaft stagnieren. Jedoch kann ein solches Lob der Mehrsprachigkeit (auch wenn es theoretisch durch die Affirmation von Randgebieten und der Po- 6 Eine Literatur mit einer vereinheitlichten, künstlerisch kultivierten Sprache beweist vor dem heimischen Publikum und dem imaginierten Anderen (dem Zentrum des Imperiums, der internationalen Gemeinschaft usw.) die geistige Kraft und Individualität der Gemeinschaft, welche in der Ideologie des kulturellen Nationalismus das Hauptkriterium für die Anerkennung einer Nation darstellen. 44 Marko Juvan (Ljubljana) lyzentralität noch so gut untermauert ist) nicht viel mehr sein als ein Beitrag zur Wiederbelebung der im Sterben begriffenen liberalen Idee der Multikulturalität, solange es den Schritt zur radikalen Kritik an der hegemonialen Einsprachigkeit und ihrer ökonomisch-politischen Hintergründe nicht vollzieht. Erst eine materialistische Auffassung des Begriffes System enthüllt die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, welche die Ideologie der Multikulturalität verdeckt und deren Furcht einflößende Phänomenologie sie abzuschwächen versucht. Die echte Herausforderung liegt also darin, das bestehende internationale System trotz seiner gigantischen Vorherrschaft zu verändern. Gerade das welt-systemische Kapital übt nämlich über die Institutionen des Kulturmarktes Druck auf die Sprachen aus, drängt sie zur (literarischen) Einsprachigkeit und verunmöglicht Gedanken über Alternativen zur bestehenden Hegemonie im öffentlichen Diskurs. Abgesehen von der linksliberalen akademischen Kritik erweckt dieses System in den letzten Jahrzehnten nur in sporadischen supranationalen antikapitalistischen Bewegungen, im religiösen Fundamentalismus und Terrorismus sowie in nationalistisch-rassistischen Populismen echten Widerstand. Deshalb wird es - wenn wir wollen, dass Mehrsprachigkeit zum Ausdruck einer tatsächlichen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Menschen wird - notwendig sein, in den fortschrittlichen gesellschaftlichen Praktiken eine andere theoretische Sprache zu entwickeln, dieser in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen und in diesem Rahmen ein alternatives Ökosystem zu begründen. (Aus dem Slowenischen von Julija Schellander-Obid) Literaturverzeichnis Anderson, Benedict R. (1998). Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt Burkhard und Christoph Münz. Berlin: Ullstein. Apter, Emily (2013). Against World Literature: On the Politics of Untranslatability. London/ New York: Verso. Auerbach, Erich (1952). Philologie der Weltliteratur. In: Muschg, Walter/ Staiger, Emil (Hrsg.). Weltliteratur: Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Bern: Francke, 39-50. Bachtin, Michail (1979). Die Ästhetik des Wortes. 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By presenting a provisional typology of small literatures in the European context, the heterogeneity of the different types of literatures hitherto subsumed under the label ‘minor literatures’ will be highlighted and the limits of the applicability of the latter term will be pointed out. This will be done more specifically by showing how the term fails to account for the specificity of small multilingual literatures. This overall critical stance towards the authoritative concept of Deleuze and Guattari will lead us to reflect on the conceptualisation of the term ‘small literatures’ and to propose some initial ideas on its potential to figure as an analytical and functional descriptive tool. Keywords: small literatures, littérature mineure, comparative literature, centre-periphery, typology Die Forschung im Bereich der kleinen Literaturen weist seit Neuestem einen vielversprechenden Aufschwung in der Vergleichenden Literaturwissenschaft auf. Das belegen nicht nur die eigens für diesen neuen Forschungsbereich organisierten Panels bei der 2016 in Wien stattgefundenen Konferenz der In- 48 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) ternational Comparative Literature Association 1 und, ein Jahr später, bei der American Comparative Literature Association 2 in Utrecht, sondern auch die Tatsache, dass Konferenzen und Themenbände in internationalen Zeitschriften 3 kleinen Literaturen gewidmet sind. Das von César Dominguez initiierte internationale Netzwerk Small/ Minor Literary Cultures , das Forscher miteinander verbindet, die diese Literaturen von einem theoretischen und empirischen Standpunkt aus behandeln, ist ein weiterer bedeutender Meilenstein im Aufbau dieses neuen internationalen Forschungsbereichs. 4 Angesichts dieses regen Interesses bietet es sich an, sich näher mit den Begrifflichkeiten zu befassen, mit denen bisher gearbeitet wurde, um das Phänomen der kleinen Literaturen zu analysieren. Denn ganz zu Recht stellt sich die Frage, was denn nun überhaupt mit kleinen Literaturen gemeint ist. Weshalb ist es wichtig, zwischen verschiedenen Typen zu unterscheiden? Und welche Rolle spielt die Mehrsprachigkeit in diesem Bestimmungsprozess? Diese für die Forschung grundlegenden Fragen will dieser Beitrag zumindest ansatzweise umreißen. Die im ersten Teil angeführte Übersicht über die Begriffe ist daher nicht in erster Linie als eine Aneinanderreihung der bisher gebräuchlichen Termini zu verstehen; sie verfolgt im Gegenteil einen erkenntnisorientierten Ansatz, der den Blick für die unterschiedliche Akzentsetzung schärfen soll, je nachdem, ob die Begriffe vonseiten der Forschung dominanter oder dominierter Literatursysteme vorgebracht werden. Unterschwellig geht es also auch darum, dem Blick von ‚außen‘ den Blick von ‚innen‘ entgegenzusetzen, um auf diese Weise Fremd zu schreibung und Selbstbe schreibung gegenüberzustellen. Des Weiteren erlaubt dieser Überblick über die Begriffsvielfalt, näher zu erläutern, wie der Forschungsgegenstand durch den literaturtheoretischen Diskurs bisher erfasst und mit welchen Paradigmen gearbeitet wurde. 1 Panel Sessions „Speaking About Small Literatures in Their Own Languages“, organisiert von Katre Talviste, Liina Lukas, Jeanne E. Glesener und Vanesa Matajc, 21.-27. Juli 2016, Universität Wien. 2 Seminar „Worlding Small and Minor Literatures“, organisiert von Cesar Dominguez und He Yanli, 6.-9. Juli 2017, Utrecht University. 3 Siehe Special Section „The Autonomy of Minority Literature“ des Journals Nationality Papers (2012) 40: 3. 4 Abrufbar unter www.minorliteratures.org. Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 49 1 Begriffsübersicht Diese chronologisch angelegte Übersicht ermöglicht einen Einblick in die Beständigkeit verschiedener Beschreibungstopoi, wie zum Beispiel dem der legitimen Anerkennung und der Unbekanntheit, bzw. dem der fehlenden Sichtbarkeit, die sich seit den ersten Benennungsinitiativen am Anfang des 20.-Jahrhunderts etablieren. Littératures à rayonnement limité - weniger verbreitete Literaturen Paul van Tieghem, der erste Historiker der französischen Komparatistik, spricht bereits in seinem 1931 erstmals veröffentlichten Band La littérature comparée von littératures à rayonnement limité , also von weniger verbreiteten Literaturen. Bezeichnend für die erste Phase der Schule der französischen Komparatistik war der Fokus auf internationale und vergleichende Literaturgeschichtsschreibung. In seinem Buch plädiert van Tieghem für die gleichwertige Anerkennung weniger verbreiteter Literaturen, wenn er fordert, dass die vergleichende Literaturhistoriographie ihnen ihren gleichmäßigen Platz einräumen soll. Anstatt sie in Kurznotizen oder in Addenda-Kapiteln auszulagern, sollte der Beitrag kleiner Literaturen in der allgemeinen Entwicklung der Literatur hervorgehoben werden, indem man sie und ihre wichtigsten Vertreter konkret mit den großen modernen Literaturen in Zusammenhang bringt (Van Tieghem [1931] 1946: 205-206). Ein ähnlich inklusiver Ansatz wurde schon von Hugó von Meltzl verfolgt, der zwischen 1877 und 1888 das erste komparatistische Journal Acta Comparationis Litterarum Universarum (kurz ACTA ) in Cluj herausgegeben hat. Meltzls Grundidee war darauf ausgerichtet, das komparatistische Prinzip für Goethes kosmopolitische Konzeption von Weltliteratur fruchtbar zu machen und es so von den reduzierenden und nationalistischen Auffassungen, denen es in diesem Zeitalter nationaler Literaturgeschichtsschreibung unterworfen war, zu emanzipieren (Damrosch 2008: 48). Meltzl war sich der Konsequenzen, die der Machtkampf zwischen Europas führenden Literaturen für die Sichtbarkeit kleiner Literaturen hatte, bewusst und sah in der Vergleichenden Literaturwissenschaft ein geeignetes Mittel, diese auf der internationalen Ebene zu fördern. So schreibt er in der ersten Ausgabe der ACTA : Our secret motto is: nationality as individuality of a people should be regarded as sacred and inviolable. Therefore, a people, be it ever so insignificant politically, is and will remain, from the standpoint of comparative literature, as important as the largest nation. The most unsophisticated language may offer us most precious and informative subjects for comparative philology. (Meltzl [1877] 2009: 45) 50 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) Die Gleichstellung der Literaturen der Welt, wie sie hier gefordert wird, spiegelt sich in der ACTA in der Nebeneinanderstellung von Essays und Volksliedern auf Armenisch, Gälisch und Aztekisch mit Texten aus den damals dominierenden Literatursprachen wider. Wie in Meltzls Ausführungen dargestellt wird, ist der Topos der Unbekanntheit kleiner Literaturen, welcher sozioliterarisch betrachtet ein literatursystemisches und weltliterarisches Problem ist, nicht zuletzt dem Bekanntheitsgrad der jeweiligen Literatursprachen geschuldet, wie es die Formulierung ,literatures in lesser known languages‘ festhält. Letztere verdeutlicht die Korrelation zwischen dem Status und dem Bekanntheitsgrad der Sprachen und folglich der limitierten Sichtbarkeit von Literaturen in diesen Sprachen. Um zu veranschaulichen, wie die Verbreitung von Sprache und Literatur zusammenhängt, kann auf Abram de Swaans Words of the World. The global language system (2001), eine linguistische Untersuchung zum ökonomischen Wert der Sprachen, hingewiesen werden. De Swaan unterteilt die Sprachen der Welt in eine vierstufige Hierarchie und ordnet sie in den Kategorien ‚hyperzentrale‘, ‚superzentrale‘, ‚zentrale‘ und ‚periphere‘ Sprachen an. Als hyperzentrale Sprache identifiziert er das Englische, zu den superzentralen Sprachen zählen Arabisch, Chinesisch, Französisch, Deutsch, Hindi, Japanisch, Malaiisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Swahili und Türkisch. Über die etwa 100 zentralen Sprachen schreibt de Swaan, dass sie von 95 % der Weltbevölkerung gesprochen werden und allgemein in Bildungseinrichtungen, den Medien und der Verwaltung verwendet werden. Zudem handele es sich um die ‚nationalen‘ Sprachen unabhängiger Staaten. Als periphere Sprachen gelten 98 % aller Sprachen der Welt, die von weniger als 10 % der Weltbevölkerung gesprochen werden. Im Gegensatz zu den zentralen Sprachen sind periphere Sprachen als Sprech- und Erzählsprachen, nicht aber als Lese- und Schriftsprachen, als Gedächtnis- und Erinnerungssprachen, nicht aber als Aufzeichnungssprachen zu verstehen (De Swaan 2001: 4-6). Das von de Swaan angewandte Zentrum-Peripherie-Paradigma und die in ihm implizierten Dominanzstrukturen spielt, wie wir noch sehen werden, für die Untersuchungen zu der Verortung kleiner Literaturen in der Weltliteratur eine führende Rolle. Littérature mineure - minor literature - ‚kleine Literatur‘ Der von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägte Begriff der ‚littérature mineure‘ ist sowohl das bekannteste als auch das problematischste Konzept für die Erforschung kleiner Literaturen. In ihrem ‚landmark essay‘ (Grutman 2016: 171) Kafka. Pour une littérature mineure (1975) wird es konzeptualisiert und drei Charakteristika werden festgehalten. Ausgehend von Kafkas Überlegungen zu der Literatur kleiner Nationen definieren Deleuze und Guattari als ,littérature Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 51 mineure‘ Literatur, die von einer Minderheit in einer großen (hyperzentralen, superzentralen) Sprache verfasst ist (Deleuze/ Guattari 1975: 29). Ihre Auffassung begreift daher nicht prinzipiell Literaturen in kleinen (peripheren) Sprachen. Als Erkennungsmerkmale halten sie die Deterritorialisierung der großen Sprache, die Verzweigung individueller mit politischen Angelegenheiten und den Kollektivcharakter der Aussagen fest (ebd.: 29-33). Die Wirkung des Begriffs in der Ausprägung durch die beiden französischen Philosophen ist, wie man weiß, beachtlich und hat die Herangehensweise an kleine Literaturen nachhaltig geprägt. Jede Anstrengung in Richtung einer Neukonzeptualisierung des Begriffs muss sich an ihren festgefahrenen Prämissen abarbeiten. Hervorragende Arbeit in diesem Sinne wurde bereits von Pascale Casanova (1997), Lise Gauvin (2003) und Charles Sabatos (2013) geleistet. Weiter unten will ich dagegen näher auf die Probleme eingehen, die sich aus der Anwendung des Begriffs ergeben. Interregionale Literaturen / contact literatures Der Begriff der Interregionalität wird Ende der 1980er Jahre von Johann Strutz entwickelt, um die spezifische sprachliche und kulturräumliche Situation der literarischen Kultur im Alpen-Adria-Raum zu beschreiben. Der Begriff erlaubt es, auf die konkreten vielschichtigen Interferenzen und Inkongruenzen zwischen den sprachkulturellen und politischen Zusammenhängen der Literatur(en) dieser spezifischen Region hinzuweisen (Strutz 1988: 201) und diese sowohl unterhalb (auf der Ebene der Region) als auch oberhalb der Nationalliteratur zu analysieren, ein Ansatz, der auch in dem von Andreas Leben geleiteten Forschungsprojekt zu ,überregionalen Interaktionsräumen‘ weiterentwickelt wurde. 5 Im Mittelpunkt von Strutz’ Untersuchungen stehen nicht Dominanzverfahren oder Fragen der internationalen Verbreitung, sondern Überlegungen zur Ausprägung von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit. Beide Phänomene haben in der Erforschung großer, dominanter literarischer Kulturen seit einiger Zeit Hochkonjunktur und gehen hier auf das Aufkommen postkolonialer Literatur und Migrationsliteratur zurück. Strutz’ Arbeiten unterstreichen dagegen, dass Verfahren der Interkulturalität und der Mehrsprachigkeit für kleine Literaturen immer schon relevant waren und es auch verstärkt noch immer sind. Ähnlich regional wie Strutz verfährt auch der niederländische Komparatist Geert Lernout, wenn er in Bezug auf kleine Literaturen von ,contact cultures‘ spricht. Bei Lernout wird der Einfluss anderer, großer Literaturen positiv gewendet: 5 Abrufbar unter https: / / slawistik.uni-graz.at/ de/ bilinguale-literarische-praxis/ . 52 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) The Low Countries, like the Alsace, Switzerland or Luxembourg, have always been ‘contact-cultures’, smaller cultural regions where often two or more national or linguistic cultures rub against each other. In that sense the cultural traditions in these regions have tended to be particularly open to other influences […]. (Lernout 2014: 410) Außerdem versteht Lernout die Verarbeitung fremdliterarischer Einflüsse, wegen der kreativen Rezeption, die daraus erfolgt, nicht als einen Mangel an eigener Originalität oder Kreativität, sondern als Resultat literarischer und kultureller Vernetzungen in kleinen Literaturräumen: In a small culture, it is difficult if not impossible to read the national literature without reference to its wider international artistic context, and writers in small countries themselves very often define their own poetics in terms of foreign influences. (ebd.: 417) Dieses Selbstverständnis der kreativen Prozesse innerhalb kleiner Literaturen widersetzt sich der vor allem in der Weltliteratur lange anhaltenden Annahme, dass kleine Literaturen sich lediglich ‚reaktiv‘ zu den in den Zentren hervorgebrachten Neuerungen und Moden verhalten, selbst aber nur sehr wenig generatives Potential besäßen (Damrosch 2006: 214; D’haen 2012: 153). Littératures de l’exiguïté - Literaturen der Kleinheit Der Begriff wird 1992 von dem frankokanadischen Literaturwissenschaftler François Paré in seiner Studie Les littératures de l’exiguïté vorgeschlagen. Parés Begriff ist sehr weit angelegt und umfasst minoritäre Literaturen (wie die Literaturen verschiedener ethnischer Gemeinschaften Kanadas), koloniale Literaturen, Inselliteraturen und kleine nationale Literaturen. Paré hält für diese Literaturen fest, dass sie wenig verbreitet sind und dass ihr internationaler Stellenwert sich proportional umgekehrt zu dem Ansehen, das diese Literaturen in ihren Gesellschaften haben, verhält (Gauvin 2003: 34). Relevant für Parés Studie ist, dass sie auf das literaturtheoretische Potential, das die Erforschung kleiner Literaturen bietet, verweist, besonders was das Hinterfragen von den aus den großen Literaturen abgeleiteten ästhetischen und literaturhistorischen Normativitäten anbelangt (Major 2001: 9). Ultraminor literatures In der neueren und vor allem in der systemisch angelegten Weltliteraturforschung wird auf eine terminologische Differenzierung zwischen groß/ klein bzw. major/ minor zurückgegriffen, um der Dynamik, dem Austausch und dem Wandel in dem in Zentren und Peripherien aufgeteilten Weltliteratursystem Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 53 Rechnung zu tragen. Die Bezeichnung ‚kleine Literatur‘ findet hier eine breite, undifferenzierte Anwendung und wird sowohl für ,minority-group writing‘ als auch für die Literatur kleiner Länder verwendet (Damrosch 2009: 194). Des Weiteren gebrauchen die Forscher das Begriffspaar ,major/ minor‘ in perspektivischer Sicht, was sich besonders gut am nordamerikanischen Kontext beobachten lässt. Mit ‚minor literatures‘ können hier folglich auch „works from languages and regions rarely represented on North American syllabi“ (ebd.) gemeint sein, also theoretisch gesehen auch solche, die in superzentralen Sprachen wie Swahili oder Türkisch geschrieben sind. Einen letzten Begriff, den ich hier noch anführen möchte, ist das rezent von Bergur Rønne Moberg und David Damrosch vorgeschlagene Konzept der ,ultraminor literatures‘. Die Autoren nehmen Ausmaß und Raum als definierende Kriterien für ,ultraminor literatures‘ an. Räumlich verorten sie diese in ethnischen Enklaven und auf kleinen Inseln. Bezüglich des Ausmaßes heben Moberg und Damrosch hervor, dass […] the ultraminor size entails structural handicaps and a systemic lack of capacity and resources connected both to space and to time. In case of small islands, no hinterland, no metropolis, and perhaps not even any large towns, and for ultraminor communities generally, a sense of belatedness, clustered ideas, and a short historicity of modernity. (Moberg, Damrosch 2017: 134) Neben diesen Defizit- und Prekaritäts-Kriterien werden Ausmaß der Sprachgemeinschaft, Alphabetisierungsrate, Vitalität mündlicher Traditionen, Zugang zu Publikations- und Archivierungsmöglichkeiten und Verbreitung als zusätzliche Kriterien angeführt. Der analytische Nutzen des Konzeptes ergibt sich nach Aussage Mobergs und Damroschs ausschließlich, wie für die weltliterarische Perspektive üblich, im Vergleich mit größeren Literaturen. Die hier vorgeschlagenen Untersuchungsansätze sind spezifischer als der von Deleuze und Guattari (siehe unten), da hier konkrete sozioliterarische Überlegungen mit soziohistorischen Fragestellungen verbunden werden. Andererseits ist, ähnlich wie bei Deleuze und Guattari, die politische Dimension von Bedeutung, denn ,ultraminor literatures‘ sind nicht selten gefährdete Literaturen, die dazu gezwungen sind, Überlebensstrategien zu entwickeln. Das Aufkommen des Begriffs der ,ultraminor literatures‘ kann als Reaktion auf die Kritik an der neueren Weltliteraturforschung gesehen werden. Beanstandet wurde unter anderem, dass trotz der Verlagerung von einer eurozentrischen zu einer globaleren und inklusiveren Auffassung des Weltliteraturbegriffs die neuen Forschungsansätze frühere Prinzipien der Exklusion, der Provinzialisie- 54 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) rung, der Peripheralisierung und der Marginalisierung kleiner Literaturen aufrechterhalten (D’haen 2013). 2 Deleuze und Guattari revisited Wie oben bereits angedeutet, hat das von Deleuze und Guattari entwickelte Konzept der ‚littérature mineure‘ die Perspektiven auf kleine Literaturen nachdrücklich geprägt. Wie ebenfalls bereits hervorgehoben, ist ihr Konzept insofern spezifisch, als es der Definition zufolge vor allem auf die Literatur, die eine Minorität in einer großen Sprache produziert, verweist. Folglich sind ihre Ausführungen überwiegend der Erforschung dieses sprachlichen Typus von Minoritätenliteratur förderlich. Die vorangehende Übersicht der Begriffe hebt die terminologische Komplexität rund um das Phänomen der kleinen Literaturen deutlich hervor. Der Begriff ist demzufolge als Überbegriff nicht unproblematisch, besonders da im internationalen wissenschaftlichen Diskurs eine verwirrende Verquickung, oder, besser gesagt, Gleichsetzung, zwischen den Adjektiven klein - wie Kafka es in seinen Überlegungen zu ,kleinen Literaturen‘ (Kafka 1998: 154) benutzt - und ‚mineur‘, bzw. minor-minder-Minorität, existiert. Diese Ver(w)irrung geht auf ein gleich zweifaches Übersetzungsproblem zurück. Wie Pascale Casanova in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Deleuze/ Guattari-Text aufzeigt, geht deren Gebrauch von ‚mineur‘ auf die „ungenaue und tendenziöse“ (Casanova 1997: 240) Übertragung der Kafka-Übersetzerin Marthe Robert zurück, die Kafkas Formulierung ‚kleine Literaturen‘ mit ‚littérature mineure‘ übersetzt. Die deutsche Fassung des Essays Kafka. Für eine kleine Literatur vertieft das Übersetzungsproblem zusätzlich. Denn obwohl hier die von Kafka benutzte Benennung ‚kleine Literatur‘ wieder aufgegriffen wird, ist das Adjektiv ‚klein‘ fortan mit der von Deleuze und Guattari entwickelten Bedeutung, Konzeptualisierung und dem Ideologieprogramm des ‚mineur‘ aufgeladen. Semantisch unterschiedliche Adjektive werden hier also gleichgeschaltet oder, anders gewendet, das deutsche Adjektiv ‚klein‘, das in erster Linie auf Umfang oder Quantität verweist, wird durch die im Französischen implizierte Unterordnung und Nichtebenbürtigkeit erweitert, eine Bedeutungsebene, die dann durch die Übersetzung in der deutschen Fassung des Konzepts festgeschrieben wird. In der Weltliteraturforschung lässt sich eine ähnliche Synonymverwendung zwischen ‚small‘ (klein) und ‚minor‘ (mineur) feststellen. Fraglich ist diese beliebige Verwendung der Begriffe allemal, überlagern sich in ihnen doch unterschiedliche Bedeutungen, die durch einen undifferenzierten Gebrauch verschleiert werden, etwa dann, wenn mit ,littérature mineure‘ bzw. ‚kleiner Literatur‘ zugleich die Literatur kleiner unabhängiger Staaten, die Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 55 Literatur von ethnischen Minoritäten, die Literatur in kleinen Sprachen und die einer kleinen territorialen Gemeinschaft in einer großen Literatursprache gemeint sind. An dieser Stelle bietet es sich an, eine zumindest vorläufige Typologie ‚kleiner Literatur‘ anzubringen; vorerst soll hier aber noch auf das von Deleuze und Guattari genannte erste Erkennungsmerkmal - die Deterritorialisierung der Sprache - der ,littérature mineure‘ eingegangen werden. Aus der Sicht der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit wird bezweifelt, dass Sprachen nur einen Wohnsitz haben, eine Annahme, die spätestens seit der postkolonialen Literaturforschung als problematisch anzusehen ist. Folglich ist das Merkmal der Deterritorialisierung auf seine Verwendbarkeit für kleine mehrsprachige Literaturen kritisch zu hinterfragen. Im Falle der Literatur eines unabhängigen mehrsprachigen Staates wird der Gebrauch einer großen Literatursprache nicht ausschließlich und auch nicht in erster Linie als ein deterritorialisierter Gebrauch von Sprache angesehen und auch das mehrsprachige Selbstverständnis von Autoren aus kleinen Literaturen lässt eine solche Interpretation nicht als allgemeingültig zu. Dazu kommt, dass, obwohl die Autoren sich in Bezug auf Kafkas Werk mit einem mehrsprachigen Literaturraum befassen, 6 ihr Konzept sehr wenig Denkanstöße für die Erfassung kleiner mehrsprachiger Literaturen liefert. Es wäre falsch, ihnen das vorzuhalten, da Fragen zur literarischen Mehrsprachigkeit, wie wir sie heute verstehen, nicht im Vordergrund ihrer Untersuchung standen. Ihre Überlegungen bezüglich der Beziehung zwischen einer ,littérature mineure‘ und einer ,langue majeure‘ sind vielmehr dem politisch brodelnden Kontext Frankreichs der 1970er Jahre geschuldet (Casanova 1997: 233-247): Demnach zielt ihre Untersuchung eher auf das Herausarbeiten der Beziehung von Sprache zum Politischen und zum Machtapparat ab, während sie die Literatur ausdrücklich auf der Seite der Subversion situiert und als ein Mittel, sich der Sprache der Macht zu widersetzen, stilisiert. Folglich, und das ist wichtig hervorzuheben, verweist das Adjektiv ‚mineur‘ im Zuge ihrer Ausführungen nicht nur auf den Ist-Zustand einer (minoritären) Literatur an sich, sondern beschreibt darüber hinaus eine (sprachliche) Abgrenzungsstrategie gegenüber großen, ideologischen und machtkonformen Literaturen: So gefasst, qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ [eigentlich ‚minder‘] nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befindet. (Deleuze/ Guattari 1976: 27) 6 Für eine kritische Auseinandersetzung mit den von Deleuze und Guattari formulierten Postulaten für die Situation Kafkas im damaligen mehrsprachigen tschechoslowakischen Literaturfeld siehe Sabatos (2012: 281-294). 56 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) Das Adjektiv ‚mineur‘ bezeichnet hier eben nicht die Sprache oder Literatur einer ethnischen oder kulturellen Minorität, sondern die Sprache, die jede Literatur sich erst erschaffen muss, um sich der durch den Machtapparat besetzten Sprache zu entziehen und die Kooptation durch den Machtapparat wiederum zu unterminieren. So lässt sich die komplexe räumliche Metaphorik, die zur Beschreibung des Prinzips der Deterritorialisierung bei Kafka verwendet wird, zumindest deuten: […] schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt. Dazu ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene dritte Welt, die eigene Wüste. (ebd.) Wie diese Ausführungen belegen, ist das Konzept von Deleuze und Guattari zwar für Minoritätenliteraturen in hyper- und superzentralen Sprachen sicherlich immer noch von Relevanz, jedoch keineswegs als allgemeingültig für die verschiedenen Typen von kleinen Literaturen zu verwenden. Die Anwendung des Konzeptes ist nicht nur wegen der reduzierenden Politisierung von Literatur problematisch, sondern auch weil es schlicht und ergreifend nicht darauf angelegt ist, Auskunft über die literaturhistorische und ästhetische Eigengesetzlichkeit kleiner Literaturen zu geben. In ihrem Werk La république mondiale des lettres (1999) kritisiert die französische Komparatistin Pascale Casanova die Politisierung kleiner Literaturen durch das ,littérature-mineure‘ - Konzept (Casanova 1999: 279-281). Ihre eigene Analyse von Macht- und Dominanzstrukturen in einer Zentrum-Peripherie-Optik ist jedoch nicht weniger problematisch. Wie bei Deleuze und Guattari ist es wiederum ein Blick von außen, der an die Literaturen herangetragen wird und der hier verstärkt mit ‚zentralen‘ Normvorstellungen arbeitet und dementsprechend hauptsächlich auf die angebliche ‚Nicht-Konformität‘ kleiner Literaturen aufmerksam macht. Letztere werden darüber hinaus ausschließlich in ihrer ‚Mittel- und Machtlosigkeit‘ und in ihrem ‚Kampf um internationale Sichtbarkeit‘ gesehen, beziehungsweise darauf reduziert. Die Begrifflichkeiten sind einer negativen Semantik verpflichtet und akzentuieren das scheinbar ‚A-normale‘, die ‚Abweichungen vom Standard‘: […] die (literarisch, politisch, sprachlich) Mittellosen sind nicht nur nie ,adäquat‘, d. h. nie konform, nie an ihrem Platz, nie wirklich im literarischen Universum zu Hause, sondern ihre Unangemessenheit […] stellt ein unentwirrbares Netz an Verwünschungen, Unglück, Wut und Revolte dar. (Casanova 1999: 253) 7 7 Die Übersetzung dieses und aller nachfolgenden Zitate ist von der Verfasserin des Artikels. Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 57 Bei Casanova ist eine Ausweitung des semantischen Feldes dahingehend zu beobachten, dass sie die Begriffe ,petit‘ und ,mineur‘ mit endemischen Defizitmerkmalen assoziiert. Während das Gewicht bei Deleuze und Guattari auf dem Ideologischen, dem Politischen liegt, befindet es sich bei Casanova auf dem Nationalen, etwa wenn die Funktion kleiner Literaturen (von unabhängigen Staaten) ausschließlich auf ihre Partizipation am ontologischen Nationenbildungsprozess beschränkt wird: In mittellosen Räumen sind die Schriftsteller zu einer nationalen oder völkischen Thematik verdammt: sie müssen die Abenteuer, die Geschichte und die nationalen Kontroversen entwickeln, verteidigen, darstellen und kritisieren. Weil sie darauf bedacht sind, eine Idee ihres Landes zu verteidigen, sind die Schriftsteller in die Ausarbeitung der nationalen Identität eingebunden. (ebd.: 262) Genau gegen Festschreibungen wie diese wehrt sich Milan Kundera, wenn er die von außen vorgebrachten Fixierungen kleiner Literaturen auf das Nationale kritisiert: Die kleinen europäischen Staaten (ihr Leben, ihre Geschichte, ihre Kultur) sind sehr wenig bekannt und bleiben hinter ihren unzugänglichen Sprachen verborgen. Gemeinhin wird angenommen, dass gerade dieser Umstand das Handicap ihrer mangelnden internationalen Anerkennung ausmacht. Das Gegenteil aber ist der Fall: ihre Kunst ist gehandicapt, weil alle Welt (die Kritik, die Historiographie, die Landsmänner wie die Ausländer) sie auf die große Photographie der nationalen Familie festklebt und sie da nicht rauslässt. (Kundera 1993: 231) In der Tat ist die Annahme, dass sich die Literaturproduktion in kleinen Staaten ausschließlich einem nationalliterarischen Projekt widme, problematisch, da sie unter anderem die postnationale Phase und folglich die veränderte Auffassung zur (gesellschaftlichen) Rolle/ Funktion von Literatur einfach ausklammert. Die Festschreibung auf das Nationale verstellt zudem, wie von Kundera beanstandet, den Blick auf einige Eigenthematiken wie die interkulturellen Beziehungen und Mehrsprachigkeitsphänomene, die, je nach geokultureller Verortung, den Diskurs der literarischen Kultur kleiner Staaten maßgeblich prägen. 3 Typologie kleiner europäischer Literaturen 8 In der Vergangenheit wurde aber nun der Begriff der kleinen/ mineure/ minor Literaturen (meist in der Deleuze-Guattari’schen Ausprägung) für sehr unter- 8 Diese vorläufige Typologie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 58 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) schiedliche Typen verwendet, die hier in einer vorläufigen Übersicht zusammengeführt werden: • Literaturen kleiner Staaten: Belgien, Estland, Island, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Slowenien, u.a. • Minoritätenliteraturen in Einheitsstaaten: Katalonien, Friesland, Mazedonien, Schlesien, u. a. • Interregionale Literaturen: Griechenland-Zypern-Türkei und Istrien (Italien-Kroatien-Slowenien) • Literaturen in kleinen (peripheren) Sprachen ohne externes Referenzsystem: Baskisch, Estnisch, Gälisch, Lettisch, Luxemburgisch, Maltesisch, Rätoromanisch, Walisisch, u. a. • Kleine Literaturen in großen (hyper-, super- und zentralen) Sprachen: Luxemburg (Deutsch, Französisch, Englisch), Belgien (Französisch, Deutsch), Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch), Italien (Deutsch), etc. Diese vorläufige Typologie macht die Homogenisierung eines de facto sehr heterogenen Untersuchungsgegenstandes sichtbar. Dabei ist es aber notwendig, die Spezifität der verschiedenen Typen zu beachten. Im Fall von Literaturen kleiner Staaten kann man annehmen, dass es sich um legitim anerkannte Literaturen handelt, dass Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesse sowie national geförderte Lehrprogramme, Forschungs- und Archivierungseinrichtungen vorhanden sind und dass man auf ein im Aufbau begriffenes Literaturfeld schließen kann. Im Fall von Minoritätenliteraturen sind gerade diese Elemente nicht als selbstverständlich vorhanden anzunehmen, besonders, wenn sie sich am Rande oder innerhalb eines dominierenden Literaturfeldes befinden und der Kampf um die legitime/ offizielle Anerkennung und die politischen und kulturellen Rechte der Sprachgemeinschaft nicht abgeschlossen ist. Durch diese undifferenzierte Verwendung des Begriffs wird zumeist die Spezifität soziohistorischer und politischer Situationen kleiner literarischer Kulturen verflacht und ihre Eigengesetzlichkeit ignoriert. Des Weiteren riskieren Thematiken, Diskurse, literaturästhetische Eigenheiten, und gegebenenfalls das Schreiben in einem mehrsprachigen Literaturfeld aus dem Blickfeld zu fallen. Wie problematisch die Anwendung des Begriffs im Deleuze-Guattari’schen Verständnis in Bezug auf kleinere unabhängige Staaten ist, soll hier am Fall der mehrsprachigen Luxemburger Literatur kurz dargestellt werden. Die luxemburgische Literatur ist seit ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert eine mehrsprachige Literatur auf Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Zu diesen Literatursprachen wird rezent auch das Englische gezählt. Viele Luxemburger Autoren schreiben in zwei, manche auch in drei Sprachen. Anders als es in Belgien oder der Schweiz der Fall ist, geht die Mehrsprachigkeit des Literaturfeldes nicht Kleine Literaturen: Eine Übersicht der Begrifflichkeiten 59 auf unterschiedliche Sprachgemeinschaften zurück, sondern ergibt sich aus der geokulturellen Lage des Landes und, eng daran gekoppelt, der sprachpolitischen Förderung der Mehrsprachigkeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Fehlen 2008). Wie im Folgenden von Marie-Anne Hansen-Pauly ausgeführt wird, ist der von Deleuze und Guattari konzeptualisierte Begriff wegen seiner politischen Dimension für den Luxemburger Fall nicht anwendbar: […] the term minority, as it is often found in literary theory, has a number of connotations that do not really reflect the situation in Luxembourg. It suggests difference, but also exclusion, dissonance, oppression, postcolonialism, whereas Luxembourg, unlike most cultural minorities in Europe or elsewhere, is an independent nation. The adjective ‘minor’, being a comparative, implies the presence of a majority. It usually refers to a subordinate cultural or ethnic group within a larger community. Most Luxembourgers would probably prefer to speak of a ‘small’ or less widely diffused literature. (Hansen-Pauly 2002: 150) Das auf die Sprache fokussierte Merkmal der Deterritorialisierung allein vermag es nicht, der Komplexität des mehrsprachigen Schaffens und der Interaktion der Literatursprachen im literarischen Feld und darüber hinaus Rechnung zu tragen. Diese Vorüberlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, den Begriff der ‚kleinen Literaturen‘, wie er bislang gemeinhin verwendet wurde, zu überdenken und mit einem neuen, aktualisierten Verständnis aufzuladen. Dies bedarf ausgedehnteren Ausführungen als sie hier aus Platzgründen möglich sind und daher beschränke ich mich im Folgenden lediglich auf einige mögliche Ansatzpunkte. Was das Adjektiv ‚klein‘ betrifft, bietet es sich an, es in seiner ersten quantitativen Bedeutung für die Definition ‚kleiner Literaturen‘ wesentlich fruchtbarer zu machen, als das bisher der Fall war. Das Wort ‚klein‘ hat zudem den Vorteil, relativ neutral zu sein: Das Adjektiv verweist, anders als von Deleuze und Guattari festgehalten (Deleuze/ Guattari 1980: 95-139), nicht per se auf ein unterordnendes Prinzip, sondern bezieht sich in erster Linie auf die Ausmaße des Literatursystems, die anhand einiger Indikatoren - Anzahl an Autoren, Quantität der literarischen Produktion, Anzahl der Institutionen, des (internationalen) Bekanntheitsgrads usw. - objektiv beschreibbar sind. Folglich bietet es sich an, für die Erfassung ‚kleiner Literaturen‘ von quantitativen/ empirischen Kriterien auszugehen, um darauf aufbauend die spezifischen Diskurse, Thematiken und Problematiken herauszukristallisieren und zu analysieren. Diese Erweiterung der analytischen Ansätze führt zu einer Verlagerung der Frage nach dem Ausmaß der Literatursprache (major/ minor language), die hier dann nicht 60 Jeanne E. Glesener (Luxemburg) mehr wie bei Deleuze und Guattari als dominierendes Kriterium, sondern als eines unter mehreren entscheidenden Merkmalen kleiner Literaturen fungiert. Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten gewinnen? Da wären zum einen die verschiedenen methodischen Ansatzpunkte aus dem Bereich der Literatursoziologie, der Mehrsprachigkeits- und Interkulturalitätsforschung und der systemisch angelegten Weltliteraturtheorie zu nennen. Es kann festgehalten werden, dass das Zentrum-Peripherie-Paradigma überwiegt, das oft eine Darstellung der Dynamiken und Dominanzstrukturen im Weltliteratursystem verfolgt. Dies hat zuweilen eine Reduzierung auf marktökonomische Themen zur Folge, erlaubt aber anderseits eine Diskussion über die Wichtigkeit der Übersetzungen als Garant für eine bessere internationale Sichtbarkeit. Letztlich zeigen diese Ausführungen aber auch, dass es an der Zeit ist, die Forschung ‚von innen‘ verstärkt der Evaluierung ‚von außen‘ entgegenzusetzen und sie in den theoretischen Diskurs miteinzubringen. Notwendig ist daher eine komparatistisch angelegte Forschung, die sich mit der grundlegenden Frage auseinandersetzt, ob kleine Literaturen auch außerhalb der Idee eines Zentrums und über ein größeres Vergleichselement (die großen Literaturen) hinaus gedacht werden können (Gauvin 2003: 33). Als weitere Schwerpunktsetzung bietet es sich an, außerhalb von nationalen und einsprachigen Prämissen zu denken. Außerdem sollte nachdrücklicher darauf hingewiesen werden, dass kleine Literaturen andere Dynamiken und Eigenheiten und womöglich eine eigene Ästhetik besitzen, welche durch die von den Zentren ausgehenden Normen allein nicht erfasst werden können (Provenzano 2011). Zudem wäre es wichtig, auch das literaturtheoretische Potential kleiner Literaturen im Bereich einer pluralistisch angelegten Literaturentwicklung verstärkt hervorzustreichen. Literaturverzeichnis Casanova, Pascale (1997). Nouvelles considérations sur les littératures dites mineures. Littératures classiques 31, 233-247. Casanova, Pascale (1999). La république mondiale des lettres. Paris: Éditions du Seuil. Damrosch, David (2006). Where is World Literature? In: Gunilla Lindberg-Wada (Hrsg.). Studying Transcultural Literary History. New York: De Gruyter, 211-220. Damrosch, David (2008). Global Regionalism. In: Bemong, Nele/ Truwant, Mirjam/ Vermeulen, Pieter (Hrsg.). 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[1931] Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums (ausgehend von der Literatur der Kärntner Slowen_innen) Andreas Leben (Graz) Abstract: The article discusses the concept and the use of the term ‘sphere of literary interaction’ that was developed within a research project on the contemporary biand multilingual literary practice of the Slovenes in Carinthia. Due to the participative and productive relation of this literature to several (poly)systems - in particular that of Austria and Slovenia - and to the heterogeneous writing practices, the concept addresses the fact that national, ethnic and linguistic affiliation have become doubtful categories. The model presented here seeks to reflect the changes with respect to the conditions of ‘deregionalised’ literary production and reception, and to the interaction with authors and institutions that previously were not related to the Carinthian bilingual literary field. Therefore, the sphere of interaction is conceptualised as an open space in progress, avoiding essentialist or reductionist categorisation since it is based on the collection of empirical data. Keywords: theory of space, literary interaction, multilingualism, transculturality Das hier präsentierte Modell eines überregionalen literarischen Interaktionsraums wurde im Rahmen des an der Universität Graz durchgeführten Forschungsprojekts zur Literatur der Kärntner Slowen_innen nach 1991 1 entwickelt 1 Es handelt sich um das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierte Projekt „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“ (P-28514-G23), das von Erwin Köstler, Dominik Srienc und Felix Kohl unter der Leitung von Andreas Leben in den Jahren 2016-2018 durchgeführt wurde. Das hier vorgestellte Konzept wurde von Erwin Köstler und Andreas Leben entwickelt. Details zum Projekt sind abrufbar unter: https: / / slawistik.uni-graz.at/ de/ bilinguale-literarische-praxis/ (Stand: 10/ 02/ 2019). 64 Andreas Leben (Graz) und geht auf zwei grundlegende Fragen zurück, die bereits bei den ersten Überlegungen für eine integrierte Beschreibung zweisprachiger literarischer Praxis zu stellen waren: Wie soll man eine Literatur benennen, für die Sprache, ethnische Zugehörigkeit und regionale Gebundenheit keine verbindlichen Kriterien mehr sind, und wie kann der Raum bestimmt werden, in dem diese Literatur entsteht? 1 Zur Problemstellung Im Allgemeinen wird unter der Bezeichnung ‚Kärntner slowenische Literatur‘ die literarische Produktion der slowenischen Minderheit in Kärnten verstanden, die üblicherweise sowohl dem österreichischen als auch dem slowenischen literarischen Feld zugerechnet wird. In Slowenien gilt die Literatur der Kärntner Slowen_innen aufgrund sprachlicher, kultureller, ethnischer und historischer Gemeinsamkeiten als integraler Teil der ‚gesamtslowenischen‘ Literatur, einem Konzept, das auch von der slowenischen Literaturgeschichte vermittelt wird (vgl. Grafenauer 1946: 284; Paternu 1973: 95) und das mit der heute noch verbreiteten Vorstellung von der Existenz eines ‚gemeinsamen slowenischen Kulturraums‘ (skupni slovenski kulturni prostor) korreliert (vgl. Vidmar 1984: 216-218). Die Zugehörigkeit dieser Literatur zur slowenischen Literatur wurde nie in Zweifel gezogen, jedoch attestierte man ihr aufgrund der Trennung vom zentralslowenischen Raum und der unterschiedlichen Entwicklung nach 1920 2 eine gewisse Eigenständigkeit (vgl. Kmecl 1973, Kmecl 1979), die an sprachlichen, stilistischen, typologischen und thematischen Besonderheiten festgemacht werden kann (vgl. Detela 1992). Seit den 1970er Jahren wird sie zudem unter dem Sammelbegriff ‚slovensko zamejsko slovstvo‘ (Pogačnik 1972: 5-6) geführt, der die ans slowenische ‚Mutterland‘ (matica) angrenzenden Literaturen der in den Nachbarländern (‚hinter den Grenzen‘) lebenden slowenischen Minderheiten bezeichnet. 3 Auch die österreichische Slowenistik umriss die Literatur der Kärntner Slowen_innen als Teil des regionalen kulturellen Lebens der autochthonen Volksgruppe, die sich um Kontakt zum österreichischen wie auch zum slowenischen Literaturraum bemühte (Prunč/ Hafner 1976: 671-683; Zablatnik 1985: 212-213). Mit dem politischen Umbruch in Europa und dem Zerfall Jugoslawiens 2 Im Rahmen einer Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 stimmte die Mehrheit der Bevölkerung in der von einer interalliierten Plebiszitkommission festgelegten Abstimmungszone für die Angliederung dieses Gebiets an die Republik Österreich. 3 Auf die zum Teil „ganz eigenartigen Reduktionen“ der jugoslawischen Slowenistik, die die slowenischen Literaturen in Italien und Kärnten „praktisch immer in Parenthese“ behandelten, wie auf das lediglich auf Einzelfälle reduzierte Interesse der österreichischen Germanistik an der Literatur der Kärntner Slowen_innen wies Johann Strutz bereits Ende der 1980er Jahre hin (Strutz 1988: 10). Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums 65 wurde der Sinn einer strikten Trennung der slowenischen Literatur entlang von Staatsgrenzen zwar hinterfragt, jedoch wurde am Modell, dass es sich bei der Literatur der Kärntner Slowen_innen „um eine der regionalen Spielarten der gesamtslowenischen literarischen Kultur“ (Paternu 1991: 154) handle, festgehalten. Wie in den 1980er Jahren, dem „Goldenen Dezennium“ (Hafner 2009: 140) der Kärntner slowenischen Literatur, machen sich innerhalb dieser Kultur vor allem jene Autor_innen einen Namen, die in slowenischer Sprache schreiben. Die einzige Ausnahme ist Maja Haderlap, deren deutschsprachiges Schaffen im slowenischen Zusammenhang aufgrund der vorhandenen Übersetzungen ins Slowenische in jüngster Zeit viel Beachtung findet, sich aber auch nahtlos in die Diskussion um eine Erweiterung des Begriffs ‚slowenische Literatur‘ einfügt. 4 Da vor allem die jüngeren zweisprachigen Kärntner Autor_innen die Möglichkeit nutzten, in beiden Sprachen zu schreiben und zu publizieren, sprach Johann Strutz bereits in den 1990er Jahren von einer ‚Entregionalisierung‘ der slowenischen Literatur in Kärnten, die auch Rückwirkungen auf die literarische Produktion habe (Strutz 1998: 27-28). Heute lässt sich diese Deregionalisierung in ihrer vollen Ausprägung beobachten. Will man die Literatur der Kärntner Slowen_innen in allen ihren Formen erfassen, reicht es daher nicht mehr aus, sie als Produkt einer ethnischen, sprachlichen, regional verankerten Minderheit zu beschreiben, die an den Schnittstellen des österreichischen und des slowenischen Literatursystems verortet ist. Die veränderten Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen, die allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen, die neuen kommunikationstechnologischen und medialen Möglichkeiten sowie die gesteigerte Mobilität von Autor_innen führen auch dazu, dass man im Grunde nur noch bedingt von ‚der‘ oder ‚einer‘ Kärntner slowenischen Literatur sprechen kann. Auch erscheint es keineswegs klar, welche Autor_innen oder Einzeltexte ihr zugezählt werden können, zumal vorübergehend oder auf Dauer in Kärnten lebende Autor_innen aus Slowenien maßgeblich an der slowenischen Literaturproduktion beteiligt sind, während einige Kärntner slowenische Autor_innen (fast) nur auf Deutsch schreiben und ihren Lebensmittelpunkt seit geraumer Zeit nicht mehr in Kärnten haben. Hinzu kommen Autor_innen verschiedenster Provenienz, die nicht slowenischsprachig sind, die aber in ihren Texten auf den zweisprachigen Raum, die Lebenswelt, die Geschichte, die Erinnerungsnarrative und die Literatur von Kärntner Slowen_innen Bezug nehmen und in ihren Texten Verfahren literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit anwenden. 5 4 Die damit verbundene terminologische Problematik behandelt der Beitrag von Miran Hladnik in diesem Band. 5 Vergleich dazu die Beiträge von Dominik Srienc und Erwin Köstler und in diesem Band. 66 Andreas Leben (Graz) 2 Der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘ Es ist evident, dass eine integrierte Darstellung der zweisprachigen literarischen Praxis der Kärntner Slowen_innen diese Diversität, Heterogenität und Überregionalität berücksichtigen muss. Um den Raum, der für die Beschreibung dieser Literatur relevant ist und der prospektiv weder sprachlich noch topographisch eingegrenzt werden kann, konzeptuell zu erfassen, wurde der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘ eingeführt. Er sollte einen grundsätzlich abstrakten, offenen, transnationalen Raum bezeichnen, als dessen Teil die Literatur der Kärntner Slowen_innen erachtet werden kann, die nicht allein auf das regionale zweisprachige, das österreichische und das slowenische literarische Feld beschränkt ist, sondern produktiv wie rezeptiv weit über den regionalen Zusammenhang hinausreicht. Als Ausgangspunkt dienten die Arbeiten und konzeptuellen Überlegungen von Johann Strutz zu einer literarischen Komparatistik der Alpen-Adria-Region, die auf die lebensweltliche und textuelle Interkulturalität im Regionalraum fokussieren (Strutz 2003: 351-352). 6 Die von ihm beschriebene polyphone und transkulturelle „écriture der Region, die den exklusiven nationalen Nexus in Frage stellt, ohne dabei bestimmte Traditionen aufzugeben, indem sie den nationalen Rahmen zugleich unter- und überschreitet“ (Strutz 2010: 178), und die „spezifischen lnteraktionsformen der Alpen-Adria-Kulturen“ (ebd.: 191) bilden auch insofern eine wichtige Basis für das Konzept des Interaktionsraums, als sein Beschreibungsmodell die vielschichtigen lnterferenzen und Differenzen zwischen den sprachlichen, kulturellen und politischen Zusammenhängen berücksichtigt und die generelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit der minoritären Kulturen nicht außer Acht lässt. Letztere „ermöglicht nämlich nicht nur die ‚luxurierende‘, ‚nomadische‘ Teilhabe an mehreren Kulturen, sondern bietet auch die Möglichkeit einer ‚ersatzweisen‘ literarischen Sozialisation durch partielle Übernahmen aus den jeweiligen größeren Nachbarliteraturen“ (Strutz 2010: 191). Im Unterschied zu Strutz, der den Begriff „Regionalität“ nicht nur als thematische, semantische oder sprachlich-stilistische Kategorie auffasst, sondern ihm neben dem „Aspekt der (alltäglichen) sozialen und kulturellen Praxis“ auch ein „geographisches, raumkulturelles Bezugsmoment von Nähe und Nachbarschaft“ (Strutz 2003: 70) zugrunde legt, verfügt der hier diskutierte Interaktionsraum jedoch über kein ‚echtes‘ geographisches Korrelat. Der überregionale literarische Interaktionsraum darf also nicht mit dem Regionalraum verwechselt werden, in dem die Literatur der Kärntner Slowen_innen einen Teil des Systems der 6 Vergleiche auch den Beitrag von Johann Strutz in diesem Band. Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums 67 Literaturen im Alpen-Adria-Raum darstellt. Der räumliche Kontakt zwischen Sprachen und Kulturen in synchroner wie diachroner Perspektive ist auch hier von Bedeutung, sowohl auf der Ebene der praktischen Organisation des literarischen Lebens als auch auf der Textebene, doch hat die ‚Entregionalisierung‘ dieser Literatur aus überregionaler Perspektive eine Verschiebung von den intrasystemischen Relationen, Kontakten, Interferenzen und Transfers zwischen den Literaturen der Alpen-Adria-Region zu den intersystemischen Interaktionen insbesondere im deutsch- und slowenischsprachigen Raum zur Folge. Der räumlich-geographische Aspekt muss aber auch überschritten werden, um die Migration von Personen, das Zirkulieren von Texten und deren globale Verfügbarkeit sowie Phänomene wie Intertextualität, Intermedialität und die Verlagerung von Literatur in virtuelle Räume als Elemente literarischer Interaktion aufeinander beziehen und die systemische Position der rezenten zweisprachigen Literatur der Kärntner Slowen_innen bestimmen zu können. 7 Im Übrigen sind die theoretisch-methodischen Grundlagen für die Beschreibung des überregionalen literarischen Interaktionsraums weitgehend dieselben, wie sie von Strutz für die literarische Komparatistik der Alpen-Adria-Region herangezogen wurden: das Konzept „kleiner Literaturen“ in der Nachfolge von Guattari und Deleuze (1976), die Kultursemiotik Lotmans (2010) unter Bezug auf Bachtins metalinguistischen Sprach- und Dialogizitätsbegriff und die Polysystemtheorie Itamar Even Zohars (1990) (vgl. Strutz 2003: 23-67, 2010: 184-191). Als besonders anwendbar für die Konzeption und Beschreibung des Interaktionsraums erwiesen sich die Instrumentarien und Begriffe der Polysystemtheorie, die auf sozialen Relationen beruhende Feldtheorie Bourdieus (1999), die bei Strutz nur am Rande Erwähnung findet, und das Lotman’sche Modell der Semiosphäre. Letzteres erlaubt es, den Interaktionsraum auch als abstrakten, diskursiven semiotischen Raum zu begreifen, der mit gegebener kultureller Bedeutung operiert und neue kulturelle Bedeutungen hervorbringt, indem in ihn verschiedene, sich überlagernde, zwei- oder mehrsprachige Grenzen (sowohl gegenüber dem innerals auch dem außer- und anderssemiotischen Raum) eingeschrieben sind, an denen es aufgrund ständiger Einflüsse von außen zu besonders intensiven semiotischen Prozessen kommt (Lotman 2010: 182, 184, 189). Einen weiteren Bezugspunkt bildete die österreichische regionalgeschichtliche Literaturraumforschung (vgl. Schmidt-Dengler/ Sonnleitner/ Zeyringer 1995), insofern sie Kulturraum als „eine Zone spezifischer, hoher Verdichtung von menschlicher 7 Hier ist anzumerken, dass die kommunikationstechnologisch und medial bedingte virtuelle Komponente nicht zwangsläufig „Enträumlichung und Entortung“ oder „Heimatlosigkeit“ (Bachmann-Medick 2014: 288-289) bedeutet, denn der Kreis der Adressat_innen und die systemische Position der Akteur_innen, die hinter den Plattformen, Homepages, Blogs usw. stehen, können in der Regel greifbar gemacht werden. 68 Andreas Leben (Graz) Interaktion“ (Thum 1980: 81) begreift und die Institutionengeschichte sowie die Produktions- und Rezeptionsbedingungen untersucht (vgl. Amann 2007). Die wichtigste Grundlage für die analytische Arbeit bildeten jedoch die zu erhebenden empirischen Daten zu den im überregionalen und sprachübergreifenden Zusammenhang relevanten Autor_innen und Akteur_innen, Texten und Translaten sowie den Produktions- und Rezeptionsprozessen (vgl. Köstler/ Leben 2018: 148-151). Erstellt wurde eine umfassende Datenbank mit mehr als 18.500 Einträgen, beruhend auf den nach 1990 erschienen Buchpublikationen (Primärtexte, Übersetzungen, Anthologien, Werkausgaben usw.), der Auswertung von annähernd 60 österreichischen, slowenischen und italienischen Literatur- und Kulturzeitschriften sowie der Bestandsaufnahme der für den Untersuchungsbereich relevanten Kulturpublizistik und wissenschaftlichen Literatur, aber auch von Internetportalen, Webseiten und Blogs. Es wurden Interviews mit mehr als 40 Personen geführt, die im zweisprachigen literarischen Feld tätig sind (Autor_innen, Übersetzer_innen, Herausgeber_innen, Theatermacher_innen, Filmemacher_innen, Musiker_innen, Literaturwissenschaftler_innen, Kulturmanager_innen und Journalist_innen), und umfassende Bibliographien zu einzelnen Autor_innen angelegt, ebenso wurden Daten zu den slowenischen, zwei- oder mehrsprachigen literarischen Institutionen in und außerhalb Kärntens gesammelt (Verlage, Veranstalter, Veranstaltungsorte, Literaturvereinigungen, Literaturpreise, Kulturvereine usw.). Um dem Transfer von Repertoires und Modellen, 8 einer der zentralen Fragen literarischer Interaktion, im Detail nachgehen zu können, wurden darüber hinaus mehr als 300 Textbeschreibungen angefertigt, die auch Auskunft über die Statik bzw. Dynamik von Kanonisierungsprozessen geben. Erst anhand dieser Daten, von denen anzunehmen ist, dass sie die Verhältnisse und Veränderungen im untersuchten Zeitraum abbilden, war es möglich, den überregionalen literarischen Interaktionsraum in Relation zu den Feldern der österreichischen und der slowenischen Literatur zu stellen sowie Aussagen über seine Beschaffenheit und Stabilität zu treffen. Folglich bildet er sich erst durch die belegbaren interlingualen und transkulturellen Relationen zwischen Akteur_innen und Texten heraus, die für einen bestimmten Zeitraum evidentiert werden können. Da Texte auch Teil oder Gegenstand von intermedialen Prozessen und Transformationen sein können, wurden außerdem Daten aus anderen künstlerischen Bereichen, insbesondere dem Theater, herangezogen. 8 Repertoire ist im polysystemischen Sinn zu verstehen als „the aggregate of laws and elements (either single, bound, or total models) that govern the production of texts“ (Even-Zohar 1990: 17). Das bloße Vorhandensein eines Repertoires sagt aber noch nichts über seine systemische Relevanz aus: „The existence of a specific repertoire per se is not enough to ensure that a producer (or consumer) will make use of it. It must also be available , that is, being legitimately usable, not only accessible .” (ebd.: 40) Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums 69 3 Der literarische Interaktionsraum aus raumtheoretischer Perspektive Seit dem Spacial turn in den Kultur- und Literaturwissenschaften wurden zahlreiche raumbasierte Theorien, Konzepte und Modelle entwickelt, die zum einen globale Ortlosigkeit und Probleme der Lokalisierung von Raum in den Vordergrund rücken, zum anderen aber auch Raum zu einer „zentralen Analysekategorie, zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialität und Erfahrungsnähe sowie zu einer wirkungsvollen Repräsentationsstrategie“ (Bachmann-Medick 2015: 42) werden lassen. Die inter- und transkulturell orientierte Literaturwissenschaft, die schon immer Interesse für interliterarische Beziehungen gezeigt hat, nimmt hierbei zumeist physische, topographische Räume in den Blick. Dies können größere geographische Räume sein, wie etwa das östliche Zentraleuropa, die iberische Halbinsel oder Lateinamerika, kleinräumigere Zusammenhänge wie die Alpen-Adria-Region, die Benelux-Region oder Teile des südöstlichen Europa, oder auch urbane literarische Kulturen in Städten wie Wien, Prag oder Triest. In vielen Fällen kommt der Fokus auf ethnisch plurale, mehrsprachige, interkulturelle oder transnationale Aspekte zu liegen, wobei auch auf alternative Bezeichnungen wie ‚Sprachlandschaften‘ oder ‚Geopoetiken‘ oder Begriffe wie ‚Kultur als Kommunikationsraum‘ (Csáky 2011) zurückgegriffen wird. Ein weiterer Strang in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung setzt sich stärker mit abstrakten, ästhetischen, relationalen, sozial produzierten oder symbolischen Raumkonzepten auseinander, die mit Foucaults ‚Heterotopie‘ als Gegenort, Sojas realem und zugleich imaginärem ‚thirdspace‘ oder Bhabhas handlungsorientiertem ‚dritten Raum‘ großen Einfluss auf den Raumdiskurs haben (vgl. Bachmann-Medick 2015: 285-329; Dünne/ Günzel 2015: 289-368, 449-545). Der Interaktionsraum hat auch mit den hier exemplarisch genannten und oft wechselseitig miteinander verwobenen raumtheoretischen Ansätzen zahlreiche Überlappungen, weshalb es nicht verwundert, dass Marko Juvans Zusammenschau postmoderner raumtheoretischer Zugänge in den Geisteswissenschaften in höchstem Maß auf ihn zuzutreffen scheint, denn der postmoderne Raumbegriff ist: offen, unvollendet, relational, heterarchisch, zeitlich mehrdimensional (an den gleichen Ort schreiben sich Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft ein), ontologisch vielfältig (physisch, konzipiert, aktuell, virtuell, real, möglich, diskursiv, erlebt, imaginiert, vorgestellt usw.), vor allem aber ist er in ständiger, zum Teil autopoetischer Entstehung und Umbildung, die feste und geometrisch bestimmbare räumliche Gegebenheiten mit der Beweglichkeit in verschiedene Richtungen weisender Strömungen und ihrer Schauplätze kreuzt; in einem solchen Raum treten die Geometrien physi- 70 Andreas Leben (Graz) scher Gegebenheiten in Interaktion mit gesellschaftlichen Praxen, mentaler Kartierung und den mehrdimensionalen Strömungen von Informationen, Quellen, Gütern, Menschen und des Kapitals. ( Juvan 2016: 21) Aus raumtheoretischer Perspektive weist der Interaktionsraum eine besondere Nähe zum Drei-Ebenen-Modell Jörg Dünnes (2004: 2) auf, der einem kultur- und medienwissenschaftlich Ansatz folgend zwischen kulturpragmatischen, semiotischen und technischen Räumen unterscheidet und die historische Bedingtheit von Raumerzeugung durch semiotische Ordnungen, die eine immanente Bedeutungsdimension aufbauen und sich in ein Verhältnis zu lebensweltlichen Räumen setzen können, hervorhebt. Kulturpragmatische Raumtheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie Raumkonstitution weder in rein die Medien der Übertragung betreffenden technischen Bedingungszusammenhängen noch in semiotischen Raum-Repräsentationen aufgehen lassen: Ein kulturpragmatischer Zugang zu Raum ist da gegeben, wo ein kultureller Raum nicht mehr in einer wie auch immer gearteten, semiotisch begründeten Lesbarkeit aufgeht, sondern semiotische Ordnungen selbst der Frage nach ihrer historischen Bedingtheit unterzogen werden. […] Von technischen Raumtheorien unterscheidet sich ein kulturpragmatischer Ansatz dadurch, dass Raumkonstitution in ihm nicht als medientechnisch determiniert erscheint, sondern zugunsten einer Interaktion oder Konkurrenz mit diskursiven, sozialen oder symbolischen Ordnungen aufgebrochen wird. (ebd.: 7) Genauer spezifizieren lässt sich das Modell des Interaktionsraums jedoch anhand der 1974 veröffentlichten Raumtheorie Henri Lefebvres, auf welche etliche Raumkonzepte nach dem Spacial turn Bezug nehmen. Da nicht wenige von ihnen essentialistische, nationale, einsprachige, monokulturelle, ausgrenzende, rassistische, patriarchale oder kolonialistische Paradigmen zu überwinden versuchen, scheint es angebracht, daran zu erinnern, dass Lefebvre seine Auffassung von Raum als einer weder absoluten noch messbaren noch a priori gegebenen, sondern vielmehr von einer Gesellschaft praktisch und diskursiv hervorgebrachten Kategorie vor dem Hintergrund seiner Kritik an der mathematisch-geometrisch oder geographisch orientierten Raumwissenschaft formuliert hat. Diese repräsentiere den „politischen Gebrauch“ von (im Westen neokapitalistischem) Wissen, impliziere eine Ideologie, die den politischen Gebrauch zu kaschieren und für sich ein nicht von Interessen geleitetes Wissen zu reklamieren versuche, und verkörpere die im besten Fall eine technologische Utopie (Lefebvre 2008: 8-9). Von daher ist einzuräumen, dass auch der Interaktionsraum nicht frei von politischen und ideologischen Komponenten ist und dass er es Lefebvres Raumtheorie zufolge auch nicht sein kann, weil Raumrepräsentationen von einem stets relativen und sich verändernden Wissen, Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums 71 „einer Mischung aus Erkenntnis und Ideologie“ durchdrungen und als solche Teil der sozialen und politischen Praxis sind (ebd.: 41). 9 Entsprechend besagt seine Definition von (sozialem) Raum als (sozialem) Produkt, der weder aus einer „Ansammlung von Dingen im Raum“ noch als Aggregat kognitiver Daten noch aus einer befüllten oder zu befüllenden Leere besteht (ebd.: 26-27), dass an das Wissen über diesen Raum die Erwartung gestellt werden müsse, den Prozess der Produktion dieses Raums zu reproduzieren und zu erklären, wobei die Theorie den generativen Prozess nicht von außen, sondern von innen reproduziere (ebd.: 36-37). Dieser Ansatz bildet einen integralen Teil von Lefebvres Versuch einer einheitlichen Raumtheorie, die gemäß dem Prinzip „Analyse gefolgt von Exposition“ zur Findung von „Raumwahrheit“ führen soll (ebd.: 9). Seine Theorie basiert wesentlich auf der mehrdimensionalen dialektischen Beziehung zwischen den sich an und für sich nicht überlappenden Kategorien von physischem, mentalem und sozialem Raum und den drei relationalen Komponenten (wahrgenommener, produzierender und reproduzierender) Raumpraxis, (konzeptualisierter, ordnender) Raumrepräsentationen und (gelebter, passiv erfahrener, reale Objekte symbolisch benutzender) Repräsentationsräume (ebd.: 11-14, 33, 38-39). Angewandt auf den Interaktionsraum würde dies heißen, dass es sich um einen konzipierten Raum handelt, der auf datengestützter räumlicher Praxis basiert, und dass sich die „gelebten“ Repräsentationsräume in Form von symbolisch aufgeladenen literarischen Texten konkretisieren und über den physischen Raum legen. Lefebvre erachtet den konzipierten Raum jedoch als den dominanten Raum jeder Gesellschaft (ebd.: 38-39), was auf den Interaktionsraum kaum zutreffen dürfte, dennoch kann er für sich in Anspruch nehmen, raumrepräsentativ sein, indem er eine Alternative zu anderen dominanten literarischen Raumkonzeptionen bietet. Instruktiv sind in diesem Zusammenhang auch Lefebvres Überlegungen zur Semantik von Raumbegriffen, wenn er festhält, dass es in keiner Sprache einen allgemeinen Raumcode, eine Art super code gebe, dass aber die räumlich-sozialen Praxen in bestimmten historischen Perioden und Gesellschaften spezifische, decodierbare Raumcodes hervorbringen, die auch wieder kollabieren können (ebd.: 16-17, 25-26). 10 Insofern kann der Interaktionsraum 9 „Raumpolitik“ steht auch „am Anfang des spatial turn“ und „verschiebt die kulturwissenschaftliche Diskussion von Differenzen und ‚Othering‘ weg von der bloß diskursiven Ebene auf eine pragmatische und politische Ebene“ (Bachmann-Medick 2014: 291). 10 Auch Begriffen wie Nationalliteratur, Regionalliteratur, Minderheitenliteratur oder dem slowenischen Spezifikum ‚zamejska literatura‘ (hinter den Grenzen befindliche Literatur), die auf Raum rekurrieren und die zeitlich, sozial und politisch determiniert sind, ist demnach ihr potentielles Verschwinden eingeschrieben. 72 Andreas Leben (Graz) als Hervorbringung eines bestimmten gesellschaftlichen Bedarfs gedeutet werden. Zu den empirischen, aus der Raumpraxis stammenden Daten ist anzumerken, dass die Raumpraxis nicht mit der Diversität sozialer Praxis gleichgesetzt werden kann, denn in „Wirklichkeit ‚enthält‘ der soziale Raum soziale Handlungen, Handlungen sowohl individueller als auch kollektiver Subjekte, die geboren werden und die sterben, die leiden und die tätig werden“ (ebd.: 33, Übers. A.L.); sozialer Raum ist demnach ein vitaler Prozess des Kommens und Gehens, fluider Veränderung, während sich die Raumpraxis erst durch seine Dechiffrierung offenbart (ebd.: 38). Lefebvres Raumtheorie legt auch nahe, den Interaktionsraum nicht nur als wissenschaftliches Konzept zu verstehen, sondern aus der sozialen Praxis heraus. Denn wenn es zutrifft, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert und jede soziale Existenz, die für sich den Anspruch erhebt, real zu sein, sich ihren eigenen Raum schaffen muss - wenn sie nicht als seltsame Entität erscheinen, ihre Identität verlieren, auf die Stufe von Folklore fallen und früher oder später verschwinden will (ebd.: 53) - leistet das Modell auch einen Beitrag zur Sichtbarmachung der handelnden Akteur_innen, die dominante Raumordnungen und Codes unterlaufen und symbolische Objekte neu verhandeln. Da sich der Interaktionsraum explizit auf literarische Zwei- und Mehrsprachigkeit bezieht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Lefebvres Raumtheorie, abseits von der Linguistik und Philosophie, Sprache keine Rolle spielt. Im Gegenteil, Lefebvre spricht sich gegen die These des Primats der Sprache aus (ebd.: 16-17, 28) und spöttelt über die gesprochene oder geschriebene Sprache, die er im Hinblick auf die Vermittlung sozialer Zeit und räumlicher Praxis als schwerfällig erachtet. Er weist auf ihren teils bäuerlichen teils theologisch-philosophischen Ursprung hin und sieht den Bedarf, die Sprachen zu verschrotten und zu rekonstruieren; eine Aufgabe, die er der sozialen Praxis zuweist (ebd.: 132). Seine Empfehlung mag als Provokation gedacht gewesen sein, bei genauerer Betrachtung der im Rahmen des Interaktionsraums erfassten literarischen Produktion findet sie aber in den sprachexperimentellen Texten durchaus Widerhall. Im Unterschied zu Lefebvres Raumtheorie müssen innerhalb des Modells des literarischen Interaktionsraums die zwei- und mehrsprachige Situation, die Formen literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit und Phänomene wie Sprachmischung und Sprachwechsel geradezu als zentrale Aspekte der sozialen Praxis und des sozialen Raums erachtet werden, was auch die Komplexität der dialektischen Beziehung zwischen Raumpraxis, Raumrepräsentation und Repräsentationsraum erhöht. Mehrsprachigkeit, die Inter- und Transkulturalität voraussetzt, ist ein Instrument der Dechiffrierung sozialer Praxis, sie ist aber auch den passiv erfahrenen Repräsentationsräumen inhärent, die sich wiederum Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums 73 auf den sozialen Raum auswirken und zu Veränderungen der dominanten Verhältnisse in den Raumrepräsentationen führen können. Aus raumtheoretischer Perspektive ist schließlich festzuhalten, dass der Interaktionsraum, der ausgehend vom zweisprachigen literarischen Feld der Kärntner Slowen_innen über das österreichische und das slowenische literarische Feld hinausreicht, von der Idee ‚(trans-)kultureller Zwischenräume‘ abzugrenzen ist, sofern damit hybride Übergangsräume gemeint sind, die sich zwischen verschiedenen (nationalen) Kulturen und Literaturen entfalten. 11 Hingegen lässt er sich sehr wohl als Zwischenraum im Sinne der von Certeau beschriebenen ‚zwischenräumlichen Bewegungspraxis‘ begreifen, denn ihm zufolge ist der Raum „ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.“ Im Gegensatz zum Ort weist der Raum „weder eine Eindeutigkeit noch eine Stabilität von etwas ‚Eigenem‘“ auf; er ist „ ein Ort, in dem man etwas macht “ (Certeau 2015: 345). Aus dieser Perspektive kann der Interaktionsraum des Weiteren als „dritter Raum“ gedacht werden, als Zwischenraum, in dem kulturelle Differenzen artikuliert und verhandelt werden, als Raum, „von dem aus Strategien - individueller oder gemeinschaftlicher - Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, […] zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen“, als „Raum der Intervention im Hier und Jetzt“ oder auch als Raum, der die „diskursiven Bedingungen der Äußerung“ konstituiert, „die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können“ (Bhabha 2011: 2, 11, 57). 4 Der Interaktionsraum und seine Anwendbarkeit Es kann festgehalten werden, dass das hier diskutierte Modell eines überregionalen literarischen Interaktionsraums trotz des Bezugs auf das mit Kärnten verbundene zweisprachige literarische Feld über kein (echtes) topographisches Korrelat verfügt und auf handlungsorientierten und kommunikativen Raumpraktiken basiert, innerhalb derer es zum Transfer von (literarischen) Repertoires und Modellen kommt. Der Interaktionsraum kann als Produkt räumlich-sozialer 11 Zur Kritik an der Zuschreibung von Zwischenpositionen im Kontext der Migrationsliteratur vgl. Adelson (2006). 74 Andreas Leben (Graz) Praxis konkreter Akteur_innen und Institutionen aufgefasst werden, als ein spezifischer, gesellschaftlich hervorgebrachter Raumcode, der dekodiert werden kann. Konzeptuell ist er in den postnationalen und postmonoligualen Zugängen verankert und bildet als solcher eine Ergänzung oder Alternative zu jenen raumbasierten literaturwissenschaftlichen Ansätzen, die von essentialistischen Kategorien wie Sprache, Nation und Identität, oder von topographischen Kriterien ausgehen. Ein wesentliches Merkmal des Modells ist, dass es die Erfassung empirischer Daten erforderlich macht, die im Falle eines relativ überschaubaren Interaktionsraums, wie er ausgehend von der literarischen Praxis der Kärntner Slowen_innen konzipiert wurde, systematisch evidentiert werden können. Wie gerade der von ideologischen und sprachpolitischen Konflikten und Ängsten geprägte zweisprachige Kärntner Raum zeigt, hat das Modell den Vorteil, dass auf personenbezogene ethnische, sprachliche oder die Identität betreffende Zuweisungen weitgehend verzichtet werden kann. Fragen der Identität, der Zugehörigkeit, der Zwei- und Mehrsprachigkeit, der Sprachmischung, des Sprachwechsels, der Peripherie, der Abhängigkeit, der Ideologie, des Wissens, der Erinnerung bis hin zur Diskussion von Zwischenräumen, Übergangsräumen, Grenzräumen, postkolonialen Verhältnissen und Diversität können als Teil der empirisch erfassbaren Handlungen und Diskurse aufgefasst und zusammen mit Fragen des kulturellen und literarischen Transfers schlicht als raumkonstitutiv bzw. als Teil sozialer und literarischer Praxis verhandelt werden. Der Interaktionsraum erlaubt es, problembehaftete Begriffe wie Nationalliteratur oder Minderheitenliteratur zu hinterfragen und zu umgehen. Er macht soziale und literarische Praxen sichtbar, die gängige Ordnungen und Konventionen unterlaufen, und ist nach allen Richtungen hin prinzipiell offen und erweiterbar. Er kann ebenso auf Interaktionen im Bereich des Theaters, des Films oder der Musik angewendet werden wie auch auf andere literarische, kulturelle oder soziale Kontexte, bei denen eine ähnliche Spezifizierung möglich ist, wie im Fall der Literatur der Kärntner Slowen_innen. Literaturverzeichnis Adelson, Leslie A. (2006). Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.). Literatur und Migration. Text + Kritik. Sonderband. München: Edition Text + Kritik, 36-46. Amann, Klaus (2007). Regionale Literaturgeschichtsschreibung am Beispiel Kärnten. In: Brandtner, Andreas (Hrsg.). Zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung: Fallstudien, Entwürfe, Projekte. Linz: Land Oberösterreich, Stifter-Haus, Zentrum für Literatur und Sprache, 46-63. 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Institutionen, Akteure, Modelle: Das Kärntner zweisprachige literarische Feld als Anziehungspunkt für deutschsprachige Autor_innen Erwin Köstler (Wien) Abstract: Compared with the situation in the 1970s and 1980s, the preconditions for the production of literature in the bilingual field in Carinthia, in terms of repertoires and institutions, have so profoundly changed that the description of this field today has to take into account literary practices, that go by far beyond the frame of the literature of the Carinthian Slovenes. Not only do we see code-switching and an increasing orientation of Slovene authors towards the German literary scene and book market, but also German-writing authors from inand outside the region who engage themselves in the bilingual sphere and make use of its literary institutions. The following contribution thus outlines the institutional basis for literary interaction in the bilingual field and gives some examples of participation by German-writing authors, concerning co-operation on the institutional level, occupation with the contemporary history and memory culture of the Carinthian Slovenes and selected cases of actual literary bior multilingualism on the level of texts. Keywords: literary interaction, bilingual field, Carinthia, German-writing authors, institutions Wenn wir von zwei- oder mehrsprachiger Literatur in Kärnten sprechen, meinen wir ein transkulturelles literarisches Feld, in dem von getrennten, „mehr oder minder isoliert nebeneinander bestehenden literarischen Milieus“ (Amann/ Strutz 1998: 581) längst nicht mehr die Rede sein kann. Die Sprache, in der geschrieben wird, ist vielfach nicht mehr der identitätsbestimmende Faktor, den sie für die meisten der in der Vorkriegs-, Kriegs- oder frühen Nachkriegszeit geborenen Kärntner slowenischen Autor_innen noch darstellte. Dies gilt reziprok auch für primär Deutsch Schreibende. So erachtet die in Kärnten aufge- 80 Erwin Köstler (Wien) wachsene Autorin Lydia Mischkulnig die Tatsache, dass ihr die Sozialisation in slowenischer Sprache vorenthalten worden sei, sowie die daraus resultierende Verstrickung mit dem „sprachrassistischen“ Kärnten sehr wohl als prägend für ihr Schreiben, weist aber jede identitätsbezogene Prägung ihrer Literatur von sich, denn, so erklärt die Autorin, seit sie den Unsinn einer Ursprungklärung erkannt habe, bringen sie „Identitätsfragen nur mehr zum Lachen“ (Fischer 2016). Dieser Umstand hat weitreichende Auswirkungen auf die Konzeption des überregionalen literarischen Interaktionsraums, in den die Literatur von Kärntner Slowen_innen eingebettet ist, 1 ist aber auch für das Zustandekommen literarischer Interaktionen, die wesentlich auf dem Transfer von Repertoires und Modellen beruhen, von größter praktischer Bedeutung. Wir sehen nämlich nicht nur eine zunehmende Orientierung Kärntner slowenischer Autor_innen in den deutschsprachigen Raum, sondern auch deutschsprachige Autor_innen, die Publikationsmöglichkeiten und andere Repertoireangebote im zweisprachigen Bereich nutzen. Es ist deshalb sinnvoll, die institutionelle Basis zu skizzieren, die das zweisprachige Feld als Ausgangspunkt und Ziel überregionaler literarischer Interaktion kennzeichnet, bevor wir uns am Beispiel des Theaters und der Erinnerungskultur einzelnen Formen literarischer Mehrsprachigkeit vor allem bei primär deutschsprachigen Autor_innen zuwenden. Verlage Die überregional sichtbarsten zweisprachigen Verlage in Kärnten, Drava, Mohorjeva/ Hermagoras und Wieser, stellen seit Längerem auch attraktive Publikationsorte für deutschsprachige Autor_innen dar und sind heute (bei allen gegebenenfalls bestehenden juristischen Verflechtungen mit Minderheitenorganisationen) nicht mehr in erster Linie als Minderheitenverlage anzusehen. 2 Sowohl Drava als auch der 1987 gegründete Wieser Verlag erwarben sich internationales Renommee gerade auch mit der systematischen Übersetzung slowenischer Literatur ins Deutsche 3 und gingen mit ihren interkulturellen Programmen bald über den regionalen Rahmen hinaus. Über eine starke 1 Vgl. den Beitrag von Andreas Leben in diesem Band. 2 Für die Entwicklung des Drava Verlags vom Organ einer politischen Dachorganisation zum Literaturverlag vgl. Leben (2003). Die Verlagssituation hat sich heute insofern geändert, als die Wieser Verlag GmbH Anfang 2016 den Drava Verlag vom Zentralverband der slowenischen Organisationen (ZSO) übernahm, der ZSO dafür im Gegenzug 35 % der Wieser Verlag GmbH erhielt, vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Drava_Verlag (Stand: 12/ 02/ 2019). 3 Drava, Hermagoras/ Mohorjeva und Wieser sorgten zusammen noch vor wenigen Jahren für mehr als 50 % der Gesamtproduktion an Übersetzungen slowenischer Literatur ins Deutsche (Köstler/ Leben 2014). Institutionen, Akteure, Modelle 81 deutschsprachige Verlagsschiene mit einem relativ hohen Anteil an genuin deutschsprachiger Literatur verfügt auch der katholische Hermagoras Verlag/ Mohorjeva, der von allen genannten noch am meisten in slowenischer Sprache produziert und damit am ehesten dem „Muttersprachendiskurs“ (Dembeck/ Parr 2017: 54) verbunden erscheint, sich jüngst aber auch für experimentelle Literatur geöffnet hat. Im Windschatten der zweisprachigen Verlage agierte 1999- 2016 der Klagenfurter Kitab Verlag als interkultureller Verlag mit einem starken Akzent auf slowenisch-deutschen Wechselbeziehungen in Kärnten. 2010 kam mit der Reihe Edition Meerauge des Verlags Heyn ein weiterer Klagenfurter Verlag hinzu, der sich ausdrücklich der literarischen Zweisprachigkeit in Kärnten annimmt und damit das Angebot an mehrsprachiger Literatur erweitert. Gerade eine Reihe wie die Edition Meerauge zeigt, dass die oben angedeutete Kompartimentierung der Kärntner literarischen Öffentlichkeit, die lange Zeit eine mehr oder weniger rigorose Abgrenzung zwischen den Strukturen der Mehrheit und der Minderheit bedeutete, ihre Gültigkeit verloren hat. Vielmehr ist Zweisprachigkeit auch in deutschsprachigen Verlagsprogrammen manifest. Wissenschaftsinstitutionen, Kulturinitiativen, Vereine Die regionalen Verlage nehmen Anteil an interinstitutionell vermittelten Kontakten auf regionaler wie überregionaler Ebene. Kooperationen sehen wir beispielsweise mit Verbänden (z. B. des Hermagoras-Verlags mit dem Kärntner Schriftstellerverband), Kulturinitiativen (z. B. des Drava Verlags mit dem Verein UNIKUM) oder auch mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (z. B. des Wieser Verlags mit dem ORF). Viele produktive Kontakte kamen über Einrichtungen an der Universität Klagenfurt oder andere Wissenschaftsinstitutionen zustande und etablierten die zweisprachigen Verlage gewissermaßen auch als Fachbuchverlage. Bei Mohorjeva und Drava etwa sind eine Vielzahl von Monographien und Sammelbänden aus dem Bereich der Regional- und Sozialgeschichte der Kärntner Slowen_innen sowie der Literaturwissenschaft erschienen (z.T. in Übersetzung). Von großer Bedeutung war die wissenschaftliche Reihe Disertacije in razprave/ Dissertationen und Abhandlungen , die 1979-1999 bei Drava erschien. Die 44 Bände umfassende Reihe wurde vom Slovenski znanstveni inštitut/ Slowenischen wissenschaftlichen Institut (SZI) in Klagenfurt betreut und verankerte regionalspezifische zeithistorische, soziologische und sprachpolitische Themen im überregionalen Diskursfeld. Die Zusammenarbeit mit Wissenschaftsinstitutionen (z. B. SZI, Universität Klagenfurt) spielte auch bei der programmatischen Herausgabe von Erinnerungsliteratur von Kärntner Slowen_innen (in Original und Übersetzung) eine Rolle. 82 Erwin Köstler (Wien) Auch das Universitätskulturzentrum Unikum/ Kulturni center Univerze v Celovcu publizierte in erster Linie beim Drava Verlag. 4 Zum Teil mehrere Auflagen erlebten die regionalen Wanderbücher von Wilhelm Berger und Gerhard Pilgram, die mit programmatischen Titeln wie Kärnten unten durch (1998, 3 2001), Slowenien entgegen (2004), Die letzten Täler. Wandern und Einkehren in Friaul (2008) oder Tiefer gehen. Wandern und Einkehren im Karst und an der Küste (2011, 3 2013) auch den transnationalen Raum abstecken, in dem UNIKUM seine Kunstprojekte durchführt. 5 Ein interessantes literarisches UNIKUM-Projekt ist auch die bei Drava erschienene zweisprachige Anthologie nove večernice. Geschichten aus Kärnten/ Koroška , 2005 herausgegeben von Emil Krištof, Doris Moser und Helga Rabenstein, die spielerisch das historische Genre der „Večernica“ (der für die Publikationen der Mohorjeva typischen moralisch-belehrenden Erzählung) in den Buchtitel setzt. 6 Auf die Zusammenarbeit mit den zweisprachigen Verlagen setzte auch das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv. Insbesondere bei Drava erschienen: Editionen (Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe , DVD mit Begleitheft, 2009), Sammelbände ( Krieg, Widerstand, Befreiung , 2013), Lesebücher (Werner Kofler: In meinem Gefängnis bin ich selbst der Direktor , 2009), Anthologien ( Kärnten literarisch , 2002); bei Wieser der Text- und Materialienband Lipuš lesen (2000). Als Literaturhaus, Archiv und Forschungsstelle ist das Musil-Institut von Anfang an der Erschließung und Erforschung von Quellen zur Literatur- und Kulturgeschichte Kärntens und des Alpen-Adria-Raums verpflichtet. 7 Mit Fabjan Hafner (1998-2016) und Dominik Srienc (ab 2016) zählt das Institut praktisch seit seiner Gründung auch stets einen Kärntner Slowenen zu seinen Mitarbeitern. Am Musilhaus fand von 1998 bis 2016 die Verleihung der Österreichischen Staatspreise für literarische Übersetzer im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur statt. 4 Der gemeinnützige Verein besteht seit 1986 und ist institutionell als „besondere universitäre Einrichtung“ an der Universität Klagenfurt verankert, vgl. www.unikum.ac.at/ (Stand: 06.02.2019). 5 Vgl. dazu auch den aus dem EU-Projekt „Klopfzeichen/ Colpi/ Potrkavanja“ hervorgegangenen dreisprachigen Atlas der besonderen Orte / Atlas posebnih krajev / Atlante die luoghi poarticolari (Drava 2010), an dem Autor_innen aus Österreich, Slowenien und Italien mitgewirkt haben, aus Österreich u. a. Maja Haderlap, Lydia Mischkulnig und Dietmar Pickl. 6 Vertretene Autor_innen: Christoph W. Bauer, Janko Ferk, Antonio Fian, Maja Haderlap, Fabjan Hafner, Andrej Kokot, Lydia Mischkulnig, Jani Oswald, Corinna Soria, Peter Truschner. Zum Genre der Večernica vgl. auch den Beitrag von Dominik Srienc in diesem Band. 7 Vgl. die Forschungsschwerpunkte des Instituts unter www.aau.at/ musil/ literaturforschung (Stand: 06/ 02/ 2019). Institutionen, Akteure, Modelle 83 Literaturwettbewerbe und Preise Auch bei der Vergabe des Bachmann-Preises ist in den letzten drei Jahrzehnten eine transkulturelle Öffnung festzustellen. 8 Mit der Zuerkennung des Preises an Maja Haderlap für ihren auf Deutsch geschriebenen Roman Engel des Vergessens (2011) richtete sich die internationale Aufmerksamkeit auf Themen, die die halbvergangene Geschichte und Lebenswelt der slowenischen Volksgruppe in Kärnten betreffen. 2018 wurde mit Florjan Lipuš ein ausschließlich auf Slowenisch schreibender Kärntner Autor mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur gewürdigt. Der in Kooperation des Literarischen Colloquiums Berlin, des Goethe-Instituts in Ljubljana und des Musil-Instituts in Klagenfurt gestiftete und 2017 erstmals vergebene Fabjan-Hafner-Preis für literarische Übersetzer ist als Beispiel für eine überregionale interinstitutionelle Zusammenarbeit besonders hervorzuheben. Auf regionaler Ebene haben sich zweisprachige Literaturwettbewerbe etabliert, so der Kärntner Lyrikpreis der Stadtwerke Klagenfurt, der Bleiburger Literaturwettbewerb Koroška v besedi - Kärnten wortwörtlich, der auch überregional ausstrahlt, oder der 2011-2014 ausgerichtete Literaturwettbewerb der Klagenfurter Gruppe. Der Villacher Literaturpreis richtet sich zwar an deutschsprachige Autor_innen, zwei der Initiatoren des ausrichtenden Vereins Wort- Werk, Simone Schönett und Harald Schwinger, sind jedoch im zweisprachigen Feld verankert. 9 Schließlich können auch Schriftstellerresidenzen zum Aufbau produktiver Kontakte im zweisprachigen Bereich führen, so bei Karsten Krampitz und Peter Wawerzinek, die 2010 bzw. 2011 (als Gewinner des Publikumspreises beim Bachmann-Wettbewerb) in der Landeshauptstadt als Stadtschreiber residierten und sich mit dem literarischen Briefwechsel Crashkurs Klagenfurt (Heyn 2012) für ihren Aufenthalt revanchierten. Wawerzinek sollte drei Jahre später in seiner Klagenfurter Rede zur Literatur (Heyn 2015) seine besondere Beziehung zu Österreich als literarischem „Geburtshelfer“ erläutern. Krampitz, der während seines Aufenthalts u. a. das Gästebuch zur Jörg-Haider-Ausstellung im Bergbaumuseum Klagenfurt rezensierte und 2011 auf einem Kneipenabend der 8 Die Hauptpreise an Emine Sevgi Özdamar (1991) und Terézia Mora (1999), der Jurypreis an Feridun Zaimoglu (2003) oder der Publikumspreis an Saša Stanišić (2005) korrespondieren mit dem seit den 1980er Jahren steigenden öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse an transkulturellen literarischen Praxen, vgl. Sturm-Trigonakis (2007: 13-23, 47-58). 9 Schönett selbst nahm mit einem Ausschnitt aus dem Roman Im Moos (s. u.) am Literaturwettbewerb „Schreiben zwischen den Kulturen“ des Wiener Vereins exil teil. Neben ihr ist auch Kevin Vennemann (s. u.) im Sammelband zum zehnjährigen Bestehen des exil-Literaturpreises vertreten, vgl. Stippinger, Christa (Hrsg.): best of 10 , Wien: edition exil 2007. 84 Erwin Köstler (Wien) Emanzipatorischen Linken in Berlin aus Jörg Haiders Stasi-Akte las, war zuletzt Herausgeber der Anthologie Drei Wege zum See oder Eine andere Stadt (Drava 2018), die auch slowenische Texte enthält. Theater In Kärnten gibt es kein ständiges slowenisches Theater, dafür aber eine sehr lebendige und umfassend dokumentierte zweisprachige Theaterszene, an der sich auch überregional tätige Autor_innen beteiligten. 10 Das Theater ist für die Kärntner Slowen_innen seit der Nachkriegszeit ein wichtiger Ort der Selbstbehauptung, durch Einübung und Verwendung der slowenischen Sprache oder durch Einsatz von Narrativen aus der Zeit der Verfolgung und des Widerstands. 11 Eine grundsätzlich widerständige (antifaschistische) Haltung kennzeichnet auch einige hier exemplarisch genannte Theaterproduktionen, an denen deutschsprachige Autor_innen mitgewirkt haben und denen gegebenenfalls Bedeutung bei der überregionalen Etablierung von Erinnerungsorten der Kärntner Slowenen zukommt. Die Kontakte der Autorin, Regisseurin und Filmemacherin Tina Leisch zu Kärnten datieren von den Widerstandstagen gegen die erste schwarz-blaue Regierung, an denen Leisch sich im Jahr 2000 zusammen mit dem von ihr gegründeten Volxtheater Favoriten (Wien) beteiligte. Leisch blieb anschließend in Kärnten, wurde 2001 Mitbegründerin des Peršman-Vereins zur Neugestaltung des seit 1982 am Peršmanhof nahe Eisenkappel/ Železna Kapla - dem Ort eines am 25. April 1945 begangenen Massakers an Zivilisten - bestehenden Museums, war bis 2004 Obfrau des Vereins und zwischenzeitlich Kustodin des Museums. Auf Grundlage der 2002 zugänglich gewordenen Gerichtsakten zum (1949 eingestellten) Ermittlungsverfahren gegen die mutmaßlich beteiligten Polizisten erarbeitete Leisch das „Dokumentartheater“ Elf Seelen für einen Ochsen - Enajst duš za enega vola , das 2003 im Rahmen des oberösterreichischen Festivals der Regionen in Linz uraufgeführt wurde und Aufführungen an verschiedenen Spielstätten in Oberösterreich erlebte, bevor es auch in Kärnten gezeigt wurde. Die hier inszenierte Verhandlungssituation hat hohe symbolische Bedeutung, weil das Massaker bis heute Gegenstand schuldumkehrender Darstellungen ist. 10 Vgl. dazu die Übersicht über das Repertoire slowenischer Theatergruppen bis zum Jahr 2000 (Leben 2004: 283-313), sowie die laufende Aktualisierung der Dokumentation im Koroški koledar (Drava) durch Andrej Leben. 11 Im Theater wird das politische Potenzial von Literatur, aus jenen, die sonst nur Objekte im öffentlichen Leben sind, sichtbare Subjekte werden zu lassen, augenfällig (Rancière 2016: 32-33). Auf das Verbot des slowenischen Laientheaters schon in der Zwischenkriegszeit weist auch Peter Handke in seinem Stück Immer noch Sturm hin (Handke 2010: 53). Institutionen, Akteure, Modelle 85 Leisch berichtet, dass es bis zur Gründung des Peršmanvereins praktisch keine allgemein zugänglichen Informationen über das Massaker gab und dass der Ort sogar österreichischen Historikern unbekannt war (Leisch 2004). Die Autorin weist auf die Bedeutung der Erinnerungsliteratur von Kärntner Slowen_innen (v. a. Prušnik, Gemsen auf der Lawine , 1974) und von Oral history ( Jelka , 1984, 12 Spurensuche , 1990) als Quelle für ihr Stück hin und streicht neben der Zusammenarbeit mit engagierten Zeithistorikern in Kärnten insbesondere die Rolle Zdravko Haderlaps (s. u.) als Informationsgeber und Bahner von Kontakten hervor (Interview vom 11.07.2017). 13 Auch der aus Griffen/ Grebinj stammende Autor und Regisseur Bernd Liepold-Mosser widmet sich der slowenischen Widerstandsthematik aus einer allgemein widerständigen Haltung heraus, die er als Grundlage seiner Arbeit bezeichnet (Interview vom 31.05.2017). Zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Slowenischen Kulturverband (SPZ) schrieb Liepold-Mosser Stücke mit „slowenischer“ Thematik. Die Produktion Das Dorf an der Grenze (Klagenfurter Stadttheater 2003) bestand zu etwa einem Viertel aus Textpassagen in slowenischer Sprache und gastierte auch am Slowenischen Nationaltheater in Ljubljana. Die dreisprachige (deutsch-slowenisch-englische) Produktion Romeo & Julija ging im slowenischen Kulturzentrum in St. Johann im Rosental/ Šentjanž v Rožu über die Bühne (k&k 2007). Auf dem Plakat zur Uraufführung ist das ursprünglich in Völkermarkt stehende Partisanendenkmal abgebildet, das 1953 von unbekannten Tätern gesprengt und dreißig Jahre später vor dem Peršmanhof wiedererrichtet worden war. Das Stationendrama Partizan (artecielo 2008) war eine zweisprachige Theaterproduktion in Zusammenarbeit mit dem SPZ und dem ORF Kärnten und wurde auch als Buch mit beiliegender DVD produziert; die slowenische Übersetzung stammt von Theaterregisseur Marjan Štikar. Der Autor zitiert darin ausgiebig Quellen aus dem Bereich der Oral history (z. B. Spurensuche , oder Rettl/ Obid: Partisanenkinder , 2006), die im Buch allerdings ungenannt bleiben. Liepold-Mosser erarbeitete für die neuebühnevillach auch eine stark gekürzte Bühnenfassung von Peter Handkes Stück Immer noch Sturm , die am 20. September 2012 zum zehnjährigen Bestehen des Theaters im Villacher Stadtkinosaal uraufgeführt wurde. 14 12 Das von Thomas Busch und Brigitte Windhab nach Tonbandaufzeichnungen von Helena Kuchar geschriebene Buch Jelka. Aus dem Leben einer Kärntner Partisanin (Drava 1984) war u. a. auch Grundlage für die Theaterfassung Jelka. Wir sehen uns im nächsten Krieg von Susanne Lietzow, die 1999 an der Studiobühne Villach realisiert wurde. 13 Dieses und die an anderer Stelle angeführten Interviews wurden im Rahmen des FWF-Projekts zur zweisprachigen literarischen Praxis der Kärnter Slowen_innen durchgeführt und dokumentiert. 14 Vgl. https: / / www.kleinezeitung.at/ kultur/ 3985432/ Ein-paar-Ureinwohner-winken-noch (Stand: 02/ 11/ 2018); Handkes Stück erlebte die Uraufführung im Rahmen der Salzburger 86 Erwin Köstler (Wien) Das Theaterstück Zala von Simone Schönett und Harald Schwinger entstand für das teatr trotamora und wurde als Beitrag zum 90. Jahrestag der Kärntner Volksabstimmung in Auftrag gegeben, die Uraufführung fand 2010 im Kulturzentrum k&k in St. Johann/ Šentjanž statt. Das Stück nimmt einen der bekanntesten kollektiven Mythen der Kärntner Slowen_innen auf, der seit der Dramatisierung durch Jaka Špicar (1909) fester Repertoirebestandteil des slowenischen Theaters in Kärnten ist, spätestens mit der Bearbeitung durch Janko Messner und Peter Militarov 1987 aber auch zum Gegenstand ideologischer Kontroversen innerhalb der slowenischen Volksgruppe wurde. 15 Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit sind konstitutiv für den Text von Schönett und Schwinger, der in der Theateraufführung synchron in slowenischer bzw. deutscher Sprache projiziert wurde (Schönett/ Schwinger 2011: 138). Das Slowenische wird auch dadurch sichtbar, dass Zala im Lauf des Stückes slowenische Wörter in den Rücken „tätowiert“ werden. Da sich die Inszenierung als ungeahnt erfolgreich erwies, tourte sie im Frühjahr 2011 durch Slowenien; es gab auch - angeblich durch Vermittlung Peter Turrinis - ein Gastspiel am Klagenfurter Stadttheater (Schönett/ Schwinger 2011: 130). Die in der Edition Meerauge bei Heyn erschienene Buchausgabe ist ebenfalls durchgehend zweisprachig gehalten: links der (vorwiegend) deutsche, rechts der (vorwiegend) slowenische Text - in welchem slowenische Textelemente im Original reziprok ins Slowenische übersetzt werden; die Übersetzung ins Slowenische stammt von Marjan Štikar, der das Stück auch inszenierte (Schönett/ Schwinger 2011: 130-139). Das für das klagenfurter ensemble geschriebene Stück Loibl-Saga des Wiener Autors Erwin Riess wurde in einer zweisprachigen Gemeinschaftsproduktion mit teatr trotamora und teatr zora am 2. Dezember 2015 in der Theaterhalle 11 in Klagenfurt uraufgeführt (Regie: Marjan Štikar). Die geschilderten Ereignisse im Zwangsarbeitslager am Loibl, eines Außenlagers des KZ Mauthausen, reichen bis zur Verlegung der Häftlinge in das Lager Süd im April 1945. Im Hintergrund ständig präsent ist Janko Tišler, der als Vermessungstechniker beim Loibl-Tunnel eingesetzt war und als Fluchthelfer mit den Partisanen zu- Festspiele 2011 und stand noch im selben Jahr auf dem Spielplan des Wiener Burgtheaters. 2013 wurde eine slowenische Fassung am slowenischen Nationaltheater in Ljubljana gezeigt - das im selben Jahr übrigens auch eine Bühnenfassung von Maja Haderlaps Engel des Vergessens (Angel pozabe) brachte . 15 Die modernisierte Miklova Zala ’87 , die eine Verlegung des Stoffes von der Zeit der Türkeneinfälle in die Jahre des Zweiten Weltkriegs vorsah und vor allem die antisemitischen Tendenzen des Stückes kritisierte, rief den Widerstand konservativer Kulturwächter hervor, die auf der Tradierung des Stoffes in seiner ursprünglichen Form beharrten; das Stück ging als Masseninszenierung über die Bühne, an der mehr als 80 Schauspieler (Amateure und Professionalisten aus Kärnten und aus Slowenien) beteiligt waren (Leben 2004: 76-86). Institutionen, Akteure, Modelle 87 sammenarbeitete. Tišler zählt als Autor einer 1995 bei Drava erschienenen Dokumentation (Tišler/ Rovšek 1995) auch zu den wesentlichen Referenzen zum KZ am Loibl. 16 Eine treibende Kraft des Projekts war der Gründer des Mauthausen Komitees Kärnten/ Koroška Peter Gstettner, der mehrere Anhänge zur Buchausgabe (Kitab 2015) schrieb und auf dem Titelblatt als Coautor des Buches genannt ist. Das Titelwort „Saga“ bezieht sich somit nicht nur auf das Stück, sondern auf den Gesamtkontext aus Verdrängung und Leugnung, der die Etablierung des Loibls als Erinnerungs- und Gedenkort in Österreich so lange verunmöglicht hat. Die erwähnten Theaterproduktionen repräsentieren nicht annähernd das zweisprachige Theater in Kärnten. Als prominentere Produktionen der letzten fünfzehn Jahre, an denen deutschsprachige Autor_innen beteiligt waren, zeigen sie jedoch exemplarisch die Bedeutung von Erinnerungsliteratur und Oral history als literarische Quelle. Erinnungskulturelles Repertoire als Modellfall für literarischen Transfer Grundsätzlich ist der erinnerungsliterarische Bereich bei den Kärntner Slowen_ innen bei aller institutionellen Fundierung als relativ stabiler Bereich anzusehen. Nach den Erinnerungen von Karel Prušnik-Gašper Gamsi na plazu/ Gemsen auf der Lawine (sln. 1958, dt. erstmals 1974 bei Drava, mehrfach aufgelegt, zuletzt neu aufgelegt 2015 bei Wieser) und insbesondere nach der Dokumentation Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen (ÖBV 1990), die Interviews mit mehr als fünfzig Zeitzeugen umfasst, wurde v. a. beim Drava-Verlag mit der systematischen Veröffentlichung von Erinnerungsbüchern von Kärntner Slowen_innen in Original und Übersetzung begonnen. Die Bedeutung dieser Bücher für die überregionale (internationale) Rezeption der Themen Vertreibung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg kann kaum überschätzt werden, mit ihnen gewinnt ein spezifisches literarisches Genre auch Bedeutung für die Außenwahrnehmung der Kärntner Slowen_innen und ihrer Literatur. Eva Schörkhuber weist anhand von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens zu Recht auf die genremäßige Verbindung zur Erinnerungsliteratur der Kärntner Slowen_innen hin, die aus einer oberflächlichen Rezensentenperspektive als 16 Zu Tišler vgl. auch den Beitrag von Wilhelm Kuehs Unrecht ist nicht mehr einzuklagen in: Die Brücke 22/ 2001, 10-12. Kuehs, Autor erfolgreicher Kriminalromane, brachte u. a. bei Mohorjeva eine Sammlung von Kärntner Sagen heraus und war persönlich mit Janko Messner bekannt, den er in der Gestalt des Luka Valenti in seiner Erzählung Laufen gegen den Tod (1998) verewigte (Interview vom 29.05.2017). 88 Erwin Köstler (Wien) Ausdruck einer minoritären Befindlichkeit abgetan werden mag, 17 die in Wahrheit aber eine kontextualisierte Lektüre über das Autobiographische hinaus erforderlich mache (Schörkhuber 2017: 114-127). Referenzen auf Verfolgung und Widerstand sowie auf Erinnerungsorte der Kärntner Slowen_innen sind relativ zahlreich und natürlich auch in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur, soweit sie sich auf Kärnten bezieht, zu finden. 18 Das Zwangsarbeitslager auf der Kärntner Seite des Loibl wurde in Österreich erst Mitte der 1990er Jahre öffentlich thematisiert. Die überregional wohl bekannteste (und eigentlich frühe) literarische Referenz auf das Lager ist Alois Hotschnigs Roman Ludwigs Zimmer (Kiepenheuer & Witsch 2000), jedoch bemängelt Vinko Ošlak im Nachwort zu seiner 2002 bei Mohorjeva/ Hermagoras erschienenen slowenischen Übersetzung, dass der Autor, der sonst jeden Baum und jeden Vogel benenne, die Kärntner Slowenen mit keinem Wort erwähne, obwohl am bewaffneten Widerstand in Kärnten (den Hotschnig sehr wohl erwähne) nur Slowenen mitgewirkt haben können (Hotschnig 2002: 118). Das Beispiel zeigt, dass auch durch das Fehlen signifikanter Referenzen auf das zweisprachige Feld eine Relevanz im Sinne der literarischen Interaktion gegeben sein kann. Der Peršmanhof darf heute als überregional bekannter Erinnerungsort der Kärntner Slowen_innen betrachtet werden. 19 Allein in den letzten fünfzehn Jahren finden wir die Ereignisse vom 25. April 1945 mindestens in folgenden Texten thematisiert: Tina Leisch: Elf Seelen für einen Ochsen (2003, s. o.), Marie-Thérèse Kerschbaumer: Briefe einer Gefangenen an die Mit- und Nachwelt (Eichborn 2004) 20 , Gertrude Haderlap: Die manipulierte Generation (der wolf verlag 2004), 17 Schörkhuber nennt die ZEIT-Rezension von Ulrich Greiner, der der Autorin unterstellt, sich in ihrem Buch einzig um „Gerechtigkeit für die Slowenen“ in Kärnten zu bemühen, als besonders herablassendes Beispiel (Schörkhuber 2017: 114-115). 18 Vgl. z. B. Marjan Kordaš: Engelsflügel in einer fremden Welt (2013), Luise Maria Ruhdorfer: Gott im Verstand, das Herz in der Hand (2013), Karlheinz Rossbacher: Lesen und Leben (2013), Theresia Köfer: Im Fluss des Lebens (2015). Nicht berücksichtigt sind die massenhaften Referenzen auf die Partisanen in Publikationen aus dem Umfeld des Kärntner Heimatdienstes und des Abwehrkämpferbundes, die eine ausschließlich diffamierende Absicht zur Affirmierung der eigenen ideologischen Position verfolgen. 19 Das Massaker am Peršmanhof bildet z. B. auch den historischen Hintergrund für den in Kärnten spielenden TV-Krimi aus der Tatort-Reihe Unvergessen , der 2013 erstmals ausgestrahlt wurde und die Thematik für ein Massenpublikum aufbereitete. 20 Kerschbaumers dichterischer Protest gegen den mörderischen globalen Kapitalismus, „ein handgeschriebenes Nachrichtenblatt in kassiberform“ [sic! ], erschien erstmals im Sammelband Betroffensein. Texte zu Kärnten im Herbst 1980 , herausgegeben von Harald Irnberger (Celovec/ Klagenfurt: Slowenisches Informationscenter/ Slovenski informacijski center 1980, 65-74). In den Sammelband Wegen der Gegend. Literarische Reisen durch Kärnten , herausgegeben von Barbara Higgs und Wolfgang Straub (Frankfurt a. M.: Eichborn 2004, 63-65), wurde lediglich der Teil über den Peršmanhof übernommen. Institutionen, Akteure, Modelle 89 Kevin Vennemann: Mara Kogoj (Suhrkamp 2007), 21 Bernd Liepold-Mosser: Partizan (Wieser 2008), Ferdinand Skuk: Chefinspektor Meissner und der Kranmörder (Hermagoras 2009) sowie Die Kopfjäger (Hermagoras 2011), Maja Haderlap: Engel des Vergessens (Wallstein 2011), Erwin Riess: Loibl-Saga (Kitab 2015), Lydia Mischkulnig: Die Paradiesmaschine (Haymon 2016), Bertram Schacher: Das Jakoberhaus (Verlag Ph. C. W. Schmidt 2017), Evelyn Steinthaler: Peršmanhof. 25. April 1945 (bahoe 2018) - Letzteres ein Peršman-Comic! Bei Wallstein in Göttingen erschien 2014 in erster Auflage der Sammelband Peršman , herausgegeben von Lisa Rettl und Gudrun Blohberger, der auch eine Dokumentation der Ausstellung des Peršman-Museums enthält. Der aus dem Münsterland stammende und heute in den USA lebende Kevin Vennemann hielt sich im Zuge seiner Recherchen am Roman Mara Kogoj mehrmals am Peršmanhof auf und wurde so mit Zdravko Haderlap bekannt, der den nahegelegenen Vinkl-Hof als Begegnungs- und Kulturstätte betreibt (Interview mit Zdravko Haderlap vom 21.02.2017). Der Kampf um die Erinnerung (der ein Machtkampf ist) ist hier als Interview inszeniert, das zwei Kärntner Slowenen mit einem rechtsextremen Zyniker führen, welcher das Massaker am Peršmanhof als Werk der Partisanen (und die SS als zu spät gekommene Retter) darstellt. Die „hochgradig kulturelle Kodierung des historischen Chronotopos“ (Previšič 2014a: 111) setzt für das Verständnis des geschilderten Konflikts immerhin ein gewisses Verständnis des Gesamtkontexts (die Verdrängung historischer Verantwortung als Grundlage für die Diskriminierung der slowenischen Minderheit in Kärnten) voraus. Vennemann reichte für seine Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb 2006 einen Ausschnitt aus Mara Kogoj ein. In genremäßiger Hinsicht besonders interessant ist der „Roman“ Das Jakoberhaus von Bertram Schacher. Der 1957 in Fürth geborene und in Hagenbüchach aufgewachsene Autor begann sich als Erwachsener für das ehemalige „Aussiedlerlager“ in Hagenbüchach zu interessieren und kam so auf die Erinnerungen von Franc Resman ( Rod pod Jepo 1971; deutsch: Familienchronik des Franc Resman vulgo Tratnik aus Ledenitzen , 2005), die er in seinem Buch mehr oder weniger nacherzählt, wobei er noch weitere Texte aus dem erinnerungsliterarischen Bereich (Briefe, Zeitzeugenberichte usw.) montiert (Schacher 2017: 243). Es handelt sich um ein instruktives Beispiel für die direkte Übernahme eines Modells (Erinnerungsliteratur) in einen literarischen Text. 21 Eine Hörspielfassung mit dem Titel Beiderseits wurde 2007 vom Bayrischen Rundfunk ausgestrahlt. 90 Erwin Köstler (Wien) Formen der literarischen Mehrsprachigkeit auf der Textebene In Anlehnung an die von Dembeck und Parr gegebene Typologie lässt sich im Hinblick auf personelle und institutionelle Aspekte von Mehrsprachigkeit auf der Ebene des Kontexts sprechen (Dembeck/ Parr 2017: 116). Der bloße familiäre Bezug zum Slowenischen in Kärnten präjudiziert keine Integration in das zweisprachige Feld und äußert sich in verschiedenen Graden der (Nicht-) Thematisierung. Die (teilweise) slowenische Herkunft (z. B. von Peter Handke, Lydia Mischkulnig, Alexander Micheuz, Endo Anaconda) bedeutet unter Umständen nicht einmal eine rudimentäre Sozialisation in slowenischer Sprache. Sprachwechsel wiederum, der auf der Werkebene praktisch nur bei Kärntner slowenischen Autor_innen eine signifikante Rolle spielt, kann Autor_innen mit lediglich primärer (z. B. Ferdinand Skuk) oder auch bildungssprachlicher slowenischer Sozialisation (z. B. Maja Haderlap, Elena Messner) betreffen. Ein signifikanter Bezug nicht-slowenischer Autor_innen zum zweisprachigen Feld kann u. a. durch Mitarbeit an einem zweisprachigen Periodikum (Helga Glantschnig), 22 durch Mitautorschaft oder -herausgeberschaft an relevanten Publikationen (Andreas Pittler), 23 oder durch Erlernen der slowenischen Sprache (Katharina Herzmansky) zustande kommen. Ein reines Kontextphänomen ist die Zusammenarbeit deutschsprachiger Autor_innen mit den zweisprachigen Verlagen (z. B. Richard Schuberth), in anderen Fällen (z. B. in Wilhelm Kuehs Mythensammlung, s. Anm. 16) ist das Slowenische auch auf der Ebene der Textüberlieferung manifest. Thematische, sprachliche und/ oder textuelle Referenzen auf das zweisprachige Feld begründen Formen latenter oder manifester Mehrsprachigkeit (Radaelli 2014), deren Bandbreite abschließend anhand einiger ausgewählter Beispiele veranschaulicht werden soll. In dem oben genannten „Roman“ Das Jakoberhaus gibt der Ich-Erzähler die Geschichte wieder, die er am Sterbebett des Großvaters seines Kärntner slowenischen Freundes gehört haben will (Herausgeberfiktion, vgl. Dembeck/ Parr 2017: 175). Diese spärliche Rahmenhandlung dient hauptsächlich der chronotopischen Verankerung des Geschehens für den völlig unkundigen Leser (an dessen Stelle sich der ahnungslose Ich-Erzähler ursprünglich setzt). Der Text (Nacherzählung, einmontierte Briefe usw.) ist in hohem Maß zitathaft. Bis auf wenige Sätze, die in slowenischer Sprache stehen, ist er ein Beispiel für latente Mehrsprachigkeit (vgl. Radaelli 2014), weil abgesehen von auf Deutsch referierter Figurenrede die ursprüngliche Kommunikationssituation, die zur (zwei- 22 Vgl. die wieder aus der Universität Klagenfurt hervorgegangene, 1991-1997 erschienene zweisprachige feministische Zeitschrift Script. 23 Vgl. die Mitherausgeberschaft des Bandes Spurensuche. Erzählte Geschichte von Kärntner Slowenen (Wien: ÖBV, 1990). Institutionen, Akteure, Modelle 91 fachen) Nacherzählung der Resmanʼschen Erinnerungen führte, auf Slowenisch stattgefunden haben muss. Die Referenz auf den slowenischen Kontext ist sehr stark bei Peter Handke, in dessen Werk sich die teilweise slowenische Herkunft zu einem mythischen familiären Imaginarium verdichtet (Hannesschläger 2013) und gegebenenfalls ihr Korrelat im konservierten Wortschatz der Wörterbücher findet. 24 Anhand von Lektürenotizen in Autorenexemplaren Kärntner slowenischer Erinnerungsbücher (v. a. Prušnik, Gemsen auf der Lawine ) lässt sich verfolgen, wie der Autor im Zuge der Entstehung seines Stückes Immer noch Sturm (Suhrkamp 2010) die eigene Familiengeschichte in den fremden Text buchstäblich „eingeschrieben“ hat (Hannesschläger o. J.). Slowenische Sprache (als Motiv) und das Widerstandsnarrativ der Kärntner Slowen_innen stehen ganz im Vordergrund. Der Text enthält viele slowenische Textelemente (auf allen Ebenen der Syntax) und auch Formen der Sprachreflexion (Radaelli 2014: 165), z. B. absichtliche Übersetzungsfehler bei der Beschreibung von Apfelsorten (Handke 2010: 24-25), wörtliche Übersetzung als inszenatorisches Element (Previšić 2014b: 348) und als Strategie des Translanguaging (Dembeck/ Parr 2017: 31-32) und anderes. Eine tragende Rolle im Sinne latenter Mehrsprachigkeit spielt das Slowenische auch in der auf dem Bleiburger Wiesenmarkt spielenden Erzählung Kettenkarussell/ Semanji vrtiljak (Wieser 2012) von Hugo Ramnek. Der aus Bleiburg/ Pliberk stammende und seit 1989 in Zürich lebende Autor thematisiert hier nostalgisch die nicht zur Erfüllung gelangte Sehnsucht eines Pubertierenden nach einem slowenischen Mädchen, wobei das Slowenische als Attribut der Geliebten eine Verklärung erfährt. Manifeste Zweisprachigkeit beschränkt sich im Originaltext auf vereinzelte Lexeme. Durch ihre Gestaltung als deutsch-slowenisches Wendebuch mit der Übersetzung ins Slowenische von Brane Čop und mit Zeichnungen von Werner Berg betont die Publikation jedoch den starken kontextuellen Bezug zum zweisprachigen Bleiburg. In ihrem autobiographisch geprägten Roman Im Moos (Bibliothek der Provinz 2001) thematisiert Simone Schönett die eigene Herkunft aus einer jenischen Familie und reflektiert Sprache auf mehreren Ebenen. Die Protagonistin Jana ist mit dem Schriftsteller Pawel verheiratet, der, einer assimilierten Kärntner slowenischen Familie entstammend, im Familienverband Janas lebt und sich laufend jenische Ausdrücke notiert. 25 Jana ihrerseits versucht die Sprache ihrer 24 Vgl. architextuelle Relationen nach Sturm-Trigonakis (2007: 141-142). Das bekannteste literarische Beispiel hierzu ist die Lektüre des slowenisch-deutschen Wörterbuchs von Pleteršnik (1895) in Handkes Roman Die Wiederholung (1986). 25 Pawel, dessen slowenische Herkunft im Text eigentlich nur erwähnt ist, nimmt als Figur, die Jana in ihren Bemühungen bestärkt, das Jenische zu dokumentieren, eine zentrale Position im Roman ein. 92 Erwin Köstler (Wien) Familie durch Schriftmalereien zu konservieren, zumal sie das Jenische auch nicht als Sprache, sondern als Wortschatz begreift. Wie im Stück Zala , das die Autorin zusammen mit ihrem aus einer slowenischen Familie im Gailtal stammenden Ehemann Harald Schwinger verfasste, spielt also auch in dem Roman Im Moos die Schrift als ikonisches Element eine konkrete Rolle. Die häufigste Form manifester Mehrsprachigkeit ist die Verwendung einzelner anderssprachiger Wörter oder Syntagmen im Text. Sie werden oft zur Übermittlung kulturspezifischer Realien, zur Markierung anderssprachiger Kommunikationssituationen oder auch zur Wiedergabe von Code-Switching oder Code-Mixing (Dembeck/ Parr 2017: 150) in der Figurenrede eingesetzt. Inkorrektheiten (z. B. über grammatische Interferenzen, Analogiebildungen, aber auch Neologismen und Hybridbildungen) sind dabei durchaus geeignet, die Ausdrucksmöglichkeiten im Text zu erweitern (vgl. Sturm-Trigonakis 2007: 131-133; Radaelli 2014; Dembeck/ Parr 2017: 31-32). Unter Umständen weist die schlicht fehlerhafte Schreibung slowenischer Wörter und Syntagmen auf die nur mündliche, nicht bildungssprachliche Sozialisation des Erzählers im Slowenischen hin, wie etwa in den Romanen Der gezeichnete Hund und Die Hand erzählt vom Daumen (Luftschacht 2008, 2011) des deutschen Autors Thomas Podhostnik, der darin über seine exzentrische slowenische Verwandtschaft schreibt. Sprachliche Interferenzen - z. B. „gesegnetes Wasser“ statt „Weihwasser“ oder „Wohnheim“ statt „Wohnung“ ( Der gezeichnete Hund , S. 19, 83) - verweisen zusätzlich auf die Distanz zwischen dem (in deutscher Sprache sozialisierten) Ich-Erzähler zu seiner als peinlich fremd erlebten Familie. Durchgehende, komplementär verteilte Zweisprachigkeit innerhalb eines Textes finden wir schon im Zweipersonenstück von Max Gad (d. i. Mathias Grilj): Happy Baby (1987), in dem die eine Person („Er“) Deutsch, die andere („Sie“) Slowenisch redet, ohne dass die slowenischen Passagen in irgendeiner Weise ins Deutsche übertragen würden. Der Grazer Autor (selbst slowenischer Herkunft) betont, dass er beim Schreiben nicht an Slowenisch gedacht habe, dass der Regisseur der Uraufführung im Rahmen des Steirischen Herbstes 1987 die fremdsprachlichen Passagen aber in slowenischer Sprache haben wollte (Interview vom 09.10.2017). Die Buchausgabe (Droschl 1987) verfügt deshalb über einen Anhang, in dem die slowenischen Passagen alternativ ins Türkische übersetzt sind. Bei Bernd Liepold-Mossers Produktion Romeo & Julija (2007) haben wir es mit einem Beispiel für (zumindest teilweise) komplementäre Dreisprachigkeit zu tun, mit dem Englischen als dem Verbindungsglied zur weltliterarischen Vorlage. 26 26 Vgl. dazu die Ankündigung auf kärnten.orf.at vom 20.04.2007: „Romeo gesteht Julia seine Liebe auf slowenisch, Julia antwortet Romeo auf deutsch. Jeder versteht den anderen, Institutionen, Akteure, Modelle 93 Die oben genannten Bücher von Thomas Podhostnik weisen auf einen weiteren Bereich der Sprachmischung (Radaelli 2014: 165) hin, dem wir in Texten begegnen, die dem sprachlichen Experiment nahestehen, und von dem hier abschließend die Rede sein soll. Allein schon die Benennung von Familienmitgliedern nach Farben - Sivo (grau), Plav (blau), Zelena (grün) - zeigt einen spielerischen Zugang, in dem das Slowenische als „embedded language“ (vgl. Dembeck/ Parr 2017: 294) selbst der (sprechpragmatischen) Verfremdung unterliegt. 27 Noch tiefer geht der assoziative Umgang mit Wortelementen über Sprachgrenzen hinweg. Sprachmischung bis hinunter zur Ebene der Morpheme ist konstitutiv für die Dichtung Jani Oswalds, der mittels „Variieren und Kombinieren von Sprache“ immer neue „Perspektivierungen, Bedeutungszusammenhänge und […] Lesarten“ erzeugt, weshalb der ideale Leser seiner an klassischen avantgardistischen Verfahren geschulten Dichtung zweisprachig sein sollte (Leben 2017: 359). 28 Ansätze einer ludistischen Poetik finden wir unabhängig davon auch bei anderen Kärntner Autor_innen. Miriam Auers Debütroman Hinter der Zeit (Heyn 2014) generiert in gleichsam Joyceʼscher Manier einen „sozialen Mikrokosmos“, in dem alles „sprach-verwandelt, in eine Struktur des Surrealen, des Grotesken, des manchmal Makabren“ überführt wird (Fanta 2014); Ort der Handlung ist das topographisch nicht näher definierte Bad Bizarr-Margherita im Land Verlärntenreich, wo es einen veritablen „Ortsepitaphelstreit“ gibt. Gewisse Züge erinnern an Miriam Schöfman (d. i. Kristijan Močilnik), Waches Schwester (Rapial 1999): eine maßlose, genremäßig nicht bestimmbare Utopie, die im „Kastratanien“ des Jahres 50.000 n. Chr. spielt und eine Zukunft beschreibt, in der die Liebe gesiegt hat. Auch Močilnik verfremdet Sprache in assoziativer Weise, dehnt sie gelegentlich über das grammatikalisch Zulässige hinaus, erfindet Neo- und Pseudologismen, montiert oder erfindet Zitate und unterläuft überhaupt jegliche auf Identität (des Autors, des Orts und der Zeit) basierende Interpretation. Explizite Bezugnahmen auf die slowenische Sprache sind in dieser an automatisches Schreiben erinnernden Prosa kaum zu finden, obwohl der Autor Kärntner Slowene ist und in der Zeitschrift mladje noch in slowenischer Sprache publizierte. Dem sprachlichen Experiment nahe steht schließlich Peter Waterhouse, dessen Poetik der Mehrsprachigkeit (die auch eine deutsch-slowenische ist) zum Modellgemeinsam ist ihnen aber nur das Englische als dritte Sprache, die Sprache von William Shakespeare.“ https: / / ktnv1.orf.at/ stories/ 187173 (Stand: 02/ 11/ 2018). 27 Auf Wikipedia https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Thomas_Podhostnik wird Die Hand erzählt vom Daumen als „kubistischer“ Roman bezeichnet. Die Verlagsinformation zum Buch spricht von einer „dem Film und der Malerei entlehnten, komprimierten Bildsprache“ und berührt damit auch Fragen der Medialität, die über das rein Sprachliche hinausgehen. 28 Eine Forderung, die auch für das von Andrej Leben geschriebene zweisprachige Nachwort zu Oswalds vorläufig letztem Buch, den Sammelband Non minus ultra , gilt (Leben 2017). 94 Erwin Köstler (Wien) fall für die Beschreibung mehrsprachiger Poetiken schlechthin wurde (Radaelli 2014). Tatsächlich erfordert seine „Kontaminationspoetik“, in welcher sprachliche Polyphonie als Funktion eines nicht-hierarchischen, parataktischen Systems gehandhabt wird und der literarische Text als Teil eines „zwischensprachlichen“ übersetzerischen Kontinuums erscheint (Kubaczek 1998: 54-55), eine Lektürehaltung, die auf die gleichzeitige Präsenz heterogenster sprachlicher Versatzstücke gefasst ist. In der Fachliteratur wurde die Bedeutung der Reflexion über das zweisprachige Kärnten in Waterhouses Roman ( Krieg und Welt , 2006) bereits exemplarisch gewürdigt (Previšić 2014: 353-355). Die praktisch durchgehende assoziative Präsenz des Slowenischen (und auch Sloweniens) in Waterhouses aus Einbis Dreizeilern konstruiertem Poem Prosperos Land ( Jung und Jung 2006) lässt aber eine noch eingehendere Befassung mit seiner Poetik unter dem Aspekt der slowenisch-deutschen sprachlichen Interaktion geboten erscheinen. Fazit Wie bereits angedeutet, ist die hier gebotene Darstellung maßgeblicher Institutionen, Akteure und Modelle innerhalb der das zweisprachige literarische Feld kennzeichnenden deutsch-slowenischen Interaktionen zwangsläufig selektiv. Schon in der Beschränkung auf definierte Themenbereiche (z. B. Erinnerungsorte) wird aber sichtbar, dass wir es - bei aller offensichtlichen Kleinheit und Überschaubarkeit des Feldes - doch mit sehr komplexen Verhältnissen zu tun haben, die es notwendig machen, jegliche sich auch scheinbar nur im Bezug auf den engeren Regionalraum manifestierende literarische Interaktion als Teil eines überregionalen literarischen Feldes zu betrachten. Diese Interaktionen beruhen wesentlich auf dem Gebrauch und Transfer von Repertoires und Modellen und bilden laufend Formen literarischer Mehrsprachigkeit aus. Das zweisprachige literarische Feld - als Ausgangspunkt und Ziel literarischer Interaktion - kann deshalb als Modellfall für die Beschreibung literarischer Mehrsprachigkeit als solcher dienen. Sein Umfang aber ist bedeutend größer, als es die bloße Untersuchung von Einzeltexten auf Formen manifester oder latenter Mehrsprachigkeit nahelegt. Literaturverzeichnis Amann, Klaus/ Strutz, Johann (1998). Das literarische Leben. In: Rumpler, Helmut/ Burz, Ulfried (Hrsg.). Kärnten: Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Wien u.a.: Böhlau, 547-605. Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) (2017). Literatur und Mehrsprachigkeit: Ein Handbuch. Tübingen: Narr. Institutionen, Akteure, Modelle 95 Fanta, Walter (2014). James Joyce kommt hinter der Zeit aus Verlärntenreich. In: Literaturhaus Wien, 27.11.2014. Abrufbar unter: www.literaturhaus.at/ index. php? id=10510 (Stand: 11/ 10/ 2016) Fischer, Marianne (2016). Lydia Mischkulnig: Lust an der Irritation. In: Kleine Zeitung, 25.10.2016. Abrufbar unter: www.kleinezeitung.at/ kultur/ buecher/ 5107815/ Interview_Lydia-Mischkulnig_Lust-an-der-Irritation (Stand: 29/ 10/ 2018) Gstettner, Peter/ Riess, Erwin (2015). Loibl-Saga: Erzählungen und Texte von Peter Gstettner und Erwin Riess. Klagenfurt/ Celovec: Kitab. Handke, Peter (2010). Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp. 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Factors such as deregionalisation, migration, mobility, globalisation and new media developments expand the range of writing in another language and the sphere of interaction. All these phenomena have an impact on the minorities’ literary repertoires, beginning with their recurrence as a narrative element and shaping the taxonomy of genres. From this point of view, the literature of the younger generation of Carinthian Slovenes may no longer rely on a specific place or the use of a specific language, but may be considered to be determined to a larger extent by the use of media - on the level of text and book production as well as in the field of interactions with other forms of art. Keywords: Carinthian Slovenes, literary practice, genre tradition, innovation, new media 1 Literarische Praxis Spätestens mit dem Ende der Zeitschrift mladje (1960-1991), die der modernen slowenischen Literatur in Kärnten über Jahrzehnte hinweg ein Forum und ihre spezifischen Formen gegeben hat, wird der bisherige Bezugsrahmen der Literatur der Kärntner Slowenen radikal infrage gestellt. Schon Johann Strutz führt in den Profilen der neueren slowenischen Literatur in Kärnten entgrenzende Phäno- 98 Dominik Srienc (Klagenfurt) mene wie literarische Bikulturalität, Bilingualität, Entregionalisierung, die Entstehung eines „über- und interregionalen Distributions- und Rezeptionsraums“ ins Treffen (Strutz 1998: 9, 28), die Ausdruck des veränderten Selbstverständnisses neuerer Kärntner slowenischer Literatur sind. Hinzu kommen Transformationsprozesse wie Migration und Globalisierung sowie mit den neuen Medien und digitalen Kommunikationstechnologien verbundene Phänomene, die nicht nur die literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach 1991 verändern, sondern auch die spezifische Verfasstheit, den Eigensinn der Literatur formen. 1 Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung des offenbar zusehends inadäquaten Begriffs einer ‚Kärntner slowenischen Literatur‘ neu verhandelt werden. Nähert man sich dem Begriff vor der Folie aktueller Schreib-Positionen, lässt sich von einem anderen Aggregatzustand dieser Literatur sprechen, der durch Heterogenität und Inkohärenz gekennzeichnet ist. Jeder Versuch einer Vergegenwärtigung des Begriffs führt zu einer widersprüchlichen Einheit, die sich ohne die problematische Rückbindung einer an Ort und Sprache gebundenen Literatur scheinbar gar nicht mehr fassen lässt. Hat sich die Literatur verselbstständigt? Handelt es sich dabei um einen fluiden Zustand oder um ein dauerhaftes Konzept? Müsste man nicht von Kärntner slowenischen Literaturen im Plural sprechen? Eine mögliche Denkbewegung gegen das starre Konzept einer territorialen, sprachlich-politisch verankerten Kärntner slowenischen Literatur hin zu einer systematischen Entgrenzung eröffnet sich über das thematische Feld von Mehrsprachigkeit und Innovation. Wie das mehrsprachlich-ästhetische Innovationspotential jüngerer Kärntner slowenischer Autor_innen 2 die gängigen Konventionen literarischer Praxis unterläuft, möchte ich exemplarisch an Beispielen darstellen, die sich im Kontext literarischer Mehrsprachigkeit lesen lassen. Ausgehend vom programmatischen Text Zum literarischen Selbstverständnis und zur Perspektive: Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten? von Florjan Lipuš werde ich zunächst der Frage nach dem Innovatorischen und Traditionellen nachgehen, um dann anhand des mehrsprachigen literarischen Blogs der Lyrikerin Verena Gotthardt und des literarischen Konzeptalbums von Nikolaj Efendi die Phänomene Mehrsprachigkeit, Intermedialität und Mobilität bzw. Migration näher zu betrachten. 1 Im Beitrag werden erste Teilergebnisse präsentiert, die im Rahmen des FWF-Projekts Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum gewonnen wurden. 2 Eine neue Generation hat sich bislang nicht formiert. Der Verfasser dieses Beitrags spricht zudem als Autor, Übersetzer, als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Robert-Musil-Instituts und FWF-Projektmitarbeiter innerhalb der Regeln des Systems. Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 99 2 Tradition, Innovation und Mehrsprachigkeit In Anlehnung an Boris Groys muss als Erstes an der „Herrschaft des Neuen“ (Groys 1992: 9) gerüttelt werden. Groys exemplifiziert im Buch Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie (1992) die Regeln der „Schaffung des Neuen“, das Neue bestimme als „ökonomischer Zwang“ das Funktionieren von Kultur, denn „[d]ie Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird“ (ebd.: 14), weil es, so Groys, „in gewissem Sinne nichts Traditionelleres als die Orientierung am Neuen“ gibt (ebd.: 9). Dem könnte man entgegenhalten, dass das Neue wiederum der Tradition bedarf, und sei es nur als der Folie, vor der es, sich abhebend, sichtbar wird. Im lateinischen Wortkern von Tradition (lat. tradere ) steckt das Moment der Weitergabe, der Überlieferung - ohne Tradition ist Groys zufolge keine kulturelle bzw. literarische Entwicklung, auch keine Innovation möglich. Fragen nach Innovation und Tradition sind schon seit der Renaissance Topoi literarischer Diskussionen (Simonis 2013: 757-759). Die Voraussetzungen für die slowenische Literatur und Kultur im 20. Jahrhundert in Kärnten sind eng mit den historischen und politischen Entwicklungen zwischen 1918 und 1945 verbunden. Repressionen, Verfolgung und Vertreibung brachten die slowenische Literaturproduktion in Kärnten nahezu zum Erliegen. Nach 1945 fand eine literarische Sozialisation der slowenischsprachigen Bevölkerung im Sinne eines traditionellen Kulturprogramms statt. Dabei verfolgte man ein volksbildnerisches Konzept, das in einer traditionellen, für ein breites slowenisch lesendes Publikum angelegten Massenliteratur mit einer eigenen Gattung, den ‚večernice‘ mündete. Dabei handelt es sich um Kalendergeschichten mit „religiös und national erbaulichem, archaisierendem Grundzug mit didaktischer Tendenz“ (Strutz 2006: 370). In dieser Beziehung zur traditionellen, etablierten Literatur sind die Bestrebungen der Literaturzeitschrift mladje zu lesen. Deren Credo war eine Umwertung und Neuordnung der Literatur sowie eine dialektische Auseinandersetzung mit literarästhetischen und kulturpolitischen Fragen nach dem Verhältnis von Innovation und Tradition: Für die Autoren des mladje ist die traditionelle Kultur nicht länger eine verbindliche Norm, sondern ein Fundus an vornehmlich sprachlichem Material, das man zitieren, verwenden, umformen, ausstellen, zerstören kann. Der Zugang zur Tradition und zur Überlieferung ist nicht ehrfürchtig bewahrend, sondern respektlos-experimentell. Die Situation einer ‚kleinen Literatur‘ bzw. der Literatur einer kleinen Gruppe wird ja generell von zwei einander scheinbar entgegengesetzten Tendenzen bestimmt: einerseits von dem Bestreben, Sprache und Kultur der Gruppe zu erhalten, andererseits von der Notwendigkeit zur Weiterentwicklung. Diese Kluft zwischen Bewahrung, auch um 100 Dominik Srienc (Klagenfurt) den Preis der Folklorisierung, und Innovation, um den Preis allgemeiner Verständlichkeit, ist in Kärnten in den 60er, 70er und auch noch in den 80er Jahren deutlich erkennbar. (Amann/ Strutz 2000: 12-13) Die Bestandsaufnahme der Kärntner slowenischen Literatur seit 1991 zeigt einen Wandel. Die literarische Produktion scheint an zwei Wahrheiten gebunden zu sein, an die Wahrheit des Ortes (Kärnten) und die Wahrheit der Sprache (Slowenisch). An Ort und Sprache gebundene Konzepte einer ‚Kärntner slowenischen Literatur‘ werden jedoch inkonsistent. Ihre Berechtigung sei hier nicht infrage gestellt, doch benötigt der Diskurs um ‚die‘ Kärntner slowenische Literatur eine Revision, die die realen Verhältnisse zwischen Realität und Repräsentation ins Bild rückt. Die Literatur der Kärntner Slowenen ist seit jeher ein Hybrid. Sie scheint gegenwärtig ein letzter Rückzugsort ‚traditioneller‘ slowenischer Literaturproduktion zu sein. Zugleich ist sie ein Ort der Manifestation des ‚Neuen‛ als neue, neu zu denkende und zu rahmende literarische Praxis im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation, aber auch von Mehrsprachigkeit, Migration, neuen Medien und Technologien. Strutz (1998: 9) erhebt Zweisprachigkeit im Sinne der „Pluralität künstlerischer Sprachen und Ausdrucksformen“ zum wichtigsten Merkmal der modernen slowenischen Literatur in Kärnten. Till Dembeck und Rolf Parr nennen im Handbuch Literatur und Mehrsprachigkeit als drei gute Gründe für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen literarischer Mehrsprachigkeit: den Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultureller und sozialer Differenz; die Herausforderung für philologische Instrumente der Textanalyse und die Möglichkeit der Überwindung nationalphilologischer Sichtweisen (Dembeck/ Parr 2017: 9). Um Phänomene literarischer Ein- oder Mehrsprachigkeit adäquat zu beschreiben, sind vorderhand genaue Kenntnisse „des jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Rahmens unabdingbar“ (Gramling 2017: 35). Weiters hängt das Verständnis mehrsprachiger Literatur wesentlich davon ab, wie, wo und wann Sprache(n) „Medium der Integration oder […] der Desintegration sind“ (Roche 2017: 45). Diese Aspekte sind mit Blick auf literarische Ein-, Zwei- und Mehrsprachigkeit in den Schreibpraxen etablierter wie jüngerer Kärntner slowenischer Autor_innen insbesondere im Zusammenhang mit der Klärung der Frage nach Sprachwahl und Sprachwechsel relevant. Darüber hinaus fokussiert die aktuelle Forschung zur Mehrsprachigkeit auf sprachlich-ästhetischen Verfahren, die Dembeck/ Parr (2017: 125-232) in vier Basisverfahren gliedern: 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung, 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede, 3. Zitat und Anderssprachigkeit, 4. Mehrschriftlichkeit. Dieser Ansatz soll im Folgenden für Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 101 Autoren der neueren Generation der Literatur der Kärntner Slowenen fruchtbar gemacht werden. 3 Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten? In seinem 1994 verfassten, erstmals 2000 veröffentlichten, programmatischen Manifest Zum literarischen Selbstverständnis und zur Perspektive: Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten? skizziert Florjan Lipuš das fundamentale Dilemma literarischer Produktion von Kärntner Slowenen. In diesem Text fließen mehrere bedeutende Aspekte zusammen. Lipuš, der die „ästhetischen Voraussetzungen für eine moderne Literatur“ (Strutz 1998: 30) in Kärnten schuf, erklärt die Frage nach dem literarischen Selbstverständnis vor allem zu einer fundamentalen Frage der Wahl der Sprache, in der geschrieben wird, aber auch der literarischen Qualität der Texte. Nicht der Inhalt bestimmt die Literatur, sondern die Sprache. Lipuš macht die (slowenische) Sprache zum Ausgangspunkt jeglicher Literaturproduktion; der Autor sollte es „auf die Sprache und auf sonst nichts abgesehen haben. Autoren sollen nichts verändern wollen, sondern einzig gute Texte produzieren“ (Lipuš 2000: 309). Lipuš’ Text steht modellhaft dafür, was ein Kärntner slowenischer Autor leisten muss. Kein anderer Kärntner slowenischer Autor hat die Verbindlichkeit dessen, was als Kärntner slowenische Literatur zu gelten hat, derart klar formuliert wie Lipuš. Der Duktus des Textes verweist darauf, dass sich der Autor schon von vornherein in einer hegemonialen Sprachsituation bewegt, in der sich die slowenische Sprache befindet und einen defizitären Stand aufweist. Die Geschichte der Kärntner Slowenen bildet in Lipuš’ Werk einen „regionalen Prätext“ (Strutz 1998: 78), den Kontext, in dem gerade auch die Sprache zu verorten ist. Der Autor findet für die slowenische Sprache Attribute des Unsichtbaren: „Sprache einer klein gewordenen Volksgruppe“, als Attribut eines emphatischen, affirmativen Kulturauftrags im Sinne einer Tradition, eines national being , das die Geschichte der Kärntner Slowenen mit sich bringt: „Sprache eines Volkes, das jahrhundertelang seine Existenz auf Kultur, auf Schreibende, aufgebaut und mit Kultur überlebt hat“ (Lipuš 2000: 309). 3 In diesem Rahmen werden jedoch nicht nur die Probleme literarischer Einsprachigkeit eines slowenisch schreibenden Autors in Kärnten aufgeworfen, sondern auch die Innovationspotentiale literarischer Mehrsprachigkeit: 3 Im selben Maß als Wunsch nach Verlebendigung der Bewahrung des Slowenischen ist der viel zitierte Satz aus der Rede von Lipuš anlässlich der Verleihung des Prešeren-Preises zu verstehen: „Z jezikom smo ali nismo“ (auf Deutsch etwa übersetzbar mit: „Mit der Sprache sind wir oder sind wir nicht“). Zur Differenzierung und Problematisierung dieser politischen Aussage im literarischen Zusammenhang siehe Leben (2017) . 102 Dominik Srienc (Klagenfurt) Mit diesen Grunderkenntnissen und Gegebenheiten ausgestattet, steht der Schreibende vor dem Dilemma, daß sein Tun nichts bewirken wird. Nicht nur, daß der Mensch abgestumpft und des Lesens nicht mehr kundig ist, sondern die Literatur selbst stellt von Natur aus und durch Zutun der Autoren erhöhte Anforderungen, denen sich viele nicht mehr gewachsen fühlen. Wenn dies für große Kulturen zutrifft, so noch viel mehr für kleine, und ganz besonders für sprachliche Minderheiten, die a priori schlechtere Bedingungen vorfinden. Andererseits darf nicht unerwähnt bleiben, daß aus der Zwei- und Mehrsprachigkeit dem Schreibenden (und Lesenden) unermeßliche Vorteile erwachsen. (Lipuš 2000: 310) Zwei Themen werden in diesem Manifest zusammengeführt: Der slowenisch schreibende Autor befinde sich, so Lipuš, „global gesehen […] auf verlorenem Posten“: Einerseits sind seine Texte nur durch Übersetzungen einem größeren Leserkreis zugänglich, andererseits ist die ‚Kulturpolitik‘ der slowenischen Volksgruppe immer darauf ausgerichtet gewesen und ist es heute noch, die Sprache als rein technisches Verständigungsmittel anzusehen, womit der Nivellierung nach unten keine Grenzen gesetzt werden. […] Somit produziert der slowenische Autor in Kärnten Texte, die sich von seinen Menschen abheben müssen, demnach nicht für sie geschrieben sein können, und auch nicht von ihnen gelesen werden können. […] So bleibt dem Autor nur noch die innere Emigration übrig. […] Die Tatsache, daß ich mich dem slowenischen Kulturkreis zugehörig fühle, hat keinen Einfluß auf mein Schreiben. (Lipuš 2000: 311) Diese Vorstellungen von kultureller Identität sind zu verstehen als Reaktion auf die Zumutungen, die die Geschichte der Kärntner Slowenen und Lipuš’ eigene Familiengeschichte mit sich bringt. Dennoch werden hier systemische Regeln festgelegt, in Kohärenz mit der von Lipuš definierten literarischen Praxis und den damit verbundenen Grenzen: Der slowenische Autor definiert sich durch den Gebrauch der Sprache (‚Slowenisch‘), ist determiniert durch seine Herkunft (‚Kärnten‘), ist einem spezifischen Kollektiv zugehörig (‚Minderheit‘) und befindet sich gerade dadurch in einer spezifischen systemischen Stellung („global gesehen auf verlorenem Posten“). Der Text lässt sich aber auch als Traditionsstiftung lesen, im Wechselverhältnis zu innovatorischen Prozessen. Interessant an dieser Konstellation ist, dass Lipuš mittlerweile zum Klassiker geworden ist; der Zögling Tjaž , von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt, ist in der Reihe Österreichs Eigensinn vertreten - als Vertreter einer Tradition, sich gegen Traditionen bewusst aufzulehnen. Die Art und Weise, wie ein Kärntner slowenischer Autor heute produziert, folgt jedoch anderen Regeln. An die Stelle der klassischen Funktion sind Autoren getreten, die unabhängig vom System (inter-)agieren. Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 103 4 Talking ’bout my generation Der Begriff der Generation ist in der Forschung in seiner Deutungspotenz oft bemüht und viel diskutiert worden. Eine narrative Beschwörung des Begriffs einer Einheit als „Erlebnis- oder Erfahrungsgemeinschaft“ (Parnes u. a. 2008: 12), als „zentraler Mechanismus der Sinnstiftung und Evidenzproduktion“ (ebd.: 10) hinsichtlich identitätsstiftender Prozesse ist stets zwischen „retrograden Selbstvergewisserungen“ und „generationeller Fortschrittsdynamik“ (ebd.: 12) gekoppelt. Auch im Zusammenhang mit der literarischen Produktion der Kärntner Slowenen ist versucht worden, dem kulturellen Geltungsbereich anhand des Generationenbzw. Phasen-Modells beizukommen. Der slowenische Literaturwissenschafter und Autor David Bandelj hat in Anlehnung an Leben (1995: 15-25) die bislang systematischste Gliederung der zeitgenössischen Literatur der Slowenen in Österreich vorgenommen. Leben hat rund um die Zeitschrift mladje das System in vier Entwicklungsphasen gegliedert (1. Phase 1960-1965, 2. Phase 1965-1972, 3. Phase 1972-1981, 4. Phase ab 1981, nach dem Erscheinen der letzten von Lipuš redigierten Ausgabe), Bandelj hat dieses Konzept um eine fünfte Phase, beginnend mit 1991, dem letzten Erscheinungsjahr von mladje , erweitert. Diese Phase sei durch eine Literatur gekennzeichnet, die sich von Fragen der Volkszugehörigkeit im Sinne einer affirmativen Literatur abwendet und dem rein ästhetischen Schaffen verschrieben habe (Bandelj 2014: 127). Bandelj diagnostiziert anhand der Anthologie Besedolomnice (2006) für die Literatur der Kärntner Slowenen das Primat rein künstlerischen Schaffens über Engagement und politische Funktion von Kultur. Als Fallbeispiele für die „jüngere Generation“ nennt er stellvertretend Janko Ferk, Maja Haderlap, Fabjan Hafner, Jani Oswald und Rezka Kanzian (ebd.: 126-127). Von diesen Autorinnen und Autoren möchte ich an dieser Stelle bewusst absehen, da ihr Schaffen und Beitrag zum Zweibzw. Mehrsprachigkeitsdiskurs u. a. bereits in den Profilen (Strutz 1998) und von Wintersteiner (2006) beschrieben wurde. Vor dem Hintergrund solcher Differenzierungen soll hier keinesfalls versucht werden, durch Umbesetzungen dem Konzept der Generation beizukommen, sondern es soll ein Aufriss aktueller Schreibpraxen gegeben werden. Zu der nach 1983 geborenen jüngeren Generation gehören in alphabetischer Reihenfolge Nikolaj Efendi, Stefan Feinig, Verena Gotthardt, Kvina Hutterer, Amina Majetić, Elena Messner, Aljaž Pestotnik, Dominik Srienc und Nina Zdouc. Nur einige wenige dieser Autorinnen und Autoren haben ihren Lebensmittelpunkt in Kärnten, die meisten schreiben auf Deutsch und/ oder Slowenisch. Es ist bezeichnend, dass seitens der zweisprachigen Verlage in Kärnten versucht wird, den neuen Namen im literarischen Feld eine organische Metapher im Sinne eines natürlichen Reproduktionsgeschehens überzustülpen. So nennt 104 Dominik Srienc (Klagenfurt) sich die im Wieser Verlag erscheinende Reihe junger Lyrik Popki literature (auf Deutsch mit ‚Knospen‘, aber auch mit ‚Bauchnabel der Literatur‘ übersetzbar). Semantisch schließt diese Reihe an mladje an (auf Deutsch ‚Jungholz‘), aber auch an die Literaturrevue Rastje (auf Deutsch mit ‚Bewuchs‘ übersetzbar) des slowenischen Schriftstellerverbandes in Kärnten. In die Reihe wurden bislang Hutterer, Majetić, Pestotnik und Zdouc aufgenommen, die Gewinner des Literaturwettbewerbs Pisana promlad der Volbank-Stiftung. 4 5 Literatur in Bewegung Im Gleichschritt mit der Entwicklung in der Literatur im Allgemeinen kennt auch die literarische Praxis der Kärntner Slowenen auf der Text,- Produktions- und Rezeptionsebene Formen der Intermedialität. 5 Der derzeitige Forschungsstand zu diesem Feld lässt keine weitreichenden Schlüsse zu, klar ist jedoch, dass sich mit den neuen digitalen Kommunikationstechnologien die Literatur virtualisiert und von der Wahrheit des Ortes losgelöst hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang von Transformationsprozessen einer ‚Literatur in Bewegung‘ 6 sprechen, welche sich in der „Bewegung von Menschen und Medien“ konstituieren und als spezifische Bewegung von Akteuren, Medien, Inhalten, Formen und Praktiken niederschlagen. Die unmittelbare, interaktive Kommunikation hat neue Rahmenbedingungen für die Entstehung von Literatur geschaffen. Unter dem Stichwort Literatur im Netz firmieren literarische Texte auf sozialen Netzwerken, E-Mails, Blogs, Autorenhomepages, Facebookprofile und Twitterveröffentlichungen. In der gegenwärtigen literarischen Praxis finden sich diesbezüglich überraschenderweise nur wenige Beispiele. Ein Blick auf die virtuellen Plätze der Kärntner slowenischen Literatur zeigt, dass nur wenig außerhalb der sozialen Netzwerke geschieht. Ein solcher Ort sind die beiden Blogs der 1996 geborenen Kärntner slowenischen Lyrikerin Verena Gotthardt, die in Wien und Paris lebend, seit 2015 Fotografie an der Universität für angewandte Kunst in Wien studiert. Gotthardt veröffentlichte bislang vorrangig Lyrik auf Slowenisch und Deutsch sowie Kurzprosa in deutscher Sprache in österreichischen und slowenischen Literaturzeitschriften, 2016 gewann sie den Literaturpreis der Stadt Bleiburg und erhielt den Förderungspreis für Literatur des Landes Kärnten. Der erste Blog ist im Zusammenhang mit dem Erscheinen ihres Lyrikdebüts in slowenischer Sprache Najdeni nič (Mohorjeva/ Hermagoras 2013) erschie- 4 Zum Wettbewerb siehe: www.promlad.at/ (Stand: 16/ 04/ 2018). 5 Siehe dazu Leben/ Srienc (2017). 6 Astrid Errl (³2017: 123-124) spricht von „Erinnerung in Bewegung“, welche sich im Kulturellen Gedächtnis niederschlägt. Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 105 nen. 7 Das Buch ist mit einem QR-Code ausgestattet, der den Blog mit dem analogen Buch verbindet. Über den Code erhält man Zugang zu den Übersetzungen ins Deutsche. Die Autorin bewirbt dieses Buch in ihrem Blog als das erste digital-analoge zweisprachige Buch. Am zweiten und derzeit aktuellen Blog von Verena Gotthardt mit dem Titel KAFFEEBILDER (Gotthardt 2018) lassen sich die Phänomene Mehrsprachigkeit, Tradition, Innovation aufgreifen. Der Blog war in seiner ursprünglichen Konzeption für die Kommunikation mit den Eltern anlässlich eines Au-pair-Aufenthalts der Autorin in Frankreich vorgesehen und hat sich zu einem mehrsprachigen literarischen Blog entwickelt. Die Autorin veröffentlicht Fotografien, Videos und Lyrik sowie Prosa vor allem in deutscher und slowenischer Sprache, aber auch einige Fragmente auf Französisch. Die Textfragmente rahmen dabei nicht nur die Fotografien, sondern stehen mit ihnen in einem Wechselverhältnis. Gotthardt spricht von der Tätigkeit des „Kuratierens“, der Arbeit am Blog, um ihr eigenes Schaffen zu dokumentieren. So wird auch das Projekt Draw me a line als Foto und als Video dokumentiert, welches 2017 auf der documenta 14 in Athen gezeigt wurde. Mithilfe eines losen, geformten Drahtes wird ein abstraktes, lineares Schriftbild auf eine Wand projiziert. Dieses Projekt, so die Auskunft Gotthardts, markiere die Realisierung von „Zwei- und Mehrsprachigkeit ohne Worte“ (Srienc 2018). Draw me a line ist ein Beispiel für „Mehrschriftlichkeit“ als einem der Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit (Schmitz-Emans 2017: 221). Mehrsprachigkeit äußert sich als gestisch erzeugte Spur zwischen bildlicher Figuration und Schriftzeichen, als Bewegungsspur eines literarisch-künstlerischen Experiments. 8 Im Blog dokumentiert Gotthardt neben ihrem Alltagsleben und Lektüreerfahrungen auch ihre Reisetätigkeit, welche die Autorin über Frankreich und Island auch nach Klagenfurt geführt hat. Am 1. März 2017 veröffentlichte sie ein französisches Gedicht mit dem Titel L’ILLUSION D’ÊTRE: „le vide / chuchote / plutôt / qu’il crie / / et / entre le temps / se retrouvent / la lune / et / sa sœur / pour / parler / de l’illusion/ d’être“. Der Blog stellt die Frage nach dem Zusammenhang von literarischer Mehrsprachigkeit und Intermedialität für die literarische Praxis der Kärntner Slowenen neu, indem er sich in einem virtuellen Raum konstituiert, als Werk- 7 https: / / verenagotthardt.tumblr.com/ (Stand: 15/ 04/ 2018) 8 Als weiteres Beispiel für Mehrschriftlichkeit in der Literatur der Kärntner Slowenen sei der 1999 erschienene experimentelle Roman Kristijan Močilniks Waches Schwester genannt. Motivisch findet die Verkettung von Mehrschriftlichkeit, Mehrsprachigkeit und Körperlichkeit ihren Ausdruck im zweisprachigen Theaterstück mit dem Titel Zala. Drama in sieben Bildern / Drama v sedmih slikah von Simone Schönett und Harald Schwinger (2011). 106 Dominik Srienc (Klagenfurt) stattbericht einer neuen, digitalen literarischen Praxis, als Ort, an dem Formen literarischer Mehrsprachigkeit ihren Ausdruck in einem digitalen Medium finden. Nicht zuletzt stellen insbesondere Blogs die Frage nach dem Autobiographischen neu. Die chronotopischen Strukturen sozialer Netzwerke erinnern unwillkürlich an die Gattung Autobiographie, welche eine der zentralen Erzähltraditionen in der Literatur der Kärntner Slowenen darstellt. Die Lektüre autobiographischer Blogs und anderer Belege der Präsenz Kärntner slowenischer Autor_innen in sozialen Netzwerken wäre lohnend, um das mehrsprachige, autobiographische Subjekt in einem soziohistorischen Raum zu verorten und die Produktion von Kärntner slowenischer Literatur im Netz im Gleichschritt aktueller Literaturproduktion zu lesen. 6 Beseitigte Dörfer, brennende Städte Ein zentraler Topos der Kärntner slowenischen Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Dorf, nicht zuletzt durch soziale und politische Gründe bedingt. Ebenso findet die seit den 1960er Jahren zunehmende Urbanisierung der Minderheit ihren Niederschlag in der Literatur. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Komplex von Stadt und Land lässt sich grob in drei Entwicklungslinien fassen: In den traditionellen Darstellungsmodellen der ‚večernice‘, erbaulichen Kalendergeschichten aus dem dörflichen Milieu mit stereotypem Figureninventar, polarisiert die urbane Realität der Stadt als ein Schreckbild der modernen Zeit. Die Figuren aus dem städtischen Milieu sind mit Werthorizonten „sittlicher Verworfenheit“ charakterisiert, im Gegensatz zu dem imaginativ wie moralisch überhöhten Personeninventar aus dem traditionellen bäuerlichen Milieu (Amann/ Strutz 2000: 11). Bei Lipuš, einem Vertreter der modernen Literatur, steht der komplexe soziale Raum des Dorfes im Mittelpunkt seines erzählerischen Programms, das formale Innovationen und radikale Wahrnehmungsweisen zum Vorschein bringt (ebd.: 19). In seinen Texten wird das Dorf radikal demaskiert und jeglicher Idylle beraubt. Auch bei Maja Haderlap findet sich eine Thematisierung von Prozessen wie Abwanderung, Landflucht, Urbanisierung, Transition, Migration, die mit dem Phänomen Mehrsprachigkeit gekoppelt sind. Der Land-Stadt-Diskurs spielt motivisch in der „ungleichen Konstellation“ der beiden Literatursprachen Deutsch und Slowenisch eine wichtige Rolle. In ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur bezeugt Haderlap den Sprachwechsel vom Slowenischen zum Deutschen, der zugleich einen Wechsel der Sprachlandschaft darstellt: Wie mutwillig aus einer Schreibsprache ausziehen, wenn das Aufgeben des Slowenischen in Kärnten das zu Erwartende ist? […] Ich musste für diesen Schritt in die Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 107 Freiheit kein Land verlassen, sondern nur meine Zweisprachigkeit befragen und in eine Sprachlandschaft wechseln, die bereit war, mich aufzunehmen. (Haderlap 2014). Nicht zuletzt begründet die Ich-Erzählerin den Sprachwechsel im Engel des Vergessens und versucht in Wien auf Slowenisch zu schreiben: In Wien nehme ich die Schreibversuche wieder auf und schreibe auf Slowenisch, als ob ich mich mit dieser Sprache ins Bewusstsein zurückrufen könnte, als ob mich das Slowenische zu meinen Empfindungen zurückführen könnte, die mir fremd geworden sind. (Haderlap 2011: 175) Die Thematik der Mobilität und Migration rückt schon allein in Titeln wie Haderlaps 2014 erschienenem Gedichtband langer transit in den Mittelpunkt, als prägendes inhaltliches Thema in Elena Messners 2016 veröffentlichtem Roman In die Transitzone oder bei Jani Oswalds Gedichtband Quaran Tanja mit dem Untertitel Homeland Eastland West Lend Fremd End konec . Auch der 2018 erschienene deutschsprachige Roman Kamnik von Felix Kucher hat Migration als inhaltliches Kernelement. Das literarische Debüt des Musikers und Autors Nikolaj Efendi, Die Stadt, die uns das Feuer nahm , 2017 im eigenen Plattenlabel dramatic pause 9 erschienen, verlagert den Schauplatz zur Gänze in die Stadt. Der Topos des traditionellen slowenischen Dorfes mitsamt seinen Akteuren spielt in diesem Text keine Rolle mehr. „Heimatlichkeit“ und „Geborgenheit im dörflichen Umfeld“, wie sie Amann und Strutz (2000: 19) für die konventionellen, traditionellen Elemente der älteren Literatur als tragend erachten, sind in diesem Stück Dystopie , so der Untertitel, nicht (mehr) präsent, sondern finden ihre ästhetische Transformation in Bildern der Verstörung, Entfremdung und Kritik an sozialen Umständen. Vier Charaktere - die Mehrsprachigkeit ist ihnen schon in die Namen eingeschrieben - Ilja, Darja, Zora und Anastassi finden sich in einem Moment gesellschaftlichen Umbruchs, untergetaucht im Untergrund einer posttotalitären, nicht näher topographisch verortbaren Stadt wieder, deren Tore nur noch den „Heimatberechtigten“ offenstehen. Schauplatz der Handlung ist „eine in Zonen unterteilte und abgeschottete Stadt, die sich nach dem Putsch der Gelbhemden im Transformationsprozess befindet“ (Efendi 2017: 2). Mit dem Topos einer Stadt im Ausnahmezustand steht Efendis Text thematisch in der Nähe von Messners Roman In die Transitzone. Schauplatz ist die 9 Das Plattenlabel dramatic pause vermittelt neben jungen Musikern auch junge Kärntner slowenische Autor_innen, so Nikolaj Efendi in einem Interview (Plank 2016). Innerhalb der literarischen Praxis der Kärntner Slowenen nimmt das Label einen singulären Platz ein, da es beispielhaft für eine Publikationspraxis steht, die unabhängig von den traditionellen Verlagen der slowenischen Minderheit (Mohorjeva/ Hermagoras, Wieser, Drava) agiert. 108 Dominik Srienc (Klagenfurt) fiktive südeuropäische Stadt Makrique, die unwillkürlich an Marseille erinnert. In beiden Texten werden, wenn auch mit anderen erzählerischen Mitteln und Perspektiven, aktuelle globale, politische und gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt: hier eine Stadt inmitten von Transformation, dort eine Verschiebung in den Bereich der Migration. Der Topos des Dorfes in der Kärntner slowenischen Literatur wird mit diesen zwei Werken endgültig überwunden. Die Stadt, die uns das Feuer nahm nimmt in der intermedialen literarischen Praxis der Kärntner Slowenen einen singulären Platz ein, denn parallel zum Buch erschien das Soloalbum Temper . Beide - CD und Buch - erzählen dieselbe Geschichte auf unterschiedliche Weise. Der Autor begründet die Vorgangsweise folgendermaßen: Ich wollte schon ganz lange ein transdisziplinäres Werk schaffen und eine Geschichte auf zwei unterschiedliche Arten erzählen: Einerseits anhand von dialogischer Narration und andererseits mit dem Schwerpunkt auf innere Monologe. Die verbindenden Elemente sind einerseits die Stadt, also der Ort, an dem die Geschichte stattfindet, und andererseits die vier Charaktere. (Fischer 2017) Während das auf Deutsch verfasste Buch den Plot darstellt, wird in den Liedern auf der CD die Narration perspektivisch fokalisiert. Die Songtexte wiederum sind auf Englisch und auf Slowenisch verfasst. Literarische Mehrsprachigkeit der Figurenrede wird so durch komplexe Verfahren des Sprachwechsels, der Erzählperspektive und durch Medienwechsel gestaltet. So ist etwa die Rede der Figur Dascha, einer alternden, revolutionären Regisseurin, mit Merkmalen der russischen Sprache durchsetzt: DASCHA: (flüsternd) Ich weiß, wer du bist. Vlad? Lasarew? Wie würde ich mich wohl nennen, wenn ich mir einen Namen ausdenken könnte? Ilja. Ilja! Wie das schon klingt! Ach, wie das auf meiner Zunge singt! (Efendi 2017: 9) 7 Neue Perspektiven Das literarische Selbstverständnis neuerer Kärntner slowenischer Literatur lässt sich nur schwer unter einen gemeinsamen Nenner bringen. Die literarische Praxis einer neueren, nach 1983 geborenen Generation ist geprägt durch Prozesse von Migration, Globalisierung und einer zunehmenden Virtualisierung hin zu einer Literatur, die sich dadurch auszeichnet, nicht an einen spezifischen Ort oder eine spezifische Sprache gebunden zu sein, dafür aber in größerem Maß von Medien abhängig zu sein scheint. Die Rahmenbedingungen haben sich seit Lipuš’ Aufsatz Wie produziere ich als slowenischer Autor zweifellos geändert, damit einhergehend ist auch das Selbstverständnis einer zwar nicht formierten, Wie produziere ich als slowenischer Autor in Kärnten 2.0? 109 dennoch aber fassbaren Formation von Autor_innen, welches in Kategorien wie Urbanisierung und Intermedialität als literarische Praxis seinen Niederschlag findet, ein anderes geworden. Im Spannungsfeld von Innovation und Tradition wird der Begriff der Kärntner slowenischen Literatur zu einem beweglichen Gefüge von Transformationsprozessen. Das Konzept literarischer Mehrsprachigkeit dient dabei als brauchbares Instrument, um diese Prozesse zu potenzieren und nach den Voraussetzungen und Bedingungen der zeitgenössischen literarischen Praxis der Kärntner Slowenen zu fragen. Literaturverzeichnis Amann, Klaus/ Strutz, Johann (2000). Florjan Lipuš: Kleines Porträt mit Hintergrund. In: Amann, Klaus/ Strutz, Johann (Hrsg.). 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Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen Felix Oliver Kohl (Graz) Abstract: As biographical writing is still significantly influenced by nation-state mindsets (according to Schweiger 2010), Carinthian Slovene authors, possibly being members both of the German-speaking and Slovene literary and cultural space, pose certain problems within such frameworks. On the one hand, nationality labels run the risk of concealing the background of this authors; on the other hand such labels semantically exceed sole nationality and also determine the author’s affiliation to a literary field (e.g. Austrian or Slovene author). This study shows that Slovene as well as German-speaking space, to a certain extent, struggle with Carinthian Slovene authors, especially when they write in a language different to the national language. The author’s choice of language and his interactions with a literary field do indeed have a significant impact on his biographical representations. This, however, also applies for authors of other origins who interact with Carinthian Slovene literary space. If we act on the assumption that the contemporary literature of Carinthian Slovenes is being produced in a »supraregional sphere of interaction«, as we considered it in the framework of the research project on bilingual literary practice in Carinthia, the same could also be stated for their biographical representations. Keywords: transnational biography, biographical representations, Carinthian Slovene literature, minority writers Kärntner slowenische Autor_innen werden oft im Spannungsfeld zweier Sprachen, Literaturen und/ oder zweier literarischer Systeme verortet. Geht man von Schweigers (2010: 23) Behauptung aus, dass die Biographik immer noch von einem nationalstaatlich geprägten Blick gekennzeichnet sei, so gilt die Vermutung, dass die Kärntner Slowen_innen für die Biographik ein gewisses Problem darstellen. Sie bedient sich nämlich oft nationalstaatlicher Bezeichnungen (z. B. slowenischer Schriftsteller ), die semantisch die Herkunftsbezeichnung über- 112 Felix Oliver Kohl (Graz) steigen, da sie gleichzeitig eine Aussage über das literarische Schaffen treffen. Außerdem ist bereits die bloße biographische Relevanz ein triftiger Beleg für die Wahrnehmung von Zugehörigkeit zu einer Nation bzw. zu einem literarischen System, aber auch für literarischen Erfolg. Schriftsteller_innen, die im Randbereich zweier literarischer Systeme tätig sind, sehen sich hingegen mit höherer Wahrscheinlichkeit damit konfrontiert, von Standardwerken, die in den jeweiligen Zentren entstehen, nicht beachtet zu werden. Unter diesen Prämissen untersucht der vorliegende Beitrag verschiedene Formen von biographischen Darstellungen Kärntner slowenischer Autor_innen. Er setzt sich darüber hinaus mit der Frage auseinander, inwieweit sich das literarische Schaffen, etwaige Selbstzuschreibungen und die Interaktionen mit einzelnen literarischen Systemen auf die biographischen Repräsentationen auswirken. Beachtung findet auch der diachronische Aspekt und damit die Frage, ob die Veränderungen, die die literarische Praxis der Kärntner Slowen_innen in den letzten zwei Jahrzehnten geprägt haben, auch in ihren biographischen Darstellungen zum Tragen kommen. Was sind Biographien? Um den Gegenstand der Untersuchung einzugrenzen, muss zuallererst geklärt werden, was im Folgenden unter dem Begriff der Biographie verstanden wird. Hierunter fallen im Rahmen dieser Untersuchung alle „mediale[n] Repräsentationen anderer Leben“ (Klein 2009: XXI), also nicht nur längere literarische Texte, sondern alle Dokumente, die eine biographische Aussage über den Biographierten treffen. Nach Richter/ Hamacher (2009: 137) handelt es sich bei der kleinsten biographischen Form um den Eigennamen. Dass dieser bereits ein aussagekräftiges biographisches Dokument darstellen kann, wird besonders im Falle der Kärntner Slowen_innen deutlich, bei denen verschiedene Schreibweisen von Namen vielsagende Rückschlüsse auf den Biographierenden zulassen können (z. B. Florjan Lipuš - Florian Lipusch). Andere biographische Kleinformen sind etwa Artikel in Enzyklopädien, Nekrologe, Anekdoten, Portraits und Kurzbiographien im Rahmen verschiedenster Kontexe, z. B. in Zeitungsartikeln oder Veranstaltungseinladungen. Bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Biographien empfiehlt sich auf jeden Fall ein systemtheoretischer Ansatz, der Biographien als Produkte eines Diskurses mehrerer Akteure betrachtet. Klein (2009: 424) fordert in diesem Sinne die Berücksichtigung mindestens dreier Faktoren: Verfasser und Adressatenkreis, Text und Gegenstand der Biographie. Biographien unterliegen immer einer gewissen Zweckmäßigkeit, die sich aus Entstehungskontext und Verfasserintention ergibt, was bei einer Untersuchung unbedingt berücksichtigt werden muss: Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 113 Biographien wollen etwas. Sie präsentieren nie wertfrei irgendein Leben, sondern stellen die Geschichte einer Person dar, die aus bestimmten Gründen von Bedeutung zu sein scheint - weil der Biographierte z. B. besondere Handlungen vollbracht hat, weil er besonders typisch für bestimmte historische Epochen ist, weil er spektakulär gescheitert ist oder besonders kreativ war. (Klein 2009b: 210) In diesem Sinne ist Biographiewürdigkeit auch als Resultat kanonischer Prozesse und Diskurse anzusehen (Schweiger 2009: 32-36). Jedoch darf das Augenmerk nicht nur auf die Produzentenseite gelegt werden, da auch der Biographierte selbst mit seinem öffentlichen Auftreten auf seine biographischen Darstellungen Einfluss nehmen kann. Weiterhin unterliegen Biographien auch Gesetzmäßigkeiten der Literarizität, Narrativität und Fiktionalität (Klein 2009: Kapitel I, 4-6). Wo sind Biographien Kärntner slowenischer Autor_innen anzutreffen? Wie bereits erwähnt, sind die Biographien Kärntner slowenischer Autor_innen aufgrund von Herkunft und Schaffenssprachen in der biographischen Produktion mindestens zweier Sprachräume zu vermuten: dem slowenischen und dem deutschen (insbesondere dem österreichischen). Obwohl die slowenische Literaturwissenschaft die Biographik lange Zeit vernachlässigt hat (Dolinar 2001: 523), ist man heute gut ausgestattet mit literaturbiographischen Werken. Hierbei ist eine deutliche Tendenz zu thematischen Zugängen spürbar, z. B. Portraits ausgewählter Schriftsteller_innen oder Publikationen mit lokalem Bezug. 1 Der Grund ist offensichtlich: Eine vollständige biographische Inventarisierung eines literarischen Raums stellt auf der einen Seite ein mühevolles Unterfangen dar, andererseits können solche Werke zumindest in Buchform auch nicht die Aktualität bieten, die entsprechende Internetportale zu leisten vermögen, wie etwa das literaturbio(biblio)graphische Portal Slolit , das Kärntner slowenischen Autor_innen vorbehalten ist. Darüber hinaus wächst die Anzahl von neuen Autor_innen unaufhaltsam, da Personen mit ihrem Ableben selbstverständlich nicht ihre biographische Relevanz verlieren. In diesem Lichte verwundert es kaum, dass die letzten beiden umfassenden literaturbiographischen Enzyklopädien aus dem österreichischen und slowenischen Raum den Jahren 1995 ( Katalog-Lexikon zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts ) bzw. 1996 ( Slovenska književnost ) entstammen. Derzeit entsteht in Österreich ein neues 1 Beispiele hierfür wären Literarni atlas Ljubljane (Literaturatlas Ljubljanas) oder Werke wie 100 slovenskih pesnikov (100 slowenische Dichter). 114 Felix Oliver Kohl (Graz) Standardwerk, das achtbändige Bio-bibliographische Lexikon der Literatur Österreichs , von dem bisher zwei Bände erschienen sind, die Autor_innen mit dem Anfangsbuchstaben A-C umfassen. Die Kärntner slowenische Literatur kennt derzeit jedoch keinen Autor, dessen Nachname mit einem dieser drei Buchstaben beginnt. Im Vergleich zu Slowenien werden in Österreich nur wenige literaturbiographische Werke verfasst, was auch mit der engen Verbundenheit mit dem deutschen literarischen Raum zusammenhängt, der alle zwei Jahre mit Kürschners außerordentlich umfangreichem Deutschen Literatur-Kalender aufwartet. Dieser entsteht in Zusammenarbeit mit den einzelnen Autor_innen, die ihre biographischen Angaben auf Grundlage eines vorgefertigten Fragebogens selbst einsenden können. Nur im Falle, dass sie dies nicht tun, werden die Biographien von der Redaktion erstellt. Solche Zugänge sind in der Biographik verbreitet, so wurden auch beim bereits erwähnten österreichischen Katalog-Lexikon die Autor_innen zur Mitarbeit aufgerufen (Ruiss 1995: 59), ebenso verhält es sich beim größten slowenischen biographischen Lexikon, dem Slovenski biografski leksikon (Mihurko Poniž 2018: 60). Auch in diesem Fall erweist sich der Zeitpunkt dieser Untersuchung leider als ungünstig, da die erste Ausgabe zwischen 1925 und 1991 angefertigt wurde. Zwar wird seit einigen Jahren an einer Neuausgabe gearbeitet, die bis dato veröffentlichten Artikel reichen aber nur bis zum Buchstaben Č. Wie bereits erwähnt, sind Schriftsteller_innenbiographien außer in biographischen oder enzyklopädischen Werken an verschiedensten Orten anzutreffen: in Zeitungsartikeln, Veranstaltungseinladungen, Anthologien, Internetseiten von Verlagen oder anderen Institutionen, usw. Die Kriterien für die Berücksichtigung in biographischen Werken/ Plattformen sind mannigfaltig. Sie sind abhängig vom thematischen oder nationalen Rahmen, manche basieren auf literaturkritischen Werturteilen, darüber hinaus fließt in derartige Entscheidungen auch die persönliche Meinung von Autor_ innen und Herausgeber_innen ein. Die biographische Relevanz korreliert auf jeden Fall mit dem literarischen Erfolg, dennoch ist sie durch unzählige weitere Faktoren bedingt, die sich dem Auge des Betrachters in einigen Fällen entziehen. Im Falle von Wikipedia, wo die Anzahl der Autor_innen theoretisch unbegrenzt ist, gestaltet sich eine Beurteilung noch wesentlich schwieriger. Deshalb lässt sich hinsichtlich einer etwaigen Entwicklung der biographischen Repräsentationen Kärntner slowenischer Autor_innen schwerlich eine Aussage treffen, was am folgenden Beispiel erläutert werden soll. Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 115 Slovenska književnost (1996) & Katalog-Lexikon (1995) Enciklopedija Slovenije (1989-2002) Slovenika (2011) Čertov-Druml, Jožica x x Ferk, Janko x x Haderlap, Maja x x Hafner, Fabjan x Januš, Gustav x x Kokot, Andrej x x Lipuš, Florjan x x x Lipuš, Cvetka x x Messner, Janko x x x Merkač, Franc x x Močilnik, Kristijan x Oswald, Jani x x Ošlak, Vinko x x Tab. 1: Nennung Kärntner slowenischer Autor_innen in Nachschlagewerken In der Tabelle werden Autor_innen aufgeführt, die sowohl in Slovenska književnost als auch im österreichischen Katalog-Lexikon berücksichtigt werden. Hierbei handelt es sich ausschließlich um Autor_innen, die bereits dem Dunstkreis der Zeitschrift mladje angehörten. Mit Ausnahme von Kristijan Močilnik und Fabjan Hafner finden sich diese Namen auch in der 16-bändigen Enzyklopädie Sloweniens ( Enciklopedija Slovenije ). In Slovenika , der 2011 in zwei Bänden erschienenen Neubearbeitung der Enzyklopädie, werden nur noch Florjan Lipuš und Janko Messner berücksichtigt. Die Herausgeber_innen Letzterer waren also zu zahlreichen Kürzungen und Streichungen gezwungen, denen nicht nur Kärntner slowenische, sondern auch slowenische Schriftsteller_innen zum Opfer fielen. Jeglicher Rückschluss auf die biographische Relevanz muss sich deshalb der Berücksichtigung unterschiedlichster Faktoren stellen. Eindeutig hingegen ist das Bild im Falle der Autor_innen, die ihre schriftstellerische Laufbahn nach 1996 begonnen haben, denn auf sämtlichen größeren biographischen bzw. enzyklopädischen Portalen sind derer insgesamt nur fünf zu finden (Stefan 116 Felix Oliver Kohl (Graz) Feinig, Rezka Kanzian, Elena Messner, Dominik Srienc, Jože Strutz), am plastischsten veranschaulicht die Entwicklung jedoch Wikipedia: Hier haben bis auf Kristijan Močilnik alle Angehörigen der vorherigen Generation einen eigenen Artikel in zumindest einer Sprache, wohingegen die nachfolgende Generation lediglich mit zwei Artikeln vertreten ist, nämlich über Dominik Srienc (Slowenisch) und Elena Messner (Deutsch). Hinsichtlich der Anzahl der Erwähnungen in größeren literaturbiographischen und enzyklopädischen Werken treten Maja Haderlap und Florjan Lipuš deutlich hervor. Letzteren führt sogar das Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur an, dessen Anspruch lautet, alle wichtigen Autor_innen und Werke der Weltliteratur zu erfassen, in deren Kanon es Lipuš somit zugleich erhebt. Haderlap und Lipuš finden auch im Brockhaus Berücksichtigung, und zwar in folgender Form: Abb. 1: Maja Haderlap (Quelle: https: / / brockhaus.at/ ecs/ enzy/ article/ haderlap-maja) Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 117 Abb. 2: Florjan Lipuš (Quelle: https: / / brockhaus.at/ ecs/ enzy/ article/ lipus-florjan) Ein Vergleich beider Artikel fördert so manchen Unterschied zutage, hervorgehoben sei aber ein Aspekt: Obwohl beide österreichische Staatsbürger sind, wird nur Haderlap als österreichische Schriftstellerin bezeichnet. Hier könnte man vermuten, dass für die Wahl der Bezeichung die Wahl der Schaffenssprache Pate stand. Bedenkt man aber, dass Maja Haderlap bis zum Jahr 2011 auch in slowenischer Sprache geschrieben hat, ließe sich diese Argumentation nicht aufrechterhalten. Biographische Darstellungen zwischen Eigen- und Fremdzuschreibungen Wie verhält es sich hinsichtlich solcher Nationalitätsbezeichungen auf einer Plattform, die diesbezüglich eindeutige Richtlinien hat? Sowohl die deutschsprachige als auch die slowenische Wikipedia schreiben in ihrer Formatvorlage für biographische Artikel nämlich die Nennung der Staatsbürgerschaft vor. 2 In diesem Lichte wäre theoretisch ein eindeutiges Bild zu erwarten, jedoch gestaltet sich die Realität wesentlich anders: Während sich die deutschsprachigen 2 So findet sich in der deutschsprachigen Formatvorlage folgende Information: „Der Einleitungsabschnitt soll dem Leser die wesentlichen Informationen geben. Dazu gehören die Lebensdaten: Geburts- und gegebenenfalls Sterbedatum und jeweilige Orte obiger Form; Staatsangehörigkeit .“ Abrufbar unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Formatvorlage_Biografie (Stand: 28/ 05/ 2018) (Hervorhebung F.K.). Der slowenische Ratgeberartikel verzeichnet ebenfalls: „Der Artikel beginnt mit dem Lemma in Fettdruck […] es folgt eine kurze Bestimmung der Person ( Nationszugehörigkeit , Wirkungsbereich).“ (Hervorhebung F.K.). Abrufbar unter: https: / / sl.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedija: Slogovni_priro%C4%8Dnik/ Biografije (Stand: 28/ 05/ 2018). 118 Felix Oliver Kohl (Graz) Autor_innen an die Regeln halten und alle Schriftsteller_innen als österreichische Autor_innen bezeichnen, bedient sich die slowenische Community eines bunten Repertoires an Bezeichungen. Deutschsprachige Wikipedia Autor/ in Slowenische Wikipedia „österreichischer Richter, Wissenschaftler und Schriftsteller“ Ferk, Janko „slowenisch-österreichischer Jurist und Schriftsteller“ „österreichische Schriftstellerin. […] die Kärntner Slowenin […]“ Haderlap, Maja „zweisprachige österreichisch-kärntnerische slowenische Dichterin und Schriftstellerin“ „Kärntner slowenischer Schriftsteller, Lyriker, Literaturwissenschaftler und Übersetzer aus Österreich“ Hafner, Fabjan „slowenischer Übersetzer, Dichter und Literaturwissenschaftler“ „österreichischer Maler, Dichter und Übersetzer, der ausschließlich slowenisch schreibt“ Januš, Gustav „slowenischer Dichter, Maler und Übersetzer im österreichischen Kärnten“ „ein österreichischer Dichter [sic! ] und Schriftsteller, der auf Slowenisch publiziert“ Lipuš, Florjan „slowenischer Grenzland 3 -Schriftsteller und Übersetzer“ „eine österreichische Lyrikerin“ Lipuš, Cvetka „österreichische Dichterin slowenischer Herkunft“ „ein österreichischer Schriftsteller und Kärntner Slowene“ Messner, Janko „österreichischer Kärntner-slowenischer Schriftsteller […]“ Oswald, Jani „slowenischer Grenzland-Dichter und Essayist“ Tab. 2: Nennung Kärntner slowenischer Autor_innen in der deutschsprachigen und slowenischen Wikipedia. Alle Zitate wurden den Wikipedia-Artikeln zu den betreffenden Personen entnommen. Die slowenischen Bezeichnungen wurden vom Autor des Artikels übersetzt (Stand: 28/ 05/ 2018). Auch auf der slowenischen Wikipedia stellt die Schaffenssprache demnach nicht das einzige Kriterium zur Bezeichnung dar, da Cvetka Lipuš, die ausschließlich 3 Hierbei handelt es sich um eine Behelfsübersetzung des kaum zu übersetzenden Begriffs „zamejski“ (von „za mejo“ - hinter der Grenze). Dieser bezeichnet Slowen_innen, die in Italien, Österreich und Ungarn im Grenzgebiet zu Slowenien leben, und ist im Zusammenhang mit der Kärntner slowenischen Literatur selten zu finden, da er dort nie größere Verbreitung fand (Leben 2017: 73). Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 119 Slowenisch schreibt, als österreichische Dichterin bezeichnet wird, wohingegen Fabjan Hafner und Jani Oswald, die Gedichtbände in beiden Sprachen veröffentlicht haben, die Bezeichnung „slowenischer Grenzland-Dichter“ (slovenski zamejski pesnik) zuteil wird. Auffällig ist weiterhin, dass die Artikel auf der slowenischen Wikipedia über Ferk, Haderlap, Hafner, Cvetka Lipuš und Oswald neben der österreichischen auch noch die jugoslawische (! ) Staatsbürgerschaft anführen. Biographische Repräsentationen werden also auch von nationalen Interessen geprägt, wobei es sich in diesem Fall nicht nur um eine Frage der Nationalitätsbezeichnung handelt, sondern auch um eine Frage der Zugehörigkeit zum literarischen System. Kärntner slowenische Schriftsteller_innen stellen diesbezüglich ein gewisses Problem dar, und zwar sowohl für den österreichischen als auch für den slowenischen Raum. In beiden Staaten entbrannten in der Vergangenheit Diskussionen um die Frage, wer überhaupt ein slowenischer bzw. österreichischer Schriftsteller ist. So lautet der Titel des viel beachteten Essays von Erica Johnson Debeljak, ihres Zeichens selbst in Ljubljana lebende, Englisch schreibende Schriftstellerin: „Würde der Himmel einstürzen, wenn Maja Haderlap den Kresnik-Preis 4 bekäme? Wer darf ein slowenischer Schriftsteller sein? “ Eine ähnliche Frage tat sich 2016 auf, als Florjan Lipuš der Große Österreichische Staatspreis mit der Begründung verwehrt blieb, er schreibe nicht in deutscher Sprache ( Jandl 2017), bevor er ihm im Juli 2018 letztendlich doch zugesprochen wurde. Die Problematik beweist auch, dass der Einfluss von Autor_innen auf ihre biographischen Repräsentationen begrenzt ist, zumal sie sich in Fragen der Selbstbezeichnung sehr unterschiedlich äußern, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Florjan Lipuš ist der einzige Autor, der sich stets sehr eindeutig als slowenischer Schriftsteller bezeichnet hat, wie z. B. im Dokumentarfilm Vom Glück des Schreibens (Gasser 2017: 9'36''). Trotzdem wird er in deutschsprachigen Medien oft als österreichischer Schriftsteller bezeichnet, und auch die slowenische Medienöffentlichkeit wagt sich oft nicht an eine eindeutige Zuordnung, sondern behilft sich mit Bezeichnungen wie „Kärntner slowenischer“, „Grenzland-“ oder „slowenischer Schriftsteller im österreichischen Kärnten“ - demnach bewegt sich Lipuš in einer Art Zwischenbereich. Auch Maja Haderlap wird in den deutschsprachigen Medien für gewöhnlich als österreichische Autorin bezeichnet, insbesondere nach der Veröffentlichung des Romans Engel des Vergessens . Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum stellte die Entscheidung Haderlaps, den Roman auf Deutsch zu verfassen, die slowenische Öffentlichkeit vor merkliche Schwierigkeiten, wie etwa ein Interview aus der Zeitung Dnevnik verrät: 4 Preis für den besten slowenischen Roman, der jährlich von der Tageszeitung Delo vergeben wird. 120 Felix Oliver Kohl (Graz) Darf ich Sie eine slowenische Autorin nennen, dürfen wir uns in Slowenien über Ihren Erfolg in diesem Sinne freuen, obwohl Sie den Roman auf Deutsch verfasst haben? (Lacht) Ja, Sie dürfen, ich bin ja eine Slowenin und habe bis zu diesem Buch ausschließlich Slowenisch geschrieben. Im Weiteren zeigt Haderlap, dass sie sich - im Gegensatz zur Journalistin - mit solchen Fragen gar nicht weiter beschäftigt: Jetzt aber sind Sie eine österreichische Schriftstellerin! (Lachen) … ja, jetzt bin ich alles! (Lesničar Pučko 2011: 26) Auch mit der Veröffentlichung ihres ersten, ausschließlich auf Deutsch verfassten Gedichtbands langer transit rief Haderlap ähnliche Reaktionen hervor. So fragt sich der Lyriker Ivan Dobnik, ob Maja Haderlap nach Erscheinen des Romans Engel des Vergessens auf Deutsch und der Gedichtsammlung in deutscher Sprache langer transit eine österreichische Schriftstellerin und Dichterin geworden sei. Im Folgenden relativiert er die Bedeutsamkeit dieser Frage zwar, fügt aber dennoch hinzu, dass er als Dichter, der genauso in slowenischer Sprache schreibe, der Autorin Anerkennung ausspreche und gleichzeitig den Verlust einer sehr feinsinnigen und raffiniert sensiblen Künstlerin bedauere (Dobnik 2016: 196). Mit der Vorstellung vom Verlust impliziert Dobnik somit, dass Haderlap mit ihrer Entscheidung für die deutsche Sprache auf eine gewisse Weise dem slowenischen literarischen Raum den Rücken gekehrt hat. Dass die Frage nach der Selbstbezeichnung mehr bedeutet als nur die Frage nach Nationenzugehörigkeit oder die Zugehörigkeit zu einem literarischen Raum, zeigt das Beispiel von Cvetka Lipuš. Unlängst wurde sie von einer Journalistin des Dnevnik dazu befragt, welche Fahne sie an ihrem Haus hissen würde, wenn sie sich für eine entscheiden müsste: Das fragt man mich tatsächlich öfter, wenn ich als Dichterin im Ausland gastiere. „Was sollen wir schreiben: Österreich, USA, Slowenien? “ Ich sage immer: Slowenien. Das hat man mir in Österreich manchmal etwas übelgenommen. Als ich noch in Kärnten gelebt habe, habe ich mich für gewöhnlich als österreichisch-slowenische Dichterin bezeichnet, manchmal ohne die geographische Bestimmung „Kärntner“. Mehr musste man im mitteleuropäischen Kontext nicht erklären. Aber als man mich in den USA gefragt hat, woher ich komme, wurde mir klar, dass mir die Antwort „aus Österreich“ die Familiengeschichte nehmen würde. Denn die stärkste Konnotation mit Österreich sind dort der Zweite Weltkrieg, die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Plötzlich war ich damit konfrontiert, eine fremde Geschichte auf mich nehmen zu müssen bzw. sie mir aufbürden zu lassen, die Geschichte der Täter, damit hätte ich die Geschichte der Gemeinschaft verworfen, der ich angehöre. Meine Familie ist so wie viele Slowenen in Kärnten Opfer des Zweiten Weltkriegs. (Pišek 2016) Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 121 Abschließend soll noch auf Janko Ferk eingegangen werden, der die Kontextabhängigkeit biographischer Repräsentationen unter Beweis stellt, denn er selbst bezeichnet sich als zweisprachigen Autor, der in beiden Kärntner Landessprachen schreibt. Meine Identität ist ja ganz klar. Ich würde es so formulieren, daß ich Kärntner und Slowene bin, und als Kärntner Slowene gehöre ich der österreichischen Nation an. Wir Kärntner Slowenen sind ein Teil dieser österreichischen Nation, die es zweifelsohne gibt, und ich bin in diesem Sinn Kärntner Slowene und Österreicher zugleich. So will ich auch meine Literatur verstanden wissen. Ich bin ein Schriftsteller, der zur Kärntner-slowenischen Literatur gehört, ich möchte mich aber nicht darauf reduzieren lassen. Ich möchte genauso in der österreichischen Literatur - oder wenn man das jetzt in einem weiteren Sinn sieht -, ich möchte auch in der deutschsprachigen Literatur leben, als deutschsprachiger Schriftsteller wie als slowenischsprachiger. Ich bezeichne das selbst als zweisprachigen Schriftsteller. (Wischenbart 1988: 147-148) Ferk schrieb in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem Prosa und (populär-) wissenschaftliche Werke, die nur in einigen wenigen Fällen in slowenischer Übersetzung erschienen sind, slowenische Gedichte finden sich hingegen nur noch innerhalb mehrsprachiger Gedichtbände. Eine Biographie auf der Homepage des Styria-Verlags, der bereits mehrere deutschsprachige Bücher von Ferk veröffentlicht hat, lässt so keinerlei Rückschlüsse zu, dass es sich bei Ferk um einen Autor mit irgendeiner Beziehung zu Slowenien bzw. zur slowenischen Literatur handelt: JANKO FERK, (Prof. Dr.), geboren 1958 in St. Kanzian/ Kärnten, studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaften, Deutsche Philologie und Geschichte. Er ist Jurist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in Klagenfurt. Bisher hat er mehr als 30 Bücher veröffentlicht, wofür er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhielt. Bei Styria erschienen zuletzt der Sarajevo-Roman „Der Kaiser schickt Soldaten aus“ und die Gedichtsammlung „Brot und Liebe“. (www.styriabooks.at/ info/ autoren/ janko-ferk) Auch das slowenische Literaturportal DobreKnijge.si stellt ihn anlässlich der Veröffentlichung der Übersetzung seines Romans Der Kaiser schickt Soldaten aus als „österreichischen Juristen und Schriftsteller“ (Mavrič 2017) vor und erweckt damit ebenso wenig den Eindruck, es handle sich um einen slowenischen oder zumindest einen Slowenisch schreibenden Autor. Sollte nun der Eindruck entstanden sein, dass seine verstärkte Tendenz zum Deutschen als Schaffenssprache sich auch auf die Fremdbezeichnungen ausgewirkt hat, so straft uns ein Artikel zu Ferks Biographie über Ulrich Habsburg-Lothringen Lügen. Die Überschrift informiert den Leser nämlich darüber, dass sich Letzterer „einen Slowenen als Biographen ausgesucht“ (Varga Novljan 2012) habe. 122 Felix Oliver Kohl (Graz) Was kann daraus geschlossen werden? Ähnliches wie bereits weiter oben: Biographische Repräsentationen sind abhängig von unzähligen Faktoren: nationalen und anderen Interessen, Zusammenarbeit mit bzw. Präsenz in literarischen Räumen, Selbst- und Fremdbezeichnungen, Kontext und nicht zuletzt auch story-telling. Jegliche Aussage ist demnach mit Vorsicht zu treffen. Zweifellos aber kann behauptet werden, dass Kärntner slowenische Autor_innen für Biographierende ein Problem darstellen. Sowohl der slowenische als auch der deutschsprachige Raum beanspruchen sie nämlich für sich und weisen sie zugleich auch von sich. Jegliche Zuordnung hat Folgen, die manchmal vernachlässigbar, manchmal aber auch von gewichtiger Bedeutung sind. Warum ‚biographischer Interaktionsraum‘? Im Vorangehenden wurde aufgezeigt, dass biographische Repräsentationen von Schriftsteller_innen ihr literarisches Schaffen reflektieren. Selbstzuschreibungen, Sprachenwahl und Interaktionen mit literarischen Systemen schlagen sich auch in Biographien nieder. Je weiter sich ein Autor von einem literarischen Raum entfernt, mit dem er auf irgendeine Weise verbunden ist - sei es aufgrund seiner Herkunft oder aufgrund seiner Schaffenssprache -, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass seine ursprüngliche Zugehörigkeit in den biographischen Repräsentationen vernachlässigt oder gar verschwiegen wird. Neben Janko Ferk wäre hier als Beispiel noch Elena Messner zu nennen, die ausschließlich Deutsch schreibt und mit dem slowenischen literarischen Raum kaum interagiert - in sämtlichen Bibliotheken Sloweniens ist nur ein einziges Exemplar ihres Romans Das lange Echo zu finden (Stand Juli 2018). In der slowenischen Medienöffentlichkeit sind bis auf eine Veranstaltungseinladung der Universitätsbibliothek Maribor 5 , in der sie als österreichische Schriftstellerin bezeichnet wird, keinerlei Angaben über sie zu finden, im deutschsprachigen Raum hingegen finden sich keine Informationen, die sie als Kärntner Slowenin ausweisen. Sowohl Messner als auch Ferk wurden in Slowenien als österreichische Autoren bezeichnet, was als aussagekräftiger Indikator für das Verhältnis des slowenischen literarischen Raums gegenüber nicht-slowenischen Texten slowenischer Autor_innen angesehen werden kann, die sie immer noch vor offensichtliche Schwierigkeiten stellen (Leben 2017: 69). Während es genug Dokumente gibt, die von Ferks Verbindung zu den Kärntner Slowen_innen zeugen, ist die einzige derartige im Internet verfügbare Information über Messner ihr Eintrag auf dem Portal Slolit. Das Weblexikon versteht sich als „Datenbank der Basisdaten zu den kärntnerslowenischen Autorinnen und Autoren im 20. und 21. Jahrhun- 5 www.facebook.com/ UKMknjiznica/ posts/ 1345300055557827: 0 (Stand: 28/ 05/ 2018) Der biographische Interaktionsraum der Kärntner Slowen_innen 123 dert“ (Über slolit.at), berücksichtigt aber auch Autor_innen, die nicht in Kärnten gebürtig sind. Neben Vinko Ošlak und Anita Hudl tritt hier besonders die junge Generation von Lyriker_innen hervor, der z. B. Amina Majetić und Aljaž Pestotnik angehören. Beide stammen aus Jesenice (Slowenien), maturierten in Kärnten und bezeichnen sich bewusst als Kärntner slowenische Autoren, da sie in Kärnten große Teile ihrer literarischen Laufbahn absolviert haben und dort dementsprechend verwurzelt sind. 6 Ein weiteres interessantes Beispiel einer solchen Zuordnung zu den Kärntner Slowen_innen ist auch der österreichische Übersetzer slowenischer Literatur Erwin Köstler, der einen Großteil seiner Übersetzungen im Klagenfurter Drava-Verlag veröffentlichte, ansonsten aber keinerlei familiäre Verbindungen zu Slowenien bzw. den Kärntner Slowen_innen hat. Dennoch bezeichnet ihn eine Biographie in einem Artikel von Denis Poniž über Köstlers Übersetzungstätigkeit aus dem Jahr 2012 als Kärntner Slowenen. Wird also davon ausgegangen, dass die zeitgenössische Literatur der Kärntner Slowen_innen in einem überregionalen literarischen Interaktionsraum produziert wird, 7 kann das Gleiche auch für ihre biographischen Repräsentationen behauptet werden: Auch sie sind Produkte eines biographischen Interaktionsraums, der über Staats- und Sprachgrenzen hinausgeht und verschiedensten Interaktionen beteiligter Akteure unterliegt. Auch im Falle der Kärntner Slowen_innen bestätigt sich daher Schweigers (2010: 23) Feststellung: „Lebensgeschichten, die mehrere Ländergrenzen und häufig auch sprachliche Grenzen überschreiten, stellen die Biographik vor beträchtliche Herausforderungen und ermöglichen zugleich, Neuland zu erschließen.“ Die biographischen Repräsentationen der Kärntner Slowen_innen sind nämlich aussagekräftige Dokumente über die literarische Praxis von Autor_innen, die im Spannungsfeld bzw. im Randbereich zweier literarischer Systeme aktiv sind, über ihre Beziehung zu diesen Systemen und vice versa. Im vorliegenden Artikel konnten nur einige Aspekte angesprochen werden, dennoch sollte die Vielschichtigkeit von biographischen Repräsentationen und ihre Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit Minderheitenautor_innen deutlich geworden sein. 6 Diese Informationen stammen aus Interviews, die im Rahmen des FWF-Projekts „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“ an der Karl-Franzens-Universität Graz geführt wurden. Mehr Informationen über das Projekt: https: / / slawistik.uni-graz.at/ de/ bilinguale-literarische-praxis/ . 7 Siehe die Beiträge zur Kärntner slowenischen Literatur in diesem Band. 124 Felix Oliver Kohl (Graz) Literaturverzeichnis Dobnik, Ivan (2016). Dolgo odhajanje. Poetikon 12, 69-70, 196-197. Dolinar, Danko (2001). Literarna veda in kritika. In: Pogačnik, Jože et al. (Hrsg.). Slovenska književnost III. Ljubljana: DZS, 509-568. 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By artistic use, he made evident the richness of Slovene language, apt to express the most subtle ideas, thus responding to the issue of assimilation also in his recent literary work, in which he discusses the problem of the passing over from Slovene to German among the middle-aged and younger generation of writers. In his opinion, the Slovene element in Carinthia disappears because the mother tongue is not held in esteem or is not in use anymore. Lipuš reminds us that the national community can only exist so long as it has its own language. For him, language is the essence and the mirror of human identity. Keywords: Florjan Lipuš, Slovenian language, linguistic and ethnic crossing Die Literaturgeschichte lehrt, dass wir einem Schriftsteller nicht glauben dürfen, wenn er erklärt, er werde nicht mehr schreiben (Kramžar 2011). Florjan Lipuš hat seit der Erzählung Boštjanov let (2003, dt. Boštjans Flug 2005), die er seinerzeit als Abschluss seines literarischen Schaffens und als „Zirkelschluss mit kräftigerer Linie“ bezeichnete, immerhin noch die Texte Poizvedovanje za imenom (2013, dt. Nachschrift 2016), Mirne duše (2015, dt. Seelenruhig 2017) und Gramoz (2017, dt. Schotter 2019) veröffentlicht - drei Werke, die nicht nur von seiner schriftstellerischen Kraft zeugen, sondern auch davon, dass ihn die historischen und gegenwärtigen Probleme der Kärntner Slowenen immer noch ins Mark treffen. Er verhandelt sie kritisch, indem er ihnen in teils autobiographischen, teils fiktiven Geschichten einen unerbittlich entblößenden Spiegel vorhält. In seinen 128 Silvija Borovnik (Maribor) Texten, die die Nazizeit und die Deportation von Kärntner Slowenen thematisieren, erzählt Lipuš, dass die Kärntner Slowenen nicht nur tragische Opfer waren, sondern vielfach auch brutale Mittäter. Unter den damaligen Opfern befand sich auch Lipušʼ Mutter, eine jener Frauen, die von Einheimischen angezeigt und in weiterer Folge in Viehwaggons nach Ravensbrück verbracht wurden, von wo sie nicht mehr zurückkehrten. Lipuš erinnert daran, dass Menschen eben darum verspottet und geschmäht wurden, weil sie Slowenen waren. Sie waren Hitlers Programm der Ausrottung alles Slowenischen, selbstverständlich auch der Sprache und Kultur, ausgeliefert. Im Österreich der Nachkriegszeit wurde, wenngleich unter geänderten Vorzeichen und mit anderen Methoden, die slowenische Minderheit weiter dezimiert. Manche Überlebende und ihre Nachkommen sind Kinder des Krieges, mahnt Lipuš. Zu dieser Mahnung scheint er vor allem deshalb immer wieder zurückzukehren, weil ihn das Verschwinden der slowenischen Sprache in Kärnten, besonders bei der jüngeren und mittleren Generation, betroffen macht. Den Wechsel zur deutschen Sprache in der Literatur empfindet er als besonders schmerzvoll und empörend. Während und oft auch nach dem Zweiten Weltkrieg habe die einzige Freiheit der Kärntner Slowenen darin bestanden, ihre Sprache zu erhalten, schreibt Lipuš. Dies belegen auch einige Szenen in Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens , der das Schicksal der ehemals in Ravensbrück internierten Großmutter thematisiert, aber auch von der Treue zum Slowenischen, der Erhaltung der Sprache und slowenischen Kultur innerhalb der engeren Familie erzählt. Allerdings ist der Roman auf Deutsch verfasst, obwohl die Autorin Kärntner Slowenin ist und mit den Gedichtsammlungen Žalik pesmi (Salige Gedichte 1983) und Bajalice (Wünschelruten 1987) als slowenische Dichterin in die Literatur eingetreten ist. Auch jüngst setzt sie ihren literarischen Weg auf Deutsch fort, in der „oberen Sprache“, wie Lipuš es nennt, die „untere Sprache“, das verachtete und erniedrigte Slowenisch, verwerfend. Dieser Sprachwechsel ist für den Schriftsteller überaus problematisch, sein Urteil fällt ausgesprochen scharf aus. Haderlaps Buch ist für ihn ein Zeugnis nationaler und sprachlicher Abtrünnigkeit: Es hat seine ärmliche Herkunft verworfen und ist von der unteren Sprache in die obere übersiedelt, überzeugt, es würde von jetzt an Größe und Vornehmheit ausstrahlen. (Lipuš 2016: 291) Für den Schriftsteller ist Engel des Vergessens ein trauriger Beleg dafür, dass die slowenische Sprache in Kärnten auch bei jenen Menschen verloren geht, die eigentlich stark, begabt und gebildet genug wären, sie zu bewahren. Seine Prognose über die Zukunft des Slowenischen in Kärnten fällt gerade aufgrund solcher Sprachwechsel pessimistisch aus. „Geistige Finsternis“ und „vollstän- Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 129 dige Dunkelheit“ würden folgen, das Erscheinen des Romans bezeichnet er als „Ruinenfeier“ (Lipuš 2016: 293, 294). Seit dem Romanerstling Zmote dijaka Tjaža (1972, dt. Der Zögling Tjaž 1980) ist Florjan Lipuš für sein unversöhnliches Verhältnis zur katholischen Kirche bekannt. Außer der Heuchelei und Lebensfremdheit bezichtigte er sie des Andienens an das herrschende Deutschtum, welches von den Slowenen wiederum verlangte, ihrer Muttersprache abzuschwören. Schon in Lipušʼ erstem Roman tritt das Slowenische als verbotene Sprache in Erscheinung, als Sprache, zu der die slowenischen Zöglinge des katholischen Internats heimlich Zuflucht suchen, nachdem sie ihr Zuhause verlassen mussten und ihrer Identität beraubt wurden. Bekanntlich hat der Roman eine autobiographische Basis, und wir erkennen in ihm auch die Generation, die zur gleichen Zeit wie Lipuš in Tanzenberg (slow. Plešivec) zur Schule gegangen ist (Erich Prunč, Valentin Oman, Peter Handke u. a.). Die Verbindung zur Wirklichkeit ist im Roman akzentuiert, obwohl fiktional gestaltet. Slowenische Schüler gaben in Tanzenberg im Verborgenen die Zeitschrift Kres (Sonnenwende) heraus. Später, nach ihrem Austritt aus dem Internat, wurden sie jedoch keine Priester, sondern sie wählten andere Lebenswege. 1960 begannen sie in Klagenfurt die slowenische Literaturzeitschrift mladje ( Jungholz) herauszugeben, die Ausdruck der damaligen Ambitionen war, die slowenische Literatur in Kärnten zu entwickeln, und einundzwanzig Jahre lang von Florjan Lipuš redigiert wurde. In dieser Zeit erschien die Zeitschrift in slowenischer Sprache, auch wurden Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Slowenische aufgenommen. Die Treue zum Slowenischen ist für das gesamte belletristische und publizistische Werk Lipušʼ charakteristisch. Denn in slowenischer Sprache zu schreiben bedeutete, Widerstand gegen ihr Verschwinden zu leisten. Sein Slowenisch bewegte sich dabei aber nie auf der Ebene der bloßen Mitteilung, der Alltags- und Verkehrssprache, vielmehr bewies Lipuš durch ihren Gebrauch ihre Ausdrucksfülle und stilistische Wandlungsfähigkeit bis in die experimentelle Sprachäußerung hinein und führte Beweis über ihre historische Verwurzelung, aber auch den Wandel dieser Sprache durch die Zeit, ihre Antiquiertheit, aber auch ihre moderne Verspieltheit. Die Lipuš-Forschung hat in diesem Zusammenhang einen interessanten Begriff geprägt, sie spricht nämlich von seinem archäologischen Erforschen der Sprache (Strutz 1998: 79-109). Lipušʼ Sprache ist, wie an anderer Stelle festgehalten, „trotz ihrer scheinbaren Hermetik verspielt, schelmisch, manchmal heiter aufrührend geblieben, hartnäckig beweist sie ihre autochthone Lebenslust und Lebensbejahung“ (Borovnik 2017: 110). In allen seinen Werken, die nach dem Romanerstling aus dem Jahr 1972 entstanden sind, hat Lipuš an der slowenischen Sprache festgehalten, genauso hartnäckig wie an der Hoffnung, dass das Slowenische erhalten bleibt, sich inner- 130 Silvija Borovnik (Maribor) halb der slowenischen Volksgruppe in Kärnten entwickeln wird und nicht aus wirtschaftlichen und anderen profanen Interessen aufgegeben wird. In einem seiner reifen Werke, schon nach der Jahrtausendwende, der Erzählung Poizvedovanje za imenom ( Nachschrift ) aus dem Jahr 2013, aber lesen wir die pessimistische Schlussfolgerung des Erzählers, dass sein Volk untergehe und es keine Rettung mehr gebe, weil es seine Muttersprache nicht mehr ehre und nicht mehr verwende. In seinen Augen übersiedeln die Slowenen in die Museen. Seine Auffassung ist unzweideutig: Wer deutsch spricht und seine Literatur auf Deutsch schreibt, ist kein Slowene mehr. Er ist ein Apfel, der unter einen Birnbaum gekollert ist, ein Rind, das „im Stall des Pferdezüchters Unterschlupf sucht“ (Lipuš 2016: 283). Lipuš bedauert, dass die Kärntner Slowenen selbst ihre Sprache verschleudern und dadurch sich selber fremd werden. Sie sind „zwischen Gräbern unterwegs“ (ebd.: 289), fügt der Schriftsteller am Ende der Erzählung hinzu. Die Verleugnung und das damit einhergehende Verschwinden des Slowenischen thematisiert er auch in seinen beiden jüngsten Werken Mirne duše (2015, dt. Seelenruhig 2017) und Gramoz (2017, dt. Schotter 2019). Seelenruhig , im Original 2015 erschienen, ist ein ausgesprochen poetisches Buch über das Altern, eine sprühende, aber auch mit schwarzem Humor geschriebene Abrechnung mit dem Leben und zugleich ein einfühlsames Liebesbekenntnis des Erzählers an seine Frau, angefangen von erster schüchterner Verliebtheit bis hin zur ruhigen Zuneigung und dem Zusammenleben in den reifen Jahren. Der Text ist voll bitterer Erinnerungen an die Kindheit, an den Tod der Mutter im Konzentrationslager, den Aufbruch ins katholische Internat, an die religiöse Gehirnwäsche, gegen die der Erzähler aufbegehrt, aber auch an die Verschlossenheit und Kälte des Vaters, an das Alleingelassensein. Lipušʼ neue Prosa, lyrisch und erschütternd zugleich, ist mit surrealen Motiven versehen; der Schriftsteller thematisiert darin den Todesgedanken, jedoch mit Selbstironie und Gelassenheit. Im Vorwort schreibt der große Lipuš-Kenner und einer seiner subtilen Übersetzer ins Deutsche, der früh verstorbene Lyriker Fabjan Hafner: Ohne den geringsten Zweifel oder Vorbehalt können wir feststellen, dass es sich hier um das schönste, sprachlich kräftigste und dichteste, größte literarische, lyrischste und bildhaft anschaulichste, bewegendste und zugleich zärtlichste Werk dieses Autors handelt. (Hafner 2017: 107) Ein Gedanke, dem man zustimmen könnte, wenn Seelenruhig Lipušʼ letztes Buch gewesen wäre. Doch 2017 folgte die Erzählung Gramoz ( Schotter ), die Hafner nicht mehr lesen konnte, die aber den Höhepunkt in Lipušʼ persönlicher poetischer Aussage, seiner sprachlichen Feinsinnigkeit und Meisterschaft, aber auch scharfzüngigen Kritik an der Geschichte und Gegenwart im österreichischen Teil Kärntens bedeutet. Allerdings sind beide Texte miteinander verbunden, wie Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 131 letztlich alle seine Bücher miteinander verbunden sind, zumal der Schriftsteller, wie er selbst bekennt, immer „an ein und demselben Text schreibt“, dieselben Themen und Motive behandelt, sie einmal erweiternd, einmal in neuem Licht erhellend, mittels anderer sprachlichen Darstellungsmittel. Lipuš reinigt seine Texte „wie Erdöl oder Erz“, so Hafner (Lipuš 2017b: 107-108). Seelenruhig schildert das sanft-humorige Bild eines alternden Mannes, der eines Morgens aufwacht und dem „Funken aus den Fingernägeln“ stieben. Die Blitze werden zum Leitmotiv des Erinnerns an seine Kindheit und Jugend, an das Erwachsenwerden, die erste Liebe, zum Symbol des noch immer drängenden Lebens und der Lebensfreude des Erzählers. Er fragt sich, woher die Blitze kommen, wodurch sie ausgelöst werden. Die Blitze scheinen ihm nicht nur eine Erinnerung an die Jugend zu sein, sondern auch ein Echo auf sein verliebtes, erotisches Verhältnis zur Sprache, seiner Muttersprache. Sind die Blitze „eine logische Fortsetzung der fortwährenden Wiederkäuung des funkelnden Wortbreis“, fragt er sich, ist dieses ungewöhnliche Phänomen die Folge seiner Wortspielerein, seines Schreibens? (Lipuš 2017b: 14). Die Erinnerungen an die Jugend stehen in engem Zusammenhang mit Reflexionen über die slowenische Sprache: Die Sprache ist nicht nur eine Botschaft, sondern auch eine Handlung, ein Tun. Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach außen.“ (ebd.) Der Schriftsteller/ Erzähler lässt auch die Möglichkeit offen, dass die Blitze von seiner Empörung über die Entfremdung der Jugend von der Muttersprache herrühren könnten, was metaphorisch in jenen Passagen anklingt, in denen von den Jungvögeln die Rede ist, „die von einem Nest ins andere flüchten“, die „dem Entfremdeten den Vorzug“ geben (Lipuš 2017b: 15). Aber man werde diesen „Jungvögeln“, so Lipuš, im fremden Nest bald klarmachen, dass sie überflüssig sind. Hier wartet Lipuš mit dem Sinnspruch auf: „Lieber ein gräflicher Herr als ein königlicher Knecht; lieber der Erste auf dem Kleinen, aber Eigenen, als der Letzte im Großen und Fremden“ (ebd.: 16). Er schreibt also über die sprachlich und national Abtrünnigen, über diejenigen, die „in ihrer Großtuerei [vergessen], von wo sie kommen und bei wem sie ausgebrütet wurden“ (ebd.). Ist das der Grund, weshalb dem alternden Mann die Blitze erscheinen? Weil er in den sogenannten Literaturstars und Sprachwechslern ein verzerrtes Gekrächze sieht? Weil er sieht, was andere nicht sehen? Der Erzähler fragt sich: Könnten die Blitze nicht auch ein Echo des Feuers im Krematorium sein, eine Erinnerung daran, wie die Mutter umgekommen ist? Oder kündet es von seinen noch vitalen Leidenschaften im Alter? Oder handelt es sich um eine Begleiterscheinung seines Sinnierens über den Tod, eine Mahnung, dass man das Leben nutzen muss, solange es noch da ist? - Das surreale 132 Silvija Borovnik (Maribor) Motiv des Blitzens erinnert an das Kratzen im Zögling Tjaž . War das Kratzen Ausdruck des Widerstands gegen die gewalttätigen Dogmen der katholischen Kirche, so können die Blitze als erneutes Aufgreifen und Abrunden des literarischen Motivs von Widerstand und Auflehnung gelesen werden, diesmal gegen sprachliche und nationale Abtrünnigkeit. Neben den autobiographischen Themen, die sich in Lipušʼ Literatur wiederholen und ausweiten, hält der Schriftsteller immer wieder auch neue, originelle und witzige Gedanken über die Sprache fest: Sobald das Wort über die Lippen kommt, aufgeschrieben und gelesen wird, ist es draußen in der Freiheit, spreizt es seine Flügel aus und beginnt zu leben. […] Das Wort ist kein Pferd, das man ausleihen und wieder zurückgeben kann, wenn man mit ihm das Feld umgeackert hat. (Lipuš 2017b: 31) Er legt den Lesern ans Herz, auf die prächtige und reiche slowenische Sprache achtzugeben. Auch diese Erzählung enthält eine ganze Palette sprachlicher Besonderheiten, die dem folkloristischen Sprachspeicher entnommen sind. Solcher Art sind beispielsweise die Phraseme „nichts Halbes und nichts Ganzes“ („ne krop ne voda“), „die Zeit um den Altschein des Mondes“ („čas, ko se je luna starala“) oder jemand werde „wie ein Berg sein, den Fuchs und Vogel meiden“ („kot gora, ki se je izogibata ptica in lisica“ (Lipuš 2017b: 11, 13, 23 bzw. Lipuš 2015: 9, 10, 17). Wieder finden sich Sprichwörter: „Besser ein Mensch ohne Beziehungen als Beziehungen ohne Mensch“ („Bolje človek brez zvez, kakor zveze brez človeka“), oder: „Die Nacht trennt alles auf, was der Tag gesponnen und ihr zugetragen hat“ („Noč razpara vse, kar je dan napredel in napletel“) (Lipuš 2017b: 15, 19 bzw. Lipuš 2015: 11, 15). Einige sprichwörtliche Wahrheiten entspringen dem Ideenreichtum des Autors: „Der Schlaf ist versippt mit der Vernichterin Matilda“ („Spanje je v žlahti s pokončevalko matildo“) (Lipuš 2017b: 19 bzw. Lipuš 2015: 14). Lipuš lässt in seine Erzählsprache auch Kärntner slowenische dialektale Ausdrücke einfließen, zum Beispiel: „ko mu je v napačni čas in na nepravem kraju ušla kaka hentano debela, kaka nasajena“ („wenn ihm zur falschen Zeit und am falschen Ort etwas ganz Vermaledeites widerfuhr“), oder: „ko so se priganjale lerme in se jim je seno narajmalo v preddežju“ („als sie von den Wettern gejagt wurden und mit dem Heu gerade in den Vorregen hineinkamen“) (Lipuš 2015: 7, 18 bzw. Lipuš 2017b: 9, 25). Manche Redewendungen verweisen auch auf den Einfluss des Deutschen. Der Schriftsteller liebt Sprachspielereien wie: „švigašvaga z jezikom čez dva praga“ („ein plötzliches Hin- und Her-Fickfacken“), oder: „ker pozdrav ni bil na treske pleske uglašen“ („weil der Gruß nicht auf Tratsch und Klatsch gestimmt war“), oder auch: „ni ga obešal na veliki bron“ - statt Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 133 ‚zvon‘ („hängte […] es nicht an die große Glocke“ [Bronze]) (Lipuš 2015: 22, 25, 7 bzw. Lipuš 2017b: 31, 35, 8). Sein Sprachschürfen stellt auch die wortschöpferische Lebendigkeit des Slowenischen unter Beweis: „pogrezninice v koži“ („Hautgrübchen“), „je komaj slišno zazvizdalo“ („mit kaum hörbarem Pfeifen und Zischen“); das geliebte Mädchen ist „die Langwangige“ („podolgoličnica“), am Toten knabbern „Aaskäfer“ („mrhobrbci“), das Wort „bogprenesi“ („gottbehüt“) bezeichnet ein strengstes Verbot; der Friedhofsstaub nennt sich „zemljati prah“ („erdiger Staub“); die Seele kann „haarig oder borstig“ werden („duša pokosmati ali se poščetini“); der Tod erhält den Namen „kostnjakinja“ („Knochenfrau“) usw. Ein Merkmal seiner poetischen Prosa sind in den rhythmisierten Abschnitten die gewöhnlich dreigliedrigen Lipušʼschen Steigerungsformen, z.B: „Es war nicht die Ruhe vor dem Sturm, die Ruhe war der Sturm, der Sturm tobte sich aus in Stille und Stummheit“ (Lipuš 2017b: 72). Die Gegensätze in den Aussagen evozieren mitunter kritische und groteske Bilder: „Mangel an Worten zu Lebzeiten, Überschuß an Worten für den Toten“ oder „Früher die Dürre, jetzt die Überschwemmung, zuvor in der Gischt, jetzt unter der Traufe! “ (ebd.: 74, 75). Lipušʼ Erzählung weist auch darauf hin, dass das Wort Träger einer Lebenslüge sein kann. Das betrifft etwa die Worte, es habe während des Zweiten Weltkriegs keine Transporte von Kärntner slowenischen Frauen in Viehwaggons in deutsche Konzentrationslager gegeben. Lipuš stellt solches Verleugnen an den Pranger, er teilt dem Leser die Wahrheit mit und mahnt ihn, nicht zu vergessen. Seelenruhig ist aber auch ein Liebesbekenntnis, das Magistrale des Schriftstellers, das - ähnlich wie Prešerens Sonettenkranz - nicht nur auf intime Themen Bezug nimmt, sondern auf Grundfragen des slowenischen Volkes und seiner Identität. In der Erzählung Schotter kehrt eine Gruppe ins heimische Dorf zurück, von einer Gedenkfeier in einem der Konzentrationslager, in das man während des Krieges gerade auch aus dieser Gegend viele Mädchen, Frauen und Mütter deportiert hat, von denen viele nie wieder heimgekehrt sind. Aber mit dieser Gegend war die ganze Zeit nach dem Krieg etwas verkehrt, „die Aufgereiztheit der Umgebung war zu spüren und zu riechen“ (Lipuš 2019: 6), man flüsterte über verheimlichte Verbrechen. Doch die Teilnehmer an der Gedenkfeier, bei der sie das Andenken ihrer Vorfahren bewahren sollten, kehren verändert ins Dorf zurück, „die Stummheit des Lagers haftet an ihnen“ (ebd.: 7). Als seien sie sich erst jetzt der Tatsache bewusst, dass ihre Mütter und Großmütter wie Rinder in Waggons gepfercht wurden, vielleicht drang während der Fahrt ins Lager, wie der Erzähler grotesk anmerkt, durch die vergitterten Fenster auch ihr Muhen, denn ihre slowenische Sprache war ja nur „für den Stall“ (ebd.). 134 Silvija Borovnik (Maribor) Diese verachtete und verhöhnte Sprache, so schreibt der Erzähler, würden die verschiedensten Emporkömmlinge auch in der Gegenwart schamvoll verleugnen: Die Teilnehmer am Gedächtnismarsch selber halten sie am Boden, und dort, wo sie sich noch aus der Ebenerdigkeit erhebt und Wurzeln schlägt, stutzen die Dörfler sie zurück und halten sie klein und nichtig. (Lipuš 2019: 8) So kehren die dörflichen Gedächtnisgänger „aus der Versprengung in die Zersprengtheit“ zurück, denn die einheitliche slowenische Volksgruppe gibt es nicht mehr, weil die Menschen selber ihre Sprache und Identität niedergetrampelt haben. Weil die Dörfler zu Geltung gekommen sind, so Lipuš’ pointierte Kritik, geben sie das Erbe ihrer Vorfahren, ihre „geistige Mitgift“, an die Nachkommen nicht mehr weiter: Sie entledigen sich ihrer Ausgangssprache, der Sprache ihrer Kindheit, in der sich ihr Leben auf natürliche, harmonische, geradlinige Weise entwickelte und die jede Faser ihres Alltagslebens durchdrang und wie ein Geflecht alles umspannte, was sie taten oder ließen. (Lipuš 2019: 11) Sie glauben, ihre slowenische Muttersprache sei nur für Haus und Hof zu gebrauchen, nicht aber für ihren scheinbaren Aufstieg in die bessere Gesellschaft. Der Schriftsteller mahnt jedoch, dass sie für ihr Zu-Kreuze-Kriechen vor dem Fremden nur Verachtung ernten werden: Unabhängige, völlig freie Menschen lassen sich auf etwas ein, was ihnen im Wesen fremd ist, wobei sie zwar nicht ihr Leben opfern, aber einen Teil ihres Lebens, auch wenn die Geschichte lehrt, dass sie dafür am Ende, in der Tiefe ihrer Seele, nur Verachtung ernten werden. […] Vor Fremdem werden sie auf dem Bauch kriechen, Sklavendienste leisten müssen, um sich Gunst zu verschaffen. (Lipuš 2019: 12) In seinen Augen werden diese Menschen immer im Exil sein. Sie werden nicht glücklich sein, nur selbstgefällig zufrieden. In Wahrheit haben sie sich der Gewalt der Lauten und dem Diktat der Starken gebeugt. Sie haben vergessen, dass sie eine Folge der alten, erschütternden Geschichte des Krieges sind, „ein Produkt der Vergangenheit […], die Ernte des Krieges“ (ebd.: 13). Dann kehrt die Erzählung zum Leid der in die KZs deportierten Frauen zurück, in die Vergangenheit. Bedrohlich sei die erschreckende Prophezeiung über der Gegend gehangen, doch die Menschen hätten ihr nicht geglaubt, obwohl schon damals unweit von ihnen Baracken, Nazilager aus dem Boden gestampft wurden. Die Menschen hätten die unheilvollen Zeichen nicht ernst genommen. Im Weiteren folgt die Erzählung der Geschichte der Frauen in diesen Lagern, Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 135 wie man sie zuerst kahl schor und ihnen die Schuhe abnahm, sie ihrer Persönlichkeit und Identität beraubte. Angesichts ihres bevorstehenden Leidens und der vielen Bilder von der Produktion von Tod nimmt die Geschichte groteske Züge an, was sich auch in der Sprache der Erzählung bemerkbar macht. Der Erzähler erfindet unablässig neue und immer neue Begriffe, die die unbeschreibliche Erniedrigung und die Qualen so exakt wie möglich beschreiben sollen, denn das Nazi-Regime hat die Kunst des Tötens „zur Vollkommenheit entwickelt“ (ebd.: 45): Die Neuankömmlinginnen wurden sogleich ins Programm übernommen, ohne Einführung begannen sie sich sozusagen selbst ihr Grab zu graben, und nichts anderes werden sie von da an tun, als sich selbst das Grab zu graben. In den Produktionsstätten der Todesgüter ertrugen sie die Qualen und schichteten sie um, eingewachsen ins Leiden, ausgewachsen in Erkrankungen und Krankheiten, die ganze Zeit, solange noch etwas Kraft in ihnen war. (Lipuš 2019: 46) Im Steinbruch des Konzentrationslagers, wo die Insassinnen sich abquälen mussten und von wo auch die „steingewordene Großmutter“ nicht mehr zurückkehrte, gab es keinen Gott. Lipuš verleiht diesem Zusatz überzeugend und mahnend Ausdruck: Dass die geschwächten, kranken und ausgehungerten Frauen tagein, tagaus Steine klopfen mussten, war „Ausdruck göttlicher Abwesenheit“, und die Antreiber „entgöttlichten“ sogar den Stein (ebd.: 49). Lipušʼ Groteske in solchen Passagen ist Ausdruck des extremen unmenschlichen Leids, nicht nur der literarischen Figuren, sondern auch des Erzählers. Sie ist Ausdruck seines Entsetzens angesichts der menschlichen Brutalität. Dies verdeutlicht auch die Szene, in der die Frauen regungslos und barfuß auf dem Appellplatz stehen müssen. Mit Galgenhumor beschreibt er den vermeintlich großen Nutzen der sadistischen Aufstellung in Reih und Glied: Sklaven, die sich mit Herumstehen die Zeit vertreiben, nützen dem Herrn nicht, das Appellstehen aber nützt etwas, weil es den Körper zerrüttet, den Geist quält, um ihn allmählich zu zermürben. Das Appellstehen demonstriert die Durchschlagskraft des Grauens und ist der Anfang des Todeskampfes. (Lipuš 2019: 52) Die Wortneuschöpfungen versinnbildlichen das bis ans Äußerste getriebene menschliche Leid. Als man den Frauen bei der Ankunft im Lager als erstes die Kleider und das Schuhwerk abnimmt, hält der Erzähler fest: Das Gewand war der Übergang von der Lebenswelt zur Totenwelt; indem man ihnen die Kleidung nahm, verwandelte sich das Lager zu einem Ort der Lähmung. (Lipuš 2019: 54) 136 Silvija Borovnik (Maribor) Jemandem das Schuhwerk vom Fuß zu ziehen, bedeutete nämlich den Tod, die Frauen gehörten nicht mehr sich selbst, barfuß hatten sie kein Recht mehr auf Menschlichkeit. Der überhebliche nazistische Hochmut gegenüber den gepeinigten Frauen zeigte sich auch darin, dass die Füße des Befehlspersonals in Lederstiefeln steckten. Lipušʼ Schmerz, der in die Schilderungen des Sterbens das sehnsüchtige Heimweh der Lagerinsassinnen einschreibt, steigert sich mit jedem Absatz auch durch die verwendeten sprachlichen Mittel; geschildert werden grausame Bilder der „Genossin Tod“, die hoffnungslose Einsamkeit und Verlassenheit der Frauen an einem Ort, wo „die Seelen keinen Platz [haben], sich niederzulassen“ (Lipuš 2019: 62). Und genau an der Stelle, wo er ihre finale, leidende, todbringende Situation schildert, kehrt Lipuš zum Thema Sprache, zur Muttersprache zurück. Die Sprache des Sterbenden sei immer die Muttersprache, schreibt er, und bemerkt ironisch, dass in der Todesstunde eine jede Seele, „sich herausschälend aus der Sprachverwirrung,“ in ihre eigene Sprache zurückkehrt (ebd.: 62). Im gleichen Atemzug kommt er wieder auf diejenigen zu sprechen, die ihre Muttersprache verleugnen: Auch jene Überläufer, die ihrer Sprache aus Selbstsucht abtrünnig geworden sind und sich einer fremden unterworfen haben, kehren in der Todesstunde gegen ihren Willen zu ihrer Sprache zurück. (Lipuš 2019: 62) Für sie, so Lipuš, ist das Sterben eine Niederlage, denn in der Stunde ihres Todes umgibt sie, wovor sie ihr Leben lang davongelaufen sind: Sie sind gezwungen, die Übermacht der Muttersprache hinzunehmen. Diese Passagen sind thesenhaft kommunikativ: Es könnte nicht schlimmer kommen, wenn sie ihr Leben lang jedem muttersprachlichen Wort aus dem Weg gegangen wären, am Ende ist aber jedes Wort, das sie über die Lippen bringen, nur noch ein muttersprachliches. (Lipuš 2019: 63) Die Darstellungen wirken grotesk-humoristisch. In einer dieser Szenen spricht der Sterbende in seiner Muttersprache, die er immer verleugnet hat, während die Angehörigen befürchten, „dass diese Schande auch ihnen zustößt und die ursprüngliche Sprache auch sie in ihrer letzten Stunde heimsucht“ (ebd.: 64). Im abschließenden Teil seiner Erzählung wendet sich Lipuš wieder den „Gedächtnisgehern“ zu, die nach dem Gedenkbesuch im KZ in ihrem Heimatdorf angekommen sind. Jetzt verbindet sie „die Summe der Geschichten, die sich alle in Stummheit vereinen“ (Lipuš 2019: 66-67). Die Marschierenden singen nicht, sondern weinen ein Lied (ebd.: 71). Es sind Kinder „aus Prügelortschaften“, solche, die in ihrer Kindheit von ihren Vätern, Lehrern und Priestern geschlagen wurden. Deshalb können sie auch als Erwachsene nicht weinen. Begleitet wer- Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 137 den sie von den „Cicimonen“ (ebd.: 40), Gerippen und Aschengestalten aus dem Lager. Indessen nimmt die Großmutter, derer ihre Enkel im Lager gedachten, eine zeitlose, körperlose Form an: Die Großmutter ist in der Atemluft, in den Haarrissen der Steine und im Grün des Löwenzahns, der den Stein auseinandertreibt. Sie ist auf dem Wasserspiegel des kleinen Sees und auf seinem Grund, auf dem Appellplatz und auf den Pritschen in den Baracken. Großmutter ist überall, sie ist frei, an keinen Ort fixiert, an keine Stelle gefesselt, sie breitet sich in Freiheit aus und ist wie der helle Tag, dessen Licht am Morgen aufgeht und am Abend untergeht. (Lipuš 2019: 75-76) Die Rückkehr der Marschteilnehmer bringt die Eintracht der Dorfgemeinschaft ins Wanken. Der Gedächtnismarsch nimmt nach der Rückkehr gespenstische Züge an, denn die Erinnerung daran, dass die Dörfler selbst Verbrecher waren, die während des Krieges ihre Angehörigen verraten haben, lebt wieder auf: Wieder kommt das Vergangene ans Licht. Die Rückkehr der Marschteilnehmer in die Heimat verursachte Unruhe in ihren warmen Stuben. Durch die Fenster, durch die Risse in den Vorhängen sieht man sie im Dorf umhergehen, im gefilterten Licht sieht man, dass die Toten an ihnen heften. Sie müssen die Augen schließen, um das zwanghafte Bild zumindest zu verschleiern, vertreiben können Sie es nicht. Einigen beginnen Ameisen über den Rücken zu kribbeln, aber sowie sie die Augen aufschlagen, hat sich eine Prozession von Toten angesammelt, die Beine hinter sich nachschleifend. (Lipuš 2019: 81-82) Ihre Anwesenheit malt dem Dorf ein Kainszeichen auf die Stirn: „Dem Mördergeschlecht zeichnen sie es auf die Gesichter, in ihre Handlinien zeichnen sie es ein“ (ebd.: 82). Sie erinnern daran, dass die Menschen zu Wilden und Mördern werden, wenn sie die Gelegenheit dazu haben: Das Mördergeschlecht kam nicht aus der Hölle gekrochen, wurde nicht aus giftigem Ungeziefergewimmel geboren, das Mördergeschlecht waren die Nachbarn, die bei der Ernte halfen und beim Einbringen der Wintervorräte. Das Mördergeschlecht waren die gestern noch freundlichen Verwandten, die langjährigen Bekannten und Genossen, die Verliebten, die Wohltäter und Freunde, die Gelehrten und Geschulten, mit den akademischen Titeln […]. (Lipuš 2019: 95-96) Lipuš teilt in Schotter kompromisslos historische Wahrheit mit, von der er sich wünscht, sie möge bewahrt bleiben. Im Fortgang der Erzählung kehrt er auch zur Frage der Erhaltung des Slowenischen bei den Kärntner Slowenen zurück. Abermals schreibt er über sprachliche Abtrünnigkeit, die seiner Ansicht nach zu sprachlicher Heimatlosigkeit führt. Früher hätten die Dichter und Schriftsteller dem Volk aufs Maul geschaut, heute aber wenden sie sich von ihm ab, 138 Silvija Borovnik (Maribor) die Sprache des Volkes ekelt sie an und interessiert sie nicht mehr. Für sie sind nur die materiellen Güter wichtig, die Kultur des Geistes haben sie verworfen. Sie beziehen aus dem geistigen Erbe, was ihnen zusagt, vor allem dann, wenn es ihnen nützt (ebd.: 102-103). Die Großmutter aber, schreibt Lipuš, die man im Krieg ins Lager verschleppt hatte, „bekannte sich zu allem, was dem Volk überliefert worden war“ (ebd.: 106), und ein wesentlicher Bestandteil dieser Überlieferung war ihre Muttersprache, das Slowenische, das die Enkel wahrscheinlich verwerfen werden. Diesem Beispiel würden früher oder später aus Opportunismus auch die anderen Dörfler folgen, die sich „mit den Ellenbogen zum besseren Trog durchschlagen“ (ebd.: 109) wollen. Das ganze Land werde bald auf diese Weise „zugestutzt und vereinheitlicht sein“, denn: „Der Dorfwind verwehte die Muttersprache“ (Lipuš 2019: 107). Die Auswirkungen solchen Verhaltens skizziert Lipuš mit Ironie und Groteske. Im Dorf, das um jeden Preis nach Fortschritt strebt und allem nachgibt, was fremd ist, läuten die Kirchenglocken „tosend und dröhnend“, dann wieder „ängstlich und schwächelnd“ (ebd.: 112). Vom Wirtshaus, in dem sich die Dörfler versammeln und den fremden Ankömmlingen anbiedern, wandert der Blick des Erzählers zum Friedhof, den „das Alter verjüngen wird“ (ebd.: 125) und wo im Kampf gegen den Tod „weder Weihwedel noch Weihrauch noch Weihwasser“ (ebd.: 126) helfen werden. Im Dorf wird es kein sprachliches oder kulturelles Bewusstsein mehr geben: Die Geistigkeit artikuliert sich in der Sprache und in nichts anderem, nur die Sprache macht es, dass der Wert ein Wert ist, mit der Sprache sorgte der Mensch für das Wohl, das Gut und den Überfluss, aber auch für das Schauerliche und den Schrecken. Und wo die Sprache abhanden kommt, greift man nach der Waffe. (Lipuš 2019: 134) Im heimatlichen Dorf, dem Symbol für die slowenische ländliche Gegend in Österreich, gibt es keine gemeinsame Volkszugehörigkeit mehr: Mit der Sprache räumte Kamikaze, der Wind Gottes, auf. […] Die nationale Gemeinschaft hat ausgedient, die nationale Gemeinschaft wurde eingestellt, beseitigt, verkauft. (Lipuš 2019: 137) Die slowenische Sprache und geistige Kultur wird nur noch von Einzelnen hochgehalten, das Dorf aber wird bald „gänzlich vereinheitlicht“ sein, denn nur Überreste sind ihm geblieben. Spuren einstiger Andersheit und des Andersseins gibt es noch, aber mit der Zeit wird auch sie „etwas wie Lagerschotter bedecken“ (Lipuš 2019: 138). Das bisher letzte Prosawerk Florjan Lipušʼ ist eine bittere Erzählung über das Verschwinden des Slowenischen. In ihr rundet der Schriftsteller sein Loblied auf die Muttersprache, das Slowenische, ab, das die jüngere und auch mittlere Gene- Form und Bedeutung des Slowenischen in der Literatur Florjan Lipuš’ 139 ration der Kärntner Slowenen nicht mehr verwendet. Das Leiden der Vorfahren, schreibt er, habe bei ihnen kein Bewusstsein erzeugt, ihnen den Weg nicht geleuchtet, das Rückgrat nicht gestärkt. Die Volksgruppe aber, versucht er bitter begreiflich zu machen, kann nur bestehen, wenn sie ihre eigene Sprache hat. Weil viele sie verwerfen, wird es auch die slowenische Volksgruppe bald nicht mehr geben. Damit schließt Florjan Lipuš seine Erzählung, ähnlich wie Peter Handke, der in seinem Drama Immer noch Sturm die Slowenen als aussterbenden Stamm zeigt, den neugierige Touristen besichtigen kommen (Handke 2010). Abschließend sei mir die Bemerkung erlaubt, dass ich die literarische Arbeit von Florjan Lipuš seit mehr als dreißig Jahren verfolge, erforsche und darüber vortrage. Alle beide, der Schriftsteller und seine Leserin, sind inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen. Die Faszination für die Tiefe seiner Ausdruckskraft, die es mit einem Lexikon aufzunehmen vermag, und seine widerständische Haltung ist mir aber geblieben und sie wird immer größer. Florjan Lipuš hat mit seinem Werk ein Hohelied auf die slowenische Sprache erschaffen, in der er versucht hat, alles zu benennen, was auf den ersten Blick nicht benennbar scheint. Mit dem Feingefühl eines lyrischen Meisters und der Ironie eines scharfzüngigen Gesellschaftskritikers, der auf historisches Unrecht ebenso wie auf moderne Irrwege mahnend aufmerksam macht, hat er auch scheinbar Unvereinbares vereint. Der Hauptheld seines literarischen Werks ist neben Tjaž die slowenische Sprache. Ihr hat er ein beeindruckendes Denkmal errichtet. Besonders mit seinen letzten Texten hat er aber auch seiner ermordeten Mutter ein Denkmal gesetzt, die ins KZ deportiert wurde, als er kaum sechs Jahre alt war und von der er in einem Interview sagte, sie habe ihm nichts anderes als die slowenische Sprache hinterlassen. Das reiche literarische Schaffen von Florjan Lipuš ist heute Beleg dafür, dass sie ihm sehr viel hinterlassen hat. (Aus dem Slowenischen von Andreas Leben) Literaturverzeichnis Borovnik, Silvija (2017). Večkulturnost in medkulturnost v slovenski književnosti (=-Zora 123). Maribor: Univerzitetna založba Univerze. Hafner, Fabijan (2017). Nachwort. In: Lipuš, Florjan: Seelenruhig, 107-111. Handke, Peter (2010). Immer noch Sturm. Frankfurt: Suhrkamp. Kramžar, Barbara (2011). Pisatelj Florjan Lipuš: Ljudje okoli mene so se zavili v molk, v molk se je zavila vsa dežela. Delo (Sobotna priloga), 28.05.2011. Abrufbar unter: www.delo.si/ zgodbe/ sobotnapriloga/ pisatelj-florjan-lipus-ljudje-okoli-mene-so-sezavili-v-molk-v-molk-se-je-zavila-vsa-dezela.html (Stand: 03/ 01/ 2019) Lipuš, Florjan (2013). Poizvedovanje za imenom. Maribor: Litera. Lipuš, Florjan (2015). Mirne duše. Maribor: Litera. 140 Silvija Borovnik (Maribor) Lipuš, Florjan (2016). Der Zögling Tjaž: Roman und Nachschrift. Deutsch von Peter Handke zusammen mit Helga Mračnikar und Johann Strutz. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Fabjan Hafner (= Österreichs Eigensinn: Eine Bibliothek). Salzburg, Wien: Jung und Jung. Lipuš, Florjan (2017a). Gramoz. Maribor: Litera. Lipuš, Florjan (2017b). Seelenruhig: Erzählung. Aus dem Slowenischen von Johann Strutz, mit einem Nachwort von Fabjan Hafner. Salzburg, Wien: Jung und Jung. Lipuš, Florjan (2019). Schotter. Aus dem Slowenischen von Johann Strutz. Salzburg, Wien: Jung und Jung. Strutz, Johann (1998). Florjan Lipuš. In: Strutz, Johann (Hrsg.). Profile der neueren slowenischen Literatur in Kärnten. 2., erweiterte Aufl. Mit Beiträgen über Theater und Film. Klagenfurt/ Celovec: Hermagoras/ Mohorjeva, 79-109. „Wahrheit des Klangs“: Die vielen Sprachen und ihre Funktion(en) im dramatischen Werk Peter Handkes Vanessa Hannesschläger (Wien) Abstract: In his 50(+) years as a writer, the Austrian poet Peter Handke has developed and transformed his poetics in many ways. This paper investigates the role of ‘multilingualism’ in Handke’s writing and how it manifests and mutates in his literature over time. As Handke’s extensive oeuvre cannot possibly be investigated as a whole, stage texts from three significant moments of the author’s writing career will serve as examples of how multilingualism becomes manifest in different phases. The analysis of Publikumsbeschimpfung (1966, Offending the audience , 1971) and smaller Sprechstücke ( Spoken Plays ) will show the (absence of) use of foreign languages in the beginning of Handke’s career, Über die Dörfer (1981, Walk about the Villages , 1996) will illustrate the big shift in Handke’s poetics around 1980, and the most recent play, Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2015, untranslated), will show the increased presence of languages in the latest phase of Handke’s work. Keywords: Peter Handke, polysemy, multilingualism, stage texts, literature database 1 Einleitung Peter Handke, geboren 1942 in Griffen (Kärnten), lebt heute bei Paris: Seit vielen Jahren ist das alles an Information über den Autor, was Lesenden seiner Texte im Klappentext seiner Bücher mitgegeben wird. 1 So spärlich das auf den ersten 1 Der Wortlaut unterscheidet sich fallweise marginal; hier wörtlich zitiert wurde der Klappentext von Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (Berlin: Suhrkamp 2015). 142 Vanessa Hannesschläger (Wien) Blick scheinen mag, so aussagekräftig ist es auf den zweiten: Geboren im Krieg in der österreichischen Provinz, in zweisprachigem Gebiet, lebt ein österreichischer Mann mit sehr bundesdeutschem Nachnamen von der französischen Sprache umgeben an der Schwelle zu einer Weltmetropole und schreibt. Wie seine Umgebung hat sich auch die Literatur Peter Handkes in seinen mittlerweile mehr als 50 Schreibjahren entwickelt und gewandelt. In diesem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, welche Rolle ‚Mehrsprachigkeit‘ in dieser Literatur spielt, und wie sie sich im Lauf der Zeit in Handkes Texten manifestiert und verändert. Da das Werk Handkes in seiner Gesamtheit den hier gegebenen Rahmen sprengen würde (beinahe 100 Einträge zählt die Bibliographie von Handkes Buchpublikationen auf der Website Handke online , und dabei sind die über 30 Übersetzungen aus vier verschiedenen Sprachen ins Deutsche in Buchlänge noch nicht mitgezählt), werden hier beispielhaft ausgewählte Bühnentexte herangezogen, um den Einzug der Vielsprachigkeit in Handkes Texte und ihre Entwicklung darzustellen: der Bühnenerstling Publikumsbeschimpfung und die beiden kleineren in seinem Umkreis entstandenen Sprechstücke Weissagung und Selbstbezichtigung , das „dramatische Gedicht“ Über die Dörfer , das in Handkes poetologischer Krise und Wende rund um Langsame Heimkehr entstand, und seine jüngste Bühnenarbeit Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße , ein „Schauspiel in vier Jahreszeiten“ und Fest der Vielsprachigkeit, das seinesgleichen sucht. Der Analyse dieser Texte werden zwei Grundlagen vorangestellt: Theorie und Methode. Im Abschnitt „Theorie“ wird eine Definition des Begriffs ‚(Viel)Sprachigkeit‘ vorgeschlagen, die ihrer Ausformung in Handkes Literatur gerecht wird. Als „Methode“ wird die Datenbank Handke: in Zungen vorgestellt, die alle Textstellen mit anderssprachigen Elementen aus Handkes Bühnentexten versammelt und die für die vorliegende Analyse als wesentliches Werkzeug dient. 2 Theorie: Zum Begriff der Sprachigkeit Es beginnt mit einem Problem der Terminologie. Wie nennt man „die sprachliche Heterogenität eines Werks“ (Helmich 2016: 14)? Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit, Eigen- oder Anderssprachigkeit, Mono-, Bi- und Multilingualität sind Begriffe, die sofort ins Schwimmen kommen, wenn man versucht, mit ihnen zu arbeiten. The nature of the problem, it seems to me, is already discernable in the fact that whatever else may be the case, [all] terms are incomplete in themselves and depend on the other to be meaningful. (Holquist 2014: 7) „Wahrheit des Klangs“ 143 Das Problem an der Sache mit den Sprachen, so der Bachtin-Übersetzer Michael Holquist weiter, ist schon die Vorstellung von der „possibility that there might be such a thing as a single language“ (ebd.), und so lässt sich auch innerhalb eines vermeintlichen Einsprachigkeitsparadigmas mit Saussure und Bachtin resümieren, dass „[m]onolingualism is always a fiction“ (ebd.: 18). Auch David Gramling weist darauf hin, dass es keinesfalls selbstverständlich [ist], dass eine Unterscheidung zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit getroffen werden kann, denn die setzt einen Begriff von ‚Sprachigkeit‘ voraus, also die Vorstellung, es gebe einheitliche, klar voneinander unterscheidbare und damit ‚zählbare‘ Sprachen. (Gramling 2017: 35) Über historische Positionen, Motivationen und ethische Implikationen der Konzepte von Ein-, Zwei-, Viel- und überhaupt Sprachigkeit hat nicht nur Holquist geschrieben, auch an anderen Orten sind diese Aspekte umfänglich dargelegt worden (z. B. Sepp 2017). Hier wird versucht, Sprachigkeit in einem Sinn zu definieren, der spezifisch für die Beschreibung ihrer Eigenarten im Werk Peter Handkes geeignet ist. Die grundsätzliche Konstruiertheit und letztendliche Fiktionalität von Konzepten von Sprachen im Sinne von National-, Einzel- oder Weltsprachen muss dabei anerkannt und mitgedacht werden; besonders, wenn man berücksichtigt, dass auch Handke selbst zuweilen von einer „Universalsprache“ (Handke/ Hamm 2008: 137) spricht, wenn von der Literatur die Rede ist. Und doch wäre es nicht zielführend, darüber hinwegzugehen, dass Handke in spezifischen „Einbettungssprachen“ (Helmich 2016) (auf Deutsch und selten auf Französisch) schreibt, historische wie zeitgenössische Texte aus bislang vier anderen Sprachen ins Deutsche gebracht hat und sowohl in seine Übersetzungen als auch in ‚eigene‘ Texte nicht-textsprachliche Elemente integriert. Denn Handkes Konzept der „Universalsprache“ kann so verstanden werden, wie Till Dembeck eine der wesentlichen Strömungen der gegenwärtigen Linguistik beschreibt: nämlich als „Versuch, in der Vielfalt der Idiome universal gültige Strukturen ausfindig zu machen“ (Dembeck 2017: 21). Die Literatur Handkes, aber auch seine persönliche Schreib- und Sprachenbiographie, sind Manifestationen der „transhistorische[n] Normalität menschlicher Mehrsprachigkeit“ (Gramling 2017: 37) und daher in besonderer Weise geeignet, die Möglichkeiten der Vielsprachigkeit in der Literatur zu untersuchen. Da Handke kein zwei- oder dreisprachiger Autor ist, kein Autor, der sich im engeren Sinn der Darstellung einer ‚sozialen Realität‘ und der Rolle der Sprachen in dieser widmet, sondern vielmehr einer, der die Poetik in der großen Welt und die Welt in der großen Poesie sucht, einer, der Grammatik, Syntax und dem Wort an sich die alleinige Macht zugesteht, die Welt anders und wirklicher oder vielleicht überhaupt erst zu entwerfen, und einer, der diese Strukturen 144 Vanessa Hannesschläger (Wien) innerhalb einzelner Sprachen nicht ausreichend findet, scheint es gerechtfertigt und erkenntnisfördernd, einen Blick auf die vielen Sprachen zu werfen, die in seinem Werk sprechen, und diese mit ihren territorial inspirierten Benennungen - Gramling (2017: 36) nennt dies das „erhabene kartographische Narrativ über ‚die Weltsprachen‘“ - zu versehen. Es geht hier also um „innerhalb literarischer Einzelwerke realisierte Verbindungen ansonsten wohlgetrennter Einzelsprachen“ (Helmich 2016: 14): um Deutsch, Latein, Slowenisch und Spanisch in den Texten Peter Handkes, und zwar sowohl um die dort gefundenen (fremd) sprach lich en Elemente als auch um die (fremd)sprach ig en Kontexte, in oder aus denen Handke schreibt. Fremdsprach lich keit definiert Gramling in einem „vormodernen, vornationalen Sinne“ als „ein Sprechen […], das einem Ort zugehört, zu dem man höchstwahrscheinlich nie körperlich Zugang haben wird“, während Fremdsprach ig keit in Texten zu finden ist, die „nachweisbar in einer fremden Sprache verfasst [wurden], einer Sprache, die nicht die hiesige oder die unsrige ist.“ Und so sieht Gramling die Grenze, nach der es zu fragen gilt, nicht als die zwischen „Anders- und Einsprachigkeit“, sondern als jene zwischen „Fort- und Hiersprachigkeit“ (Gramling 2017: 38). Führt man diese Gedanken zusammen und bezieht sie auf Handkes Werk, so kann man daher sagen, dass er beim hiersprachigen Schreiben in Deutsch (und selten Französisch) unterschiedlichste fortsprachliche Elemente miteinbezieht, um zu seiner eigenen Form der sprachlichen Sprachigkeit zu gelangen. Untersucht wird hier also, wann Handke zum „Code-Switching“ (ebd.: 41) greift, in welche Sprachen er wechselt und welche Schlüsse über seine poetischen Anliegen sich daraus ziehen lassen. 3 Methode: Die Datenbank Handke: in Zungen Um die systematische Analyse aller fremdsprachigen Textstellen konsequent umsetzen zu können, wurde eine relationale Datenbank, also eine aus miteinander in Beziehung stehenden Datensätzen bestehende Datenbank, gebaut. Diese trägt den Titel Handke: in Zungen , beinhaltet eine vollständige Sammlung von Textstellen mit anderssprachlichen Elementen in Handkes Bühnentexten und wird vom Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften online frei zur Verfügung gestellt. Handke: in Zungen ist als Werkzeug zu verstehen, das für die Bearbeitung der vorliegenden Forschungsfrage nach der Rolle von Sprachen in den Bühnentexten Peter Handkes gebaut wurde. Das Datenmodell wurde spezifisch auf diese Frage zugeschnitten und die enthaltenen Daten gezielt zur Beantwortung dieser Frage gesammelt und erstellt. Die Datenbank unterstützt die systematische Analyse der relevanten Textstellen und ihre Sortierung nach unterschiedlichen Gesichts- „Wahrheit des Klangs“ 145 punkten, ersetzt aber nicht die profunde Kenntnis der gesamten Texte, die für eine sinnvolle Interpretation unabdingbar ist. Tatsächlich mag es kontraintuitiv scheinen, sich einem Werk wie dem von Peter Handke mittels systematischer Erfassung von Textstellen in einer Datenbank zu nähern: Seine Serbien-Texte sorgten […] für Provokation: In ihnen zeigte sich eine andere Art der Wahrheitsfindung am Werk als in den Daten, Fakten, Berichten, Bildern und Zeugenaussagen, die die andere Seite für ihre Zwecke sammelte und propagierte. Für Handke gab es damals nur eine Devise: Hingehen, anschauen und beschreiben. (Kastberger 2012: 41) Der Autor selbst: „Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jedes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? “ (Handke 1996: 30) Um Handkes Texte zu verstehen, und die Verwendung von anderen Sprachen darin, gibt es ebenfalls keine andere Methode, als sich hinzusetzen, zu lesen und zu beschreiben, zu schauen und zu lernen. Unterstützen kann eine Datenbank diesen Prozess dennoch: Einerseits, indem sie hilft, keine relevante Textstelle zu übersehen, andererseits, weil sie erlaubt, Parallelen und Unterschiede der Verwendung von anderen Sprachen in unterschiedlichen Werken schneller zu erkennen. 4 Anfang: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke (1966) Das dramatische Werk Peter Handkes war ursprünglich als kurze Episode konzipiert. Gern wird in der Sekundärliteratur der wunderbare Brief des jungen Autors mit Hang zur Pose zitiert, der seinen Bühnenerstling auf dem Weg zum Verleger begleitete: Ich habe gerade mit Ach und Krach ein Stück geschrieben. Es heißt „Publikumsbeschimpfung“ und ist mein erstes und mein letztes. (Handke/ Unseld 2012: 17) So ganz stimmte das schon nicht, als der Brief im Oktober 1965 abgeschickt wurde, denn bereits 1964 war Handkes Weissagung entstanden (Pektor 2015). Im Druck erschienen beide Texte gemeinsam mit einem dritten, der Selbstbezichtigung , im September 1966. Alle wurden noch im selben Jahr uraufgeführt. Dass Publikumsbeschimpfung von diesen drei Texten der mit Abstand populärste (und vielleicht bis heute das bekannteste Bühnenwerk Handkes) ist, liegt wahrscheinlich mit daran, dass es der einzige wirklich abendfüllende dieser drei Bühnentexte ist, und natürlich am Titel. Das Konstruktionsprinzip der drei Texte ist allerdings sehr ähnlich. Alle sind „Sprechstücke“, alle verzichten auf Figu- 146 Vanessa Hannesschläger (Wien) ren im herkömmlichen Sinn ( dramatis personae ), alle arbeiten mit Rhythmus im popmusikalischen Sinn. Aber vor allem arbeitet sich jeder dieser Texte an einer bestimmten rhetorischen Figur der mehr oder weniger alltäglichen Sprache ab, die jeweils untersucht und mit einer so extremen Konsequenz als sprachlicher Konstruktionsmechanismus angewandt wird, dass alle möglicherweise vorhandenen inhaltlichen Elemente bedeutungslos werden und die Weltformungspotenz der Sprache selbst zum einzigen Thema wird. Die Phrasen-Formen, die verhandelt werden, sind die Tautologie ( Weissagung ), die Beschimpfung ( Publikumsbeschimpfung ) und die Beichte ( Selbstbezichtigung ). Und die anderen Sprachen? Sie kommen in diesen frühen Texten nicht vor; es sind erste Texte für die Bühne, die ein junger deutschsprachiger Autor schreibt, der den Bühnentext als Ort begreift, an dem er mit seiner und um seine Schreibsprache streitet. Nur das Englische kommt in der Publikumsbeschimpfung vor (neben ganz vereinzelten Gallizismen), und auch nur, um popkulturelle Inhalte zu benennen, die keinen übersetzten deutschen Namen haben (Liedtitel, Bandnamen, musikalische Strömungen). Und das Wort „Nigger“ in Weissagung , in folgendem Satz: „Der Nigger wird frech wie ein Nigger sein.“ (Handke 1979: 61) 2 Das Handkesche Theatermachen blieb also nicht beim Einzelereignis der Schimpftirade. „Trotz (und wegen) seiner Abneigung gegen das Dramatische“ wird das „Schreiben für - man kann auch sagen: gegen - das Theater eine auffallende Konstante in Handkes Werk.“ (Lehmann 2012: 67) 5 Mitte und Wandel: Über die Dörfer (1981) Wenngleich Handke nach den frühen Sprechstücken regelmäßig Bühnentexte schreibt, entsteht das „dramatische Gedicht“ Über die Dörfer nach einer siebenjährigen Schreibpause für das Theater. In diesen Zeitraum fällt der Beginn von Handkes Arbeit als Übersetzer und seine Krise rund um Langsame Heimkehr (1979), die einen großen Wandel in Handkes Poetologie verursacht. Die Krise, und schließlich auch ihre Überwindung, so Hans Höller (2007: 9) mit Bezug auf einen unveröffentlichten Notizbucheintrag des Autors, dreht sich um […] die Idee eines neuen Schreibens als Gesang: ‚Was ich schreibe, muß wirklich ein Gesang werden‘ (12. Dezember 1978). ‚ Gesang ‘, das meint hier nicht nur Form und 2 Ich persönlich war überrascht, dass Handke für die Konstruktion dieser Phrase das englische Wort „Nigger“, nicht das deutsche Wort „Neger“ verwendet hat, da Deutsch sprechende Rassist_innen den englischen Begriff in der Gegenwart kaum verwenden. Diesbezüglich wäre es interessant, in eine sprachwissenschaftliche Untersuchung zur Verwendung dieser Wörter in der deutschen bzw. österreichischen Alltagssprache der Nachkriegsjahrzehnte Einblick zu nehmen. „Wahrheit des Klangs“ 147 Rhythmus, sondern selbst, in der Übereinstimmung mit der Welt, zu klingen beginnen. (Hervorhebung im Original) Dieser Wandel, mit dem der Klang zur zentralen Kategorie von Handkes Poetik wird, manifestiert sich zuerst im Prosatext Langsame Heimkehr . Langsame Heimkehr wird dann auch zum Namen der Tetralogie, zu der Über die Dörfer gehört. Der Einsatz anderer Sprachen steigt mit Über die Dörfer sprunghaft an, wie man an folgender Tabelle gut erkennen kann: Abb. 1: Anzahl der vorkommenden Sprachen in Peter Handkes Arbeiten für die Bühne, chronologisch sortiert (Auswertung der Daten in Handke in Zungen ) Bis Über die Dörfer setzte der Autor bis zu drei Sprachen in seinen Texten ein (und das sehr spärlich). In Über die Dörfer sind es fünf, und in allen folgenden Texten ebenso viele oder mehr; einzige Ausnahmen davon sind das stumme Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) (in dem beschrieben wird, wie Figuren sich über die Bühne bewegen), das fast stumme Erzählstück Spuren der Verirrten (2006) (in dem ein Beobachter-Erzähler beschreibt, was auf der Bühne zu sehen ist und die anderssprachigen Elemente meist in den Dialog-Fragmenten vorkommen, welche von den Verirrten, die den in Die Stunde auftretenden Passierenden ähnlich sind, untereinander ausgetauscht werden) sowie der Monolog Untertagblues (2003) (in dem ein wilder Mann seine Weltsicht darlegt und seine Mitfahrenden in der U-Bahn beschimpft). 148 Vanessa Hannesschläger (Wien) Mit Über die Dörfer , das im August 1981 als Buch erschien, wurde im August des Folgejahres zum ersten Mal ein Stück Handkes bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Es ist ein ganz neues Handkesches Bühnenschreiben, das in diesem Text auftritt. Zum ersten Mal gibt es hier episch erzählende Figuren auf Handkes Bühne, wie sie ab diesem Text seine Theaterarbeiten prägen werden. Mit der Einbettung von Über die Dörfer in die Langsame Heimkehr -Tetralogie geschieht auch formal der erste Schritt in einem über die kommenden Jahrzehnte von Handke immer weiter entwickelten Prozess der Zusammen- und Engführung der Genres Epik und Dramatik (vgl. dazu auch Handke/ Oberender 2014: 69). Thematisch knüpft das Stück sehr lose an seinen Vorgänger Die Unvernünftigen sterben aus (1973) an, auch in Über die Dörfer geht es um wirtschaftlich-geschäftliche Entscheidungen von Individuen und deren Konsequenzen für die Entscheidungstreffenden und ihr Umfeld. In Über die Dörfer ist es die Schwester der zentralen Figur Gregor, Sophie, die ein Geschäft eröffnen möchte und vom gemeinsamen Bruder Hans unterstützt wird, der als Bauarbeiter auf einer Autobahnbaustelle dem Arbeiter_innenmilieu angehört. Diese Ausgangslage, also „der Anlass“, der aber „im Sinne der dramatischen Geschichte kaum ins Gewicht fällt“ (Lehmann 2012: 72), ist dennoch nicht eigentliches Thema des Stücks, in dessen Zentrum die philosophische Frage steht, ob „der ewige Frieden“ zwischen Menschen „möglich“ sei (Handke 2002: 120). Mit der Figur Nova, die diese Möglichkeit in den Raum stellt, tritt in diesem als „dramatisches Gedicht“ untertitelten Text über ‚echte Leute‘ zum ersten Mal gleichzeitig eines jener zauberhaften Wahrsprecher_innenwesen auf, deren Vorbilder Handke bei Shakespeare und Raimund gefunden hat (Letzterem ist dann auch Handkes nächstes Stück Das Spiel vom Fragen [1989] mitgewidmet). Trotz der Marginalisierung der ‚Handlung‘ ist Über die Dörfer das erste Handke-Stück mit einem an der konkreten Wirklichkeit entlanggeformten Setting: Es spielt in etwa in der Gegenwart (also zur Entstehungszeit des Stücks) an einem in etwa wirklichen Ort, in Griffen, wo Handke aufwuchs, wobei, trotz aller Erkennbarkeit der ‚Orte‘, an denen ab Über die Dörfer viele von Handkes Stücken spielen, immer bedacht werden muss, dass sie „niemals Abbilder realer Orte darstellen, selbst dann nicht, wenn sie solche […] zum Vorbild haben“ (Pektor 2012: 100). Diese Verbindung der Herkunftsgegend des Autors als wirklichem Ort mit dem Text, durch dessen Elemente diese Gefilde trotzdem deutlich in einer Traum-Zauber- Welt verortet werden, wird sich zum Grundrezept der folgenden Bühnentexte Handkes entwickeln. Die anderen Sprachen sind in diesem Text erstmals vielzähliger als in den Bühnentexten zuvor. Die alten Sprachen (Latein und Altgriechisch) kommen hier zum Einsatz, auch Englisch kommt vor, und zum ersten Mal in einem Text für die Bühne verwendet Handke auch Slowenisch. Das liegt insofern nahe, „Wahrheit des Klangs“ 149 als das Stück in einer zweisprachigen Kärntner Gegend spielt. Die Slowenischsprecherin ist die „alte Frau“, und sie sagt drei Dinge auf Slowenisch, die alle in einer einzelnen Rede zusammengefasst werden: ‚Wie einer Henne das Ei, hinten aus dem Arschloch.‘ […] ‚Bom ščegtal zgodbo iz tebe kot jajce iz kokoši.‘ - Glej čudež in pozabi! Sieh das Wunder und vergiß. […] ‚Slavček med trnjem / se je zganil / in zapel; / bel cvet divje rože / je zakrvavel …‘; Die Nachtigall zwischen dem Dorngestrüpp hat sich geregt und zu singen angefangen; die weiße Blüte der wilden Rose hat zu bluten angefangen … (Handke 2002: 89-90) Somit konnotiert Handke die slowenische Sprache in diesem Text mit einem bäuerlich-ländlichen Milieu. Die einzige andere anderssprachige Textstelle in Satzlänge ist auf Latein und wird von der Autoritätsfigur des Stücks, der Verwalterin der Bauhütte, gesprochen. 6 (Vorläufiger) Schluss: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2015) Wie zuvor schon das stumme Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten ist Peter Handkes Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße untertitelt als „Schauspiel“, und bei Handke ist das wörtlich zu nehmen: Beide Texte sind Spiele zum und vom Schauen, zum Anschauen für das Publikum, und vom Schauen und Anschauen jener, die da auf der Bühne sind. Das Spiel ist nicht nur eines, das die da auf der Bühne vorspielen, es ist auch immer eines, bei dem die, die da zuschauen, mitspielen, aber es ist vor allem eines des Autors, der, spielend mit der Sprache, den Sprachen und den Bildern, das, was es da zu schauen gibt, erst schafft. „Und der Stoff? Das Spielen. Das Spielen als der Stoff der Stoffe.“ (Handke 2015: 172) Die Unschuldigen sind aber nicht nur einfach ein Schauspiel, sondern eines „in vier Jahreszeiten“ (so der Untertitel weiter). Dass ein Bühnenereignis im jüngsten Stadium von Handkes Poetologie eine Jahreszeit braucht, hatte sich schon im „Sommerdialog“ Die schönen Tage von Aranjuez (2012) gezeigt. Im Sommer ging es darum, wie Liebende miteinander sprechen; über ein ganzes Jahr geht es hier nun um die Gesellschaft als Ganzes. Wovon handelt der Text? Wie immer in Handkes Arbeiten lässt sich das so einfach nicht sagen. Es geht um die kleinen Dinge, die uns alltäglich umgeben, und die Besonderheit und das Wunder, das in ihnen immer liegt; und es geht, immer noch, um die Möglichkeit des ewigen Friedens. Seit Über die Dörfer , als Nova zum Ende des Stücks ihre pazifistische Vision in den Raum stellte, befragt und hinterfragt Handke in seinen Bühnenarbeiten den Frieden unter 150 Vanessa Hannesschläger (Wien) Menschen - und die Möglichkeiten der Kunst, die Möglichkeit von Kunst an sich. Verhandelt wird dieses Generalthema des Handkeschen Werks in Die Unschuldigen von einem Ich, das mit einer Gruppe von Unschuldigen und vor allem deren „Häuptling“ oder „Capo“ die Gegenwart ausstreitet und auf die Ankunft einer Unbekannten wartet. Sie ist das „Wesen des richtigen Moments“ (Handke 2015: 168), das Versprechen einer Möglichkeit, die in allen Menschen steckt: Die Möglichkeit, Gemeinschaft zu werden, eben die Möglichkeit des ewigen Friedens (oder zumindest des momentanen). Das Ich ist nicht nur eine der Figuren der Handlung, sondern gleichzeitig ihr Erzähler und damit die ultimative Manifestation des epischen Theaters Handkeʼscher Prägung. Schon in Immer noch Sturm (2010) gab es eine solche Figur, die den Traum träumt, der die erzählte Geschichte ist. In Die Unschuldigen wiederholt sich dieses Setting: „Gibt’s denn das, daß einer, der träumt, in seinem Traum das erste Wort hat? - Ja, in einem Wachtraum.“ (ebd.: 9) - „Ja, geht denn das, daß in einem Traum der Träumer nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort hat? - in einem Wachtraum: Ja! “ (ebd.: 177) Der Traum, den das Stück darstellt, ist ein polyphoner. Schon im Motto steckt die Aufforderung, den Klang der Sprachen im Traum zu hören: „Go sleep and hear us“ lautet es, und dringt an der Lesenden Ohr nicht aus dem Sturm Shakespeares, der schon für das Stück Immer noch Sturm (das in den Arbeitsfassungen noch den Titel Storm Still trug, vgl. Hannesschläger 2017) gemeinsam mit König Lear den Referenzrahmen bildete, sondern direkt aus „ The Tempest “ (Handke 2015: 5). Im Lauf des Stücks treten dem Englischen eine Menge weitere Sprachen an die Seite: Französisch, Spanisch, Serb(okroat)isch, Slowenisch, Arabisch, Latein, Italienisch, Altgriechisch und Deutsch, als „Einbettungssprache“ ebenso wie als jene Sprache, die in den Reden des Ich gleichberechtigt neben anderen steht: Aber auch diese Leute sollen mir recht sein. Sie sollen meine, des Herrn der Landstraße, Gäste sein. Willkommen! Welcome! Bienvenue! Bienvenido en mí país! Dobrodošli u moju zemlju! Mahaban fî bilâdî! (ebd.: 26) Doch auch die Unschuldigen sind vielsprachig, so etwa ihr Wortführer: ‚Information is vocation. Lʼinformation est une vocation. La información e una vocación. Die Information ist eine Berufung.‘ Und hat nicht auch der neue Papst urbi et orbi verkündet: ‚Gott liebt die Neuigkeiten! Díos ama las novedades! ‘? (ebd.: 48) Doch gerade das ist es, was in diesem Text den Konflikt ausmacht: Das Ich, Liebhaber des Klangs und Suchender nach einer größeren Wahrheit, wird von den Unschuldigen mit profanen Fakten, eben ‚Informationen‘, überschüttet, wo es ihm doch um anderes geht: „Wahrheit des Klangs“ 151 Ich: - und in der Landstraßenstille und -sonne von unbestimmter Liebe entflammt zu gehen - Der Anführer: ‚Con ansias en amores enflamada‘ würde ich anders übersetzen. Ich: Das entspricht meiner heutigen Seele eher als die bestimmte, jemand Bestimmtem bestimmte Liebe - Der Anführer: ‚Bestimmtem bestimmt‘? Wortwiederholung! Ich: - in welcher el alma de Juan de la Cruz - Der Anführer: La alma. Alma ist weiblich. (ebd.: 42) Die Beschwerde über diese Korrekturen und Einwürfe folgt auf dem Fuße: „Denn ihr Unschuldigen seid, immer und überall, die besseren Redner, habt Argumente statt Ahnung, habt Mut zur Meinung“ (ebd.: 52). Doch die besseren Redner_innen sind nicht näher an der Wahrheit, die das Ich sucht. Die Unbekannte weiß, worum es ihm geht: Ihr redet und redet, und manchmal denke ich: Mag sein, kann sein, oder sogar: Stimmt! Doch letzten Endes ist in dem, was ihr redet, kein Wort wahr, keine Wendung, und das ist die schlimmstmögliche der Wendungen. (ebd.: 97) Die Wahrheit liegt allein in der Kunst, die sich nicht systematisieren lässt. Ihre Verteidigung ist es, um die das Ich kämpft. Die Landstraße, Weg der Reise, steht symbolisch für die Kunst, 3 die die Unschuldigen mit Argumenten und Meinungen sukzessive zerstören. Und jetzt werdet ihr auch den letzten Erdenort außerhalb des Systems, den letzten systemlosen weißen Flecken in Schuß bringen, die Landstraße allhier, bewußtlos, wie ihr seid, die Getreuen des Systems, seine Getreusten. (ebd.: 125) Die Sprachen sind in diesem Text - anders, als das noch in Über die Dörfer der Fall war, wo anderssprachliche Elemente noch spärlicher und bestimmten Figuren zuordenbar eingesetzt wurden - ein Teil des Grundtons. „Wahrheit des Klangs. So wie ich manchmal: Arschficker! 4 sage, allein um des Klangs willen. Sprechen zeitweise allein des Klangs wegen! “ (Handke 2015: 35) Doch nicht nur das Ich erzeugt den Vielsprachenklang, die Unschuldigen beherrschen ihn ebenso. Die Vielsprachigkeit verkommt zum Sound der Realzeit, die anders- 3 Schon Das Spiel vom Fragen ist als dramatische Abhandlung über das Wesen der Kunst zu lesen, wie Pektor (2013) deutlich gemacht hat. Die Unschuldigen setzen die dort begonnenen Überlegungen des Autors fort. 4 Dass sich in den aus Handkes Werken zitierten Textstellen in diesem Aufsatz die Kraftausdrücke häufen, ist nicht repräsentativ für Handkes Literatur. Dass Kraftausdrücke gerade dort vermehrt zu finden sind, wo auch andere Sprachen ins Spiel kommen, mag mit der in diesem Zitat angesprochenen Bedeutung der Klanglichkeit in Zusammenhang stehen. 152 Vanessa Hannesschläger (Wien) sprachlichen Elemente, deren individueller Klang dem Ich eine Annäherung an anders nicht Ausdrückbares erlaubt, werden in den Mündern der Unschuldigen bloße Benennungsinstrumente. Die „Häuptlingin“ der Unschuldigen dreht den Spieß im Kampf um den Anspruch auf die Sprache und die Sprachen sogar um: Das Ich nennt sie einen, „der nicht unsere Sprache spricht. Und wenn, dann mit fremdem Akzent. Kein native speaker. Nicht bloß die Landstraße hat er okkupiert, sondern auch unser aller Landstraßensprache“ (ebd.: 144). Der Ausweg, den das Ich schlussendlich wählt, ist keiner: Es gibt die Landstraße auf und den Unschuldigen zurück, um sich von nun an der Weglosigkeit zu widmen. Kein Ende. ‚Poros‘, im alten Griechisch, ‚der Weg‘. ‚Aporia‘, Aporie, die Ausweglosigkeit. […] Oder auch bloß die Weglosigkeit. Oder: Die Unwegsamkeit. […] Leb also wohl, große Straße. […] Dank euch, Unschuldige: Alles geht, und nichts geht mehr. […] Aporia, Aporie: Eigentlich ein schönes Wort, ein Klang, ein Ausklang … Einmal im Leben endlich Ja! sagen können - mein lebenslanger Wunsch. Und jetzt: Aporia, Aporie - Ja! Ja! Und ja! […] Das ist er, der Gruß zum Abschied. Das wird er gewesen sein. - Leb wohl und Verzeihung, liebe Landstraße. Aporie. Aporia. Aporia! (Handke 2015: 176-177) 7 Conclusio Nimmt man das Handkesche Œeuvre über den Lauf der Zeit in den Blick, so stellt man fest, dass die Frage nach den Sprachen eine ist, die zwar spätestens seit den 1980er Jahren gestellt werden sollte (und auch wird), die Frage nach den vielen, vielen Sprachen und ihrer gemeinsamen Bedeutung sich aber erst mit den seit der Jahrtausendwende entstandenen Texten wirklich aufzudrängen beginnt. Nach der beinahe vollkommenen Abwesenheit der Sprachen in der Frühphase seines Schaffens bringt die poetologische Wende rund um Langsame Heimkehr auch die Vielsprachigkeit ins Werk des Autors. In seiner jüngsten Schaffensperiode schließlich ist eine signifikante Erweiterung und Auffächerung des integrierten Sprachenkanons zu beobachten, über zehn verschiedene Sprachen können hier gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das ist bemerkenswert, denn wie Helmichs Untersuchung zeigt, integrieren Schreibende neuerer deutschsprachiger Literatur zumeist eine wesentlich kleinere Anzahl an Sprachen, als Handke das tut, und bleiben meist vor allem bei einer „Prestigesprache“, wobei Helmich in der jüngeren Vergangenheit wenig überraschend eine „Verschiebung […] vom Französischen zum Englischen“ (Helmich 2016: 443) erkennt. Diese beiden Sprachen kommen auch bei Handke vor (wobei die Verschiebung, so dieser Begriff für Handkes Literatur überhaupt verwendet „Wahrheit des Klangs“ 153 werden kann, eher in die andere Richtung geht), stehen aber neben vielen anderen - neben großen, westlichen ‚Kultursprachen‘ wie Spanisch, aber auch neben den alten Sprachen und schließlich solchen, die in westlich orientierten Zivilisationen fallweise wenig positiv konnotiert sind und in die in diesen Kulturen entstehenden Literaturen wenig Eingang finden, etwa Arabisch und die südslawischen Sprachen. Diese „Randsprachen“ beschäftigen den Autor in besonderer Weise, denn die Randsprachen, die sogenannten Randsprachen, sind [im Kontext einer ‚Musik der Weltseele‘] vielleicht viel bezeichnender und viel subtiler und viel variantenreicher als zum Beispiel eine Sprache wie das Englische. (Radaković/ Handke 2008: 31) Der von Helmich 2016 allgemein formulierte Befund, dass „[j]edes Mehr an Vielsprachigkeit auch eine Einbuße an ästhetischen Qualitäten implizieren [dürfte], vor allem im Bereich der semantischen Differenzierung und Abtönung“ (543), kann für Handkes Arbeit aber nicht gelten, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat. Nicht um das willkürliche Herantragen der menschlichen Sprache an die stummen Dinge ist es zu tun. Vielmehr wird die Sprache, die in diesen schon ruht, vom menschlichen Sprechen gleichsam nur erweckt - in der Tradition des romantischen Gedankens vom ‚Lied in allen Dingen‘, das in ihnen schläft und zu singen anhebt, wenn das Zauberwort - der rechte Ausdruck, der Name - getroffen wird. (Lehmann 2012: 70) Die anderen Sprachen bedeuten in Handkes Werken besondere Zäsuren im Text. Ihr Einsatz führt zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für das in ihnen Geschriebene und seine klangliche Qualität; das heißt, dass sie vor allem auch dann vorkommen, wenn die Haupttextsprache keine adäquaten Strukturen anbietet, ein Denkmodell auszudrücken oder wenn ein Wort in der Haupttextsprache nicht jenes innere Bild hervorzurufen vermag, das sein Klang in der gewählten anderen Sprache evoziert (zumindest beim Autor). Tatsächlich kommen die Sprachen ins Spiel, wenn der Autor das Zauberwort sucht, das aus Text Kunst macht; und dieses kann aus jeder Sprache kommen. Literaturverzeichnis Primärquellen Handke, Peter (1979). Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Handke, Peter (1996). Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Sawe, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 154 Vanessa Hannesschläger (Wien) Handke, Peter (2002). Über die Dörfer: Dramatisches Gedicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Handke, Peter (2015). Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße: Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin: Suhrkamp. Handke, Peter/ Hamm, Peter (2008). Es leben die Illusionen: Gespräche in Chaville und anderswo. 2. Aufl. [1. Aufl. 2006]. Göttingen: Wallstein. Handke, Peter/ Oberender, Thomas (2014). Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater. Berlin: Suhrkamp. Handke, Peter/ Unseld, Siegfried (2012). Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp. Radaković, Žarko/ Handke, Peter (2008). Die tragische Intensität Europas: Žarko Radaković im Gespräch mit Peter Handke über Literatur aus Serbien. Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 71, 27-38. Sekundärliteratur Dembeck, Till (2017). Sprache und Kultur. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.). Literatur und Mehrsprachigkeit: Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 17-25. Dembeck, Till/ Parr, Rolf (2017). 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Literatur und Mehrsprachigkeit: Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 53-66. Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer aus dem Serbokroatischen seit den 1990er Jahren Elena Messner (Wien) Abstract: The article focuses on the outstanding cultural mediation work of bilingual Carinthians and of small and medium-sized Carinthian publishers, which strongly influenced not only the increased import of Slovenian, but also Croatian, Bosnian, Serbian and Macedonian literature into German-speaking countries. Indeed, in 1992 and 1994, the Austrian production of translations from Serbo-Croatian was almost the same size as that in Germany. The leading function of Slovenian literature for the transfer of the other literatures of the former Yugoslavia as also for the literatures of other countries of Southeastern Europe is discussed, raising the question of whether regional bilingualism is a particularly powerful driving force for the mediation of culture and also as to what problems can occur in this context. In addition to geographical, economic and political aspects, the paper also analyses linguistic and cultural factors that can influence the transfer of literature. Keywords: translation, Slovenian and Serbo-Croatian literature, literary transfer, Carinthian Slovenian publishing houses Die Kärntner slowenische Kulturarbeit 1 hat seit mehreren Jahrzehnten nicht nur den verstärkten Import slowenischer, sondern auch kroatischer, bosnischer, serbischer Literatur in den deutschsprachigen Raum stark beeinflusst. Zunächst sind einige kurze Vorbemerkungen zum deutschsprachigen Buchbzw. Übersetzungsmarkt angebracht, um die Übersetzungsproduktion bzw. den spezifischen 1 Im vorliegenden Text wird ein enger Kulturbegriff verwendet, der pragmatischerweise eine Einschränkung von Kultur auf das Feld der Kunst, Bildung und Wissenschaft vornimmt. Unter ‚Kulturarbeit‘ wird eine Palette von literarischen, publizistischen, künstlerischen, pädagogischen und akademischen Tätigkeiten gefasst, wobei die Verlagspolitik im Vordergrund steht. 158 Elena Messner (Wien) Literaturtransfer, um den es in Folge gehen soll, zu kontextualisieren. In einem zweiten Schritt wird auf die spezifische Rolle Österreichs eingegangen und zuletzt die Vermittlungsarbeit Kärntner slowenischer Verlage dargestellt. 1 Vorbemerkungen Der deutschsprachige Buchmarkt ist ein grundsätzlich einheitlicher, auf einer überall gleichermaßen rezipierbaren Sprache - Deutsch - beruhender Markt mit mehreren Zentren und Peripherien. München, Berlin, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt und Zürich können als Zentren festgehalten werden. Mit der Konzentration von ökonomischem Kapital in diesen Verlagszentren geht auch jene von kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital einher. 2 Wien dagegen - obwohl die zweitgrößte Stadt im deutschen Sprachraum - kann als Peripherie bezeichnet werden. Noch mehr muss das für Klagenfurt gelten, eine Kleinstadt im Süden Österreichs, die aber in der folgenden Analyse des Literaturimports aus dem ehemaligen Jugoslawien eine besondere Rolle einnehmen wird. Grundsätzlich weist der österreichische Buchmarkt ökonomisch und symbolisch Schwächen im Vergleich zum deutschen auf. Wenig überraschend dominiert Deutschland traditionellerweise daher auch die literarische Übersetzungsproduktion aus dem Serbokroatischen bzw. Bosnischen, Kroatischen und Serbischen und weist diesbezüglich eine insgesamt viel konstantere Tätigkeit auf als die Schweiz oder Österreich. Das Jahr 1991 nimmt eine besondere Rolle für diesen spezifischen Literaturtransfer ein. Denn mit den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens sowie dem Beginn der Kriege in Kroatien und Bosnien stieg nicht nur die internationale Aufmerksamkeit für diese Region, sondern es folgte auch ein regelrechter Übersetzungsboom ins Deutsche. Nadja Grbić hält für das Jahr 1991 gegenüber dem Jahr davor eine fast dreimal so hohe Produktion an Übersetzungen aus dem Bosnischen/ Kroatischen/ Serbischen fest und setzt diese Entwicklung konsequenterweise mit dem Krieg in Jugoslawien in Bezug. Die erhöhte Übersetzungsproduktion stagnierte allerdings auch nach den Jugoslawienkriegen nicht und erreichte in bestimmten Jahren sogar neue 2 Dazu zählen laut Rudolf Pölzer (2007: 23) international beachtete Feuilletons deutscher und schweizerischer Presselandschaft, internationale Buchmessen wie Frankfurt und Leipzig, anerkannte Preise und individuelles Prestige renommierter Persönlichkeiten der Verlagswelt und Literaturkritik. Zudem hat der deutsche Buchmarkt insgesamt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die österreichische Marktlandschaft, was sich vor allem an dem sehr hohen Anteil der Bucheinfuhren aus Deutschland nach Österreich oder handelsseitig am Filialwesen von Buchhandlungen (Beispiel Thalia) zeigt, die in Österreich und Deutschland operieren. Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer 159 Höhepunkte (Grbić 2010: 233-254). Markant war etwa das Jahr 2008 mit dem Kroatien-Schwerpunkt auf der Leipziger Buchmesse und der Gründung eines ökonomisch starken Fonds, der unter dem Namen Traduki 3 Förderungen für Übersetzungen aus und in die Sprachen Südosteuropas anbietet, sowie das Jahr 2011, als Serbien Schwerpunkt auf der Leipziger Buchmesse war. 2 Spezifikum Österreich Die aktivere Rolle Deutschlands in der Übersetzungsproduktion aus dem Serbokroatischen bzw. Serbischen, Kroatischen, Bosnischen bleibt auch in dieser Phase, also von 1991 bis in die heutige Zeit, grundsätzlich erhalten. Interessanterweise kommt aber Österreich in bestimmten Zeitabschnitten eine große Bedeutung zu, während die Schweizer Verlagsszene durch sehr geringe Aktivität auf diesem Gebiet auffällt. Nadja Grbićs Zahlen zeigen, dass Österreich bereits ab 1992 mit der gesteigerten Übersetzungsproduktion in Deutschland mitzieht und in den Jahren 1992 und 1994 fast den gleichen Umfang erreicht. Insgesamt beträgt Österreichs Übersetzungsproduktion in den 1990ern knapp 30 % der gesamten Übersetzungsproduktion aus dem Serbokroatischen im deutschsprachigen Raum, was einer Verdreifachung im Vergleich zu den 1980ern entspricht (Grbić 2010: 237). Im Hinblick auf die Größenverhältnisse der beiden Länder kann dies als beachtlich gelten. Hinzu kommt, dass die Auswahl der übersetzten Bücher in österreichischen und deutschen Verlagen unterschiedlich ausfällt. Kommerziell erfolgreichere deutsche Großverlage, etwa die Verlagshäuser Suhrkamp, dtv und Rowohlt, publizieren nach 1991 schon erfolgreiche Autor_innen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Alle drei sind wenig risikobereit, sie halten im Verhältnis zur Gesamtproduktion ihre Auswahl an Neuübersetzungen von Literatur aus dieser Region niedrig und produzieren keine jungen und unbekannten Autor_innen. 3 Das Förderprogramm Traduki spezialisiert sich auf folgende Länder: Deutschland, Österreich und die Schweiz als deutschsprachige Partner, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien als Länder des ehemaligen Jugoslawien, sowie Albanien, Bulgarien und Rumänien. Initiiert wurde die Plattform durch das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Kulturkontakt Austria, das Goethe-Institut und die S. Fischer Stiftung - allesamt Institutionen, die bis dahin unabhängig voneinander Übersetzungen gefördert haben und seit der Gründung des Netzwerks aufeinander abgestimmt vorgehen. Dieser Zusammenschluss staatlicher Förderinstitutionen zu einem Netzwerk unterstreicht die zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung, aber auch eine gewisse Monopolisierung des translatorischen Feldes rund um die südosteuropäische Literatur. 160 Elena Messner (Wien) Umgekehrt scheinen Kleinverlage nach dem Kriegsausbruch bei der Platzierung neuer Autor_innen bereit, mehr Risiko einzugehen. Und gerade unter den kleinen Literaturverlagen fällt eine große Präsenz von Verlagen aus Österreich auf, die einen Schwerpunkt auf Übersetzungen aus dem ehemaligen Serbokroatischen legen. Rudolf Pölzer hält dazu fest: Es ist weitgehend das Verdienst österreichischer Verlage, dass einem deutschsprachigen Publikum auf dem Weg der Übersetzung die Literaturen von Ländern, die aus westeuropäischer Perspektive wohl tatsächlich lange Zeit als Peripherie betrachtet wurden, nahe gebracht werden (Pölzer 2007: 125) Dieser Umstand gewinnt besondere Bedeutung, wenn man die prinzipiell schwächere Position des österreichischen Buchmarktes im Vergleich zum deutschen im Auge behält. Die erforderlichen Rahmenbedingungen für dieses Phänomen bilden Faktoren wie die Buchpreisbindung, die österreichische Verlagsförderung und diverse Übersetzungsförderungen. Denn gerade Verlage, die aufgrund mangelnder Wirtschaftskraft vom internationalen Bestsellermarkt ausgeschlossen sind, nutzen Marktlücken, etwa die Beschäftigung mit spezifischen Themen oder bestimmten Sprach- und Kulturräumen. Mit klarer Positionierung in einer Nische kann auch ein kleiner Verlag zur Marke mit hohem Wiedererkennungswert werden und sich ein relativ treues Publikum über kurzlebige Trends hinaus sichern. Für das an Jugoslawien angrenzende Österreich, das in den 1990ern Kriegsflüchtlinge aufnimmt oder als Transitland für diese eine Rolle spielt, ist die Kriegssituation im Nachbarland unmittelbar relevanter als für Deutschland. Und für das Bundesland Kärnten mit seiner Grenze zu Slowenien gilt dies noch einmal mehr. 3 Spezifikum Kärnten und die Kärntner Slowen_innen Was die auffallende Aktivität österreichischer Verlage, Übersetzer_innen und Vermittler_innen betrifft, schließt Pölzer aus seiner Analyse des österreichischen Übersetzungsmarktes, dass das Zustandekommen von literarischen Übersetzungen aus dem Slowenischen (und in Folge aus dem Serbokroatischen) zu wesentlichen Teilen auf dem Wirken von Vermittlungspersönlichkeiten beruht, die oftmals Kenntnisse über die Ausgangskulturen vorweisen und historisch und geographisch mit diesen verbunden sind. Biographische Erfahrung, kollektiv über den Schulunterricht verbreitetes historisches und kulturelles Wissen, geographische Nähe und entsprechende Fremdsprachenkenntnisse von Vermittler_innen sind in diesem Zusammenhang zentral. Noch konkreter formuliert Pölzer: Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer 161 Verlage, die aufgrund ihrer regionalen Herkunft in besonderer Verbindung mit einer bestimmten Ausgangskultur stehen und den Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit im Bereich der entsprechenden Sprache wählen, nehmen maßgeblichen Einfluss auf das Gesamtbild der insgesamt bescheidenen Produktion literarischer Übersetzung in Österreich. (Pölzer 2007: 123) Er nennt in diesem Zusammenhang zwei Verlage, die in der slowenischsprachigen Bevölkerung Kärntens verwurzelt sind: Drava und Wieser. Ihre zentrale Rolle sieht er nicht nur darin, dass sie selbst viele Übersetzungen publizieren, sondern dass in ihrem Umfeld Übersetzer_innen - als prominentestes Beispiel wird der Klagenfurter Slawist Klaus Detlef Olof genannt - und Vermittler_innen heranwuchsen. Eine der Hauptthesen Pölzers in diesem Zusammenhang lautet, dass die slowenische Literatur, die mit den Literaturen der übrigen Staaten Ex-Jugoslawiens geographisch, kulturell und historisch in enger Verbindung steht, in Verlagsprogrammen zumeist neben anderen ost- und südosteuropäischen Sprachen erscheint und auf diese Weise vorab notwendige Rezeptionsbedingungen für die „Nachzügler“ schafft (Pölzer 2007: 111). Es ist also die in österreichischen, zumeist Kärntner slowenischen Verlagen publizierte slowenische Literatur, die in den 1980ern und 1990ern unter den im deutschsprachigen Raum übersetzten Literaturen „Fuß fassen“ konnte, wie es Erwin Köstler (2014: 251) formuliert, die die Türen für die serbokroatische und später für die südosteuropäischen Literaturen öffnete. Aber es sind eben nicht nur die Kärntner slowenischen, sondern auch andere österreichische Verlage, bei denen die slowenische Literatur oftmals eine von Pölzer als „Brückenkopf“ bezeichnete vermittelnde Funktion für die bosnische, kroatische oder serbische Literatur übernimmt. Gründe für den Erfolg der slowenischen und in Folge der gesamten ex-jugoslawischen Literatur in dieser Zeit sieht Köstler in den sich abzeichnenden geopolitischen Veränderungen in Europa, im wachsenden Einfluss regionaler und postkolonialer Diskurse, die den Blickwinkel des Literaturbetriebs öffnen, und in der notwendigen Revision der eigenen hegemonialen Vergangenheit (besonders bezogen auf Österreich und sein imperiales Erbe). Er lässt auch die Jugoslawienkriege, die Grbić in den Blick nimmt, als Faktor nicht unerwähnt. Das große Interesse an Übersetzungen aus den Literaturen der unmittelbaren Nachbarländer bestätigt für ihn das Innovationspotenzial, das von den Peripherien ausgeht (Köstler 2014: 252-253). Jedenfalls haben die geographische Lage und die spezifische (kultur-)politische und sprachliche Situation, die in Kärnten durch die Zweisprachigkeit der slowenischen Minderheit entstanden ist, einen sichtbaren Einfluss auf diesen überregionalen bzw. internationalen Literaturtransfer. 162 Elena Messner (Wien) 4 Die Rolle der Kärntner slowenischen Verlage Nun möchte ich einen Blick auf die beiden Kärntner slowenischen Verlage werfen, deren Aktivität beim Literaturimport aus dem ehemaligen Jugoslawien besonders auffällt. Der Drava Verlag geht 1952 aus der Initiative der slowenischsprachigen Bevölkerung Kärntens hervor, er wird als Druckerei gegründet, um slowenischsprachige Zeitungen drucken zu können, und beginnt ab 1981 eine reguläre Verlagstätigkeit im belletristischen und Sachbuchbereich. Er bleibt bis 2016 im Besitz des Slowenischen Kulturverbandes und des Zentralverbandes slowenischer Organisationen. Danach wird er von der Wieser Verlag GmbH übernommen, jedoch weiterhin als eigenständige Marke mit seinem Programmprofil geführt. Slowenische Titel stehen traditionell im Vordergrund des Drava Verlags, Themen wie Migration und Minderheiten (insbes. auch die österreichischen und europäischen Roma) sowie politische Sachbücher bilden das Verlagsprogramm. Grundsätzlich kann Literatur aus dem ehemaligen Jugoslawien, abgesehen von jener aus dem Slowenischen, nicht als eigentliche Kernkompetenz des Verlags gelten, was vor allem im Vergleich mit dem Wieser Verlag deutlich wird, doch wird seit 2000 vermehrt nicht nur Literatur aus Slowenien, sondern auch aus anderen Ländern Südosteuropas publiziert, insbesondere aus Bosnien. Im Verlagsprogramm finden sich z. B. Bücher von Mile Stojić, Alma Lazarevska, Dragoslav Dedović, Hajrija Hrustanović oder Stevan Tontić. In Anthologien wurden zudem noch weitere Autor_innen aus Bosnien vorgestellt. Besonders hervorzuheben ist die von Dragoslav Dedović 1999 unter dem Titel Das Kind. Die Frau. Der Soldat. Die Stadt herausgegebene Anthologie bosnischer Kriegsprosa, in der 22 Autor_innen aus Bosnien 4 zu einem überwiegenden Teil erstmals ins Deutsche übersetzt werden. Hier reiht sich auch der 2012 erschienene Band Sarajevo Bibliothek ein, in dem ebenfalls zahlreiche bosnische Autor_innen publiziert werden. 5 Als ein kleinerer Schwerpunkt des Verlags ließe sich die Übersetzung serbischer Lyrik ausmachen. Dragoslav Dedović gab anlässlich des Schwerpunktlandes Serbien auf der Leipziger Buchmesse 2011 eine zweisprachige Lyrikanthologie unter dem Titel Ulaznica/ Eintrittskarte heraus. Es folgten einige Bände in 4 Darin vertreten sind: Dubravka Brigić, Marko Cejović, Dario Džamonja, Aleksandar Hemon, Jasmin Imamović, Miljenko Jergović, Asmir Kujović, Alma Lazarevska, Adin Ljuča, Semezdin Mehmedinović, Aleksandar Obradović, Majo Otan, Damir Ovčina, Mario Parić, Vladimir Pištalo, Goran Samardžić, Dragan Šimović, Zlatko Topčić, Damir Uzunović, Nenad Veličković, Karim Zaimović, Jasmila Žbanić, Vule Žurić. 5 Darin vertreten sind: Adisa Bašić, Ahmed Burić, Vedrana Ðekić, Ferida Duraković, Fadila Nura Haver, Lejla Kalamujić, Sanjin Musa, Saida Mustajbegović, Faruk Šehić, Milan Stančić, Mile Stojić, Stevan Tontić, Nenad Veličković. Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer 163 der zweisprachigen Reihe zu serbischer Lyrik. Diese wurde im Herbst 2011 mit Snežana Minić gestartet, 2013 folgte ein Band von Zvonko Karanović und 2015 ein Band von Stevan Tontić. Die Reihe wurde danach vorläufig eingestellt. Ähnlich erschienen in der in Kooperation mit Traduki initiierten Reihe zur kroatischen Gegenwartsliteratur nur zwei Titel, bevor der Verlag mit Wieser fusionierte. Im Verlagsprogramm finden sich andererseits noch vereinzelte Titel aus dem Serbischen oder Kroatischen, darunter Bücher von Murat Baltić (2016), Boris Dežulović (2016) oder Srđan Tešin (2016). Daneben nimmt Drava auch an der Vermittlung von Wissen über Literatur und Kultur aus dem ehemaligen Jugoslawien aktiv teil, etwa mit der Publikation von Dissertationen in der Reihe „Drava Diskurs“. Die meisten erwähnten Übersetzungen und insbesondere die Buchreihen wurden von Förderinstitutionen unterstützt. Der erwähnte bosnische Sammelband wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegeben, die serbische Lyrikreihe wurde vom Kulturministerium Serbiens und dem Netzwerk Traduki finanziell unterstützt, der Band Sarajevo Bibliothek in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Bosnien und Herzegowina herausgegeben, zahlreiche Übersetzungen wurden von Traduki kofinanziert. Es wird deutlich, dass kleine Verlage wie Drava, die über viel kulturelles, aber kaum ökonomisches Kapital verfügen, innovativ agieren und hochqualitative Literatur importieren können, allerdings nur, wenn sie dabei finanziell unterstützt werden. Dies gilt auch für den Wieser Verlag, der im Unterschied zu anderen österreichischen Verlagen zu einem überwiegenden Teil auf Literatur aus Südosteuropa spezialisiert ist. Anders als bei Drava und auch Hermagoras/ Mohorjeva 6 - dem dritten und ältesten Kärntner slowenischen Verlag - publiziert Wieser nicht vorrangig slowenische Literatur. 7 Lojze Wieser, selbst einstiger Mitarbeiter bei Drava, gründete den Verlag 1987 in Abgrenzung zu den anderen beiden und weitete sein Verlagsprogramm seit 1990 von slowenischer auf bosnische, kroatische und serbische Literatur aus. Der Verlag hat insofern eine Sonderstellung inne, als er als österreichischer Kleinverlag im Zeitraum von 1991 bis 2001 die meisten Übersetzungen aus dem ehemaligen Jugoslawien (bzw. aus dem Serbischen/ Kroatischen/ Bosnischen) im deutschsprachigen Raum überhaupt aufweist. Dabei verlegt er bis auf wenige Klassiker in den 1990ern auffällig viele Erstausgaben - Nadja Grbić (2010: 241) 6 Der Verlag publiziert vorwiegend slowenische Literatur und verfolgt ein eher konventionelles, katholisch-konservatives Programm, vermittelt aber auch deutschsprachige Literatur in den slowenischen Sprachraum. Weitere Informationen dazu: http: / / centerslo.si/ wp-content/ uploads/ 2015/ 10/ 33-KostlerLeben.pdf (Stand: 15/ 07/ 2018). 7 Pölzer (2007: 103) hält für den von ihm untersuchten Zeitraum fest, dass bei Wieser slowenische Übersetzungen 19,6 %, bei Drava 65,5 % und bei Hermagoras 70 % ausmachen. 164 Elena Messner (Wien) listet in ihrer Tabelle 20 Titel -, wodurch viele neue Autor_innen und Texte aus der Region auf den Markt kommen. Auch im Zeitraum von 2002 bis 2008 bleibt Wieser mit insgesamt 13 Titeln (Grbić 2010: 260) jener Verlag, der die meisten Übersetzungen aus Bosnien, Kroatien und Serbien sowie die meisten Erstausgaben auf den Markt bringt. Nicht nur für Österreich, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum stellt der Wieser Verlag damit den aktivsten Vermittler bosnischer, kroatischer und serbischer Literatur dar. Mit der Herausgabe der Reihe Europa erlesen , die für den Verlag auch das finanziell erfolgreichste Projekt ist, legt er außerdem eine große Zahl an Anthologien vor, die verschiedene Texte aus und zu diesem Kulturraum zusammenfassen. Hervorzuheben ist ferner die Reihe „Kroatische Literatur“, in der 19 Bücher von kanonisierten kroatischen Klassikern erschienen sind, insgesamt interessanterweise mehr als etwa in der Reihe „Slowenische Bibliothek“, die der Verlag gemeinsam mit Drava und Hermagoras herausgibt. Auch in der Reihe Wieser Wissenschaft liegt der Fokus auf dem ex-jugoslawischen bzw. südosteuropäischen Raum. Relevant ist der Wieser Verlag nicht zuletzt als Entdecker neuer Literatur, denn zu den Autor_innen, deren erste Buchübersetzungen bei Wieser erschienen sind, zählen etwa Dževad Karahasan, David Albahari, Dragan Velikić und Miljenko Jergović, die er aber allesamt nicht halten kann und welche später zu größeren (deutschen) Verlagen abwandern. Dies ist keineswegs ein für diesen Verlag spezifisches Problem, denn neben der Aussicht auf prestigeträchtige Neuentdeckungen und aufsehenerregende Debuts - nicht nur bei Übersetzungen, sondern auch bei deutschsprachiger Literatur - besteht für kleine, innovative Verlage immer die Gefahr, ihre zu einer größeren Popularität gelangten Autor_innen an ökonomisch stärkere Verlage zu verlieren (Pölzer 2007: 31). Partnerschaften mit öffentlichen Einrichtungen, Gemeinden, privates Sponsoring, staatliche Verlagsförderung - nur über solche Wege kann eine verlegerische Vielfalt und Qualität von stark spezialisierten Nischenverlagen aufrechterhalten werden. Basisfinanzierte Reihen und Editionen begleiten das Programm des Wieser Verlags von Beginn an. Finanzielle Unterstützung kam von verschiedenen österreichischen Ministerien, der Bank Austria und Kulturkontakt Austria. So liefert etwa die Edition zwei ein gutes Beispiel dafür, wie das symbolische Kapital des Verlags mit dem ökonomischen Kapital einer Bank interagiert. In dieser Reihe wurden etwa Srđan Valjarević, Marija Knežević oder Asmir Kujović verlegt. Mehr als zehn Bücher erschienen in der Reihe „Kroatische Literatur“, die wiederum zu einem großen Teil durch staatliche Gelder aus Kroatien rund um den Leipziger Kroatien-Schwerpunkt 2008 finanziert wurde und in der nicht nur neue Gegenwartsliteratur, sondern auch Klassiker wie Miroslav Krleža publiziert wurden. Die Mehrkosten, die eine Übersetzung verursacht, müssen durch Förderungen gedeckt werden, zumal es sich hier um eine Die Zweisprachigkeit Kärntens als Motor für den Literaturtransfer 165 Literatur handelt, die in den meisten Fällen - mit einigen prominenten Ausnahmen - kaum große Verkaufserfolge verspricht. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass der Wieser Verlag nach einer Insolvenz 2012 8 saniert und durch eine Auffanggesellschaft weitergeführt werden musste. 2016 kam es zur bereits erwähnten Fusion mit dem Drava Verlag. 5 Der Motor Zweisprachigkeit Es zeigt sich bereits nach diesem Überblick, dass die Kärntner slowenischen Kleinverlage Drava und Wieser nicht nur eine enorme Leistung für den Literaturtransfer aus dem Slowenischen vollbracht haben. Darüber hinaus ist beiden ursprünglich regional und kulturpolitisch engagierten Verlagen, deren primäres Ziel (dies gilt für Drava mehr als für Wieser) nicht ökonomischer Erfolg, sondern die Vermittlung und Erhaltung der slowenischen Sprache und Bewusstseinsarbeit für Minderheitenrechte gewesen war, eine über den slowenisch-österreichischen Kontext hinausgehende Ausweitung gelungen. Die beiden Verlage haben in den letzten beiden Jahrzehnten den Literaturimport aus dem Serbokroatischen (bzw. Bosnischen/ Kroatischen/ Serbischen) ins Deutsche immer wieder entscheidend mitbestimmt. Dazu waren engagierte Verlagsleiter und -mitarbeiter_innen und Übersetzer_innen vonnöten. Die Bedeutung individueller verlegerischer Initiativen ist für das Zustandekommen von Übersetzungen aus zielkulturell wenig geläufigen Sprachen nicht zu vernachlässigen, zudem haben sie auch eine existenzstiftende Funktion für Übersetzer_innen, die andererseits wiederum wichtige Vermittler_innen von Literatur werden können. Es brauchte für diesen erfolgreichen aktiven Literaturtransfer aber auch entsprechende gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische und politische Rahmenbedingungen. Dazu zählen die bereits erwähnten staatlichen oder privaten Förderinstitutionen sowie die österreichische und die slowenische Verlagsförderung. Da vor allem Kleinverlage auf die Lukrierung von ökonomischem Kapital durch Förderungen angewiesen sind, um die Voraussetzung für ein wirtschaftliches Überleben zu garantieren, kann das Spannungsverhältnis zwischen Idealismus und Wirtschaftlichkeit, zwischen 8 In Darstellungen rund um das vorläufige Ende des Verlags gibt der Verleger die nicht zustande gekommenen oder gekürzten Fördergelder sowie die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftskrise auf Kleinunternehmen als Gründe für die Insolvenz an. So heißt es etwa in einem Bericht in der Kleinen Zeitung: „Die Gründe für die Insolvenz sieht Wieser unter anderem im ‚Nischenprogramm‘, das nicht kostendeckend produziert werden konnte. ‚Und die Subventionen sind immer weniger und zum Teil überhaupt gestrichen worden, und zwar v. a. in jenen Ländern, deren Literatur wir herausgebracht haben wie zum Beispiel Slowenien, Kroatien, Bulgarien & Co.‘“ (Fischer 2012). 166 Elena Messner (Wien) symbolischem und ökonomischem Kapital als zentral für diese Kulturarbeit unterstrichen werden (Pölzer 2007: 20). Ein relevanter Faktor für diesen spezifischen Literaturimport ist im konkreten Fall die aktive Minderheitenbzw. Identitätspolitik der Kärntner Slowen_innen, die zur Folge hatte, dass eine nicht primär ökonomisch, sondern vielmehr kulturell und politisch ausgerichtete Verlagstätigkeit vorhanden war und zudem die nötigen Kultur- und Sprachkenntnisse für die Übersetzungstätigkeit sowie ein grundsätzliches Interesse an ex-jugoslawischer Literatur bereitgestellt waren. Es kann also festgehalten werden, dass die herausstechende Kärntner slowenische Kultur- und Vermittlungsarbeit seit Jahrzehnten nicht nur den verstärkten Import slowenischer, sondern in weiterer Folge auch kroatischer, bosnischer, serbischer und mazedonischer sowie weiterer südosteuropäischer Literatur in den deutschsprachigen Raum stark beeinflusst hat. Zweisprachigkeit und eine engagierte regionale zweisprachige Kulturpolitik stellen offensichtlich einen besonders leistungsfähigen Motor für den Literaturtransfer dar. Literaturverzeichnis Fischer, Marianne (2012). Verleger Lojze Wieser musste Insolvenz anmelden . Kleine Zeitung, 13.03.2012. Grbić, Nadja (2010). Krieg als Kapital? Übersetzungen aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen ins Deutsche. In: Bachleitner, Norbert/ Wolf, Michaela (Hrsg.). Streifzüge im translatorischen Feld: Zur Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. Wien: Lit-Verlag, 221-226. Köstler, Erwin (2014). Zur Intensivierung der Vermittlung slowenischer Literatur in den deutschsprachigen Raum. In: Leben, Andreas/ Orožen, Martina/ Prunč, Erich (Hrsg.). Beiträge zur interdisziplinären Slowenistik / Prispevki k meddisciplinarni slovenistiki: Festschrift für Ludwig Karničar zum 65. Geburtstag. Graz: Leykam, 251-257. Pölzer, Rudolf (2007).-Kein Land des Übersetzens? -Studie zum österreichischen Übersetzungsmarkt 2000-2004. Wien: -Lit-Verlag. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in den literarischen Werken von Josip Osti und Goran Vojnović Alenka Koron (Ljubljana) Abstract: This contribution highlights the context of multilingualism and multiculturalism in the literary works of two contemporary writers, Josip Osti and Goran Vojnović, taking into account that in modern Slovene cultural space also other languages and cultures coexist in dialogue, including those of the peoples of the former Yugoslavia. While Osti, a renowned Bosnian poet, translator and publicist, after settling in Slovenia, switched to the Slovene language in his poetry and prose and later translated his works into Serbo-Croatian, Vojnović created in his first novel a hybrid discourse called ‘Čefurščina’, constantly switching between the two languages. In his other two novels he graphically marked passages in Serbo-Croatian with quotation marks or italics, tacitly implying that multiculturalism remains the only alternative to ethnonationalism and chauvinism, which destroy not only the states but also the most intimate human relationships. Keywords: contemporary Slovene literature, literature of migrants, minor literature, code-switching, thematics of the ‘erased’ Um die aktuellen außerliterarischen, politischen, vor allem kulturhistorischen Hintergründe des mehrsprachigen und multikulturellen literarischen Schaffens der beiden in Slowenien lebenden zeitgenössischen Autoren Josip Osti und Goran Vojnović besser zu verstehen, wollen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen: auf die Geschehnisse der 1990er Jahre und auf die Zeit unmittelbar davor. Leben und Werk der beiden wurden nämlich entscheidend vom Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre - dem Schlüsselerlebnis der damaligen Gesellschaft und im Leben vieler Menschen in Slowenien - geprägt. Viele Einwohner Sloweniens identifizierten sich nach dem Zehn-Tage-Krieg um die Selbstständigwerdung ohne Weiteres mit der Meistererzählung eines Natio- 168 Alenka Koron (Ljubljana) nalstaates. Die Euphorie bei dessen Gründung 1991, basierend auf dem Ergebnis einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Sloweniens (Čepič 2005), 1 wurde aber plötzlich von der Tatsache überschattet, dass der slowenischsprachige Raum seit jeher mehrsprachig war. 2 Das erst im 19. Jahrhundert standardisierte Slowenische wurde nun schlagartig zu etwas, das es noch nie gewesen war: zu einer homogenisierenden Staatssprache. Doch seinen Kulturraum bewohnten immer noch zahlreiche Menschen, die sich unter den Verhältnissen des globalen spätkapitalistischen Systems und im neu gegründeten Staat, der mehr oder weniger auf ethnischer Grundlage fußte, nicht gut zurechtfanden oder kritisch anders dachten. Darunter gab es viele, die während des Wirtschaftswachstums in Zeiten sozialistischer Selbstverwaltung aus anderen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien nach Slowenien gezogen waren und nun unter den neuen Lebens- und Arbeitsbedingungen die bis dato selbstverständlichen Freiheiten und Sicherheiten verloren. Durch die nationale Homogenisierung wurden sie oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ihre sozialen Bindungen waren prekär geworden, ihre Position war in wirtschaftlicher und symbolischer Hinsicht bedroht, sie wurden zu Zuwanderern, sogenannten ‚Ausgelöschten‘ ( izbrisani ), 3 Flüchtlingen, Angehörigen von Minderheiten, Arbeitslosen usw. Die schicksalhaften Veränderungen Anfang der 1990er Jahre waren Teil des längeren Zerfallsprozesses Jugoslawiens, der schließlich zwischen 1991 und 1995 in Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina bis zu den gewaltvollsten kriegerischen Konflikten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg eskalierte. Sie kündigten sich bereits in den 1980er Jahren an, als sich die wirtschaftliche und politische Krise durch die Konflikte zwischen der konservativen Parteipolitik, die für Industrialisierung und Planwirtschaft eintrat, und einer liberaleren Richtung, die in Slowenien dominierte und der Marktwirtschaft im gemeinsamen sozialistischen Staat den Weg bahnte, verschärfte. Hinzu kamen eine hohe Inflation, Auslandsverschuldung, innerstaatliche Spannungen zwischen den jugoslawischen Zentralisten und den kritischen Stimmen der Opposition sowie andere Anzeichen der Destabilisierung des multinationalen Staates. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass - anders als in der restlichen Welt, die, wie die Anglistin Meta Grosman (2004: 17) schreibt, von der Globalisierung 1 An dieser Volksabstimmung im Dezember 1991 beteiligten sich 93,4 % der Wahlberechtigten; für ein unabhängiges Slowenien stimmten 88,5 %. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Marko Juvan in diesem Band. 3 Die Bezeichnung leitet sich vom Umstand ab, dass viele Bürger Ex-Jugoslawiens aus anderen Teilrepubliken 1992 aus dem neuen slowenischen Personenregister „gelöscht“ wurden, weshalb sie ihre staatsbürgerlichen Rechte sowie Arbeits-, Kranken- und Sozialversicherungsansprüche verloren. Zur ‚Auslöschung‘ und den ‚Ausgelöschten‘ siehe Jalušič/ Zorn (2003). Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 169 und dem sie begleitenden verstärkten Interesse für interkulturelle Kontakte charakterisiert war, - für das slowenische literarische Leben der 1980er Jahre ein sowohl kultureller als auch politischer Nationalismus typisch war. Der kulturpolitische Kampf zwischen Zentralisten und Autonomisten entzündete sich unter anderem an den Forderungen nach einer Vereinheitlichung der Wissenschafts-, Kultur- und Schulpolitik im Staat, die bis dahin von jeder föderalen Einheit autonom gestaltet wurde, insbesondere an den Vorschlägen Serbiens für gemeinsame humanistische Ausbildungsinhalte (vgl. Štih/ Simoniti/ Vodopivec 2016: 727-728), wobei slowenische Schriftsteller sehr aktiv in diese Debatte eingriffen. Am stärksten äußerte sich der slowenische Kulturnationalismus in der sogenannten ‚elitären Kultur‘ (in der Populärkultur war die Situation etwas anders, lockerer und freier), und zwar gerade im Verhältnis zu den Kulturen und Sprachen der anderen jugoslawischen Völker, weniger im Verhältnis zu den westlichen und mitteleuropäischen Einflüssen. Obwohl etwa 10 % der Bevölkerung Sloweniens eine andere, nichtslowenische ethnische Herkunft hatten und trotz des jahrzehntelangen Zusammenlebens in einem Vielvölkerstaat war das Eindringen von Hybridität, fremden Sprachformen und Einflüssen aus den jugoslawischen Kulturen damals im Wesentlichen unerwünscht. Die 1990er Jahre in Slowenien waren in allen Bereichen voller Widersprüche und aufgrund der Transition Jahre der Ungewissheit; in den meisten anderen ehemaligen Republiken Jugoslawiens war die Lage wegen des Krieges in Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien noch schlechter. Zahlreiche slowenische Kulturschaffende antworteten mit ihrem humanitären Engagement und literarischen Schaffen sehr couragiert auf die damaligen Zustände. Davon zeugt unter anderem die 1999 vom bosnischen ‚Zuwanderer‘ Josip Osti in Slowenien herausgegebene Anthologie Muze niso molčale (Die Musen schwiegen nicht), in der Gedichte slowenischer Lyrikerinnen und Lyriker über den Krieg in Slowenien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina veröffentlicht wurden. Auf das Streben nach „Monolingualität“ (Yildiz 2012) und die neuen kulturellen und literarischen Verhältnisse im Transitionsjahrzehnt, die im Grunde den allgemeinen Globalisierungstendenzen widersprachen, reagierten nach der Jahrtausendwende schließlich die Literatur und die Wissenschaft. Im wissenschaftlichen Bereich war es die Migrationsforschung, die sich als erste der Literatur und Kultur der ‚Zuwanderer‘ - also der ethnisch nichtslowenischen Bevölkerung, die auf dem Staatsgebiet des heutigen Sloweniens lebt und wirkt - zuwandte (vgl. Mugerli Lavrenčič 2005a und 2005b, Žitnik Serafin 2008). Die Problematik der Multikulturalität lag damals irgendwie ‚in der Luft‘, da sich ihrer auch die Slowenistik annahm (vgl. Stabej 2005, Borovnik 2017). Mit der mehrsprachigen Anthologie Iz jezika v jezik (Von einer Sprache in die andere, 2014), in der Texte von zugewanderten und minoritären Autorinnen und Auto- 170 Alenka Koron (Ljubljana) ren im Original sowie in slowenischer Übersetzung präsentiert werden, erfolgte ein weiterer wichtiger Schritt für die Sichtbarmachung und Bewerbung dieser Literatur. 4 * Soviel zum außerliterarischen Hintergrund des mehrsprachigen literarischen Schaffens von Josip Osti und Goran Vojnović. Osti, 1945 in Sarajevo geboren, wo er bis zur Übersiedelung nach Slowenien vorwiegend lebte, ist erheblich älter als Vojnović und ein Zuwanderer der ersten Generation. Als interessantes Detail sei erwähnt, dass sein Großvater ein Slowene war, der für den Bau der Südbahn in der ehemaligen Habsburgermonarchie nach Bosnien zog, eine Polin heiratete und dortblieb. Osti ist ein außergewöhnlich produktiver und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Autor, der bereits häufig in andere Sprachen übersetzt wurde: Außer in slowenischer (aus dem Kroatischen oder Serbokroatischen) und kroatischer Übersetzung (aus dem Slowenischen) erschienen seine Werke auf Italienisch, Tschechisch, Englisch, Polnisch, Türkisch, Bulgarisch, Spanisch und Mazedonisch. Er ist Dichter, Schriftsteller, Essayist, Literaturkritiker, Publizist, sowie interkultureller Literaturvermittler, Herausgeber und Übersetzer. Zu Buche stehen mehr als dreißig Gedichtbände (die letzten zweiundzwanzig davon auf Slowenisch), vier Prosabände, siebenundzwanzig Bände mit Essays und literaturkritischen oder publizistischen Texten, vierzehn Anthologien mit bosnisch-herzegowinischer bzw. slowenischer Lyrik und Prosa sowie mehr als hundert Gedichtbände und Prosawerke sowie siebzehn Dramen, die er in seine Erstsprache übersetzte. Als sich Osti 1990 in Slowenien niederließ, dichtete er - und das ist aus der Perspektive literarischer Mehrsprachigkeit besonders interessant - zunächst weiterhin in seiner Erstsprache, die er später, als er sich stärker dem Slowenischen zuwandte, die Sprache seiner Erinnerungen nennen sollte. So veröffentlichte er u. a. Barbara i barbar (Barbara und der Barbar, 1990), Plamen, žar, pepeo i obratno (Flamme, Feuer, Asche und vice versa, 1991), Sarajevska knjiga mrtvih (Sarajever Totenbuch, 1993) und zwei Gedichtbände für Kinder; die Übersetzungen ins Slowenische besorgten mit ihm befreundete slowenische Lyriker. Salomonov pečat (Das Siegel des Salomon, 1995), Ostis letzter auf Serbokroatisch verfasster Gedichtband - für die Übersetzung ins Slowenische zeichnete Jure Potokar verantwortlich - ist ein Beispiel für eine zweisprachige Buchedition. Das letzte Gedicht trägt den Titel Jesam li ostao bez jezika (Bin ich denn sprachlos geblieben) und hat zweifellos anthologischen Wert. 4 Details zur Anthologie sind dem Beitrag von Lidija Dimkovska zu entnehmen. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 171 Josip Osti Jesam li ostao bez jezika Sem ostal brez jezika Jesam li ostao bez jezika, bez onoga što mi je Sem ostal brez jezika, brez tistega, jedino ostalo? Sve jeste i nije u imenu, kar mi je edino ostalo? Vse je in ni kažem bezimenim jezikom, kojim imenujem sebe v imenu, pravim v brezimnem jeziku, s katerim i sve oko sebe. Palaca li moj jezik, oštricom imenujem sebe in vse okoli sebe. Ali moj noža rasječen, poput zmijskog? Ne šapuću li jezik, razcepljen z ostrino noža, šviga nježne riječi i u mrtvouzlicu spletene zmije? kakor kačji? Ali ne šepetajo nežne besede I djeca njihova, plodovi otrovne ljubavi, tudi v mrtvi vozel spletene kače? In njihovi otroci, koja svoja lijepa gola tijela povazdan izlažu plodovi strupene ljubezni, ki svoja lepa suncu? Učiti iznova govoriti ili zauvijek gola telesa ves dan izpostavljajo soncu? Se učiti znova zašutjeti i, bezimenu te, dušo, samo dugo, govoriti ali za vselej utihniti in te, brezimno, dugo gledati i milovati. duša, samo dolgo, dolgo gledati in božati. Slowenische Nachdichtung Jure Potokar Bin ich denn ohne Zunge Bin ich denn ohne Zunge, ohne das, was mir einzig geblieben? Alles Sein und Nicht-Sein ist im Namen, sage ich in namenloser Sprache, mit der ich mich und alles um mich herum benenne. Zischt nun meine Zunge, von scharfer Messerspitze geschlitzt, wie die einer Schlange? Flüstern nicht auch zu toten Knoten geflochtene Schlangen zärtliche Worte? Und ihre Kinder, die Früchte giftiger Liebe, die ihre nackten schönen Körper den ganzen Tag der Sonne aussetzen? Neu sprechen lernen oder für immer verstummen, und dich, Namenlose, Seele, lange, lange betrachten und liebkosen. [Deutsche Nachdichtung K.A.] 172 Alenka Koron (Ljubljana) Das Gedicht ist prophetisch, auch wenn Osti, wie er selbst meinte, sich dessen bei seiner Entstehung nicht bewusst gewesen sei (Dimkovska 2014a: 3), denn mit den Bildern der von einer Messerspitze geschlitzten Zunge einer Schlange und ihren schönen Kindern spricht er symbolhaft über seine persönlichen Erfahrungen und Dilemmata mit der Zweisprachigkeit. Seine darauffolgende Gedichtsammlung Kraški narcis (Der Narziss aus dem Karst, 1999) verfasste er, wie alle folgenden, zuerst auf Slowenisch. Für Ostis Dichtung nach 1995 ist also ein eigentümlicher Sprach wechsel ( code-switching ) charakteristisch, nicht aber Sprach mischung . 5 Als er „in der Erde der Sprache Wurzeln geschlagen“ hatte, wie er es selbst im Narcis nannte (Osti 1999: 33), hielt er sich an die slowenische Standardschriftsprache; häufig übersetzte er daraufhin seine neuentstandenen Werke selbst ins Standardkroatische. Versteht man Multikulturalität als „aktives Miteinander, ein gegenseitiges Wandeln und Bereichern verschiedener Kulturen“ (Žitnik Serafin 2008: 107), kann postuliert werden, dass gerade diese Gedichtsammlung ausgesprochen multikulturell ist. Der Dichter spricht darin, beispielsweise im Gedicht Znova je zapihal močan vihar vojne (Wieder weht der strenge Wind des Krieges), außer der Liebesthematik das Schicksal Sarajevos im Krieg an und streift auch seine eigene Situation als Zugewanderter in Slowenien: Znova je zapihal močan vihar vojne Wieder weht der strenge Wind des Krieges Znova je zapihal močan vihar vojne. Wieder weht der strenge Wind des Krieges. Opustošil je polja in naselja. Iztrgal Felder und Dörfer sind verwüstet. Auch die s koreninami tudi stoletna drevesa. Wurzeln jahrhundertealter Bäume ausgerissen. V zraku hiše, molilnice, mostovi … - In der Luft Häuser, Betsäle, Brücken … - z belimi loki med zemljo in nebesi. mit weißen Bögen zwischen Himmel und Erde. Napetimi kot telesi nagih ljubimcev. Gespannt wie die Körper nackter Liebender. Nad pustimi travniki in porušenimi mesti Über den öden Wiesen und zerstörten Städten letijo ljudje, ki so preživeli. Starci, fliegen Menschen, die überlebt haben. Alte, žene, otroci … S culami spominov. Frauen, Kinder … Mit Bündeln der Erinnerung. 5 Zum Unterschied zwischen Sprachwechsel und Sprachmischung siehe Dembeck (2017: 125-126). Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 173 Vsem so zrasla nevidna krila. Lete, Allen sind unsichtbare Flügel gewachsen. Sie fliegen, kakor snežijo puhaste snežinke regratovih wie die bauschigen Schneeflocken einer Pusteblume. lučk. Letijo brez smeri in cilja. Trdno, Fliegen ohne Richtung und Ziel. Krampfhaft krčevito se za roke držijo vsi tisti, halten sich all jene an den Händen fest, die ki jih ni ločil val vojne nesreče. die Welle aus Krieg und Unglück nicht getrennt hat. Tisti, ki ne bodo več lebdeli v jantarju Jene, die nicht mehr im Bernstein der Winterluft zimskega zraka, bodo padli na plodna schweben, werden auf fruchtbaren oder unfruchtbaren ali neplodna tla. Poiskali bodo zavetje. Boden fallen. Sie werden Unterschlupf suchen. Z ostanki krhkega, nikdar odraslega Mit den Resten brüchiger, nimmer erwachsener upa, bodo skušali sezidati nov dom. Hoffnung, werden sie versuchen ein neues Heim zu bauen. Topel kotiček, v katerem bodo, objeti Einen warmen Winkel, in dem sie, einander umarmend v hudem kot nikdar prej v dobrem, im Schlechten wie nie zuvor im Guten, na neugaslem ognju srca, eni drugim am ungelöschten Feuer des Herzens, einander topili zledenele solze. Dokler znova die gefrorenen Tränen auftauen werden. Bis der ne zapiha močan vihar vojne. strenge Wind des Krieges wieder weht. [Deutsche Nachdichtung K.A.] Der Sprachwechsel betrifft auch Ostis Prosa. 1998 erschien sein ursprünglich auf Kroatisch verfasster Prosaband Izginula ledena čarovnija (Der entschwundene Eiszauber) in der slowenischen Übersetzung von Lela- B.- Njatin. Die nächste Prosasammlung, Učitelj ljubezni (Der Lehrer der Liebe, 2004), verfasste er bereits auf Slowenisch. Beide thematisieren die Kindheit und Jugend des Autors in Sarajevo und zeichnen ein bruchstückhaftes Familienalbum aus Erinnerungen. Um den Kontext des Prosaschaffens von Goran Vojnović zu erläutern, der 1980, einen guten Monat nach dem Tod Titos, als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters in Ljubljana geboren wurde, muss an dieser Stelle wieder ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden, und zwar auf die 1970er Jahre, die in Slowenien allgemein mit relativem Wohlstand und Wirtschafts- 174 Alenka Koron (Ljubljana) wachstum verbunden waren. Dies äußerte sich unter anderem in der Errichtung großer sozialer (nicht privater) Wohnsiedlungen, in die neben Slowenen auch viele ‚južnjaki‘ (‚Südländer‘) (Mežnarić 1986) zogen, also Zuwanderer aus den weniger entwickelten jugoslawischen Teilrepubliken, die in Slowenien Beschäftigung und bessere Lebensbedingungen vorfanden. In der Zeit der Transition nach dem Zerfall Jugoslawiens veränderte sich ihre Situation grundlegend. Manche große Siedlung verwandelte sich, die junge multikulturelle Nachbarschaft wurde zum sozialen Hotspot, so z. B. die am Stadtrand von Ljubljana gelegene Siedlung Fužine. Der Chronotopos Fužine, wie Marko Juvan (2017: 204) diese Thematik nannte, erhielt 2001 seine erste mehrsprachige literarische Manifestation in Andrej E. Skubicʼ Roman Fužinski bluz (Fužine-Blues). Im Bemühen um eine originelle, authentische Repräsentation der Sprecher aus sozial unterschiedlichen Milieus ist die Schriftsprache in diesem Roman in verschiedene Soziolekte zergliedert, die die vier Hauptfiguren des Romans sprechen. Eingestreut wurden zudem serbokroatisch-slowenische (eigentlich montenegrinisch-slowenische) bzw. slowenisch-serbokroatische Hybride. Vojnović, selbst in Fužine aufgewachsen, schrieb zunächst Gedichte auf Kroatisch und veröffentlichte sie 2000 in der Zeitschrift Paralele . Bekannt wurde er als Filmregisseur, Schriftsteller und Publizist, am erfolgreichsten ist er aber als Erzähler. Urteilt man nach den Auszeichnungen, die er bislang für jeden seiner Romane erhalten hat - Čefurji raus! (2008), 6 Jugoslavija, moja dežela (2012) (dt. Übersetzung K. D. Olof Vaters Land , 2016) und Figa (2016) (dt. Übersetzung K. D. Olof Unter dem Feigenbaum , 2018) -, gefällt er der kulturellen Elite, zumal er als einer der ersten slowenischen Autoren die traumatischen Folgen des Zerfalls Jugoslawiens thematisiert hat. Doch seine Werke halten sich auch auf dem Buchmarkt. Das gilt insbesondere für seinen Debütroman Čefurji raus! , der sich in einer für slowenische Verhältnisse unglaublich hohen Auflage verkaufte. 7 Der mehrsprachige, hybride, umgangssprachliche Slang des jugendlichen Protagonisten Marko Đorđić, den die russischen Formalisten wohl als skaz bezeichnet hätten und den Vojnović ‚Čefurščina‘ (‚Jugo-Sprache‘) nennt, ist dem Chronotopos Fužine geschuldet. Durch die Kommunikationsweise des Protagonisten und durch dessen infantile, emotional verletzte Selbstreflexionen, die von zahlreichen Vulgarismen sowie serbokroatisch-slowenischen und anderen sprachlichen Hybriden gesprägt sind, stellt Vojnović den Nationalismus 6 Čefur (‚Südländer‘) ist ein Schimpfwort für alle nichtslowenischen Bewohner des ehemaligen Jugoslawien. Der Titel hieße frei übersetzt also so viel wie: „Jugos raus! “. 7 Zum Erfolg hat auch unfreiwillige Werbung beigetragen: Wegen der Darstellung eines Polizisten folgten der Veröffentlichung des Romans öffentliche Beschwerden der Polizei und sogar eine Klage vor Gericht. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 175 und Chauvinismus der Mehrheitsbevölkerung bloß und schafft damit Raum für die ethische und politische Botschaft des Romans. Betrachten wir als Beispiel für Vojnovićʼ Čefurščina das Code-Switching zwischen Slowenisch und Serbokroatisch im Kapitel Zakaj Bosna ni za čefurje (Warum Bosnien nichts für Jugos ist) aus dem letzten Teil des Buches, als sich Marko auf Anraten und mit Unterstützung seines Vaters per Bahn auf den Weg nach Bosnien macht, um sich der Mitverantwortung für das Zu-Tode-Prügeln eines Unbekannten zu entziehen: Čiča je zaspal, jaz pa sem se zagledal skozi okno. Bosna je pičila mimo s svojimi pogorelimi hišami, sivimi tvornicami in zelenimi hribi. Jadna Bosna. Dotrajani mostovi, makadamske ceste, nakaradne kafane, hiše brez fasad, čiče brez zob, poln kurac džamij in cerkva, tete in klinci, ki prodajajo ob cestah pekmez in rakijo, vozila ujedinjenih naroda, stari švabski avtomobili, neobdelana zemlja, polna min, razjebane in prazne železniške postaje. To je Bosna. Jadna i bjedna. Žalostna. (Vojnović 2008: 174) Der Alte schlief ein, ich aber schaute aus dem Fenster. Bosnien zog mit seinen niedergebrannten Häusern, grauen Fabriken und grünen Hügeln an mir vorbei. Ein armseliges Bosnien . Schrottreife Brücken, Schotterstraßen , windschiefe Kaffeebuden , fassadenlose Häuser , zahnlose Alte , scheißviel Moscheen und Kirchen, Tanten und Kinder, die am Straßenrand Marmelade und Rakija verkaufen, UN-Fahrzeuge , alte Schwaben-Kutschen , brachliegendes Land, voller Minen, abgehalfterte verwaiste Bahnhöfe. Das ist Bosnien. Armselig und elend . Traurig. [Übersetzung K.A. Serbokroatische Passagen durch Kursivsetzung kenntlich gemacht.] Ähnlich wie in Čefurji raus! ist auch im Roman Vaters Land die Hauptfigur ein ‚Čefur‘, also ein Zuwanderer aus einem anderen Teil des ehemaligen Jugoslawien. Diesmal handelt es sich um den bereits erwachsenen Vladan, ein Einzelkind aus einer sogenannten Mischehe zwischen einem serbischen Offizier der Jugoslawischen Volksarmee und einer Slowenin. Die in der ersten Person verfasste Erzählung beginnt in der näheren Vergangenheit, als Vladan beim Internetsurfen entdeckt, dass sein Vater nicht tot ist, wie seine Mutter immer behauptet hat, sondern auf der Flucht vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag untergetaucht ist. Gesucht wird er wegen Kriegsverbrechen in der Umgebung von Vukovar. Vladan begibt sich auf die Suche nach ihm, und aus den Begegnungen mit Bekannten und Verwandten seines Vaters im gegenüber seinen Kindheitserinnerungen völlig veränderten jugoslawischen Raum fügen sich die einzelnen Fragmente zu einer Geschichte unterdrückter traumatischer Erfahrungen. Da ist der Sohn, den der Vater in seiner Kindheit verließ, um der jugoslawischen Armee treu zu dienen, aber auch der Vater, der ebenso früh zum Waisen geworden war und erst als Erwachsener erfuhr, dass die Ustaša die gesamte Familie seiner Vorfahren in einem Massaker getötet hatte. Doch den 176 Alenka Koron (Ljubljana) entscheidenden Hinweis zu seinem Vater findet Vladan in Slowenien, wo er von einem ehemaligen Bekannten des Vaters, einem Politiker, erfährt, dass er sich in Wien versteckt. Dort kommt es auch zu einem finalen Treffen. Vojnovićʼ Roman spürt den Gründen für den Zerfall des gemeinsamen Staates und der Familie als dessen kleinster Einheit nach und rührt an die ethnischen Stereotype von damals und heute sowie an die interkulturellen Unterschiede und divergierenden Mentalitäten. Es ist ein Werk mit großen künstlerischen Potenzialen, auch wenn diese aufgrund des manchmal störenden Durchspielens nationaler Stereotype, einiger klischeehafter Lösungen und der manchmal wenig überzeugenden Psychologie der Erzählerfigur nicht immer voll ausgeschöpft werden. Wie aus dem hier Skizzierten ersichtlich ist, kommt auch dieser Roman nicht ohne Mehrsprachigkeit aus. Das Umschalten ins Serbokroatische - Vladan will z. B. mit seiner Mutter nicht Slowenisch sprechen und hat auch zahlreiche andere nichtslowenische Gesprächspartner - ist im Roman durch Kursivschrift oder Anführungszeichen markiert. Ein Beispiel für Mehrsprachigkeit ist der folgende Rückblick, der sich auf den beginnenden Zerfall des Staates bezieht, als der Vater die Familie in Belgrad verlässt und die Mutter mit Vladan Zuflucht bei Verwandten in Novi Sad nimmt: Mislim, da sem, naslonjen na mamo, ki je še naprej odsotno gledala v televizor, zaspal nekako v trenutku, ko so Risto, Danilo, Sava in Kosa skupaj ugotavljali, „da je Tito oduvek mrzeo Srbe“, in je Danilo, verjetno pozabljajoč na to, da moja mama Duša sedi poleg njega, izpeljal veliki zaključek svojega večurnega „izlaganja“ in zmagoslavno bleknil: „Ko jebe Slovence. Zbog mene nek se spakuju i krenu zajedno sa tom svojo državom za Afganistan. Ja sam bio u Bledu i ne moram više da idem tamo. Jebo njih svih onaj njihov brko, kako se zove … Drnovšek da ih jebo, pička im materina afganistanska.” (Vojnović 2011: 97) Ich muss, an Mama gelehnt, die immer noch wie abwesend auf den Bildschirm sah, irgendwie in dem Augenblick eingeschlafen sein, als Risto, Danilo, Sava und Kosa unisono feststellten, dass Tito „schon immer die Serben gehasst“ habe, und Danilo, vermutlich vergessen habend, dass meine Mutter neben ihm saß, die große Schlussfolgerung seiner mehrstündigen Ausführungen kundtat und triumphierend herausplatzte: „Wer gibt einen Scheiß auf die Slowenen. Meinetwegen sollen sie zusammenpacken und zusammen mit ihrem ganzen Staat nach Afghanistan ziehen. Ich war in Bled und muss da nicht mehr hin. Die soll doch gleich ihr Schnauzbart ins Knie … wie heißt der noch … Drnovšek, der soll sie und ihre Mutter, die afghanische …“ (Vojnović 2016: 86-87) Unter dem Feigenbaum , Vojnovićʼ bis dato komplexester Roman, erzählt von fünf Generationen einer Zuwandererfamilie aus dem ehemaligen Jugoslawien in Slowenien, von denen drei als individualisierte literarische Figuren auftreten. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 177 Ihre Lebensgeschichten verbindet das jüngste Familienmitglied, das erzählende Ich des Romans, Jadran Dizdar. Es beginnt mit der Vorgeschichte der Familie, mit der Ankunft von Jadrans Großvaters Aleksandar und dessen Mutter in Ljubljana. Weiter geht es damit, wie Aleksandar 1955 der Arbeit wegen in das istrische Dorf Buje zieht. Die Erzählung endet in der Gegenwart mit Jadrans hoffnungslosen Versuchen, die Geschichte seiner zerfallenen multinationalen und multikulturellen Familie zu verstehen und ihr einen Sinn zu geben sowie die Beziehung zu seiner Partnerin Anja, mit der er ein Kind hat, zu kitten. Die lineare Erzählung wird durch Zeitsprünge unterbrochen, als setzte sie sich aus den Erinnerungsfragmenten und Erfahrungsbildern zusammen, die Jadran in einer für ihn logischen Reihenfolge erzählt, um sich auf seine aktuelle Lage einen Reim zu machen. Alle im Roman dargestellten Handlungssplitter verbinden sich erst am Ende zu einem logischen Ganzen. Eine dieser Geschichten handelt von Safet, Jadrans Vater, der bosnischer Abstammung ist und im unabhängigen Slowenien ‚ausgelöscht‘ wird. Als Nicht-Staatsbürger der Republik Slowenien war er davon überzeugt, dass die Slowenen den Krieg verschuldet hätten, weshalb er es ablehnte, 1991 um die slowenische Staatsbürgerschaft anzusuchen, und alle staatsbürgerlichen Rechte, die Kranken- und Pensionsversicherung, die Arbeitserlaubnis etc. verlor. Der Roman bietet vielfach Gelegenheit für explizite Mehrsprachigkeit. Diese ist wie schon im Vorgängerroman graphisch durch Kursivsetzung markiert und kommt vor allem in der Figurenrede zum Vorschein. Ein Abschnitt mit typischem Code-Switching findet sich schon zu Beginn des Romans, als sich der Großvater Aleksandar Đorđević, damals ein junger Forstverwalter, 1955 im istrischen Buje mit einem Zuwanderer aus Serbien, dem Kommissar Risto Marjanović, unterhält. Der Kommissar versucht Đorđević dazu zu bewegen, in das verlassene Haus italienischer Optanten zu übersiedeln. Risto je odpeljal Aleksandra čez cesto do hiše, ki je stala na spodnjem koncu glavnega trga. Risto je odprl vrata in vstopil. Risto führte Aleksandar über die Straße zu einem Haus, das am unteren Ende des Hauptplatzes stand. Risto öffnete die Tür und trat ein. Ključeve nemam a i ne trebaju ti. Niko se neće gurati k tebi. Prije će bežati od tebe. Schlüssel habe ich keine, aber die brauchst du auch nicht. Niemand wird bei dir eindringen. Eher werden sie vor dir flüchten . Pokazal mu je kuhinjo, kopalnico in spalnico. Odprl je omaro, ki je bila polna oblek. Er zeigte ihm die Küche, das Bad und das Schlafzimmer. Er öffnete einen Schrank, der voller Kleidung war. Ako ti bude trebao prostor, možeš ovo pomaknuti ili baciti. Falls du Platz brauchst, kannst du das hier wegtun oder wegwerfen . 178 Alenka Koron (Ljubljana) Risto je snel nekaj oblek z obešal nikov in jih spustil na tla omare. Risto nahm ein paar Kleidungsstücke von den Bügeln und ließ sie auf den Schrankboden fallen. Čije je ovo? Je vprašal Aleksandar. Wem gehört das hier? , fragte Aleksandar. To? Ne znam. Od nekih Talijana. Das? Weiß ich nicht. Irgendwelchen Italienern. A gdje su? Und wo sind die? Ko? Talijani? Wer? Die Italiener? Da. Ja. Otkud da ja znam! Otišli su negde. Woher soll ich das wissen! Irgendwo sind sie hin. Bez svojih stvari? Ohne ihre Sachen? Risto ni imel več potrpljenja zanj in za njegova vprašanja. Risto hatte keine Geduld mehr für ihn und seine Fragen. Vidi, mogu ja sutra ujutro da pošaljem nekoga da isprazni ormare ako hoćeš. Schau, ich kann morgen früh jemanden herschicken, damit er die Schränke leermacht, wenn du willst. Ja ne mogu živeti u ovoj kući. Zašto? Ich kann in diesem Haus nicht leben. Warum? Pa vidite, da tu žive ljudi. Sie sehen doch, dass hier Menschen leben? Šta bi ti hteo? Da ti sagradim hotel? Sve kuće su takve. Oni su otišli, mi smo došli. Tako je to u životu. Was willst du? Dass ich dir ein Hotel baue? Alle Häuser sind so. Sie sind weggezogen, wir sind gekommen. So ist das im Leben. A šta ako se vrate? Und was, wenn sie zurückkehren? Skuvaj im kafu i ponudi meze. Dann kochst du ihnen einen Kaffee und bietest ihnen etwas zu essen an. (Vojnović 2016: 16) (Vojnović 2018: 12-13) Angesichts der Aufmerksamkeit, die Vojnović der Multikulturalität schenkt, kann gefolgert werden, dass er sie als Alternative zu Ethnonationalismus und Chauvinismus begreift, die im Kern vieler traumatischer Ereignisse im Roman stehen. Ein charakteristisches Beispiel für den ausgesprochen toleranten Blick auf andere Sprachen und Kulturen ist der folgende Abschnitt zu Beginn des Romans: Aleksandar je s svojo mamo sicer ob večerih učil slovenščino, ki jo je govoril s sošolci, a ona tega jezika ni spregovorila z nikomer. Učil jo je tudi italijanščino, ki so jo govorili v šoli, ona pa njega nemščino, ki se jo je naučila od svojega očeta. Bila je jezik sovražnika, a tudi jezik, v katerem je pisal Joseph Roth, mu je pojasnila. Na tem svetu ne obstaja nič enoznačnega, mu je govorila ta ženska, ki je na poblazneli svet gledala z drugačnimi očmi. (Vojnović 2016: 15) Aleksandar unterrichtete seine Mutter an den Abenden zwar im Slowenischen, das er mit seinen Mitschülern sprach, aber sie sprach diese Sprache mit niemandem. Er unterrichtete sie auch im Italienischen, das sie in der Schule sprachen, und sie tat es bei ihm im Deutschen, das sie von ihrem Vater gelernt hatte. Es ist die Sprache des Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 179 Feindes, aber auch die Sprache, in der Joseph Roth geschrieben hat, erklärte sie ihm. Auf dieser Welt gibt es nichts Eindeutiges, sagte diese Frau zu ihm, die die wahnsinnig gewordene Welt mit anderen Augen sah. (Vojnović 2018: 11) Vojnović lässt seine Figuren gemeinhin oft über die Beziehung zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen nachdenken. Aleksandar, der aus beruflichen Gründen längere Zeit allein in Ägypten war und Schwierigkeiten hatte, sich an die neue Umgebung, das fremde Klima und die dortigen Gepflogenheiten anzupassen, lässt er über die Unterschiede und Ähnlichkeiten verschiedener Völker sinnieren: Še največ se je družil z Ljubomirjem, Črnogorcem z jugoslovanskem ambasade, ki je bil za Črnogorca presenetljivo nizke rasti, kar je pojasnjeval s siromaštvom in majhno posteljo, na kateri kot otrok ni mogel stegniti nog. […] Aleksandar se je smejal, v njegovi družbi se je počutil udobno, saj je Ljubomir govoril arabsko in so ga ljudje poznali, se mu smehljali in stiskali roko tudi njemu, neznancu, ki je sedel poleg Ljubomirja. In kadar je dovolj spil, da mu je vino vlilo malce poguma, je tudi on, tako kot njegov črnogorski prijatelj, natakarja potrepljal po rami in takrat se je počutil povsem domačega in je celo pomislil, da Egipčani morda le niso tako zelo drugačni. Opazil je, kako radi poljubljajo svoje otroke in jih ljubeče stiskajo k sebi, kakor počnemo tudi mi Balkanci, videl jih je, kako nasmejani posedajo po gostilnah in cele večere preglašujejo drug drugega s svojimi brezkončnimi zgodbami, pa kako hitro izgubijo živce in potem kričijo in mahajo z rokami, videl jih je, in tudi Ljubomir mu je pritrjeval. Niso oni tako drugačni, je rekel, morda so nam bolj podobni kot Švedi ali Danci, če ne bi bili muslimani, bi bili pljunuti Srbi, se je šalil pijani Ljubomir, in Aleksandar se je smejal njegovi šali […] (Vojnović 2016: 174) Am meisten kam er noch mit Ljubomir zusammen, einem Montenegriner von der jugoslawischen Botschaft, der für einen Montenegriner von ausgesprochen kleinem Wuchs war, was er immer mit seiner armen Herkunft und dem kleinen Bett erklärte, in dem er als Kind nicht die Beine ausstrecken konnte. […] Aleksandar lachte, in seiner Gesellschaft fühlte er sich wohl, denn Ljubomir sprach Arabisch, und die Leute kannten ihn, lächelten ihm zu und drückten auch ihm die Hand, dem Unbekannten, der neben Ljubomir saß. Und wenn er genug getrunken hatte, dass ihm der Wein ein wenig Mut einflößte, klopfte auch er, so wie sein montenegrinischer Freund, dem Kellner auf die Schulter, und dann fühlte er sich völlig daheim und dachte sogar, dass die Ägypter vielleicht doch gar nicht so anders sind. Ihm war aufgefallen, wie gern sie ihre Kinder küssen und liebevoll an sich drücken, wie das auch wir Balkanesen tun, er hatte sie gesehen, wie sie lachend in den Gaststätten sitzen und ganze Abende hindurch einander mit ihren endlosen Geschichten übertönen, und wie schnell sie die Nerven verlieren und dann schreien und mit den Armen fuchteln, er hatte sie gesehen, und auch Ljubomir hatte ihn darin bestätigt. Sie sind nicht so anders, sagte er, vielleicht sind sie uns ähnlicher als die Schwe- 180 Alenka Koron (Ljubljana) den oder Dänen, wenn sie keine Muslime wären, wären sie die geborenen Serben, scherzte der betrunkene Ljubomir, und Aleksandar lachte über seinen Scherz […] (Vojnović 2018: 150-151) * Am Beispiel von Josip Osti und Goran Vojnović kann gezeigt werden, dass sich in der literarischen Praxis die Auffassung durchgesetzt hat, dass der slowenische Kulturraum nicht einsprachig ist, sondern dass sich in ihm mehrere Sprachen und Kulturen, darunter auch jene der anderen Nationen des ehemaligen Jugoslawien, berühren bzw. im Dialog miteinander befinden. Dieser Dialog, in den auch verschiedene transnationale Strömungen eingeflochten sind, verläuft nicht immer konflikt- und spannungsfrei. Während nationale Literaturgeschichten, darunter auch die slowenische, vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Kulturnationalismus die Phänomene Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in der literarischen Praxis auf ihrem jeweiligen ethnischen Gebiet lange Zeit an den Rand gedrängt oder sie gänzlich aus ihren Betrachtungen ausgeschlossen haben, scheint heute, in Zeiten, wo Interkulturalität, hybride Identitäten und Globalisierung in aller Munde sind, der rechte Moment gekommen, ihnen den gebührenden Platz auch in der nationalliterarischen Selbstrepräsentation einzuräumen. Schließlich handelt es sich um eine sehr lebendige Literatur, die bei einer breiten Leserschaft beliebt ist und nicht zuletzt aufgrund ihrer Qualität auch zweifellos die Aufmerksamkeit der akademischen Welt verdient. (Aus dem Slowenischen von Karin Almasy) Literaturverzeichnis Borovnik, Silvija (2017). Večkulturnost in medkulturnost v slovenski književnosti (=-Zbirka Zora 123). Maribor: Univerzitetna založba Univerze. Čepič, Zdenko (2005). Plebiscit o samostojni Sloveniji. In: Fischer, Jasna et al. (Hrsg.). Slovenska novejša zgodovina: Od programa Zedinjena Slovenija do mednarodnega priznanja Republike Slovenije 1848-1992. 2. Band. Ljubljana: Mladinska knjiga, 1294-1297. Dedić, Jasminka/ Jalušič, Vlasta/ Zorn, Jelka (2003). Izbrisani: Organizirana nedolžnost in politike izključevanja. Ljubljana: Mirovni inštitut. Dembeck, Till (2017). Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.). Literatur und Mehrsprachigkeit: Ein Handbuch. Tübingen: Narr, 125-166. Dimkovska, Lidija (2014a). Spremna beseda. In: Lidija Dimkovska (Hrsg). Iz jezika v jezik: Antologija sodobne manjšinske in priseljenske književnosti. Ljubljana: Društvo slovenskih pisateljev, 1-19. Dimkovska, Lidija (Hrsg.) (2014b). Iz jezika v jezik: Antologija sodobne manjšinske in priseljenske literature v Sloveniji. Ljubljana: Društvo slovenskih pisateljev. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität 181 Grosman, Meta (2004). 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Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur Lidija Dimkovska (Ljubljana) Abstract: The place of the writing of minority and immigrant authors is hardly present in the literary and cultural system in Slovenia. Only a small percentage of immigrant authors living in Slovenia have won recognition in contemporary Slovene culture, which is to say that their works have not been published by major literary magazines and publishing houses, they have not participated in central literary events and have not been active in key Slovene literary movements. The article offers an analysis of the sociological, cultural, psychological and political context of immigrant writing and its position in the Slovenian national literary canon, culture and society. It arises the of question who is or can be a Slovenian writer, stressing the need for radical changes in the literary institutions and media, for loosening of the borders of Slovene national literature, and for the integration of immigrant authors, who are still faced with language as the major ideological border and constant determining whether an individual is a Slovene author or a foreign one. Keywords: Slovenia, immigrant writing, literary institutions, national literature Die Literatur von Minderheiten und Migrant_innen nimmt im Gesamtsystem der Literatur und Kultur in Slowenien einen kaum bemerkbaren Platz ein. Die Literaturgeschichte als gesellschaftlich-politische Institution betreibt (oder betreibt eben nicht) eine Integrationspolitik, von der es abhängt, ob Autor_innen aus diesen Gruppen isoliert, ghettoisiert oder in die bestehenden Strukturen integriert werden. „Die Slowenen haben immer die Bedeutung der Kultur - insbesondere der Literatur - für ihr Werden als Nation hervorgehoben“, schreibt Igor Grdina, „dennoch haben sie nie die Bedeutung des Ethnos übersehen. Wer nicht in ihre Sprach- (und gewissermaßen Bluts-)Gemeinschaft ‚eingeboren‘ 184 Lidija Dimkovska (Ljubljana) war, wurde schwer als einer der Ihren akzeptiert“ (Grdina 2003: 7). Und so ist es immer noch: Die slowenische Literaturwissenschaft betrachtete, analysierte und periodisierte die slowenische Literatur leider zu lange als geschlossenes, mononational bestimmtes System, in welchem der slowenischen Literatur nur jene Autor_innen und Werke zugerechnet und als solche anerkannt wurden, die in Slowenien entstanden und in slowenischer Sprache geschrieben waren. […] Erst in neuerer Zeit machen einige Forscher, manchmal aber auch Autoren selbst darauf aufmerksam, dass das nationalphilologische Modell der Literaturwissenschaft heute wegen der Polyphonie und Pluralität der literarischen Systeme nicht mehr ausreicht, dass es nötig ist, auch die literarische Arbeit von Migranten einzubeziehen, all jener, die sich aufgrund diversester Umstände in einem ‚Zwischenraum‘ befinden, in dem sie ihre besondere, ursprüngliche kulturelle Identität bewahren, aber auch viele Elemente übernehmen, die in den neuen kulturellen und nationalen Umständen gewonnen wurden (Grosman 2004, Mugerli 2005, Žitnik Serafin 2008). (Borovnik 2017: 50) Das ist wahrscheinlich der Grund, warum migrantische Autor_innen nicht nur den Leser_innen, sondern auch den Forscher_innen unbekannt bleiben. In diesem Sinn stellt Silvija Borovnik im Weiteren fest: „[…] in Slowenien gibt es nicht viele Literaten, die in einer Fremdsprache schreiben und (auch) auf Slowenisch veröffentlichen würden“ (ebd.: 69). Es gibt sie indes zahlreich, allein 120 migrantische Autor_innen aus den ehemaligen Republiken Jugoslawiens, und in letzter Zeit steigt auch die Zahl von Autor_innen aus anderen Teilen der Welt. Das Problem ist, dass sich von ihnen nur ein kleiner Prozentsatz im Rahmen der zeitgenössischen slowenischen Kultur etablieren konnte und kann, indem ihre Werke ins Slowenische übersetzt werden, indem sie in zentralen Literaturzeitschriften und bei bedeutenderen Verlagen veröffentlichen, indem sie an zentralen literarischen Ereignissen teilnehmen und aktiv den Mainstream im slowenischen literarischen Raum mitgestalten. Es gibt einen chronischen Mangel an Übersetzungen ihrer Werke ins Slowenische, oder sie sind von minderer Qualität. Nach einer Feststellung von Maruša Mugerli Lavrenčič sind die Chancen, in slowenischer Übersetzung publiziert zu werden, für Autor_innen ohne jede Verbindung zu Slowenien sogar höher als für die „fremden“ heimischen Autor_innen, die in anderen Sprachen schreiben und sich wegen des Fehlens von Übersetzungen und Interpretationen ihrer Werke „oft irgendwo dazwischen, in einem Zwischenraum zwischen den Kulturen befinden und eigentlich weder der einen noch der anderen angehören“ (Mugerli 2005: 190). Die migrantischen Autor_innen (von einigen Wenigen abgesehen), die zum Großteil in ihrer Muttersprache schreiben, publizieren vor allem in der Zeitschrift Paralele , die sich Fragen der Kultur von Angehörigen anderer Nationen Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur 185 in Slowenien widmet, und beteiligen sich an dem jährlichen Festival Sosed tvojega brega (Der Nachbar nebenan), beides in Organisation des Javni sklad RS za kulturne dejavnosti ( JSKD, Fonds der Republik Slowenien für kulturelle Aktivitäten). Sowohl die Zeitschrift als auch das Festival zielen auf die Förderung des kulturellen Austausches, das Überschreiten kultureller Grenzen und damit auf die Promotion von anderssprachiger Literatur im Rahmen der slowenischen Kultur; doch es ist eine Tatsache, dass der Leserkreis der Literatur von Migrant_innen, sofern diese nicht ins Slowenische übersetzt wird, auf dieselben und (vielleicht) andere ethnische Strukturen beschränkt ist, mit minimaler Beteiligung slowenischer Leser_innen. Die Autor_innen selbst schreiben entweder nur in ihren Mutter(Vater)sprachen, oder sowohl in ihrer Muttersprache als auch auf Slowenisch, oder sie schreiben nur in slowenischer Sprache. Die migrantischen Autor_innen in Slowenien werden von den Literaturzeitschriften in Slowenien zumeist als „fremde Autoren“ behandelt und in den dafür vorgesehenen Übersetzungsrubriken veröffentlicht, was aber bedeutet, dass sich ihnen die Gelegenheit, publiziert zu werden, nur ein- oder zweimal bietet. Wenn ein Autor zehn Jahre in Slowenien lebt und in dieser Zeit nur einmal in der Übersetzungsrubrik zu einer Publikation kommt, stellt sich die Frage, ob er als Autor demnach überhaupt existieren kann, auch wenn er in Slowenien lebt. Kein Verlag hat eine Reihe mit migrantischer Literatur, Preise (auf einem höheren Niveau) für Werke in einer anderen Sprache als der slowenischen gibt es nicht. Die Autor_innen haben das Gefühl, dass sie nirgends dazugehören, dass es niemanden gibt, an den sie sich wenden können, dem sie ihre Texte anbieten können, dass ihre Literatur nicht bemerkt wird. Und mögen auch die Zeitschrift Paralele , die es seit mehr als zwanzig Jahren gibt, und das Festival Sosed tvojega brega , das schon seit mehr als dreißig Jahren regelmäßig stattfindet, die Interkulturalität fördern, so werden sie von den Slowenen lediglich toleriert, ohne das nötige interkulturelle Bewusstsein, das verhinderte, dass solche Aktivitäten zum parakulturellen Phänomen verkommen oder lediglich die Toleranzschwelle einer Kultur repräsentieren. In der Zeitschrift Paralele und in den Zeitschriften ihrer Kulturvereine schreiben migrantische Autor_innen selbst Kritiken über andere Autor_innen, stellen Bücher ihrer Kolleg_innen vor, sodass die Produzent_innen der Zeitschrift zugleich auch ihre Benutzer_innen sind. Die Kulturpolitik fördert diese Autor_innen und ihre Etablierung im weiteren Raum aus eigenen (monopolistischen) Interessen nicht und benützt oft die sozio-psychologische Situation der Migranten, um sie an den Rand der Kultur zu stellen. Darum geben sich einige migrantische Autor_innen damit zufrieden, ihre literarischen Texte in Zeitschriften veröffentlichen zu können, die in Slowenien nicht zentral sind, beziehungsweise an nicht-zentralen Literaturfestivals und Begegnungen 186 Lidija Dimkovska (Ljubljana) teilzunehmen, die medial nicht unterstützt werden und über die es keine breitere Reflexion gibt. Aus literarischen und vor allem außerliterarischen Gründen stellt die Literatur der Migrant_innen eine besonders verletzliche Struktur in Slowenien dar, die der Unterstützung und Hilfe der literarischen Institutionen bedarf, diese aber selten erhält. Viele dieser Autor_innen haben sich damit abgefunden, nur in der Literatur ihrer Herkunftssprache präsent zu sein zu sein (obwohl einige in Slowenien und nicht im Staat ihrer Herkunft zu schreiben begonnen haben), und einige sind sogar vollkommen unbekannt in der slowenischen Kultur. In diesem Sinn ist die Begriffsverwirrung im Hinblick auf Integration und Assimilation von Bedeutung. Von einem Autor, der in seiner Muttersprache schreibt, wird erwartet, dass er die Sprache wechselt (sich assimiliert), um sich in die slowenische Nationalliteratur zu ‚integrieren‘. Dabei müsste der integrierte Autor einer sein, der in Slowenien lebt und in seiner Sprache schreiben kann, der aber übersetzt wird, der seine Werke (auch) auf Slowenisch publiziert und der der slowenischen Literatur angehört. Die Sprache als ideologischen Hüter der Nationalität anzusehen ignoriert völlig die Tatsache, dass in Slowenien, in den geographischen, geopolitischen und historischen Transfers der heutigen Zeit, viele migrantische Autor_innen eine Literatur schreiben, die nicht nur aus der Sprache (in der Sprache) entsteht, sondern vor allem aus dem Einfluss dieser Faktoren auf die innere Gestaltung ihrer Texte. Die veröffentlichten Texte von Erica Johnson Debeljak zum Beispiel sind vor allem in Slowenien entstanden und inspiriert von der slowenischen Realität und Literatur. Sind ihre Werke als amerikanisch oder sogar englisch anzusehen, oder ist sie eine amerikanische Autorin, weil sie auf Englisch schreibt? Unter den migrantischen Autor_innen gibt es viele, die slowenische Literatur in ihre Muttersprachen übersetzen, die zu Brücken zwischen den Kulturen geworden sind, von der Kultur aber manchmal eher als Abgründe erlebt werden. Wer kann überhaupt ein slowenischer Autor sein? Ist nur ein Autor, der auf Slowenisch schreibt, ein slowenischer Autor? Was ist mit einem Autor, der in Slowenien lebt und in seiner Muttersprache schreibt? Oder einem Autor, der in beiden Sprache schreibt? Oder einem Autor mit slowenischen Wurzeln, der im Ausland lebt und in einer fremden Sprache schreibt? Die heutige Situation veranschaulicht am besten ein Essay von Erica Johnson Debeljak mit dem Titel Bi se zrušilo nebo, če bi kresnika dobila Maja Haderlap? Kdo sme biti slovenski pisatelj? (Würde der Himmel einstürzen, wenn Maja Haderlap den Kresnik-Preis bekäme? Wer darf ein slowenischer Autor sein? ), veröffentlicht in Air Beletrina am 15.10.2013, in dem unter anderem steht: Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur 187 2010 änderte der Slowenische Schriftstellerverband seine Politik und erlaubte erstmals Autoren in einer Fremdsprache, um die Mitgliedschaft anzusuchen. Diese Änderung, wie auch die meisten anderen Beschlüsse des DSP, wurde in der Generalversammlung mit einem kleinen, aber ausreichenden Quorum angenommen. Der DSP ist die einzige Institution, die so eine öffentliche ökumenische Geste setzte und seine Politik konkret änderte. Die anderen slowenischen Literaturinstitutionen nahmen gegenüber dieser Entscheidung verschiedene Standpunkte ein, alle aber schlugen gleichsam die Tür zu, damit die Nicht-Richtigen draußen blieben. Aus Mitgliedern des DSP als möglichen Kandidaten für den Večernica-Preis wurden unverzüglich Mitglieder des DSP, die in slowenischer Sprache schreiben. Die öffentliche Buchagentur JAK fand eine ähnliche Umformulierung für Bewerber um ein Schriftstellerstipendium und schloss explizit Autoren aus, die in einer Fremdsprache schreiben. ( Johnson Debeljak 2013: 1) Geändert hat sich auch die Politik des Kulturministeriums, welches jenen fremdsprachigen Autoren, denen es die Beiträge für die Kranken- und Pensionsversicherung zahlt, lieber den Status eines Übersetzers slowenischer Literatur als den eines Autors verleiht, der nicht in slowenischer Sprache schreibt, was in der Vergangenheit keine Bedingung für den Status war. Obwohl es natürlich Ausnahmen gibt. Alle, die in Slowenien leben, zahlen dieselben Steuern, zahlen in die Pensions- und Invalidenversicherung für alle Staatsbürger ein, finanzieren mit ihren Steuern die Aktivitäten in jeglichem Sektor mit, die im Staatsbudget veranschlagt sind. Autorenstipendien, Reise- und Residenzstipendien werden aus dem Staatsbudget bezahlt, doch ein Recht darauf haben nur Autor_innen, die in slowenischer Sprache schreiben. Die Sprache ist noch immer die wichtigste ideologische und kulturelle Schranke, die jene Autor_innen, die nicht in slowenischer Sprache schreiben, daran hindert, Teil der slowenischen Nationalliteratur und Kultur zu werden. Die slowenische Gesellschaft sieht sich selbst als plurikulturell, doch in der Praxis ist die Literatur von Zuwanderern als eine Kategorie des ‚Anderen‘ nicht einbegriffen, weil die slowenische Kultur noch immer nicht bereit ist, die kulturellen Grenzen, mit denen sie streng die Zuwanderer vom eigenen Umfeld trennt, aufzugeben und Autor_innen anderer Nationalität, die in Slowenien leben und in ihren Sprachen schreiben, in ihre Strukturen kultureller Diversität aufzunehmen. Marijanca Ajša Vižintin (2014: 503) fasst dies folgendermaßen zusammen: Vielleicht werden wir im 21. Jahrhundert imstande sein, die Anfänge der Analyse zeitgenössischer Literatur aus dem 19. Jahrhundert hinter uns zu lassen, „als die universelle Literatur allmählich nationale Umrisse annahm und die nationalen Grenzen auch das Nachdenken über Literatur einzuschränken begannen“ ( Jacek Kozak 2010: 130). Wenn wir einen inklusiven und keinen exklusiven Standpunkt einnehmen, repräsentiert die literarische Produktion all dieser Autor_innen, Lyriker_innen, 188 Lidija Dimkovska (Ljubljana) Dramatiker_innen die slowenische Literatur. Doch eine derart breite Auffassung der slowenischen Literatur ist selten, „leider noch immer mehr prinzipiell als funktional“ (Žitnik Serafin 2008: 12), und aus den Übersichtsdarstellungen slowenischer Literatur, aus Lehrplänen und Lesebüchern kaum ersichtlich (Vižintin 2014: 506). Die migrantischen Autor_innen sind in der slowenischen Kultur marginalisiert. „Die Quellen sind monopolisiert, eine ethnische Gruppe nimmt als die autochthone eine Monopolstellung ein“ (Lukšič-Hacin 1995: 67). Quellen im Bereich der Literatur sind Verlage, Zeitschriften, Ausschreibung, Preise, Institutionen. In den zentralen slowenischen Verlagen, Zeitschriften usw. publiziert nur eine Handvoll zugewanderter Autor_innen. Aus allen analysierten Quellen geht hervor, dass verschiedene migrantische Autor_innen ihre Situation in der slowenischen Kultur auf verschiedene Weise annehmen, abhängig von persönlichen Kriterien, Erwartungen, Bildungsgrad, Selbstwahrnehmung. Die in der slowenischen Kulturpolitik häufige Gleichsetzung von Assimilation mit Integration kommt auch bei den Zuwanderern vor. Eine Rolle spielt dabei die „Typologie der Zuwanderer“ (Klinar 1976: 161) beziehungsweise das psychologische Porträt des Migranten, der in der neuen Umgebung häufig anders ist als in der alten, der unter Umständen gezeichnet ist von einer Schwächung des Selbstvertrauens, von Identitätskrise, Kulturschock und dem Verlust von Referenzpunkten, der sich mit Wenigem (etwas ist besser als nichts) und mit seinem untergeordneten Status begnügt, der einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt, der das Gefühl hat, sein Leben von Null auf neu beginnen zu müssen. Die Kulturpolitik, wie bereits gesagt, fördert die Produktion und Etablierung zugewanderter Autoren nicht und benützt ihre soziopsychologische Situation eher dazu, sie zu marginalisieren. Wir müssen berücksichtigen, wo die Menschen sprechen, innerhalb oder außerhalb des privilegierten Raums, und ob dieser Raum gewährleistet, dass die verschiedenen Gruppen einander hören. (Lukšič-Hacin 1999: 107) Die migrantischen Autor_innen sprechen außerhalb des privilegierten Raumes, darum hört die slowenische ethnische Gemeinschaft sie nicht. Die slowenische Nationalliteratur übt hinsichtlich der Wahl der literarischen Sprache offen oder verdeckt Druck auf die zugewanderten Autor_innen aus und fördert ihre sprachliche Assimilation oder völlige Ausgrenzung, denn die Sprache ist die wichtigste ideologische Schranke und Konstante, die darüber entscheidet, ob jemand ein ‚slowenischer‘ oder ein fremder Autor ist - wovon aber wieder praktische und theoretische Vergünstigungen für die Autor_innen und ihre literarische Integration abhängen. „Das nationale slowenische Kulturprogramm nennt die slowenische Sprache als wesentliches Element der kulturellen Identität und Grundlage der nationalen Identität“ (Žitnik 2002b: 176), die sprachliche Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur 189 Differenz der migrantischen Autor_innen aber ist das Haupthindernis für ihre Integration in die slowenische Kultur, die sich hinsichtlich der Herausbildung eines interkulturellen Bewusstseins in einer Übergangsperiode befindet. Die slowenische Nationalliteratur bietet nur die Wahl zwischen zwei radikalen Positionen: entweder sprachliche Assimilation oder die Nicht-Aufnahme in das slowenische literarische System. Die langjährige Ignoranz gegenüber der Literatur migrantischer Autor_innen von Seiten der slowenischen Nationalliteratur erweist sich nicht nur als negativ, was den psychologischen und soziologischen Status der zugewanderten Autor_innen betrifft, sondern ist schlecht für die slowenische Literatur selbst, die sich des Verlusts der eigenen, neuen, verjüngenden Kraft, die sie mit der Integration der Literatur der Migrant_innen in ihre Strukturen gewänne, nicht bewusst ist und sich auf die stereotype Zugehörigkeit auf Grundlage der Sprache beschränkt. Gerade die Autor_innen der Literatur der Mehrheit, die Übersetzer_innen, Herausgeber_innen von Literaturzeitschriften, Lehrbüchern und Enzyklopädien, Verleger_innen, Organisator_innen von Literaturveranstaltungen, Vergeber_innen von Literaturpreisen und andere Kulturarbeiter_innen im Bereich der Literatur und damit Mitgestalter_innen des literarischen Polysystems müssten der kulturellen Pluralität ihres Staates am offensten gegenüberstehen, in diesem Kontext zur Kanonisierung der Literatur von Zuwanderern beitragen und so eine ganze literarische Makrowelt vor dem Vergessen bewahren, denn die Lektüre der interkulturellen Literatur von Migrant_innen ermöglicht die Erweiterung aller Horizonte (Grosman 2004: 190). Hier könnten auch die Medien (Fernsehen, Radio, Internet, Literaturzeitschriften usw.), in denen migrantische Autor_innen chronisch unterrepräsentiert sind, zum interkulturellen Dialog verhelfen. Von der Assimilation der Literatur der Zuwanderer_innen wird die slowenische Kultur keinerlei Nutzen haben, viel indes von ihrer Authentizität, sprachlichen Heterogenität und ihren literarischen und kulturellen Werten. In Westeuropa und mit dem Europarat entwickeln wir Interkulturalität seit den 1970er Jahren in einem Kontext, in dem kulturelle Pluralität im Wesentlichen aus Migrationen hervorgeht; dieses Konzept nahm seinen Ausgang in der Sphäre der Bildung. (Rey-Von Allmen 2002: 87) In Slowenien konnte sich das Konzept einer aus Migrationen hervorgehenden Interkulturalität noch dreißig Jahre nach seiner Einführung in Europa nicht von der Bildungssphäre auf andere Bereiche ausdehnen. Auch die Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der slowenischen Erziehung und Bildung ist - trotz einiger erfolgreich abgeschlossener Projekte in diesem Bereich - noch immer mehr oder weniger in den Anfängen (Žitnik 2008: 104-105). 190 Lidija Dimkovska (Ljubljana) 2012 reichte der Slowenische Schriftstellerverband (DSP) bei einer Ausschreibung des Kulturministeriums das Projekt Usposabljanje na področju kulturnega menedžmenta in založništva (Ausbzw. Weiterbildung im Bereich des Kulturmanagements und des Verlagswesens) ein, das auch den Vorschlag zur Herausgabe einer Anthologie zeitgenössischer Literatur von Minderheiten und Migrant_innen in Slowenien enthielt. Dass diese Anthologie mit dem Titel Iz jezika v jezik (Von einer Sprache in die andere) als Projekt des DSP erschien, ist kein Zufall, weil der Schriftstellerverband die einzige Organisation in Slowenien war, die mit der Änderung ihrer Statuten dem heute gängigen Verständnis Rechnung trug, dass Autor_innen in immer größerer Zahl über zwei oder drei Nationalitäten verfügen, und somit auch jenen die Tür zur Mitgliedschaft öffnete, die nicht in slowenischer Sprache schreiben. 1 Die Anthologie zeitgenössischer Literatur von Minderheiten und Migranten in Slowenien (Dimkovska 2014) ist tatsächlich die erste derartige Anthologie. Von mehr als 140 Autor_innen wurden 92 berücksichtigt, 34 davon Angehörige autochthoner Minderheiten und Migrantengruppen, die auch oder nur in ihren Muttersprachen schreiben, als da sind: Ungarisch, Italienisch, Romanes, Slowakisch, Mazedonisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Englisch. Die Anthologie stellt die größten und besten literarischen Leistungen schon etablierter, etwas weniger oder noch nicht etablierter Autoren zusammen. Der Titel der Anthologie hebt die Bedeutung des Übergangs/ Übersetzens literarischer Texte von der einen in die andere Sprache hervor. Neun Muttersprachen, die beim Übergang in die slowenische Sprache dennoch weiter das Wesen jedes einzelnen Autors beherbergen. Die Anwesenheit von Original und Übersetzung in der Anthologie hat nicht nur praktische, sondern auch symbolische Bedeutung: In ein und demselben Buch/ Haus können alle diese Sprachen leben, verschieden, doch gleichberechtigt. Die Anthologie ist chronologisch aufgebaut, von der ältesten Autorin (geboren 1928) bis zum jüngsten Autor (geboren 1998). Die Titelerweiterung - Anthologie zeitgenössischer Literatur von Minderheiten und Migranten in Slowenien - ist nicht wirklich gelungen, beschreibt aber die Herkunft dieser Literatur, geschrieben von Angehörigen autochthoner Minderheiten und Mig- 1 Mit dem neuen, am 29. April 2010 verabschiedeten Statut wurden die Aufnahmebedingungen wesentlich erweitert: „Mitglied des Verbands kann jeder slowenische Schriftsteller (Lyriker, Prosaist, Dramatiker, Essayist) werden, der in slowenischer oder in einer anderen Sprache schreibt, der Staatsbürger der Republik Slowenien beziehungsweise Autor nicht-slowenischer Nationalität mit Bleiberecht in Slowenien ist, der in slowenischer oder in seiner Muttersprache schreibt. Mitglieder des Verbands können auch slowenische Autoren sein, die nicht auf dem Staatsgebiet der Republik Slowenien leben, ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft, unter denselben Bedingungen […]“ (Temeljni akt Društva slovenskih pisateljev). Abrufbar unter: www.drustvo-dsp.si/ wp-content/ uploads/ 2018/ 01/ Temeljni-akt-DSP.pdf (Stand: 20/ 02/ 2019). Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur 191 rantengruppen. Man hätte sie auch Anthologie der zeitgenössischen interkulturellen Literatur in Slowenien oder der zweihäusigen Literatur nennen können, doch fühlen sich die Angehörigen zweier Heimaten manchmal leider heimatlos. Alle Begegnungen mit Texten aus anderen/ fremden Kulturen, unabhängig davon, ob wir sie in Übersetzung, also bereits teilweise der eigenen/ heimischen Kultur angepasst, oder im Original lesen […] bringen einen interkulturellen Kontakt mit sich, das heißt, dass wir sie in der interkulturellen Situation lesen und aufnehmen, in der wir als Leser bzw. Zuschauer mit originär slowenischer Kultur auf Texte, filmische Narrative und andere kulturelle Schöpfungen einer nichtslowenischen bzw. fremden Kultur treffen. Bei einem entwickelten interkulturellen Bewusstsein bringt eine solche Erweiterung der Erlebnisfähigkeit nichts als Vielfalt und eine verständnismäßige Bereicherung, ohne die Gefahr der Hybridisierung oder einer andersartigen Bedrohung der primären sprachlichen Identität. (Grosman 2004: 25) Das Ziel der Anthologie Iz jezika v jezik war es, den interkulturellen Kontakt zu bahnen bzw. die Literatur migrantischer Autor_innen in ihrer interkulturellen Position zu lesen. Das eine oder andere kam in Bewegung - die slowenischen Leser_innen konnten sich mit der Literatur migrantischer (und minoritärer) Autor_innen in Slowenien bekannt machen, auf Präsentationen der Anthologie in Slowenien konnten sie mit den Autor_innen reden, auf dem internationalen Literaturfestival Vilenica wurde die Anthologie unter Beteiligung von Autor_innen im Rahmen des Hauptprogramms vorgestellt usw. Es gab jedoch keine breitere kritische Rezeption, abgesehen von einigen Kritiken in den slowenischen Medien. Die Literatur der migrantischen Autor_innen machte mit der Anthologie einen Schritt nach vorn, doch es gab keine wesentlichen Veränderungen, was ihre Rezeption und die Aufnahme das in slowenische Literatursystem betrifft. Schluss Für die Verbesserung der Situation der zugewanderten Autor_innen in Slowenien braucht es die (fachliche, berufsständische, mediale) Problematisierung der Situation der Literatur zugewanderter Autor_innen, die Festlegung einer klaren Grenze zwischen Assimilation und Integration in die slowenische Nationalliteratur, Programme zur Integration anderssprachiger Autor_innen, den fortwährenden Anstoß zur Übersetzung ihrer Werke ins Slowenische, die tatsächliche Umsetzung multikultureller Politik durch die slowenischen Kulturinstitutionen, die Öffnung der großen und nicht nur der kleinen Türen der slowenischen Kultur, damit in ihr alle ihren Platz finden, die in Slowenien leben und schreiben, ungeachtet ihrer nationalen und sprachlichen Zugehörigkeit. Die Sprachen, in 192 Lidija Dimkovska (Ljubljana) denen die zugewanderten Autor_innen schreiben, müssen im demokratischen Sinn das ‚Haus ihres Wesens‘ sein, die Übersetzung ihrer Werke das demokratische Recht, ihren Platz im Korpus der gemeinsamen Literatur einzunehmen. Die historische Aufgabe der slowenischen Nationalliteratur ist es, die Literatur der Zuwanderer zu lesen, zu affirmieren und in die gemeinsame Literatur zu integrieren, die nicht mehr eine ‚slowenische Literatur für die Slowenen‘, sondern die Literatur des plurikulturellen Slowenien für alle, die in Slowenien leben, sein wird. Dazu wird es vielleicht nötig sein, auch in anderen Bereichen auf einer Revision des Sprachkriteriums für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten literarischen Polysystem zu bestehen, was zu einer Lockerung der Grenzen von Nationalliteratur und auch ihrer Definitionen und Bezeichnungen führen würde. So ist in zeitgenössischen Anthologien slowenischer Lyrik bislang nur Josip Osti vertreten, der seit 1995 in slowenischer Sprache schreibt. Wenn die Auffassung von (slowenischer) Nationalliteratur eine entsprechende Ergänzung erfährt, wird es zwischen ein- und zweisprachigen Autor_innen keine kulturelle Kluft mehr geben, der Transfer von literarischen Werken, Informationen, Wertungen und Lesererwartungen wird frei vonstattengehen und den slowenischen Literaturraum und seine Zeit bereichern. Sind denn Autoren und Autor_innen wie Žanina Mirčevska, Erica Johnson Debeljak, Svetlana Slapšak, Carlos Pasqual, Noah Charney, Stanislava Repar, Rick Harsch nicht bereits slowenische Autor_innen, gemessen an der Beliebtheit bei den slowenischen Lesern, die nur an guten Texten und nicht an Sprachideologie interessiert sind? Können das nicht auch Ivan Antić, Ismet Bekrić, Jadranka Matić Zupančič, Senada Smajić, Zlatko Kraljić, Dušan Šabić, Branko Bačović, Seiko Araki Gerl, Nataša Kupljenik, Ana Lasić, Željko Perović und viele andere werden? „Die ‚Einwanderungsländer‘ werden all ihre eingewanderten Kulturen tatsächlich erst dann in ihrer gemeinsamen Kultur absorbieren, wenn sie ihnen die gleichberechtigte Entwicklung in der Muttersprache ermöglichen, sie mit kritischem Urteil und Übersetzung in viel größerem Umfang als bisher auch in ihre Mehrheitssprachen aufnehmen werden“, betont Janja Žitnik Serafin (2002a: 131). Erst dann wird zumindest die Hälfte der Autor_innen, die die ästhetisch-literarischen Erwartungen der Leser erfüllen beziehungsweise sich in die literarische Sozialisation slowenischer Leser einschalten, nicht mehr nur die authentische ethnische Kultur, sondern auch die gemeinsame bereichern, und erst dann werden ihre literarischen Werke binational oder, noch besser, übernational sein. Es ist eine Tatsache, dass heute auf der ganzen Welt, nicht nur in Slowenien, immer mehr Autor_innen migrieren, das Umfeld, ihr Zuhause, einige auch die Sprache wechseln, das Nomadisieren ist ohnehin ein natürliches Phänomen bei Künstler_innen, Migration ein untrennbarer Teil des Lebens. Ideal und in ferner Zukunft auch nicht unmöglich scheint, dass die Herkunft eines Autors Die Literatur migrantischer Autor_innen im Kontext der slowenischen Literatur und Kultur 193 nur eine unbedeutende Information darstellt, was der Literatur und den Autoren zugutekommen wird. (Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler) Literaturverzeichnis Borovnik, Silvija (2017). Večkulturnost in medkulturnost v slovenski književnosti. Maribor: Univerzitetna založba Univerze v Mariboru. Debeljak Johnson, Erica (2013). Bi se zrušilo nebo, če bi kresnika dobila Maja Haderlap? Kdo sme biti slovenski pisatelj? Air Beletrina 15.10.2013, 1. Dimkovska, Lidija (Hrsg.) (2014). 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Zbornik predavanj 38. seminarja slovenskega jezika, literature in kulture. Ljubljana: Filozofska fakulteta, 119-132. Žitnik, Janja (2002b). Literarno povratništvo in meje narodne književnosti. Dve domovini - Two Homelands 15, 163-178. Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien Miran Košuta (Triest) Abstract: Where, among whom, when and to what extent is the phenomenon of literary bilingualism present in Slovene literature in Italy today? Is it merely an isolated, personal artistic choice made by writers possessing specific linguistic and multicultural competencies, or is it a more general literary reflection of growing national assimilation among Slovenes in Italy? What generates and nourishes this literary ‘code-switching’: issues of identity, culture, education, commerce or reception? Is literary bilingualism totally balanced among Slovene poets and novelists from Friuli Venezia Giulia who write mainly or occasionally in Italian? And where should their writing be located: as part of Italian literature, of Slovene literature or within the hybrid literature of the Adriatic frontier? These and similar questions will be investigated in the paper through a typological definition of the Slovenian authors from the provinces of Trieste, Gorizia and Udine who write in Italian, and an analysis of the growing literary bilingualism among Slovenes in Italy. Keywords: literary bilingualism, Slovene literature in Italy Einleitende Absteckung des Themas „Le začniva pri Homeri“ (Lass uns bei Homer beginnen), lieber Leser, so würde wohl der slowenische Dichter France Prešeren (1847: 108) in die Thematik der literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien einführen. Denn metaphorische Homers, vor allem Dichter, aber auch Prosaisten und Dramatiker, die gelegentlich oder dauerhaft, wechselweise oder kontinuierlich aus ihrer slowenisch- oder gemischtsprachigen Identität heraus zu belletristischen Ausdrucksmitteln des benachbarten Italienischen wechseln, um damit ihrem geistig-emotionalen Sein auf sprachkünstlerische Weise Ausdruck zu verleihen, gibt es heutzutage in Italien nicht gerade wenige. Signum temporis , würden die 196 Miran Košuta (Triest) alten Lateiner wohl dazu sagen. In einer zunehmend globalisierten, multikulturellen, national-hybriden, zersiedelten und kreolisierten Welt werden folglich auch Phänomene des literarischen Schreibens in zwei oder mehreren Sprachen immer üblicher, häufiger und alltäglicher. Das stimmt natürlich. Doch an dieser Stelle geht es nicht um sogenannte Migrationsliteratur, Literatur, die sich Fremdes zu eigen macht, oder darum, in einer anderen Sprache eine Heimat zu finden. Es geht nicht um sprachliche Optanten á la Samuel Beckett, Joseph Conrad, Vladimir Nabokov, Arthur Koestler, Joseph Brodsky, den Tschechen Milan Kundera, den Russen Andreï Makine oder die Slowenin Brina Svit, die sich in Paris für das Schreiben auf Französisch entscheiden, weder um den in die USA geflohenen und ab dato auch englisch schreibenden Bosnier Aleksandar Hemon noch um die nach Rom gezogene Indo-Amerikanerin Jhumpa Lahiri, die ihrem englischen Œuvre einen italienischen Roman mit dem vielsagenden Titel In altre parole (2015, dt. Übersetzung von Margit Knapp Mit anderen Worten. Wie ich mich ins Italienische verliebte , 2017) zur Seite stellte. Nein. Hier geht es um das friulanisch-julische Herz des alten Europas - von den Alpen bis zur Adria, von Camporosso/ Žabnice bis Muggia/ Milje. Es geht um autochthone, in Italien geborene, lebende und arbeitende slowenischsprachige Künstler, die sich für ihr literarisches Schaffen sowohl ihrer Mutteralso auch ihrer Nachbarsprache bedienen, bald auf Slowenisch (bzw. in einem lokalen slowenischen Dialekt), bald auf Italienisch schreiben. Ähnlich wie ihre viel zahlreicheren literarisch zweisprachigen Kollegen in Kärnten stellen sie heutzutage die Literatur- und Geschichtswissenschaften, die oftmals noch engstirnig in einsprachig-nationalen Schemata denken, vor eine Reihe heikler Fragen und Herausforderungen: In welche nationale Literaturgeschichte soll man diese über die sprachlichen Ufer tretende Literatur einordnen? Ist die aus der Romantik stammende monolithische Auffassung einer Nationalliteratur á la Herder und Schlegel überhaupt noch brauchbar und inmitten des heutigen multikulturellen, mehrsprachigen und weltumspannenden Literaturbetriebs, besonders in den national-hybriden Rand- und Grenzgebieten, wie z. B. den slowenischen in Italien, Österreich, Ungarn und Kroatien, überhaupt noch aktuell? Oder wird man sich schleunigst neue, komplexere, übersprachliche, vielleicht überregionale, räumliche, geistig-inhaltliche, thematische oder ästhetisch-stilistische Formen der literaturwissenschaftlichen Systematisierung ausdenken müssen und letztendlich wieder beim unitaristischen Ansatz von einer einzigen, nur in den verschiedenen Sprachen der Welt ausgedrückten Weltliteratur á la Goethe landen? Der Ansicht von Erwin Köstler und Andrej Leben in ihrer Erörterung neuerer literarischer Dynamiken in Kärnten ist deshalb nur beizupflichten, wenn sie sich für die Akzeptanz des Gedankens aussprechen, dass Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 197 […] jegliche literarische Aktivität eine interkulturelle Basis [hat], denn der Wechsel zwischen und das ‚Mischen‘ von Sprachen - ‚Code-Switching‘, das Zitieren der ‚anderen‘ Sprache in der eigenen (oder zweiten) Sprache usw. - sind Teil genereller interkultureller Prozesse, denen man sich mit Berufung auf sprachliche Einförmigkeit nicht entziehen kann. Aus dieser Perspektive muss Exophonie (d. h. das Schreiben in einer anderen Sprache) in heterogenen Gesellschaften und transnationalen Kulturen als Normalzustand verstanden werden - auch wenn die nationalen Literaturwissenschaften nach wie vor das Herder’sche Ideal einer sprachlich konsistenten Nationalliteratur hochhalten und damit einen Zustand suggerieren, der in Wirklichkeit nicht besteht. (Köstler/ Leben 2016: 156) Vor eine Unmenge solcher und ähnlicher Dilemmata stellt uns auch die zeitgenössische slowenische Literatur in Italien, wenn sie die geistige, kulturelle oder sprachliche Andersartigkeit ihrer italienischen Mitbürger in ihren Schaffenshorizont miteinbezieht und sich stellenweise auch in deren Sprache ausdrückt. Daher scheint es unumgänglich, danach zu fragen, wo, bei welchen Autoren, wann und in welchem Ausmaß sich in der zeitgenössischen Literatur in Italien das Phänomen literarischer Zweisprachigkeit manifestiert. Handelt es sich dabei nur um eine vereinzelte, persönlich-künstlerische Entscheidung sprachlich überdurchschnittlich gebildeter und multikultureller Schriftsteller oder vielmehr auch um ein generelles literarisches Echo der voranschreitenden sozialen Assimilation der slowenischen Volksgruppe in Italien? Von welchen Impulsen - aus Gründen der Identität, Kultur, Bildung, Wirtschaft oder Rezeption - wird dieses literarische ‚Code-Switching‘ angeregt und gefördert? Sind die auch oder vorwiegend auf Italienisch schreibenden slowenischen Dichter und Schriftsteller aus Friaul-Julisch Venetien literarisch überhaupt mit den zweisprachigen gleichzusetzen? Und welcher Literatur ist ihr Werk letztendlich zuzuordnen: der italienischen, der slowenischen, einer hybrid-küstenländischen oder einer so genannten Grenzlandliteratur? Die Vorgänger Man muss nicht zwangsläufig bis zur Zeit des Minnesängers Oswald von Wolkenstein und zu dessen Pidgin-Liebeslied Do fraig amors (~1417) zurückgehen, in dem neben deutschen, lateinischen, italienischen, französischen, ungarischen, flämischen und anderen Sprachelementen gleichberechtigt auch lyrische Zeilen auf Slowenisch erschallen, um in dieser Ecke Mitteleuropas, im Adriaraum, auf vielsagende Beispiele literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit zu stoßen, die eine solche literarische Praxis als etwas in ethnisch gemischten, mehrsprachigen und multikulturellen Räumen völlig Normales und Selbstverständliches belegen. Es genügt, in die nähere Vergangenheit des 19. und 20. Jahrhunderts 198 Miran Košuta (Triest) zurückzublicken, um auch unter den lokal ansässigen Slowenen einige solche Literaten zu finden. Am Beginn der slowenisch-triestinischen Literatur steht Josip Godina Verdelski (1808‒1884), der zwar seiner in der dritten Person verfassten autobiographischen Erzählung keine vergleichbare italienische Prosa zur Seite gestellt hat, dennoch aber souverän mit dieser Sprache umgehen konnte, was in dem von ihm verfassten Steuerratgeber Manuale delle leggi sul bollo e sulle tasse (1843) ersichtlich wird. Der in Vergessenheit geratene Literat slowenischer Herkunft Alojz Kriščan (1870‒1935) veröffentlichte unter dem Pseudonym Luigi Crociato ein umfangreiches auf Italienisch verfasstes dichterisches Œuvre, aus dem vor allem die 1912 in Rom herausgegebene Verssammlung mit dem beredten, vielleicht auf seine slowenische Herkunft anspielenden Titel Canta il selvaggio (Es singt der Wilde) hervorsticht. Nur kurze Zeit später tat es ihm der slowenisch-, poetisch aber zweisprachige Triestiner Janko Samec (1886-1945) gleich, dessen unveröffentlichte, nur in seinem literarischen Nachlass erhaltene und unter dem Pseudonym Giovanni del Carso ( Johann aus dem Karst) verfasste italienische Gedichtsammlung I canti del barbaro (Die Gesänge eines Barbaren) durch seinen Titel eine Assoziation zu Crociatos Verssammlung evoziert. Doch auch einige andere literarische Zeugnisse für literarische Zweisprachigkeit lokaler slowenischer Dichter und Schriftsteller aus jüngerer Zeit sollen nicht verschwiegen werden: die italienischen Bücher von Ivan Trinko oder seine auf seiner slowenischen Vorlage beruhende Dichtung Eccidio dʼAquileia (1896, Der Untergang Aquileias), die aufgrund der faschistischen Zensur gezwungenermaßen auf Italienisch verfassten Liebesbriefe von Stanko Vuk an seine Frau Danica Tomažič, die Tržaške humoreske (1957, Triestiner Humoresken) von Vladimir Bartol, in denen es von italienischen Dialogen nur so wimmelt, die ersten literarischen Versuche von Boris Pahor und Alojz Rebula in den Sprachen Dantes und Ovids. Schon aus einem solchen chronologischen Überblick, gewissermaßen aus der Vogelperspektive, wird ganz klar deutlich, dass es auf dem Gebiet der heutigen Provinz Friaul-Julisch Venetien in vergangener Zeit ein verhältnismäßig friedliches Miteinander der verschiedenen Volksgruppen gab, in den Zeiten angespannter nationaler Polarisierung und der faschistischen und nationalsozialistischen Verbrechen an der slowenischen Volksgruppe hingegen deutlich weniger. Dennoch hat dieses friedliche Miteinander bis heute überlebt. Warum? Welche Form nimmt die literarische Zweisprachigkeit unter den slowenischen Schriftstellern in Italien heute an? Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 199 Die Zeitgenossen Von Camporosso/ Žabnice bis Muggia/ Milje, von Monti Musi/ Mužci bis ins Valle del Breg/ Dolinski Breg, sind heute auf dem Gebiet von sechsunddreißig Gemeinden der ehemaligen Provinzen Udine, Görz und Triest in der Region Friaul-Julisch Venetien etwa sechzig slowenische Dichter, Prosaisten und Dramatiker literarisch tätig und können jeweils zumindest eine selbstständige literarische Publikation vorweisen. Unter dieser Menge an allein im letzten Vierteljahrhundert und mehrheitlich in der Standardsprache, seltener auch im dialektalen Slowenisch veröffentlichten Publikationen findet man um die fünfzig Romane, sechzig Kurzprosa-Anthologien, über hundert Gedichtsammlungen sowie hunderte Dramen, Radiohörspiele und Werke aus dem Bereich der Kinder- oder Jugendliteratur. Unter den Autoren dieser Werke gibt es auch einige, denen der literarische Ausdruck auf Italienisch nicht fremd ist. Im Vergleich zur Situation der slowenischen Minderheit in Kärnten, wo die Zahl an deutsch-slowenischen Autoren in der letzten Zeit so angewachsen ist, dass sich der national engagierte Florjan Lipuš schon besorgt fragt: „Wer wird sich noch für die Sprache einsetzen? “ (Lipuš 2015: 217), gibt es in der slowenischen Minderheit in Italien nur wenige solche Beispiele. Dennoch gibt es sie und damit gilt es, ihnen literaturhistorische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Weder unter einer literaturtheoretischen noch unter einer soziologischen oder nationalen Lupe handelt es sich dabei nämlich um ein Randphänomen. Man kann diese Erscheinung unter den slowenischen Literaten in Italien im Moment eindeutig identifizieren und typologisch in vier deutlich erkennbare Stränge untergliedern: 1.) Autoren, die ausschließlich auf Italienisch schreiben, 2.) Autoren, die auf Italienisch schreiben und sich selbst manchmal ins Slowenische übersetzen, 3.) Autoren, die auf Slowenisch schreiben und sich selbst manchmal ins Italienische übersetzen und 4.) Autoren, die sowohl auf Italienisch als auch auf Slowenisch schreiben. Bei Literaten der ersten Kategorie kann man genau genommen nicht von einer literarischen, sondern maximal von einer funktionalen Zweisprachigkeit sprechen, da sie sich literarisch nur auf Italienisch ausdrücken. In der Regel handelt es sich bei solchen Schriftstellern stets um Menschen slowenischer Identität oder familiärer Herkunft, denen es aber in ihrem familiären Umfeld oder während ihrer Schulbildung nicht möglich war, sich ihre Muttersprache auf hochsprachlichem Niveau anzueignen. Die meisten von ihnen beherrschen diglossisch ihren slowenischen Heimatdialekt und die italienische Schriftsprache, und letztere ist die einzige, in welcher sie ihrer schriftstellerischen Kreativität Ausdruck verleihen können. Solche Literaten findet man in Venetien vor allem in der Provinz Udine, welche 1866 nach einer Volksabstimmung dem Königreich Italien angeschlossen wurde. Daraufhin wurde in dieser Region eine systematische Politik 200 Miran Košuta (Triest) der Assimilation verfolgt und das Slowenische brutal unterdrückt, sodass die hiesigen Slowenen in ihrer Muttersprache noch heute kaum hochsprachliche Kenntnisse vorweisen können. Trotz europäischer und staatlich-verfassungsrechtlicher Zusicherungen und Gesetze zum Schutz der lokalen slowenischen Minderheit gibt es bis heute in Udine keine öffentliche Schule mit slowenischer Unterrichtssprache. Die gesamte Last einer hochsprachlichen Alphabetisierung in der Muttersprache der venezianischen Slowenen trägt allein die mehrstufige zunächst privat, mittlerweile staatlich geführte zweisprachige Schule mit slowenisch-italienischem Unterricht in San Pietro al Natisone/ Špeter. Den heutigen venezianischen Literaten, vor allem jenen der älteren Generation, die noch nicht diese Schule besuchen konnten, sind die sprachlichen Zwänge und Mängel immer noch in leidvoller Erinnerung. Diese beschrieb deren angesehener Vorgänger Ivan Trinko dem Herausgeber der einflussreichen slowenischen Literaturzeitschrift Ljubljanski zvon Fran Levec in einem Begleitbrief 1884 zu seinen eingesandten Werken sehr eindringlich, als er sich für etwaige notwendige Korrekturen vorab entschuldigte, denn er habe sich ein hochsprachliches Schriftslowenisch „ohne Lehrer, ohne Grammatik, ohne Wörterbuch, gegen viele Hindernisse, die ihn vom Lernen abhielten“ aneignen müssen (o.H. 1978: 40). Der in Clavora/ Klavore geborene Roman Firmani (1930-2009), Autor herber prosaischer Porträts der Abgeschiedenheit in und der Emigration aus den peripheren venezianischen Tälern, die subtile moderne Lyrikerin und Performerin Antonella Bukovaz (*1963), der in der literarischen Nachbarschaft der näheren Apennin-Halbinsel sowohl als Dichter als auch als Übersetzer bereits gut etablierte Miha (Michele) Obit (*1966) oder die jüngere Triestiner Kriminalautorin Anja Zobin (*1984) sind wahrscheinlich die repräsentativsten Prototypen solcher ausschließlich auf Italienisch schreibenden slowenischen Literaturschaffenden, die das sprachliche Trauma der Vergangenheit und die multikulturelle Offenheit moderner Grenzregionen in sich vereinen. Dieses hybride, expressive Spannungsverhältnis zwischen Eigenem und Nachbarlichem, das Zusammenleben zweier sprachlicher Ichs in einer Person, hat die 2017 mit dem slowenischen Literaturpreis Vilenica ausgezeichnete Antonella Bukovaz bei einem Fernsehinterview anlässlich der Preisverleihung ganz treffend auf den Punkt gebracht: Das ist etwas, was mich in Verlegenheit bringt, da ich - obwohl ich eine Slowenin bin und mich als Slowenin fühle - auf Italienisch schreibe. Slowenisch lernte ich erst ab dem Alter von zwanzig Jahren, und das war wohl nicht genug. Das Resultat dieser [italienisch-slowenischen] Grenze sind Menschen wie ich, die eben auf Slowenisch denken, fühlen und leben, aber auf Italienisch schreiben. (Bukovaz 2017) Die zweite typologisch feststellbare Gruppe literarisch zweisprachiger Slowenen in Italien bilden jene Dichter, Prosaisten und Dramatiker, die zwar auf Italienisch Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 201 schreiben, die eigene Belletristik aber manchmal selbst ins Slowenische übersetzen. Dabei handelt es sich um seltene, in beiden Sprachen unterschiedlich versierte Autoren, denen die italienische Hochsprache offenbar näherliegt oder denen für einen literarischen Schaffensakt in ihrer Muttersprache Slowenisch vielleicht das nötige Selbstbewusstsein fehlt, denen es aber dennoch wichtig ist, eine übersetzerische Rückkehr der eigenen belletristischen Texte in das Slowenische sicherzustellen. Ein solches Profil zweisprachig kultivierter Literaturschaffender weisen z. B. die Dichterin Liliana Visintin (1952) aus der Gegend um Monfalcone/ Tržič und der Prosaschriftsteller und Lyriker Igor Gherdol (1979) in Triest auf. Geradezu paradigmatisch verkörpert es auch die Dichterin und Schriftstellerin Klavdija Voncina (1943) aus Gorizia, die ihre ersten dichterischen Gehversuche (z. B. in den Gedichtbänden Frammenti , 1990; Parole , 1994; Gocce infrante , 1997; Icone , 1997) ausschließlich auf Italienisch unternahm, später aber ihren auf Italienisch verfassten Prosa- und Lyrikwerken slowenische Selbstübersetzungen zur Seite stellte (z. B. beim Roman Confine orientale - Meja na vzhodu , 1999, sowie den Gedichtbänden Fantasia - Fantazija , 2001 und Mosaico - Mozaik , 2006). Den gespiegelten Gegentyp dazu stellt der dritte Typus des literarisch zweisprachigen Schriftstellers in Italien dar. Das sind jene Literaten, die sich künstlerisch lieber in ihrer Muttersprache Slowenisch ausdrücken, ihre Werke dann aber manchmal in die italienische Standardsprache übersetzen. Die Motivation für diese selbstvermittelnden Bemühungen könnte unterschiedlicher nicht sein: Einmal handelt es sich um das intime, persönliche Bestreben, sein zweites künstlerisches Ich zu vervollkommnen, ein andermal um die ästhetische Herausforderung und den Reiz, es in der Nachbarsprache versuchen zu wollen, ein andermal um die rezeptive Absicht, das eigene literarische Werk einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Meistens aber geht es darum, sich kulturell dem Nachbarn gegenüber zu öffnen, seinem anderssprachigen Mitbürger so direkt und unvermittelt wie möglich einen Einblick in die eigenen demiurgischen Arbeitsweisen zu ermöglichen. Obwohl die meisten slowenischen Literaten aus Friaul-Julisch Venetien dem italienischen Lesepublikum heutzutage vor allem dank der Arbeit der nicht gerade zahlreichen slowenisch-italienischen Literaturübersetzer mit zumindest einem oder mehreren Büchern bekannt sind, stößt man leicht auch auf zweisprachig versierte Künstler, besonders häufig auf Lyriker, die sich selbst ins Italienische bringen oder ihre Werke gleich mitübersetzen, damit diese auch in der italienischen Zielsprache umso authentischer, überzeugender und in ihrem Sinne ausfallen. Ein Blick in das Impressum einiger Werke legt davon ein sprechendes Zeugnis ab: In der auf Italienisch und im Triestiner Dialekt verfassten Gedichtsammlung Lʼincendio bianco von Boris Pangerc (1990: 2) steht etwa: „Freie Version des Autors nach seinen Erzählungen Glas odznotraj , In legla je tišina und El silenzio de una cità “. In der Gedichtanthologie Terra da masticare - Za grižljaj zemlje von 202 Miran Košuta (Triest) Marko Kravos (2009: 2) heißt es ähnlich: „Übersetzung aus dem Slowenischen von Darja Betocchi, Jolka Milič und dem Autor selbst“. Auch das lyrische Debüt von Tatjana Rojc Zemlja, rdeča in neskončna - Terra, rossa e infinita (1995) beinhaltet neben den slowenischen Originalgedichten italienische Selbstübersetzungen. Während die beiden zuletzt beschriebenen Typen slowenischer Literaten in Italien eher übersetzerisch als schöpferisch zweisprachig tätig sind, kann dem vierten Typus des grenzüberschreitenden Schriftstellers authentisches Code-Switching attestiert werden. Es handelt sich um Autoren, die des literarischen Schreibens direkt und unvermittelt in italienischer wie auch slowenischer Sprache fähig sind. Freilich sind dies ausschließlich Schriftsteller slowenischer oder gemischter ethnischer Herkunft, die auch souverän die italienische Literatursprache beherrschen, denn bislang ist kein einziger umgekehrter Fall eines auf Slowenisch schreibenden Italieners in Erscheinung getreten. Das Profil dieses Typus von Literaten tritt klar hervor, wenn man deren Biographien betrachtet: Es handelt sich um autochthone lokale Schriftsteller, die sich aufgrund besonderer Umstände in Familie, Schule, Studium und Beruf souverän beide literarischen Sprachen aneignen konnten und deshalb imstande sind, sie abwechselnd für ihr Literaturschaffen einzusetzen. Wann und wieso aber jemand - um hier bei den bildhaften Metaphern von Alice Oxman Anleihe zu nehmen - in seiner literarischen Wohnung von einem sprachlichen Zimmer in ein anderes geht, bald auf Italienisch, bald auf Slowenisch schreibt, ist freilich eine sehr komplexe, vielschichtige und von vielen persönlichen Faktoren und äußeren Umständen abhängige Frage. Die intime Notwendigkeit, emotionale Distanz zum Stoff ihres Werkes zu bekommen, der Wunsch, die kulturelle Reichweite der eigenen literarischen Werke zu vergrößern, die ästhetische Herausforderung, sich literarisch in einer anderen Sprache auszudrücken, die Sehnsucht, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren oder in die Welt des Nachbarn einzutauchen: Das sind nur einige von zahlreichen Gründen, die dieses literarische Code-Switching von Schriftstellern bedingen können. In dieser bunten Gruppe slowenischer Autoren in Italien kann auf alle Fälle zwischen episodisch und dieser Praxis dauerhaft verbundenen literarisch Zweisprachigen unterschieden werden. In der ersten Subkategorie der lokalen Literaturschaffenden gibt es Beispiele im Überfluss, da es sowohl unter der älteren als auch der jüngeren Generation fast keinen slowenischen Schriftsteller in Italien gibt, der es nicht auch zumindest einmal auf Italienisch versucht hätte: von Alojz Rebula, Boris Pahor oder Miroslav Košuta über Boris Pangerc, Jakob Renko oder Igor Pison. Dušan Jelinčič z. B. erlaubte sich diese sprachliche Ausnahme mit seinem Roman La dama bianca di Duino (2010), den er originär auf Italienisch verfasste, dann aber noch im selben Jahr selbst ins Slowenische übersetzte und unter dem Titel Bela dama Devinska herausgab. Die vorwiegend auf Slowenisch schreibende Dichterin und Essayistin Tatjana Rojc veröffent- Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 203 lichte unlängst ihren italienischsprachigen Debütroman La figlia che vorrei avere (2017), der durch seine autobiographischen Züge und seine sprachliche Andersartigkeit teilweise an den Schaffensprozess der Kärntnerin Maja Haderlap und ihren Roman Engel des Vergessens (2011) erinnert. Unter jenen, die der zweiten Subkategorie der dauerhaften Zweisprachigkeit zuzuordnen sind, stechen innerhalb der jüngeren Generation der Prosaschriftsteller Igor Pison (*1982), Autor der Kurzprosabände Squarci (2011) und Zasilni izhodi (2013), und vor allem der Triestiner Dichter, Prosaist und Essayist Giovanni bzw. Ivan Tavčar (*1943) hervor, in dessen umfangreichem, mehrheitlich auf Italienisch vorliegenden lyrischen und prosaischen Opus auch einige slowenische Verssammlungen zu finden sind ( Hoja v neskončnost , 2004; Dih večne besede , 2005; Odselitev , 2012; Vrtoglavost duše , 2012; Vrnil bom svoj obraz , 2018). Der feinsinnige, musikalische, thematisch oft religiös inspirierte und sprachlich polyphone, auch Deutsch beherrschende Schriftsteller mit dem für slowenische Ohren so klingenden Namen - denn die Literaturgeschichte weist bereits einen anderen wichtigen Ivan Tavčar auf - ist der Prototyp eines vorbildlichen zweisprachigen Literaten, da er seine italienische Lyrik nicht einfach übersetzt oder nachdichtet, sondern sie auf Slowenisch völlig neu wiedergibt. Um das hier Gesagte zu illustrieren, ist es wohl aussagekräftiger, von noch so tiefgründigen literaturkritischen Einsichten abzusehen und einfach eine kleine Textprobe zu geben. In der slowenischen Verssammlung Odselitev (2012) und ihrem italienischen Pendant Dilagante eternità (2015) veröffentlichte Tavčar nämlich jeweils ein Gedicht unter demselben Titel, das aber in den beiden Versionen von einem völlig anderen Geist und Gefühl, von unterschiedlicher Atmosphäre und Botschaft getragen ist: Sam - Solo . Sam Solo Jaz sem bil vedno sam Solo, s svojimi sanjami. chiuso nella mia stanza, con tutti i miei errori Neusmiljeno sam. e le mie virtù, a pensare, In vendar a scavare nellʼintimo neizrekljivo srečen. più profondo, a meditare Jaz sem bil vedno sam sulle vere o presunte s svojim hrepenenjem. sembianze. Neizmerno sam. Solo, tra le costellazioni 204 Miran Košuta (Triest) In vendar che non hanno nome, nepojmljivo vzradoščen. sospeso tra passato e futuro, nel vano tentativo Razpet preko časa di pareggiare in daljav, i conti in sospeso, usločen preko temin di riempire in puščav. il vuoto delle parole, spengo la luce Neizbežno ujet e tento v burnošumeče valovanje di dimenticare il mondo vsemirskih širjav. e me stesso. (Tavčar 2012: 43) (Tavčar 2015: 16) Allein Allein Ich war mit meinen Träumen Allein, immer allein. in mein Zimmer gesperrt, mit all meinen Schwächen, Unbarmherzig allein. und all meinen Stärken, um nachzudenken, Und dennoch um ins tiefste Innere unsagbar glücklich. vorzustoßen, um über wahre und trügerische Ich war mit meiner Sehnsucht Bilder zu sinnen. immer allein. Allein, Unglaublich allein. zwischen namenlosen Konstellationen, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Und dennoch im unnützen Versuch unfassbar froh. offene Rechnungen zu begleichen, Durch Zeit und den leeren Worten Raum gespannt, wieder Sinn zu geben, durch Düsterheit schalte ich das Licht aus und Ödnis gewölbt. und versuche die Welt und mich selbst Unausweichlich gefangen zu vergessen. Im heftig rauschenden Wogen unendlicher Weiten. [Übersetzung der slowenischen Version Sam von K.A.] [Übersetzung der italienischen Version Solo von K.A.] Liest und vergleicht man auch nur oberflächlich diese beiden Gedichte, ist sofort klar, dass es sich hier nicht um eine normale Übersetzung der bereits Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 205 früher veröffentlichten slowenischen Verse ins Italienische, sondern um eine in der Motivik zwar verwandte, gedanklich und inhaltlich aber völlig andere Neudichtung mit ganz anderer Pointe handelt. Während sich das lyrische Ich im slowenischen Gedicht Sam in seinem individuellen, jedoch „im heftig rauschenden Wogen | unendlicher Weiten“ situierten Alleinsein „unfassbar froh“ und „unsagbar glücklich“ beschreibt, erahnt der zurückgezogene Protagonist des italienischen Gedichts Solo durch den Rückzug ins eigene Innere bis zu einem gewissen Grad die Zwecklosigkeit ethischer Introspektion, die Hohlheit der Worte und die existenzielle Absurdität, so dass er, durch das als Epilog zu verstehende Betätigen des Lichtschalters, resigniert in die Dunkelheit und das Vergessen versinkt. Jene Art des Alleinseins, die Svetlana Makarovič in ihrem Gedichtband Samost (2002, dreisprachige Ausgabe Samost/ Aloneness/ Alleinsein 2008) beschreibt, bietet dem zweisprachigen Tavčar also den gemeinsamen thematischen Ausgangspunkt, die gemeinsame Quelle dieses Motivs, das dann aber in weiterer Folge in zwei inhaltlich und sprachlich völlig verschiedene Arten, in diametral entgegengesetzte Empfindungen des Alleinseins bzw. der Einsamkeit, aufgelöst wird. Fazit Das oben zitierte Gedicht Tavčars ist gleichzeitig auch eine anschauliche Allegorie für die soziokulturelle Situation von tatsächlich zweisprachigen slowenischen Schriftstellern im heutigen Italien, die in der beschriebenen Menge ähnlicher Literaten immer noch verhältnismäßig selten sind und relativ allein stehen. Unter den sechzig Autoren, die der vorliegende Beitrag typologisch unter dem Blickwinkel des literarischen Beherrschens der Nachbarsprache in vier sub specie italianitatis unterteilt hat, überwiegt nämlich eindeutig der zeitweilige Selbstübersetzer ins Italienische. Seine Spiegelbilder, die Selbstübersetzer ins Slowenische, sind schon deutlich weniger an der Zahl und die echten, literarisch dauerhaft zweisprachigen Autoren können an einer Hand abgezählt werden. Dieser Überblick bestätigt also, wie anspruchsvoll und schwierig eine gleichwertige literarische Zweisprachigkeit ist, die dem jeweiligen Literaturschaffenden nicht nur subtile Sprachkenntnisse, sondern auch eine tiefe geistige Verankerung in beiden Referenzmilieus, in den italienischsowie in den slowenischnationalen, gesellschaftlichen und literarischen Gegebenheiten, abverlangt. Über die künstlerische Qualität und die sprachliche Versiertheit des literarischen Ausdrucks der Literaten aller vier beschriebenen Typen kann des Weiteren kaum etwas Kritisch-Objektives noch etwas Wissenschaftlich-Valides gesagt werden. Augenfällig wird bei der aufmerksamen Lektüre und einem kritischen 206 Miran Košuta (Triest) Vergleich ihrer italienischen und slowenischen belletristischen Werke dennoch ein erkennbares ästhetisches Ungleichgewicht zwischen Ausgangs- und Zielsprache, der Primärsprache des jeweiligen Werks und der Sekundärsprache, meist einer übersetzerischen Umkodierung. Beide Kategorien der selbstübersetzenden zweisprachigen Literaten legen nämlich in ihrer originären Sprache einen markant besseren literarischen Beherrschungsgrad an den Tag als in jener Sprache, in die sie sich selbst übersetzen. Damit sieht sich die Meinung von Tim Parks bestätigt, der in seinem Artikel Why Write in English? auf der Homepage The New York Review of Books überzeugend argumentiert: „The second language never seems to mean quite as much as the first.“ (Parks 2016) Wenn überhaupt, dann hält sich die Waage der literatursprachlichen Versiertheit in Italien nur bei den dauerhaft zweisprachigen Autoren, denen man auch die in Kärnten häufig zu lesende Auffassung vom ästhetisch und künstlerisch gleichwertigen Zusammenleben zweier Sprachen in der Person eines doppelt performativen Autors zuschreiben kann. Maja Haderlap beschreibt in einem Interview dieses Zusammenleben beispielsweise so: Beide Sprachen sind Teil meiner sprachlichen Identität, keine ist ausgeschlossen. Diese Zweisprachigkeit ist, so denke ich, der einzige Vorteil, den wir Kärntner Slowenen haben. Wieso also sollte ich mich für diesen besonderen Vorteil, den wir dem einsprachigen Kulturraum gegenüber haben, bei irgendjemandem entschuldigen oder mich dafür schämen? […] Natürlich ist die literarische Zweisprachigkeit oder der Übergang in eine andere literarische Sprache eine besondere Herausforderung, und ich weiß auch gar nicht, ob ich ihr als Schriftstellerin gerecht werde; ich weiß auch nicht, wohin das alles führt. Als mir einige Slowenen vorgehalten haben, dass ich mich habe germanisieren lassen, musste ich anerkennen, dass das eben ihre Denkweise ist - mich persönlich aber berührt ein solches Denken nicht. Dieses Entweder-oder ist ein ideologisches Konstrukt und völlig unsinnig. Aufgabe der Kultur ist es, solche Ansichten zu überwinden […]. ( Jezernik 2011: 26) Neben dem verständlicherweise polemischen Entgegentreten gegenüber dem Vorwurf des nationalen Verrats, mit dem sich neben Haderlap auch noch manch anderer zweisprachiger Literat in Kärnten konfrontiert sieht, schwingt in dieser Aussage Haderlaps auch bedeutsam mit, dass besonders in multikulturellen Grenzgegenden die Zeit einer monolithisch geschlossenen national-sprachlichen Identität und damit auch die Zeit engstirniger, stereotypisierter Schemata einsprachiger Literaturen zu Ende gegangen ist. Gerade das amphibienhafte ‚verräterische‘ Code-Switching zweisprachiger Literaten - auch jener hier thematisierten slowenischen Autoren in Italien - zeugt nämlich davon, dass es in einem Schriftsteller, wie in jedem Menschen, auch ein anderes Empfinden, heterogene Identifikationen, eine kulturelle wie sprachliche Vielschichtigkeit, eine in sich abgestimmte persönliche Polyphonie geben kann, die an die zwei- Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 207 sprachigen Büchlein der sichtbaren Welt orbis pictus erinnert. Die an der Grenze zweier Sprachen und Kulturen lebenden, im Moment noch eher seltenen, dafür aber umso wertvolleren zweisprachigen Literaten unter den Slowenen in Italien verdeutlichen genau dies. Mit den Worten von Miroslav Košuta im Schluss seines Gedichtes Jutrišnje tržaško jutro (Der morgige Triestiner Morgen) gesprochen: „Ni več daleč dan, ko se še v nas dva jaza zbudita - ma cosa vuoi così è la vita“ (Der Tag ist nicht mehr fern, an dem auch in uns zwei Ichs erwachen - aber was willst du, so ist das Leben) (Košuta 1991: 42). (Aus dem Slowenischen von Karin Almasy) Literaturverzeichnis Primärliteratur Bukovaz, Antonella (2017). Mündliche Stellungnahme anlässlich der Verleihung des Literaturpreises Kristal Vilenice 2017. Televizijski deželni dnevnik slovenskega sedeža RAI Furlanije-Julijske krajine z dne 06/ 09/ 2017. Abrufbar unter: www.sedezfjk.rai.it/ dl/ RaiTV/ programmi/ media/ ContentItem-ce67948e-a282-4273-8ba7-985a0c1efa73. html#p=0 (Stand: 09/ 09/ 2017) Jezernik, Jerneja (2011). Maja Haderlap, pisateljica: Angel pozabe je postal moja pripoved. Pogledi 2: 20, 12.10.2011, 24-26. Köstler, Erwin/ Leben, Andrej (2016). Dvojezična literarna praksa koroških Slovencev po ukinitvi „mladja“ (1991) in njena pozicija v nadregionalnem prostoru literarne interakcije. In: Destovnik, Irena (Hrsg.). Koroški koledar 2017. Klagenfurt: Drava, 148‒158. Košuta, Miroslav (1991). Riba kanica. Triest: Založništvo tržaškega tiska. Kravos, Marko (2009). Terra da masticare. Za grižljaj zemlje. Empoli: Ibiskos Editrice Risolo. Lipuš, Florjan (2015). Kdo se bo še prelomil zaradi jezika: Nagradam Bachmannove na rob. Rastje 9, 217‒221. Makarovič, Svetlana (2008). Samost/ Aloneless/ Alleinsein. Dreisprachiger Gedichtband. Übersetzt ins Deutsche und ins Englische v. Ludwig Hartinger und Alan Mc Connell Duff. Ljubljana: Litterae Slovenicae. Pangerc, Boris (1990). Lʼincendio bianco. Triest: Loufried editrice. Parks, Tim (2016). Why Write in English? The New York Review of Books, 18.04.2016. Abrufbar unter: www.nybooks.com/ daily/ 2016/ 04/ 18/ why-not-write-in-foreignlanguage/ (Stand: 26/ 10/ 2017) Prešeren, France (1847). Poezije doktorja Franceta Prešerna. Ljubljana: Jožef Blaznik. Tavčar, Ivan (2012). Odselitev. Gorica: Goriška Mohorjeva družba. Tavčar, Ivan (2015). Dilagante eternità: Villanova di Guidonia (RM): Aletti Editore. [o.H.] (1978). Trinkova pisma Francu Levcu. In: Trinkov koledar 1979. Gorica: Eigenverlag, 40‒55. Sekundärliteratur 208 Miran Košuta (Triest) Daviau, D. G. (2002). Writing in a Different Language: The Example of Charles Sealsfield. TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 13. Abrufbar unter: www.inst.at/ trans/ 13Nr/ daviau13.htm (Stand: 10/ 09/ 2017) Ferrari, Stefano (2007). La scrittura infinita: Saggi su letteratura, psicoanalisi e riparazione. Florenz: Nicomp Laboratorio editoriale. Gigante, Giulia (2008). Tra due lingue e due culture: Il fenomeno dei giovani scrittori russi che scrivono in un’altra lingua. Esamizdat 6: 1, 283‒288. Gnisci, Armando (2003). Creolizzare lʼEuropa: Letteratura e migrazione. Rom: Meltemi. Hoffman, Eva (1996). Come si dice. Rom: Donzelli. Leben, Andrej (2013). Slovenska literatura na avstrijskem Koroškem: manjšinska ‒ regionalna? Jezik in slovstvo 58: 4, 5‒15. Paternu, Boris (2005). Po sledeh jezikovnih travm v sodobni slovenski književnosti. Jezik in slovstvo 50: 2, 63‒77. Proietti, Paolo (2000). Lontano dalla lingua madre: In viaggio con la narrativa nel secondo Novecento. Rom: Armando. Ruggi, Simona/ Von der Schulenburg, Sybil (2013). Tradursi e tradirsi: Bilinguismo e psicologia. Rom: Aracne editrice. Žitnik Serafin, Janja (2011). Literarna zapuščina slovenskih izseljencev v drugih deželah Evrope. Dve domovini ‒ Two homelands 34, 35‒45. Anhang Bibliographie zeitgenössischer zweisprachiger Literatur slowenischer Schriftsteller in Italien Die in diesem Beitrag thematisierte Typologie literarisch zweisprachiger slowenischer Literaten, die im heutigen Italien leben und arbeiten, wird durch die hier folgende Bibliographie vervollständigt. Aufgelistet und durch bibliographische Angaben ergänzt sind Werke von siebzehn lokalen zweisprachigen Literaten. Angeführt werden aber nur jene belletristischen oder essayistischen Werke, die der jeweilige Autor in seiner literarischen Zweitsprache (Italienisch oder Slowenisch) verfasst hat (oder die er selbst zur Gänze oder teilweise aus seiner Erstin seine Zweitsprache übersetzt hat). Boris Pahor (*1913): Srečko Kosovel (auf Italienisch verfasste Biographie, 1993); Letteratura slovena del Litorale: vademecum. Kosovel a Trieste e altri scritti (auf Italienisch verfasste Essays, 2004); Tre volte no (mit der Co-Autorin Mila Orlić auf Italienisch verfasste Erinnerungen, 2009); La lirica di Edvard Kocbek (Diplomarbeit auf Italienisch, 2010); Figlio di nessuno (mit der Co-Autorin Cristina Battocletti auf Italienisch verfasste Autobiographie, 2012); Così ho vissuto (mit der Co-Autorin Tatjana Rojc auf Italienisch verfasste Erinnerungen, 2013); Ve- Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 209 nuti a galla (auf Italienisch verfasste Essays, 2014); Quello che ho da dirvi (auf Italienisch gegebenes Interview, 2015); Triangoli rossi (auf Italienisch verfasste Erinnerungen, 2015). Alojz Rebula (1924-2018): Credo (auf Italienisch verfasste religiöse Schrift, 1989, 2006); Jakob Ukmar (auf Italienisch verfasste Biographie, 1992; Übersetzung ins Slowenische 2000); Testimoni della risurrezione - Witnesses of the resurrection - Pričevalci vstajenja (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Erzählung, 1998, ins Englische übersetzt von Leo Thomas Corduff, 1999); Carteggio scazonte (auf Italienisch verfasste Korrespondenz mit Manlio Cecovini, 2001); Da Nicea a Trieste (auf Italienisch verfasste Essays, 2012). Marko Kravos (*1943): Il richiamo del cuculo (Gedichte, ins Italienische übersetzt von Loredana Bogliun, Arnaldo Bressan, Carmela Fratantonio, Jolka Milič, Patrizia Raveggi, Eros Sequi, Sergij Šlenc und dem Autor selbst, 1994); Terra da masticare - Za grižljaj zemlje (Gedichte, ins Italienische übersetzt von Darja Betocchi, Jolka Milič und dem Autor selbst, 2009); Su pietra, su acqua (auf Italienisch verfasste Gedichte, 2013). Ivan (Giovanni) Tavčar (*1943): Ta mala zemska večnost (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 1997); Ko bisere v očeh rojevaš (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 1999); Hoja v neskončnost (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2004); Dih večne besede (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2005); Albin Kjuder Tomajski (auf Slowenisch verfasste Biographie, 2005); Vrtoglavost duše (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2012); Odselitev (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2012); Il profumo delle memorie - Čarobna piščal - Das Schiff der Ewigkeit tutet ungeduldig (auf Italienisch, Slowenisch und Deutsch verfasste Gedichte, 2015); Vrnil bom svoj obraz (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2018). Klavdija (Claudia) Voncina (*1943): Confine orientale - Meja na vzhodu (auf Italienisch verfasste Prosa, Selbstübersetzung ins Slowenische, 1999); Fantasia - Fantazija (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, 2000); Mosaico - Mozaik (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, 2006). Jakob (Giacomo) Renko (*1946): Riflessioni poetiche (italienische Gedichte, Selbstübersetzung ins Italienische, 1995, 2008). Boris Pangerc (*1952): In legla je tišina - E scese il silenzio (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, italienische Übersetzung Jolka Milič und der Autor selbst, 1981); L’incendio bianco (italienische Gedichte, Selbstübersetzung ins Italienische, 1990); Lasseme dir (Gedichte in der Triestiner-italienischen Mund- 210 Miran Košuta (Triest) art, 2003); Ptice v mojem oljčniku - Gli uccelli del mio uliveto (slowenische und italienische Gedichte, Selbstübersetzung ins Italienische, 2017). Liliana Visintin (*1952): Ecat’ombre (auf Italienisch, Slowenisch und Spanisch verfasste Gedichte, 1993); Agoni e solitudini (auf Italienisch, Slowenisch und Spanisch verfasste Gedichte, 1998); Preden luna izpuhti - Evanescenda luna (slowenische und italienische Gedichte, ins Slowenische übersetzt von Maja Gal Štromar, 2010). Dušan Jelinčič (*1953): Aleksander od kresnic - Alessandro delle lucciole (auf Slowenisch und Italienisch verfasste Prosa, Selbstübersetzung ins Italienische, 2006); La dama bianca di Duino (auf Italienisch verfasster Roman und spätere Selbstübersetzung ins Slowenische 2010). Boris Kobal (*1955): Bonjour Triestesse (mit dem Co-Autor Maurizio Soldà im Triestiner-italienischen Dialekt verfasste Komödie, 2003); La soffitta (mit dem Co-Autor Maurizio Soldà im Triestiner-italienischen Dialekt verfasste Komödie, 2004); La propustniza (mit dem Co-Autor Maurizio Soldà verfasstes Kabarett, 2007). Marko Sosič (*1958): Grozljiva lepota - Paurosa bellezza (auf Slowenisch und Italienisch verfasstes Drama, 2016). Miran Košuta (*1960): Scritture parallele (auf Italienisch verfasste Essays, 1997); Verso dove (mit den Co-Autoren Marco Aliprandini, Alessandro Banda, Beppe Bonura, Luciano Comida, Massimiliano Forza, Dušan Jelinčič, Marko Kravos, Kenka Lekovich, Francesco Locane, Sepp Mall, Alojz Rebula, Marko Sosič, Pietro Spirito, Paolo Valente auf Italienisch verfasste Prosa, Selbstübersetzung ins Italienische 2003); Slovenica (auf Italienisch verfasste Essays, 2005); Lʼimperfezione. La Milanesiana 2012. Catalogo (auf Italienisch verfasste Kurzprosa, 2012). Tatjana (Tatiana) Rojc (*1961): Zemlja, rdeča in neskončna - Terra, rossa e infinita (auf Slowenisch und Italienisch verfasste Gedichte, Selbstübersetzung ins Italienische, 1995); Le lettere slovene dalle origini allʼetà contemporanea (auf Italienisch verfasste Studie, 2004, 2005); Così ho vissuto (mit dem Co-Autor Boris Pahor auf Italienisch verfasste Erinnerungen, 2013); La figlia che vorrei avere (auf Italienisch verfasster Roman, 2017). Antonella Bukovaz (Bucovaz) (*1963): V nebu luna plava (im venezianisch-slowenischen Dialekt verfasste Gedichte, 2010); 3 x 3 besede za teater (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, Übersetzung ins Slowenische Ace Mermolja, Alenka Jovanovski, Marko Ipavec, 2016). Zur literarischen Zweisprachigkeit slowenischer Schriftsteller in Italien 211 Michele (Miha) Obit (*1966): Per certi versi - Po drugi strani (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, slowenische Übersetzung Marko Kravos, 1995); Leta na oknu (auf Slowenisch verfasste Gedichte, slowenische Übersetzung Taja Kramberger, 2001); Marginalia - Marginalije (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte, slowenische Übersetzung Pavlina und Iztok Osojnik in Zusammenarbeit mit dem Autor, 2010); V nebu luna plava (in venezianisch-slowenischer Mundart verfasste Gedichte, 2013). Igor Gherdol (*1979): Plamen gori v srcih (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2008; Lunin mrk (auf Slowenisch verfasste Gedichte, 2010); 2 cuori e 4 mani - 2 srci in 4 dlani (auf Italienisch und Slowenisch verfasste Gedichte und Kurzprosa, Co-Autorin Barbara Gropajc, 2017). Igor Pison (*1982): Squarci (auf Italienisch verfasste Kurzprosa, 2011); Zasilni izhodi (auf Slowenisch verfasste Kurzprosa, 2013). Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien Nives Zudič Antonič (Koper) Abstract: This article aims at presenting the Istrian literary and cultural space, its characteristics and importance. In the form of a walk through time (from the 13th century to the present day) and with a focus on postmodern Istrian writers, the author depicts the literary and cultural life in Istria, which in the past was most significantly marked by Italian culture. Thus, Istrian literary history becomes cultural history, it revitalises the rich variety and multiplicity of written records of Istria which has always been multilingual and multicultural. The article presents the characteristics of literary multilingualism and multiculturalism, which is present in the works of authors like Marco Apollonio, Carla Rotta, Aljoša Curavić, Franco Juri, Vlada Acquavita and Diego Runko. The presented writers give voice to Istrians and by doing so, in a certain way, they return to the dialogue between Slovenes and Italians who live there and re-establish an exchange between cultures and nations that were divided for decades by turbulent historical events. Keywords: Italian authors in Istria, postmodern literature, dialect, multilingualism Einleitung Das literarische Schaffen italienischsprachiger Autor_innen in Istrien und Rijeka/ Fiume bzw. der Kvarner Bucht war von jeher reich und vielfältig. Die geographische Randlage dieses Gebiets hat sich durch die Jahrhunderte hinweg nicht als hinderlich, sondern als förderlich erwiesen. Die periphere Lage bewirkte zwar einerseits, dass interessante kulturelle Impulse langsamer Fuß fassen konnten, andererseits aber sorgte sie dafür, dass sich ein dichtes Netz an Beziehungen mit jenen Ländern entwickelte, mit denen Istrien und Rijeka Kontakte pflegten. Gestärkt wurden so vor allem die Beziehungen mit der Republik 214 Nives Zudič Antonič (Koper) Venedig, der Habsburgermonarchie und den größeren literarischen Zentren. Die historische und in weiterer Folge auch wirtschaftliche Entwicklung durch die verschiedenen Epochen hindurch führte nach und nach zum Zusammenbruch des berechenbaren, statischen istrischen Umfelds. Diese Dynamik schuf die Voraussetzungen für wirtschaftliches und kreatives Wachstum, wodurch die istrische Literatur auch auf andere Buchmärkte gespült wurde. Das kreative Potential und die Schaffenskraft zahlreicher Literaten dieses Gebiets wurde dadurch bewahrt, und istrische Literaten konnten sich folglich in ganz Italien und Europa einen Namen machen, wie z. B. Pietro Paolo Vergerio der Ältere (1370‒1444), Pietro Paolo Vergerio der Jüngere (1498‒1565), Girolamo Muzio (1496‒1576), Gian Rinaldo Carli (1720‒1795), Pasquale Besenghi degli Ughi (1797‒1849), Michele Facchinetti (1812‒1852), Giuseppe Picciola (1859‒1912) und Giovanni Quarantotto (1881‒1977). Dank ihnen war die Literatur und Kultur dieses Gebiets in einer privilegierten Stellung, wie Fulvio Tomizza in einem Abschnitt seines Romans Il male viene dal nord (1984) 1 in einer Beschreibung von Koper/ Capodistria erläutert: Dieses Gefühl einer privilegierten Stellung war gewiß nicht unbegründet, wie fast jeder Winkel, mit seinen Spitzbogen, den Marmorbalkonen, Eisengittern, Wappen, Büsten, den geometrischen und allegorischen Verzierungen, den Inschriften bewies - vor allem aber die Piazza mit dem Dom, dem Prätorenpalast und der Loggia. Aber auch die Bewohner hatten sich nicht als unwürdig erwiesen: Gedenktafeln bezeugten, daß die Stadt Italien und Europa große Begabungen auf jedem Gebiet geschenkt hatte: von Vittore Carpaccio, dessen Geburtshaus sie pflegte, bis zu dem Humanisten Pier Paolo Vergerio dem Älteren; von Andrea Divo, dessen lateinische Übersetzungen Homers sogar an der Sorbonne studiert wurden, bis zu dem Dichter Muzio, den Manzoni in seinem Meisterwerk mit der Abhandlung über das Duell zitierte; von dem zur Mailänder Illuministen-Gruppe gehörenden Ökonomen Gian Rinaldo Carli bis zu dem Mediziner Santorio, der zusammen mit Galilei das Thermometer erfunden und als Erster beim Menschen angewandt hatte - ganz zu schweigen von den Druckern, Seefahrern, Heiligen, Kaufleuten, den Kriegern, die sich bei Lepanto ausgezeichnet hatten, jenem Grafen Johann Anton Kapodistrias, Präsident der ersten griechischen Republik, und schließlich der stattlichen Liste von Märtyrern und Helden des Ersten 1 Il male viene dal nord ( Das Böse kommt vom Norden ) war Tomizzas zweiter Roman, in dem er das Leben des Bischofs von Koper Pietro Paolo Vergerio des Jüngeren (1498-1565) - seines Zeichens Rechtsgelehrter, Nuntius und Reformator des 16. Jahrhunderts - thematisiert. Der Aufbau des Romans ist äußerst originell: Der erste Teil des Buches ist eine Synthese der biographischen, kulturellen und schriftstellerischen Erfahrungen Tomizzas; im zweiten Teil wird Pier Paolo Vergerio der Jüngere porträtiert, der in der europäischen Renaissance heftiger Kritik ausgesetzt war. Als Befürworter einer Reform der katholischen Kirche wurde er der Häresie bezichtigt und vertrieben. Bei der Verbreitung des Protestantismus spielte er in der Folge eine sichtbare Rolle. Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 215 Weltkrieges, unter denen die Gestalt des von den Österreichern wegen Hochverrats zum Tod verurteilten Nazario Sauro hervorragt. (Tomizza 1988: 14-15) Im 20. Jahrhundert gesellten sich zu den lokalen Literaten auch noch Künstler hinzu, die Istrien und die Kvarner Bucht zu ihrer zweiten Heimat machten. Mit ihrem künstlerischen Schaffen hielten sie das kulturelle Erbe dieser Region am Leben und stimulierten die Entwicklung dieser lebendigen Literatur. Im späten 20. Jahrhundert kam eine neue Generation von Autoren hinzu, die sich in den letzten Jahrzehnten etablieren konnte. Im vorliegenden Beitrag soll nun die Literatur Istriens und der Kvarner Bucht mit ihrer ganzen literarischen Energie und Originalität vorgestellt werden. Zunächst wird hierfür die Entwicklung der Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht allgemein skizziert, wobei aber der Schwerpunkt auf die letzte Schaffensphase gelegt werden soll. Diese ist nämlich deshalb besonders interessant, weil die zeitgenössischen Literaten neue kreative Wege beschreiten und dabei den Fokus auf literarische Mehrsprachigkeit und Multikulturalität legen. Historische Skizze der italienischsprachigen Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht Die Literaturgeschichte der italienischen Volksgruppe in Istrien und der Kvarner Bucht zwischen dem 13. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt mit der Literaturgeschichte Italiens zusammen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändern sich hingegen die Verhältnisse. Der in Koper geborene Triestiner Literaturkritiker Bruno Maier identifiziert in der italienischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts in Istrien zwei entscheidende Phasen: die Zwischenkriegszeit und die Nachkriegszeit nach 1945. In der ersten, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs beginnenden und 1945 endenden Phase waren Istrien und die gesamte Region Friaul-Julisch Venetien Teil Italiens. Im Großteil dieser Phase ist Mussolinis faschistisches Regime an der Macht - lediglich in den Jahren von 1943 bis 1945 ist das adriatische Küstenland dem nationalsozialistischen Dritten Reich angeschlossen -, und die italienischsprachige Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht ist durchgehend mit der italienischen verwoben. Bedeutende Autor_innen dieser Zeit sind die Dichterin Lina Galli, der Prosaist Pier Antonio Quarantotti Gambini und der Schriftsteller Enrico Morovich aus Rijeka (Maier 1996: 11-12; Zudič Antonič 2014: 387-388). Die zweite, bis heute andauernde Phase beginnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs, genauer gesagt etwa in der Zeit zwischen der Unterzeichnung des Friedensvertrags 1947 und dem Londoner Memorandum 1954, das 1975 mit dem Vertrag von Osimo ratifiziert wurde, wodurch die Stadt Trieste/ Triest letztendlich Italien, und Istrien 216 Nives Zudič Antonič (Koper) Jugoslawien zugeschlagen wurde. Charakteristisch für diese Phase ist die parallele Entstehung und Entwicklung zweier sehr unterschiedlicher Literaturen. Auf der einen Seite der Grenze entwickelte sich die so genannte ‚Exodus-Literatur‘, manchmal auch als Triestiner Literatur bezeichnet. Ihre Autoren, die bis 1945 oder 1954 in Istrien lebten, gingen, nachdem dieses Gebiet an Jugoslawien gefallen war, in das nahe gelegene Triest, andere italienische Städte oder ins Ausland. Unter diesen Autoren sticht der bereits erwähnte Fulvio Tomizza hervor, der sich 1955 für Italien und eine Übersiedelung nach Triest entschied, aber immer wieder, auch für längere Phasen, in sein istrisches Heimatdorf Materada zurückkehrte, so als wollte er mit seinem eigenen Lebensweg zeigen, dass das Aufeinandertreffen, das Miteinander und gegenseitige Verstehen verschiedener Ethnien und Kulturen, wie der italienischen, kroatischen und slowenischen, möglich sind. Die zweite neue Strömung aus Istrien, der Kvarner Bucht und Rijeka entwickelte sich hingegen auf jenem Gebiet, das damals Jugoslawien zufiel. Ihre Vertreter sind Autor_innen, die nicht emigrierten, sowie einige linke Intellektuelle, die aus Italien kamen, um mit den Kulturschaffenden der neugegründeten jugoslawischen Volksrepublik zusammenzuarbeiten. Diese italienischen Intellektuellen, die Istrien und die Kvarner Bucht zu ihrer zweiten Heimat machten, schlossen sich also im 20. Jahrhundert den lokalen Schriftstellern und Dichtern an und bereicherten mit ihren Werken die bereits bestehende literarische Tradition. Zu diesem Kreis gesellt sich auch eine neue Generation, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert hat. So kann also in Istrien und Rijeka von der Herausbildung einer italienischsprachigen Literatur gesprochen werden, die ihre thematischen und stilistischen Besonderheiten hat, zwar die italienische Literaturtradition berücksichtigt, sich aber in eine neue zwischenmenschliche und soziale Situation, in ein städtisches und ländliches, ebenso wie in ein bäuerliches und küstenländisches bzw. maritimes Umfeld einfügt. Ihre Aufmerksamkeit richten diese Schriftsteller auf die Psychologie des Individuums, gleichzeitig aber auch auf das Kollektiv-Gesellschaftliche, auf das Italienische und die lokalen istrovenezianischen und istroromanischen Dialekte. Die prominentesten Vertreter dieser Literaturströmung sind Osvaldo Ramous, Lucifero Martini, Eligio Zanini, Alessandro Damiani, Giacomo Scotti, Mario Schiavato und Nelida Milani Kruljac. Als Istrien nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens in einen slowenischen und einen kroatischen Teil zerfiel, blieb die Literatur der italienischen Volksgruppe in der Region präsent und beschritt ihren gemeinsamen Weg konsequent weiter (Milani Kruljac 2010: 17-45; Zudič Antonič 2014: 388-391). Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 217 Schriftsteller und Dichter der italienischen Volksgruppe in Istrien und Rijeka Die Nachkriegsliteratur aus Istrien und der Kvarner Bucht ist eine neue Erscheinung, mit der sich Literaturhistoriker_innen, Kritiker_innen und Essayist_innen beschäftigen. Bruno Maier (1996: 113-124) zufolge handelt es sich um eine Literatur, die verschiedene Phasen durchgemacht hat. Die erste, avantgardistische „Pionierphase“ spielt sich zwischen 1941 und 1945 ab und ist unmittelbar mit dem Befreiungskampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus verbunden. Sie gründet auf illegalen Zeitungen, Flugblättern und Aushängen. Es handelt sich also um eine kämpferische Literatur, die teilweise heldenepischer und teilweise chronistischer Natur ist, da sie vor allem die damaligen Ereignisse schildert. Ausdruck dieser Phase ist der Tagebuchroman Eravamo in tanti (1953) von Eros Sequi. Dieser Abschnitt während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kann auch als Entwicklungsphase bezeichnet werden, während sich in der Nachkriegszeit auch ein gewisser neorealistischer Ausdruck hinzugesellt. In dieser Zeit wird die Literaturzeitschrift Orizzonti (1951) gegründet, die die ersten literarischen Änderungen anzeigt. Der Anteil an politisch-engagierten Inhalten nimmt ab, stattdessen mehren sich intime und poetische Themen. Hierbei spielen Autoren wie Eros Sequi, Lucifero Martini, Giacomo Scotti, Alessandro Damiani und Sergio Turconi, die aus Italien zugezogen und im kulturellen Leben äußerst aktiv sind, eine entscheidende Rolle. Erwähnt werden muss außerdem Osvaldo Ramous, der für die Kontinuität zwischen der Vor- und der Nachkriegszeit in der istrischen Literatur steht. Der vielseitig begabte und subtile Ramous sticht aus der italienischen Volksgruppe als produktiver Schriftsteller und Dramatiker sowie als Dichter, Übersetzer und Regisseur hervor. Vor allem dank seines umfangreichen lyrischen Werks, für welches dʼannunzianisch 2 gefärbte, raffinierte und sinnliche Verse charakteristisch sind, ist Ramous bereits seit 1938 eine unumstrittene Größe in der Kulturszene Istriens und der Kvarner Bucht und überragt durch die hohe Qualität seiner Werke den regionalen Rahmen. Die zweite Phase umfasst die 1960er und 1970er Jahre. Dabei handelt es sich um die bedeutende Zeit einer beginnenden Hochblüte auf literarischem, künstlerischem, kulturellem und auch wissenschaftlichem Gebiet mit typischen Charakteristika, die diesen bestimmten historischen Moment widerspiegeln. Es eröffnen sich neue lyrische Horizonte mit Künstler_innen wie Anita Forlani, Mario Coc- 2 Gabriele D’Annunzio ist einer der prominentesten Vertreter der italienischen und europäischen Dekadenz. Sein stile dannunziano ist geprägt vom Gebrauch seltener und edler Ausdrücke, einer erlesenen literarischen Bildsprache und einer unaufhörlichen Suche nach Rhythmus und Musikalität. 218 Nives Zudič Antonič (Koper) chietto, Umberto Matteoni, Romano Farina und anderen. Jüngere Lyriker_innen dieser Zeit sind zudem Giacomo Scotti, Alessandro Damiani, Mario Schiavato und Adelia Biasiol (Milani/ Dobran 2010a: 163-502; Zudič Antonič 2014: 390). In dieser Zeit kommt es auch zu einer intensiven Entwicklung der Dialektliteratur. Die Dialektlyrik, die für die Literatur der italienischen Volksgruppe in Istrien eine wichtige Rolle spielt, entwickelt sich gemäß der beiden bestehenden Dialekte in zwei Strömungen: die istroromanische bzw. istriotische und die istrovenezianische. Innerhalb der istroromanischen Strömung entstanden zwei ‚Schulen‘: jene von Rovinj, in deren Rahmen Eligio Zanini, Giusto Curto, Libero Benussi, Vlado Benussi und Antonio Gian Giuricin zu verorten sind, sowie jene von Vodnjan, der Loredana Bogliun, Lidia Delton und Mario Bonassin zuzurechnen sind. Zudem gibt es die im Dialekt des Ortes Bale geschriebene Lyrik von Romina Floris und Sandro Cergno. Innerhalb der istrovenezianischen Strömung sind Autor_innen wie Ester Sardoz Barlessi, Venceslao Venci Krizmanich und Gianna Dallemulle Ausenak aus Pula/ Pola sowie Egidio Milinovich, Lucifero Martini und Laura Marchig aus Rijeka zu nennen. Im selben Zeitraum behandeln die Schriftsteller Claudio Ugussi, Nelida Milani, Ester Sardoz Barlessi, Gianna Dallemulle Ausenak und Ezio Mestrovich in ihren späten Werken die Thematik des Exodus, während Isabella Flego vor allem autobiographische Themen aufgreift (Maier 1996: 122-124; Milani/ Dobran 2010a: 507-701; Zudič Antonič 2014: 390). Die dritte Phase dauert in etwa von den 1980er Jahren bis ins Jahr 2000. 1980 beginnen deutliche Veränderungen in der Themenwahl und im Sprachgebrauch ihren Lauf zu nehmen. Autor_innen dieser Zeit sind Ugo Vesselizza, Maurizio Tremul, Roberto Dobran, Silvio Forza, Laura Marchig und Marco Apolloni. Ihnen folgen Marianna Jelicich, Giuseppe Trani, Carla Rotta und Aljoša Curavić. Auch die istrische ‚Troubadour-Lyrik‘ der Dichterin Vlada Acquavita muss hier erwähnt werden (Milani/ Dobran 2010b: 311-316; Zudič Antonič 2014: 390). Die letzte, postmoderne Phase fällt, sowohl was die Wahl der Themen als auch die Art des Schreibens betrifft, mit der Entwicklung der italienischen und europäischen Literatur der letzten Jahre zusammen. Unter den Autor_innen, die bereits für die vorhergehende Phase genannt wurden, sei besonders auf Aljoša Curavić, Carla Rotta, Marco Apollonio und Franco Juri verwiesen. Auch erschienen einige Anthologien italienischer Literatur aus Istrien. Darunter stechen die Zusammenstellungen von Bruno Maier und Alessandro Damiani hervor, die das literarische Schaffen in Istrien von den frühen Anfängen bis heute vorstellen. Zudem sind die analytisch messerscharfen Werke von Elis Deghenghi Olujić (2004, 2009, 2016) und Nelida Milani (2006) zu nennen. Ferner erschienen 2010 die von Nelida Milani und Roberto Dobran herausgegebene umfangreiche Monographie Le parole rimaste (Die Wörter, die noch blieben) über die Geschichte Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 219 der italienischen Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie 2014 die auf Slowenisch verfasste Monographie Zgodovina in antologija italijanske književnosti Kopra, Izole in Pirana (Geschichte und Anthologie der italienischen Literatur in Koper, Izola und Piran) von Nives Zudič Antonič. Charakteristika der zeitgenössischen italienischen Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht Soll die italienische Literatur Istriens und der Kvarner Bucht vorgestellt werden, muss nach ihren grundlegenden Eigenschaften und Schlüsselkonzepten, auf welchen ihre Schaffenskraft beruht, sowie den Verbindungslinien mit der italienischen, kroatischen und slowenischen Literatur gefragt werden. Man könnte sie als untrennbarer Bestandteil der italienischen Literatur behandeln, auch wenn sie sich außerhalb der italienischen Staatsgrenzen entfaltet. Die historisch unbeugsame italienische Literatur Istriens und der Kvarner Bucht markiert aber auch einen eigenen lebendigen soziokulturellen Raum, in dem sie ihr eigenes kulturelles Erbe bewahrt und entwickelt. Milani und Dobran (2010: 659) zufolge besitzt Letzteres „genug Kraft und Widerstandsfähigkeit, um Grenzen zu überschreiten und in einer regionalen Variante der italienischen Literatur seinen Ausdruck“ zu finden. Sie vertreten die Ansicht, dass die Literaten aus Istrien und der Kvarner Bucht aus der Perspektive der Sprachautonomie viel Reife sowie auf Ebene des inhaltlichen und künstlerischen Ausdrucks große Innovativität an den Tag gelegt hätten, weshalb sie in jeglicher Hinsicht zu den italienischen Literaten gezählt werden sollten. Die Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht ist aber ebenso eine Angelegenheit der Literaturgeschichte Kroatiens und Sloweniens, da sie auf dem Territorium der beiden Länder entsteht und mit ihnen die gemeinsame Zeitgeschichte teilt. Die italienische Literatur in Istrien und der Kvarner Bucht trägt so zur Vielfältigkeit und Originalität des literarischen Erbes beider Staaten bei und stimuliert damit ein größeres Verständnis für Diversität und eine positive Aufnahme kultureller Andersartigkeit in der Gesellschaft. Die Bewohner_innen dieses Gebiets treten in ein beziehungsreiches System an Identitäten ein, das von komplexen interethnischen Beziehungen geprägt ist. Diese fördern Offenheit gegenüber Angehörigen anderer Volksgruppen und stellen die Gleichberechtigung der verschiedenen Volksgruppen sicher. Obwohl wir von einer italienischen Literatur in Slowenien und Kroatien sprechen, drückt sich ebendiese nicht nur in der Erinnerung einer nationalen Gemeinschaft, einer Tradition und einer Kultur aus. Es handelt sich vielmehr um einen Eintritt in andere Welten, 220 Nives Zudič Antonič (Koper) eine Erkundung im Sinne eines Entflechtens, Verbindens und Untergliederns verschiedener Bereiche und Interessen (Milani/ Dobran 2010b: 657-665). Diese charakteristische Pluralität Istriens und der Kvarner Bucht verleiht diesem Gebiet eine bedeutsame und aktuelle Lage und stellt sie all jenen Regionen dieser Welt zur Seite, in welchen aufgrund historischer oder aktueller sozialer Ereignisse Konflikte entlang nationaler Bruchlinien aufflammen. Trotz ihrer Genese in einer bestimmten Region kann diese Literatur nicht als provinziell abgestempelt werden: Sie entspringt der Überzeugung, dass Universalität nicht etwas Abstraktes und Exemplarisches ist, sondern durch vertieftes Ergründen besonderer Verhältnisse zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum entsteht (Milani 2006: 10). Thematiken der zeitgenössischen italienischen Schriftsteller in Istrien und der Kvarner Bucht In Lyrik und Prosa der istrischen Autor_innen dominieren zunächst einmal Motive, die mit dem dramatischen Exodus der italienischsprachigen Bevölkerung nach 1945 zusammenhängen, einem Ereignis, das schon vielfach aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wurde und dessen erzählerischer Wert sich deshalb allmählich abgenutzt hat. In den Erzählungen der älteren Autor_innen steht zwar noch immer die Erinnerungsdimension im Vordergrund, die jüngeren Schriftsteller_innen hingegen versuchen sich von dieser Vergangenheit, die sie nicht selbst erlebt haben, zu distanzieren. Bei der allerjüngsten Autor_innengeneration verknüpfen sich traditionelle und phantastische Motive, wodurch eine neue Literatur dieser Region entsteht. Die Beziehung mit der traditionellen, zum Teil maritimen und zum Teil ländlichen Kultur wird zwar darin noch teilweise aufrechterhalten, konzentriert sich aber im größeren Maß auf aktuelle literarische Themen, die zeitgenössischen und europäischen Strömungen nahe stehen. Traditionellerweise sind einige junge istrische Schriftsteller_innen politisch engagiert. Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit fügen sie sich in den europäischen Raum ein und sind Teil jener westlichen Zivilisation, die auf die Exklusion und Gewalt gegenüber Minderheiten aus verschiedenen Milieus aufmerksam macht. Klar tritt bei ihnen die Absicht hervor, ein neues Gesellschaftskonzept zu gestalten, welches das Ende jener Nationalstaaten bedeuten würde, die bislang die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgaben. Der heutige Nationalstaat setzt sich neben der Mehrheitskultur aus einem Netz verschiedener Kulturen zusammen, die sich nicht zwangsläufig integrieren müssen. Die Angehörigen der verschiedenen Kulturen wollen nämlich gar nicht in der Mehrheitsbevölkerung aufgehen, sondern versuchen sich gegenseitig zu res- Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 221 pektieren, um auch selbst respektiert zu werden (Maier 1996: 122-124; Milani/ Dobran 2010b: 657-665; Zudič Antonič 2014: 389-391). Unter diesen Autor_innen ist eine Reihe jüngerer Lyriker_innen, deren Verse die mannigfaltigen Unsicherheiten auf der Suche nach dem Sinn des Lebens in einer chaotischen Welt offenbaren. Istrien wird von ihnen nicht als idyllische Landschaft aus Weingärten, Mandelbäumen, Möwen und Meeresrauschen dargestellt, sondern als Land porträtiert, in dem - wie in vielen anderen - das Recht des Stärkeren gilt. Die neuen Umgebungen sind urban, z. B. Kneipen, Kinosäle, Spielhallen oder Innenräume, in denen unbewusste Regungen gewaltsame Verhältnisse auslösen, auch wenn es um Erotik geht. In Ausschnitten folgt man Inszenierungen von Ereignissen auf ‚Kampffeldern‘. Es scheint, als ginge es um rohe Rituale altertümlicher Krieger, die der moderne Mensch noch nicht aus seiner Kultur zu verbannen vermochte. Ebenso aber etablierten sich auch Autoren und vor allem Autorinnen, die sich entlang traditionellerer Linien bewegen, durch die Poesie ihre eigenen Wurzeln entdecken und die Liebe zu ihrer Heimat besingen. Auch der Ruf nach einem klareren und realistischeren Blick auf die Welt ist manchmal Teil des zeitgenössischen postmodernen Bewusstseins. Dieses zweifelt an der Existenz von Harmonie auf dieser Welt, die wohl nur Mythos, Symbol, eine schwer erreichbare Katharsis, ein Talisman zu sein scheint, etwas was zwar beruhigt, aber wahrscheinlich nicht wirklich existiert. Einige Autor_innen versuchen auch mit Archivarbeit und philologischen Untersuchungen die im Aussterben begriffene sprachliche und kulturelle Tradition dieser Region zu bewahren und althergebrachte Mythen und Legenden wieder zum Leben zu erwecken. Damit begeistern sie ihre Leser für eine archaische Vergangenheit Istriens. Werden die frischen Wunden der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ausgeblendet, lässt sich eben ein wunderbares, noch unveröffentlichtes Porträt dieser Region zeichnen, das sich für weitere Untersuchungen anbietet (Milani/ Dobran 2010b: 657-665; Zudič Antonič 2014: 390). In den literarischen Werken aus Istrien und der Kvarner Bucht werden auch dramatische und stets aktuelle Themen wie Leben und Tod, Unendlichkeit, die Beziehung zwischen Werden und Gewissen, zwischen Individuum und großem Ganzen behandelt. Erinnerungen an die gewaltsame Abtrennung werden wachgerufen, an die Tragödie einer Volksgruppe, die sich in einem neuen politischen Kontext, einer radikal veränderten Umgebung wiederfindet, die durch die massenhafte Abwanderung von Italienern neuen Zuwanderern offensteht. Hieraus entspringt auch das existenzielle Unbehagen und die Suche nach neuen Sinnzusammenhängen für die eigene Existenz, die häufig sowohl von der Ursprungsals auch von der Aufnahmekultur weggeschoben wird. Italienischsprachige Autor_innen in Istrien und der Kvarner Bucht widmen demnach viele Seiten in ihren Werken der Schilderung persönlicher Erfahrungen und der 222 Nives Zudič Antonič (Koper) inneren Entfremdung jener „Menschen, die geblieben sind“. Immer wieder aufs Neue widmen sie sich den Themen persönliche Identität, Identitätskrisen, innere Konflikte, Spannungen zwischen den Generationen, Unverständnis, doppelte Identitäten und dem Festhalten an oder der Ablehnung von Tradition (Milani/ Dobran 2010b: 657-665). Zu Beginn des dritten Jahrtausends beschreitet nun eine neue Schriftsteller_innengeneration aus Istrien und der Kvarner Bucht alternative Wege des Verstehens und des literarischen Schaffens. Auf diese Art und Weise bilden sich gewissermaßen allgemeine Prinzipien heraus, die zwischen rückwärtsgewandter Literatur, Geschichte, Erinnerung, Exodus etc. und einer Literatur, wie sie von Anfang der 1990er Jahre bis in die Gegenwart geschrieben wird. Letztere entwickelte sich in sehr unsteten, von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen geprägten Zeiten. Sie kündigt eine neue literarische Ausrichtung an, eine Abkehr von der etablierten Praxis und den Übergang zu einer neuen Ausdruckssprache und neuen Thematiken. Diese Veränderungen führten zu einer außerordentlichen Heterogenität im künstlerischen Schaffen; eine Gruppe von Kunstschaffenden mit unterschiedlichster Ästhetik und einer großen thematischen Bandbreite betrat die Bühne. Einige dieser Kunstschaffenden folgen den Herausforderungen der zeitgenössischen Literatur, ihren dominanten Denkrichtungen und geistigen Schulen, dominierenden Stilen und deren sprachlichen Ausdruck. Andere, wie z. B. Marco Apollonio, Carla Rotta, Aljoša Curavić, Franco Juri und Vlada Acquavita, bahnen sich hingegen ganz autonom ihren Weg in die Kunstwelt. Sie sind sich der Bedeutung der eigenen Erfahrungen bewusst, nehmen diese stets als Ausgangspunkt ihres Schreibens und sind bei der Wahl von Stil und Genre frei. Sie lassen die ausgedienten Prinzipien der Vergangenheit hinter sich, schreiben in der Gegenwart und sind dabei fähig, ihre Vorstellungen in alternative Welten zu projizieren, ohne dabei aber ihren ganz persönlichen Stil und den eigenen sprachlichen Ausdruck zu verlieren. Jeder arbeitet auf seine ganz eigene Weise, doch sie alle wollen den Fährten nachspüren, die die Wirklichkeit freilegt. Auf diese konzeptuellen Kategorien richten sie ihre Überlegungen, um auf die in der Gesellschaft ablaufenden Veränderungen hinzuweisen (Milani 2006: 8-12; Milani/ Dobran 2010b: 311-316; Zudič Antonič 2014: 389-391). Mit den Werken von Vlada Acquavita hat sich ‚Frauenliteratur‘ in einer eher intimen und verinnerlichten Form, in der Abtrennung vom Selbst und in innovativen literarischen Modellen etabliert. Obwohl sie sich auf konzeptueller Ebene auf die entfernte Vergangenheit beruft, ist sie in ihrem lyrischen oder prosaischen Ausdruck ganz und gar modern. Ihre einzigartige Energie tritt dabei klar hervor, Vorrang haben Dialoge mit der Vergangenheit, romanische Troubadour-Literatur, altgriechische Lyrik und mittelalterliches christliches Schriftgut. Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 223 Vlada Acquavita konfrontiert uns mit einem geheimnisvollen Schaffen, mit intimer Lyrik voller rhetorischer Figuren, die mehr danach streben im Geheimen zu bleiben als enthüllt zu werden (Milani/ Dobran 2010b: 553-575). In der Prosa ist eine größere Vielfalt zu erkennen, vor allem in den Werken von Autor_innen, die der letzten bzw. postmodernen Phase zuzurechnen sind, wie z. B. Aljoša Curavić, Carla Rotta, Marco Apollonio und Franco Juri. Marco Apollonio gehört zu jener Gruppe von Schriftstellern, die Nelida Milani in ihrem Essay Generazioni a confronto su un percorso comune (Die Konfrontation der Generationen auf ihrem gemeinsamen Weg) als vierte Autorengeneration aus Istrien und der Kvarner Bucht bezeichnet, eine Generation, die nicht nur dem Alter, sondern auch dem Ausdruck nach „jünger“ ist. Sie setzt sich zusammen aus „neuen Namen, die mit frischer Kraft eine sowohl inhaltliche als auch sprachliche Erneuerung“ bringen und „aus verschiedenen kulturellen Positionen heraus eine Modernisierung unseres literarischen Schreibens versprechen“ (Milani 2006: 9). Von Apollonio stammen Erzählungen, Verse in Standardsprache und Mundart sowie die 1993 erschienene Breve antologia dello humor nero nella letteratura triestina del Novecento: Trieste a confronto con il Decadentismo europeo (Kurze Anthologie des schwarzen Humors in der triestinischen Literatur des 20. Jahrhunderts: Ein Vergleich zwischen Triest und der europäischen Dekadenz). In seinen Werken kreiert er psychologische und kulturelle Verwandlungen sowie neue Sinneswahrnehmungen, die die Gegenwart prägen und seiner Art des Schreibens inhärent sind, welches gleichzeitig eine narrative und existenzielle Erkundungstour ist. Sein literarisches Schaffen verbindet modernste literarische Erfahrungen mit Tradition. Es handelt sich um eine Art des Schreibens, mit der er sich mit den wesentlichen Problemen jedes künstlerischen Schaffensprozesses zu konfrontieren versucht, den Ausgangspunkt genau benennt und sich selbst, das Ziel des eigenen Schaffens und die eigene Erfahrung mit der Welt definiert (Milani/ Dobran 2010b: 369-394). Carla Rottas liebstes Genre ist die Erzählung; dennoch reichert sie das Panorama immer wieder mit neuen Elementen und Thematiken an, die zuvor noch nicht ausprobiert wurden bzw. nähert sie sich diesen aus einer anderen Perspektive an. Die Besonderheit ihrer Literatur ist das Beibehalten eines treibenden Rhythmus, das Bewahren einer ironischen und gleichzeitig herausfordernden Gleichgültigkeit, und vor allem ihr vortrefflicher, nüchterner sprachlicher Ausdruck, der beizeiten ausgelassen, fast schelmisch wirkt. Die Autorin behandelt in kurzen und exakten Texten Episoden des Alltags. Ihr Schreibstil ist sehr angenehm, durch die Freude am eigenen Ideenreichtum leicht aufgewühlt, hell, unberechenbar und modern. Sowohl ihre längeren als auch ihre kürzeren Erzählungen, von einem Humor besonders weiblicher, einfühlsamer Art gekennzeichnet, ermöglichen Vergleiche mit kleinen und gleichzeitig auch großen existenziellen 224 Nives Zudič Antonič (Koper) Tragödien sowie mit weniger dramatischen und entspannteren Momenten. Es handelt sich um eine moderne Darstellung von Weiblichkeit, einmal kryptisch, einmal transparent und poetisch. Die Autorin erzählt mit minutiöser Subtilität von den Ängsten, der Schüchternheit, vom Hoffen und Lieben einer jungen Frau. In ihren Erzählungen stellt sie mit viel Liebe zum Detail die Rastlosigkeit des Lebens in einer Reihe von Situationen und Variationen vor, experimentiert, führt auf ungezwungene Weise, in sanfter und direkter Manier Neuheiten im sprachlichen Ausdruck ein, benutzt die Technik des Bewusstseinsstroms und nimmt Zuflucht im inneren Monolog (Milani/ Dobran 2010b: 577-584). Aljoša Curavić wählt für seine Romane Themen mit Bezug zur aktuellen Wirklichkeit, zu zeitgenössischen Erfahrungswelten, Unstimmigkeiten, zum Himmel schreienden Bitternissen und zu Wandlungen und Gegensätzen der modernen Gesellschaft. In seinem 2003 erschienenen Erstlingswerk Sindrome da frontiera: I ricordi di uno sconosciuto (Das Grenzsyndrom: Erinnerungen eines Unbekannten) erzählt Curavić in Form einer tagebuchartigen Erzählung von der Krisenzeit am Balkan, ethnischen Säuberungen, Massenvertreibungen und der Suche nach Frieden. Auch auf seinem weiteren Weg als Schriftsteller bleibt die Darstellung von Gewalt eine Konstante, weshalb er beim Genre Kriminalroman bzw. Roman noir Zuflucht nimmt (bei Letzterem wird die Handlung aus der Sicht des Verbrechers dargestellt). In beiden Fällen sticht seine besondere Sprache hervor. In seinen Werken gibt es kein Kapitel, in dem nicht eine überraschende Wendung, eine Überraschung, Gewalt oder intensive Dialoge vorkämen. Die Spannung wird stets gehalten, ohne dem Leser eine Verschnaufpause zu gönnen. Auch sein Kriminalroman A occhi spenti (Mit geschlossenen Augen, 2010) ist von einem flotten Erzählrhythmus geprägt. Der Autor blickt darin mittels Reflexionen und psychologischer Introspektion in tiefe Abgründe und verborgene Logiken, drückt eine besondere Neigung zu starken Gefühlen aus, schafft eine raffinierte Handlung, entwickelt die Geschichte mit adrenalingetränkter Schnelligkeit und sorgt für überraschende Wendungen, welche die Aufmerksamkeit der Leser nie erlahmen lassen (Milani 2010: 2). In seinen Werken wird die Gesellschaft so porträtiert, wie sie in Wirklichkeit ist, ohne Täuschung und beschönigende Filter. Dabei ist es ihm wichtig, dem Leser die Möglichkeit zu geben, verschiedene widersprüchliche Reize und Ängste in der modernen Gesellschaft zu spüren, in welcher es - allem Anschein nach - keine Orientierungshilfen mehr gibt, um ein Fundament für die persönliche Entwicklung des Individuums zu bauen. Der Roman Ritorno a Las Hurdes. Guerre, amori, cicogne nere e istriani lontani (Rückkehr nach Las Hurdes: Kriege, Lieben, schwarze Störche und weit entfernte Istrianer, 2008) von Franco Juri ist ein Beispiel für eine sehr spontane und bunte Autobiographie, die zu einem „Wenderoman“ wurde (Milani/ Dobran Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 225 2010: 551). Zwei Elemente prägen Juris literarisches Werk entscheidend: Zum einen ist da die kritisch moralisch-politische Natur seiner Autobiographie, zum anderen eine Reihe an Themen, die seit dem Zerfall Jugoslawiens eine wichtige Spannungslinie zwischen Slowenien und Kroatien darstellt. Der Roman ist, wie Nelida Milani (2008: 3) im Vorwort schreibt, „die Biographie jener Generation, die ihre eigenen Träume begraben hat; die, wenn auch nur am Rande des Abgrundes, in Anbetracht von Vergangenheit und Zukunft sprachlos und von der abscheulichen, jegliche Leidenschaft abtötenden Gegenwart erniedrigt, lebt“. Der Roman ist Zeugnis unserer Zeit, beschäftigt sich mit Istrien und dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, der Selbstständigkeitswerdung Sloweniens, der Gründung der geheimen paramilitärischen italienischen Organisation Gladio , und bewegt sich zwischen Spanien und Chile. Thematisiert wird auch der Kampf gegen den Faschismus, der Verfall des Sozialismus und einer Welt, die es nicht mehr gibt. Der Protagonist des Romans ist Cesco, das Alter Ego des Autors, der von seinen Erlebnissen und der Gegenwart und Geschichte eines kleinen Gebietes erzählt, das sich über ein Dreiländereck erstreckt und zumindest drei verschiedene Kulturen miteinander verbindet. Außer eigenen Abenteuern und Erfahrungen behandelt der Autor noch viele andere Themen: die Geschichte seines Vaters, eines Angehörigen der Garibaldi-Brigaden - einer italienischen Partisanentruppe -, der nach dem Krieg aus Friaul nach Koper übersiedelte, die Geschichte des Exodus der Italiener aus Istrien, Geschichten von Menschen auf beiden Seiten der Grenze, Geschichten von Freunden und anderen Personen aus Spanien. Zudem porträtiert er die sehr schöne, heute leider vergessene und arme Gegend Las Hurdes in der spanischen Region Estremadura (Zudič Antonič 2014: 482). Juri analysiert in seinem Werk Geschehnisse in Raum und Zeit. Die Dimension des Raumes kommt in der Bewegung zwischen verschiedenen Gegenden zum Ausdruck, die zeitliche Dimension durch Veränderungen, die das Leben mit sich bringt. Die Beschreibung der Ereignisse ist voll von geistreichem Humor, der in den Verstrickungen aus Abenteuern und Erinnerungen seinen Höhepunkt findet. Mit diesem Roman will Juri vor allem die Bedeutung von Selbstreflexion für das literarische Feld betonen. Worte sind in diesem Fall das Mittel, um die eigene Persönlichkeit zu ergründen, aber ebenso Mittel der Verständigung und der Interpretation der Welt, eine Brücke, die den Übergang zwischen einer Person zu den Dingen ermöglicht (Milani/ Dobran 2010b: 597-603). Mit einem analytischen Blick auf die einzelnen Autoren aus Istrien und der Kvarner Bucht aus diesem Zeitraum kann festgestellt werden, dass alle hier behandelten Schriftsteller und Schriftstellerinnen etwas gemeinsam haben: Sie sind sich der Veränderungen der realen und existenziellen Umgebung bewusst und bezeichnen das Ende eines historischen Zyklus. Alle diese Autoren haben 226 Nives Zudič Antonič (Koper) sich endgültig von der Idee einer möglichen größeren Wende auf globaler Ebene verabschiedet, die auf die Existenz des Einzelnen Einfluss nehmen könnte. Literarische Mehrsprachigkeit und Multikulturalität in der italienischsprachigen Literatur Istriens Istrien war von jeher ein Grenzgebiet, in dem es nicht möglich ist, eine klare Trennlinie zwischen den hier lebenden Slowen_innen, Italiener_innen und Kroat_innen zu ziehen. Diese Besonderheit findet ihren Widerhall auch in der Literatur: Viele italienischsprachige Autor_innen aus Istrien und der Kvarner Bucht schreiben in ihrer Muttersprache, die entweder eine umgangssprachliche Standardvarietät des Italienischen oder einer der hier zahlreich vorhandenen (istrovenezianischen oder istroromanischen) Dialekte sein kann, zeitweise aber ebenso in den Sprachen der anderen Volksgruppen. Noch eine Besonderheit ist für sie charakteristisch: In ihren italienischsprachigen Texten begegnet man häufig dialektalen Ausdrücken aus allen drei Sprachen. Manchmal trifft man sogar auf Lehnwörter aus dem Slowenischen, Kroatischen oder einer anderen Sprache. Dieses Ineinander-Übergehen und Verstricken von Ausdrücken aus mehreren Sprachen ist typisch für nahezu alle nach dem Zweiten Weltkrieg tätigen Autor_innen aus Istrien und der Kvarner Bucht. Auch bei den jüngeren Schriftsteller_innen, die sich erst in den letzten Jahren etabliert haben, kann man dies beobachten. Mehrheitlich aber schreiben die italienischsprachigen Literat_innen in ihrer Mutterbzw. Erstsprache. Die Unione italiana für Istrien und Rijeka - die zentrale Vertretungsorganisation der Italiener in Slowenien und Kroatien - sorgt für Übersetzungen der repräsentativsten Werke aus diesem Gebiet. Die Arbeiten einiger zeitgenössischer Autoren, z. B. von Marco Apollonio und Aljoša Curavič wurden auch schon von slowenischen Verlagen in Übersetzungen herausgegeben. Wenn von literarischer Mehrsprachigkeit die Rede ist, muss auch der Dramentext Esodo (Exodus) von Diego Runko Erwähnung finden, der sich in vier Sprachen - Italienisch bzw. im istrovenezianischen Dialekt, Slowenisch, Kroatisch und Englisch - präsentiert. Esodo stellt die tragischen Ereignisse in der italienischen Diaspora in Istrien nach 1943 dar. Runko schildert die unklaren, nebulösen Ereignisse, beschreibt Opfer und Täter, Racheaktionen und Massaker. Runko, 3 selbst Istrianer und eine Persönlichkeit verschiedener Sprachen und Kulturen, kommt auf mindestens vier verschiedene Nationalitäten, wenn er 3 Diego Runko ist Schauspieler, Dramatiker und Regisseur. Er wurde 1981 in Ljubljana geboren und lebt in Pula. Studienabschlüsse erlangte er in moderner italienischer Literatur und dem Schreiben von Dramentexten auf der katholischen Universität in Mailand. Er ist Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 227 sich in die Geschichte seiner Familie vertieft. Im Unterschied zu vielen anderen Angehörigen der italienischen Volksgruppe in Istrien wanderte seine Familie nicht nach Italien aus. Auch heute noch lebt er immer wieder für längere Zeit in Istrien. Im Drama Esodo inszeniert Runko Geschichten, die ihm sein Großvater Rudi, der Protagonist des Dramas, erzählte, als er ein Kind war. Rudi hat seinen Heimatort niemals verlassen, sah aber viele Menschen, die auf dem Dampfschiff Toscana Richtung Italien ausliefen. Er entschließt sich, einem zehnjährigen Istrianer seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dabei handelt es sich um eine phantastische, unmögliche Geschichte, in der Mücken, Bomben, Schiffe und Alida Valli, die berühmte in Pula geborene italienische Schauspielerin, vorkommen. Während sich Rudis Leben mittels Anekdoten aus einer Phantasiewelt entspinnt, in denen auch andere berühmte Persönlichkeiten vorkommen, z. B. Tito und der Sänger Sergio Endrigo, verläuft die Handlung des Dramas mit anderen Charakteren und in anderen Sprachen rückwärts gerichtet. So treffen wir auf einen Soldaten, einen Liverpool-Fan, der Englisch spricht. Kroatisch hören wir im Gespräch mit einem lokalen Journalisten, ein gewisser Don Željko verständigt sich hingegen auf Slowenisch. All diese Persönlichkeiten nähern sich unbewusst einander an. Sie treffen sich in einer Sprache, die sie nicht beherrschen, und zwar im Dialekt von Gildo aus Pula. Dieser fischt, von Stechmücken geplagt, gerade mit Sprengstoff, als er eine große Explosion am Strand erlebt. Es ist der 18. August 1946, als es am Strand Vergarola/ Vergarolla in Pula zu einem Massaker kam und der Exodus, die massenhafte Auswanderung Angehöriger der italienischen Volksgruppe aus Istrien und der Kvarner Bucht, begann. Runkos Dramentext wurde mit dessen Unterstützung vom Regisseur Marco Di Stefano und der Dramaturgin Chiara Boscaro bearbeitet. Sie entwarfen eine Neuinszenierung unter dem Titel Esodo pentateuco#2 , 4 in der die Hauptfiguren noch weiter ausgebaut und die Handlungen und Themen von Runkos ursprünglicher Version vertieft wurden (Sardelli 2015). 5 Mitglied der Theatergruppe La Confraternita del Chianti. Seine Schauspielerausbildung erhielt er in Mailand an der Scuola di Teatri Possibili. 4 Dabei handelt es sich um ein Projekt mit fünf Monologen, fünf Schauspielern, fünf internationalen Partnern (und einem Italiener) und fünf Auswanderungsgeschichten. Ausgangspunkt der Thematik sind die ersten fünf Bücher der Bibel. Der Text Esodo pentateuco#2 ist Teil des zweiten Kapitels dieses Projekts. 5 Ihre Premiere feierte diese Inszenierung zwischen 18. und 21. November 2015 im Verdi-Theater in Mailand. Ihre internationale Erstaufführung erlebte sie am 10. Februar in Rijeka in Zusammenarbeit mit dem Dramma italiano di Fiume , dem Theater der italienischen Minderheit Istriens, das unter dem Dach des Kroatischen Nationaltheaters Ivan Zajc operiert. Dabei handelt es sich um das einzige dauerhaft betriebene italienischsprachige Theater außerhalb Italiens. 228 Nives Zudič Antonič (Koper) Esodo ist zwar eine persönliche, gleichzeitig aber auch universelle Geschichte. Sie erzählt von den Ereignissen in einem Grenzgebiet innerhalb einer Zeitspanne, welche die Leben zweier Männer (Großvater und Enkel) mit einem Abstand von 40 Jahren umschließt. Runko hat sich auf diesen Text sehr gut vorbereitet, unterschiedlichste Quellen studiert und nimmt als Ausgangspunkt seine eigenen Erfahrungen und jene seiner Familie. Die Geschichte, die er uns präsentiert, ist anziehend und unterhaltsam; bisweilen auch etwas rührselig. Ihr Wert liegt in der originellen Darstellung Istriens, seiner Bewohner und der Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert ohne ideologische Filter und in der teilweisen Rekonstruktion der Nachkriegszeitgeschehnisse. Diego Runko versteht es meisterhaft, die Protagonisten, jeden mit seiner Sprache, seinem Teil der Wahrheit und seiner Geschichte darzustellen. Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck, dass man gleichzeitig durch ein Familienalbum und einen Abenteuerroman blättert (Corini 2015). Fazit Die Literatur der italienischen Volksgruppe in Istrien und der Kvarner Bucht ist aufgrund der unglücklichen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts existenziell notwendig und das Fundament für das Überleben der Volksgruppe. Eine Minderheit braucht nämlich die unerlässliche Stütze der Kultur. Literatur, Theater und Lyrik sind ausgezeichnete Mittel, um ihren Fortbestand zu sichern. Trotz ihrer zahlenmäßigen Kleinheit, ihrer geographischen Zersplitterung sowie sozialer und politischer Probleme ist es der Volksgruppe gelungen, ihre Kultur und insbesondere Literatur zum Signum nationaler Identität zu machen. Literatur ist nicht bloß eine künstlerische Tätigkeit, sie ist auch helfende und heilende Praxis gegen die Unvorhersehbarkeiten des Lebens, treibende existentielle Kraft und Stütze einer oftmals angegriffenen Identität. Gerade aus diesem Grund haben sich viele Autoren der italienischen Volksgruppe dazu entschlossen, außer in der italienischen Schriftsprache auch in ihrer Mundart zu schreiben, die sie selbst als ihre Muttersprache begreifen. Sie verwenden zwar die Standardvarietät des Italienischen, mischen aber häufig auch einzelne Ausdrücke aus anderen Sprachen unter. Auch Runkos Dramentext bezieht andere Sprachen mit ein, jeder Protagonist stellt seine eigene Geschichte in seiner Sprache dar, womit gewissermaßen jener sprachliche Schmelztiegel porträtiert wird, der sich aus dem Pula der Nachkriegszeit bis zum heutigen Tag erhalten hat. Dieses Beispiel literarischen Schaffens kann auch als Ansporn und Impetus für junge Schriftsteller_innen aus Istrien und der Kvarner Bucht gesehen werden, die sich in mehreren Sprachen auszudrücken verstehen. (Aus dem Slowenischen von Karin Almasy) Zeitgenössische Literatur der italienischen Minderheit in Istrien 229 Literaturverzeichnis Apollonio, Marco (1993). Breve antologia dello humor nero nella letteratura triestina del Novecento: Trieste a confronto con il Decadentismo europeo. Firenze: Atheneum. Corini, Alessio, (2015). Esodo: Una storia istriana. Abrufbar unter: www.milanofree. it/ 201511206791/ milano/ teatro/ esodo_una_storia_istriana.html (Stand: 20/ 06/ 2018) Curavić, Aljoša (2003). Sindrome da frontiera: I ricordi di uno sconosciuto. Firenze: MEF. Curavić, Aljoša (2010). A occhi spenti. Rijeka: Edit. Damiani, Alessandro (1997). La cultura degli italiani dellʼIstria e di Fiume. Rovinj: Centro di ricerche storiche. Deghenghi Olujić, Elis (2004). La forza della fragilità: La scrittura femminile nellʼarea istro-quarnerina: Aspetti, sviluppi critici e prospettive. Rijeka: Edit. Deghenghi Olujić, Elis (2009). La letteratura degli Italiani di Croazia e Slovenia: Un patrimonio di valori etici ed estetici nellʼEuropa delle tante culture. In: Da Rif, Maria (Hrsg.). Civiltà italiana e geografie d’Europa. Trieste: Edizioni Università di Trieste, 229-233. Deghenghi Olujić, Elis (2016). Nuove geografie letterarie nellʼItalia del XXI secolo: La letteratura degli italiani dellʼIstria e di Fiume dal 1945 a oggi: Una realtà da includere nella contemporanea storia della letteratura italiana. In: Contarini, Silvia/ Marras, Margherita (Hrsg.). Nuove (e vecchie) geografie nellʼItalia del XXI secolo. Firenze: Franco Cesati Editore, 101-109. Juri, Franco (2008). Ritorno a Las Hurdes: Guerre, amori, cicogne nere e istriani lontani. Formigine (MO): Infinito. Maier, Bruno (1996). La letteratura italiana dellʼIstria dalle origini al Novecento. Trieste: Italo Svevo. Milani Kruljac, Nelida (2010). Introduzione. In: Milani, Nelida/ Dobran, Roberto (Hrsg.). Le parole rimaste: Storia della letteratura italiana dellʼIstria e del Quarnero nel secondo Novecento, volume I. Rijeka: Edit, 17-45. Milani, Nelida (2006). Generazioni a confronto su un percorso comune. Panorama 9: 2, 8-12. Milani, Nelida (2008). Prefazione. In: Juri, Franco. Ritorno a Las Hurdes: Guerre, amori, cicogne nere e istriani lontani. Formigine (MO): Infinito, 3. Milani, Nelida (2010). Prefazione. In: Curavić, Aljoša. A occhi spenti. Rijeka: Edit, 2. Milani, Nelida/ Dobran, Roberto (Hrsg.) (2010a). Le parole rimaste: Storia della letteratura italiana dellʼIstria e del Quarnero nel secondo Novecento, volume I. Rijeka: Edit. Milani, Nelida/ Dobran, Roberto (Hrsg.) (2010b). Le parole rimaste: Storia della letteratura italiana dellʼIstria e del Quarnero nel secondo Novecento, volume II. Rijeka: Edit. Sardelli, Vincenzo (2015). Pentateuco 2: La confraternita del Chianti e lʼesodo istriano. Abrufbar unter: www.klpteatro.it/ pentateuco-2-la-confraternita-del-chianti-e-lesodo-istriano (Stand: 28/ 06/ 2018) 230 Nives Zudič Antonič (Koper) Tomizza, Fulvio (1984). Il male viene dal nord. Milano: Mondadori. Tomizza, Fulvio (1988). Das Böse kommt vom Norden: Die Geschichte des Pier Paolo Vergerio - Bischof, Ketzer, Reformator. Übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Köln: Kiepenheuer u. Witsch. Zudič Antonič, Nives (2014). Zgodovina in antologija italijanske književnosti Kopra, Izole in Pirana. Koper: Italijanska unija. Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region Johann Strutz (Klagenfurt) Abstract: This exposition is based on the framework of my habilitation theses Regionalität und Interkulturalität. Prolegomena zu einer literarischen Komparatistik der Alpen-Adria-Region , submitted in 2004 at the University of Klagenfurt. It proceeds from the concept of multilingual and multicultural societies and literatures of the Alps-Adriatic region and the emergence of multilingual centres as preconditions for the evolution of pluricultural identities, on both the urban and the regional level (Trieste and Istria). Thus, the Croatian counterpart to Fulvio Tomizza is the poet, prosaist and translator of Tomizza’s novels into Croatian, Milan Rakovac, the two authors having in common the two sides of ‘greater Istria’, the interior, rural one of mainland Istria, where Tomizza spent his holidays writing, and the urban one, where he finished his books. Moreover, for Rakovac the term ‘Triestin’ stands as a synonym for anyone not having their origins in the region, but still trying to interfere in Istrian matters from the corresponding urban centres (Klagenfurt/ Celovec, Ljubljana, Trieste/ Trst, Zagreb). Finally, the Carinthian poet Jani Oswald, completing the triad, is using all possibilities of regional multilingualism as metalingualism, as well the Istrian. Keywords: regional literatures, ‘small literatures’, plurilingualism, linguistic polyphony, Alps-Adriatic region 1 Die konkrete Voraussetzung: das biographische Dazwischen Im Folgenden geht es mir um einige bisher nicht formulierte oder zu kurz gekommene Voraussetzungen meiner Arbeit. Meine Überlegungen stehen unter dem Begriff des Sprachspiels, der in meiner Arbeit öfter vorkommt (Strutz 2000, 2006, 2007). Ich orientiere mich allerdings nur ungefähr an Wittgensteins Sprachspiel-Begriff, wie er in den Philosophischen Untersuchungen entwickelt 232 Johann Strutz (Klagenfurt) wird, und beziehe auch ludistische, stilistische und rhetorische Elemente ein. Weiters versuche ich den Begriff durch den Zusatz ‚regional‘ bzw. ‚interregional‘ in meinen komparatistischen Ansatz zu integrieren. Während Wittgensteins Modell einem alltagssprachlichen Konzept verpflichtet ist - ähnlich wie Raymond Williams’ Maxime „culture is ordinary“ -, bringen die Literarisierungen des regionalen Sprachspiels darüber hinaus ein dialogisches Moment ein. Eine Voraussetzung für meine Arbeit, und damit auch für den regionalen Schwerpunkt der Klagenfurter Komparatistik, hängt mit einer biographischen Konstellation zusammen, wie sie nur im Südkärntner Umfeld entstehen konnte: dem Spannungsverhältnis von zweisprachiger Region, Politik und Gesellschaft. Mit zunehmendem Wissen über meine regionale und zugleich transregionale Perspektive wurde die soziale und kulturelle Mehrsprachigkeit der Region zum Movens meiner Arbeiten. So verbindet sich mit dem literaturwissenschaftlichen auch ein sozialwissenschaftliches Interesse an den Funktionsmechanismen kultureller Praktiken. Ich komme aus einem Südkärntner Dorf, das vor relativ kurzer Zeit - zwei Generationen, fünfzig Jahre ist es her - noch quasi zweisprachig erschien: ein kleinerer, in sozialer Hinsicht nicht unwichtiger Teil der Bevölkerung bevorzugte oder verwendete vorwiegend die slowenische Umgangssprache (in vielen Südkärntner Dörfern war die Sprachsituation ähnlich). Ganz erklärlich ist mir der weitere Verlauf noch heute nicht. Wie konnte es geschehen, dass sich innerhalb eines Jahrzehnts - zwischen Anfang der 1960er und Anfang der 1970er Jahre - ein Umschlag vollzog? Aus dem ‚alten‘ slowenischen Dorf wurde in der Öffentlichkeit eine nach außen großenteils deutschsprachige Ortschaft. Das Slowenische verlor in dem einen Jahrzehnt viel an Geltung und sozialem Prestige und zog sich überwiegend in die private und familiäre Sphäre zurück. Komplementär dazu wurde der Gebrauch des Slowenischen in der Öffentlichkeit mit Ausgrenzung und sozialer Diskriminierung geahndet. Dass das lokale Slowenisch bei einem großen Teil der älteren Bevölkerung im Abseits als ‚private‘ Sprache der Erinnerung und der Reflexion weiterbestand, macht sich bis heute immer wieder in Selbstgesprächen oder in einzelnen spontanen Äußerungen auch bei jenen bemerkbar, die es sonst in der Öffentlichkeit vermeiden. Der Sprachtod hatte viele Ursachen. Zwei entscheidende Momente waren es jedoch, die den Wechsel begünstigten. Der eine Faktor ist mediengeschichtlicher Art und mit dem Einzug des Fernsehens ab Mitte der 1950er Jahre verbunden. Das zweite Moment, historisch gesehen kam es zuerst, ist der spätestens seit dem Plebiszit von 1920 und vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus prekär gewordene Status des Slowenischen in Kärnten bis hin zum Sprachverbot in der NS-Zeit. Welche Gefahr damals mit dem öffentlichen Gebrauch des Slowenischen verbunden war, beweisen nicht nur die Aussiedlungen und Deportationen Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 233 zahlreicher Familien oder ‚Bestrafungen‘ anderer Art. Die daraus resultierende Stigmatisierung und Traumatisierung der Bevölkerung war noch lange nach 1945 erkennbar, wenn etwa noch in den 1970er und 1980er Jahren in Gegenwart von bestimmten Leuten oder beim Auftauchen von Fremden die Sprache gewechselt wurde. In solchen Situationen bewirkte oft erst der Kommentar ‚šta je naš‘ - das ist einer von uns, ein Unsriger -, dass die Gruppe wieder zum Slowenischen zurückkehrte. Seit etwa zwei Jahrzehnten lockert sich dieses Verhalten, und Code-Switching wird nun oft zum Spiel. Ähnlich wie in Südkärnten war die Situation auch in anderen Gebieten des Alpen-Adria-Raums, wie etwa in Triest oder in Istrien, wobei - wie sich zeigen lässt - der Ausgang sehr unterschiedlich sein konnte. Dem Theoretiker und Ideologen des Triestiner Irredentismus, Ruggero Timeus Fauro (1892-1915) stellte sich das Problem folgendermaßen: Soll man sich für einen Kampf zwischen den Nationen und den Nationalstaaten oder für den Klassenkampf entscheiden? Konkret: Soll die italienische Bevölkerung in Österreich gegen das als deutsch empfundene Wien, gegen die Slowenen in Triest und im Küstenland, gegen die Kroaten in Istrien, Fiume und Dalmatien kämpfen oder auf die proletarische Revolution warten? Timeus gibt zwar zu, dass der italienische Arbeiter, auch der Triestiner, andere Interessen habe als der italienische Bürger, im Vordergrund müsse aber immer das Interesse der Nation stehen, nicht jenes der Klasse (Timeus 1929: 152). 2 Literatur und Sprache als ausgrenzende und als integrierende Faktoren Ein kulturpolitisches Programm, das eine in sprachlicher Hinsicht ausschließende, ausgrenzende Funktion hat, etwa nach dem Prinzip ‚eine Sprache, ein Land, eine Nation‘, muss zwangsläufig auch eine integrierende Funktion haben, im Sinne einer inneren Homogenisierung. Nach außen wird abgegrenzt, nach innen homogenisiert, gleichgeschaltet, nivelliert, indem die sprachliche Situation eines bestimmten Territoriums vereinheitlicht wird. Grundsätzlich galt in diesen Fällen, dass fremdsprachige Elemente in einem bestimmten Territorium diskriminiert, reduziert, eingeschränkt, ausgegrenzt und verboten oder kolonialisiert und assimiliert werden. Die politischen Regeln und Forderungen, nach denen dies geschieht, sind bekannt: in Kärnten etwa das Sprachverbot in der Zeit des Nationalsozialismus, im Dorf beispielsweise die warnende Aufforderung ‚sprich deutsch! ‘ oder der gar nicht so alte politische Slogan ‚Der Kärntner spricht deutsch! ‘. Ähnlich war es im Soča-Tal, wenn der Publizist Andrej Gabršček in seiner Chronik Goriški Slovenci von einem Vorfall am Görzer 234 Johann Strutz (Klagenfurt) Kreisgericht (okrožno sodišče) aus dem Jahr 1896 berichtet, als er vom Vorsitzenden zu hören bekommt: „Le proibisco di parlare in lingua slovena! (Prepovedujem Vam govoriti slovenski)“ (Gabršček 1932: 401) (Ich verbiete Ihnen Slowenisch zu sprechen). Ein recht rigides nationalitätenpolitisches Konzept wurde auch von Scipio Slataper unterstützt: Assimilierung der Slowenen und Kroaten, zwar nicht auf forcierte Weise, sondern eventuell über einen langen Zeitraum. Slataper dachte an sechs Maßnahmen: 1. Vom ersten Tag an jede politische Bewegung zu verhindern, 2. Italienischunterricht in den slowenischen und kroatischen Schulen, 3. Zurückdrängung des slowenischen und kroatischen Bürgertums, damit die Bauern ohne Führungsschicht blieben, 4. italienische Einwanderungspolitik, 5. Anschluss der Gebiete an das italienische Wirtschaftssystem, 6. Kontrolle der wenigen slowenischen und kroatischen Irredentisten. Diese Situation war allerdings nur eine Vorstufe zu noch härteren Maßnahmen in der Zeit des Faschismus. Im Juli 1920 erfolgte in Triest ein Brandanschlag auf den Narodni dom, das Kulturhaus mit dem Sitz der städtischen slowenischen Organisationen, durch faschistische und nationalistische Demonstranten. Ein Gedicht des Triestiner Slowenen Miroslav Košuta bringt die Ausgrenzung exemplarisch zum Ausdruck. Ich möchte es deshalb zusammen mit der Übersetzung von Klaus Detlef Olof zitieren: 1 Ta Trst Dieses Triest Ta Trst je kot mesto na robu sveta. Obreden in star gre pod stojnico hiš, na grla kakor na flavte igra, ko mu v srebrnino obraze loviš. Triest, diese Stadt wie am Rande der Welt, geht förmlich und alt auf den Häusermarkt und spielt auf den Kehlen ein Flötenkonzert, wenn ihr ihm Gesichter mit Silberglanz fangt. 1 Die Übersetzung von Klaus-Detlef Olof erschien in der Anthologie Na zeleni strehi vetra / Auf dem Grünen Dach des Windes (Neuhäuser/ Olof/ Paternu 1980: 146). Cesarsko odpada nekdanji sijaj. Po ulicah ladje na vetru drse. Kot ženska odpira se na stežaj. Grenkejši ko pelin so mrtvi ljudje. Der Glanz von einst fällt, fällt kaiserlich ab, die Gassen entlang gleiten Schiffe im Wind. Es öffnet sich wie eine Frau angelweit. Viel bittrer als Wermut die Toten noch sind. Opasan z jeziki, ki pesmi pojo, pijan od požara in strog od soli, okraden za jutri, ob čast in nebo - ta Trst je kot vera, ki ne dogori. Gegürtet mit Sprachen und ihrem Gesang, betrunken von Bränden, von salziger Gischt, ums Morgen, um Himmel und Würde gebracht Triest - wie ein Glaube, der niemals verlischt. (Deutsch von Klaus Detlef Olof) Es ist eine schöne Übersetzung, die das Original auch in metrischer und rhythmischer Hinsicht wiederzugeben vermag. Wer sich mit Übersetzungsfragen beschäftigt, wird jedoch sogleich auch die zweite Hälfte des Satzes mitdenken, wonach die schönen Übersetzungen nicht immer die treuesten sind bzw. sein können. Dies zeigt sich besonders im zweiten Vers der letzten Strophe, wo die Übersetzung aus metrischen Gründen den Plural verwendet „betrunken von Bränden“, während das Original nur von einem Brand spricht: „pijan od požara“ - „trunken vom Brand“ wäre die wörtliche Übersetzung. Und damit wird auch klar, welcher Brand gemeint ist: der Anschlag auf das Slowenische Kulturhaus (Narodni dom) in Triest, Sitz der städtischen slowenischen Organisationen, durch faschistische und nationalistische Demonstranten im Juli 1920. Damit lässt sich auch die erste Zeile der dritten Strophe bestimmen: „Opasan z jeziki“ - „Gegürtet mit Sprachen“ - weist konkret auf die beiden konkurrierenden Sprachkulturen hin: die italienische auf der einen Seite, die sich und ihre Italianität abschottet, sich sozusagen mit ihrer Sprache gürtet, und die slowenische auf der anderen Seite, die nach Ansicht der italienischen Nationalisten von außen auf die Stadt drängt, sie umzingelt. Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 235 236 Johann Strutz (Klagenfurt) 3 Textkorpus Eine vollständige Darstellung der verschiedenen Sprachkulturen der Alpen- Adria-Region würde im Bereich der slowenischen Literaturregionen die relativ isolierte Kultur des Resia-Tales berücksichtigen. Sie würde auch die slowenische Kultur der Umgebung von Udine (slow. Videm) in die Betrachtung einbeziehen. Diese Teilregion wird oder wurde slowenisch als Benečija, Beneška Slovenija oder Slavia Veneta und Slavia Italiana, manchmal auch als Slavia Friulana bzw. Furlanska Slavija bezeichnet. Eine slowenische Literatur existiert hier sozusagen nur in rudimentärer oder residualer Form. Im Unterschied zu den Triestiner und Görzer Slowenen kam die Slavia Veneta bereits im Jahre 1866 zu Italien und war dadurch von den weiteren Entwicklungen und schulischen Möglichkeiten der anderen Regionen abgeschnitten. Die resianische Literatur gehört mit Vorbehalt zu den ‚Kulturen ohne Literatur‘ - hierher gehören auch die istrorumänische und die istriotische Kultur und der ‚slowenische‘, auf Italienisch schreibende Autor Roman Furlani, der u. a. den Roman L’ultima valle (1981) verfasst hat, in dem die orale slowenische Alltagskultur dieser westlichsten slowenischen Sprachregion vorgestellt wird. Die resianische Literatur verfügt nämlich insgesamt nur über wenige selbstständige literarische Veröffentlichungen, wenn man vom bekanntesten Lyriker, Renato Quaglia, absieht. 2 Auch hinsichtlich der beiden slawischen Literaturen in Istrien - der kroatischen und der slowenischen - sind einige klärende Worte nötig, denn gerade hinsichtlich der linguistischen Polyphonie und Dialogizität im Sinne von Bachtin unterscheiden sich die beiden istro-slawischen Literaturen besonders durch ihre interregionale Mehrsprachigkeit voneinander. Die istro-kroatische Literatur kann auf eine lange, bis ins Mittelalter gehende, reich dokumentierte Tradition zurückblicken, wenn auch nicht in dem heute standardmäßigen Idiom des Štokavischen, sondern in dem nun als Dialekt bezeichneten Čakavischen, das vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert als überregionale Literatursprache fungierte, ehe es vom Štokavischen abgelöst wurde. Wie sich an verschiedenen Texten zeigen lässt, erschien das Čakavische auch für die slowenische Bevölkerung als praktikable dialektale Sprachform, so dass es zumindest eine kompensatorische Funktion haben konnte. Der Unterschied zum heutigen slowenischen Standard liegt größtenteils in der Aussprache, während die Schreibung aufgrund der etymologisierenden Konvention der slowenischen Orthographie weitgehend identisch ist. Die sprachlichen Puristen 2 Neben Quaglia sind auch Bruno Petris (1984) und Silvana Paletti (2003) zu nennen. - Dazu der kürzlich erschienene Auswahlband: Resia. Der Gesang der Erde. Gedichte von Rino Chinese, Silvana Paletti, Renato Quaglia. Aus dem Resianischen übertragen von Reinhard Kacianka. Klagenfurt/ Celovec: Mohorjeva, 2011. und Nationalisten werden mir zwar nicht zustimmen, ich glaube aber, dass die čakavische Literatur in Istrien zu einem Teil auch von Dialektsprechern geschrieben wurde, die der heute slowenischen Bevölkerung zugeordnet werden müssten. Čakavisch fungierte zumindest zeitweise auch als Ausdrucksmittel beider Literaturen. Beispiele istro-slowenischsprachiger Literatur im eigentlichen Sinne finden sich in älterer Zeit nur spärlich. 3 Erst ab den 1970er Jahren setzte die moderne slowenische Literatur mit Autoren wie Marjan Tomšič, Edelman Jurinčič und Franjo Frančič ein. Von diesen drei wichtigsten Vertretern der istro-slowenischen Gegenwartsliteratur ist jedoch einzig Jurinčič auch in Istrien geboren. Was mich trotz dieser relativ kurzen Tradition istro-slowenischer Literatur bewog, die drei Autoren hier einzubeziehen, ist deren erstaunlich intensive, eigenständige und unverwechselbare Interpretation der istrischen Kultur und Geschichte. Ähnliches gilt im Kärntner Kontext für Florjan Lipuš, der stellvertretend für die Kärntner slowenische Kulturgeschichte in ihrer Gesamtheit gewertet werden kann. Von Lipuš lässt sich mit einiger Berechtigung sagen, dass in seinen Texten die Kärntner slowenische Literatur intertextuell und interdiskursiv als ganze präsent ist, sei es als karnevalisierte oder als transzendierte. 4 Dialogizität der Region - Polyphonie und Pluralität der Literaturen Die polyzentrische Organisation der regionalen Literaturen, sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht, hat für die zahlenmäßig relativ kleine Bevölkerung eine ungewöhnliche Vielfalt an Interferenzen zur Folge. Diese resultieren aus den verschiedenen interregionalen Schnittpunkten und deren mehrsprachigen Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie aus ihrer jeweiligen aktuellen und historischen Eigendynamik. Wie spannend die Rezeptionsfrage im interregionalen Kontext des Alpen-Adria-Raums tatsächlich sein kann, zeigt ein Vergleich der Tomizza-Rezeption in Italien, Kroatien und Slowenien sowie im deutschsprachigen Raum. Tomizza wurde in Italien schon sehr früh auch mit hohen Preisen bedacht. Vor allem seine Istrien-Romane wurden bald ins Deutsche, Kroatische und Slowenische übersetzt. Später ließ das Interesse in Italien nach, und einmal sagte er mir in einem Gespräch, dass er vom deutschsprachigen Publikum wohl mehr geschätzt werde als vom italienischen bzw. von der italienischen Literaturkritik. 3 So etwa der eine oder andere Einzelautor im frühen 19. Jahrhundert - wie der nur bedingt hierher zu zählende Görzer Valentin Stanič mit seinen Pesme za Kmete ino mlade ljudi (Gedichte für Bauern und junge Leute, 1822) oder einige Geistliche im 19. Jahrhundert. Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 237 238 Johann Strutz (Klagenfurt) Ich habe davon ausgehend in einem slowenischsprachigen Symposionsbeitrag versucht, die Rezeption Tomizzas in Österreich, wo er 1979 den Staatspreis für Europäische Literatur erhalten hat, in ihren Grundzügen darzustellen (Strutz 2001: 65-71). Die slowenische und kroatische Tomizza-Rezeption setzte relativ spät ein, wie aus einem im Jahre 2001 erschienenen Beitrag zu einem der jährlich von Milan Rakovac in Umag/ Umago organisierten Tomizza-Symposien hervorgeht. Hier ist am Rande auch auf ein Kuriosum hinzuweisen, das dennoch signifikant für den interregionalen Kontext ist: Die Referentin bzw. Autorin des Beitrags über die Tomizza-Rezeption bei den Slowenen, Jasna Čebron, stellt darin fest: „Najobsežnejšo - in edino - študijo o Tomizzi beremo v Primerjalni književnosti. Avtor [je] Janez Strutz“ (Die umfangreichste - und einzige - Studie über Tomizza finden wir in Primerjalna književnost. Autor [ist] Johann Strutz) (Čebron 2001: 46-48). Hier stellt sich daher auch die Frage, wer hat rezipiert: ich oder ich. Es erscheint insofern nur konsequent, dass sich auf dem Gebiet der Rezeption fortsetzt, was bereits auf der Ebene der Produktion angelegt ist: die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen und miteinander in einem permanenten Dialog befindlichen Literatursystemen. Tomizza wurde ja von der Literaturkritik - wie Handke oder Pasolini - zwei Literaturen zugeordnet. Eine vergleichende Studie der Tomizza-Rezeption wäre ein wichtiger Beitrag für ein Forschungsprojekt zu den regionalen Literaturverhältnissen im Alpen-Adria-Raum. Ich beschränke mich hier auf einige Andeutungen und gehe bei der Skizze der Rezeption in Italien und in Kroatien von Bourdieus Theorie des literarischen Feldes aus. 4 In krassem Unterschied zur empathischen Rezeption und Übersetzung durch den seelenverwandten ‚Istrier‘ Milan Rakovac erfuhr Tomizza im ‚offiziellen‘, zentralkroatischen Kontext in einer umfangreichen Studie des Schriftstellers, Publizisten und Italianisten Nedjeljko Fabrio (1977: 5-199) eine vernichtende nationalistische Kritik. Wie ein erster Vergleich zeigt, wurde in beiden nationalliterarischen Feldern - dem italienischen und dem kroatischen - das jeweilige Leitkriterium der ideologischen Literarität schlagend: im Italienischen das Kriterium der literarischen Form, im kroatischen das identitäre Modell. In beiden Fällen blieb Tomizza hinter dem jeweiligen nationalen ‚Standard‘ zurück. In Italien wurden nach der ersten Euphorie über eine Stimme aus der ‚unerlösten‘ Provinz die späteren Romane Tomizzas vor dem Hintergrund der italienischen Postmoderne-Diskussion bald als realistisch und regionalistisch abgetan, nach Meinung maßgeblicher Kritiker wurden sie einem zeitgemäßen ästhetischen Standard nicht mehr gerecht. Im kroatischen literarischen Feld, 4 Dazu allgemein Joseph Jurt (1997: 152-180). dessen zumindest zweitwichtigstes Kriterium das identitäre Modell ist (dem die istrische Peripherie aus der Sicht des Zentrums jedenfalls zu entsprechen habe), fiel Tomizza insofern aus dem Rahmen, als er zeigte, dass nicht nur die istrische Westküste, sondern auch deren bäuerliches Hinterland nicht einsprachig kroatisch, sondern zweisprachig und kulturüberschreitend war. Dass sich die ‚istrische‘ Rezeption Tomizzas durch einen polyglotten istrischen Regionalisten und Modernisten wie Milan Rakovac grundlegend von einer ‚nationalen‘ Optik unterschied, bestätigt diese These. 5 Die Perspektive: Die Alpen-Adria-Region als Laboratorium der Kulturen Der Südtiroler Autor Gerhard Kofler veröffentlichte in seinem Band Die Rückseite der Geographie aus dem Jahr 1988 Gedichte in italienischer und deutscher Sprache sowie in Südtiroler Mundart. Sprache wird darin einerseits extrem regionalisiert, also territorial begrenzt, zugleich überschreitet sie die nationalen Grenzen und eröffnet neue Einsichten, wie etwa in dem Gedicht Magari (in Kärnten würde man sagen ‚mangare‘): „dass […] es mer/ magari sogor di eigene sproch verschlogt“ (Kofler 1988: 13). Auch Milan Rakovac gibt in seiner Lyrik vielfach das Prinzip überregionaler Verständlichkeit auf und schreibt Texte, die sich prinzipiell aller Idiome der istrischen Region bedienen. Rakovac, der vor allem als Erzähler, Übersetzer, Kritiker und Journalist hervorgetreten ist, kann daher hinsichtlich seiner Lyrik sowohl als konsequenter polyphoner Regionalist, wie paradoxerweise auch als konsequenter Internationalist bezeichnet werden. Sein Kulturkonzept, das er bereits mehrfach vorgestellt hat, zielt auf Verallgemeinerung, auf nichts Geringeres als eine ‚Istrianisierung Europas‘. Die mehrsprachige Lyrik von Milan Rakovac und anderen istrischen Autoren wie Daniel Načinović ließe sich daher am treffendsten mit dem Begriff ‚regionale Weltliteratur‘ charakterisieren - in Analogie zum Begriff der ‚Weltmusik‘, da hier regionale und internationale Tendenzen miteinander kombiniert werden. Tatsächlich zeigt sich, dass die regionale istrische Sprachen- und Dialektmischung seit Jahren auch in der istrischen Populärkultur eine zentrale Funktion einnimmt. Im Rahmen der nach dem alten istrischen Idiom benannten populärmusikalischen ‚Ča-Welle‘ (ča-val) bestimmt die istrische Populärmusik längst auch die Zagreber Pop- und Rockszene entscheidend mit - die bekanntesten Gruppen neben dem Sänger Alen Vitasović sind ‚Gustafi‘ und ‚Šajeta‘ (vgl. Kalapoš 2002: 1-16). Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 239 240 Johann Strutz (Klagenfurt) Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass textuelle Mehrsprachigkeit, die im nationalen literarischen Feld zur Störung der Kohärenz und zur extremen Regionalisierung führt, im populärkulturellen Feld hingegen geradezu kohärenzbegründend sein kann, weil die geographische Reichweite dieses Feldes nicht auf die nationale Ebene und deren dissoziative, binnendifferenzierende Zentrum-Peripherie-Diskussion beschränkt bleibt, sondern international oder global fundiert ist (vgl. Schuberth 2002). Ein Nebeneffekt dieser Popularisierung und mittlerweile auch Kommerzialisierung der (istrischen) Regionalkultur besteht freilich darin, dass damit auch der istrische Regionalismus re-nationalisiert wird. Wie gut sich Istrien übrigens als Modell kultureller Pluralität und Polyphonie eignen würde, beweist nolens volens eine Rezension meiner Istrien-Anthologie in der Reihe Europa erlesen (Klagenfurt/ Celovec: Wieser 1998), zu der in einer Zagreber Zeitung kritisch festgestellt wurde: Wem und zu welchem Staat Istrien gehöre (‚čija je Istra‘), werde von der Anthologie nicht beantwortet. Spätestens da erkannte ich, dass die Textauswahl richtig war. Während somit in der ‚offiziellen‘ Literatur und Publizistik auf beiden Seiten nur der nationale Wert des einsprachigen Kanons waltete, heben die Literaturen der mehrsprachigen Regionen das verbindende Moment der sprachlichen Vielfalt hervor. 5 Am Ende dieser Ausführungen steht darum ein Beispiel aus der Kärntner Gegenwartsliteratur, in dem die regionalen Nachbarsprachen miteinander verbunden werden, fokussiert auf die Kleinstadt Buje/ Buie. Der Autor, Jani Oswald, bezieht sich in diesem viersprachigen Text nicht nur in witziger Form auf das 5 Eine der für mich überraschendsten Stellen aus der Kärntner slowenischen Literatur ist eine Passage aus dem zu Unrecht wenig bekannten Plebiszitroman von Peter Mohar Med nebom in peklom (Zwischen Himmel und Hölle), erschienen 1986 in Kooperation des Verlags Slovenska matica (Ljubljana) mit den beiden Kärntner Verlagen Drava und Mohorjeva. Es handelt sich um folgende Passage: „Govorili so sprva v druščinah po dva ali trije, Šiman in Škodnik sta obravnavala letino in živino, Vurm in Povoden sta se jezila čez jugoslovansko upravo […], Dolf in Majerjev Pepej pa sta govorila v nemškem jeziku […]. Pri tem je bilo opaziti, da so vsi, kadar jim je nenegovana slovenščina delala težave, kratkomalo vpletali v pogovor ne samo posamezne nemške besede, kar je že tako posebnost pri jezikovno zanemarjenih Korošcih, temveč cele stavke v nemškem jeziku, kar pa pestrosti večera ni škodilo.“ (Mohar 1986: 368) - (Zuerst sprachen die Leute in Gruppen zu zweit oder dritt miteinander. Šiman und Škodnik dischkurierten über die Ernte und das Vieh, Vurm und Povoden ärgerten sich über die jugoslawische Verwaltung […]. Dolf und der Maier Pepej aber sprachen deutsch miteinander, […] bis auf einmal alle auf sie aufmerksam wurden und Pepej auf slowenisch zu sprechen anfing. Dabei konnte man merken, dass alle, sobald sie mit ihrem unkultivierten Slowenisch in Schwierigkeiten gerieten, kurzerhand nicht nur einzelne deutsche Wörter in ihre Rede einflochten, wie es bei den sprachlich vernachlässigten Kärntnern ohnehin die Regel ist, sondern oft sogar ganze Sätze, was jedoch der Buntheit des Abends keinen Abbruch tat.) regionale Sprachengemisch, sondern kombiniert darüber hinaus verschiedene Sprach- und Wortspiele: Nach Buje Heute a Buje doman nach Triban iskat ragacu si va obadva aber da ein Phantom auf der piazza va la ragazza z drugim fantom im Mazda über den Platz da. (Oswald 1996: 44) (Heute nach Buje morgen nach Triban | auf der Suche nach dem Mädchen gehen wir zu zweit | aber da ein Phantom auf der Piazza | fährt die Ragazza mit einem anderen Burschen [‚fantom‘] | im Mazda über den Platz da.) Der Text erscheint zwar als Jux; das geht schon aus den topographischen Verhältnissen hervor: die Ortschaft Triban bzw. Tribano liegt nur zwei, drei Kilometer in östlicher Richtung vom binnenistrischen Marktflecken Buje entfernt, das wäre, wie wenn jemand in einem Reisebericht verkünden würde: ‚… heute nach Klagenfurt, morgen nach Waidmannsdorf‘. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die ludistische Verfahrensweise einer tieferen Analyse standhält, da verschiedene Muster ‚durchgespielt‘ werden. So konnotiert - im Sinne der Mythen des Alltags von Barthes - die Gegenüberstellung des Substantivs ‚Phantom‘ mit der Instrumental-Konstruktion ‚z drugim fantom‘ - auch das ‚schulgrammatikalische Sprachspiel‘ (graphisch hervorgehoben). Ironisch wirkt neben dem Zitat der deutschen Syntax außerdem, dass sich das einzige eindeutig kroatisch markierte Wort (die anderen sind bzw. könnten zumindest auch slowenisch sein) als kroatisch verschrifteter Akkusativ eines italienischen Wortes entpuppt: ‚ragacu‘. Im übrigen ist die Grammatik der Sprachmischung korrekt, wie etwa das Supinum (slow. namenilnik) ‚iskat‘ zeigt, das sich auf das italienische ‚andare‘ bzw. ‚va‘ bezieht. Die makkaronische Juxtaposition verschiedensprachiger Passagen karnevalisiert die einzelnen Sprachen und deren Normen. Jani Oswalds Text wird dadurch zum Modell einer fröhlichen Grammatik der mehrsprachigen interregionalen Kommunikation, wie es eben diesem Teil des Alpen-Adria-Raums als einem Laboratorium der Kulturen entspricht. ‚Spiel haben‘ kann auch heißen: Spielraum haben. Es ist somit nicht nur ein Realitätsprinzip, sondern auch ein Möglichkeitsprinzip. Und so ist die Spielmetapher dem regionalen Ansatz der Komparatistik besonders nahe. Sie behauptet ein konstruktives und zugleich utopisches Moment, während uns sonst nur übrig bliebe, dem Verlust der alten regionalen Vielfalt nachzutrauern. In der Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 241 242 Johann Strutz (Klagenfurt) permanenten Sprachmischung könnte auch eine Perspektive für den Bestand der Kärntner regionalen Zweisprachigkeit liegen: regionale Mehrsprachigkeit als Voraussetzung für kulturelle Polyphonie. Literaturverzeichnis Čebron, Jasna (2001). Recepcija Tomizze pri Slovencih. In: Tomizza i mi - susreti uz granicu. Tomizza e noi - incontri di frontiera / Tomizza in mi - obmejna srečanja. Umag-Umago, Koper-Capodistria, 46-48. Fabrio, Nedjeljko (1977). Tršćanska književnost i slavenski jug. In: Fabrio, Nedjeljko, Štavljenje štiva: Eseji i sinteze. Zagreb: Znanje, 5-199. Furlani, Roman (1981). L’ultima valle. Trieste: EST. Gabršček, Andrej (1932). Goriški Slovenci: Narodne, kulturne, politične in gospodarske črtice. 1. knjiga: Od leta 1830 do 1900. Ljubljana: Eigenverlag, 1932. Jurt, Joseph (1997). 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Regionale Sprachspiele: Für eine Komparatistik der Alpen-Adria-Region 243 Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur - Formen, Funktionen und Rezeption bei Tomer Gardi, Semier Insayif und Vladimir Vertlib Sandra Vlasta (Mainz) Abstract: This contribution analyses different forms and functions of literary multilingualism in texts of Austrian migration literature by Tomer Gardi, Semier Insayif and Vladimir Vertlib. I propose a thematic definition of migration literature instead of the commonly applied biographical approach. Thus, I suggest that the genre of migration literature includes texts that describe experiences of migration, i.e. a long-term transfer to another place, often across borders. In this representation of movements across borders, multilingualism plays an essential role; in fact, I claim that migration literature is always multilingual. Here, multilingualism is to be understood in a broad sense, and it can be found on various levels in migration literature, such as (1) the formal level of the text, (2) the level of content and (3) the level of production, if the author is multilingual. Each of these levels can be subdivided even further; moreover, multilingual elements might be translated in different ways or not translated at all. Keywords: migration in literature, literary multilingualism, Tomer Gardi, Semier Insayif, Vladimir Vertlib In diesem Beitrag analysiere ich verschiedene Formen literarischer Mehrsprachigkeit in Texten der österreichischen Migrationsliteratur von Tomer Gardi, Semier Insayif und Vladimir Vertlib und frage nach ihrer inhaltlichen und ästhetischen Funktion sowie ihren Auswirkungen in der Rezeption. Migrationsliteratur definiere ich dabei nicht biographisch, sondern schlage eine thematische Definition vor. Mit dem Begriff Migrationsliteratur bezeichne ich demnach Texte, die Migrationserfahrungen beschreiben, also längerfristige Veränderungen des Wohnortes über Ländergrenzen hinweg. In dieser Darstellung von Bewe- 246 Sandra Vlasta (Mainz) gungen über Grenzen kommt der Mehrsprachigkeit eine wesentliche Rolle zu, ja, ich gehe von der These aus, dass Migrationsliteratur per se mehrsprachige Literatur ist. Diese literarische Mehrsprachigkeit findet sich auf verschiedenen Ebenen; sie hat unterschiedliche inhaltliche und ästhetische Funktionen sowie Auswirkungen in der Rezeption, wie ich im Folgenden anhand der Analyse ausgewählter Texte zeige. 1 Literatur und Migration, Migrationsliteratur und literarische Mehrsprachigkeit Migration, definiert als längerfristige Veränderung des Aufenthaltsortes, oft über Grenzen hinweg, ist nicht nur ein Phänomen der Gegenwart. Auch Autor_innen sind immer wieder migriert, teils freiwillig, teils gezwungenermaßen, und auch Texte migrieren, überschreiten Grenzen. Damit ist Migration seit jeher ein literarisches Thema. Trotzdem haben die Ereignisse der jüngeren und jüngsten Vergangenheit bzw. Gegenwart - das Ende des Kolonialismus, die langfristigen Auswirkungen von Gastarbeiterprogrammen, der Zusammenbruch des Kommunismus, Krisen und Kriege - besonders große Migrationswellen ausgelöst, die wiederum Auswirkungen auf die Gegenwartsliteratur haben. Diese Auswirkungen sind vielfältig: einerseits sind zunehmend auch Autor_innen in neue Sprach- und Kulturräume eingewandert. Andererseits wurde Migration als Thema in zahlreichen literarischen Werken aufgegriffen und verarbeitet. Wenn in der Literaturwissenschaft von Migrationsliteratur gesprochen wird, ist damit meistens das erste Phänomen gemeint, d. h. die meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehen von der Biographie der Autor_innen aus und erstellen ein Korpus von Texten, die von eingewanderten ‚Migrationsautor_innen‘ verfasst wurden. In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft verwendete Begriffe wie Migrantenliteratur, Gastarbeiterliteratur, interkulturelle Literatur und viele andere bezeichnen dasselbe Phänomen und meinen Literatur von Autor_innen, die entweder selbst eingewandert sind oder deren Eltern oder sogar Großeltern eingewandert sind. 1 Auch in anderen Sprachräumen werden eingewanderte Autor_innen in eigenen Kategorien zusammengefasst 2 und z. B. Chicanos / Chicanas (mexikanisch-stämmige Autor_innen in den USA) genannt oder, wie im britischen Kontext, ihre Literatur als Commonwealth Literature bezeichnet, ein Begriff, der all jene Werke umfasst, die nicht von Weißen in 1 Für einen Überblick sowie eine genauere Diskussion der einzelnen Begriffe siehe z. B. Chiellino (2000). 2 Zu einer vergleichenden Darstellung dieser Begrifflichkeiten und ihrer Verwendung siehe Sievers/ Vlasta (2018). Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur 247 bzw. aus Großbritannien geschrieben wurden, und damit aus der Kolonialzeit tradierte Unterscheidungen fortschreibt. Auch der französische Begriff littérature francophone arbeitet mit so einer Unterscheidung zwischen französischer Literatur, die nur in Frankreich und von Weißen verfasst wird und der ‚anderenʻ Literatur auf Französisch. Dieser Zugang kann fruchtbar sein, vor allem für literatursoziologische Fragestellungen, 3 birgt aber immer auch die Gefahr, für seine biographische Perspektive kritisiert zu werden und dafür, dass er Autor_innen gruppiert, die abgesehen von der Migrationserfahrung (einer meist sehr individuellen Erfahrung) wenig Gemeinsames haben. Auch viele der Autor_innen verweigern sich einer solchen Kategorisierung und wollen ihre Texte im Zentrum sehen anstatt ihrer Biographie. So findet zum Beispiel Julya Rabinowich die Bezeichnung Migrantenliteratur einerseits nichtssagend: „[…] bei sehr strenger Auslegung des Begriffs Migranten-Literatur wären wir sehr schnell auch beim Begriff der Würstelstand-Literatur, wenn der besprochene Schriftsteller, bevor er zu schreiben anfing, dort gearbeitet hat“ (Schilly 2008), andererseits anmaßend, denn niemand sonst würde in der Literatur nur aufgrund seiner Herkunft eingeschätzt (vgl. ebenda). Seher Cakır kontert gegen den Begriff Migrationsautorin: „Ich mache Literatur und Punkt! “ (Disoski 2010) und will sich damit ebenfalls nicht über ihre Herkunft kategorisieren lassen. Deshalb erscheint es sinnvoller, Migrationsliteratur unabhängig von der Biographie der Autor_innen zu definieren und darunter Texte zu verstehen, die sich thematisch mit Migration auseinandersetzen, ein Ansatz, den ich ebenfalls vorschlagen möchte. 4 Diese Definition als Genre ermöglicht es, die Texte ins Zentrum zu stellen und dabei auch Texte von Autor_innen zu berücksichtigen, die keine persönliche Migrationserfahrung haben, sich aber literarisch mit dem Thema Migration auseinandersetzen. 5 Zudem zeigt die nähere Untersuchung solcher Texte, dass sie viele Ähnlichkeiten inhaltlicher und formaler Natur aufweisen: Das Thema der Migration bringt ähnliche Motive mit sich, wenngleich diese in den einzelnen Texten individuell behandelt werden. Das trifft auch zu, wenn man die Texte sprach- und kulturübergreifend vergleicht, was die Anwendbarkeit einer Gattungsdefinition von Migrationsliteratur unterstreicht. 6 3 Vgl. dazu z. B. Minnaard (2008), Sievers (2016), Vlasta (2012). 4 Für Ansätze, die in diese Richtung argumentieren, vgl. Grünefeld (1985) und Frank (2008). 5 Gerade im österreichischen Kontext sind dafür in jüngster Zeit einige Beispiele zu nennen, wie Ludwig Lahers Verfahren (2011), Martin Horváths Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten (2012), Susanne Scholls Emma schweigt (2014) oder Michael Köhlmeiers Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016). 6 Für eine solche vergleichende Studie zwischen dem deutschen und dem englischen Sprachraum siehe Vlasta (2016). 248 Sandra Vlasta (Mainz) Einer der Aspekte, die Migrationsliteratur kennzeichnen, ist ihre Mehrsprachigkeit. In der Darstellung von Bewegungen über Grenzen kommt der Mehrsprachigkeit eine wesentliche Rolle zu, Migrationsliteratur kann deshalb als mehrsprachige Literatur per se bezeichnet werden. Diese literarische Mehrsprachigkeit findet sich auf verschiedenen Ebenen, hat unterschiedliche inhaltliche und ästhetische Funktionen sowie Auswirkungen in der Rezeption. Ich verstehe dieses Phänomen dabei im weitesten Sinne, entsprechend den verschiedenen Ebenen, auf denen die Mehrsprachigkeit sich in Migrationsliteratur findet: (1) Auf der formalen Ebene des Texts, an seiner Oberfläche, z. B., wenn Techniken des code switching oder code mixing verwendet werden und Wörter, Phrasen oder ganze Passagen in anderen Sprachen als der Hauptsprache des Textes wiedergegeben werden. Hierzu gehören auch soziale, regionale und historische Sprachvarianten, also Soziolekte, Dialekte und nichtstandardsprachliche Varianten, was einer umfassenden Sicht der Mehrsprachigkeit entspricht, die Rainier Grutman als hétérolinguisme bezeichnet (vgl. Grutman 1997) und die ein traditionelleres Verständnis von Zwei- oder Mehrsprachigkeit um Michail Bachtins Konzept der Polyphonie erweitert. Ebenso kann Mehrsprachigkeit auf der metrischen, rhetorischen und ästhetischen Ebene berücksichtigt werden, wie das Till Dembeck vorschlägt (vgl. Dembeck 2017: bes. 2-3, 10). Ein Beispiel wäre die Verwendung eines Metrums, das typisch für eine bestimmte Sprache bzw. einen bestimmten Sprachraum ist, in einer anderen Sprache. (2) Mehrsprachigkeit findet sich zudem auf der inhaltlichen Ebene, z. B., wenn über andere Sprachen und Dialekte, Sprachwechsel oder das Aneignen von Sprachen gesprochen wird - eine Form der Mehrsprachigkeit, die als Metamehrsprachigkeit bezeichnet werden kann. Auch das Sprechen in anderen Sprachen, das aber in der Hauptsprache des Textes wiedergegeben wird („sagte er auf Russisch“ etc.), zählt zu dieser Ebene der Mehrsprachigkeit, eine Form der latenten Mehrsprachigkeit. (3) Schließlich kann sich Mehrsprachigkeit in Migrationsliteratur auf der Produktionsebene finden, wenn der/ die Autor_in mehrsprachig ist (ohne hier auf das Niveau der Sprachkompetenz in den einzelnen Sprachen einzugehen). Dies kann verschiedene Auswirkungen haben: es kann sich zum Beispiel in der Mehrsprachigkeit des Textes widerspiegeln oder es kann die Rezeption der Leser_innen steuern, wenn die Mehrsprachigkeit des Autors/ der Autorin im Paratext thematisiert wird. Diese drei Ebenen stellen nur ein grobes Schema dar, und sie können weiter untergliedert werden: Zum Beispiel kann literarische Mehrsprachigkeit auf inhaltlicher Ebene übersetzt werden oder nicht, und wenn sie übersetzt wird, dann gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten (wie Paraphrasen, Fußnoten, Erklärungen, direkte Übersetzungen etc.). Außerdem kann Mehrsprachigkeit Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur 249 gleichzeitig eine Mehrschriftlichkeit beinhalten, wenn verschiedene Schriftsysteme (zum Beispiel lateinisches, griechisches, arabisches, chinesisches Schriftsystem) oder auch nur diakritische Zeichen aus verschiedenen Sprachen verwendet werden (wie å, é, ï, ò, ñ). Diese mehrschriftlichen Elemente führen eine weitere graphische Ebene in den Text ein, die mit dessen inhaltlicher Aussage, seiner formalen Wirkung und seiner Rezeption verbunden ist - ein Beispiel dafür, wie sich die unter Punkt 1 und 2 genannten Formen der Mehrsprachigkeit auf inhaltlicher und formaler Ebene vermischen können. In der Tat ist es häufig schwierig, ein Phänomen eindeutig der einen oder der anderen Ebene zuzuordnen, oft gehört es zu beiden. Zudem müssen wir uns bewusst sein, dass Versuche der Kategorisierung von Formen der Mehrsprachigkeit die Idee einer Hauptsprache (in der Linguistik als Matrixsprache bezeichnet) und einer oder mehrerer sich einmischender, interferierender Sprachen (in der Linguistik als embedded languages bezeichnet) implizieren. Die Mehrsprachigkeitsforschung versucht, diese hierarchische Sichtweise zu überwinden - die Ansätze einer Mehrsprachigkeitsphilologie mit dem Postulat “there is no such thing as a monolingual text” (Dembeck 2017) sind sichtbares Zeichen dafür. Sie geht davon aus, dass mehrsprachige Texte der Standard sind und einsprachige die Ausnahme; außerdem werden alle in den Texten vorkommenden Sprachen gleichwertig angesehen und nicht als in einem hierarchischen Verhältnis stehend. 2 Beispiele für literarische Mehrsprachigkeit in Migrationsliteratur im österreichischen Kontext 2.1 Latente Mehrsprachigkeit in Vladimir Vertlibs Erzählung Abschiebung (1995) In Vladimir Vertlibs Erzählung Abschiebung (1995) wird der jugendliche Ich-Erzähler zum Übersetzer für seine Eltern. Er ist mit seinen Eltern nach Amerika gereist, wo die aus Russland emigrierte jüdische Familie um eine Aufenthaltsbewilligung ansucht, nachdem sie entschieden hat, weder in Israel noch in Deutschland leben zu wollen. Im Zentrum der Erzählung steht das Ansuchen und Warten auf eine Aufenthaltsbewilligung in den USA, die der Familie schließlich nicht gewährt wird. Nachdem der Sohn und Ich-Erzähler am besten Englisch spricht, wird er zum dolmetschenden Vermittler zwischen seinen Eltern und den Beamten, was für ihn öfters große Verantwortung mit sich bringt: Ich war vierzehn Jahre alt, meine Hauptaufgabe, bei allen Gesprächen im Regierungsgebäude zu übersetzen, wurde dadurch nicht gerade leichter. (Vertlib 1995: 9) 250 Sandra Vlasta (Mainz) Der Sohn, der Englisch versteht, ist der erste Ansprechpartner für die Beamten, bekommt von ihnen Abläufe genau erklärt und wird auch öfter befragt als seine Eltern. Dabei wird dem Kind durch seine Sprachkompetenz große Verantwortung auferlegt: Aufgrund seiner Englischkenntnisse sind die Gespräche des Sohnes mit den Beamten bedeutsamer als jene der Eltern - eine Last, die ihn oft erdrückt: Und erst jetzt, ganz unerwartet, wurde ich von einer Angst gepackt, die mir den Atem verschlug. Es war mir, als wären meine Füße mit dem Boden verwachsen und als drehe mir etwas langsam Kopf und Oberkörper nach vorne […]. Und je stärker ich versuchte, mich auf das Gesagte zu konzentrieren, je mehr ich mir vorsagte, das Gespräch sei entscheidend für mich, für mein weiteres Schicksal und das meiner Eltern, desto weniger konnte ich dem Sinn des Gesprochenen folgen, desto mehr entglitt mir das Gesagte. Es schien, als hätte ich nie Englisch gelernt. (Vertlib 1995: 35-36) Den ebenfalls unter Druck stehenden Eltern ist der Sohn in seiner Übersetzerrolle nie gut genug: „Mein Vater wurde nervös, unterbrach mich öfters, während meine Mutter, die ein wenig mehr Englisch verstand als er, mich zu korrigieren begann und hin und wieder selbst direkt ins Gespräch eingriff.“ (Vertlib 1995: 9) Er ist seinen Eltern zu langsam, zu wenig redegewandt, benutzt die falschen Wendungen etc. Der Ich-Erzähler ist sich dieser ihm nachgesagten Unzulänglichkeiten bewusst, er befürchtet aber, immer wieder dieselben Fehler zu machen: Womöglich würde ich wieder: „That is not true! “ sagen, mich ängstlich umschauen, das Gesicht meines Vaters rot anlaufen sehen und die nervöse, etwas gehetzt klingende, aber bestimmte Stimme meiner Mutter: „Wie oft habe ich dir gesagt: Das heißt nicht: ‚That is not true! ‘ sondern ‚That is not correct! ‘ ‚True‘ ist sehr unhöflich, willst du uns endgültig ins Unglück stürzen, schließlich geht es doch um dich! “ (Vertlib 1995: 9) Bis auf diese kurzen Einschübe fremdsprachlicher Elemente wird bei Vertlib über mehrsprachige Situationen in einer einzigen Sprache, nämlich auf Deutsch, berichtet; es wird damit eine weitere Ebene in die sprachliche Situation eingefügt, die für sich aber nicht thematisiert wird, sondern für den Leser nur durch kleine Hinweise darauf (wie: „[…] sagte mein Vater auf russisch [sic! ]“ (Vertlib 1995: 49); „[…] übersetzte ich ins Englische“ (Vertlib 1995: 50)) klar wird. Die Erzählsprache wird nicht gewechselt, die zusätzliche deutsche Erzählebene wird unkommentiert eingefügt. Der Erzähler übernimmt damit die Rolle des Übersetzers nicht nur für seine Familie, sondern auch für die Leser_innen, für die er alles ins Deutsche überträgt. Die Übersetzungen des Protagonisten werden somit zur doppelten Übersetzung und der Text wird zu einem in vielen Sprachen, dessen Vielsprachigkeit aber latent bleibt. Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur 251 2.2 Semier Insayifs Faruq (2009), ein mehrschriftlicher Roman Der 2009 erschienene Text Faruq ist der erste Roman des bis dahin vor allem als Lyriker bekannten Semier Insayif. Autobiographisch gefärbt, wird in dem Buch die Biographie des Vaters des Protagonisten erzählt, der in den 1950er Jahren aus dem Irak nach Wien gekommen ist, um dort Medizin zu studieren, letztlich in der neuen Heimat eine Familie gegründet hat und, auch aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse im Irak, geblieben ist. Der Text wird auf mehreren Ebenen erzählt. Hier interessiert uns vor allem jene des Protagonisten, der sich langsam und auf körperliche Weise an verschiedene arabische Wörter und mit ihnen an seinen Vater erinnert; an dieser Stelle kommt auch die Mehrsprachbzw. Mehrschriftlichkeit des Textes zum Tragen: Der in konsequenter Kleinschreibung wiedergegebene Text wird mit (hoch)arabischen Wörtern durchsetzt. Um zu veranschaulichen, wie Insayif die arabischen Wörter einführt, hier das Zitat der Stelle, an der den Protagonisten das erste Mal die Erinnerung ereilt: قو ُ ر ُ ش da war es. schurūq. es klang völlig anders als seine üblichen worte. قو ُ ر ُ ش / schurūq . sein körper gebar es. […] es war der osten - ق ْ ر َ ش / scharq -, und es war und ist der sonnenaufgang - قو ُ ر ُ ش / schurūq -, der in ihm aufgetaucht war. warm aufgestiegen. innen drinnen. trotz dieser kälte. (Insayif 2009: 30) Hier erinnert sich der Protagonist langsam, die Erinnerung holt ihn langsam ein, über eine Seite im Text hinweg spielt er mit dem Klang der beiden Wörter scharq und schurūq , lässt sie - den Osten und den Sonnenaufgang - langsam seinen Körper erwärmen. Dabei werden die nicht Arabisch sprechenden Leser_innen an dieser Stelle für eine halbe Seite im Unklaren über die genaue Bedeutung der beiden Wörter scharq und schurūq gelassen: Dem ersten Teil des obigen Zitats folgt - angezeigt durch […] - ungefähr eine halbe Seite Text. Erst dann folgt die Übersetzung, in einer Form, die das Muster für alle weiteren fremdsprachigen Stellen im Text ist: Der arabischen Schreibweise folgt, durch einen Schrägstrich abgegrenzt, die Transliteration in lateinischer Schrift, die deutsche Übersetzung ist diesem Paar jeweils voran- oder nachgestellt. Die arabischen Wörter werden dabei in Transliteration wiedergegeben: Insayif verwendet eine Umschrift, die versucht, die originale Schreibweise nachvollziehbar zu machen, die solcherart veränderten Buchstaben fallen ins Auge, z. B. ū, ā oder ī. Im letzten Drittel des Buches finden sich auch zwei arabische Textstellen - Zitate aus Gedichten, die der Vater für die Mutter des Protagonisten rezitiert (Insayif 2009: 125) sowie aus Liedern, die ein Onkel aus der Familie gesungen hat (Insayif 2009: 159-160) -, die zwar transliteriert, aber nicht übersetzt sind: 252 Sandra Vlasta (Mainz) Abb. 1: Die erste der unübersetzten arabischen Stellen in Semier Insayifs Faruq (Insayif, 2009: 125). Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur 253 In Insayifs Text entstehen durch die Mehrschriftlichkeit Lücken für die Leser_ innen, die kein Arabisch verstehen: Sie durchsetzen in Form der arabischen Wörter, ihrer Transliterationen sowie Übersetzungen den gesamten Text, tauchen anfangs spärlicher, später öfter und auch in größeren Zusammenhängen auf, wie im Fall der oben zitierten Gedichte. Die andersschriftlichen Elemente verändern den Text optisch. Die Lücken entstehen dabei sowohl durch die arabischen Buchstaben als auch durch die zum Teil unbekannten Buchstaben der arabischen Umschrift. Wenngleich die meist in direkter Folge angegebenen Übersetzungen der arabischen Begriffe jeweils sofort die semantischen Lücken füllen, bietet der Text auch andere Formen der Assoziation bzw. der alternativen Lesung an: Mehrmals und auf unterschiedliche Weise wird z. B. das laute Lesen nahegelegt - durch die Transliteration, durch das Reflektieren des Protagonisten über den Klang der Wörter, durch Diskurse zur Sprechtechnik und -erziehung (auf einer anderen Erzählebene), durch Exkurse zur arabischen Musik und durch das Zitieren von Gedichten und Liedern, zweier oraler Kunstformen. Die zitierten längeren, unübersetzten Stellen in der zweiten Hälfte des Romans lassen schließlich bewusste Verstehenslücken zu - eine Erfahrung der Mehrsprachigkeit für die Leser_innen, die es ihnen ermöglicht, die Erfahrungen des Protagonisten nachzuvollziehen. 2.3 Sprachkreativität eines mehrsprachigen Autors: Tomer Gardi, broken german (2016) Beim 40. Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 hat der israelische Autor Tomer Gardi mit einem Ausschnitt aus seinem Roman broken german für Verwirrung und Diskussionen gesorgt. 7 - Für Diskussion unter anderem über die Frage, ob die Bedingung für die Teilnahme an einem Literaturwettbewerb nicht die Beherrschung (! ) der Sprache sein müsste. 8 Denn Tomer Gardi hat seinen ersten Roman 7 Gardis Roman broken german wird im vorliegenden Beitrag als ‚Migrationsliteratur im österreichischen Kontext‘ behandelt, da er dem österreichischen literarischen Feld zugerechnet werden kann: Der Roman wurde beim Grazer Droschl Verlag verlegt, er wurde erstmals beim in Klagenfurt stattfindenden Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb vorgestellt, Gardi war zweimal Styria-Artist-in-Residence (2014 und 2015) und erhielt 2018 das erstmals vergebene Stipendium für innovative Schreibtechniken des Landes Steiermark, das an Autor_innen geht, deren Werk einen klaren Steiermark-Bezug hat. 8 Die Diskussion im Anschluss an Tomer Gardis Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb kann auf den Internetseiten des ORF zum Wettbewerb in einer Zusammenfassung nachgelesen werden: Jurydiskussion Tomer Gardi http: / / bachmannpreis.orf.at/ stories/ 2783362/ (Stand: 19/ 06/ 2018). Die gesamte Diskussion als Video findet man unter: Tomer Gardi - ISR (Video: Diskussion Tomer Gardi) http: / / bachmannpreis.orf.at/ stories/ 2773156/ (Stand: 19/ 06/ 2018). 254 Sandra Vlasta (Mainz) auf Deutsch verfasst, einer Sprache, die nicht seine Erstsprache, seine Muttersprache ist. 9 Damit steht er nicht allein, sondern reiht sich in eine lange Reihe von Schriftstellern ein wie Adelbert von Chamisso, Joseph Conrad, Elias Canetti, Joseph Brodsky sowie zeitgenössischen Autor_innen wie Kazuo Ishiguro, Emine Sevgi Özdamar, Igiaba Scego und vielen anderen. Doch anders als bei diesen, ist Gardis Buch in einer Sprache verfasst, die mit dem Romantitel - broken german - bezeichnet werden könnte; es ist ein gebrochenes, fehlerhaftes Deutsch, das sich durch den kompletten Text zieht, hier der Beginn: Drei Kinder steigen von eine U-Bahn aus. Eine heisst Amadou, eine Radili, eine heisst Mehmet. Es ist Sommer. Im U-Bahn steht Mehmet, sein Hand hochgestreckt, hält sich zum Stange. Er hat schwarzes Haar unter sein Arm und sieht, stolz, wie Radili es anschaut. Radili ist dreizehn und Mehmet schon vierzehn und er fragt sich selbst, Radili, wann es bei ihm auch schon anfangen wird mit dem Haar. Dann hält das U-Bahn und Mehmet öffnet die Tür und Radili, von hinten, stosst Mehmet auf eine Frau die da vor dem Tür steht. Sie schreit Mehmet an und dann ist er nicht mehr so Cool mit sein Haar unter seine Ärme und Radili lacht und ränt weg zum Rolltreppe. Mehmet ränt ihm nach und erwischt ihm am anfang von Treppe und schlägt ihm mit Faust auf sein Schulter. Dann ist Amadou auch da und er sitzt auf das schwarzes Gummi Rand als die Rolltreppe die drei zum blauen Licht und Luft hoch nimmt. (Gardi 2016: 5) 10 In broken german wird in vorerst scheinbar losen, später jedoch raffiniert verknüpften Episoden von Immigrant_innen in Berlin erzählt, von Treffen mit Freunden in Lokalen und in Call-Shops, von einer absichtlichen Kofferverwechslung, durch die Identität und Identitätsfindung auf überraschende Weise thematisiert werden, von den Nachwehen des Holocaust in Osteuropa, von der Aufarbeitung deutsch-jüdischer Geschichte und vielem mehr. Die Sprache, in der broken german erzählt wird, ist charakterisiert durch Grammatikfehler wie falsche Artikel, falsche Fälle, falsche Präpositionen, durch Fehler in der Orthographie, durch eigenwillige Wortkreationen und stilistische Eigenarten. Dabei entwickelt die Sprache broken german keine alternativen Regeln (wie z. B. Zé do Rocks Ultradoitsh), vielmehr gibt es keine Regeln: Artikel wechseln im Laufe des Texts, Namen werden mal so, mal so geschrieben (z.B.: Fikret, Fikert). broken german ist ein inkorrektes Deutsch, das die Sprache der Protagonisten abbildet. Durch ihre Namen und die Nennung ihrer Muttersprachen werden sie zusätz- 9 Alle drei in diesem Beitrag behandelten Autoren sind mehrsprachig, ohne hier näher auf die jeweilige Kompetenz der Autoren in den verschiedenen Sprachen einzugehen. (So hat z. B. Semier Insayif erst als Erwachsener Arabisch gelernt.) 10 Unter folgendem Link liest der Autor selbst diesen Ausschnitt sowie weitere Passagen: 3sat Mediathek, Kulturzeit vom 7.12.2016, Video Lesung aus broken german : www.3sat. de/ mediathek/ ? mode=play&obj=63491 (Stand: 14/ 5/ 2018). Literarische Mehrsprachigkeit in österreichischer Migrationsliteratur 255 lich als ‚nicht-deutsch‘, als ‚fremd‘ oder ‚anders‘ markiert oder zumindest als von woanders stammend. Gleichzeitig wird durch den Paratext - Informationen über den Autor, Verlagswerbung, Interviews, sein Auftritt beim Ingeborg- Bachmann-Preis - suggeriert, dass broken german das Deutsch des Autors ist; ein Deutsch, das er während seiner Aufenthalte in Wien und Berlin gelernt hat und das sehr von der mündlichen Sprache beeinflusst ist. Er selbst sagt kokett „Ich bemerke meine eigenen Fehler […] gar nicht“ (Lühmann 2016). Diese Konstellation führt zur Frage nach der Sprachkompetenz des Autors und zur nicht zuletzt beim Bachmann-Wettbewerb und im Anschluss daran geführten Diskussion (vgl. Kastberger 2016), die wiederum auf die einsprachige Realität von Literatur(betrieben) verweist. Die zentrale Aussage dieser Sprache ist: „Jeder sollte auf Deutsch schreiben dürfen“ (Lühmann 2016). Tomer Gardis Roman hinterfragt die Kategorie der Nationalliteratur als ein Korpus, das an einen spezifischen geographischen und sprachlichen Kontext gebunden ist, darüber hinaus stellt er auch Vorstellungen von deutschsprachiger Literatur infrage bzw. macht die Grenzen eines solchen Begriffs deutlich. broken german stellt damit das, was Yasemin Yildiz das Paradigma der Einsprachigkeit genannt hat, auf den Kopf: Literatur kann eben nicht nur in der einen, der ‚eigenen‘ Sprache (also der Erst-/ Muttersprache) verfasst werden, sondern auch in anderen Sprachen. Sprachliche Hierarchien von Fremd- und Erstsprache, aber auch von verschiedenen Kompetenzstufen in einer Sprache werden durch broken german infrage gestellt. Resümee In diesem Beitrag habe ich das Konzept der Migrationsliteratur als Literatur über Migrationserfahrungen vorgestellt und gezeigt, dass diese Gattung nicht zuletzt aufgrund ihrer Thematik immer auch mehrsprachig ist. Mehrsprachigkeit ist ein Aspekt der Migrationserfahrung, der in den Texten literarisch verarbeitet wird. Die behandelten Texte - Vladimir Vertlibs Abschiebung , Semier Insayifs Faruq und Tomer Gardis broken german - sind Beispiele für Migrationsliteratur und für jeweils bestimmte Formen literarischer Mehrsprachigkeit: latente Mehrsprachigkeit, Mehrschriftlichkeit sowie eine von mehrsprachigen Protagonisten und einem mehrsprachigen Autor geformte Varietät des Deutschen, broken german , die Einflüsse aus verschiedenen Sprachen aufnimmt. Diese diversen Formen literarischer Mehrsprachigkeit haben unterschiedliche Auswirkungen in der Rezeption. So wird bei Vertlib zwar auf die Vielsprachigkeit der Situationen explizit hingewiesen, diese aber für die Leser_innen durch die Übersetzung nahezu sämtlicher Stellen ins Deutsche so geglättet, dass der Text an seiner Oberfläche einsprachig bleibt. Anders bei Insayif, wo zwar eben- 256 Sandra Vlasta (Mainz) falls großteils mit unmittelbaren Übersetzungen gearbeitet wird, durch die Betonung der klanglichen Qualität von Sprache und besonders des Arabischen sowie durch die beiden unübersetzten Stellen aber auch Verstehenslücken entstehen, die die Leser_innen unmittelbar in eine Situation der Mehrsprachigkeit versetzen und zeigen, dass diese auch mit Nichtverstehen einhergehen kann. Gardi hingegen konfrontiert seine Leser_innen mit einer nach konventionellen Maßstäben inkorrekten, stark vom Oralen gekennzeichneten Sprachvarietät, die ins Herz von Diskussionen um Einsprachigkeitsparadigmen, Nationalliteratur in Nationalsprachen und ‚Teilnahmebedingungen‘ an der deutschsprachigen Literatur trifft. Im Roman selbst werden diese Diskussionen ebenfalls thematisiert, als eine Gruppe betrunkener Skins, die „Arien Deutsch“ (Gardi 2016: 6) sprechen, wie der (Ich-)Erzähler anmerkt, die Protagonisten Radili, Amadou und Mehmet wegen ihrer „komische[n] Sprache“, die „kein Deutsch“ (Gardi 2016: 6) sei, physisch verfolgen. Wenngleich nicht primär in körperlicher, so doch in existenzieller Weise trifft der Ausschluss bzw. die Schwierigkeit der Partizipation am deutschsprachigen Literaturbetrieb mehrsprachige Autor_innen bzw. mehrsprachige Texte. Marko Juvan stellt in seinem Beitrag Die Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme im vorliegenden Band die wichtige Frage nach den Publikationsmöglichkeiten für mehrsprachige Texte. Es muss die Bereitschaft der Verlage geben, mehrsprachige Texte (und Autor_innen) auch zu publizieren und die Offenheit von Literaturbetrieben, literarische Mehrsprachigkeit auch zuzulassen. Solange, wie z. B. im Fall eines mehrsprachigen Autors, der in einem anderssprachigen Land veröffentlichen möchte, wie Gardi, zuerst die Frage nach seiner Sprachkompetenz gestellt wird, ist aus der einsprachigen Sicht von Literatur und Literaturbetrieben gelebte Mehrsprachigkeit eher Hindernis als Chance. Literaturverzeichnis 3sat Mediathek, Kulturzeit vom 7.12.2016, Video Lesung aus broken german . Abrufbar unter: www.3sat.de/ mediathek/ ? mode=play&obj=63491 (Stand: 14/ 5/ 2018) Chiellino, Carmine (2000). Interkulturalität und Literaturwissenschaft. In: Chiellino, Carmine (Hrsg.). Interkulturelle Literatur in Deutschland: Ein Handbuch. Stuttgart: Metzler, 387-398. Dembeck, Till (2017). There Is No Such Thing as a Monolingual Text! New Tools for Literary Scholarship. Webportal www.polyphonie.at. Abrufbar unter: www.polyphonie.at/ index.php? op=publicationplatform&sub=viewcontribution&contribution=105 (Stand: 15/ 06/ 2018) Disoski, Meri (2010). 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Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung in den Jahren des Großen Krieges Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Abstract: Close exchange between historical contexts and literary fiction is a main aesthetic feature of literary identity construction in the newspaper Marburger Zeitung during the First World War. Contemporary historical and regional topics support the modelling of identities within a framework of evidence, which, in terms of rhetorics of memory, integrates experience-based, monumental and antagonistic modes of memory. Oscillations between contemporary experience and the cultural memory are crucial for literarisation of identities, which due to ideological codes, cannot be presented as dynamic and heterogeneous in terms of transcultural perspective. Multilingualism is assigned to other or distant sociocultural spaces, which holds also for the enactment of their practices. Internal cultural differences are subversively reflected in the exotic female characters from cultural margins placed into a distant spatial perspective, whereas in the representation of a multi-ethnic central culture, the basis for them and for multilingualism diminishes under the burden of critical social circumstances and ideology. Keywords: identity, Marburger Zeitung, otherness, memory rhetorics, multilingualism 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Identitätsnarrativen in literarischen Texten, die von September 1914 bis November 1918 in der Marburger Zeitung erschienen. 1 Wie im Hinblick auf den historischen Moment zu erwarten war, 1 Der Beitrag entstand im Rahmen des von der Öffentlichen Agentur für Forschung der Republik Slowenien (ARRS) geförderten Forschungsprojekts P6-0265. 260 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) stößt man in den publizierten Beiträgen vorwiegend auf zeitgeschichtliche, insbesondere mit dem Krieg verbundene Themen. Neben der erzählenden Prosa ist für den Untersuchungsbereich auch die Lyrik relevant, zumal sie sowohl vor als auch nach dem Krieg im Literaturteil der Zeitung ausgiebig vertreten war. Ausgehend vom Aspekt der Repräsentation des Eigenen und des Fremden bzw. Anderen sowie vom Konzept kollektiver Erinnerung analysiert der Beitrag durch das Prisma postkolonialer Kritik narrative Identitätskonstruktionen und -konzepte sowie deren Stellenwert und Funktion in den damaligen gesellschaftlichen Diskursen in der Untersteiermark (Spodnja Štajerska) und Marburg (Maribor). Die lokalen und regionalen Diskurse dieser Umbruchszeit sind geprägt von der Heterogenität des kulturellen Umfelds, die sich auch in den Medien abbildet. Die Regionalzeitungen, als die bedeutendsten unter ihnen, waren sowohl Produkt als auch Faktor dieser Heterogenität. In der untersteirischen deutschen Presse äußerte sie sich in der traditionellen sprachlichen und ästhetischen Polyphonie, die auch in der Zeit verschärfter nationaler Spannungen und der Institutionalisierung der slowenischen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. sowie an der Wende zum 20. Jahrhundert nie ganz aus der medialen und symbolischen Repräsentation der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschwand (vgl. Birk/ Urekar Osvald 2013; Birk 2017). Als theoretische Grundlage der hier unternommenen Analyse dient ein Geflecht aus kultur- und literaturwissenschaftlichen Konzepten des Postkolonialismus (Castro Varela/ Dhawan 2015), der interkulturellen Hermeneutik (Waldenfels 1997) bzw. der literarischen Fremdheitsforschung (Schäffter 1991), des kollektiven Gedächtnisses (Assmann 1998) bzw. der erinnerungsrhetorischen Narratologie (Erll 2005). In hochgradig heteroreferenziellen Texten, zu denen die hier behandelten zählen, ist die Inszenierung von Prozessen des Erinnerns und der Erinnerung für die narrative Konstruktion von Identität von zentraler Bedeutung. Hierbei können literarische Texte auch ein Medium des kollektiven Gedächtnisses sein, was vor allem durch die Analyse ihres historischen Einflusses auf die jeweilige Erinnerungskultur erhärtet werden soll. 2 Historische Kontexte Für die politischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich ist eine gewisse Ambivalenz zwischen den Wünschen der Bevölkerung und der Politik des Staates kennzeichnend. Unterschiede gab es sowohl in sozialer als auch wirtschaftlicher, vor allem aber in nationaler Hinsicht. In den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie kam es auch in Marburg und der Untersteiermark zu einer Verschärfung der nationalen Gegensätze zwischen Slowenen und Deutschen, zumal Letztere bestrebt waren, ihre bisherige Hegemonie in allen zentralen gesellschaftlichen Strukturen und Substrukturen Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 261 aufrechtzuerhalten ( Jenuš 2011: 17). Bis Anfang der 1860er Jahre war die kollektive Identität der Slowenen geprägt vom Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Kronland Steiermark. Später strebten sie nach nationaler Gleichberechtigung, was auf deutscher Seite Widerstand und heftige politische und mediale Reaktionen auslöste. Zur ersten größeren Auseinandersetzung zwischen den beiden nationalen Gruppen kam es in den späten 1880er Jahren, als sich die untersteirischen Deutschen mit der Politik der Habsburger nicht abfinden wollten. Die Zuerkennung nationaler Rechte trug entscheidend zur Hebung der gesellschaftlichen Position der Slowenen auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet bei. 1893 beschlossen die Deutschen auf ihrem Nationalparteitag in Cilli (Celje) das sogenannte Linzer Programm, das die deutsche Vorherrschaft im Staat festlegte. Trotz vehementer Gegenwehr kam es im darauffolgenden Jahr bei den Wahlen in der Untersteiermark zum „großen Sieg des slowenischen Nationalismus“ (N.N.a 16/ 1894: 2), wie die Einführung erster parallel geführter slowenischer Schulklassen am Cillier Gymnasium seitens der deutschen Politik und deutschsprachiger Medien bezeichnet wurde. Diese traten gegen die Entscheidung mit einer groß angelegten Aktion auf, an der sich auch die Marburger Zeitung beteiligte. Der Kriegsausbruch im Sommer 1914 bot Gelegenheit zur Einführung von Gesetzen, die unter anderem das politische Leben und die staatsbürgerlichen Rechte einschränken und die Rolle der Armee in der Gesellschaft stärken sollten. So führte die österreichisch-ungarische Regierung unter Führung von Karl Graf Stürgkh am 26. Juli 1914, kurz vor Kriegsbeginn, den Kriegsabsolutismus ein, der auch die Position der Deutschen zu stärken versuchte (Ehrenpreis 2005). Die deutsche nationalistische Zivilverwaltung trat gegen die slowenische Politik auf, um eine Vereinigung der Slowenen mit den anderen südslawischen Völkern und damit den möglichen Verlust der südslawischen Länder für die Habsburgermonarchie zu verhindern. Jeder Versuch einer Föderalisierung galt als Verrat und vermeintliche Unterstützung der Pläne der Entente, der Monarchie den Todesstoß zu versetzen. 1917 befanden sich die Deutschen im Wiener Parlament gegenüber den Abgeordneten aus den slawischen Ländern in der Minderheit: Von insgesamt 481 Sitzen verfügten sie nur über 97, einen Sitz mehr als ihre größten politischen Rivalen, die Tschechen. Unter dem Eindruck der für die Achsenmächte immer ungünstigeren Lage auf den Schlachtfeldern kam es im letzten Kriegsjahr zur Radikalisierung der autonomistisch-föderalen Bestrebungen seitens der Tschechen, bald aber auch der Abgeordneten aus den südslawischen Teilen der Monarchie. 262 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) 3 Die Marburger Zeitung Von 1909-1919 war Norbert Jahn Redakteur der Marburger Zeitung . Er propagierte in zahlreichen Beiträgen die großdeutsche Ideologie und deutsche Kulturhegemonie in der Untersteiermark. Ein gemeinsames soziokulturelles Merkmal der meisten Autoren der Zeitung war ihr militärischer Hintergrund. Manche waren Berufssoldaten, andere waren zum Militär eingezogen worden. Es handelte sich zum Großteil um regionale Autoren aus Deutschland, während die Autoren aus dem österreichischen regionalen Umfeld (Untersteiermark, Krain, Görz) in der Minderheit waren. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren allerdings gering. Beide ersetzten angesichts der historischen Umstände den Austausch heterogener ethnischer und nationaler Identitätselemente sowie der dazugehörigen Ideologien und Politiken durch monokulturelle Identitätsbewegungen, deren Ursprung wiederum im Bestreben nach Stärkung der nationalen und kulturellen Homogenität lag. Im konkreten historischen Moment ist diese Monokulturalität gleichzusetzen mit der ideologischen Ausgrenzung sprachlicher Polyphonie, jenem spezifischen distinktiven Merkmal, das für die an den ‚Sprachgrenzen‘ Deutschlands und Österreichs verorteten regionalen Kontakträume charakteristisch ist, auf welche wiederum der Großteil der hier behandelten Texte auf die eine oder andere Weise Bezug nimmt. Auf Seiten der österreichischen regionalen Autoren ist der Offizier Herbert Wilhelm Josef Gratzy Edler von Wardenegg (1893-1940) ein typischer Repräsentant des ‚Kriegsliteraten‘ (N.N.a 2014). 2 Der in Laibach (Ljubljana) geborene Gratzy bildete zu Kriegsbeginn in Marburg Rekruten aus, kämpfte anschließend an der Spitze der sog. 5. Fuß-Eskadron in den Karpaten, wurde nach Bruck an der Leitha versetzt und erlebte das Kriegsende im galizischen Brody. In die österreichische Militärgeschichte ging Gratzy als Fallschirmpionier und Verfasser des 1937 in Wien und Leipzig erschienenen Handbuchs Kamerad Fallschirm ein. In der Marburger Zeitung veröffentlichte er Gedichte und Geschichten regionalen Inhalts, nach dem Krieg zog er sich gänzlich aus der Literatur zurück. Unter den Autoren aus der steirischen Region nimmt der Pastor Ludwig Mahnert (1874-1943) in ideologischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Der in Westfalen geborene Mahnert stand ab 1903 der evangelischen Gemeinschaft in Marburg vor (Giebitsch/ Gugitz 1964: 245). Er war ein glühender Anhänger der national-religiösen ‚Los-von-Rom-Ideologie‘, die im ausgesprochen katholischen Umfeld an der ‚Sprachgrenze‘ bzw. im kulturellen Kontaktraum in der Untersteiermark in der Zeit seines Wirkens in Marburg ihren Höhepunkt erreichte. Während des Kriegs war Mahnert Seelsorger, 1917 legte er sein Amt als Pastor 2 Wardenegg ist das deutsche Toponym für Straža in Unterkrain. Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 263 nieder. Ende 1918 wurde er von den jugoslawischen Behörden aufgrund seiner politischen Tätigkeit verhaftet. Im Jänner 1919 flüchtete er nach Österreich, wo er zunächst in Mürzzuschlag aktiv war, später in Innsbruck (Cvirn 2016). Mahnerts Erzählungen sind mit der Untersteiermark verbunden; 1912 erschien in Duisburg sein viel beachteter Zeitroman Die Hungerglocke. Ein Roman aus der steirischen Los von Rom Bewegung (Pungartnik 2015). Nach dem Krieg blieb er literarisch tätig, wandte sich aber historischen Themen zu. Der Berufssoldat Karl Gaischeg (Gajšek) war Kommandant des k. k. freiwilligen Schützenbataillons IV Marburg, das sich vorwiegend aus slowenischen Rekruten zusammensetzte (N.N.c 30/ 1942: 6). Er publizierte in der Marburger Zeitung , der Grazer Tagespost und im Marburger Štajerc Erzählungen über die Kämpfe an der Isonzofront. Des Weiteren ist Alfons Petzold (1882-1923) zu nennen, der wie Mahnert deutscher Abstammung war, jedoch als einer der bedeutendsten Vertreter der sozialkritischen österreichischen Arbeiterliteratur gilt. Von den deutschen regionalen Autoren sei an erster Stelle Otto Elster (1852- 1922) genannt, ein Offizier aus Braunschweig, der unter dem Pseudonym Otto von Bruneck Jugendliteratur, Kriegs-, Gesellschafts- und Liebesromane sowie Dramen verfasste. Elster, der sich auch als Militärhistoriker profilierte, trat mehreren deutschen regionalen Literaturvereinigungen bei, um sich im Feld der Literatur zu etablieren. Ein weiterer beliebter deutscher Autor von Kriegsliteratur war der in Sachsen geborene Max Karl Böttcher (1881-1963), der unter dem Pseudonym Karl Hilbersdorf in der Marburger Zeitung u. a. den Roman Der Kanzelleutnant (1911) publizierte. Besonders populär war der in München geborene Matthias Blank, unter anderem bekannt unter den Pseudonymen Theo von Blankensee und Matthias Blank-Hohenzollern. Blank schrieb im frühen 20. Jahrhundert Kriminalromane wie Die Anarchisten , Der Mord im Ballsaal , Der seltsame Zeuge , mit denen er die Gunst der Leserschaft wie auch der Zeitungsredakteure in Deutschland und in den habsburgischen Ländern gewann. Seine Texte finden sich u. a. auch in der Grazer Zeitung , im Salzburger Volksblatt und in der Salzburger Chronik . In der Marburger Zeitung erschienen auch literarische Beiträge von Frauen. Nach der Autorschaft zu urteilen, stammten sie aus der näheren oder ferneren Region. Zum Teil handelt es sich um Vertreterinnen österreichischer oder deutscher Unterhaltungsliteratur, im Unterschied zu den männlichen Kollegen weiß man über sie jedoch nur sehr wenig. Zu diesen Autorinnen zählen u. a. Martha Hnidy (eine Ruthenin), Sida Sölch, Draga Nitsche-Hegedusic und Irene von Hellmuth, Verfasserin beliebter Frauenromane wie Die Feuerliese , erschienen 1900 in Heilbronn. Obwohl die genannten Autoren und Autorinnen aus kulturell heterogenen Umfeldern stammen, schlägt sich dieser Umstand, wie noch zu sehen sein wird, in den erfassten Texten nur in Ausnahmefällen nieder. 264 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) 4 Identitätskonstruktionen zwischen eigenem, fremdem und kollektivem Gedächtnis Bei den untersuchten literarischen Beiträgen (mehr als fünfzig) handelt es sich zum Großteil um Prosatexte, wobei Fortsetzungsromane überwiegen, gefolgt von kürzeren Erzählungen und Novellen. Wie schon in der Einleitung vermerkt, veröffentlichte die Marburger Zeitung in den Kriegsjahren auch zahlreiche Gedichte, die ebenfalls berücksichtigt wurden, weil sie narrative Fragmente enthalten, die für die Beleuchtung hinsichtlich der Repräsentation von Identitätskonzepten und des kollektiven Gedächtnisses von Bedeutung sind. In den Zeitungsbzw. Feuilletonromanen, die dem Genre des Zeitromans zuzuordnen sind, ist die erzählte Zeit identisch mit der Rezeptionszeit des Lesers. Erzählungen mit Genrebezeichnungen wie z. B. Kriminalroman und Volksroman finden sich nur vereinzelt, ebenso selten sind Romane mit historischer Thematik, wenngleich historische Themen auch in vielen Zeitromanen sowohl auf narrativer als auch auf diskursiver Ebene anzutreffen sind. In Einklang mit der populärliterarischen Ästhetik zeichnen sich diese Romane außerdem durch Elemente des Gesellschafts-, Kriegs-, Reise-, Liebes- und Kriminalromans aus. Häufig bedienten sich die Autoren des Kriegs-Reiseromans - eines Genrehybrids, dessen Handlungsraum in weit entfernten, exotischen Umgebungen, z. B. Algerien (Hohenofen 270/ 1916-2/ 1917) angesiedelt ist - zur getarnten Abhandlung aktueller ideologischer Themen im Zusammenhang mit Kriegspolitik und den Geschehnissen an den Kriegsschauplätzen. Viele der untersuchten Beiträge weisen regionale Implikationen von Autorschaft, erzähltem Raum und stofflichen, motivisch-thematischen sowie diskursiven Merkmalen auf. Diese Implikationen stehen großteils in Verbindung mit soziokulturellen Räumen in deutschen Regionen, vor allem denjenigen an sprachlichen und kulturellen Grenzen, wie z. B. Lothringen (Blank 3-35/ 1917) oder Ostpreußen (Elster 91-127/ 1917). Literarische Regionalismen, also die den Lesern vertrauten kulturellen Räume der (Unter-)Steiermark, des nahe gelegenen Krain und Görz, sind in der Unterzahl, genau wie die Texte, in denen sie auftreten. Dies ist durch die großdeutsche Gesinnung von Redaktion und Leserschaft bedingt, die als Folge der Kräfteverhältnisse in der historischen Umbruchszeit zu verstehen ist. Unter den Beiträgen mit regionaler Thematik herrschen Gedichte vor, es finden sich jedoch auch einige Erzählungen. Die Beiträge enthalten vereinzelte Elemente sprachlicher und literarischer Polyphonie, vor allem Codewechsel, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird. Die behandelten Romane handeln von konfliktträchtigen Liebeskonstellationen (Beye 122-156/ 1914) und daraus hervorgehender Eifersucht, die in einer dramatischen Handlung mit unerwarteten Wendungen zu kriminellen Hand- Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 265 lungen und Tod führt. Auf das Verbrechen folgt die Strafe, auf diese wiederum die Einsicht in den begangenen Fehler und, letztendlich, die Wiederherstellung der zerstörten Natur- und Gesellschaftsordnung. Letztere basiert auf ideologischen Grundsätzen von Patriarchalismus, Imperialismus und Kolonialismus, dessen Objekte auf Stereotypen bauende Identitätskonstruktionen von ‚Dunkelhäutigen‘ und ‚Mulattinnen‘ sind, sowie auf der Verherrlichung moralischer Werte des deutschen Bürgertums, unter denen Patriotismus in Kombination mit Mut, Menschlichkeit, Weisheit und Liebe eine besondere Stellung einnimmt. In den Kriegserzählungen stehen Fragen der ethnischen und nationalen Identität oft neben Fragen der religiösen Zugehörigkeit und offenbaren so hybride Identitäten. Der feste Glaube muss das Gotteshaus ersetzen, heute, morgen und wer weiß noch wie viele Tage, bis der Feind niedergerungen und die Gefahr für die eigene Scholle verbannt ist. (Gratzy 154/ 1915c: 1) Es muss betont werden, dass die national-religiöse Hybrididentität in Einklang mit der Heimatideologie und dem Postulat nach einer regionalen Verortung steht. Als solche ist sie von aktueller Bedeutung und daher häufig in zeitgenössischen Erzählungen mit Kriegsthematik anzutreffen. Die Imagination der Region ist bi- und polykulturell kodiert und ist zwischen den Polen dominanter Konfliktträchtigkeit und der Verflechtung ethnischer Kulturen ausgespannt. Letztere kommt seltener vor und vollzieht - wie im Folgenden zu sehen sein wird - unter dem Einfluss kollektiver Wertvorstellungen einen grundlegenden inhaltlichen Wandel. Die inszenierten Identitätskonstruktionen stellen ein realistisches Abbild geschichtlicher Konstruktionen dar und sind die Frucht radikaler Abgrenzungen zwischen Eigenem und Fremdem, die mit einer ganzen Palette nationaler Auto- und Heterostereotype operieren. Bei Letzteren handelt es sich um eine zentrale Identitätskomponente, die eine wichtige Rolle in der Repräsentation des kollektiven Gedächtnisses spielt. Hinsichtlich der Stereotype lässt sich eine nationalkulturelle Hierarchierangliste bilden, an deren Spitze Engländer und Franzosen rangieren, wohingegen Russen und andere ‚Rassen‘ bzw. ‚Mischlinge‘ die Schlusslichter bilden. Viele Stereotype speisen sich aus nationalhistorischen und mythisch-legendenhaften Diskursen aus der Geschichte deutscher Siege und Niederlagen, darunter vor allem aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 und der Zeit der Okkupation und Annexion Bosniens: Pah! Es [Österreich-Ungarn] hat Bosnien gestohlen wie Deutschland die französischen Kinder Elsaß und Lothringen gestohlen hat. (Blank 10/ 1917: 1) 266 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Stereotype Identitäten bilden ein Imaginarium feindseliger Fremdheit (Schäffter 1991: 11-24) und mit ihr verbundener Konfliktkonstellationen, die sich im gängigen Handlungsschema ausnahmslos zugunsten des heimischen Protagonisten auflösen. In den Koordinaten der Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremdem, anhand erfolgreicher Versuche der Aneignung faszinierend-bedrohlicher Exotik (Elster 87-151/ 1915) oder der Integration von entfremdetem Eigenen sowie im Kontext der Inszenierung kultureller Asymmetrien verschmelzen die dem heimischen Protagonisten zugeschriebenen Tugenden zu einem Werteparadigma, das auf Alterität beruht. Stereotype Identitäten erfüllen die Funktion kultureller Homogenisierung, die über die eurozentrische Aneignung von Fremdem erfolgt, was insbesondere in der Identitätsrepräsentation von ‚Mulattinnen‘ als Personifikation exotischer Schönheit zum Ausdruck kommt. Einigen nationalen Stereotypen liegen Ansätze zur Dekonstruktion mittels Darstellung intrakultureller Differenzen zugrunde, was am Beispiel der Ungarn zu beobachten ist, deren Repräsentation als historisch und politisch heterogene gesellschaftliche Gruppe vom potenziellen Sieger bis zum Opfer reicht (Beye 135/ 1914: 1). In den Texten sind zwei Formen narrativer und diskursiver Auseinandersetzung mit intrakulturellen Differenzen zu beobachten. Die erste kommt in der Geschichte über einen deutschen Frankophilen aus dem kulturell heterogenen Lothringen zum Ausdruck: Der individuelle Identitätsunterschied wird im Laufe des Geschehens zum Gegenstand subversiver Dekonstruktion im Rahmen einer trivialen Spukgeschichte. Sie äußert sich in Gestalt eines Schlossgespenstes, das für die durch einen der Protagonisten verkörperte Kriegsspionage steht (Blank 3-35/ 1917). Die groteske Dekonstruktion der populären nationalen Ästhetik im privaten und öffentlichen Raum mündet in die finale Homogenisierung der deutschen kollektiven Identität im grenznahen Lothringen und der Konsolidierung des Wertesystems, das zu Beginn des Geschehens durch den intrakulturellen Unterschied gefährdet war. Die zweite Form der Repräsentation intrakultureller Unterschiede stellt die Möglichkeit der Dekonstruktion vorherrschender Denk- und Handlungsmodelle und die daraus folgende Herausbildung alternativer Identitätskonzepte dar. Das Potenzial hierfür wurzelt in der subversiven Haltung zur gesellschaftlichen Realität, die zwei Ausgänge hat - einen homogenisierenden sowie einen heterogenisierenden und emanzipativen. Der erste zeigt sich in einer Erzählung, in deren Mittelpunkt ein Protagonist steht, der mit seiner manipulativen Haltung zum Krieg als Mittel zur Lösung von Eheproblemen - er meldet sich freiwillig als Rekrut bei einer nicht existenten Heereseinheit - eine Reihe von Fragen zur Sinnhaftigkeit von Krieg und Sterben im Wertekontext des Patriotismus aufwirft: Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 267 „Haben Sie sich freiwillig gemeldet? “ frug er. „Dös schon! “ erklärte der Luis. „Was? Freiwillig gʼmeldet! “ rief die Rosl. „Dös hast mir antan! “ „Dös hast mir antan! “ grölte der Luis voller Schneid. „Weil ich dös Leben neben deiner dick kriagt hab. Liebar gehʼ i in den Kriag! “ (Greinz, 267/ 1916: 1) Der Protagonist grenzt eine der zentralen Semantiken - den Krieg - durch groteskes Verhalten aus der eigenen kulturellen Ordnung aus. Genau an dieser Stelle erreicht die Handlung ihren Wendepunkt, und die Subversion geht in ihr Gegenteil über: Entfremdete Liebe tritt in zwei Erscheinungsformen, freundschaftlich und ehelich, am Wendepunkt des Geschehens als Resonanzrahmen in der Funktion der Homogenisierung des Eigenen zutage. Die Diskursivierung des Transnationalen bzw. Transkulturellen als universaler Repräsentation der Liebe wird dadurch deaktiviert. Ein anderer Ausgang der subversiven Haltung zu kollektiven Praxen zeigt sich in einer Geschichte, in deren Zentrum die exotische Brasilianerin Arrita steht. Diese tritt mit ihrer augenscheinlichen kulturellen Mimikry als Form subversiver Aneignung und manipulativer Instrumentalisierung sozialer Praxen den Weg einer nicht nur gesellschaftlichen und kulturellen, sondern auch geschlechtlichen Emanzipation an, womit die Bedingungen für die Positionierung intrakultureller Differenzen und damit der Heterogenisierung der dominanten Kultur geschaffen sind. Die Schönheit Arritas machte Aufsehen selbst in dieser Welt der oberen Zehntausend. Sie wurde von den Herren umschwärmt, von vielen jungen Damen beneidet, von den alten Damen, denen sie mit ihrem kindlichen Wesen zu schmeicheln wußte, verhätschelt - kurz, die schöne Brasilianerin war eine Zeitlang der Mittelpunkt der Gesellschaft gewesen. Das hatte aber ihren Charakter gänzlich umgewandelt oder vielmehr die in ihrem Charakter liegenden Eigenschaften entwickelt. Mit instinktiver Schlauheit wußte sie von den Vorzügen ihrer äußeren Schönheit Vorteil zu erzielen - ihre Schönheit in das rechte Licht zu stellen, ohne dabei ihr kindlich-naives Wesen abzulegen. (Elster 106/ 1915: 1) Unter den vorgestellten Modi der Erinnerungsrhetorik, die das kollektive Gedächtnis evozieren, herrscht der erfahrungshaftige Modus und damit die Inszenierung des kommunikativen Gedächtnisses vor, die eng mit dem Zeitroman und Gelegenheitsgedichten über historische Ereignisse in einer Stadt bzw. Region verbunden ist. Beide literarischen Genres wurden von der Leserschaft als Ausdruck des zeitgenössischen Alltags aufgefasst. Der erfahrungshaftige Modus der Erinnerungsrhetorik kommt in alltäglichen Topoi zum Ausdruck, die eine reale individuelle bzw. kollektive Erfahrung evozieren, die in semantischer Korrelation zur Gegenwart des Lesers steht. Der erfahrungshaftige Modus ist auch in der Inszenierung der Sprachen der einzelnen imaginierten Gemeinschaften zu 268 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) beobachten, die sich im bereits erwähnten Codewechsel äußert. Im Mittelpunkt der Darstellung von Mehrsprachigkeit stehen die Nationalsprachen der sich bekriegenden Staaten, wobei Deutsch, das verständlicherweise die Vormachtstellung innehat, sich stellenweise mit Englisch bzw. Amerikanisch (Hohenhofen 277/ 1916: 1), hauptsächlich jedoch mit Französisch und Italienisch abwechselt: Sie [das Serviermädchen] machte einen zierlichen Knix und radebrechte in deutsch und italienisch: „O Signori - Der Mond, der Mond - unna bella notte - eine sehr viel schönere Nacht, - e vero! “; Und sie fragte nun hastig, was der Signore zu essen und trinken wünsche? „Polenta? - Uova con prosciutto - Eier mit Schinken? Limoni, Arancie, mele, formaggio? Zitronen, Orangen, Käse? “ (Bötcher 164/ 1915: 1 u. 169/ 1915: 1) Der Codewechsel ist auf die Repräsentation des kulturell Anderen und Fremden beschränkt, sowohl in deutschen Grenzregionen und regionalen Kontakträumen als auch in kulturellen Räumen an der Sprachgrenze der deutsch-italienischen Nachbarschaft. Slowenisch als kulturelles Konkurrenzidiom ist vom Codewechsel mit dem Deutschen ausgenommen, womit Zweisprachigkeit aus der literarischen Imagination der regionalen Kulturordnung ausgeschlossen ist. Die Standardsprache wechselt oft mit Substandardformen ab, die sich in regionalen und dialektalen Codes äußern, während unter den Berufssprachen der soldatische Jargon vorherrscht: […] Panzerkreuzer, Audacious, Paathfinder? Wo sind Aboukic, Crossy und Rogue? (Hohenhofen 1/ 1917: 1) Der erfahrungshaftige Modus zeigt sich weiterhin in der ‚persönlichen Stimme‘ und der Ich-Erzählperspektive. Dieser Aspekt erfahrungsbezogener Erinnerungsrhetorik ist in Kriegserzählungen omnipräsent und gebunden an einen Erzähler, der die Rolle des Zeitzeugen einnimmt. Gerade die Rolle der Inszenierung einer persönlichen Stimme in Verbindung mit der Darstellung historischer Realität 3 aus der Sicht der Zeugen war von außerordentlicher Bedeutung für die Herausbildung eines positiven kollektiven Bewusstseins hinsichtlich der Frage, ob der Krieg angesichts der Opfer zu rechtfertigen sei. Die erfahrungsbezogene Erinnerungsrhetorik wird in Zusammenhang mit Erzählungen über Ereignisse und Erfahrungen auf dem Schlachtfeld auch in der Inszenierung der individuellen Erfahrung durch Sinneswahrnehmungen und Gefühle offensichtlich, die zum elementaren Teil des kommunikativen Gedächtnisses der Leserschaft werden: 3 Innere und äußere Handlung sind in den literarischen Beiträgen erwartungsgemäß eng miteinander verflochten, was mit realistischer Ästhetik und Genrepoetik der Texte einhergeht. Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 269 Siegesgefühl durchströmt die pulsierenden Herzen von Alt und Jung auch jetzt noch nach Tagen, als der fürchterliche Anprall der russischen Massen an der steierischen Felswand zerschellt, und keine Entbehrung wird in diesem Gefühlszustande zu schwer. (Gratzky 154/ 1915: 2) Die Verschmelzung der Alltagssprache der Gemeinschaft mit Phrasen bzw. formalisierten und archaischen Idiomen - „Alle meldeten sich freiwillig zum Kampfe. Ein starkes Kaiserwort hat sie gerufen.“ (Blank 294/ 1915: 7) - stellt eine der Formen des Übergangs vom handlungsbezogenen zum monumentalen Erinnerungsmodus dar. Das Oszillieren zwischen diesen beiden erinnerungsrhetorischen Modi ist eines der zentralen narrativen Merkmale der behandelten Texte. Zu einem weiteren Übergang vom Handlungsmodus zum monumentalen Modus kommt es durch Vermittlung des Erzählers, der mit ‚autoritativer Stimme‘ spricht, den fiktiven Leser anspricht und so mit ihm in unmittelbaren Kontakt tritt: Durfte sie denn horchen? Durfte sie sich in ein Geheimnis einschleichen, von dem die Freundin ihr selbst nichts verraten wollte? (Blank, 14/ 1917: 1) Oszillationen zwischen monumentalem und erfahrungsbezogenem Modus finden auch an Stellen statt, an denen reale Chronotopoi und Erfahrungen, die im außerliterarischen kollektiven Gedächtnis kodiert sind, als Vorzeichen des Mythischen und Legendären fungieren und so Teil des kulturellen Gedächtnisses werden. Neben den bereits erwähnten Lothringen, Bosnien und Preußen sind auch das Elsass und Kurland (Elster 91-127/ 1917) sowie Orte aus dem heimischen Umfeld und die damit verbundenen Ereignisse, wie z. B. die Isonzoschlacht, in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis kodiert (N.N.d 294/ 1915: 2-3). Zu bemerken sind aber auch gegenteilige Beispiele, in denen Erinnerungsorte und Ereignisse, z. B. die Völkerschlacht bei Leipzig (Gratzy 219/ 1915: 5), durch aktuelle Erfahrungen wieder Teil des kommunikativen Gedächtnisses werden. Diese Form des Oszillierens zwischen monumentalem und erfahrungshaftigem Modus basiert auf dem Gebrauch populärer literarischer Mittel, z. B. der Personifizierung, einem der zentralen mikrostrukturellen Hebel für identifikatorisches Lesen. Es ist auch in Reiseberichten zu beobachten, so etwa in der Inszenierung einer Reise das Drautal stromaufwärts - von Maribor bis ins Südtiroler Franzensfeste. Durch die Reiseerfahrungen, die in die ideologisch-kulturell geprägte Landschaft eingebettet sind - asymmetrisch kontrastiert zwischen Natur- und Kulturlandschaft (die Steiermark ist im Gegensatz zu Kärnten und Tirol in ihrer Ursprünglichkeit als Naturlandschaft kodiert) -, werden geschichtliche Ereignisse und Erinnerungen Teil der Gegenwart des Lesers: 270 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Großglockner und Großvenediger […] diese Gegend ist aber von geschichtlichem Interesse. In der keltisch-römischen Zeit stand hier die von Kaiser Claudius mit dem Stadtrechte ausgezeichnete Ansiedlung Aguntum, aus der später das bajuwarische Dorf Luenzia entstand […] Rechts erheben sich die Höhen von Spinges, wo 1797 einer der heftigsten Kämpfe gegen die Franzosen stattfand. (Baum 32/ 1915: 2 u. 33/ 1915: 2) Stellenweise ist dieses Oszillieren zwischen Monumentalem und Erfahrungshaftigem auch an der Intertextualität zu beobachten, die oft in biblischen Referenzen in Erscheinung tritt und im folgenden Beispiel der Inszenierung des oben erwähnten religiös-nationalen Konzepts dient: Ruhig Blut, mein wilder Junge! Das Ungerechte in dem Wort der heiligen Schrift sieht nur die Selbstsucht. (Grabowski 96/ 1918: 2) Aus den Formen des Oszillierens zwischen monumentalem und erfahrunghaftigem Modus lässt sich die Absicht der Autoren erkennen, durch die Diskursivierung deutscher kultureller Hegemonie in historischer Perspektive einen Beitrag zur Identifikation der Leserschaft mit der deutschen soziokulturellen Gemeinschaft und deren Wertesystem zu leisten. Dies ist eines der zentralen Merkmale medialer Diskurse in sprachlich heterogenen Grenzgebieten der historischen Länder Österreichs und Deutschlands. Der dritte erinnerungsrhetorische Modus in diesen Texten ist der antagonistische. Er taucht auf in der Narrativierung individueller und kollektiver Identitätskonzepte, die das Produkt ideologischer Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem sind, wobei die Autoren auf den Ausschluss alternativer Erinnerungen abzielen. Der Konstellation der Figuren ist abzulesen, dass es sich bei den Teilnehmern an der Erinnerungskommunikation vorrangig um herausragende Vertreter der deutschen Gemeinschaft handelt: Soldaten an der Front und im Hinterland, Frauen im Hinterland, der patriotischen Idee verpflichtete Einzelne. Der antagonistische Modus äußert sich in der Inszenierung räumlicher Kontraste. Besonders interessant ist das Verhältnis zwischen Fremde und Front auf der einen sowie Heimat und Hinterland auf der anderen Seite, denn es zeichnet sich sowohl durch Kontrastierung als auch durch vielschichtige, patriotisch kodierte Korrelation aus (N.N.b 69/ 1915: 4). Im Unterschied zur persönlichen Stimme als Trägerin des kommunikativen Gedächtnisses tritt im antagonistischen Modus der Erinnerungsrhetorik die Stimme der Gemeinschaft in den Vordergrund. Sie findet Ausdruck im Erzählen in der ersten Person Plural und ist eine der möglichen literarischen Strategien zur Monopolisierung der Erinnerung bzw. des Ausschlusses anderer imaginierter Gemeinschaften - insbesondere nationaler - aus der Vermittlung von Erinnerung: Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 271 Wir [die Engländer] fürchten sie [die Deutschen] nicht! Aber lästig sind sie. Deshalb werden wir sie noch abschütteln. (Hohenhofen 270/ 1916: 1) Der antagonistische Modus, der in diesen Erzählungen mit dem erfahrungshaftigen verflochten ist, zielt darauf ab, gesellschaftliche und mediale Praktiken wie z. B. die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft, die Tradierung von kollektiven Identitätskonzepten und Werthierarchien des Eigenen empirisch zu legitimieren, denn diese Praktiken sind nicht nur ausschlaggebend für die soziale Lage der Gemeinschaft, sondern auch für deren Überleben. Genau dieses Ziel verfolgt auch das Oszillieren zwischen antagonistischem und monumentalem Modus bei der Inszenierung von Erinnerungsorten. Die Inszenierung von Unterschieden in den kollektiven Identitäten des Eigenen kann eine homogenisierende Funktion haben, gleichzeitig aber liefert die Exemplarität im Denken und Handeln des Individuums auch einen Impuls für ein mögliches kritisches Hinterfragen der Repräsentation des Eigenen und seiner Identitäts- und Erinnerungsattribute. Auf der Ebene der Erinnerungsrhetorik äußert sich dies im reflexiven Modus. Ansätze dafür gibt es in einigen Texten. So werden zum Beispiel in Gelegenheitsgedichten mit heimatlich-regionaler Semantik (Mahnert 63/ 1914: 3) Rituale inszeniert. Allerdings ist dieses kritische Potenzial aus ideologischen Gründen und unter Einfluss des Oszillierens zwischen erfahrungshaftigem, monumentalem und antagonistischem Modus deaktiviert. Ansätze zu einer reflexiven Rhetorik sind den Übergängen zu einer anderen Art antagonistischen Erinnerns eingeschrieben, die das Potenzial zur Aufnahme alternativer Erinnerungsdiskurse in das dominante kollektive Gedächtnis in sich trägt, wie dies aus einem rund um die Niederlage an der Isonzo-Front entstandenen Gelegenheitsgedicht ersichtlich ist: […] Vorbei der Tanz. Nur eine Massengruft Schreit auf nach Rache, und ruft Gott zum Zeugen. Beim Himmel - wir haben dieses Morden nicht gewollt. Wir haben dieses Morden nicht gewollt. Du warfst den Pechkranz auf des Freundes Haus, Du hast dem Bund die Ehre nicht gezollt. Du ludst die Geier ein zum Leichenschmaus. — Nun hat der welsche Sturm sich ausgetollt: Die Lüfte schweigen - und der Tanz ist aus. (N.N.c 294/ 1915: 2-3) 272 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Reflexive erinnerungsrhetorische Ansätze sind auch der Darstellung intrakultureller Differenz abzulesen, die wir oben als potenziellen Dekonstruktionsmechanismus identifiziert haben. In heimatlich-patriotisch kodierten Gedichten äußert sich intrakulturelle Differenz in der Inszenierung regionaler ethnischer und kultureller Heterogenität, innerhalb derer jedoch die Ansätze zu Mehrsprachigkeit aufgrund diskursiver Durchmischung der zentralen ideologischen Praktiken versickern, so auch im folgenden Gedicht über die legendären Marburger Dragoner, in dem das Konstrukt identitärer Homogenität überwiegt. 4 […] Ob Kärntner oder Steirer Ob wir vom Künstenland Ob Görzer oder Krainer Ob vom Isonzostrand. […] Eins haben wir halt alle Den Geist! - und Gott zum Schutz! (Gratzy 212/ 1915: 3) Während sich die oben erörterte kollektiv-identitäre Dekonstruktion einer definitiven Einordnung des verfremdeten Eigenen verschließt, so stellt sich der gegenständlichen reflexiven Erinnerungsrhetorik ein virulentes Geflecht religiöser, heimatlicher und patriotischer Ideologie entgegen, deren identifikatorische Funktion zu dominant und manipulativ ist, als dass sie der Diskursivierung alternativer regionaler Erinnerungen und damit transkulturellen Implikationen im dominanten Erinnerungsnarrativ und in der vorherrschenden kollektiven Identität als dessen Träger Platz einräumen würde. 5 Schlussfolgerungen In den während des Ersten Weltkrieges in der Marburger Zeitung erschienenen literarischen Texten spiegeln sich klar die historischen Kontexte, die persönlichen Biographien der Autoren, deren Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und die Einbettung in regionale soziokulturelle Räume, andererseits aber auch historische Ereignisse und gesellschaftliche Diskurse in den realen, vorwie- 4 Die Erinnerung an das k. u. k. Steirisch-Kärntnerisch-Krainerische Dragonerregiment 5 hält der Kavalleristische Reitverein Fünfer Dragoner aufrecht, der sich mit seinem Wirken in das gekreuzte österreichisch-slowenische historische Gedächtnis eingeschrieben hat. Literarische Identitätskonstruktionen in der Marburger Zeitung 273 gend regionalen, pluriethnischen Räumen in den sprachlichen Grenzgebieten der Habsburgermonarchie und insbesondere Deutschlands. Die Verortung der literarischen Beiträge in den beschriebenen Räumen war mit ein ausschlaggebender Faktor für identifikatorisches Lesen, das sowohl dem ideell-ästhetischen Konzept der behandelten Erzählungen und Gedichte als auch dem ideologischen Programm der führenden deutschen Zeitung in der Untersteiermark eingeschrieben war. Die Identitätskonstruktionen und Erinnerungsrhetoriken zeugen vom Versuch, existenzielle und gesellschaftliche Orientierung, Selbstpositionierungen und kollektive Positionierungen von Individuen und sozialen Gruppen vorzunehmen. Hierbei verwendeten die Autoren zumeist Identitätskonzepte, die auf dem Mechanismus der Abgrenzung bzw. des Ausschlusses des Anderen beruhten und in der Regel zu kulturellem Essenzialismus führten. Der Krieg repräsentiert den Erfahrungsrahmen für die Verbindung der dominanten mit monumentaler und antagonistischer Erinnerungsrhetorik, wobei aus der Perspektive der Inszenierung kollektiver Identität die Einordnung des Erzählten in das kulturelle Gedächtnis und die Einordnung des kulturellen Gedächtnisses qua gegenwärtiger kollektiver Erfahrung in den Bereich des kommunikativen Gedächtnisses von besonderer Bedeutung ist. Die enge Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Realität und zeitgeschichtlicher literarischer Fiktion als zentrales ästhetisches Merkmal der untersuchten Texte enthält Ansätze zu einer ästhetischen Polyphonie, die sich in der Verschränkung von Naturalismus und Phantastik äußert. Stellenweise sind in der Inszenierung homogener kollektiver Identitäten innerhalb der deutschen kulturellen Ordnung und der Repräsentationen ‚universeller‘ Konzepte sowie des regionalen kulturellen Gedächtnisses auch Ansätze und Signale für die Dynamisierung von Identitäten und damit für deren Einbettung in den Heterogenitäts- und Transkulturalitätsdiskurs zu beobachten. Diese dekonstruktiven Ansätze werden jedoch von der überdimensionierten ideologischen Kodierung von Nationalismus, Patriotismus und Religiosität deaktiviert. Mitunter lässt die Darstellung intrakultureller Unterschiede, der dazugehörigen Figurenkonstellationen und identitätsstiftenden Attribute zumindest die Möglichkeit zur Reflexion stereotyper Identität als Konstrukt erahnen. Noch am weitesten in diese Richtung gehen die exotischen Frauengestalten am soziokulturellen Rand entfernter regionaler Räume. Diese Figuren treten mit ihrer subversiven Vereinnahmung dominanter sozialer Praktiken in einen kritischen Dialog mit den Wertgrundlagen eben dieser Praktiken und schaffen die ideellen und ästhetischen Voraussetzungen für einen ‚schrägen Blick‘ auf die literarisierte gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Erinnerungsdimension. Diese entfernten soziokulturellen Räume des Eigenen schließen stellenweise auch Mehrsprachigkeit mit ein. Diese tritt in nahe gelegenen fremdkulturellen 274 Matjaž Birk, Sašo Zver (Maribor) Umfeldern in Erscheinung, nicht jedoch in Repräsentationen der Untersteiermark und der Krainer Kulturregion, wo aufgrund der krisenhaften gesellschaftlichen Verhältnisse und des Einflusses von Patriotismus, Heimatideologie und Religionismus die Ansätze für Mehrsprachigkeit ebenso versiegen wie für die Inszenierung unterschiedlicher sozialer Praktiken. Literaturverzeichnis Assmann, Jan (1998). Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 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As their texts often undermine literary stereotypes and social prejudice, they can be regarded as parts of counter-discourses. By applying a text analysis method based on the concept of intersectionality, even latent positions of counter-discourses become apparent. Keywords: Austro-Hungarian literature, female migrant writers, transdifference, intersectionality, counter-discourse Die folgenden Ausführungen fassen Teilergebnisse des FWF-Forschungsprojekts „Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn“ zusammen, das unter Mitarbeit von Katalin Teller im Rahmen des Elise Richter-Programms 2012 bis 2016 durchgeführt wurde. Ausgangspunkt des Projekts war die Frage, wie sich das Erfahrungswissen der migrierten oder reisenden Autorinnen in Bezug auf ihr Herkunftsland oder die von ihnen bereisten Orte als literarisches Differenzmerkmal niederschlägt. 1 Erfahrungswissen bedeutet in diesem Fall die im Zuge der Migration oder Reise erfahrene Berührung, Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Fremden, welches vordergründig hauptsächlich im sprachlich-kulturell Anderen besteht, aber auch andere Identitätsaspekte bzw. soziale Kategorien wie Gender, Religion, Genera- 1 Ein Teilresultat des Projekts ist die Recherchedatenbank www.univie.ac.at/ transdifferenz mit über 200 Autorinnen, ihren Lebensdaten und Werken und den Links zu Digitalisaten. 278 Alexandra Millner (Wien) tion betreffen kann. Auf den Aspekt der Mehrsprachigkeit werde ich hier nur am Rande verweisen, sie lässt sich als eine weitere soziale Kategorie begreifen. 1 Ausgangshypothese Der Fokus auf Texten von Migrantinnen resultiert aus der Beobachtung, dass diese zum Teil auffällige Abweichungen von konventionellen literarischen Verfahren aufweisen, durch die gesellschaftskritische Momente vor allem in Hinblick auf die soziale Benachteiligung ethnischer Minoritäten oder sozial Marginalisierter freigesetzt werden. Die meisten der Autorinnen stammten aus den Peripherien Österreich-Ungarns und migrierten - im Zuge der allgemeinen Landflucht - meist in die Großstadt: nach Wien, Budapest, Prag, Berlin; andere wechselten zwischen urbanen Zentren, einige verließen die Zentren temporär. Dass viele Texte, die im Herkunfts- oder Reiseland angesiedelt sind, in zeitlicher Nähe zur Migration oder Reise entstanden, ist ein mögliches Indiz für eine prägende Fremderfahrung und die diesbezügliche Verarbeitungsfunktion von Literatur. Die Erfahrung von Mehrsprachigkeit ist angesichts der transkulturellen Ausprägung des pluriethnischen Gefüges der Habsburgermonarchie ebenso Teil des Forschungsinteresses wie die Konfrontation mit Fremdsprachen durch Migration oder Reise. Unter den slowenischen - und im Übrigen allesamt mehrsprachigen - Autorinnen sind die Journalistinnen Hedwig von Radics-Kaltenbrunner (Wien 1845 - Ljubljana/ Laibach 1919) und die zwischenzeitlich in Trieste/ Triest lebende Ivanka Anžič Klemenčič (Ljubljana/ Laibach 1876-1960), Herausgeberin der feministischen Zeitschrift Slovenka (1897-1902), zu nennen; sowie die von Ivan Cankar als „einzige slowenische Schriftstellerin“ (Cankar 1900: 213; Vitorelli 2007: 24) bezeichnete Zofka Kveder (Ljubljana/ Laibach 1878 -Zagreb/ Agram 1926). Die Ausgangshypothese der Studie lautet, dass die Autorinnen ihr Erfahrungswissen über die sozialen und topographischen Ränder in Form von transdifferenten Darstellungen in die Konzeptionen ihrer Figuren und Geschichten einfließen ließen und dass dadurch literarische Stereotypisierungen und damit gesellschaftliche Vorurteile unterminiert wurden. Daraus ergeben sich Neuperspektivierungen vertrauter Motive, Themen, Stoffe und Genrefiguren, die dominante Diskurspositionen in Frage stellen und als Anzeichen von Gegendiskursen gelesen werden können. Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 279 2 Material Die Literatur in Bezug auf Österreich-Ungarn im Zeitraum von 1867 bis 1918 eignet sich deshalb besonders gut zur Beforschung dieser Fragen, weil die im Laufe des 19. Jahrhunderts angestiegenen sozialen Spannungen, die aus den restaurativen Zentripetal- und den demokratisierend-emanzipatorischen Zentrifugalkräften resultierten, Ende des Jahrhunderts in einer Phase des gesellschaftspolitischen Aufbzw. Umbruchs manifest wurden. Diese ‚Zeit des Übergangs‘ äußert sich in der fortschreitenden Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, konkret in den feministischen, nationalistischen sowie sozialistischen Emanzipationsbewegungen mit ihren partiell erfolgreichen Forderungen. Durch die Technisierung, Elektrifizierung und weitere Industrialisierung kommt es zu größerer Mobilität weiter Bevölkerungsschichten und zur Landflucht, somit auch zu größeren Migrationsbewegungen, vor allem auch innerhalb der Monarchie. Die Verbesserungen im Buchdruck führen zu einem Zeitschriftenboom und in der Folge zur massiven Medialisierung der Öffentlichkeit, zu den ersten Massenmedien, durch die virulente gesellschaftspolitische Fragen einfacher und schneller diffundieren konnten. Der gesellschaftliche Umbruch war dadurch gekennzeichnet, dass die Polarität binärer Differenzen, welche die Konstruktion symbolischer Ordnungen formieren, immer stärker hinterfragt wurde. Das betraf vor allem die universalistischen asymmetrischen Herrschaftsverhältnisse, wie sie sich über Jahrhunderte zwischen den Geschlechtern, den ethnischen Gruppierungen in der Monarchie und zwischen den Besitzenden und Besitzlosen eingebürgert hatten. Nun begann man vermehrt Alternativen zu denken und zu schreiben, die quer zum tradierten „binäre[n] Inklusions-/ Exklusionsschema“ (Lösch 2005: 36) soziokultureller Grenzen verliefen, und machte in literarischen Entwürfen durch die temporäre Suspendierung dieser Grenzziehungen auf die Kontingenz der symbolischen Ordnung aufmerksam, die nur durch die beständig erneuerte Exklusion von Alternativen aufrechterhalten werden kann. Neue Fragen wie jene nach der Ausbeutung der Arbeiter_innen oder dem Status des ethnisch Anderen oder der Geschlechterhierarchie finden in theoretischen, essayistischen oder literarischen Texten (Tendenzliteratur) immer expliziter Eingang und zunehmende Verbreitung. Zudem werden diverse literarische Verfahren eingesetzt, die den Blickpunkt auf gesellschaftlich relevante Themen verändern. 280 Alexandra Millner (Wien) 3 Transdifferenz Das daraus resultierende temporäre „Aufscheinen des in dichotomen Differenzmarkierungen Ausgeschlossenen“ (Lösch 2005: 23) ist das, was nach den deutschen Amerikanisten Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch unter dem Konzept der Transdifferenz zu verstehen ist. Transdifferenz betrifft interwie intrasystemische Aushandlungsprozesse ebenso wie die Ebene des Subjekts, die für uns im Hinblick auf die literarische Figurengestaltung von Interesse ist, als „gegenseitige Überlagerung von sich wechselseitig relativierenden und sich dadurch ständig verändernden Zugehörigkeitsaspekten“ (Lösch 2005: 34). Transdifferenz ist somit „das Produkt von kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, quer zueinander liegenden Identitätsaspekten sowie unvereinbaren kollektiven Solidaritätsforderungen und der Partizipation an verschiedenen Kommunikationsbeziehungsweise Interaktionsformationen“ (Lösch 2005: 34). Wie lassen sich transdifferente Momente in literarischen Texten extrapolieren? Es hat sich als sinnvoll erwiesen, die Protagonistinnen und Protagonisten über jene interdependenten sozialen Kategorien, welche ihre Zugehörigkeiten bestimmen (Gender, Ethnie, Klasse, Religion, Profession, Generation, Besitz, Gesundheit etc.), zu analysieren und anhand des Konzepts der Intersektionalität die wechselseitige Beeinflussung der Kategorien zu bestimmen (vgl. Millner 2018). 4 Intersektionalität Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren „Verwobenheiten“ oder „Überkreuzungen“ ( intersections ) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen . (Walgenbach 2012: 81) Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze u. a. haben das Konzept der Intersektionalität dynamisiert (Walgenbach u. a. 2007). Sie verschieben den analytischen Fokus von der Überlagerung distinkter Kategorien bzw. Zugehörigkeiten hin zum unabschließbaren Vorgang situativ-prozessualen Zusammenbzw. Ineinanderwirkens. Demgemäß ist etwa Gender nur eine dieser individuierenden Kategorien, die sich zugleich von anderen Kategorien geprägt zeigt. Je nach sozialem und historischem Kontext und involvierten Subjekten sind diese interdependenten Kategorien von unterschiedlicher struktureller Dominanz (Wal- Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 281 genbach 2007). Im Falle der Migration wird besonders auf unterschiedliche sprachlich-ethnisch-kulturelle und religiöse Zugehörigkeit geachtet, nichtsdestotrotz sollen die Kategorien von Gender, Sexualität, Generation, Profession, Besitz, Gesundheit, Bildung etc. mitberücksichtigt werden, weil gerade was die Toleranz des Anderen betrifft, hier sehr differenziert vorgegangen wird. 5 Methode Für die textanalytische Anwendung bedeutet dies konkret, dass die Protagonistinnen und Protagonisten aufgrund ihrer Zugehörigkeiten kategorisiert werden können. Ich möchte dies an der Prosaskizze Rahel der Wiener Autorin Ada Christen (d. i. Christiane Breden; Wien 1839-1901) aus dem Jahre 1876 veranschaulichen, in dem die Autorin, die selbst als Wanderschauspielerin nach Transleithanien gelangte und dort mit ihrem ersten Mann sesshaft wurde, eine Geschichte erzählt, die entlang ihrer Biographie konstruiert wurde (Breden 2018). Um die einzelnen methodologischen Analyseschritte besser extrapolieren zu können, soll im Folgenden die histoire kurz wiedergegeben werden. Rahel ist die Geschichte zweier junger Schauspielerinnen, der etwa 20-jährigen Liese und der etwas jüngeren Ich-Erzählerin, die mit ihrer Wandertruppe den Herbst und Winter in einem kleinen ungarischen Provinzörtchen der Habsburgermonarchie stationiert sind. 2 Als Jüngsten der Schauspieltruppe wird den beiden Frauen das am schwersten erreichbare Quartier am Rande des Dorfes zugewiesen. Dort werden sie in dem halb verfallenen Schloss auf dem hohen Felsen von einer armen jüdischen Familie aufgenommen, bestehend aus dem alten Hausierer Jakob, seiner kranken Frau, dem Sohn Rafael und der Enkeltochter Rahel, dem Kind von Jakobs verstorbener Tochter. Bei ihrer Ankunft erkennt Liese in Rafael, dem Sohn des Hauses, ihren früheren Geliebten, den sie aus den Augen verloren hat und der nun als Hauslehrer im benachbarten Komitat lebt. Rafael kehrt für kurze Zeit ins Elternhaus zurück, um seine verstorbene Mutter durch siebentägiges Schiwa-Sitzen zu betrauern, während die beiden Hausgäste nach christlicher Art für das Seelenheil der Verstorbenen beten. Während Liese ihre Rollen lernt, ist die jüngere Schauspielerin, die Ich-Erzählerin, vor allem mit der Aufsicht der kleinen Rahel betraut. Am Weihnachtsabend von Rahel nach den „grausamen Mördern von Jesus“ befragt, beschuldigt die Ich-Erzählerin das jüdische Volk, worauf Rahel sie der 2 Hier sind eindeutige Parallelen zur Biographie der Autorin gegeben, die selber als Schauspielerin durch die Monarchie fuhr und im ungarischen Szentgótthard ihren ersten Mann, Siegmund von Neupauer, kennenlernte, bei dem sie bis zu seinem Tod lebte (vgl. Vancsa 1957; www.univie.ac.at/ transdifferenz/ index.php? option=com_content&view=article&id=6&param1=8&group_by=publikationen_ust___textsorte). 282 Alexandra Millner (Wien) Lüge zeiht. Die Schauspielerin fühlt, dass sie ein Unrecht begangen hat. Am selben Abend erfährt sie, dass Liese seit vier Wochen Jüdin ist, heimlich zur Synagoge geht und sich nun Lea nennt. Die Erzählerin zieht sich gekränkt zurück, Liese erklärt ihr, dass sie zum Judentum konvertiert sei, um Rafaels Frau werden zu können. Am Ende sind wir in der Erzählgegenwart angelangt: Aus Briefen weiß die junge Schauspielerin, dass Rafael und Liese/ Lea als glückliches Ehepaar gemeinsam einen Bauernhof bewirtschaften. Die Ich-Erzählerin kann nun aufgrund der überzeugenden Briefe und einschlägiger Lektüre Leas Entschluss zur Konversion verstehen. Die Protagonistinnen und Protagonisten des Textes Rahel von Ada Christen lassen sich innerhalb der genannten Kategorien eindeutig zuordnen, die Veränderung innerhalb der Kategorien ist nun, was für die Analyse transdifferenter Momente von Belang ist. Die Bestimmung sozialer Kategorien ermöglicht die Kontextualisierung der histoire in einem überindividuellen gesellschaftspolitischen Kosmos. Die Figuren können mittels sich überschneidender sozialer Kategorien miteinander in Bezug gesetzt und verglichen werden; über soziale Kategorien können aber auch soziale Gruppen, denen sich bestimmte Protagonisten und Protagonistinnen zugehörig fühlen, greifbar werden. Dazu gehört selbstverständlich auch die Differenz der sprachlich-kulturellen Zugehörigkeit - ein Differenzmerkmal, das in dem Text von Ada Christen allerdings geglättet wurde, denn es gibt weder intratextuelle noch Metamehrsprachigkeit. Denn Liese/ Lea muss für den Übertritt zum mosaischen Glauben beim Rabbi Unterricht nehmen und zumindest basale Hebräisch-Kenntnisse erwerben, im Umgang mit Rafaels Familie Jiddisch, mit den Dorfleuten Ungarisch reden. Die Thematisierung der mehrsprachigen Umgebung würde transkulturelle Identitätsmerkmale der zentralen Protagonistin hervorkehren (Welsch 2017: 17-20). Die unterschiedlichen Haltungen und Meinungen der Individuen bezüglich eines im Narrativ entwickelten Konfliktes machen individuelle Diskurspositionen sichtbar. Lieses Verhalten bricht hier eindeutig aus den vorgegebenen Spuren dominanter Zugehörigkeiten aus. Sie überwindet mehr als nur die religiösen Grenzen: Sie tauscht das unabhängige und nomadische Berufsleben einer Schauspielerin gegen das arbeitsame und sesshafte Leben einer Bäuerin. Später wird sie ihrer Freundin, der Erzählerin, erklären: [W]as er nicht konnte und durfte um der Seinen willen, das durfte ich, die Einsame … ich entsagte meinem Glauben, um sein Weib werden zu können. (Christen 1876: 88) Unter allen Figuren durchläuft Liese/ Lea die dynamischste Veränderung, sie fungiert im Kontext der histoire überhaupt als Motor des gesamten Geschehens. Solche transdifferent konstruierten Figuren stehen quer zu konventionellen und Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 283 stereotypen Figurengestaltungen und sind das Produkt komplexer Individuationsprozesse. Auf diesem Wege lassen sich fluktuierende und damit transdifferente Positionierungen erkennen. Und zwar sind transdifferente Selbstpositionierungen überall dort anzutreffen, wo bewusst gewählte Wechsel innerhalb der Kategorien zu verzeichnen sind. Durch dieses wahrgenommene Recht auf Selbstbestimmung des Individuums, auf die eigene soziale Positionierung, unterscheide sich, so Jürgen Straub, die Moderne von traditionellen Gesellschaften, in denen Identitäten (und Zugehörigkeiten) als à priori vorgegeben aufgefasst wurden (Rosa 2007: 50). Damit wird ein stillschweigend vorausgesetzter konventioneller Verhaltenskodex nicht nur durchbrochen, sondern der universalistische Anspruch gesellschaftlicher Normen in Frage gestellt. In dem Prosatext findet eine zweite wichtige Veränderung statt, die durch das oben geschilderte transdifferente Moment ausgelöst wird: Es geht hier um die Veränderung der Erzählfigur in Bezug auf ihren Wissensstand, sowohl was das Judentum als auch was die Beschaffenheit der Liebe betrifft. Dadurch rückt die Bedeutung der Bildung im aufklärerischen Sinne in den Blickpunkt - ein zentrales Charakteristikum damaliger Literatur nicht nur, aber ganz besonders von Frauen. Die oftmalige Betonung des jugendlichen Nichtwissens in der Selbstwie Fremdbeschreibung kann einerseits als Entschuldigung, andererseits natürlich auch als Selbstdistanzierung gelesen werden. Eine zentrale Rolle kommt deshalb dem letzten Absatz des Textes zu, in dem die Ich-Erzählerin hinter dem narrativen Akt hervortritt und in die Erzählgegenwart springt, um die Differenz zwischen ihrem damaligen und ihrem gegenwärtigen Ich zu kommentieren: Das ist lange her, o wie lange! Die kleine Rahel ist heute eine schöne junge Frau, der Augapfel ihrer Schwägerin, meiner Liese [= Lea], die mir überglückliche Briefe von ihrem Pachthofe aus Ungarn schreibt. Ich habe die Menge sündhaft-weltlicher Bücher gelesen und mich vielleicht darum nie wieder mit der schönen Rahel - die mich doch einst der Lüge zeihte - gezankt. (Christen 1876: 88) Erst dank dieses Erzählerkommentars tritt hinter der dominierenden Geschichte um Liese/ Lea und Rafael eine Szene als Kernszene hervor, die auch die Titelgebung erklärt: Man muss den gesamten Plot und die Selbstbeschreibungen der Ich-Erzählerin vom Erzählende her noch einmal neu betrachten, um zu erkennen, dass die Geschichte Lieses/ Leas mit vielen Kränkungen der Ich-Erzählerin einhergeht, da sie sich ausgeschlossen fühlt von der Freundschaft, der fremden Religion und Kultur und der um Liese/ Lea vergrößerten Gast-Familie. Diese Exklusionserfahrungen machen das Fremde bedrohlich und gipfeln in der Auseinandersetzung am Weihnachtsabend, der einen culture clash zwischen Christen- und Judentum symbolisiert: Die Erzählerin greift dabei den antisemi- 284 Alexandra Millner (Wien) tischen Diskurs innerhalb des Christentums von den Juden als Christusmördern auf, von dem sie sich allerdings sofort wieder distanzieren möchte, als sie merkt, wie sehr sie damit die kleine Rahel gekränkt hat. Erst durch das in späteren Briefen mitgeteilte Glück der Freundin und die einschlägige Lektüre - gemeint sind Liebesromane - verliert sie die Angst vor dem Fremden und lernt Liese und Rahel und deren Religion zu verstehen und tolerieren. Aus dieser geläuterten Haltung hat sie die Geschichte ihrer Freundin und ihre eigene engstirnige Reaktion erzählt, um am Ende nachdrücklich auf den Segen der Bildung im Sinne der Vermittlung von jener reflektierten Welt- und Lebenserfahrung hinzuweisen, die einem mündigen und toleranten Umgang mit der sozialen Umwelt zugrunde liegt. In dieser Hinsicht könnte man von einem latenten Moment der Transdifferenz sprechen, in dem die Erzählerin die Enge ihres eigenen Bildungshorizonts aufbricht und den Religionswechsel ihrer Freundin als Kontingenzerfahrung erkennt. Wie sich an der veränderten Haltung der Ich-Erzählerin zeigt, ist es unabdingbar, zusätzlich zur Analyse der sozialen Kategorien, deren Intersektionalität und transdifferenten Verschiebung auch die Struktur, die narrative Situation sowie Stilistisches zu berücksichtigen, da diese meist den Charakter des Transdifferenten nuancieren und unterstreichen. Würde man hier auch die Kategorie der „intratextuellen Mehrsprachigkeit“ (Kremnitz 2004: 13) ins interpretatorische Spiel bringen, so müsste man dies jeweils situativ beurteilen (vgl. auch Simonek 2016): • Das Beharren der Protagonistinnen und Protagonisten auf einer Sprache trotz anderssprachigem Kontext unterstreicht die Fremdheit, fördert Abgrenzung und Exklusion, bildet die hierarchische Abstufung der Sprachen ab oder kann ein Zeichen von transkultureller Praxis sein, wenn das passive Verständnis trotz mehrsprachigem Gespräch gegeben ist. • Sprachwechsel kann als Geste der Integration, der Solidarisierung und Vermittlung oder als Hinweis auf die Mehrsprachigkeit der Akteurinnen und Akteure interpretiert werden. Er könnte aber auch unterschiedliche kommunikative Strategien widerspiegeln. • Das Hin- und Herwechseln zwischen den Sprachen (Code-Switching) setzt Mehrsprachigkeit voraus und ist das Resultat von situativer Anpassung oder fremdsprachlicher Vermittlung bzw. Übersetzung - eine Funktion, die meist der Erzählinstanz zukommt. • Insgesamt dient die fremdsprachliche Markierung der atmosphärischen Verstärkung von Authentizität oder Exotismus, aber auch der sozialen Distinktion, da das hierarchische Gefälle zwischen Sprachen wirksam wird. Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 285 • Mehrsprachigkeit ist vor allem in jenen Texten direkt ein angesprochenes Thema, in denen Nationalismus verhandelt wird, obwohl die tatsächliche sprachliche und ethnisch-nationale Selbst-Identifizierung in der Habsburgermonarchie meist als Differenz zwischen Literatur und Lebenspraxis auseinanderklaffte (Mannová/ Tancer 2016). Ziel nationalistischer Bestrebungen ist der Nationalstaat, basierend auf der Homogenität von Sprache und Kultur, was die Unterdrückung anderer Sprachen und Kulturen bzw. deren Unterordnung voraussetzt. Auch in Bezug auf die Biografie der Autorinnen kann das Konzept der Transdifferenz neue Perspektiven eröffnen: Zofka Kveder, die nach kurzen Zwischenstationen in Trieste/ Triest (1898), Zürich und Bern (1899) und Praha/ Prag (1900-1906) schließlich ab 1906 in Zagreb/ Agram lebte, schrieb auf Slowenisch, Deutsch, Tschechisch und Kroatisch. Neben ihrer eigenen redaktionellen, journalistischen und literarischen Tätigkeit war sie auch als Prag-Korrespondentin für deutsche, slowenische und kroatische Zeitungen (Vitorelli 2007: 19) und als Übersetzerin zwischen all diesen Sprachen tätig. So übersetzte sie etwa Ivan Cankar ins Deutsche und publizierte neben Texten in tschechischen Publikationsorganen auch in der deutschen Zeitung Politik in Prag, wo sie zu der „Jung- Prag“ genannten Gruppe Prager-deutsch(-jüdisch)er Autorinnen und Autoren Kontakt hatte ( Jensterle-Doležal 2016: 271) und den Boden für ihre langjährige internationale Rezeption bereitete. Ab 1909 redigierte Kveder die Wochenbeilage Frauenzeitung des deutschsprachigen Agramer Tagblatt und verfasste dafür auch selbst zahlreiche Prosaskizzen, die von ihrem sozialen und feministischen Engagement zeugen und die Notsituation von Frauen, Kindern und Besitzlosen - ab 1914 verstärkt durch die Auswirkungen des Krieges - darstellen. Auch der - sowohl den frühen Feministinnen wie den Sozialistinnen und Sozialisten eigene - Internationalismus ist an den Themen der Beiträge bzw. Zeitungsnotizen ablesbar, die etwa von der Ablehnung des Namenswechsels bei der Heirat durch die Amerikanerinnen, von der Lage der Bulgarinnen nach dem Krieg oder einer Chinesin als Leiterin einer medizinischen Hochschule für Frauen handeln (Birk 2016). Wie bewusst Kveder sich im nationalistischen Diskurs positionierte, beweist ihre 1913 verfasste Kritik an Roda-Roda, dessen literarische Beschreibungen von Slawonien sie einer eurozentristischen Haltung gegenüber der von ihm als rückständig dargestellten südslawischen Welt zieh (Kveder 1913; Birk 2016: 285-286). 1917 gründet sie die Zeitschrift Ženski svijet ( Frauenwelt ), die 1918 in Jugoslavenska žena ( Jugoslawische Frau ) umbenannt wird. In der Folge wendet sich Kveder von feministischen Inhalten ab und nationalistischen sowie monarchistischen Themen zu (Vitorelli 2007: 19). 286 Alexandra Millner (Wien) Zofka Kveders Leben und Schaffen ist somit von Mehrsprachigkeit geprägt, was sich in ihren deutschen Erzählungen in Form umgangssprachlich-slowenischer oder kroatischer Lexeme und Ausdrücke bemerkbar macht (Kveder 1914; Birk 2016: 291). Dennoch wird sie im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag als rein „slowenische Schriftstellerin, Übersetzerin und Frauenrechtlerin“ präsentiert, obwohl ihre wechselnden Aufenthaltsorte erwähnt und der Artikel mit folgendem Zitat aus Marija Mitrović’ Geschichte der slowenischen Literatur (Mitrović 2001: 318 ff.) eingeleitet wird: Zofka Kveder „war die erste slowenische Schriftstellerin, die auch außerhalb der slowenischen Literatur, nämlich in der kroatischen und tschechischen, zu Ansehen gelangte.“ (Kveder 2018) Diese Behauptung wird allerdings nicht weiter erklärt, obwohl sie der übrigen Repräsentation der Autorin im Text widerspricht. Durch solche Ungenauigkeiten und Versäumnisse wird der homogenisierende und alles Transkulturelle unterdrückende nationalistische Diskurs im heutigen Journalismus und der Wissenschaft fortgesetzt. 6 Resümee Transdifferenz kann als „theoretischer Ort des Widerstandes gegen sozialen Normierungsdruck, eindeutige Identifikationsforderungen und sanktionsbedrohte Totalinklusionsansprüche konzeptualisiert“ (Lösch 2005: 40) werden. Wenn konventionelle Texte und literarische Stereotype zur Stabilisierung der symbolischen Ordnung beitragen, so wird in transdifferenten Momenten die verdrängte Alternative als Kontingenz spürbar. In den literarischen Texten eröffnet sich darin ein Zugang zu gesellschaftskritischem bis subversivem Potenzial. Das Denken jenseits der hegemonial bestimmten konventionellen Grenzziehungen wird als gangbare Möglichkeit aufgezeigt. So viel zu einer Methode, durch die über die Konzepte der Intersektionalität und Transdifferenz in literarischen Texten Gegendiskurse sichtbar gemacht werden können. Literaturverzeichnis Birk, Matjaž (2016). Erzählen zur Repräsentation von kollektivem Gedächtnis in Zofka Kveders literarischen Beiträgen aus der Zagreber Frauenzeitung (1914). In: Tutavac, Vesela/ Korotin, Ilse (Hrsg.). „Wir wollen der Gerechtigkeit und Menschenliebe dienen …“: Frauenbildung und Emanzipation in der Habsburgermonarchie: Der südslawische Raum und seine Wechselwirkung mit Wien, Prag und Budapest. Wien: Praesens, 284-301. Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn 287 Breden, Christiane. Porträt Autorin. Abrufbar unter: www.univie.ac.at/ transdifferenz/ index.php? option=com_ content&view=article&id=6&param1=8&group_by=publikationen_ust___textsorte (Stand: 15/ 05/ 2018) Cankar, Ivan (1900). Literarno pismo [Literarischer Brief]. Slovenka 4 (1900) 9, 211-213. 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Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie Miran Hladnik (Ljubljana) Abstract: Slovene literature appeared in the second half of the 19th century in opposition to the dominant German one; this is both a reflection and a cause of the competitiveness between the two cultures. This paper deals with language choices of the authors born or residential in the Slovene lands of the time. Those whose mother tongue was Slovene, mostly of peasant origin, wrote in Slovene, some of them (France Prešeren, Jakob Alešovec) in both languages. Intellectuals, who lived in the cities and represented the minority of the population, used German, regardless of whether they were natives (Anastasius Grün, Heinrich Penn) or immigrants ( Johann Gabriel Seidl, Rudolf Puff), and published their books abroad. Some of the German speaking citizens, however, decided to write in Slovene (Etbin Henrik Costa, Luiza Pesjak). Dragotin Dežman returned to German after a while. In 19th-century Slovenia, more books were printed in Slovene than in German. Rare German language publications issued in Slovenia were of casual nature and local importance, more influential were German language regional periodicals. Keywords: France Prešeren, Anastasius Grün, Heinrich Penn, Luiza Pesjak, Dragotin Dežman, Jakob Alešovec Der Anstoß für eine erneute Überprüfung der Beziehung zwischen slowenischer und deutscher Literatur im Slowenien des 19. Jahrhunderts ist die aktuelle Integration von Autor_innen, die in anderen Sprachen schreiben (Louis Adamič, Julius Kugy, Alma Karlin, Maja Haderlap, Erika Johnson Debeljak), in das slowenische Literatursystem. Dabei geht es um den Wandel von slowenischer Literaturgeschichte zur Literaturgeschichte des slowenischen Raums. Denn bisher galten anderssprachige Autor_innen als Störfaktor, Irrläufer oder Abtrünnige von der großen, nationalen Literaturgeschichte, also vom Narrativ eines vereinten Slowenien, und es wäre geradezu unerhört gewesen, auf Deutsch schreibende Schriftsteller zu den slowenischen zu zählen, was heutzutage jedoch fast schon 290 Miran Hladnik (Ljubljana) selbstverständlich ist. Anscheinend haben wir sie in der Vergangenheit aus der Notwendigkeit kulturellen Überlebens oder auch zu Unrecht übersehen, weshalb es unser Wunsch ist, sie im Namen des kulturellen Zusammenlebens, der Multikulturalität und verwandter zivilisatorischer Ideale dem Vergessen zu entreißen. Das öffentliche Leben war im 19. Jahrhundert geprägt von der deutschen Sprache, die als Verwaltungs-, Gerichts- und Schulsprache auch die Sprache der privaten Kommunikation in der Bildungsschicht war. Das Slowenentum stellte sich in Opposition zum übergeordneten Deutschtum. Sein offensichtlichstes nationales Spezifikum war die Sprache, weshalb man sich vorrangig für den öffentlichen Gebrauch des Slowenischen einsetzte. Die Emanzipation des Slowenischen auf der einen und die Erhaltung der dominanten Stellung des Deutschen auf der anderen Seite trugen Züge eines Kulturkampfes. Eine zentrale Gruppe slowenischer Schriftsteller war damit beschäftigt, so wenig wie möglich den Deutschen zu ähneln, denn man konstituierte sich ja in Abgrenzung zu ihnen. Deutsche Literatur, die im slowenischen Raum entstand, vermochte man sich wiederum nicht außerhalb des Konzepts eines „Drangs nach Osten“ vorzustellen. Das Deutsche erschien dem slowenischen emanzipatorischen Plan so gefährlich, dass man auch entschieden davon abriet, aus dem Deutschen zu übersetzen. Man befürchtete nämlich, es würde das Slowenische lexikalisch, syntaktisch und in der Denkart kontaminieren. Die slowenischen Bürger_innen sollten keine deutschen Bücher und Zeitschriften lesen; sie sollten ihr Geld lieber für den Kauf originaler slowenischer Literatur ausgeben. Die Prosaschriftsteller_innen auf beiden Seiten entwickelten negative Vorstellungen voneinander. So sind beispielsweise bei Josip Jurčič die Gegner Italiener oder Deutsche, bei Gustav Renker sind es Slowenen. Die Forderungen nach einer Emanzipation des Slowenischen erweckten auf deutscher Seite Missfallen und Häme. Gäbʼ es nur eine Sprache unter den Menschen, wer weiß ob sie nicht die der Götter wäre: mit den slavischen aber lassen sie mich jedenfalls verschont. Ihre Laute zerreißen mein Ohr, sie tönen wie Klagen aus dem Tartarus, wie der Jammer des Gedankens, der hinter den rauhen Eisenstäben unzähliger Konsonanten verschmachtet. Wenn jener Beweis des Slavomanen wahr wäre, Adam habe im Paradiese slavisch gesprochen, so tat er dies gewiß nur mit der Schlange. Was soll uns eine Sprache die keine Literatur hat […]? (Tschabuschnigg 1846: 85) Der Kärntner Schriftsteller Josef Friedrich Perkonig (1890-1959), der in Ferlach/ Borovlje einer Familie mit slowenischem Vater und deutscher Mutter entstammte, entschied sich für die deutsche kulturelle Option. Die Slowenen in seinem Roman Bergsegen (1930) übernehmen die negativen Rollen von Kriminellen, Wilderern, Grobianen. Die einzige positive Person unter ihnen ist ein junges Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 291 Bauernmädchen, in das sich der deutsche Protagonist verliebt und dem der Autor wegen der Aussichtslosigkeit der sozial asymmetrischen Verbindung den Tod in einem Schneesturm bestimmt. Bei den Slowenen schätzte Perkonig eher die Volksüberlieferung, so z. B. die Erzählung vom Kralj Matjaž. Während des 2. Weltkriegs war er, Perkonig, Sympathisant des Nazismus, nach dem Krieg aber organisierte er als Zeichen seines Sinneswandels die Übersetzung slowenischer Klassiker ins Deutsche und half mit, deren Verbreitung im deutschen Sprachraum zu fördern (Perenič 2005). Bei der Bestimmung der Nationalität der Schreibenden ist Vorsicht angebracht. Den Großteil der slowenischen Bevölkerung stellten Bauern, und diese gebrauchten in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre slowenische Muttersprache, sie hielten sich aber für Krainer oder Steirer oder sogar überhaupt für Österreicher. Die städtische Bevölkerung und die Bildungsschicht kommunizierte überwiegend auf Deutsch, unabhängig davon, ob sie dem slowenischen oder deutschen Lager angehörte, sogar die am stärksten slowenisch orientierte Intelligenzschicht verständigte sich untereinander auf Deutsch. Besonders überwog das Deutsche, außer in der Enklave Gottschee (Kočevje), in den Städten Marburg (Maribor), Cilli (Celje), Pettau (Ptuj) und Neumarktl (Tržič). Die Schriftsteller traten von der einen Kultur zur anderen über. Dragotin Dežman verließ seinen slowenischen Kreis und hörte auf, Slowenisch zu schreiben; über Heinrich Penn sagte France Kidrič, er habe „je nach Konjunktur auch sein nationales Kostüm“ gewechselt. Sogar der slowenische Klassiker Josip Stritar erklärte gegen Ende seines Lebens aus dem Zwang der Verhältnisse heraus, als er sich anlässlich des Zusammenbruchs von Österreich-Ungarn für die österreichische Staatsangehörigkeit entschloss, er gehöre der deutschen Kultur an. Die zweifache kulturelle Zugehörigkeit der Autoren zeigten schon ihre unterschiedlichen Namensschreibweisen, je nachdem, ob sie auf Deutsch oder auf Slowenisch veröffentlichten: Dr. Preschérn : Dr. Pre∫hérn, Louise Pessiack : Lujza Pesjakova , Carl Melzer : Dragotin Melcer, Franz Kadilnik : France Kadilnik, Karl Deschmann : Dragotin Dežman, Jakob Aleschouz : Jakob Alešovec. Um ein Angehöriger der Bildungsschicht im 19. Jahrhundert zu werden, galt es, die deutsche Sprache zu lernen und in dieser Sprache die Schulen zu absolvieren; um aber ein bewusster Slowene zu werden, forderte man vom Intellektuellen, sich dem deutschen sprachlichen und kulturellen Einfluss zu verweigern. Deutsche Belletristik wurde im slowenischen Raum nur selten verlegt. Die Veröffentlichungen hatten Gelegenheits-, lokalen oder sogar privaten Charakter, bei Reisebeschreibungen, Pamphleten und Jubiläumsschriften handelte es sich nicht um Literatur im engeren Sinn. Der slowenische Raum hatte für die deutsche Publizistik kaum Bedeutung. Die slowenische belletristische Buchproduktion hatte die ganze Zeit Vorrang gegenüber der deutschen. Sie übertraf in Laibach 292 Miran Hladnik (Ljubljana) die deutsche um ein Mehrfaches und war ein Nachweis für den slowenischen Charakter der lokalen Kultur; ein gewisses Gegengewicht stellten die deutschen belletristischen Veröffentlichungen in den zahlreicheren deutschen Periodika dar. Abb. 1: Belletristische Bücher, die in Laibach erschienen sind In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entschieden sich in der Belletristik die Autor_innen auf dem Gebiet des heutigen Slowenien überwiegend für das Slowenische und sind deshalb Gegenstand slowenischer Literaturgeschichte, während sie auf anderen Gebieten (Geschichte, Recht, Grammatik, Wirtschaft usw.) auch offen waren für das Deutsche. Es war aber überhaupt nicht ungewöhnlich, wenn einige slowenische national gesinnte Schriftsteller auch in ihrer Belletristik noch weiter am Deutschen festhielten. Der in Laibach geborene Lehrer Johann Anton Suppantschitsch (1785-1833) schrieb und veröffentlichte deutsche patriotische Verse zu bestimmten Anlässen, besonders zu den Jubiläen von Regenten. Zweisprachig (slowenisch-deutsch) publizierte er nur das Volkslied von Pegam und Lamberger. 1 Jožef Anton Babnik ( Joseph Anton 1 Der [sic! ] Turnier zwischen den beyden Rittern Lamberg und Pegam: Ein krainerisches Volkslied mit einer deutschen Uebersetzung. Laibach: Eger, 1807. Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 293 Babnigg, Pseudonym Buchenhain, um 1800-1873) publizierte in den Laibacher deutschen Zeitschriften und war als positiver Rezensent von Prešerens Gedichtsammlung Poezije bekannt, deutsch schrieben auch der Redakteur mehrerer Laibacher deutscher Zeitschriften Leopold Kordesch (1808-1879) aus Kamna Gorica, der Jurist und Politiker Karel Ullepitsch (Karel Aleksander Adam Ullepitsch von Krainfels, 1811-1862), der aus Seisenberg (Žužemberk) stammte, die Redaktion des Illyrischen Blatts übernahm und seine Texte mit dem Pseudonym Jean Laurent unterzeichnete, sowie der Historiker Peter Radics (1863-1912). Ullepitschs Sprachwahl kommentierte Anton Svetina im Slowenischen Biographischen Lexikon (SBL): 2 Ullepitsch fühlte sich bis zum Ende der Märzrevolution als Slowene, er stand in Verbindung mit slowenischen Intellektuellen […] er wollte aber ein deutscher Literat sein und schrieb alle seine Werke auf Deutsch, auch wenn er sich mit seiner Kenntnis des Slowenischen brüstete. [Übersetzung P. Sch.] Der Schriftsteller Heinrich Penn (auch Franc Henrik Penn oder Heinrich Moritz Penn, 1838-1918) entstammte einer deutsch-tschechischen Schneiderfamilie in Laibach. Er publizierte nur auf Deutsch, übersetzte aber viel aus dem Slowenischen, besonders von France Prešeren. Als Schauspieler reiste er viel und wechselte auch seine Ansichten: sein Sonett An mein Krain ist deutsch-nationalistisch, das Drama Der Untergang Metullums , ein Trauerspiel in vier Aufzügen aus der Geschichte Krains basiert auf illyrischer Ideologie. Dann, als er in Laibach nicht Direktor des Nationaltheaters werden konnte, verließ er das slowenische Gebiet, dichtete aber auch in der Fremde über ein Thema der slowenischen Geschichte ( Der slavische Bauernkönig , in Buchform 1874), schrieb über Prešeren ( Der slovenische Dichter France Prešérn , Gartenlaube 1866) und veröffentlichte Übersetzungen seiner Gedichte. Er schrieb 20 Romane und ist heute, wo man feststellen muss, dass die deutsche Ausgabe der Wikipedia ihn nicht verzeichnet, so gut wie vergessen. Von den Landsleuten, die im ostslowenischen Raum deutsche Bücher verfassten, sind der in Marburg geborene Ottokar Kernstock und die in Cilli geborene Reiseschriftstellerin Alma Karlin bekannt. Kernstock (1848-1928), der Marburg in deutschnationalistischen Versen besang („Lasst die wilden Slawenheere nimmermehr durch Marburgs Tor, / lieber rauchgeschwärzte Trümmer als ein windisch Maribor! “), wurde 1908 die Ehrenbürgerschaft verliehen. Weder er noch Alma Karlin (1889-1950) veröffentlichten ihre Bücher im Lande. Die Autoren, die von anderswo nach Slowenien kamen (z. B. Johann von Kalchberg (1765-1825), Anton Adolph, Franz Hermann von Hermannsthal 2 Vgl. www.slovenska-biografija.si/ oseba/ sbi744699/ (Stand: 07/ 02/ 2019). 294 Miran Hladnik (Ljubljana) (1799-1875)), empfanden kein Bedürfnis, in slowenischer Sprache zu dichten oder zu publizieren, sie gaben aber einzelne deutsche belletristische Bücher bei slowenischen Druckern bzw. Verlegern heraus. Ein Vorbild dafür, in zwei Sprachen zu veröffentlichen, lieferte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der slowenische Klassiker France Prešeren (1800- 1849). Er publizierte 111 Gedichte, darunter 25 (22,5 %) in deutscher Sprache. Er verfasste 36 deutsche Gedichte (18 % seines gesamten Werks, bzw. 20 %, wenn wir seine Übersetzungen von Volksliedern ins Deutsche berücksichtigen) und sah in seinen Poezije in der Abteilung „Zugabe von deutschen und eingedeutschten Gedichten“ Platz für 17 (15 % seines Werks) deutsche Gedichte vor, nahm aber diese Abteilung nach bereits überstandener Zensur ‚auf mehrfaches Abraten‘ aus dem Manuskript für die Druckerei heraus. Die deutschen Gedichte hätten gesondert erscheinen sollen, dazu kam es aber nicht. Den deutschen Teil für die Poezije versah er mit dem Motto Ovids „Getico scripsi sermone libellum“, welches das Dichten in fremder Sprache als beschämend begreift. Ovids Dichtungserfahrung in der nicht mütterlichen Sprache apostrophierte er ausdrücklich im Sonett Obschon die Lieder aus dem Vaterlande (Illyrisches Blatt 1833, Nr. 24) und entschuldigte sich damit vor dem Leser, dass ihm das Dichten in der Muttersprache nur Neid und Tadel eingebracht habe. Abb. 2: Prešerens Veröffentlichungen Die Auswahl des Slowenischen für seine Liebesgedichte begründete Prešeren beinahe humorvoll mit der Tatsache, dass das Slowenische im Unterschied zur deutschen Herrensprache eine Sprache der Dienerschaft sei. Der Dichter müsse das Slowenische auswählen, gerade weil er der größte Diener der Liebe sei Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 295 ( Warum sie, wert, daß Sänger aller Zungen , Illyrisches Blatt 1834, Nr. 19). Am klarsten drückte er poetisch das Verhältnis von Muttersprache und deutscher Sprache im Sonett Ihr, die entsprossen aus dem Slawenstamme (Illyrisches Blatt 1838, Nr. 14) aus: Ihr, die entsprossen aus dem Slawenstamme, Die ihr der eignen Mutter lang entzogen, Die Bildung nicht an ihrer Brust gesogen, Die man, wie mich, vertraut der deutschen Amme! Nicht glaubet, daß ich euch deshalb verdamme, Daß dankbar der Germanin ihr gewogen; Nur daß sie wird der Mutter vorgezogen, Das ist’s, was in mir weckt des Zornes Flamme. Der wahren Mutter soll, und muß sie weichen; Doch mein’ ich, daß es ziemt dem Pflegesohne Der Pflegerin ein Dankgeschenk zu reichen. Vom edlen Erz, nicht vom gemeinen Thone Sei doch das, was er bringt der überreichen, Die auf Armseligkeiten blickt mit Hohne. Prešeren missfällt es, wenn der Dichter die Muttersprache Slowenisch in eine untergeordnete Rolle versetzt; das Slowenische muss die erste Sprache des Dichters sein, dem Deutschen erweist er sich aber für seine Bildung dankbar vermittels guter Gedichte. Mit den Landsleuten, die in deutscher Sprache dichten, meinte er den 20-jährigen Franc Malavašič, der ihm seine deutschen Debütgedichte gezeigt hatte, obwohl ihm am Gymnasium das Deutsche Schwierigkeiten bereitet hatte. Malavašič warf Prešeren in seiner Sonettantwort An Dr. Pre∫hérn Veranlaßt durch sein Sonett im Illyr. Blatte Nr. 14 vor, dass dieser seinen Appell, slowenisch zu dichten, in deutscher Sprache ausgedrückt hatte. Malavašič reüssierte später unter den Übersetzern, er hat Verdienste um die Einführung der Gajica, in einer deutschen Broschüre polemisierte er mit Plänen, das Slowenische zu begrenzen, 3 allerdings nahm man ihm übel, dass er den Dichter Jovan 3 Krain und das Deutschthum. Entgegnung auf die Festschrift: „Das Deutschthum in Krain.“ Von einem Freunde der Wahrheit. Laibach: Blasnik, 1862. 296 Miran Hladnik (Ljubljana) Vesel Koseski ‚entdeckt‘ hatte und so für eine Zeit lang der Ruhm Prešerens als des größten slowenischen Dichters überschattet worden war. Prešerens Entscheidung für das Slowenische als Sprache der Dichtung war nicht selbstverständlich angesichts der Tatsache, dass die intellektuelle Kommunikation in allen anderen Segmenten des öffentlichen und privaten Lebens sich auf Deutsch abspielte. Er reflektierte dies in der Grabschrift für den ersten slowenischen Dramatiker Anton Tomaž Linhart Stezé popustil nemškega Parnasa (Er hat die Pfade des deutschen Parnass verlassen) und bestärkte damit den programmatischen Charakter der Sprachenwahl. Linhart veröffentlichte seine ersten literarischen Texte - das Drama Miss Jenny Love erschien 1780 in Augsburg, die Sammlung Blumen aus Krain kam 1781 bereits in Laibach heraus - auf Deutsch und ging erst 1789 über zur slowenischen Sprache, doch war diese Entscheidung noch nicht mit Konflikten behaftet. Prešerens nicht erklärter Ausschluss seiner deutschen Gedichte aus den Poezije war vielleicht ein erstes Zeichen eines exklusiven Gebrauchs und eines Wettbewerbs zwischen beiden Sprachen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufflammte. Prešeren veröffentlichte alle seine deutschen Gedichte in regionalen Zeitschriften, was bedeutet, dass seine Verse, die slowenischen und deutschen, ausschließlich an seine Landsleute gerichtet waren und dass es ihm, im Unterschied zu seinen Nachfolgern, nicht darum ging, im größeren deutschsprachigen Raum zur Geltung zu kommen. Alle hielten Prešeren für eine literarische Autorität, seine Slowenisch und Deutsch schreibenden Zeitgenossen genauso wie die national sich gegenüberstehenden späteren Generationen, deshalb ist es interessant, wie man ihm bei der Auswahl der Sprache in der Praxis folgte. Für den in seiner Jugend aufsässigen Anastasius Grün (1806-1876) wirkte Prešeren in Wien als Erzieher. Beide unterhielten freundschaftliche Verbindungen, einer übersetzte auch für den anderen je ein Gedicht. Grün Prešerens Kam? (Wohin? ) ins Deutsche und Prešeren Grüns Drei Wünsche ins Slowenische. Prešeren bewegte Grün zum Sammeln und Übersetzen slowenischer Volkslieder ins Deutsche und half ihm dabei. Sie erschienen 1850 unter dem Titel Volkslieder aus Krain (1850), mit einem umfangreichen Begleitwort Grüns und seinen Anmerkungen. Anlässlich Prešerens Tod 1849 schrieb Grün das Gedicht Nachruf auf Prešeren , das aber erst zehn Jahre später erscheinen konnte, und er spendete als Erster für dessen Grabmal. In der historischen Erinnerung ist die Zusammenarbeit der beiden Dichter verblasst, sie wurde durch die Vorstellung ihrer diametral gegensätzlichen Positionen ersetzt. Schuld daran sind Grüns spätere, dem slowenischen nationalen Interesse entgegenstehende politische Standpunkte und Äußerungen. Anastasius Grün war das poetische Pseudonym des Grafen Anton Alexander von Auersperg, den man als jungdeutschen Politiker und Lyriker kennt. Er war Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 297 ausgesprochen antikatholisch, in jungen Jahren war er auch, im Gegensatz zur Krainer Loyalität zu den Habsburgern, ein Gegner des Kaisertums, und dazu noch antirussisch und judenfreundlich eingestellt. Die Slowenen versuchte er ohne Erfolg zu einer kosmopolitischeren Politik zu bewegen, denn die „großen civilisatorischen Aufgaben des Jahrhunderts“ könnten nur durch das Zusammenwirken aller Kulturvölker gelöst werden; „ein kleiner Volksstamm, der sich isolieren wollte“, stehe diesen Aufgaben ohnmächtig gegenüber und müsse in „Rückschritt und Verwilderung“ verfallen: „Die Menschheit steht denn doch etwas höher als die Nationalität! “ (Cimperman 1877: Brief an Josip Cimperman, Neujahr 1874): Wer seine Blicke und bescheidenen Kräfte den großen kulturellen und humanitären Aufgaben der Menschheit, wie solche sich für unser Jahrhundert geltend machen, zugewendet hat, der kann und will keiner einzelnen Nationalität ausschließlich dienen, auch keiner derselben feindlich gegenüberstehen. (ebd.: Brief vom 12. Okt. 1873) Für die Verwirklichung humanistischer Ziele erschien es ihm erfolgversprechender, diese vermittels der weiter entwickelten deutschen Kultur anzustreben (also mit dem Deutschen als Medium), als über die emanzipatorischen nationalen Bewegungen in der Habsburger Monarchie. Nach 1850 veränderte er seine kosmopolitischen Anschauungen hin zum deutschen Nationalismus und begann 1861 im Landtag zu Laibach öffentlich gegen die slowenischen Bestrebungen aufzutreten, in der privaten Korrespondenz offenbarte er eine überhebliche und verächtliche Einstellung gegenüber der slowenischen Kultur. Die auf ihn wütenden Slowenen betonten dabei gerne seinen persönlichen Geiz und die rücksichtslose Durchsetzung feudaler Rechte, was ja alles in einem deutlichen Gegensatz zu den von ihm (einst) deklarierten humanistischen Idealen stünde. Am 12. Februar 1866 hat er die Hörer im Krainer Landtag davon überzeugt, daß, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, das Slowenische wegen des Fehlens der Lehrbücher nicht eine dem Deutschen gleichberechtigte Unterrichtssprache in den slowenischen höheren Schulen sein könne. Die Beleidigung hat die Slowenen schmerzlich getroffen. Eine leidenschaftliche slowenische Herausgebertätigkeit, die direkt darauf folgte, kann auch als ein programmatischer Beweis dafür verstanden werden, daß Auerspergs Behauptung falsch war. (Hladnik 1993: 802) Die deutsche und die slowenische Seite konkurrierten bei der Aufstellung von Denkmälern zur Erinnerung an Prešeren und Grün. Die Deutschen ehrten Grün 1881 mit einer Gedenktafel am See von Bled und 1885 mit einer Platte am Auerspergʼschen Palast in Laibach. Die Slowenen reagierten 1883 mit einem Obelisken für Prešeren in Bled und mit Krawallen am Laibacher Denkmal für Grün, das man als provozierende Demonstration für das Deutschtum empfand, 298 Miran Hladnik (Ljubljana) und 1905 mit einer die ganze Figur Prešerens darstellenden Plastik an der Dreibrücke in Laibach. Nach dem Ersten Weltkrieg entfernte man die beiden Tafeln für Grün und ersetzte sie durch christliche Denkmäler: ein Marienrelief in Laibach und ein Kruzifix in Bled. So wurde offenbar, dass Grün den Slowenen nicht nur als deutscher Nationalist, sondern auch (oder in erster Linie) als offener Gegner des Klerikalismus im Magen lag. Zu Grüns krainischem Patriotismus gehörte seine Bewunderung slowenischer Volkslieder. Über hundert von ihnen übersetzte er ins Deutsche und half damit, die slowenische Kultur in der deutschen Welt bekannt zu machen. Die slowenischen Patrioten waren ihm im folkloristischen Sinn sympathisch, aber nicht als gleichberechtigtes kulturelles und politisches Subjekt, deshalb trat er entschieden gegen die slowenischen Forderungen für das Slowenische als Unterrichtssprache auf. Laibach war für ihn kein aktiver Raum für die deutsche Kultur, aus dem Grund publizierte er seine Lyrikbände bei Verlagen in Stuttgart, München, Leipzig, Graz und anderswo. Zum Einflusskreis von Grün gehörten Ivan Gornik, Josip Cimperman und Dragotin Dežman. Der Literaturkritiker Ivan Gornik (1845-1889), der das Slowenische nicht verwenden wollte und der heute vergessen ist, hat der zentralen Gruppe slowenischer Schriftsteller verübelt, dass sie sich unbedingt von der deutschen Literatur unterscheiden wollte und dass sie die Rolle der Sprache, die ja nur ein Werkzeug sei, höher bewertet habe als die Aufgaben, die mit der Sprache bewältigt werden sollten. Sein Freund, der Dichter Josip Cimperman (1847-1893), publizierte seine erste Gedichtsammlung Pesmi (1869) auf Slowenisch, 1873 folgte dann aber im Geiste der Prešerenʼschen Zweisprachigkeit noch die kleine Sammlung Rosen und Disteln ; Cimpermans Name ist heute nicht mehr Gegenstand öffentlicher Erinnerungskultur. Die rätselhafteste und problematischste Persönlichkeit der deutsch-slowenischen Beziehungen ist der nationale Renegat Dragotin Dežman (1821-1889). Er begann als slowenischer Dichter, wurde zur großen Hoffnung der politischen und kulturellen jungslowenischen Bewegung und ihr möglicher Anführer, 1861 aber wechselte er unerwartet die Seiten. Er hörte zu dichten auf und begann sich mit Wissenschaft zu beschäftigen, was auch den Wechsel vom Slowenischen zum Deutschen bedeutete, und er änderte seinen Namen in Karl Deschmann. Er konvertierte auch politisch und wurde zum Anführer des deutschen Lagers im slowenischen Raum. Im Staatsrat in Wien trat er gegen die Durchsetzung der slowenischen Sprache im Bildungsbereich auf, weil das Deutsche dafür besser geeignet sei. Dežman wurde zum Blitzableiter für alle antideutschen Ausbrüche, die in der Zeit, als er Bürgermeister von Laibach (1871-1873) war, einen Höhepunkt erreichten. Wegen der Drohungen musste er sich sogar um Personenschutz bemühen. Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 299 Der fähige Dežman war der erste Redner im Laibacher Landtag, rational und überzeugend, ein ungemein fleißiger und erfolgreicher Organisator, er verteidigte die fortschrittlicheren Ideen als seine slowenischen Parlamentskollegen (gegen den Einfluss der Kirche, für religiöse und nationale Toleranz und zur Frage der Ehescheidung). Dežman gab dem freien Denken und der Demokratisierung Vorrang gegenüber einem damals schon schwindenden Krainer Autonomismus, aber auch vor einem Nationalismus, auf dem die sonst ebenso demokratisch gesinnten Jungslowenen nachdrücklich bestanden. Die Hauptgründe der slowenischen Rückständigkeit sah er in der Faulheit, der „Duckmäuserei der Pfaffen“, in der Zahmheit, dem Alkoholismus, der Überheblichkeit, dem Egoismus, der Streitlust, dem Desinteresse an öffentlichen Dingen und in der Rohheit seiner Landsleute. Fortschritt erblickte er nur in der deutschen Bildung, die Abwendung vom Deutschen würde ihm zufolge die Slowenen zu Obskurantismus und Ultramontanismus führen. Seine Überzeugung, dass die Slowenen mit der deutschen Sprache ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten können, entsprach dem heutigen Bestreben um eine englische lingua franca . Grüns kulturelle Pläne verfolgte bis zum Ersten Weltkrieg der Gymnasialprofessor Josef Julius Binder (1850-1931), ein gebürtiger Wiener. Er veröffentlichte zehn deutsche Publikationen, darunter Dramen und dem Gedenken an Grün gewidmete Broschüren, deren Verkauf der Erhaltung eines Erinnerungsdenkmals diente, das er 1885 anlässlich der slowenischen Ausschreitungen enthüllt hatte. 4 Dabei war Binder selbst bescheiden, großzügig, beharrlich und sehr fleißig, ein guter und begeisterter Pädagoge und Organisator. Problematisch aber war sein deutscher Nationalismus, sein Antisemitismus und seine offene Feindschaft gegenüber den Slowenen. 5 Beim Zerfall Österreich-Ungarns im Jahr 1918 verließ er Ljubljana und übersiedelte nach Villach. Der Wiener Dichter Johann Gabriel Seidl (1804-1875), der zwischen 1829 und 1840 in Cilli als Gymnasialprofessor wirkte, und der Regionalhistoriker aus Marburg Rudolf Gustav Puff (1808-1865) sind der Beweis, dass die Integration zugewanderter Deutschsprachiger im steirischen Teil Sloweniens weniger konfliktträchtig war als in Krain, parallele deutsch-slowenische literarische Aktivitäten blieben aber dennoch aus. Seidl kam als schon arrivierter Dichter nach Cilli. Nach seiner Rückkehr nach Wien gelang es ihm, die Ausschreibung der Volkshymne Gott erhalte, Gott beschütze zu gewinnen, die in Übersetzung in den slowenischen Schulbüchern abgedruckt wurde. Er beschrieb Cilli, Neuhaus (Dobrna), das Savinjatal ( Die 4 Büchlein zur Anastasius-Grün-Feier des Laibacher deutschen Turnvereins am 9. Mai 1885. Laibach: Laibacher deutscher Turnverein, 1885. 5 „Der Kreis der Gymnasialprofessoren mit Binder an der Spitze hasste die slowenische Sprache und äußerte sich über sie beleidigend.“ (Matić 2002: 9) [Übers. P. Sch.] 300 Miran Hladnik (Ljubljana) untersteirische Schweiz ), slowenische und slawische Themen fanden auch Eingang in seine Dichtung. Bücher gab er hierzulande, außer einem Gelegenheitsdrama, das 1846 in Laibach erschien, nicht heraus, einige kleinere Dinge erschienen in den lokalen deutschsprachigen Zeitschriften, ansonsten nur in Verlagen außerhalb. France Prešeren und Jakob Zupan lud er öffentlich ein, an der Zeitschrift Aurora mitzuarbeiten, die er redigierte, aber zu Veröffentlichungen slowenischer Dichter kam es dort nicht. Er hatte Umgang mit hiesigen deutschen Schriftstellern und er bewegte den Supplenten am Görzer Gymnasium Matej Vehovar dazu, ein deutscher Dichter und zu einem der fruchtbarsten Mitarbeiter der Zeitschrift Der Aufmerksame zu werden. Seidls konservative romantische Poesie beeinflusste die Dichtung von Anton Martin Slomšek. Die Slowenen („die Wenden“) beschrieb er wohlgeneigt, er war auch eine menschliche und harmonische Persönlichkeit. Im Jahr 1904 errichtete man ihm in Cilli eine Gedenktafel, die man 1919, nach dem Umsturz, wieder beseitigte, obgleich er ein Weltbürger war und nichts mit dem deutschen Nationalismus gemein hatte. Der Obersteirer Rudolf Gustav Puff wirkte als Professor in Marburg und schrieb sehr viel, in enzyklopädischer Breite und mit Sympathie über die steirischen und krainischen Slowenen sowie über die anderen Südslawen. Er prüfte auf Slowenisch, veröffentlichte aber nur auf Deutsch, und dies überwiegend außerhalb des slowenischen Raums. In Buchform erschienen seine Reisebeschreibungen über die slowenische Steiermark, Beschreibungen der Badeorte und die Sammelbände Marburger Taschenbuch für Geschichte , Landes- und Sagenkunde der Steiermark und der an dieselbe grenzenden Länder . In Marburg wurde 1835 und 1836 nur seine Sammlung Gedichte in der Druckerei Carl Janschitz gedruckt. Marburg widmete er zwei umfangreiche Bücher. Aber auch in der Steiermark ging es nicht ohne Konflikte zu. Ein einflussreicher Verteidiger des Deutschtums im slowenischen Raum war zwischen den beiden Weltkriegen der Anwalt Fritz Zangger (1877-1939) aus Cilli. In seinen Erinnerungen Das ewige Feuer im fernen Land schrieb er über die nationalen Spannungen der Zwischenkriegszeit: Ein gesellschaftlicher Verkehr zwischen Deutschen und Slowenen war vollkommen ausgeschlossen. Jeder Deutsche oder jeder Slowene, der sich in der Gesellschaft eines nationalen Gegners hätte blicken lassen, wäre also gleich als Verräter angeprangert worden. Nie betrat ein Deutscher einen Gastraum oder einen Tanzboden, wo Slowenen verkehrten, und umgekehrt. (Zangger 1937: 131) Keiner der nur Deutsch schreibenden Zugezogenen bemühte sich um zweisprachige Veröffentlichungen. Zweisprachigkeit pflegten nur, jeder auf seine Art, die Einheimischen: neben Prešeren noch Dragotin Melcer, Luiza Pesjak, Etbin Henrik Costa, Josip Stritar, Jakob Alešovec, Josip Cimperman. Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 301 Der Lehrer Dragotin Melcer (1814-1878), der als ein wunderlich guter Mensch beschrieben wird, wurde in die Familie eines Laibacher Chirurgen geboren. 1833 übersetzte er Prešerens Sonett Memento mori ins Deutsche ( Der Tod ) und publizierte es im Illyrischen Blatt, 1846 erschien anlässlich des Todes des Bürgermeisters Hradeczky das Gedicht Den Manen des Herrn Joh. Nep. Hradeczky , 1847 bezeichnete er im Gedicht An Dr. Preshérn bei Erscheinung seiner Gedichte die Poezije als krainische patriotische Tat, mit „Soll Deines Dichterruhmes Stern erglänzen / Bis an der Slavenländer fernste Gränzen.“ Als er 1851 Redakteur des nur kurzlebigen slowenischen Ljubljanski časnik wurde, stieg er auf das Slowenische um, im Jahresbericht des kaiserl. königl. Obergymnasiums schrieb er aber schon wieder auf Deutsch. Luiza Pesjak (1828-1898) wurde in die Familie des Laibacher Advokaten Blaž Crobath geboren. In die slowenische Literatur trat sie im Jahr 1864 in den Novice laut hörbar mit dem Gedicht Kar ljubim (Was ich liebe) ein, untertitelt als: „Mein erstes slowenisches Gedicht“. Der Redakteur erweckte hierbei den Eindruck, die Dichterin sei vom Deutschen zum Slowenischen gewechselt, die Chronologie ihrer Veröffentlichungen zeigt aber, dass es sich um ihr überhaupt erstes publiziertes Gedicht handelt und dass deutsche Veröffentlichungen eine Konstante in ihrem literarischen Schaffen bilden. Das Lexikon deutscher Frauen der Feder beschreibt sie als „nicht nur deutsche, sondern auch südslavische Dichterin“, die „vornehmlich in slovenischer Sprache ziemlich viel geleistet“ hat (Pataky 1898: 124-125). Ihr Gedichtband Ins Kinderherz (1885) erschien vier Jahre vor dem slowenischen Gedichtband Vijolice (1889), woraus man schließen kann, dass sie in der Dichtung dem Deutschen einen Vorrang einräumte. Etbin Henrik Costa (1832-1875) entstammte der Familie eines hohen Laibacher Beamten und Heimatschriftstellers. Er wurde Doktor der Philosophie und Rechtswissenschaft und war in den Jahren 1864-1867 Bürgermeister von Laibach. Im ersten Abschnitt seines Lebens publizierte er ausschließlich auf Deutsch, Belletristik ebenso wie juristische, historische und touristische Schriften. Sein erstes Buch, ein deutsches Lehrbuch des Slowenischen aus dem Jahr 1851, 6 bekam schlechte Kritiken und ist nicht erhalten geblieben. 1858 redigierte er das zweisprachige Vodnik-Album, 1863 folgte die Übersetzung seines deutschen Reiseführers Die Adelsberger Grotte von 1858, aus 1864 datiert seine erste selbstständige slowenische Publikation über die Turnbewegung Sokol in Laibach. Costa publizierte (dabei ging es um Fachtexte in den Mittheilungen des historischen Vereines für Krain ) auch nach dieser Zeit überwiegend auf Deutsch. Er war Redakteur der deutschen, den Slowenen aber gewogenen Zeitschrift 6 Janez Čbelarčki: Hitri Slovenc. Schneller Slowene. Ohne Lehrer in 24 Lectionen. Gratz: Ludewig, 1851. 302 Miran Hladnik (Ljubljana) Triglav, war Mitbegründer des Lesevereins, Mitbegründer des Sokol, Präsident der Slovenska matica, Landtagsabgeordneter usw. 1873 setzte er sich für die Gründung eines Verlags zur Ausgabe slowenischer Schulbücher ein. Josip Stritar (1836-1923) ist mit dem deutschen Buch Boris Miranʼs Gedichte (Wien, 1877) und mit einem kleinen Büchlein sozialer Gedichte Etwas von Peter Einsam (Wien, 1894) neben Prešeren der einzige slowenische Klassiker mit dem Status eines zweisprachigen Autors. Neben Prešeren und Stritar gab es noch einen zweisprachigen Schriftsteller nichtbürgerlicher Herkunft - Jakob Alešovec (1842-1901). In der fünften Klasse (1860/ 61) gründete er das deutsche Schülerblatt Die Schwalbe und begann 1863 in deutscher Sprache Schöngeistiges in Zeitschriften Laibachs und anderswo zu publizieren. Er hielt sich als Hauslehrer über Wasser, als Redakteur, Korrektor und freier Schriftsteller. 1866 veröffentlichte er zuerst in der Laibacher Zeitung und dann noch in einem selbstständigen Buch Ein Held der Sternallee: Roman aus der Gegenwart. Zusammen mit Jurčičs Deseti brat (Der zehnte Bruder) aus demselben Jahr gilt es als erster Roman im slowenischen Raum, zugleich handelt es sich um den ersten Feuilletonroman im slowenischen Raum. Weil er auf Deutsch geschrieben ist, blieb Alešovecs Pioniertat in der slowenischen Literaturgeschichte unerwähnt. Zwei Jahre später erschien in der Laibacher Zeitung seine Erzählung Laibacher Mysterien , mit dem Untertitel „Localnovelle“; im Nachdruck in Buchform 1868 lautet der Untertitel „Sittenroman aus der Gegenwart“. Fast parallel dazu veröffentlichte er zwei slowenische populärwissenschaftliche Bücher. Nach diesem Jahr schrieb Alešovec nicht mehr auf Deutsch, alle seine Publikationen waren nun slowenisch und ausgesprochen antideutsch, zum Beispiel die Posse in einem Akt Nemški ne znajo (Sie sprechen kein Deutsch) (1879). Alešovecs Erinnerungen Kako sem se jaz likal (Wie ich mich ausgebildet habe), die zuerst als Feuilleton im Slovenec 1884 erschienen, sind in hohem Maß gerade von den Erfahrungen des Autors mit der Zweisprachigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt: „in Laibach sprechen wir nur Deutsch, Krainerisch zahlt sich nicht aus“. Schluss Das zentrale kulturelle und politische Projekt der Slowenen im 19. Jahrhundert war das Streben um ein vereintes Slowenien, das heißt um nationale Bewusstmachung und Emanzipation. Sie bewegten sich zwischen zwei Alternativen: zwischen der Preisgabe der slowenischen Sprache zugunsten des kulturell weiter entwickelten Deutschen auf der einen Seite und der Eingliederung in Projekte der slawischen Vereinigung (der illyrischen oder der panslawischen) auf der anderen Seite. Fran Levec fasste das slowenische kulturelle Dilemma in dem Literarische Zweisprachigkeit im slowenischen Teil der Habsburger Monarchie 303 Satz zusammen: „Sollen wir Russen oder Preussen werden“. In diesem Beitrag haben wir uns mit der einen Hälfte des Dilemmas beschäftigt, mit dem Verhältnis zwischen der slowenischen und deutschen Sprache. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Integration nichtslowenischer Schriftsteller_innen in die slowenische Literatur galt es zu überprüfen, ob wir nicht vielleicht in der Vergangenheit im Namen des ultimativen slowenischen kulturellen Plans manch anderssprachige Kostbarkeit übersehen haben. Die deutsche Literatur im slowenischen Raum war Gegenstand zahlreicher heimischer akademischer Untersuchungen, war aber weder Gegenstand populären Interesses noch öffentlicher Identitätserwägungen. Das geschieht erst in letzter Zeit, z. B. in Celje mit einer systematischen Setzung von Themen des deutschen Anteils der Stadtgeschichte (Karlin und Seidl). Es geht dabei nicht um die Weckung von etwas, was in der Vergangenheit zu Unrecht übersehen worden wäre, sondern es wurde aus der öffentlichen Erinnerung getilgt, weil es für die zentrale slowenische Bestrebung tatsächlich eine Gefahr darstellte. Die deutsche Literatur in den slowenischen Ländern ist nämlich nicht aus irgendwelchen multikulturellen Ansätzen heraus entstanden, sondern aus dem Bestreben, die Privilegien der dominanten deutschen Sprache zu erhalten, sie erwuchs aus dem Kampf zwischen deutschem und slowenischem kulturellem Monopolismus. Die kulturellen Konzepte, die von den Deutsch Schreibenden angeboten wurden, erlitten eine Niederlage, weil sie von einer dominanten Position des Deutschen im öffentlichen Leben ausgingen und vom Weiterbestehen ihrer privilegierten Stellung im öffentlichen Gebrauch: in der Politik, der Verwaltung, der Wirtschaft, dem Schulwesen, der Wissenschaft. Dem Slowenischen war ein funktional begrenzter Platz in der Wortkunst reserviert, mit der Betonung auf der Volksüberlieferung (literarische Folklore), was nicht weit entfernt war von den heutigen populären Vorstellungen über die slowenische Kultur, mit dem Unterschied, dass Deutsch als dominante Sprache heute durch das Englische abgelöst worden ist. Paternalismus, Arroganz und die Überheblichkeit ihrer Träger haben in bedeutendem Maß zum Niedergang der Hegemonie des Deutschen beigetragen. Anpassung (d. h. den Gebrauch beider Sprachen) erwartete man nur von den Slowenen, während es sich für die Deutschen wie von selbst verstand, bei der deutschen Sprache zu bleiben. Zweisprachige Literaten gab es im slowenischen Raum nur unter den Slowenen. Alternative kulturelle Konzepte waren deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht von der konsequenten Wahrung der Gleichberechtigung aller Beteiligten im sprachlichen und kulturellen Verkehr ausgingen und weil sie nicht wirklich mehrsprachig und multikulturell waren. 304 Miran Hladnik (Ljubljana) Die im slowenischen Raum entstandene deutsche Literatur war vom Umfang her bescheiden, hatte Gelegenheitscharakter und war von lokaler Bedeutung. Die Deutsch Schreibenden gaben ihre Bücher lieber im deutschen Sprachraum heraus. Unter den deutschen Büchern, die in Laibach, Marburg oder Cilli erschienen sind, stechen Reisebeschreibungen und Darstellungen der slowenischen Heilbäder und anderer Ausflugsorte hervor, die zumeist den Charakter von touristischen Werbeschriften haben. Trotzdem sind sie legitimer Gegenstand der slowenischen Literaturgeschichte, ist doch die slowenische Sprache schon eine Zeit lang keine Conditio sine qua non der slowenischen Literatur mehr. (Aus dem Slowenischen von Peter Scherber) Literaturverzeichnis Cimperman, Josef (Hrsg.) (1877). Anastasius Grüns (Anton Grafen v. Auerspergs) Briefwechsel mit einem Landsmanne. Laibacher Zeitung, Nr. 173. Hladnik, Miran (1993). Der Einfluss des Bilinguismus auf die Auswahl der zu übersetzenden narrativen Gattungen (Am Beispiel slowenischer Literatur). In: Frank, A. P. et al. (Hrsg.). Übersetzen, verstehen, Brücken bauen: Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch (= Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung 8/ 2). Berlin, Bielefeld, München: Erich Schmidt Verlag, 801-810. Matić, Dragan (2002). Nemci v Ljubljani 1861-1918 (= Historia 6). Ljubljana: Oddelek za zgodovino Filozofske fakultete. Pataky, Sophie (Hrsg.) (1898). Louise Pessiack. Lexikon deutscher Frauen der Feder. Bd. 2. Berlin. Perenič, Urška (2005). Stiki Josefa Friedricha Perkoniga s slovenskimi intelektualci in pisatelji. Slavistična revija 53: 4, 583-595. Tschabuschnigg, Adolf Ritter von (1946). Der moderne Eulenspiegel. Roman. Zweites Buch. Pest: Heckenast. Zangger, Fritz (1937). Das ewige Feuer im fernen Land: Ein deutsches Heimatbuch aus dem Südosten. Celje: [Eigenverlag]. Autorinnen und Autoren 305 Autorinnen und Autoren Matjaž Birk Matjaž Birk ist Professor für deutsche Literatur an der Universität Maribor. Er promovierte mit einer Arbeit über die literarischen Beiträge im Illyrischen Blatt . Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Moderne und des Exils (insbesondere aus Österreich), zur deutschen Literatur und den deutschen Medien im slowenischen ethnischen Gebiet sowie zum deutsch-slowenischen Literatur- und Kulturtransfer. Zuletzt erschien: „Reisen ist Rast in der Unruhe der Welt“. Fremdhermeneutische Einblicke in die Reisetagebücher von Stefan Zweig (Würzburg, 2016). Silvija Borovnik Silvija Borovnik lehrt slowenische Literatur an der Universität Maribor. Ihre Forschungsgebiete sind Prosa und Dramatik des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, slowenische Literatur in Österreich, slowenisch-deutsche literarische Übersetzung sowie slowenisch-polnische Literaturkontakte. Sie ist Verfasserin zahlreicher Monographien, u. a. Študije in drobiž (1998), Pišejo ženske drugače? (1995), Slovenska dramatika v drugi polovici 20. stoletja (2005), Književne študije. O vlogi ženske v slovenski književnosti, o sodobni prozi in o slovenski književnosti v Avstriji (2012), Večkulturnost in medkulturnost v slovenski književnosti (2017), und Herausgeberin mehrerer Anthologien. Sie schreibt Kurzprosa und Essays, übersetzt aus dem Deutschen (P. Handke, I. Bachmann, P. Süskind). Lidija Dimkovska Lidija Dimkovska studierte in Skopje Vergleichende Literaturwissenschaft und rumänische Literatur in Bukarest. Seit 2001 lebt sie als Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Slowenischen und Rumänischen ins Mazedonische in Ljubljana. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZRC SAZU und lehrte Weltliteratur an der Universität Nova Gorica. Für ihr lyrisches Werk wurde sie u. a. mit dem Hubert-Burda-Preis für osteuropäische Lyrik (2009), dem Literaturpreis der Europäischen Union (2013) und dem Petru-Krdu-Preis für europäische Poesie (2016) ausgezeichnet. Jeanne E. Glesener Jeanne E. Glesener ist Komparatistin und Professorin für Luxemburger Literatur an der Universität Luxemburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören mehrsprachige Luxemburger Literatur, Literaturhistoriographie in multilingua- 306 Autorinnen und Autoren len und interkulturellen Kontexten, der strukturell-typologische Vergleich kleiner Literaturen, zeitgenössische Migrationsliteratur in Europa, Methodologie und Theorie der Komparatistik und Weltliteratur sowie Mehrsprachigkeit und Interkulturalität. Zuletzt erschienene Aufsätze: Komparatistische Ansätze für eine interkulturelle Literaturgeschichte Luxemburgs (2017); Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften (2017). Vanessa Hannesschläger Vanessa Hannesschläger ist Germanistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie beschäftigt sich mit (experimenteller) österreichischer Literatur nach 1945. Zu ihren Publikationen gehören die Plattform Ernst Jandl Online (http: / / jandl.onb.ac.at/ ), der von ihr herausgegebene Briefwechsel Ernst Jandls mit Ian Hamilton Finlay ( not / a concrete pot , Folio 2017) und das E-Book Analoge Literatur und digitale Forschung: Perspektivenverschiebung in Online-Projekten von Literaturarchiven (Ripperger & Kremers 2017). Miran Hladnik Miran Hladnik ist ordentlicher Professor für slowenische Literatur an der Abteilung für Slowenistik der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. Er beschäftigt sich mit Erzählgattungen, quantitativen Forschungen zur slowenischen Erzählprosa und mit Internet-Literacy. Er veröffentlichte Monographien über die slowenische bäuerliche Erzählung, den slowenischen historischen Roman, über Trivialliteratur, einen touristischen Sprachführer, zwei Lehrbücher für fachsprachliches Schreiben und die kritische Ausgabe des Gesamtwerks des Dichters Alojz Gradnik. Er redigiert das Diskussionsforum Slovlit, arbeitet an den Webseiten der Wikipedia mit und veröffentlicht unter den Lizenzen von Creative Commons. Marko Juvan Marko Juvan ist Leiter des Instituts für slowenische Literatur und Literaturwissenschaften (ZRC SAZU) und lehrt slowenische Literatur an der Universität Ljubljana. Er war Vorstandsmitglied von REELC/ ENCLS, ICLA/ AILC und Academia Europaea und ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften Primerjalna književnost , CLCWeb und arcadia . Forschungsinteressen: Intertextualität, Nationalismusstudien, literarischer Diskurs, Kanonbildung und kulturelles Gedächtnis, Gattungstheorie, Weltliteratur, Literaturgeographie und -kartographie. Felix Oliver Kohl Felix Oliver Kohl studiert Slowenisch an der Karl-Franzens-Universität Graz, Masterarbeit zum Genre des slowenischen ‚generacijski roman‘. Derzeit Arbeit an einer Dissertation zum Thema Generationenerzählungen in der sloweni- Autorinnen und Autoren 307 schen Literatur. 2016-2018 Mitarbeit im FWF-Forschungsprojekt „Die zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen nach der Einstellung des mladje (1991) und ihre Position im überregionalen literarischen Interaktionsraum“. Veröffentlichungen u. a. in Primerjalna književnost. Forschungsgebiete: slowenischer Roman, (auto-)biographisches Schreiben, slowenische Literatur in Österreich, Genretheorie. Alenka Koron Alenka Koron ist Wissenschaftlerin und Bibliothekarin am Institut für slowenische Literatur und Literaturwissenschaften am Wissenschaftlichen Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste ZRC SAZU in Ljubljana. Sie beschäftigt sich mit Erzähl- und Literaturtheorie, literaturwissenschaftlicher Methodologie, Autobiographie- und Diskurstheorie sowie neuerer slowenischer und anderssprachiger Prosa. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Primerjalna književnost , Mitherausgeberin des Bandes Avtobiografski diskurz (Ljubljana 2011) und Autorin der Monographie Sodobne teorije pripovedi (Ljubljana 2014), einer Studie zu zeitgenössischen Erzähltheorien. Erwin Köstler Erwin Köstler ist literarischer Übersetzer und freier Literaturwissenschaftler. Er war Mitarbeiter an verschiedenen Forschungsprojekten, zuletzt 2016-2018 an der Universität Graz (https: / / slawistik.uni-graz.at/ de/ bilinguale-literarische-praxis/ projekt/ ). Er forscht und publiziert u. a. zu deutsch-slowenischen Literaturbeziehungen, literarischer Rezeption, Literatur und Erinnerungskultur der Kärntner Slowenen, Übersetzung, Editionskritik sowie Ideologie und Literaturwissenschaft und ist Autor zweier wissenschaftlicher Monographien: Vom Erleben und Deuten (2005), Vom kulturlosen Volk zur historischen Avantgarde (2006). Miran Košuta Miran Košuta ist Professor für slowenische Sprache und Literatur an der Abteilung für Humanistische Studien an der Universität Triest. Er ist Mitglied des slowenischen Schriftstellerverbandes, des Slowenischen PEN-Zentrums und der Slovenska matica. Forschungsschwerpunkte: Slowenische Literatur, slowenische Literatur in Italien, italienisch-slowenische Literaturrezeption, literarische Übersetzungswissenschaften. Monographien: Krpanova sol (Ljubljana, 1996), Scritture parallele (Trieste, 1997), Slovenica (Reggio Emilia-Trieste, 2005), E-mejli (Maribor, 2008), Mikrofonije (Trst, 2010). Andreas Leben Andreas Leben ist Professor für slowenische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Graz und literarischer Übersetzer. For- 308 Autorinnen und Autoren schungsinteressen: Slowenische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Autobiographie, literarische Mehrsprachigkeit, Kulturtransfer, Erinnerungskulturen, Literatur und Theater der Kärntner Slowenen. Leitete das FWF-Projekt Zweisprachige literarische Praxis der Kärntner Slowenen (https: / / slawistik.uni-graz.at/ de/ bilinguale-literarische-praxis/ ). Elena Messner Elena Messner studierte Komparatistik und Kulturwissenschaften in Wien und Aix-en-Provence. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin, war für das wissenschaftliche Projekt „Kakanien revisited“ tätig und koordinierte den Auftritt Serbiens auf der Leipziger Buchmesse 2011. Sie unterrichtete an Universitäten in Wien, Innsbruck, Berlin, Aix-Marseille und Klagenfurt, ist Mitbegründerin der Kulturplattform www.textfeldsuedost.com und Mitkuratorin der „Literaturpassage“ im Wiener Museumsquartier. Forschungsschwerpunkte: Kriegs- und Antikriegsprosa, jugoslawische und postjugoslawische Prosa, Narration und Konstruktion von Identität. Alexandra Millner Alexandra Millner forscht und lehrt im Fachbereich Neuere deutsche Literatur des Instituts für Germanistik der Universität Wien. Sie studierte Deutsche Philologie, Anglistik und Amerikanistik und promovierte in Deutscher Philologie. Ihre Spezialgebiete sind Literatur und Kultur ab dem 19. Jahrhundert, insbesondere in Österreich-Ungarn sowie Gegenwartsliteratur. Als Elise-Richter-Stipendiatin (FWF, 2012-2016) bereitete sie ihre Habilitation über „Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn“ vor und fand gemeinsam mit ihrem Team über 200 Autorinnen (www.univie.ac.at/ transdifferenz). Im Rahmen eines anderen FWF-Projekts gibt sie derzeit die Dramen und Hörspiele des österreichischen Autors Albert Drach (1902-1995) heraus (https: / / germanistik.univie.ac.at/ personen/ millner-alexandra/ ). Dominik Srienc Dominik Srienc ist Literaturwissenschaftler, Autor und Übersetzer. Er war ÖAD-Auslandslektor in Kirgisien und Armenien, von 2014 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Er war Mitarbeiter im FWF-Projekt „Bilinguale literarische Praxis“ (2016-2018) am Institut für Slawistik der Universität Graz und ist derzeit Senior Scientist am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv. Forschungsschwerpunkte: Schreibprozessforschung, Textgenese, Archiv und Literatur, Kärntner slowenische Literatur, Intermedialität, Peter Handke, Wiener Gruppe. Autorinnen und Autoren 309 Johann (Janez) Strutz Johann ( Janez) Strutz, Ao. Univ.-Prof. für Vergleichende Literaturwissenschaft (seit 2015 pensioniert), studierte Englisch, Deutsch und europäische Literaturen an der Universität Graz. Ab 1984 Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Klagenfurt, verantwortlich für den Forschungsschwerpunkt zu den Literaturen der Alpen-Adria-Region. Neben etwa 20 literarischen Übersetzungen (aus dem Italienischen, Kroatischen, Slowenischen, Englischen und Walisischen) veröffentlichte er Monographien und Aufsätze zur vergleichenden österreichischen, Italienischen, Slowenischen und Kroatischen Literatur. 2010 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung, 2016 den Würdigungspreis für Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes Kärnten. Sandra Vlasta Sandra Vlasta ist Marie-Skłodowska-Curie-Fellow an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Migration, literarische Mehrsprachigkeit sowie Reiseliteratur. Sie ist Mitbegründerin des Webportals „Polyphonie. Mehrsprachigkeit_Kreativität_Schreiben“ (www.polyphonie.at). Aktuelle Publikation: Contemporary Migration Literature in German and English , Leiden: Brill | Rodopi, 2016. Nives Zudič Antonič Nives Zudič Antonič ist Vorständin des Instituts für Italianistik an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Univerza na Primorskem/ Universitá del Litorale. Sie lehrt und forscht in den Bereichen italienische Literatur, Didaktik der italienischen Literatur und interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt auf Vermittlung moderner Lehrtechniken, Entwicklung von Lernstrategien und Motivationssteigerung bei der Behandlung und Interpretation literarischer Texte im Unterricht. Sie ist Mitarbeiterin und Koordinatorin in nationalen und internationalen Projekten zur Förderung von Minderheitensprachen und zur Lehrerfortbildung in mehrsprachigen Settings. Sašo Zver Sašo Zver ist Absolvent der slowenisch-ungarischen Mittelschule in Lendava. 2016 schloss er an der Philosophischen Fakultät in Maribor das Bachelorstudium der Germanistik mit einer Arbeit über das Nibelungenlied ab. Er arbeitet an der Universität Maribor als Demonstrator bei Prof. Birk und beschäftigt sich in seiner Forschungsarbeit mit deutscher Regionalliteratur und literarischer Phantastik. Personenregister 311 Personenregister Acquavita, Vlada 213, 218, 222 Adamič, Louis 289 Adolph, Anton 293 Albahari, David 164 Alešovec, Jakob 289, 291, 300, 302 Alighieri, Dante 35 Aliprandini, Marco 210 Amann, Klaus 107 Anaconda, Endo 90 Anderson, Benedict 42 Antić, Ivan 192 Anžič Klemenčič, Ivanka 278 Apollonio, Marco 213, 218, 222 f., 226 Araki Gerl, Seiko 192 Auer, Miriam 93 Babnik, Jožef Anton (Pseud. Buchenhain) 292 Bachtin, Michail 32, 43, 67, 143, 236, 248 Bačović, Branko 192 Baltić, Murat 163 Banda, Alessandro 210 Bandelj, David 103 Bartol, Vladimir 198 Bašić, Adisa 162 Battocletti, Cristina 209 Beckett, Samuel 196 Beecroft, Alexander 29, 32-36, 38 f. Bekrić, Ismet 192 Bellay, Joachim Du 35 Benussi, Libero 218 Benussi, Vlado 218 Berg, Werner 91 Besenghi degli Ughi, Pasquale 214 Betocchi, Darja 209 Bhabha, Homi K. 69 Binder, Josef Julius 299 Blank, Matthias (Pseud. Theo von Blankensee, Matthias Blank-Hohenzollern) 263 ff. Blohberger, Gudrun 89 Bogliun, Loredana 209, 218 Bonassin, Mario 218 Bonura, Beppe 210 Borovnik, Silvija 15, 184 Boscaro, Chiara 227 Böttcher, Max Karl (Pseud. Karl Hilbersdorf) 263 Bourdieu, Pierre Félix 67 Breinig, Helmbrecht 280 Bressan, Arnaldo 209 Brigić, Dubravka 162 Brodsky, Joseph 196, 254 Bukovaz, Antonella 200, 210 Bürger, Gottfried A. 38 Burić, Ahmed 162 Busch, Thomas 85 Byron, George N. 39 Cakır, Seher 247 Canetti, Elias 254 Cankar, Ivan 278, 285 Carli, Gian Rinaldo 214 Casanova, Pascale 37, 40, 51, 54, 56 f. Čebron, Jasna 238 Cecovini, Manlio 209 Cejović, Marko 162 Cergno, Sandro 218 Certeau, Michel de 73 Chamisso, Adelbert von 254 Charney, Noah 192 312 Personenregister Christen, Ada (d. i. Christiane Breden) 23, 281 f. Cimperman, Josip 298 Cocchietto, Mario 218 Comida, Luciano 210 Conrad, Joseph 196, 254 Čop, Brane 91 Čop, Matija 38 Corduff, Leo Thomas 209 Costa, Etbin Henrik 289, 300 f. Curavić, Aljoša 213, 218, 222 ff., 226 Curto, Giusto 218 Dallemulle Ausenak, Gianna 218 Damiani, Alessandro 216 ff. Damrosch, David 49, 53 D’Annunzio, Gabriele 217 Dedović, Dragoslav 162 Deghenghi Olujić, Elis 218 Đekić, Vedrana 162 Deleuze, Gilles 19, 47, 50, 53-59, 67 Delton, Lidia 218 Dembeck, Till 90, 100, 143, 248 Dev, Anton Feliks 38 Dežman, Dragotin (später Karl Deschmann) 289, 291, 298 f. Dežulović, Boris 163 Dietze, Gabriele 280 Dimkovska, Lidija 15, 31, 170 Di Stefano, Marco 227 Divo, Andrea 214 Dobnik, Ivan 120 Dobran, Roberto 218 f., 229 Dominguez, César 48 Dünne, Jörg 70 Duraković, Ferida 162 Ďurišin, Dionýz 34 Džamonja, Dario 162 Eckermann, Johann Peter 36 Efendi, Nikolaj 20, 98, 103, 107 f. Elster, Otto (d. i. Otto von Bruneck) 263 f., 269 Erll, Astrid 104 Even-Zohar, Itamar 32, 42 f., 67 Eysteinsson, Astradur 39 Fabrio, Nedeljko 238 Facchinetti, Michele 214 Farina, Romano 218 Feinig, Stefan 20, 103, 116 Ferk, Janko 82, 103, 119, 121 f. Firmani, Roman 200 Flego, Isabella 218 Floris, Romina 218 Forlani, Anita 217 Forza, Massimiliano 210 Forza, Silvio 218 Foucault, Michel 69 Frančič, Franjo 237 Fratantonio, Carmela 209 Furlani, Roman 236 Gabršček, Andrej 233 Gad, Max (d. i. Mathias Grilj) 92 Gaischeg (Gajšek), Karl 263 Galli, Lina 215 Gal Štromar, Maja 210 Gardi, Tomer 22, 245, 253-256 Gauvin, Lise 51 f., 60 Gherdol, Igor 201, 211 Giuricin, Antonio Gian 218 Glantschnig, Helga 90 Goethe, Johann Wolfgang von 34, 36 f., 196 Gornik, Ivan 298 Gotthardt, Verena 20, 98, 103 ff. Gramling, David 143 f. Gratzy, Herbert Wilhelm Josef 262 Grbić, Nadja 158 f., 161, 163 Grdina, Igor 183 Gropajc, Barbara 211 Personenregister 313 Grosman, Meta 14, 168 Groys, Boris 99 Grün, Anastasius (d. i. Anton Alexander von Auersperg) 289, 296-299 Grutman, Rainier 50, 248 Gstettner, Peter 87 Guattari, Félix 19, 47, 50, 53-59, 67 Haderlap, Gertrude 88 Haderlap, Maja 13, 16, 23, 65, 82 f., 85, 87, 89 f., 103, 106 f., 116 f., 119 f., 128, 186, 203, 206, 289 Haderlap, Zdravko 85, 89 Hafner, Fabjan 82, 103, 115, 119, 130 f. Haider, Jörg 83 f. Handke, Peter 12, 20 f., 84 f., 90 f., 95, 102, 129, 139, 141-152, 238 Hansen-Pauly, Anne-Marie 59 Harsch, Rick 192 Haver, Nura Fadila 162 Hellmuth, Irene von 263 Helmich, Werner 152 f. Hemon, Aleksandar 162, 196 Herder, Johann Gottfried von 35 f., 196 f. Hermannstahl, Franz Hermann von 293 Herzmansky, Katharina 90 Hladnik, Miran 14 f., 23, 65 Hnidy, Martha 263 Holquist, Michael 143 Hotschnig, Alois 88, 95 Hrustanović, Hajrija 162 Hudl, Anita 123 Hutterer, Kvina 103 f. Imamović, Jasmin 162 Insayif, Semier 22, 245, 251, 253 ff. Ipavec, Marko 210 Ishiguro, Kazuo 254 Jahn, Norbert 262 Jelicich, Marianna 218 Jelinčič, Dušan 202, 210 Jergović, Miljenko 162, 164 Jesih, Milan 31 Johnson Debeljak, Erica 16, 23, 119, 186, 192, 289 Jovanovski, Alenka 210 Jurčič, Josip 290, 302 Juri, Franco 213, 218, 222-225 Jurinčič, Edelman 237 Juvan, Marko 36, 45, 69, 168, 174, 256 Kafka, Franz 54, 56 Kalamujić, Lejla 162 Kalchberg, Johann von 293 Kanzian, Rezka 103, 116 Karahasan, Dževad 164 Karanović, Zvonko 163 Karlin, Alma 289, 293, 303 Kernstock, Otto 293 Kerschbaumer, Marie-Thérèse 88 Kidrič, France 291 Klein, Christian 112 Knežević, Marija 164 Kobal, Boris 210 Koestler, Arthur 196 Kofler, Gerhard 82, 239 Kokot, Andrej 82 Kopitar, Jernej 30 Kordesch, Leopold 293 Koseski, Jovan Vesel 296 Köstler, Erwin 20, 63, 65, 123, 161, 196 Košuta, Miroslav 202, 207, 210, 234 Kraljić, Zlatko 192 Kramberger, Taja 211 Krampitz, Karsten 83 Kravos, Marko 202, 209 Kriščan, Alojz 198 Krištof, Emil 82 Krizmanich, Venceslao (Venci) 218 314 Personenregister Krleža, Miroslav 164 Kuchar, Helena 85 Kucher, Felix 107 Kuehs, Wilhelm 87, 90 Kugy, Julius 289 Kujović, Asmir 162, 164 Kundera, Milan 57, 196 Kupljenik, Nataša 192 Kveder, Zofka 23, 278, 285 f. Lahiri, Jhumpa 196 Lasić, Ana 192 Lazarevska, Alma 162 Leben, Andreas 51, 57, 63, 80, 84, 93, 103, 124, 196, 217, 282, 303 Lefebvre, Henri 20, 70 ff. Leisch, Tina 84 f., 88 Lekovich, Kenka 210 Lernout, Geert 51 f. Levec, Fran 200, 302 Liepold-Mosser, Bernd 85, 89, 92 Linhart, Anton Tomaž 30, 296 Lipuš, Cvetka 118 ff. Lipuš, Florjan 12 f., 20, 82 f., 98, 101 ff., 106, 108, 112, 115 f., 119, 127-139, 199, 237 Ljuča, Adin 162 Locane, Francesco 210 Lösch, Klaus 280 Lotman, Jurij 20, 43, 45, 67 Mahnert, Ludwig 262 f., 275 Maier, Bruno 215, 217 f. Majetić, Amina 20, 103 f., 123 Makarovič, Svetlana 205 Makine, Andreï 196 Malavašič, Franc 295 Mall, Sepp 210 Marchig, Laura 218 Martini, Lucifero 216 ff. Matić Zupančič, Jadranka 192 Matteoni, Umberto 218 Mehmedinović Semezdin 162 Melcer, Dragotin 291, 300 f. Meltzl, Hugo von 49 Mermolja, Ace 210 Messner, Elena 20, 90, 103, 107, 116, 122 Messner, Janko 20, 86 f., 115 Mestrovich, Ezio 218 Micheuz, Alexander 90 Mickiewicz, Adam 39 Milani Kruljac, Nelida 216, 218 f., 225 Milič, Jolka 209 Milinovich, Egidio 218 Militarov, Peter 86 Minić, Snežana 163 Mirčevska, Žanina 192 Mischkulnig, Lydia 80, 82, 89 f. Mitrović, Marija 286 Moberg, Bergur Rønne 53 Močilnik, Kristijan 93, 105, 115 f. Mohar, Peter 240 Moretti, Franco 40 Morovich, Enrico 215 Moser, Doris 82 Mračnikar, Helga 12, 102 Mugerli Lavrenčič, Maruša 15, 184 Musa, Sanjin 162 Mustajbegović, Saida 162 Muzio, Girolamo 214 Nabokov, Vladimir 196 Načinović, Daniel 239 Neupokoeva, Irina 34 Nitsche-Hegedusic, Draga 263 Njatin, Lela B. 173 Obit, Miha (Michele) 200, 211 Obradović, Aleksandar 162 Olof, Klaus Detlef 161, 174, 234 Oman, Valentin 129 Personenregister 315 Orlić, Mila 208 Ošlak, Vinko 88, 123 Osojnik, Iztok 211 Osojnik, Pavlina 211 Osti, Josip 21, 31, 167, 169 f., 172 f., 180, 192 Oswald, Jani 12 f., 82, 95, 103, 107, 119, 231, 240 f. Otan, Majo 162 Ovčina, Damir 162 Oxman, Alice 202 Özdamar, Emine Sevgi 83, 254 Pahor, Boris 21, 31, 198, 202, 208, 210 Paletti, Silvia 236 Pangerc, Boris 201 f., 209 Paré, François 52 Parić, Mario 162 Parks, Tim 206 Parr, Rolf 90, 100 Pasqual, Carlos 192 Penn, Heinrich 289, 291, 293 Perkonig, Josef Friedrich 290 f. Perović, Željko 192 Pesjak, Luiza 289, 291, 300 f. Pestotnik, Aljaž 20, 103 f., 123 Petris, Bruno 236 Petzold, Alfons 263 Picciola, Guiseppe 214 Pickl, Dietmar 82 Pilgram, Gerhard 82 Pison, Igor 21, 202 f., 211 Pištalo, Vladimir 162 Pittler, Andreas 90 Pleteršnik, Maks 91 Podhostnik, Thomas 20, 92 f. Pölzer, Rudolf 158, 160, 163 Poniž, Denis 123 Potokar, Jure 170 Prešeren, France 30, 38 f., 133, 195, 289, 293-298, 300 ff. Prunč, Erich 129 Prušnik-Gašper, Karel 87, 91 Puff, Rudolf Gustav 289, 299 f. Quaglia, Renato 236 Quarantotti Gambini, Pier Antonio 215 Quarantotto, Giovanni 214 Rabenstein, Helga 82 Rabinowich, Julya 247 Radics-Kaltenbrunner, Hedwig von 278 Radics, Peter 278, 293 Rakovac, Milan 22, 231, 238 f. Ramnek, Hugo 20, 91 Ramous, Osvaldo 216 f. Raveggi, Patrizia 209 Rebula, Alojz 198, 202, 209 f. Renker, Gustav 290 Renko, Jakob 202, 209 Repar, Stanislava 192 Rettl, Lisa 89 Riess, Erwin 86, 89, 95 Rock, Zé do 254 Roda Roda, Alexander 285 Rojc, Tatjana 202 f., 209 f. Rotta, Carla 213, 218, 222 f. Ruggero, Timeus Fauro 233 Runko, Diego 22, 213, 226 ff. Sabatos, Charles 51 Šabić, Dušan 192 Šalamun, Tomaž 31 Samardžić, Goran 162 Samec, Janko 198 Sardoz Barlessi, Ester 218 Scego, Igiaba 254 Schacher, Bertram 89 Schiavato, Mario 216, 218 Schlegel, August Wilhelm 38, 196 316 Personenregister Schlözer, August Ludwig von 34 Schöfman, Miriam (d. i. Kristijan Močilnik) 93 Schönett, Simone 20, 83, 86, 91, 105 Schörkhuber, Eva 87 f. Schuberth, Richard 90 Schweiger, Hannes 111 Schwinger, Harald 83, 86, 92, 105 Scotti, Giacaomo 216 ff. Šehić, Faruk 162 Seidl, Johann Gabriel 289, 299, 303 Sequi, Eros 209, 217 Šimović, Dragan 162 Skubic, Andrej E. 174 Skuk, Ferdinand 89 f. Slapšak, Svetlana 192 Slataper, Scipio 234 Šlenc, Sergij 209 Slomšek, Anton Martin 300 Smajić, Senada 192 Sölch, Sida 263 Soldà, Maurizio 210 Soria, Corinna 82 Sosič, Marko 210 Špicar, Jaka 86 Spirito, Pietro 210 Srienc, Dominik 20, 63, 65, 82, 103, 116 Stančić, Milan 162 Stanič, Valentin 237 Stanišić, Saša 83 Steinthaler, Evelyn 89 Štikar, Marjan 85 f. Stojić, Mile 162 Stritar, Josip 291, 300, 302 Strutz, Johann 51, 64-67, 97, 100, 107 Strutz, Jože 116 Suppantschitsch, Johann Anton 292 Švabić, Marko 31 Svetina, Anton 293 Svit, Brina 196 Swaan, Abram de 50 Tavčar, Ivan (Giovanni) 203 ff., 209 Tešin, Srđan 163 Tieghem, Paul van 49 Tišler, Janko 86 f. Tomizza, Fulvio 22, 214, 216, 231, 237 ff. Tomšič, Marjan 237 Tontić, Stevan 162 f. Topčić, Zlatko 162 Trani, Giuseppe 218 Tremul, Maurizio 218 Trinko, Ivan 198, 200 Trubar, Primož 15, 30 Truschner, Peter 82 Turconi, Sergio 217 Ugussi, Claudia 218 Ullepitsch, Karel (d. i. Karel Aleksander Adam Ullepitsch von Krainfels, Pseud. Jean Laurent) 293 Uzunović, Damir 162 Valente, Paolo 210 Valjarević, Srđan 164 Vehovar, Matej 300 Veličković, Nenad 162 Velikić, Dragan 164 Vennemann, Kevin 83, 89 Verdelski, Josip Godina 198 Vergerio, Pietro Paolo der Ältere 214 Vergerio, Pietro Paolo der Jüngere 214 Vertlib, Vladimir 22, 245, 249 f., 255 Vesselizza, Ugo 218 Vevar, Štefan 16 Visintin, Liliana 201, 210 Vitasović, Alen 239 Vižintin, Marijanca Ajša 187 Vojnović, Goran 21, 31, 167, 170, 173-176, 178-181 Voncina, Klavdija 201, 209 Vuk, Stanko 198 Personenregister 317 Walgenbach, Katharina 280 Wallerstein, Immanuel 41 Waterhouse, Peter 20, 93 f. Wawerzinek, Peter 83 Weichard Valvasor, Johann 30 Wieser, Lojze 163, 165 Williams, Raymond 232 Windhab, Brigitte 85 Wintersteiner, Werner 103 Wolkenstein, Oswald von 197 Yildiz, Yasemin 29, 31 ff., 35, 255 Zaimoglu, Feridun 83 Zaimović, Karim 162 Zangger, Fritz 300 Zanini, Eligio 216, 218 Žbanić, Jasmila 162 Zdouc, Nina 20, 103 f. Žitnik Serafin, Janja 15, 31, 169, 172, 192 Zobin, Anja 200 Zois, Žiga 30 Zudič Antonič, Nives 219 Zupan, Jakob 300 Žurić, Vule 162