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Realismus und Moderne

2020
978-3-7720-5689-5
A. Francke Verlag 
Hans Vilmar Geppert

Das Buch sammelt in übersichtlichen Thesen Erträge langjähriger vergleichender Forschung zum Europäischen Realismus und Naturalismus. Die beiden Epochen sind, wie viele Beispiele zeigen, ganz unterschiedlich strukturiert und eröffnen immer wieder verschiedene ,realistische Wege zur Moderne'. So lassen sich beispielsweise die ,feinen Erzählfäden' finden, die Fontane mit dem Europäischen Naturalismus verbinden. Die Frage nach Vorwegnahmen der Moderne im realistischen Erzählen bildet den zweiten Schwerpunkt der hier gesammelten Aufsätze: Balzacs Comédie humaine erweist sich je nach Blickwinkel zugleich als beispielhaft realistisches und bereits modernes, ,polyhistorisch' offenes Werk. Fontanes Kunst der ,Leerstellen' weist wesentlich auf das Zwanzigste Jahrhundert voraus. Oft finden sich in der Literatur des Europäischen Realismus plötzliche, kurze, etwa symbolistische, impressionistische, ja expressionistische bis hin zu surrealistischen Passagen. Es gibt aber auch umfangreiche und bereits klare Erzählmuster für einen Weg zur Moderne: etwa das Umschlagen naturalistischer ,Totalisierungen' in Abstraktion und ein kreativ ,Unbekanntes', oder das ,Chaos der Zeichen' bei Raabe und dessen verblüffende Ähnlichkeit zu vielen zeitgenössischen Autoren, oder die ,Impulse der Innovation', die sich in den Erzählungen zerstörter Bilder bei Balzac, Keller, Henry James und anderen abzeichnen, und die dann im Bezug zur bildenden Kunst der Moderne überraschend deutliche Konturen gewinnen.

Realismus und Moderne Hans Vilmar Geppert Erträge, Vergleiche, Perspektiven Realismus und Moderne Hans Vilmar Geppert Realismus und Moderne Erträge, Vergleiche, Perspektiven © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8689-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5689-5 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0107-9 (ePub) Umschlagabbildung: Percy Robert Craft, Tucking a School of Pilchards (The Tuck Boat) (1897), Penlee House Gallery & Museum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 1. 7 2. 19 3. 49 4. 77 5. 111 6. 135 7. 159 8. 187 213 215 223 Inhalt Vorwort: Realistische Wege zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Morgens im Spielkasino“ - Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „menschlichen Bestie“ zum „unbekannten Gott“? - Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? . . . . . . . . . . . . . . . „Effi Briests arme Schwestern“ - Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen …“ - Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiel, Chaos und „Prodigium“ der „Zeichen in der Welt“ - Wilhelm Raabe und die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählte Bilder - Aporie der Kunst und ästhetische Moderne . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Bd. 1, hrsg. von Clemens He‐ selhaus, München, 3. Aufl., 1969, S. 15. 2 Rainer Maria Rilke, Werke. Bd. 1.2, hrsg. vom Insel Verlag, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1984, S. 356f. (Hervorhebung von mir). 3 Imagist Poetry. Hrsg. von Peter Jones, Harmondsworth 1972, S. 168. 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne Beginnen wir mit ein paar Assoziationen, mit irgendwie sich anbietenden, manchmal geradezu sich aufdrängenden Verbindungen zwischen weit ausein‐ ander liegenden Texten: Heinrich […] sah […] den grauen Kopf einer Matrone nebst einer kupfernen Kaffee‐ kanne sich dunkel auf die Silberfläche einer zehn Meilen fernen Gletscherfirne zeichnen und erinnerte sich, daß er dieses Bild unverändert gesehen, seit er sich denken mochte. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erstfassung (1849) 1 […] uraltes Wehn vom Meer, welches weht nur wie für Ur-Gestein, lauter Raum reißend von weit herein… O wie fühlt dich ein treibender Feigenbaum oben im Mondschein. Rainer Maria Rilke, Lied vom Meer. Der Neuen Gedichte Anderer Teil (1908) 2 Above the dock in midnight Tangled in the tall mast’s corded height Hangs the moon. What seems so far away Is but a child’s balloon, forgotten after play. T.E. Hulme, Above the Dock (1912) 3 Wegmarkierungen In allen drei Texten werden jähe räumliche Verkürzungen, ja Sprünge in der Wahrnehmung von Nähe und Ferne evoziert: „Raum, reißend von weit herein“, das könnte man auch zu Kellers Momentaufnahme eines Blicks durch zwei 4 Dieser philosophische Kontext ist für beide, sonst so verschiedene Dichter relevant. 5 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (Opera aperta, 1962). Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1973, S. 160: Die Moderne „stellt […] die Kategorien der Kausalität, die zwei‐ wertigen Logiken, die Eindeutigkeitsbeziehungen, das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in Frage“. Fenster sagen, „quer durch das braune Gerümpel in die blendende Ferne“. Und umgekehrt: Das verdichtende Sehen bei Rilke oder, in spielerischem Under‐ statement, bei T.E. Hulme könnte, wollte man so „realistisch“ lesen, auch auf die Perspektive Kellers zurückgeführt werden. Man könnte den „Feigenbaum“ durch die Spiegelung des „Mondes [im] Meer […] treiben“ sehen, den Luftballon in der Takelage könnte man mit dem Mond verwechseln, und so fort. So lehrte uns seinerzeit ein Deutschlehrer, die Moderne zu verharmlosen und ihr neues Sehen in das alte zurück zu führen. Aber die hier so, und so neu, gesehenen „Dinge“, genauer: die sprachlich-phänomenologisch „im Bewusstsein herge‐ stellten“ Dinge, 4 haben die Relativität von Raum und Zeit als eine aktive Qualität in sich aufgenommen. So wie etwa der „Mond-Ballon“ geradezu oszilliert zwi‐ schen der Nähe zum „child’s […] play“ einerseits, der immer noch alltäglichen Distanz der „hohen“ Mastspitze andererseits, und wie er dann auch die Ferne des Himmel-Körpers um sich hat, so umgibt die „kupferne Kaffeekanne“ in einem Nu die Aura sowohl ihres bloßen häuslichen Gebrauchs, als auch die Aura der Dauer langer Gewohnheiten, die Verlässlichkeit, so da zu sein und so ge‐ sehen zu werden; und in eins damit wird diese gewohnte „Hülle“ ganz wörtlich „reißend von weit herein“ aufgehoben durch die „blendende“, man könnte sogar assoziieren, kalte Distanz, in der die „zehn Meilen ferne Gletscherfirne“ sich einen Augenblick lang aufdrängt. Die Relativität von Raum und Zeit, in die diese „Dinge“ gestellt werden, die „Offenheit“ der Zuordnungen, das Infragestellen räumlicher und zeitlicher „Eindeutigkeitsbeziehungen“, 5 spricht ein wesentli‐ ches Paradigma der Moderne an: in der Wissenschaft, im Denken und in der Kunst. Dass Keller vielleicht eine „Wegmarkierung“ auf einem „realistischen Weg zur Moderne“ gesetzt haben könnte, ist natürlich nicht beweisbar, aber doch auf alle Fälle bedenkenswert. Denn man kann das Netz der Bezüge durchaus weiter und zugleich fester knüpfen. Stellt man die „Kupferkanne“ in der „zehn Meilen entfernten Gletscherfirne“ in einen noch weiteren Zusammenhang, dann ver‐ dichtet sich ihre Bedeutung auf ganz neue und ganz andere Weise. Und jetzt wird sie definitiv zur Wegmarkierung auf dem Weg zum modernen Roman: Il y a des choses insignifiantes qui m’ont frappé fortement et que je garderai toujours […] quoique’elles soient banales. / Es gibt unbedeutende Dinge, die mich stark und 8 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 6 Gustave Flaubert, Mémoires d’un fou. In: Œuvres Complètes. Hrsg. von der Société des études littéraires françaises. Paris 1974, Bd. 11, S. 488. (Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes angemerkt ist, von mir.) 7 Imagist Poetry, S. 130. 8 James Joyce, Stephen Hero. Hrsg. Von Th. Spencer, J.J. Slocum und H. Cahoon, London 1956, S. 216 und 218. 9 Ezra Pound, Letter to Harriet Monroe (1915) und Vorticism (1914), in: Imagist Poetry, S. 21 und 142. 10 Gustave Flaubert, Mémoires d’un fou, ebd. schlagartig beeindruckt haben, und die ich immer mit mir tragen werde, obwohl sie eigentlich banal sind. Gustave Flaubert, Mémoirs d’un fou (1838) 6 An „Image“ is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time. Ezra Pound, A Few Don’t’s by an Imagist (1913) 7 By an epiphany he meant a sudden spiritual manifestation [of] the commonest object […] in a memorable phase of the mind itself. James Joyce, Stephen Hero (1906) 8 Natürlich sagen diese minimalen, aber jeweils essentiellen literarischen Pro‐ gramme nicht einfach dasselbe. Aber die gemeinsame Schnittmenge ihrer Aus‐ sagen, die plötzliche, geistige Bedeutung alltäglicher Dinge, liegt auf der Hand. Und in diesem Zusammenhang markierte dann vielleicht auch Kellers Text eine weitere mögliche Station auf dem Weg zur Moderne: von Flaubert (und eben auch Keller) zu Proust und Joyce sozusagen, also auf dem Weg der Transfor‐ mation des realistischen, autobiographisch fundierten Entwicklungsromans in ein offenes, geistig-stilistisches Experiment. Keller wiese zumindest auf diesen Weg hin. Strukturell gesehen ließen sich ja auch die oben zitierten Gedichte von Rilke und T.E. Hulme, ebenso wie das Programm Ezra Pounds, in einen gewissen, sagen wir, epischen Rahmen einfügen. Immer wird das in einem Augenblick mehrfach gesehene „Ding“ - auch die „images“ Pounds sind ja nicht eigentlich „Bilder“, sondern, wie er selbst betont, genau gesehen „concrete things“, die mit „variable significance“ 9 emotional und intellektuell aufgeladen sind -, immer werden diese „Dinge“ nicht nur bedeutsam heraus gehoben, sie „strahlen“ auch, wenn ich so sagen darf, seelische Energie aus. Die Subjektivität derer kommt ins Spiel, die so sehen und reden. Flaubert spricht sogar von der schmerzhaften, traumatischen „empreinte d’un fer rouge / dem Brandmahl, wie sie ein rotglü‐ hendes Eisen hinterlässt“. 10 9 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 11 Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 525f. und 667 f. 12 Gustave Flaubert, La Première Éducation sentimentale. Mit einem Vorwort von Maurice Nadeau hrsg. von Le Cercle du Bibliophile, Genf 1970, S. 248. Auch wenn es nicht immer so pathetisch zugeht: Erinnert nicht Rilkes „fühl[ender,] treibender Feigenbaum“ letztlich auch an eine „entwurzelte“ Künstlerexistenz, oder erinnert der „child’s balloon, forgotten after play“ bei Hulme nicht nur an vergessene, sondern geradezu auch an „verlorene“ Kinder‐ zeit? Auf alle Fälle ist im Grünen Heinrich in der „grauen […] Matrone“ bereits die viel spätere Vision erkennbar, in der Heinrich im Traum an einem „öden Fenster […] deutlich seine [eigene] Mutter, alt und grau, hinter der dunklen Scheibe sitzen“ sieht. Und genauso wie jetzt an der „Kupferkanne“ wird später die „Flucht des Lebens“ an „Gegenständen in fortwährendem Gebrauch“ sichtbar gemacht werden. 11 Anders gesagt: Heinrich, es ist ja der Morgen seiner Abreise für viele Jahre, schaut bereits jetzt hinein in einen verlorenen Ort und eine „ver‐ lorene Zeit“. Und die kunstvoll einfache Bildlichkeit der Szene ist schon jetzt erfüllt von der Suche danach, beides literarisch zu bewahren und wieder zu finden. „Epiphany“ und die Form des modernen Romans hängen sicher für Joyce, aber nicht nur für ihn, notwendig zusammen. Das Spiel mit den Perspektiven und räumlichen und zeitlichen Dimensionen, welches Gefühl und Verstand mit fast beliebigen, alltäglichen Dingen korrespondieren lässt, wenn dies das Ge‐ meinsame der bisher vorgestellten Texte und Aussagen ist, dann sagt es roman‐ theoretisch genau dies: Die erzählte Wirklichkeit kann von jedem „Ding“ und von jedem Punkt in Raum und Zeit aus sinnvoll erzählt werden. Il fallait bien reconnaitre une réalité d’une autre espèce et aussi réelle que la vulgaire cependant, tout en semblant la contredire. / Man musste wohl eine Realität von ganz anderer Art anerkennen, die genauso real war wie die gewöhnliche, obwohl sie ihr zu widersprechen schien. Gustave Flaubert, La première Éducation sentimentale (1843-1845) 12 Das sagt Flauberts Romanheld nach der Begegnung mit einem abstoßend fas‐ zinierenden und hermetisch bedeutsamen Hund, einem - nach damaligem Ver‐ ständnis - ganz fremden, alltäglichen, zunächst ganz bedeutungslosen „Ding“ („chose insignifiante“), das doch zugleich wie eine Veräußerung seiner Innen‐ welt zu ihm spricht und das ihn sozusagen zum Dichter beruft. Von da an arbeitet er literarisch genau. Auch die unklare Grammatik, die den Widerspruch sub‐ jektiv oder objektiv lesen ließe - wer „scheint zu widersprechen“ und wogegen? -, ist durchaus bezeichnend. Die Möglichkeit einer „anderen“ Realität und die Möglichkeit, „widersprüchlich anders“ zu sehen, setzen sich wechselseitig vo‐ 10 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 13 Gustave Flaubert, Oeuvres. Hrsg. Von A. Thibaudet und R. Dumesnil, 2 Bde., Paris (Édi‐ tion de la Pléiade) 1951, Bd. 1, S. 321. 14 Charles Baudelaire, Oeuvres complètes. Hrsg. von Claude Pichois, Bd. 1, Paris 1975, S. 49: „Man könnte sagen, dein Blick sei von einem Nebel verdeckt; deine geheimnisvollen Augen (sind sie blau, grau oder grün? ), immer wieder anders, zärtlich, träumerisch, grausam, spiegeln die Gleichgültigkeit und die Blässe des Himmels“. raus. „L’autre“, „der Andere“, aber auch „das Andere“, sind Schlüsselwörter für Flaubert. Dass etwa die Heldin in Madame Bovary (1856), um nur das vielleicht bekannteste Beispiel zu nennen, von allen immer wieder „anders“ gesehen, ja anders „erschaffen“ wird, und dass sie eben immer wieder auch eine „Andere“ ist, dieses letztlich unfassbare, durchaus zwischen Nähe und Ferne Oszillierende ihres Wesens setzt sich geradezu abgründig fort in ihre im Laufe des Romans mehrfach wechselnde Augenfarbe: braun, schwarz, sogar blau; und es wird noch einmal intensiviert, wenn diese Augen ganz nah gesehen werden, immer wieder „anders“, und wenn sie sich dabei zugleich in ihre Tiefe hinein sichtbar in immer wieder „Anderes“ entfernen: Noirs à l’ombre et bleu foncé au grand jour, ils avaient comme des couches de couleurs successives, et qui plus épaisses dans le fond, allaient en s’éclaircissant vers la surface de l’émail. [On] se perdait dans ces profondeurs. / Ihre Augen waren schwarz im Dunkeln und tiefblau im hellen Tageslicht, sie hatten gleichsam übereinander liegende Farbschichten, die in ihrem Grund dichter und zur glänzenden Oberfläche hin immer heller wurden. Man verlor sich in dieser Tiefe. 13 Dies ist eine subjektiv wie objektiv immer neu „andere“, fremde und vertraute, nahe und zugleich „ferne“ Realität. Sie erinnert durchaus, und nicht nur von fern, an Verse Charles Baudelaires, eines klassischen Vorläufers, wenn nicht ersten Vertreters der literarischen Moderne: On dirait ton regard d’une vapeur couvert; Ton œil mystérieux (est-il bleu, gris ou vert ? ) Alternativement tendre, rêveur, cruel, Réfléchit l’indolence et la pâleur du ciel. […] (1857) 14 Baudelaire sieht noch intensiver, noch „moderner“, als Flaubert, dass alles immer neu „autre / anders“ und immer neu nah und fern zugleich sein kann - „tout pour moi devient allégorie“ -, er sucht fasziniert das extrem Gegensätzliche, mal Bedrückende („une image m’opprime“), mal subjektiv Projizierte („jaillissant de mon oeil“), das Erfreuliche, zumindest Tröstliche, das Zerstörerische, das Un‐ bekannte und Neue („l’Inconnu“, „du nouveau“), diese „Andersheit der Welt“ sucht er dichterisch zu erkunden. Bezeichnenderweise ist die Großstadt („four‐ 11 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 15 Ebd. in der Reihenfolge der Zitate, S. 86 („alles wird für mich zur Allegorie“, wörtlich zur Rede von „Anderem“), ebd. („ein Bild bedrückt mich“, drängt sich mir auf), 76 („aus meinem Auge hervorsprudelnd“), 134 („Das Unbekannte, etwas Neues“), 87 („wim‐ melnde Großstadt, wo Gespenster am hellen Tag die Passanten einfangen“). 16 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, S. 403 (Hervorhebung von mir). 17 „Der moderne Roman ist polyhistorisch geworden, [ein] Roman [von] rational-irrati‐ onaler Polyphonie“, Hermann Broch, Dichten und Erkennen. Essays. Bd. 1, hrsg. von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 236 und 238. 18 Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman [1928, „Wort“ heißt hier immer auch „Rede“, ja „Denken“]. In: Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt 1979, S. 251. 19 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate, S. 174, 255, 219. millante cité […], où le spectre en plein jour raccroche le passant“), die „wim‐ melnde Stadt“, die „gespenstische“, immer wieder plötzlich ganz fremde, 15 um die ein Großteil dieser Gedichte kreist, der eigentliche Ort dieser „Passagen“, der Übergänge zu immer neu „Anderem“ schlechthin. Und erzählt Baudelaires Lyrik, zusammen gesehen, neben vielem anderen nicht auch so etwas wie einen sprunghaften, fragmentierten, gleichwohl kohärenten, modernen, eben ganz „offenen“, ja extrem „polyhistorischen“ Roman? Erträge und Perspektiven Sicher sollte man es mit solchen Assoziationen nicht zu weit treiben. Es geht ja auch nur darum, die Fragen dieses Buches nach „Realismus und Moderne“ vor‐ zubereiten. Auf alle Fälle, so abstrakt es klingen mag, doch dass sie Abstrakti‐ onen fordert, ist ein Kennzeichen der literarischen und künstlerischen Moderne: Sowohl die „kupferne Kaffeekanne“ als auch die „Augen der Bovary“ erzählen bereits „Vieles“ in momentaner Verdichtung und immer neu „Anderes“ plötzlich auf „andere“ Weise. Bei aller Verschiedenheit sind dies doch jeweils Wegmar‐ kierungen, die auf den modernen Roman verweisen: Sie steuern, wenn auch nur für Augenblicke, letztlich den „offenen“ Roman an - „die Ordnung ist zur Ko‐ präsenz der verschiedenen Ordnungen geworden“ 16 -, den „polyhistorischen“, viel auf vielerlei Weise erzählenden, also auch immer neu „Anderes“ erzäh‐ lenden, 17 den „galileischen“ Roman, 18 der einen von vielen Zentren her er‐ schließbaren Erzählraum entwirft, mit seiner immer neuen „Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kontexten, verschiedenen Standpunkten, verschie‐ denen Horizonten“ - da haben wir wieder das „l’autre“ Flauberts -, seinen stets „mehreren möglichen Hypothesen des Sinns“, einen Roman, der die „Vorbe‐ haltlichkeit der Welt“ erzählt. 19 Kommen nicht die Relativierungen von Raum und Zeit und von Subjektivität und Objektivität, die an ganz verschiedenen Texten zu beobachten waren, in dieser „Vorbehaltlichkeit der Welt“ überein? Die 12 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 20 Vgl. mein viel zu dickes Buch: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994. Wege-Markierungen auf dem realistischen Weg zur Moderne, auch wenn sie diese längst nicht immer erreichen, indem sie aber doch sicher auf sie hinweisen, führen letztlich zum „polyhistorischen“ und „galileischen“ Roman, in dem sich die literarische Moderne wesentlich verkörpert. Freilich, der Realistische Weg, der dahinführen soll, war immer eine retros‐ pektive und „gedachte“ Linie gewesen, 20 er zeichnet eine Konsequenz des Den‐ kens auf, einen Diskurs, welcher literarische Realitätsentwürfe, also Formen, Wirklichkeit zu konstruieren, insbesondere deren „Modalität“ (ihren Wahr‐ heitsanspruch), rückblickend verbindet und diese Verbindung als „pragmati‐ schen“, das heißt vernünftig-regulativen „Zweckzusammenhang“ verallgemei‐ nert. Das hieß umgekehrt schon immer, und dies steht in den folgenden Erträgen nun eher im Mittelpunkt, wer will, kann es auch als Korrektur lesen, zumindest als Klärung: Den Realismus schlechthin gibt es nicht. Es gibt nur „Familienähn‐ lichkeiten“, gemeinsame Züge dieser Epochenphysiognomie, die jeweils meh‐ reren, aber nicht notwendig allen Autoren und Werken gemeinsam sind. Solche Gemeinsamkeiten aber kann man (so Kapitel 2) durchaus benennen und vor allem anschaulich belegen. Es gibt so etwas wie eine den Europäischen Roman des literarischen Realismus verbindende „Epochenphysiognomie“. Man kann den Inhalt des Begriffs umschreiben, aber muss seinen Umfang durchaus nicht begrenzen. Aussagen der Form: „Dies ist ‚noch’, dies ist bereits ‚nicht mehr re‐ alistisch’…“, und so weiter, sind selten gerechtfertigt. Und man kann den bereits deutlich anders, vor allem enger beschreibbaren europäischen „Naturalismus“ typologisch davon unterscheiden (Kapitel 3), nicht zuletzt gerade in dessen „kontrafaktischer“ Widersprüchlichkeit. Die hier (Kapitel 5) vorgeschlagene Lektüre Fontanes beispielsweise, der Nachweis der „feinen Fäden“ in seinem Erzählen, die die kräftigeren Farben des Europäischen Naturalismus um ihn her aufnehmen, zugleich aber sich neu zu einem eigenen Diskurs verbinden, nimmt solche Differenzierungen und Verall‐ gemeinerungen auf und führt sie fort. Und immer wieder nimmt Fontane so auch an den Formen der Moderne teil, in die der Naturalismus übergeht, kennt aber natürlich auch seine eigenen, vorweggenommenen Modernismen. Auf alle Fälle führen aus dieser „Familienähnlichkeit“ heraus viele „realisti‐ sche Wege“ zur Moderne. Kapitel 4 ist so gesehen durchaus zentral für die These dieses Buches: Einerseits lassen sich so gut wie alle realistischen Gemeinsam‐ keiten in Balzacs Comédie humaine finden, andererseits, liest man dieses Oeuvre 13 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 21 Penlee House Gallery and Museum. Penzance, Cornwall. Vgl. die Wiedergabe auf dem Buchdeckel. als ein großes Erzählexperiment, dann zeigt es bereits das Gesicht des modernen „polyhistorischen“ Romans. Breit nachweisbar ist etwa auch jener Weg zur Moderne, dass die „Totalisie‐ rungen“ des Naturalismus in Abstraktionen umschlagen und eine Fülle mo‐ derner Schreibweisen: impressionistische, symbolistische, ja expressionistische usw., freisetzen können, und dass das wissenschafts-gläubige, zumindest so in‐ spirierte, naturalistische „Systemexperiment“ (Kapitel 3) in die Offenheit des „Unbekannten“ übergehen, ja dass es in Transzendenz münden kann. Und hier handelt es sich, wenn eine Abschweifung erlaubt ist, sicher nicht nur um eine literarische Entwicklungs-Linie: In dem Gemälde Tucking a School of Pilchards (1897) von Percy Robert Craft (1856-1935), Öl auf Leinwand und im Original 142 x 212 cm groß, 21 kann man sehen, wie sich die Realitätsentwürfe und Seh‐ formen von den Bildrändern ausgehend zur Bildmitte hin immer weiter verän‐ dern. Percy Robert Craft, Tucking A School Of Pilchards (1897) 14 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 22 Insbesondere These 6 und 8 in Kap. 3 und These 5 und 7 in Kap. 4. Ist dies nicht ein gemaltes „Wirklichkeitsexperiment“ und ein mehrere neue Kunstformen erprobender „realistischer Weg zur Moderne“? Auf alle Fälle lassen sich die in Kapitel 3 und 4 aufgestellten Thesen hier kohärent anwenden, zu‐ mindest anschaulich machen. 22 Die Fischer im Vordergrund und im rechten Bildteil sind nach Aussehen und Kleidung sorgfältig „individualisierte“ Per‐ sonen. Kaum zwei tragen den gleichen Hut. Man kannte und kennt sogar die Leute, die da porträtiert wurden. Die „Autobiographie“ des Malers ist eigentlich so gut wie mit dargestellt. Grobe Kleidung, gegerbte Gesichter und Hände und so fort verdichten (indexikalisch) eine harte und arme „historisch-gesellschaft‐ liche Realität“. Die Werkzeuge und die Gruppierung weisen auf „folgerichtig zweckmäßige“ Arbeit hin. Der Maler stellt sich sozusagen selbst dazu. Die kleine Metonymie links oben, dass jemand etwas notiert, zeigt (pars pro parte) an, dass sich der Fischfang in eine Summe, einen „Haufen“ Geld verwandeln soll; die Krisenanfälligkeit bürgerlicher Ökonomie (wie bei den Fischern Vergas) ist so zumindest nicht abwesend. Und alles ist so „lebendig“ gemalt, wie es sich die Maler bei Balzac oder Keller (Kap. 8) nur wünschen konnten. Je mehr man nun aber auf den oberen und tieferen Teil des Bildes schaut, um so mehr verschmelzen die „realistischen“ Gestalten zu einer „naturalistischen Totalanschauung“, sie bilden immer mehr lediglich ein farbiges, aber immer noch eben als dieses Ganze komponiertes Pendant zu der Landschaft und dem Meer dahinter, die ihrerseits einfach blau und grau und bereits so gut wie un‐ charakteristisch wirken. Die Fischer im hinteren Bildteil werden letztlich bereits so gesehen wie der Strom von Leuten bei Zola; und das Meer erinnert an die Ackerfurchen bei Hardy oder den Wald bei Hauptmann. Und noch entschiedener verändert sich das Sehen, wenn man von der Netz‐ kante nach innen schaut. Wir nähern uns sichtbar immer mehr der Moderne. Die „Augenblicks-Kunst“ der beiden Möven, eine fast schon an der Fotographie orientierte Momentaufnahme, verändert sich bereits in sich selbst und während des Hinsehens: Da die Vögel vor dem weiß-silbrigen Hintergrund fast durch‐ sichtig wirken, werden sie zu zwei fragilen, primär künstlerischen Eindrücken, zwei „Impressionen“. Und noch entschiedener in Kunstformen der Moderne schlägt die „Totalanschauung“ der wimmelnden Fische um. Wird die Bildmitte, immerhin ein Farb-Raum von etwa 80 Quadratzentimetern, nicht ganz einfach in eine weiß-silbrige, nahezu reine Licht-Impression verwandelt? Schließlich bildet sie ja, sieht man genau hin, und wohlgemerkt gegen alle physikalischen Erwartungen, die eigentliche Licht-Quelle in dem Bild: eine bemerkenswerte, künstlerisch kreierte Eigen-Realität. Und ist dann bei einem als tief religiös be‐ 15 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 23 Mit dem ich mein Projekt noch besprechen durfte, und der gerade diesen Aspekt des Wegs zur Moderne unterstützte. kannten Maler nicht letztlich auch eine symbolistische Deutung: Licht als Hoff‐ nung, möglich, ja wird dieses ganz realistische Tucking a School of Pilchards in der künstlerischen Inszenierung nicht zu einem „wundersamen Fischzug“ (Lukas 5, 4-9), und schlägt Naturalismus nicht einmal mehr um in Transzen‐ denz? Man könnte derlei Assoziationen noch lange fortsetzen. Ganz eigene „reali‐ stische Wege zur Moderne“ ergeben sich natürlich aus der Wirkungsgeschichte einzelner Werke und Autoren Man denke etwa an die Einführung „wiederkehr‐ ender Personen“ bei Balzac, wie sie Joyce, Faulkner, Uwe Johnson und andere aufgenommen haben, und überhaupt an den plural-widersprüchlichen Entwurf der Comédie humaine schlechthin, der ja vielfach weitergewirkt und den „po‐ lyhistorischen Roman“ des 20. Jahrhunderts nicht nur vorweggenommen, son‐ dern eben auch beeinflusst hat. Eine solche Wirkungs-Verbindung zeigt sich aber auch durchaus punktgenau, wenn etwa ein englischer Roman von 2011, der eine moderne Finanzmanipulation thematisiert, nahezu ausdrücklich auf Balzacs César Birotteau (1837) zurück verweist (Kapitel 4). Ähnlich eröffnen beispielsweise Fontanes kühne „metonymische Leerstellen“ und sein literarisch potenziertes „Schach-Spiel“, ein Erzähl-Spiel mit einer „Welt des Scheins“ und gegen sie, Perspektiven, die weit in das Zwanzigste Jahrhundert hinein und si‐ cher noch zu vielen weiteren Autoren als den in Kapitel 6 vorgestellten führen. Wie ein roter Faden zieht sich vom Vorwort bis zum letzten Kapitel die These von der „Protomoderne“ durch dieses Buch: Die Vergriffe auf Seh- und Erzähl‐ weisen, die wir inzwischen als „modern“ bezeichnen können, finden sich oft, wie oben bereits bei Keller und Flaubert gezeigt, aber natürlich nicht nur, an den Anfängen der „realistischen Wege“. Das mag überraschen, ist aber, lässt man sich auf diesen Begriff ein, durchaus nahe liegend. Wenn realistisches Erzählen, das scheint evident, von Krisen und ihrer Erfahrung, also von einem „Problemati‐ schwerden der Realität“ ausgeht (Richard Brinkmann 23 ), dann wäre doch wohl das Experimentieren mit „neuen“ Formen literarischer Entwürfe eine, wenn auch meist ja eine unbewusste, Strategie, dieser Erfahrung zu begegnen. Das mutet, natürlich erst aus der Retrospektive sichtbar, immer wieder, und aus wechselnder Sicht, ganz einfach „modern“ an, und man kann es vergleichend belegen. In Kapitel 8 wird dieser Zusammenhang von Krise und Innovation dann eigens thematisiert; und die Beispiele aus der inzwischen „klassischen“, maler‐ ischen Moderne, die sich hier zuordnen ließen, waren, zumindest für mich selbst, manchmal geradezu überraschend klar und anschaulich. Insbesondere Balzacs 16 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne und Kellers Erzählungen „zerstörter Bilder“, bei beiden Autoren sind ja auch die autobiographischen Bezüge nicht zu übersehen, stellen solche Krisen und Vor‐ griffe nicht nur so detailliert dar, dass hier die „Wege zur Moderne“ geradezu visuell präsent werden, das Erzählen nähert sich bei beiden Autoren im Grunde bereits der Ebene theoretischer Reflexion. Das Buch beginnt also mit der Vorstellung von „Erträgen“ langjähriger Be‐ schäftigung mit der realistischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, vor allem der deutschen, englischen und französischen. Bei den folgenden „Perspektiven“ erhält dann der Aspekt „Realismus und Moderne“ fortschreitend wachsende Bedeutung. Insofern steht hier das Kapitel 5 zu „Fontane und dem Europäischen Naturalismus“, insbesondere zu Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine (1887- 1890), bewusst vor dem Kapitel 6 über „Schach von Wuthenow [erschienen be‐ reits1882] und das Zwanzigste Jahrhundert“. So hätte dann wohl auch das Ka‐ pitel über „Raabe und die Postmoderne“ (Kapitel 7) an den Schluss des Buches rücken können. Die hier untersuchten Traditionen des „Vorgriffs auf die Mo‐ derne“ reichen einerseits besonders weit zurück und lassen sich andererseits - das letzte ausführlich untersuchte Beispiel stammt von 2013 - bis nahe an unsere Gegenwart heran verfolgen. Aber die vielen gerade hier immer neu sich auf‐ drängenden Belege für die Modernität Raabes, die ja alle irgendwie nacherzählt werden mussten, hätten ein ungünstig langes Schlusskapitel ergeben, während umgekehrt die erzählten, zerstörten und „erneuerten“ Bilder eine zentrale Per‐ spektive dieses Buches zuletzt noch einmal anschaulich zusammenzufassen er‐ lauben. Natürlich musste der „Moderne“-Teil des Buches, was Beispiele und Belege betrifft, wesentlich skizzenhafter bleiben als der „Realismus“-Teil. So wird bei‐ spielsweise immer wieder auf die Bedeutung der Metonymie für realistisches Erzählen hingewiesen: das Geld als „metonymische Störung“ (Roland Barthes), die „Para-Metonymien“ bei Fontane, Faulkner, Johnson und anderen, und so fort. Aber die modernen Aspekte dieser Erzähl-Figur konnten eigentlich nur ein einziges Mal, in einem Exkurs zu „Balzac und die Milchschnitte“, aufgezeigt werden. Hier wäre sicher noch viel mehr anzuführen gewesen; aber das hätte einen viel umfassenderen (und kompetenteren) Blick etwa auf Fotographie oder Film, oder auf Alltags-Ästhetik, Werbung oder Politik-Propaganda usw. erfor‐ dert, als er hier und mir möglich war. Die Hinweise auf Parallelen aus der bild‐ enden Kunst am Anfang und am Ende des Buches hätten sicher noch viel öfter und fruchtbarer genutzt werden können, und so weiter. Ein Buch wie dieses braucht den Mut zur Lücke. Alles hier hat irgendwie als Vortrag begonnen, Kapitel 2 und 3 als Vorlesung; oder es begann als jeweils zu einem bestimmten Anlass geschriebener Aufsatz. 17 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne Vieles wurde, meist in Teilen, mehrmals verwendet und umgearbeitet. So kommt es hier ja auch immer wieder zu Überlappungen. Sie durch Querverweise zu ersetzen, hätte allerdings den Zusammenhang der Einzelstudien unterbrochen. Vielleicht können sie ja als Ergänzungen durchgehen. Da es sich bei den „Er‐ trägen und Perspektiven“ oft auch um „Nachträge“ handelt, die aus früheren Projekten liegen geblieben waren, und das teilweise seit langem, haben an diesen Beobachtungen und Überlegungen so viele Mitarbeiter, Kollegen und Freunde ihren Anteil gehabt, dass ich ihnen allen jetzt nur im Ganzen danken kann. Mein besonderer Dank gilt Günter Butzer und Hubert Zapf, die mir in den Augsburger Ringvorlesungen Theorien der Literatur und Große Werke der Literatur ein Forum geboten haben, sicher auch den Ansporn, etwas nun also auszuarbeiten, was ich oft schon lange festhalten wollte. Danken möchte ich schließlich einmal mehr Gunter Narr, Tillmann Bub und den Damen und Herren des Francke Verlags für die kompetente und stets freundliche Betreuung des Buchs. Tübingen im November 2019 Hans Vilmar Geppert 18 1. Vorwort: Realistische Wege zur Moderne 1 Vgl. oben Kapitel 1. 2 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Honoré de Balzac, La comédie humaine. Édition de la Pléiade, hrsg. Von P.-G. Castex, 12 Bde., Paris 1976-1981, nach Band und Seitenzahl. 3 Alle Übersetzungen stammen, sofern nicht anders vermerkt, von mir. 4 In der ersten Fassung dieser Szene stand noch „drei Uhr nachmittags“. Die zweite, im Ganzen kürzere Fassung für den Romananfang betont dagegen ausdrücklich die Trost‐ losigkeit, ja „la franche horreur / das unverstellt Schreckliche“ eines Spielkasinos „am Morgen“; vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1232 und S. 59. 2. „Morgens im Spielkasino“ - Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert Beginnen wir an einem Punkt, an dem in verdichteter Weise Bausteine einer Epochentheorie des literarischen Realismus im 19. Jahrhundert versammelt sind. Die „Familienähnlichkeit“ zwischen den verschiedenen Vertretern dieser literarischen Gruppe ist in den präzisen Erzähl-Entwürfen des kurzen Balzac-Textes, durchaus einer modernen Kurzgeschichte vergleichbar, bereits deutlich zu erkennen. Und gerade so, in der Vielfalt der verdichteten Bezüge, kündigt sich zugleich ein „polyhistorisches“, „galileisches“ und modern „of‐ fenes“ Werk an: 1 Vers la fin du mois d’octobre dernier, un jeune homme entra dans le Palais Royal au moment ou les maisons du jeu s’ouvraient, conformément à la loi qui protège une passion essentiellement imposable. Sans trop hésiter, il monta l’escalier du tripot dé‐ signé sous le nom de numéro 36. (10.579) 2 / Gegen Ende Oktober des vergangenen Jahres betrat ein junger Mann das Palais Royal genau in dem Moment, zu dem die Spielkasinos geöffnet werden dürfen, entsprechend dem Gesetz, das diese für den Staat ganz einträgliche Leidenschaft beschützt. Ohne lange zu zögern stieg er die Treppe zum Saal Nr. 36 hinauf. 3 Das Verhalten des jungen Mannes gehört so genau zu einem epochal lebendigen, metonymischen Erzähl-Muster wie die Umgebung und die Situation in der er sich befindet: Es handelt sich, das versteht man als erstes, um einen süchtigen Spieler, der morgens keine Minute länger warten kann. 4 Liest man den ursprün‐ glichen Titel der Szene mit, Le dernier Napoléon, das hieße Die letzte Gold‐ münze, dann erkennt man auch die Verzweiflung, die diesen Spieler treibt. Wenig später wird sein unschuldiges, fast engelhaftes Gesicht den zerstörten 5 Zur Entstehung des Textes vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1252ff. 6 Vgl. ausführlicher Verf., Der realistische Weg .Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994. Der jetzige Vortrag bzw. Aufsatz ist eine Zusammenfassung, Ergänzung und oft Berichtigung dieses viel zu umfangreichen Buchs. Er war ursprünglich als dessen Schlusskapitel geplant. Gestalten am Spieltisch entgegengesetzt: Dies ist ein enttäuschter, desillusio‐ nierter Romantiker. Natürlich wird er auch diesen seinen letzten Besitz ver‐ lieren. Es gibt dann nur eine Frage: Selbstmord oder ein ganz neues Lebensund, weitergedacht, konsequent weitergedacht, ein ganz neues Wirklichkeits-Expe‐ riment? Und diese Frage ist ernst: Die Szene markiert in Balzacs Oeuvre nichts Ge‐ ringeres als einen Anfangspunkt kontinuierlicher Arbeit an dem Großprojekt Comédie humaine, auch wenn Gesamtplan und Titel erst später hinzu kommen werden. 5 Das Erzählexperiment des Autors setzt das Lebensexperiment des Ro‐ manhelden fort, genauer, es tritt an dessen Stelle. Auch die Realität, die hier entworfen wird, hält immer neuer Befragung stand. Zeit und Ort der Handlung sind genau angegeben. Und ein „Napoléon“, das ist jetzt nur noch eine Geld‐ münze, verweist aber natürlich auch zurück auf eine prägende Gestalt und Epoche der französischen Geschichte. Gesetz, Steuer, Geld: Staat und Gesell‐ schaft sind in kleinen, aber genauen Indizien präsent. Das Glücksspiel ist für Balzac die Metapher einer prinzipiell als krisenhaft begriffenen Realität. So könnte man weiter lesen. Denn fast alles an dieser kleinen Szene ist beispielhaft bedeutsam für die Epoche des literarischen Realismus, nicht nur bei Balzac, einem der, ja vielleicht dem wichtigsten Vertreter dieser Erzähltradition, sondern weit darüber hinaus und durchaus in europäischer Perspektive. Wie lässt sich das theoretisch, also in reflektierter, kohärenter und begründ‐ barer, zumindest in plausibler Verallgemeinerung fassen? Ich möchte dazu, die bisher genannten Stichworte aufgreifend und fortführend, eine Reihe von Thesen vorstellen: 6 These 1: Realismus als Familienähnlichkeit. Dass man von verdichteten, beispielhaften Szenen wie dieser hier ausgehen kann, ja muss, legt den Umkehrschluss nahe, dass es sich bei der Form bzw. Poetik dieses Erzählens theoretisch nicht um ein geschlossenes oder gar voll‐ 20 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 7 Was man „hochgestochen […] ‚Romantheorie’ oder ‚Realismustheorie’“ nennt, tritt „eher unsystematisch und unrigoros“ auf, bis hin zur „provokativen, zur Schau getra‐ genen Beliebigkeit“ (etwa in Stendhals Definition der Mimesis); „wir dürfen aber trotzdem von einem damals gängigen Grundkonsens reden“, Martin Swales, Epochen‐ buch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997, S. 16 und S. 19. 8 Es gibt keine „geschlossene Einheit“, sondern Gemeinsamkeiten, die sich „verändern“, voneinander „entfernen“, auf verschiedene neue Kontexte und Einflüsse „reagieren“ und so fort (Hugo Aust, Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart 2006, S. 8f., vgl. S. 90ff.). 9 Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. Von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 28. 10 Zu den erkenntnis- und sprachbzw. zeichentheoretischen Voraussetzungen dieses Re‐ alismusbegriffs vgl. Verf., Der realistische Weg, S. 21 - 230; zu weiteren erzähltheoreti‐ schen Voraussetzungen vgl. Verf., Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 4, hrsg. Von Günter Butzer und Hubert Zapf, Tübingen und Basel 2009, S. 305 - 337. ständiges System handeln kann 7 - was systematische Analyse natürlich nicht ausschließt, etwa immer wieder die eines metonymischen Erzählens -, sondern um eine Familienähnlichkeit. 8 Auch wenn die wesentlichen Charakteristika der Epoche erst zusammen gesehen deren Physiognomie sichtbar machen, kein Kennzeichen muss immer bei allen Vertretern nachweisbar sein. Alle bleiben variabel und in immer neuer Entwicklung begriffen. Und das muss dann nicht zuletzt methodische Konsequenzen haben: Es geht mehr um die Texte, weniger um Programme, eher um Beispiele, als um Definitionen, um die Möglichkeiten des realisierten, nicht um die Unmöglichkeit eines „wahren“ Realismus, und um Geschichten, nicht um Normen. These 2: Realismus als Erkenntnis-Kunst. Der „Ernst“, von dem eingangs die Rede war, lässt sich durchaus mit dem aris‐ totelischen „Spoudaioteron“, der „philosophischen Ernsthaftigkeit“ zusammen sehen, die die „Mimesis“ auszeichnet. 9 Realismus ist Erkenntnis-Kunst. Seine Ästhetik hat epistemologische Funktion. 10 Aber seine Erkenntnis ist nicht auf „Dinge“ gerichtet. Die Vorstellung: Da gibt es etwas, z. B. einen Stuhl, ein Pferd oder einen Wald, oder eben ein Spielcasino am frühen Morgen -, und diese „Dinge“ werden dann beschrieben, abgebildet oder wieder gespiegelt (und das sei dann immer „Illusion“), dieses Modell greift philosophisch und literarisch viel zu kurz. Einerseits ist es immer klar, dass es sich um Fiktion handelt, ja um bewusste Kunst, wenn man will um „Poesie“. Andererseits ist das „Wie“ der Erkenntnis, der „-ismus“ des Realismus entscheidend, auch und gerade wenn raum-zeitlich nachprüfbare Realia, wie z. B. schon der Ort dieses Spielkasinos bei Balzac, durchaus zu „realistischen Fiktionen“ gehören können. Und drittens 21 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 11 So z. B., allerdings auf die deutsche Literatur beschränkt, Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848-1900. Tübingen und Basel 2003, oder Bernd Balzer, Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus. Darm‐ stadt 2006. 12 „Code sur code, dit le réalisme“ / „Code über Code, genannt Realismus“ (Roland Barthes, S/ Z. Paris 1970, S. 61); Roland Barthes spricht von „kulturellen Codes“, die den realisti‐ schen Text zum Prospekt eines „großen Buches der Kultur“ machen (vgl. ebd. ff.). handelt es sich auch beim wesentlichen Gegenstand realistisch-narrativer Er‐ kenntnis nicht eigentlich um „Dinge“ oder auch um „Fakten“ - die ja selbst immer ein „gemachtes“ Konstrukt sind - oder um Zustände. Es gilt eher: These 3: Das „Reale“ des Realismus ist immer eine gesellschaftlich-historische Welt. Balzac z. B. spricht hier sogleich den Zusammenhang an von Gesetz, Steuer, persönlichem Lebensunterhalt (der letzte Besitz), Alltagsgewohnheiten bis hin zur Kleidung („Monsieur, votre chapeau, s’il vous plait? / Mein Herr, bitte ihren Hut? “, so setzt die Personenrede ein), oder z. B. zum guten, bürgerlich taktvollen Benehmen, seinen Selbstmord nach dem verzweifelten Glücksspiel auf den Abend zu verschieben, damit die Leute nicht so erschrecken. Anders gesagt: Das Stichwort „Bürgerlicher Realismus“ ist völlig berechtigt und benennt für das 19. Jahrhundert einen schlechthin prägenden Zug dieser epochalen „Familien‐ ähnlichkeit“. 11 Aber, und das scheint mir nun sehr wichtig, diese „bürgerliche Welt“ ist nur die notwendige, nicht die hinreichende Voraussetzung realisti‐ schen Erzählens. Das „Bürgerliche“ des Realismus prägt das Interesse, lenkt die Erzählarbeit, aber es bedeutet keinesfalls einfach Identifikation. Zugespitzt ge‐ sagt: Eine bürgerliche gesellschaftlich-historische Welt ist Objekt realistischen Erzählens, und liefert oft dessen „Codes“ 12 an Verhaltensgewohnheiten und ge‐ sellschaftlich konventionalisierten Merkmalen, z. B. eben das Geld oder die Klei‐ dung oder etwa das Motiv der Reise - davon später -, aber sie ist nicht dessen Subjekt. Das „Subjekt“ dieses Erzählens dynamisiert sich zu einem experimen‐ tellen Entwurf. Und auch seine „Idee“ definiert ein Verständnis von „bürgerlich“ radikal hinaus über die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, so sehr diese als Inhalt und Gegenstand, ja als Widerstand die realistische Literatur prägt. Einerseits - und die aufklärerische und weltbürgerliche Tradition der französischen Lite‐ ratur macht das nur besonders deutlich - ist es die offene Dynamik dieser bür‐ gerlichen Welt, auch ihr Möglichkeitssinn, auch ihre Chance an Vernunft, was diese Autoren interessiert. Andererseits kann man sagen - auch hier ist die französische Literatur das klarste Beispiel, und wer sie nicht angemessen ein‐ bezieht, sollte sich nicht allgemein „zum Realismus“ äußern: 22 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 13 Weitgehend ein Zeitungs- und Journalisten-Roman ist der im Mittelpunkt der Comédie humaine stehende Dreiteiler Les illusions perdues / Verlorene Illusionen (1837-1843). Vgl. dazu unten Kap. 4. 14 “The beauty [of] Miss Brooke had […] the impressiveness of a fine quotation from the Bible - or from one of our elder poets - in a paragraph of to-day’s newspaper“. So beginnt George Eliots (Mary Ann Evans) Roman Middlemarch (1871); hrsg. von D. Car‐ roll, Oxford 1986, S. 7. 15 Zu Beispielen und ihrer kennzeichnenden Bedeutung vgl. Verf., Der realistische Weg, S. 1ff. und S. 155-169; zu nennen wären hier z. B. auch immer wieder Theodor Fontanes Berliner Romane. 16 Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse (1857) beginnt mit einem Blick aus einem Berliner Fenster und dem Satz: „Es ist eigentlich eine böse Zeit“. (Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd. 1, hrsg. von K. Hoppe u. a., Freiburg, Braunschweig und Göttingen 1951, S. 12). 17 Thomas Hardy, Jude the Obscure. The New Wessex Edition, hrsg. von T. Eagleton und P.N. Furbank, London 1974, S. 93. 18 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe .Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzäh‐ lungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. Von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, München 1971, Bd. 2, S. 415. Diese Szene wird genauer untersucht unten Kapitel 5. These 4: Der Realismus sieht die Bourgeoisie seiner Zeit als krisenhafte Wirklichkeit. Das Glücksspielmotiv zieht sich durch die Comédie humaine. Und es ist von Anfang an eine, wenn nicht die Metapher einer krisenhaften Realität. Andere typische Krisenmetaphern dieser Epoche wären etwa die beliebig informie‐ rende, wenn nicht gar käufliche Zeitung (Balzac - in unserem Beispielroman wird wenig später eine Zeitung gegründet -, 13 ein Schlüsselsatz von George Eliot, 14 oder George Gissings Zeitungs-Roman New Grubb Street, 1891, wären Beispiele), der regel- und harmonielose Wildwuchs von Bauten in Stadtan‐ sichten, 15 das Durcheinander von Menschen beim Blick aus dem Fenster (ein häufiges Motiv, bedeutsam geworden z. B. durch Wilhelm Raabes „Federanset‐ zung“ 16 ) oder lediglich Lärm (wie etwa am Anfang von Gustave Flauberts Ma‐ dame Bovary, 1856, und L’Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens,1869), oder Schutt und Müll (z. B. in Charles Dickens’ Our Mutual Friend, 1865), oder der beliebige Inhalt des Schaufensters eines Trödlerladens (immer ja auch ein Spiegel, in dem z. B. Thomas Hardys Jude, in Jude the Obscure, 1895, sein eigenes, von seiner Frau „entsorgtes“ Portrait, 17 und Theodor Fontanes Lene in Irrungen, Wirrungen, 1888, sich und hinter ihrem Rücken ihren früheren, jetzt glücklich verheirateten Geliebten plötzlich und ganz „verdinglicht“ wahrnehmen müssen). 18 Man kann sagen: Bei aller Faszination, die die Großstadt z. B. für Balzac, Dickens oder Fontane ausstrahlt, sie ist als solche für diese realistischen Erzähler so gut wie immer ein Ort der Krise. Im Plan der Comédie humaine ist Paris ganz einfach die „Hölle“, das „Inferno“, das der „neue Dante“ durchquert, 23 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 19 Die erste Fassung dieser Szene war noch deutlicher im Sinne einer „Desillusions-Ro‐ mantik” erzählt gewesen. Vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1232 - 1235. 20 Marcel Proust, Contre Saint-Beuve. Hrsg. Von P. Clarac, Paris 1971, S. 265f.: Äußerlich kalt und ehrgeizig trage Rastignac schweigend und lächelnd immer noch den Roman seiner Jugend in sich. 21 Dass „hinter jeder einzelnen Erzählung [ein] lyrischer Hintergrund fühlbar wird […] naiv und unproblematisch“, Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphi‐ losophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied / Berlin 1963, S. 111. 22 „Der Allmensch, das transzendentale Subjekt gleichsam, das hinter Balzacs Prosa zum Schöpfer, dem der in zweiter Natur verhexten Gesellschaft sich aufwirft, ist wahlver‐ wandt dem mythischen Ich der großen deutschen Philosophie und der ihr korrespon‐ dierenden Musik, das alles was ist aus sich selbst heraus setzt,“ Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur. Bd. 2, Frankfurt 1961, S. 24. und in dem viele seiner Romanhelden bleiben müssen: „Je suis en enfer, et il faut que j’y reste / Ich bin in der Hölle, und da muss ich bleiben“ (3.158), sagt Rast‐ ignac (Le père Goriot,1835), eine Lieblingsgestalt seines Autors. These 5: Realismus als fortdauernde Auseinandersetzung mit der Romantik. „Un jeune homme entra / Ein junger Mann kam herein“: Einen Augenblick lang, hier fast nur für einen winzigen Moment, tritt dieser junge Mann „rein“ und unschuldig aus seiner noch ganz „weißen“, fiktiven Vorgeschichte ein in eine krisenhafte und zerstörerische gesellschaftliche Realität. Wenig später wird das unterstrichen. „Une âme encore innocente / Seine Seele war noch unschuldig“, ein „secret génie / ein verborgenes Genie“ leuchtet in seinen Augen, „le jeune homme se présentait là comme un ange sans rayons, égaré dans sa route / der junge Mann sah an diesem Ort aus wie ein Engel ohne Flügel, der von seinem Wege abgekommen war“ (10.58-62). 19 Der erste Hauptteil des Romans trägt ausführlich, in der Form einer Confessio - eines der vielen Beispiele für die fran‐ zösische Werther-Rezeption (Werther ist in Frankreich der Inbegriff eines Ro‐ mantikers) - die idealistische Jugend des Romanhelden nach, seine unbedingte Suche nach der Harmonie von Seele und Natur, ja von Poesie und Wirklichkeit, und dass beides zusammenstimmen soll mit einer unbedingten Idee von Huma‐ nität. Und die Enttäuschung dieser Suche kann deren Unbedingtheit nicht wi‐ derlegen. Das ist prägend und wird es lange bleiben. Diese jungen Männer, die in Balzacs Oeuvre immer neu in die destruktive bourgeoise Realität „eintreten“ - allerdings mit äußerst variablem Resultat -, haben alle ihr Leben als Romantiker begonnen und werden in ihrem Herzen, so sehr sie dies manchmal bis zum Zynismus verbergen, Romantiker bleiben. Aufmerksame Leser, wie z. B. Marcel Proust 20 oder der junge Georg Lukács (Die Theorie des Romans, 1916), 21 oder Theodor W. Adorno (über das Romantisch-„Musikalische“ bei Balzac) 22 haben 24 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 23 Vgl. unten Kap. 3 (These III) und Kap. 5. 24 Gustave Flaubert, Novembre (1842; Gustave Flaubert, Oeuvres complètes. Édition nou‐ velle d’après les manuscrits inédits de Flaubert par la Société des Études littéraires françaises. 15 Bde., Paris 1971-1974, Bd. 11, S. 673). das schon immer so gesehen. Es gilt, freilich mit vielerlei Graden der Intensität und Abwandlung, für alle Autoren des „Realismus“ im 19. Jahrhundert. Die Aus‐ einandersetzung mit der Romantik bleibt prägend. Und deren sozusagen „trans‐ zendentaler“ Kern, das Postulat einer Konvergenz von humaner Idee und Rea‐ lität, wird nie wirklich aufgegeben, nicht von Flaubert - man kann nur an etwas verzweifeln, was man nicht aufgeben kann -, nicht von Raabe (man denke an seinen „Schlussroman“ Die Akten des Vogelsangs, 1896, dessen Held Don Quijotte und Werther in einem ist), selbst nicht von Hardy, schon gar nicht von Fon‐ tane, bis hin zu Zola. 23 These 6: Realismus beginnt als Autobiographie. „Un jeune homme entra / Ein junger Mann tritt ein“ in die Welt: Wie immer man sein Verhalten später und durchaus kritisch bewerten mag, dieser junge Mann ist in wichtigen Charakterzügen und Erlebnismomenten Balzac selbst. Realisti‐ sches Erzählen wächst wesentlich aus der Autobiographie heraus, wobei es diese allerdings sogleich und dann immer weiter ausgreifend experimentell variiert und verfremdet. Balzac, der Teile seiner eigenen Vita immer wieder neu umge‐ schrieben und sie immer neuen Personenentwürfen unterlegt hat - etwa in La peau de chagrin und auch sonst oft die Liebe zu einer „großen Dame ohne Herz“ -, und der diese Vita eben und vor allem ganz alternativ weitererzählt, auch sein Leben kannte ja Alternativen, ist dafür vielleicht nur das ausführlichste Beispiel. Auch das eigentümliche Motiv, dass der Roman im Grunde mit dem Tod des Romanhelden beginnt - am Ende der ersten Szene, ursprünglich ja einer Kurz‐ geschichte, schaut er vom Brückengeländer hinab in die Seine -, dieser „offen gebliebene Selbstmord“ lässt sich vielleicht mit solch experimenteller Verfrem‐ dung der Autobiographie zusammen sehen. Auf alle Fälle kehrt das Motiv immer wieder: Geradeheraus erzählt - „il mourut par la seule force de la pensée / er starb allein durch die Kraft des Gedankens“, und ein „anderer“ Erzähler, „l’autre“, beginnt das Erzählexperiment von neuem: „C’était un homme qui donnait dans le faux / Das war jemand, der sich falsch entwickelte“ -, also ganz direkt als Folge von Tod und Neuanfang, wie etwa in einer Vorstufe zu Flauberts L’Édu‐ cation sentimentale / Lehrjahre des Herzens   24 , oder mehrfach symbolisch variiert: „Todes-Ort“, Grabdekor und eine Art von „Sturz ins Nichts“ („inconsciousness closed the scene“), wie am Ende des ersten Kapitels von Charlotte Brontës Jane 25 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 25 Charlotte Brontë, Jane Eyre. Hrsg. von Q.D. Leavis, Harmondsworth 1966, S. 47. 26 Charles Dickens, David Copperfield. Hrsg. von Trevor Blount, Harmondsworth 1966, S. 187; bezeichnenderweise steht am Anfang dieser Episode der Wunsch Davids: “I wish I had died” (ebd., S. 162). 27 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, München 1958, S. 12. 28 Vgl. Verf., Der Historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Ge‐ genwart. Tübingen und Basel 2009, S. 50ff., S. 150-213 (zum gerade auch für eine Rea‐ lismustheorie paradigmatischen, differenzierten Zusammenhang von Fiktion und His‐ torie) und S. 299ff. Eyre (1847), 25 oder als Projektion des Todes auf einen „Stellvertreter“ - „[This dead child] was myself “ -, wie an einem Wendepunkt (das Ende von Kapitel 9) in Charles Dickens David Copperfield (1849/ 1850), 26 oder als vielfach variiertes Leitmotiv von „Tod und Auferstehung“ des Romanhelden („am […] Oster‐ morgen“ etc.) an den Anfängen von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (Erst‐ fassung 1854/ 1855). 27 Was immer an psychologischen und tiefenpsychologi‐ schen Motivationen vorher gehen oder hinzu kommen mag (Narzissmus, Melancholie, je aktuelle Situation), es zeigt sich immer zugleich ein sehr be‐ wusster, spielerisch variierender, experimenteller Umgang mit eben der eigenen Autobiographie. These 7: Realismus als Gedankenexperiment Experimentell verfährt dieses Erzählen nicht nur darin, hier freilich besonders klar, dass es die zugrunde gelegte Autobiographie immer wieder verfremdet und überschreitet. Genauso überschreitet es ganz allgemein bürgerliche Realität. Es setzt sie voraus, nimmt sie zum Gegenstand, aber identifiziert sich nicht mit ihr. Nach derselben Logik nutzt realistische Literatur, und hier wird alles vielleicht noch klarer, historische Realien und Fakten, gibt sie aber nicht einfach wieder. Der historische Roman, der in dieser Epoche blüht und bis in die Postmoderne hinein etwas „Realistisches“ behält, bietet wesentlich eine experimentelle, also primär fiktional entwerfende, „um-erzählte“ Geschichte. 28 Realismus ist ein Ge‐ dankenexperiment mit historisch-gesellschaftlicher Realität, darunter auch mit der je eigenen Biographie: ein fiktionales, narratives Experiment, nicht eine Widerspiegelung, aber auch nicht lediglich eine Illusion. Flapsig formuliert: Der „-Ismus“, der narrativ-konstruktive Vorgang, ist in der Literatur die Vorausset‐ 26 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 29 In diesem Sinne wäre Wolfgang Isers Theorie der „Grenzüberschreitung“ zwischen dem „Imaginären“, dem „Fiktiven“ und dem „Realen“, das selbst immer ein phänomenologi‐ sches Konstrukt ist (Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt 1993, va. S. 18 - 51), diese „Triade“ wäre als in‐ klusive Opposition aufzufassen: Alles „Reale“ ist auch fiktiv und imaginär, aber nicht alles „Fiktive“, das immer ein „Imaginäres“ voraussetzt, erhebt Realitätsanspruch, so wie das „Imaginäre“ zwar den allgemeinen „Ermöglichungsgrund“ (ebd., S. 51) aller „Akte des Fingieren“ bildet, aber nicht immer zur Fiktion formuliert oder als „Reales“ behauptet und konstruktiv begründet, zumindest plausibel werden muss. 30 Die zeitgenössische Programmatik, etwa die zum „poetischen Realismus“, auch die Selbstdeutungen der Autoren, all das ist in hohem Maße selbst interpretationsbedürftig, oft apologetisch eng oder gezielt konventionell eingekleidet, ja verkleidet. Ich gehe hier bewusst nicht darauf ein. 31 Dass es in seiner Biographie einen Stiefvater gab, hat Keller für den Grünen Heinrich beispielsweise unterschlagen. zung von „Real“. 29 Die Form eines realistischen Erzählens - dazu gehören we‐ sentlich auch „indexikalische“ Verweise, z. B. Namen, Daten etc., aus der Fiktion heraus und von ihr bedingt auf Realien (vgl. unten These 15) -, der realistische Diskurs selbst ist die Voraussetzung seines Wirklichkeitsanspruchs. Auch „Po‐ etischer“ wäre so gesehen hier die Voraussetzung von „Realismus“. 30 Und dieses „poetische“, fiktionale, manchmal spielerische Erzählexperiment ist letztlich dann doch immer „ernst“ gemeint, ein Experiment der Erkenntnis, wenn sie wollen, ein Experiment, das seine Wahrheit, besser, seine Wahrheiten sucht. These 8: Individualisierung. „Ein junger Mann und sein letztes Geldstück“ - das sind sofort zwei wichtige Erzählgrößen und typische Inhalte dieser realistischen Literatur: die immer neu verfremdete Autobiographie und das Geld. Beide werden jeweils konsequent individualisiert. Individualisierung, die Konzentration auf das immer neu Ein‐ zelne, so dass dieses Einzelne immer das letzte Wort hat, ist ein prägendes Er‐ zählverfahren des realistischen narrativen Gedankenexperiments. Dass Balzac oder z. B. Dickens (das Trauma des vernachlässigten Kindes) ihre Autobiographie, oder doch Teile daraus, in immer neu anderer Individualisie‐ rung erzählen, haben wir schon angemerkt. Die immer neuen Namen, die David Copperfield erhält, von „Davie“ über „boy“, einfach „Copperfield“, „Master Cop‐ perfield“, „Mister Copperfield“, dann „Daisy“, bis „Doady“ und „Trott“, korres‐ pondieren durchaus etwa der immer neuen Definition von „grün“ im Namen des Grünen Heinrich: von „unreif “, „hoffnungserfüllt“, „Außenseiter“ (wegen seiner auffälligen Jacke), „vatergeschädigt“ (es ist des fehlenden Vaters grüne Kleidung, die Heinrich auftragen muss), 31 bis zu „närrisch“ und „tot/ wiederge‐ boren“ („und es ist auf seinem Grab ein recht frisches und grünes Gras ge‐ 27 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 32 Der Schluss der Erstfassung von 1844/ 1845, Gottfried Keller, Sämtliche Werke und aus‐ gewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, 3. Aufl., München 1969, Bd. ! , S. 768. 33 Das Ende der Zweitfassung von 1880, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 1125. wachsen“). 32 Und schließlich, sofern man den Roman so liest, ergibt sich die letzte Bedeutung von „grün“ dann als eine konsequente „Aufhebung“ dieser Vita. Der grüne Heinrich soll als sein Buch weiter leben: „Um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.“ 33 All das ähnelt durchaus bei‐ spielsweise auch den wechselnden, aber jeweils ein Erzählthema, eine Deu‐ tungsperspektive individualisierenden Bedeutungen von „ER“ in Jane Eyre: „air“, also z. B. „Luft“ (ihr Bedürfnis nach Freiheit), „air“ als „Musikstück“ (die emanzipatorische und therapeutische Bedeutung von Kunst), „air“ als „Ge‐ sichtsausdruck“ (gesellschaftliche Rollen, Konventionen, Falschheiten), oder etwa „heir“, „Erbin“ (Erbschaftsbetrug durch Janes Ziehfamilie ist Teil der Hand‐ lung), „Eire“, „Irland“ (damals fast ein Synonym für „Armut“), französisch ge‐ lesen „ère“, „Zeitalter“ (für das diese Geschichte repräsentativ ist), deutsch ge‐ lesen als männliches Personalpronomen „er“ (der jedem „er“ gleichwertige Glücks- und Bildungsanspruch einer „sie“, einer Frau) usw., um nur ein paar der kürzesten und zugleich auffälligsten Beispiele zu nennen. Diese Individuen müssen sich immer neu entdecken und definieren. Und ergibt sich so nicht zu‐ gleich immer wieder eine punktuell multiple, „polyhistorische“, „galileische“ Perspektive? Auch bei Motivwiederholungen geht das individualisierende, neue Konstel‐ lationen entwerfende Moment hier immer weiter als die Typisierung. Das so wichtige Glücksspielmotiv beispielsweise wird bei Balzac nie einfach nur wie‐ derholt. Balzacs Lieblingsgestalt Rastignac etwa wird beim Glücksspiel recht‐ zeitig aufhören können, der alte Wucherer Grandet spielt prinzipiell auch nicht das harmloseste Glücksspiel mit (Eugénie Grandet, 1833, vgl. 3.1051), Lucien Chardon dagegen (der Held der Illusions perdues / Verlorene Illusionen, 1837 - 1843), eine Art traumatisches „anderes Ich“ Balzacs, der sich de Rubempré nennt - sein Leben ist ein immer wieder schmerzlich zu neuer Individualität sich kor‐ rigierender, und immer mehr sich entleerender Fehlentwurf -, wird der Spiel-Sucht nicht nur verfallen („le Jeu […] devait trouver en lui l’une de ses victimes / Das Spiel sollte in ihm eines seiner Opfer finden“, 5.417), er wird das verlorene Glücksspiel gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs noch radikaler als männliche „Kurtisane“, also durchaus im Verkauf seiner selbst an noch mäch‐ tigere Spieler fortsetzen. So könnte man noch lange weitererzählen. Dass Vautrin, der Bankier der Unterwelt, und der reiche Baron von Nucingen, der in großem Stil Anlagebetrug betreibt - beides mutet heute ja ganz aktuell an -, dass sie in der letzten Phase von Luciens Leben zu diesen mächtigen Spie‐ 28 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 34 Man kann „Eyre“, sprich „ER“ ja auch als „heir“/ “Erbe“ lesen; und um ihr Erbe wird Jane im Roman tatsächlich betrogen. Und solches Verhalten („air“/ [betrügerisches] „Mie‐ nenspiel“) charakterisiert eben durchaus „l’ère“ / „das Zeitalter“ (der Bourgeoisie) im 19. Jahrhundert: eine mikrostrukturelle, aber präzise Aussage. 35 Roland Barthes, S/ Z. Dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987, S. 44, vgl. ebd. ff. (Eine Met‐ onymie ist eine Figur, bzw. ein Tropus „pars pro parte“, ein „Einzelnes“ steht für ein anderes, nexal bzw. indexikalisch mit diesem verbundenes „Einzelnes“, z. B. der Name „Ford“ für ein Auto aus der von Henry Ford gegründeten Fabrikation. So steht bei Balzac das „letzte Goldstück“ im Kontext des Glücksspiels für die Verzweiflung des Roman‐ helden). 36 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. Von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 4, München 1973, S. 253. lern gehören werden (im Roman Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen, 1838-1847), ist bezeichnend. Und diese Entwicklung ist im Grunde bereits in jenem „letzten Goldstück“ angelegt, das am Anfang der Comédie humaine gestanden hatte. Nicht nur ist Geld, Glücksspiel und Verbre‐ chen bei Balzac eng verbunden. Wer, wohl oder minder komparatistisch an seinem Oeuvre orientiert, auch andere Literaturen liest, entdeckt im Kleinen diese Verbindung vielleicht auch beispielsweise in der Gestalt des geschäfts‐ tüchtigen „Meierlein“ in der Jugendgeschichte des Grünen Heinrich, oder in den immer neuen Kombinationen von Erbschafts- und Treuhand-Betrug, wie sie die englische Literatur des 19. Jahrhunderts, beispielsweise bereits Jane Eyre, durch‐ ziehen. 34 Es geht dabei immer um einen „Haufen Geld“. Das Geld wird im Mittelpunkt „realistischer“ Handlungs-Konflikte immer individualisierend erfasst. Es inter‐ essiert zentral nicht als System von Kapital, Rendite, Zins usw., sondern es geht immer um ein „Stück“ Geld, einen Sack, eine Erbschaft, den Wert einer Immo‐ bilie, oder eben um eine einzelne letzte Goldmünze. Oder es geht, und dies viel‐ leicht noch öfter, umgekehrt um ein „Loch“ an Schulden. Das Geld ist, wie Ro‐ land Barthes sagt, für die realistische Literatur „eine metonymische Störung“. 35 Nicht dass die Autoren es nicht besser wissen, es weiß dies ja sogar Dickens’ Mister Micawber (aus David Copperfield); es gibt hier immer wieder ökonomisch und kapital-systematisch sehr informierte Randbereiche („la qualité c’est les écus“/ „die Qualität [meines durch Überdüngung massenhaft produzierten, aber geringwertigen Weines], das sind die Taler [die sein Verkauf einbringt]“, sagt der alte Séchard in Balzacs Illusions perdues,1837, 5.226), aber das steht nicht im Mittelpunkt der Konflikte. Noch bei Fontane sprechen in Effi Briest (1893) das Bündel Banknoten, das dem Abschiedsbrief der Mutter beiliegt - noch dazu ist „von des Vaters Hand der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet“ 36 -, oder die dringend benötigte Mitgift in Irrungen, Wirrungen, letztlich ja auch in Der 29 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 37 Émile Zolas Roman L’Argent / Das Geld (1891), ein Roman über die Börsen-Spekulation, ist hier schlechthin paradigmatisch. 38 Und daraus folgt auch die weitere, allgemein theoretische Einsicht, dass es im Gesamt‐ verlauf der Literaturgeschichte viele „Realismen“ geben kann und gegeben hat, den „Realismus“ der frühen Neuzeit beispielsweise oder den Brechts oder den in vielfältigen Formen der Gegenwartsliteratur. Stechlin (1898), diese Geld-Summen sprechen dieselbe Erzählsprache wie das „Stück Geld“ am Anfang der Comédie humaine. Und darin unterscheidet sich diese Epoche nun radikal vom europäischen Naturalismus: Bei Zola 37 oder Gissing oder Gerhart Hauptmann (z. B. in Die Weber, 1892) oder bei Verga werden unübersehbar immer wieder Dramen von Investition, Rendite, Spekulation, systematischer Ausbeutung und so fort er‐ zählt. Es geht jetzt um Geld-Systeme. Die Individualisierung des Geldes dagegen ist eine prägende „Familienähnlichkeit“, sicher auch eine Grenze, des europäi‐ schen Realismus. These 9: Ein Realismus kann verschiedene Formen integrieren. Noch einmal: Mehr als „Familienähnlichkeiten“ kann diese Epochentheorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert nicht benennen. Das heißt im Umkehrschluss: Einzelne Werke und Werkteile können ganz „unähnlich“ sein. 38 „Realistisch“ ist immer vor allem und letztlich nur der Gesamtdiskurs - dazu später -, und er kann ganz verschiedene Stile, Schreibweisen, Realitätsentwürfe, Erzähl- und Argumentationsformen und so fort integrieren. Das gilt immer, und für Balzac ist es sofort evident: Le dernier Napoléon wurde, was man der ur‐ sprünglichen Kurzgeschichte nicht sofort ansehen kann, Teil eines weithin phantastischen Romans mit dem rätselhaften Titel La peau de chagrin; wobei schon „chagrin“ zunächst doch wohl „Kummer“ bedeutet; hier aber ist der Name einer orientalischen Rasse von Eseln angesprochen. Deutsche Übersetzungen titeln z. B. Die persische Eselshaut, aber auch verdeutlichend Die gefährlichen Wünsche oder Der Talisman: Schon die ganz verschiedenen Übersetzungen sind sprechend. Es geht um einen bösen Märchenzauber, dass der „Talisman“, die „Eselshaut“, dem Romanhelden jeden Wunsch erfüllt, aber um den Preis eines mit jedem erfüllten Wunsch verkürzten Lebens. Dieser Roman wurde von Balzac später in die Abteilung Études philosophiques / Philosophische Studien einge‐ ordnet, in denen - sehr, sehr vereinfacht gesagt -, die Idee sich über die Realität erheben soll. So folgt der Roman z. B. nach der „Architektur“ der Comédie hu‐ maine auf jene Études de moeurs / Sittenstudien, denen er seiner Entstehung nach vorhergeht, und in deren Zentrum die schonungslos untersuchte Pariser Ge‐ sellschaft steht. Doch genau in diese zentrale „étude de moeurs“ bzw. „Sitten‐ 30 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 39 Vgl. ausführlicher unten Kap. 4. 40 Man muss allerdings von der ursprünglichen Anordnung der Erzählungen des Ersten Teils der Leute von Seldwyla ausgehen; dann variierte Pankraz der Schmoller satirisch den subjektiven Idealismus des Grünen Heinrich bis zum Beginn der Jugendgeschichte; die ursprünglich folgende Erzählung Frau Regel Amrain und ihr Jüngster bildet sehr klar einen Gegenentwurf zur unglücklichen Sozialisation des Grünen Heinrich, die mit dem Ausschluss aus der Schule ihren ersten Höhepunkt findet; Romeo und Julia auf dem Dorfe (der Grüne Heinrich tritt dort erkennbr selbst auf als „ein junger Bursche […], der eine grüne Manchesterjacke trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von Ebereschen oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte“ [Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 119], was natürlich an die „grünende Dornenkrone“ Heinrichs erinnert), diese Erzählung wäre das tragische Gegenstück zur immer nur vorübergehenden, ja schein‐ haften Geborgenheit in Dorf und Natur am Beginn des Zweiten Bandes des Grünen Heinrich; Die drei gerechten Kammacher variiert parodierend den Roman der drei Künst‐ lerfreunde und Nebenbuhler in München; Spiegel das Kätzchen bildete dann ein (meta‐ poetisches) Märchen, eine „Spiegelung“ der Macht und Therapie-Funktion des Erzäh‐ lens, der ja auch für den Grünen Heinrich, insbesondere dann in der Zweitfassung entscheidende Bedeutung zukommt. studie“ von Paris hatte er mit seinem Anfang „morgens im Spielkasino“ so klar und bedeutsam eingeführt. Seine Entstehung macht ihn zur Hypothese für wei‐ tere „Studien“, die Einordnung in das Gesamtwerk zu einer Antwort auf sie. Wie soll man ihn verstehen? Man muss sich auf den Argumentationsweg des Ge‐ samtwerks einlassen. Und nicht nur die Teile dieses Romans sind sehr heterogen: Phantastische Teile, karnevalistische Verwirrungen, dann fiktiv-autobiographische Ju‐ gend-Bekenntnisse, romantische Naturstimmungen, Sehnsuchtsphantasien und identitäts-philosophische Entwürfe, ein Liebesroman um eine „herzlose Schöne“ - eine bekannte Balzac-Obsession -, Pseudo-Idyllen, Alltags-Parabeln, die so wichtige Metapoetik, also erzählte Reflexions-Modelle von Dichtung und Kunst und so fort. Und nicht nur findet man dieselbe Vielfalt in größerem wie in ver‐ kleinertem Maßstab in der ganzen Comédie humaine immer wieder. Es gilt hier auch ein Prinzip immer neuer Versuchsanordnung, das kreisende Variationen, Komplementärgeschichten, Engführungen, Disseminationen und vieles mehr kennt. Balzac mag hier ein extremer Fall sein. 39 Aber Vergleichbares gilt etwa auch für das dynamisch-gegenläufige Ineinander, z. B. von Satire, Tragik, Komik, Gefühl und Ratio, in dem Kellers Der grüne Heinrich (Erstfassung 1845) und Die Leute von Seldwyla (1846) einander kommentieren. 40 Sie sind Jahre lang nahezu parallel entstanden. Oder es gilt für die Kreis- und Klammer-Struktur, in der Theodor Fontane zwischen 1881 und 1890 drei Geschichten von „Effi Briests armen Schwestern“ ausarbeitete: Stine (begonnen 1881), Irrungen, Wirrungen (begonnen 1882), Cécile (begonnen1884, erschienen 1886), dann wieder Irrungen, Wirrungen (erschienen 1887), und zuletzt Stine (erschienen1889/ 1890, aber 31 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 41 Vgl. oben Kapitel 1. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Johannes Hoff‐ meister, Hamburg: Meiner, sechste Auflage 1952, S. 21. schon 1881 begonnen). Diese drei Erzählungen umkreisen einander gewisser‐ maßen, kontrastieren, variieren, ergänzen, kommentieren einander und er‐ zählen einander konzeptionell weiter. All das ist der Arbeitsweise Balzacs, seinem immer wieder neu beginnenden Wirklichkeits-Experiment („oeuvre toujours recommencé“) durchaus verwandt. Ist nicht der literarische Realismus in dieser Fähigkeit, ja im Bestreben, immer wieder „Anderes“ immer neu „anders“, auf vielerlei „andere“ Weise zu erzählen, oft nur einen Schritt weit vom „offenen“, „polyhistorischen“, „galileischen“ Roman der Moderne entfernt? 41 Dass die Weite und Vielfalt der realistischen Literatur im 19. Jahrhundert in vielem die literarische Moderne des Zwanzigsten vorwegnimmt, eine zentrale These dieses Buches, lässt sich immer wieder an kleinen, manchmal winzigen Stellen beobachten, es fällt aber auch wie die Großschrift einer Karte ins Auge, wenn man größere Werk-Zusammenhänge, wie etwa die Comédie humaine betrachtet und mit anderen größeren Projekten der Europäischen Literatur der Zeit zusammen sieht. Freilich, gegenüber dieser Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Teile, die der realistische Diskurs integ‐ rieren kann, gilt um so mehr die nächste These: These 10: Literarischer Realismus ist immer und nur die Funktion eines längeren, kontinuierlichen Erzählens, oft die eines Gesamtwerks. Darin äußert sich einmal mehr der aristotelische „Ernst“ dieser Erkenntnis-Kunst. Das Gedankenexperiment mit Realien braucht Umfang, Dauer und Kontinuität. Nicht immer den Umfang der Comédie humaine, aber beispielsweise offensichtlich doch den der vier Werkstufen von Flauberts Édu‐ cation sentimentale / Lehrjahre des Herzens (1936 - 1870), oder die lange Arbeit Kellers am Grünen Heinrich, die in frühen Aufzeichnungen schon 1843 belegt ist, zwischen 1849 und 1855 zum Roman selbst und nach vielen Ablegern und Variationen zur tief greifenden Neubearbeitung von 1879/ 1890 führte, oder - um nur besonders deutliche Beispiele zu nennen - die unbestreitbare Reflexi‐ onskontinuität in Wilhelm Raabes Spätwerk, insbesondere in seiner Braun‐ schweiger Trilogie (1879 - 1896): sein immer neues „Resignieren“, also experi‐ mentelles „Wieder-Bezeichnen“, der gesellschaftlichen und menschlichen Krisen seiner Zeit. „Das Wahre ist das Ganze“: Das Postulat G. W. F. Hegels aus dem „philosophischen Roman“ Phänomenologie des Geistes (1807), 42 gilt, aller‐ dings in einem eher „links-hegelianischen“, offenen Sinn, das Wahre sei das 32 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 43 „Den Totalitätscharakter der Gesellschaft, den zuvor die klassische Ökonomie und die Hegelsche Philosophie theoretisch dachten, hat er [Balzac] schlagend aus dem Ideen‐ himmel zur sinnlichen Evidenz herabzitiert. Keineswegs bleibt jene Totalität bloß ex‐ tensiv, die Physiologie des gesamten Lebens in seinen verschiedenen Sparten […]. Sie wird intensiv als Funktionszusammenhang. In ihr tobt die Dynamik: daß nur als ganze, durchs System hindurch, die Gesellschaft sich reproduziert.“ Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd. 2, S. 21. Allerdings gesteht Adorno diese Einsicht wohl Balzac zu, nicht aber dem literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts allgemein. „Realismus“ sieht er auch bei Balzac als auf ein Programm anschaulicher Darstellung etc. verengt. 44 „Je finissais par douter de la valeur nominale des paroles et des idées / zuletzt zweifelte ich daran, dass Worte und Ideen noch etwas bedeuteten“ (10.159), mit solchen Geständ‐ nissen endet die nachgetragene Vorgeschichte der Krisensituation und Verzweif‐ lungstat, mit der der Roman beginnt. Erinnern sie nicht vorgreifend z. B. an Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (entstanden um 1900)? 45 Vgl. unten These 18. Ganze, „Totalität […] als Funktionszusammenhang“ (Adorno), 43 auch für den literarischen Realismus. These 11: Eine „Proto-Moderne“ ist oft eine Voraussetzung des Realismus. Am Anfang steht für dieses realistische Erzählen die Krise. Es beginnt immer wieder mit einer experimentellen Auflösung von Bedeutungen und Orientie‐ rungen: Das Glücksspiel am Anfang der Comédie humaine,  44 die Ich-Krise des Grünen Heinrich vor Beginn der Jugendgeschichte, mit der die Zweitfassung ein‐ setzen wird, der beiläufig bedeutsame Lärm am Beginn von Madame Bovary - hierher gehört auch das „charivari“-Element in ihrem sprechenden Namen 45 -, Effi Briests berühmtes „nervöses Zittern“, auf das noch einzugehen sein wird, man könnte noch viele weitere Beispiele anführen. Und hier ergibt sich nun ein Aspekt, den ich erst recht nur als These vorstellen und nur sehr knapp belegen kann, weitere Beispiele werden ja in diesem Buch vielfach vorgestellt: Gerade in der Darstellung von Krisen, die immer wieder Anfangs- oder Wendepunkte der Handlung und des Diskurses bedeuten, stößt das realistische Erzählen auch immer wieder zu „proto-modernen“ Texten vor. Realismus, wie er sich mit romantischen Traditionen produktiv auseinander setzt, so setzt er auch zumindest Punkte jener eigentlich modernen Sprach- und Zeichen-Autonomie voraus, wie sie ja prinzipiell bereits von der Romantik ge‐ fordert und oft auch entwickelt worden war: Abstraktionen (z. B. von Farben in Jane Eyre’s „red room“), Impressionismen (z. B. die Auflösung der Realität in Gesteinsfarben, Alpenschnee, Bergsee und blauen Himmel am Anfang des Grünen Heinrich), Karnevalisierungen (wie regelmäßig an den Anfängen der Romane Flauberts), oder etwa symbolistische, also trans-empirische Bedeu‐ tungs-Verdichtungen: 33 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 46 Gustave Flaubert, Oeuvres. Hrsg. von A. Thibaudet u. R. Dumesnil, 2 Bde., Paris (Édition de la Pléiade) 1951, S. 106. 47 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzäh‐ lungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, Bd. 5, 2. Aufl., Darmstadt 1980, S. 226. 48 Vgl. ausführlicher Verf., Theodor Fontane „Der Stechlin“. In: Verf. (Hrsg.), Große Werke der Literatur VI. Tübingen und Basel 1999, S. 103-115. 49 James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man. Hrsg. von S. Deane, Harmondsworth 1992, S. 184. 50 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu II: A l’ombre des jeunes filles en fleurs. Hrsg. Von Pierre Clarac und André Ferré, Paris 1954, S. 440. 51 Gustave Flaubert, Madame Bovary (wie Anm. 46), S. 274. 52 Vgl. ausführlicher oben Kap. 1 […] et les corolles de papier, racornies, se balançaient le long de la plaque comme des papillons noirs, enfin s’envolaient […]. 46 / […] und die Papierblüten wiegten sich auf der ganzen Platte wie schwarze Schmetterlinge und flogen schließlich davon. Wenn Emma in Flauberts Madame Bovary (1856) ihren Brautstrauß verbrennt, ein Wendepunkt in ihrem Leben, und eine „Wolke von schwarzen Schmetter‐ lingen fliegt auf “, kann man wie in Zeitlupe verfolgen, wie die „Imagination“ (ein Schlüsselbegriff des Symbolismus) die Realitätswahrnehmung ersetzt. Die Dinge verwandeln sich in Symbole eines Seelenzustands. Raum und Zeit werden einen Augenblick lang durchbrochen von der Gegenwart des Todes. Das Kind, ein Mädchen, mochte zehn Jahre sein, und das Licht fiel so, daß das blonde wirre Haar wie leuchtend um des Kindes Kopf stand. 47 Hat nicht auch diese plötzlich Begegnung an einem Wendepunkt des Lebens in Theodor Fontanes Der Stechlin (1898) etwas momentan Transzendierendes? 48 Das Kind erscheint dem ausdrücklich ja „alten“ Romanhelden, der am Rande des Sees sitzt - das Wasser als symbolistisches Element von Tod und zugleich Leben -, wie ein Todes-Engel. Aber wie das „vogelhaft“ schöne Mädchen am Strand in Joyces Portrait, das „waves of light / Wellen von Licht“ auslöst, 49 oder wie Prousts Albertine, die vor dem Hintergrund des Meeres „comme une lumineuse comète / „wie ein leuchtender Komet“ ein symbolistisches Vorzeichen setzt, 50 so scheint auch das Mädchen bei Fontane etwas unbekannt Neues anzukündigen. So könnte man noch viele Beispiele für Vorwegnahmen der Moderne nennen: Surrealismen („le bleu du ciel l’envahissait, l’air circulait dans sa tête creuse / das Blau des Himmels drang in sie ein, die Luft kreiste in ihrem ausgehöhlten Kopf “, Flaubert), 51 Imagismen (Kellers „Kupferkanne“), 52 Expressionismen (die 34 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 53 „Menschen, die entsetzlich aussehen, hager, gelb, gegerbt“, Honoré de Balzac, Physiog‐ nomies parisiennes (1834,wie Anm. 2), Bd. 5, S. 1039. 54 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen (1891), Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, hrsg. von Karl Hoppe u. a., 1951 ff., Bd. 18, S. 104. 55 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (1962). Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1973; vgl. oben Kap. 1. 56 Vgl. Verf., Der realistische Weg (wie Anm. 6), 1994. 57 Vgl. unten Kap. 4. 58 Wilhelm Raabe (wie Anm. 54), Bd. 19, S. 397 und 408. 59 Vgl. Kapitel 3, These 7. Menschenmassen in Paris: „peuple horrible à voir, hâve, jaune, tanné“, Balzac, 53 oder etwa eine deutsche Kleinstadt-Idylle: „Brei, dickflüssig, graugelb, mit grünen Schimmelflecken“, Raabe 54 ) und vieles mehr. These 12: Die (induktive) Offenheit des „Weges“. Aber die Realisten erkennen explizit nur die Krisen-Bedeutung jener „Proto-Mo‐ derne“, so wie wir diese ja auch erst retrospektiv zu lesen vermögen. So ent‐ stehen keine „offenen Kunstwerke“, 55 oder doch in einem gegenüber der Mo‐ derne - z. B. Dostojewski, Proust, Joyce, Dos Passos, Döblin, Gide, Faulkner, um in der Tradition der Comédie humaine zu bleiben - deutlich engeren Sinn. Die Offenheit des realistischen Erzählens ist nicht die eines Raumes, sondern die eines Weges, und oft die eines gewundenen oder sprunghaften oder Schleifen nehmenden oder sich verzweigenden Weges. Das habe ich in einer sehr um‐ fangreichen Studie zu zeigen versucht. 56 Selbst tragische Romane enden hier oft mit Zeichen für einen Neuanfang. Der letzte Teil von Balzacs Illusions-Per‐ dues-Projekt, der Schluss von Splendeurs et misères des Courtisanes (1838-1847) wäre dafür ein Beispiel, mit der „dernière incarnation de Vaurin / dem letzten Gestaltwechsel des Vautrin“, in dem Balzac sich ja teilweise auch selbst spie‐ gelt. 57 Verdeckter aber noch deutlich erkennbar schließt die Erstfassung des Grünen Heinrich, die Neufassung und überhaupt das weitere Oeuvre vorweg‐ nehmend, mit dem „recht grünen Rasen“, der auf Heinrichs Grab gewachsen ist. Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896), ein Roman des negierten Idealismus, schließt gleichwohl mit dem Ausblick auf den „Ostermorgen“ und die „spätesten Nachkommen“. 58 Selbst ein so tief tragischer Roman wie Thomas Hardys Jude the Obscure (1895) enthält am Ende Anspielungen auf den alttestamentarischen Hiob und das „im Finstern wandelnde“ Volk Israel - wenn es sich denn hier nicht um einen aus dem Naturalismus bekannten „Sprung ins Unbekannte“ handelt. 59 Natürlich darf man derlei, und noch dazu auf je einzelne Werke fokussiert, nicht überbewerten. Aber der immer wieder bis dahin zurück gelegte Erzähl-Weg gibt auch solchen kleinen Ausblicken noch eine gewisse Dynamik mit. Und ver‐ 35 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 60 Stendhal (Henri Beyle), Romans et nouvelles. Hrsg. Von Henri Martineau 2 Bde., Paris, Édition de la Pléiade, 1952, Bd. 2, S. 557 ; Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausge‐ wählte Briefe, Bd. 1, S. 391. 61 Honoré de Balzac (wie Anm. 7), Bd. 10, S. 3. 62 Balzac soll zuerst (vgl. den Kommentar, Balzac, Oevres complèts, Bd. 10, S. 1221) einen Handlungskern entworfen haben, in dem die tödliche Gefahr nur in der Einbildung des Romanhelden besteht, weil ihm das Schrumpfen der Eselshaut böswillig so suggestiv gedeutet wurde. Aber er wäre trotzdem daran gestorben. Eine „erzählende Aufklärung“ hätte die phantastische Gefahr eben gerade nicht beseitigt, bzw. nur für die Leser. gessen wir nicht, die Fähigkeit, eine Aporie zu erzählen, sich der Aporie zu stellen (These18), setzt ja eben die leitende Idee eines „Weges“ voraus. Immer wieder wird dieses Denken, Argumentieren und Erzählen in „Wegen“ auch „metapoetisch“, in anschaulichen Modellen des eigenen dichterischen Ver‐ fahrens, reflektiert: Man denke etwa an Stendhals „miroir qui se promène sur une grande route“ / Spiegel der auf einer großen Straße herumgeht“ oder an Kellers „goldene[n] Spiegel […] in einem festlichen Zuge“, um nur zwei nahezu gleiche bildhafte Selbstreflexionen zu nennen. 60 Das kleinste „Mikro-Modell“ eines „realistischen Weges“ wäre vielleicht, und durchaus selbstironisch insze‐ niert, was bei einem Reflexions-Modell ja nicht überrascht, die kleine Schlan‐ genlinie, die Balzac aus Laurence Sternes Tristram Shandy (1760-1767) über‐ nommen hat - das könnte übrigens auch selbst als ein weiterer Hinweis auf eine „Proto-Moderne“ gelesen werden, diesmal auf eine tendenziell weit voraus wei‐ sende spielerische Autonomie der Kunst -, und die, dem Roman La peau de chagrin, also dem eigentlichen Beginn der Comédie humaine vorangestellt, 61 vielleicht weitreichende Bedeutung erhält. Einerseits ist dies sicher eine visuelle bzw. graphische Krisenmetapher. Die Schlangenlinie ist isoliert gesehen ein kleines lineares Labyrinth, ein ins leere führender Weg. So wird die totale Er‐ füllbarkeit der Wünsche, das heißt konsequent verallgemeinert: der romantisch unbedingten Wünsche und Postulate, deren Lähmung bedeuten. Zugleich aber weist diese Schlangenlinie voraus auf das ganze große, eben hier beginnende Erzähl-Experiment, 62 ja auf nichts Geringeres als das Lebenswerk Balzacs. So wird das kleine lineare Zeichen, und sei es noch so hypothetisch, zum Entwurf eines gewundenen, aber kontinuierlich zu verfolgenden Erzählweges, der als ganzer, ja, wenn man will, sich in seine durchdachte Rezeption hinein fortset‐ zend, aus dieser Krise heraus führen könnte. Erstaunlich präzise vergleichbar ist dem die „Zeichensprache“ eines zunächst ganz anders aussehenden mikro-strukturellen, realistischen Reflexionsmodells. Das Labyrinth, das Keller seinen Grünen Heinrich statt eines geplanten Bildes zeichnen lässt, zeigt dessen psychische Krise an - natürlich auch die seines Au‐ tors -, es signalisiert die Krise seiner Malerlaufbahn. Es markiert ja auch die 36 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 63 Vgl. zu diesem Deutungsaspekten der Textstelle unten Kapitel 8. 64 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 560f. Krise eines „Abbildungs-Realismus“. Doch in eins damit gibt es eben auch einen Innovations-Impuls, der letztlich zur Moderne hin verlängert werden kann. 63 Und liest man weiter, so bezeichnet es - man kann darin ja auch ein „Spinnen‐ netz“ sehen - bereits die Krise einer bourgeoisen, allein am Egoismus und am Geld orientierten Wirtschaft (was Keller den „künstlichen Ernährungsverkehr“ nennt, und oft mit „Spinnen-Metaphern“ bezeichnet). Aber das Labyrinth, das Heinrich zeichnet, hat, genau betrachtet, dann doch die Form eines vielfach gewundenen Weges, der, mit entsprechender Konsequenz verfolgt, aus der Krise heraus führen könnte: Wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs gesammeltem Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen. 64 „Ein Meisterwerk liefern“: Das wäre auch ein Vorsatz, den Keller auf seine eigene literarische Arbeit bezogen haben könnte. Wie bei Balzac führt der Erzählweg des Autors aus dem Labyrinth des Romanhelden hinaus. These 13: Kritischer Moralismus. Die Realisten fassen einen offenen Raum von Möglichkeiten und Widersprü‐ chen als Krise auf - die Chance eines erklärt „offenen Kunstwerks“ sieht erst die Moderne -, eine Krise des Wiss- und Darstellbaren. Und ihre spezifische Erzählform kann als eine Art Kompass begriffen werden, der sie immer wieder aus dieser Krise herausführt, genauer: den sie ihren Lesern als Orientierung anbieten. Ein solcher Kompass des realistischen Erzählens verbindet Mikro-Strukturen, wie Roman-Titel oder Schlüssel-Metaphern, mit Großformen wie letztlich einem ganzen Oeuvre. Welches wären solche Orientierungs-Per‐ spektiven dieses typisch „realistischen“ Erzählens, von denen sich behaupten ließe, dass sie auch zentrale Züge dieser „Familienähnlichkeit“ ausmachen? Die bereits genannte Individualität der Charaktere und Szenen lässt sich bei‐ spielsweise verallgemeinern zur betonten Singularität der Repräsentation. Das jeweils Einzelne hat im Realismus immer wieder das letzte Wort. Auch in ihrer Auseinandersetzung mit der bourgeoisen Realität ihrer Zeit - „bürgerlich“ ist für das 19. Jahrhundert ein notwendiges Attribut, reicht aber nicht hin, diese Literatur zu charakterisieren - gehen diese realistischen Erzähler singularisie‐ rend vor. Das bedeutet anders gesagt, kurz, allgemein, aber nicht falsch: Sie 37 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert stehen in der skeptischen Tradition der Aufklärung, wie sie beispielsweise eben der französische Moralismus verkörperte. Der Schlüsselbegriff Balzacs: Études de moeurs, „Sitten-Studien“, „Untersuchung von Gewohnheiten“, „Erzählungen davon, wie Menschen sich verhalten“, ist hier schlechthin prägend. Die Realisten sind kritische Moralisten. Sie prüfen immer wieder neu in ihren anschaulichen, fiktiven Gedanken-Experimenten, prüfen anhand von individuellen Beispielen gesellschaftlich geprägtes Verhalten. Die großen Themen dieser Literatur haben genau dies gemeinsam: Wie werden Kinder be- und misshandelt, gebildet und verbildet? Welche Chancen haben Frauen, deren Identität missverstanden wird, missverstanden auf Grund welcher Vorgaben, aber auch immer wieder illusionär missverstanden von ihnen selbst? Wie können Talent oder gar Genie, wie kann ethische Integrität, wie können genuin aufklärerische Intentionen sich be‐ haupten in einer Welt, die alles in Geld übersetzt? Für jede dieser Fragen gibt es beispielsweise Balzac-Romane. Welche Wirkungen haben starre Moral, so z. B. immer wieder rigide, oft geheuchelte Religion, auf Individuen, die dem unter‐ worfen werden (ein regelmäßiges Thema etwa in der englischen Literatur)? Wie vertragen sich praktiziertes Recht, besonders Erbrecht, Vertragsrecht, Prozess‐ recht, mit Gerechtigkeit? Was lehren Kriminalfälle über Verursacher, Opfer, Täter, Verfolger und - im weitesten, öffentlichen, die Leser einschließenden Sinne - auch „Richter“? Man braucht solche Themen nur zu nennen, um die These eines „kritischen Moralismus“, - sie ist, wenn auch immer wieder anders formuliert, ja durchaus nicht neu - zumindest plausibel zu machen. These 14: Die Krise der Bilder - Bilder der Krise. Die Realisten sehen Systeme kritisch. Aber sie misstrauen - auch das zeigt ihren „singularisierenden“ Zugriff -, sie misstrauen auch offener Beliebigkeit. Mög‐ liche Bedeutungen von Bildern sind unendlich offen. Das hat für die realistische Literatur etwas Gefährliches. Die eindrucksvollsten Bilder und Metaphern im literarischen Realismus sind Bilder von Krise und Gefahr: Balzacs Glücks‐ spiel-Metapher, Emma Bovarys „Brautstrauß der anderen“, die Szenerie um des „Effi, komm“ bei Fontane und so fort. Sowie solche eindrucksvollen Bilder auf‐ tauchen, bezeichnen sie gefährliche Situationen. Die allererste Erzählung der Comédie humaine, so wie sie in ihrem geplanten Aufbau, ihrer „Architektur“, sich darstellt, La maison du chat qui pélote / Das Haus zur spielenden Katze (1829) macht das fast wie eine Parabel deutlich: Ein junger und sehr begabte Maler verliebt sich ganz wörtlich in das „Bild“ eines schönen Mädchens, das beim morgendlichen Blick aus dem Fenster und von diesem gleichsam fertig „gerahmt“ sich dem Künstlerauge wie ein schicksal‐ haftes Motiv anbietet. Er geht immer wieder an diesem Haus vorbei, und sie 38 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 65 Vgl. etwas ausführlicher unten den Anfang von Kap. 4. 66 Balzac hat diesen Konflikt mehrmals gestaltet; zu Le chef-d’oeuvre inconnu / Das unbe‐ kannte Meisterwerk, aber etwa auch Edgar Allen Poe The Oval Portrait, oder Emile Zola LOeuvre / Das Werk vgl. unten Kap. 8 steht ihm dabei nach und nach ungewollt Modell für ein preisgekröntes Ge‐ mälde. Aber dies ist auch der Beginn einer tragischen Liebesgeschichte. Der Maler ist verliebt in das Bild und in die Schönheit. Das Mädchen sieht und emp‐ findet nur Liebe. Ihre konservativ bürgerlichen Eltern geben ihre Zustimmung zur Heirat, weil sie durch das Vermögen und den gesellschaftlichen Stand des erfolgreichen Malers die Zukunft ihrer Tochter gesichert sehen. Aber die jungen Eheleute leben in ganz verschiedenen kulturellen Welten. Sie werden sich immer fremder. Der Maler verschenkt geradezu das Bild, es ist primär sein Werk und sein Besitz, später zerstört er es sogar. Die junge Frau stirbt buchstäblich an „gebrochenem“ Herzen. Das ist nur eine sehr knappe Inhaltsangabe, 65 aber man kann sehen, wie auch diese Erzählung, darin dann durchaus vergleichbar mit Le dernier Napoléon, auf die Comédie humaine und deren erste und größte Abteilung Études de moeurs verweist. Die parabelartige Erzählung kreist um das gefährliche Bild, aber sie kreist auch um eine Leerstelle der Orientierung. Und was diesen Personen fehlt ist eben jene „kritische Moralistik“, jene „Étude de moeurs“, die der Erzähler leistet. Das Bild verzehrt das Leben, das die Erzählung für die Leser er‐ schließt. 66 „Du sollst dir kein Bildnis machen“? Das wäre zu eng gesehen für diese Li‐ teratur. Du sollst Bildern nicht vertrauen, folge Perspektiven, Spuren und Wegen! Das wäre ein Lehrsatz dieser Weltsicht. Dass sie in Bildern zu leben suchen, die sie sich von der Welt machen, und in Bildern leben müssen, die die Welt sich von ihnen und ihresgleichen gemacht hat, das ist ein Problem, das immer wieder Frauen im Roman des 19. Jahrhunderts gemeinsam haben: Ma‐ dame Bovary, Dorothea Brooke (in George Eliots Middlemarch, 1871/ 1872, ei‐ gentlich eine Pflichtlektüre auch für Germanisten, die sich ernsthaft für den Roman des 19. Jahrhunderts interessieren), Effi Briest oder etwa Isabelle Archer (in Henry James’ Roman mit dem sprechenden Titel The Portrait of a Lady,1881: das „Portrait“, das „Bild“ als Verführung, Täuschung und Selbsttäuschung), um 39 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 67 Ganz anders die Heldinnen bei Jane Austen, die ihren menschlichen und ihren gesell‐ schaftlichen Wert miteinander in Einklang bringen müssen, und die dies zuletzt auch können. Und wiederum ganz anders stellen sich die naturalistischen, an der Gesellschaft „leidenden“ Frauen dar, wie Thomas Hardys Tess of the d’Urbervilles (1891) oder die weibliche Protagonistin in George Gissings The Odd Women (1893), oder Émile Zolas Renée Rougon (La Curée, 1874) und Gervaise Macquart (L’Assommoir, 1877), die zur Welt nicht in einem Verhältnis wechselseitiger Täuschung stehen, sondern von ihr ver‐ gewaltigt werden. Und Kate Chopins Edna Pontellier (The Awakening, 1899) oder The‐ odore Dreysers Sister Carrie (1900) oder die jungen Frauen in Giovanni Vergas Romanen (I Malavoglia, 1881; Mastro-Don Gesualdo, 1889) haben sich genau gesehen nie, oder doch nur ganz vorübergehend, Illusionen gemacht. Sie sehen die Widersprüche, in denen sie leben müssen, oder nicht leben können, wie sie sind. Interessanterweise sind sie darin so etwas wie die europäischen Schwestern von Fontanes Cécile, Lene oder Stine (Vgl. oben These 9, sowie unten Kapitel 5) - und letztlich dann auch von Effi Briest nach ihrem „Sturz“. 68 Nicht zuletzt gehen „historische“ Zeit-, Orts-, Spuren- und Quellenangaben auf Indices zurück, vgl. Verf., Der historische Roman, S. 160f. 69 Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Dt. von Gün‐ terMemmert, Frankfurt 1977, S. 157, vgl. S. 58ff. nur die wichtigsten zu nennen, 67 immer wieder wird diese „Krise der Bilder“ als Krise eines ganzen Lebens erzählt. Aber derlei ist nun auch wieder so ein „weites Feld“, auf das in einer solchen These nur hingewiesen werden kann. These 15: Indexikalisch-metonymischer Realismus. Gegenüber der „Krise der Bilder“ setzt die realistische Literatur auf Perspek‐ tiven, Spuren, Symptome, Bedeutungsnetze und eben vor allem Bedeutungs‐ wege. Realistisches Erzählen ist wesentlich Zeigekunst, Deixis, Metonymie, in‐ dexikalische Figur. 68 Davon geprägt war bereits die genaue Hinweis-Konstellation: „ein junger Mann frühmorgens im Spielcasino“, denn so entstand eben ihre Aura von enttäuschtem Idealismus, Verzweiflung, Spielsucht, des Drucks von Zeit und Ort, von Gesetz und Konvention und schließlich der Sprache des Geldes, eines individualisierten und völlig verantwortungsfreien Geldes, eben eines seiner historischen Bedeutung beraubten und kommerziali‐ sierten „Napoléon“. Indices sind „Aufmerksamkeitsvektoren“. 69 Es war so gesehen durchaus an‐ gebracht, die letzten Thesen: „Traue nicht den Bildern, folge den Spuren! “, als eine Art von Gebot zu formulieren. Das hängt eng mit der These zusammen, dass realistische Erzähler kritische Moralisten sind, gerichtet an eben aufmerk‐ same Leser. Études de moeurs („kritische, also differenzierende Studien zu Sitten und Gewohnheiten der Zeit, also zur bürgerlichen Alltagswelt“): Wenn der größte Teil der Comédie humaine so überschrieben ist, dann ist das nicht nur ein Programm für die ganze Epoche, ein Programm, das freilich, wie gesagt, viele 40 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 70 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 18. 71 Vgl. ebd., S. 701f.: „Das musst du schreiben“ (im Brief an Hans Hertz vom 2. März 1895). 72 In Rainer Werner Fassbinders Film Fontane Effi Briest (1974) stehen sich Effi und Inns‐ tetten in dieser Szene stumm und fremd und quälend statisch gegenüber, und dann erstarren alle vollends zur Fotoeinblendung des aus dem„0ff “ gesprochenen Texts der Verlobungsanzeige. Vgl. genauer Verf., „Nicht so wild Effi! “. Vier Verfilmungen eines weiten literarischen Felds. In. Verf., Literatur im Mediendialog. München 2006, S. 107 - 127. Die quälende Statik erinnert an die verwehrte Bewegung, so wie Effis Zittern auf seine Weise auch. 73 Vgl. z. B. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik. 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2000, S, 185 ff. und 500 ff., oder eine andere Einführung in die Semiotik. Variationen und vieles Abweichendes einschließen kann, sondern es ist immer auch ein Appell, der auf die „impliziten Leser“ dieser Literatur zielt. Und es ist der Indexikalismus des realistischen Erzählens, der möglichen Lesern ihre Per‐ spektive zuweist. Sie schauen den Personen und Erzählern über die Schulter. Und sie können, und sollen auch, mehr sehen und „lesen“ als diese: Effi, als sie seiner [Innstettens] ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augenblicke fast, wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näherte, wurden an dem mittleren der weit offen stehenden und von wildem Wein überwachsenen Fenstern die rotblonden Köpfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: „Effi, komm.“ 70 Man weiß, wie wichtig Fontane selbst diese Szene, eine Schlüsselszene des An‐ fangs von Effi Briest (1893), genommen hat. 71 Die Leser sollen und können alle hier gelegten Spuren, Hinweise und Perspektiven „lesen“. Das „Zittern“ ist ein Symptom, das Effi selbst nicht verstehen kann, das die anderen Personen nicht bemerken, und das nur die Leser deuten sollen. Es weist nur für sie über den Rahmen der Szene hinaus. Bisher war Effi möglichst immer in Bewegung ge‐ wesen, man sah sie turnen, schaukeln und herumrennen. Jetzt protestiert ihr Körper gegen die neue Situation; und allein die Leser können diese komplexe Verhaltens-Spur als Bedrohung und Zwang „lesen“. 72 Welche Konventionen, Projektionen, was für „Sitten“ haben dahin geführt? Was kündigt sich mit diesem „Zittern“ an, was bedeutet es, wenn es später im Roman wiederkehren wird? Wir können und sollen dies als „étude de moeurs“ lesen, also genau und kritisch, „moralistisch“ im Sinn der Aufklärung, untersuchen. Wäre diese Szene „treu“ verfilmt, müsste hier die Einstellung (immer ein deiktisches System) 73 zwischen „ansichtig wurde“ und „kam in“ wechseln: von „Halbtotale auf Innstetten“ zu „Gegenschuss auf Effi“, dann „Fahrt zurück, auf den zur Bildmitte sich bewegenden Innstetten“, dann „Schwenk nach oben zum 41 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 74 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 21. 75 In der Verfilmung durch Wolfgang Lüderer Effi Briest (1969) schaut Innstetten noch vor der ersten Begegnung durch das Fenster geradezu sadistisch streng auf die „ganz reiz‐ ende“ Kindfrau Angelica Domröse. Ausführlicher dazu Verf., „Nicht so wild Effi! “ Vier Verfilmungen eines weiten literarischen Felds. In: Verf., Literatur im Mediendialog. Mün‐ chen 2006, S. 107-127, S. 110ff. 76 Theodor Fontane (wie Anm. 74) S. 134; vgl. auch etwa S. 172: „der große Erzieher [der] mit dem Spuk und ihrer Furcht“ rechnet. Fenster hinter Effi“. Diese „Zeigekunst“ markiert ein „davor“ und ein „dahinter“, eine Grenze im Raum und in der Zeit. Die Szene ist so aufgebaut, dass Effi sich nicht umdrehen kann. So wird nicht nur das „Zittern“, sondern auch das Bild des Fensters - ein architektonisches Zeichen, das „hinaus“ weist und hier von etwas „Wildem“ und von potenzierter „Kindheit“ erfüllt ist - zu einem Bild der Krise. Das „Naturkind“ in ihr wird Effi gefährlich werden. Aber auch das Bild selbst bedeutet Krise und Gefahr. Und natürlich bedeutet das „Effi komm“ für aufmerksame Leser, erst recht bei der Zweitlektüre, genau gelesen, ein „Effi geh“. Die Perspektiven und Ver‐ weise, die ja noch viel weiter führen, als hier gezeigt werden kann, fordern die Leser zu Fragen, Gegenreden und eigenem Weiterdenken auf. Das wird beson‐ ders deutlich, wenn wenig später an diese Szene erinnert wird: [Innstetten] war es […], als säh’ er wieder die rotblonden Mädchenköpfe zwischen den Weinranken und höre dabei den übermütigen Zuruf: „Effi, komm“. Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches, im Gegenteil, wies alles Abergläubische weit zurück. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten nicht los, und [so] war es ihm beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall gewesen. 74 Wer spricht? Diese Frage sucht einen „kommunikativen Index“, der auf Sprecher und Adressaten der Erzählrede weist. Der Erzähler leiht dem schweigenden Innstetten seine Stimme und konfrontiert ihn der prüfenden Aufmerksamkeit der Leser. Innstetten erkennt zwar das Krisenhafte der Situation, wird es aber ganz in seinem eigenen Interesse deuten: Effi muss erzogen, ja diszipliniert werden! 75 Paradoxerweise, was aber aus seiner Sicht schlüssig ist, wird er dazu genau so etwas „Abergläubisches“ einsetzen, seinen „Angstapparat aus Kalkül“, 76 was er jetzt „weit zurück“ weist. Es ist allein Sache der Leser, den „kleinen Hergang“, der „doch mehr als ein bloßer Zufall“ war, auch aus Effis Sicht zu deuten, und ihr, die hier hilflos zitternd verstummt, eine „lesende Stimme“ zu leihen. 42 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 77 Ebd., S. 277 und 278. These 16: Behauptende Symbolik. Die Wiederholung macht die Szene um das „Effi, komm“ zum literarischen Symbol, aber zu einem indexikalisch generierten, man kann auch sagen, betont lediglich erzählten Symbol. Seine Bedeutung ist eine immer nur behauptete (as‐ sertorische), allerdings eine, die kontinuierlich verfolgt werden kann, ein weit reichend bedeutsamer Text, der die Perspektiven von Autor, Erzähler, Personen und Leser mit einschließt und der - sehr wichtig - immer auch die Möglichkeit metapoetischer Selbstreflexion eröffnet. Wie auch immer, der „assertorische“ (behauptete, falsifizierbare) Modus dieser „realistischen“ Symbolik zeigt sich daran, dass das „Zeichen […] ‚Effi komm’“ einander negierenden Bedeutungen zugeordnet werden kann, ja muss. Schon jetzt bedeutet es bereits beim Rück‐ blättern, erst recht bei der Zweitlektüre: „Effi geh“. Und wenn das „Effi komm“ viele Seiten später wiederkehrt im Telegramm der Eltern, das die bereits kranke, „gefallene“ Effi tatsächlich nach Hause ruft, dann hat sich seine Bedeutung - die lediglich relationale Bedeutung von „kommen“ wird ja durch den Kontext definiert - endgültig negativ geklärt: Effi kann nicht zurück kehren Die Heim‐ kehr ist „nur Schein“. 77 War am Romananfang der Weg zurück in ein unbe‐ schwertes, wenn auch durchaus widersprüchliches Leben verwehrt, so gibt es jetzt nur noch den Weg in einen von diesen Widersprüchen befreienden Tod. Was ist die Bedeutung dieses „Effi, komm“? Allein die Leser können sie lesen, und dies nur, indem sie diesem „Zeichen“ in der Folge seiner Behauptungen und Negationen folgen. Denn wohin also hätte Effi wirklich und zuletzt „kommen“ sollen? Ihr „Weg“, ihr Gehen und Kommen, führt, so es denn einen Sinn haben soll, nur dann wäre es „realistisch“, über die hier erzählte Geschichte hinaus. Erlauben Sie eine Zwischenüberlegung! Auch die Zeichen und Symbole der bürgerlichen Lebenswelt, die die Realisten ausführlich und oft differenziert nutzen, deuten sie erzählerisch-diskursiv lediglich „assertorisch“, also falsifi‐ zierbar, und als je singulare Behauptungen und Negationen. Für das Geld, viel‐ leicht das bürgerliche Orientierungs-Medium schlechthin, haben wir das bereits gesehen. Vergleichbares gilt etwa für die Kleidung. Ich erinnere nur an die be‐ reits erwähnte Jacke des Grünen Heinrich, die ihn gerade dann, wenn alle zu den vormilitärischen Übungen der Schule grün gekleidet sind, aber seine Jacke ist immer eine Spur zu hell oder zu dunkel, erst recht zum Außenseiter macht. Balzacs Lucien Chardon (der Held des für die Comédie humaine zentralen Ro‐ mans Les illusions perdues / Verlorene Illusionen,1837 - 1843) gibt für einen neuen Anzug das Geld aus, von dem er ein Jahr lang in Paris leben wollte, um seinen Anspruch auf den Namen „de Rubempré“ und seine Zugehörigkeit zur großen 43 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 78 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 8. 79 „Setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite hopp, hopp“, ebd., S. 9. Welt zu bekunden; aber gerade so macht das linkisch Aufgeputzte seines Anzugs ihn verdächtig und er wird erst recht ausgestoßen. George Eliots Dorothea Brooke kleidet sich, als ob sie ein Gelübde abgelegt hätte, so auszusehen wie niemand sonst. Emma Bovary öffnet nachts dem Notarzt die Tür zum Bauern‐ haus ihres Vaters in einem „Merino-Kleid mit drei Reihen von Rüschen“. Jedes Mal ist es die individuelle Auslegung, ja das individuell Unpassende im „Systeme der Mode“, das interessiert. Auf feine, aber deutliche Weise widersprüchlich ist auch Effi Briest bei ihrem ersten Auftreten angezogen: Effi trug ein blau- und weißgestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. 78 Man sieht an ihrer Kleidung, und der weitere Kontext von Raum, Bewegungen, Personen und Gesprächen macht es natürlich noch deutlicher, dass Effi hier im Übergang zwischen Gegensätzen leben darf: Mädchen (Kleid) und jungenhaft (Matrose), Kind („Hänger“) und junge Frau („Taille“), „wild“ und gehorsam, „Na‐ turkind“ und adeliges Fräulein, frei sich bewegend und in ein geordnetes Leben eingeschlossen, sexuell neugierig 79 und „zitternd“, zugleich von Fürsorge, durchaus von Liebe, aber auch von Unverständnis umgeben, und so fort. Wie auch immer: Das „Effi komm“ weist auf ein ungezwungenes Leben in Wider‐ sprüchen und Übergängen hin, das für Effi ganz einfach ihr Leben bedeutet. Effi ist ja nicht „edel“ und „gut“. Es ist ihr lebendig widersprüchlicher Charakter, der sie so charmant macht. Und nur die Leser können letztlich die Idee dieses Lebens verstehen und mit Effi dieses die Widersprüche formulierende, die Wider‐ sprüche überbrückende Gespräch führen, das die Gesellschaft ihr verweigert. These 17: Die Konsensperspektive realistischen Erzählens. Die Gesprächs-Struktur der Erzählkunst Fontanes wird, bezieht man Perspek‐ tive und Stimme impliziter Leser ein, zu einem Konsensangebot. Gerade wenn etwa in Effi Briest intime Gespräche geführt werden - Innstetten und Wüllers‐ dorf nach Roswithas Brief, die Eltern Briest am Romanende - oder im Falle der inneren Monologe (z. B. wenn Effi nicht ihre „Schuld“, wohl aber den Zwang zum Lügen bereut), sollen die Leser diese fortsetzen und weiter argumentieren. Autor und Leser müssen letztlich das Verständnisgespräch führen, das die Ge‐ sellschaft Frauen wie Effi verweigert. Hebt die Gesprächskultur in Der Stechlin - ich erinnere an das Interpretationspotential der Werkkontinuität - gewisser‐ 44 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 80 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 5, S. 274. 81 Immanuel Kant, Grundlegung zu Metaphysik der Sitten. Hrsg, von K. Vorländer, 3. Aufl., Frankfurt 1965, S. 33ff. (Paragraph 414 ff.). Für diese Theorie eines literarischen Rea‐ lismus gab allerdings die produktive Rezeption Kants durch C. S. Peirce die entschei‐ dende Anregung. maßen den Autor-Leser-Diskurs aus Effi Briest in die Welt der Romanpersonen? Auf alle Fälle teilen der alte Stechlin, Graf Barby, der Pastor oder die schöne Melusine die Gedanken und Überzeugungen ihres Autors in weit höherem Maße als etwa die Eltern Briest oder Innstetten. Der „Revolutionäre Diskurs“ 80 zwi‐ schen dem Pastor und Melusine kreist um Entscheidungen für eine mögliche gesellschaftliche Zukunft, die auf freie, bessere Einsicht und weitest möglichen, zwangfreien Konsens gründen. Diese Personen denken und reden so, wie Fon‐ tane erzählt. Hier gilt es freilich auch die Skepsis nicht zu übersehen, die stets im Spiele bleibt. Die Konsensperspektive auf die Möglichkeit einer human sinnvollen, einer humaneren Wirklichkeit ist für die realistische Literatur, in der Tradition der skeptischen Aufklärung Kants formuliert, eine regulative, bzw. pragmati‐ sche Idee (vergleichbar und verwandt der „Idee der Glückseligkeit“): eine Idee als ein allgemein voraussetzbarer Zweck, aber eben nur ein Zweck, keine theo‐ retische oder ethische Gewissheit, 81 also - und das scheint mir nun sehr wichtig -, eine Idee, die einerseits auch scheitern kann, die andererseits so aber auch ihren Irrealis bzw. die Aporie ihrer Verwirklichung erträgt. Ein richtiger Zweck wird dadurch noch nicht widerlegt, dass er nicht ausgeführt wird. „Das Neue, das im ‚revolutionären Diskurs’ gefordert wird, hätte das Bessere sein können“: So ließe sich durchaus ein Nachwort für Fontanes Der Stechlin überschreiben. Dass eine Konsensperspektive in der Konsequenz realistischen Erzählens, in seiner logica utens, wenn ich so sagen darf, in seinem praktizierten diskursiven Denken impliziert ist, muss hier wohl lediglich als These stehen bleiben. Aber dass ein solches Verständigungs- und Konsens-Modell hier immer wieder re‐ flektiert wird, lässt sich zumindest skizzieren. Im Mittelpunkt der Comédie hu‐ maine steht deren Architektur zufolge der Roman Les illusions perdues / Verlorene Illusionen (1837 - 1844), dessen eigene Mitte wiederum ein Großstadt-Roman ist. Hier kommen viele antagonistische Weltentwürfe zusammen. Doch drei davon weisen über das, was die Großstadt Paris für Balzac bedeutet, die Krise in Per‐ manenz, hinaus: Geradezu eine ideale „innere Gegenwelt“ zu ihr, insbesondere zu einer ihrer Hauptkrankheiten, so Balzac, dem Zeitungswesen, bildet „Le Cé‐ nacle“, ein Kreis, eine Art Loge von genialen und fleißigen jungen Wissen‐ 45 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 82 Honoré de Balzac, Ouvres (wie Anm. 6), Bd. 5, S. 318. 83 Ebd., S. 319. 84 Ebd., Bd. 6, S. 921. 85 Ebd., Bd. 5, S. 732. schaftlern, Philosophen, Dichtern und Künstlern, die ohne Zwang, offen und selbstlos ihre Gedanken austauschen und einander helfen: Ils pouvaient tout penser et se tout dire sur le terrain de la science et de l’intelligence. […] L’estime et l’amitié faisaient régner la paix entre les idées et les doctrines les plus opposées. / Sie vermochten alles zu begreifen und sich mitzuteilen, was die Wissen‐ schaft und das Denken betraf. Wechselseitige Hochachtung und Freundschaft ließen die gegensätzlichsten Ideen und Lehren friedlich aufeinander treffen. 82 Dies ist ein klares Modell für die Möglichkeit, nicht freilich eine reale Macht - „personne ne pensait aux réalités de la vie / niemand dachte an die Realitäten des Lebens“ 83 -, jenes freien, vernünftigen Konsens der Bestinformierten, wie er, so meine Überzeugung, das ideale, und zugleich skeptisch eingerahmte Ziel realistischen Erzählens bildet. Dem entspricht ein anderer, davon ganz unabhängiger Weltentwurf, den Balzac vorstellt. Und diese Korrespondenz mag zunächst überraschen. Der Großverbrecher Vautrin, der Bankier der Unterwelt, vollzieht in seiner letzten „Inkarnation“ (am Ende des Romans Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen, 1847) so etwas wie eine „pragmatische Wende“. Bei seinem ersten Auftreten hatte er das wahre Gesicht, so Balzac, der französischen Bourgeoisie gezeigt, brutal und gierig, ohne Maske. Aber gerade er wird sich zuletzt als Kriminalkommissar in den Dienst des Rechts, aber nicht der Macht, stellen: „Je veux me nommer la Justice / mein Name sei Gerechtigkeit“. 84 Und die aufgeklärte Justiz ist dem Rechtsstaat, einer Konsensidee, verpflichtet. Und noch von einer dritten Seite her zielt der Gesamtdiskurs in Illusions per‐ dues auf diese regulative Idee eines vernünftigen Konsens: Der Bildungsroman des chemischen Erfinders David Séchard - geistig gehört auch er zum „Cénacle“ -, führt nach langem „Leiden“ zu etwas allgemein Wertvollem, etwas im Sinne der Aufklärung allgemein Zweckmäßigem, freilich, skeptisch gesehen, etwas, das wertvoll vor allem werden könnte: ein Papier auf pflanzlicher Basis. Seine Erfindung bringt David persönlich keinen Gewinn, Spekulanten und Betrüger jagen ihm ihre Vermarktung ab. Aber sie geht in die Ökonomie der Nation ein - heute würde man vielleicht sagen: auch in ihre Ökologie - „comme la nour‐ riture dans un grand corps / wie die Nahrung in einen großen Körper“. 85 Und ein preiswertes Papier, was immer das Risiko dieser Erfindung sein mag, ist ein 46 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 86 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied und Berlin, 3. Aufl., 1965, S. 123. Es ist evident, dass Lukács hier diese Stelle aus Flauberts Education sentimentale im Blick hat. aufklärerisches Medium, zumindest seiner Möglichkeit nach, ein Medium uni‐ versaler Kommunikation und Verständigung. These 18: Der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts ist fähig, seine eigene Aporie zu erzählen. Die „pragmatische Idee“, dass verwirklichte humane Vernunft möglich sein könnte, schließt immer die Chance ein, dass dieses Projekt scheitert. So stehen am Ende dieser Epoche des literarischen Realismus im 19. Jahrhundert so aus‐ weglos pessimistische Romane, beide von ihren Autoren explizit geplante „Ab‐ dankungen“, wie Thomas Hardys Jude the Obscure (1895) oder Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896): Erzählungen von der Möglichkeit eines sinn‐ vollen Lebens, wie die Welt es hätte notwendig brauchen können, das sie aber real nicht zuließ. Die grundsätzliche Prämisse möglicher eigener Aporie zeigt sich bemerkenswert klar ja eben freilich auch schon am allerersten Anfang von Balzacs Comédie humaine, damit gewissermaßen am Anfang der ganzen Epoche, wenn in Le dernier Napoléon der lange zukünftige Erzählweg durch dieses Oeuvre mit einem „suicide retardé“, einem „verzögerten Selbstmord“ beginnt. Der Autor freilich, der am konsequentesten die Aporie realistischer Weltge‐ staltung als Prinzip dieser Weltsicht, der Autor, der die Aporie des Realismus realistisch erzählt, ist Flaubert. Schon der Romantitel Madame Bovary (1857), eine Kontamination aus „bovine / ochsenhaft dumm“, „ovarium / weiblich“ und „charivari / sinnloser Lärm“, signalisiert, dass diese Romanheldin, die ja noch dazu, im Gegensatz etwa zu Effi Briest, lediglich ihren fremden „anderen“ Namen tragen darf, nie eine „wirkliche“, ihr Selbstverständnis und ihre Ansprüche an die Welt erfüllende Chance, genauer, eine die Idee ihres Autors spiegelnde Chance, gehabt haben wird. Und Flauberts anderer großer Roman L’Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens (1869) hat als End- und Höhepunkt dieser „Lehrjahre“ eine leere halbe Seite, „le grand blanc“, ein „großes weißes Nichts“, in dem allein noch das leere Dahinfließen der Zeit zu hören ist. Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nicht-bewähren-Können der Subjek‐ tivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht stand‐ halten kann. 86 47 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 87 Gustave Flaubert, Oeuvres. Hrsg. Von A. Thibaudet und R. Dumesnil, 2 Bde., Paris 1952, Édition de la Pléiade, Bd. 2, S. 448. 88 Ebd., S. 448f. 89 Erlauben Sie eine kommentierte Übersetzung: „Er reiste [das hier stilistisch auffällige französische passé simple zieht eine unbestimmt lange, vergangene Zeit und wieder‐ holte Tätigkeit zu einem einmaligen abgeschlossenen Ereignis zusammen], er kannte [zugleich: „er lernte kennen“ , und: „er kannte vollkommen und endgültig“] die Melan‐ cholie der Frachtschiffe, das kalte Erwachen unter einem Zelt, die Betäubung durch Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit unterbrochener Sympathie. Er kam zurück. Jahre vergingen [jetzt dauert diese Zeit endlos lang]; und er ertrug es, dass sein Verstand untätig war und sein Herz leer.“ Die Szene vor der Abreise in die große Leere hatte den idealistischen Freund und alternativen Doppelgänger des Romanhelden, einen von mehreren, fallen sehen, bedeutsamer Weise „les bras en croix“, 87 „die Arme zum Kreuz ausge‐ breitet“, erschossen von einem anderen früheren Freund, dem dogmatischen Sozialisten, der zur faschistoiden Gegenpartei des Staatstreichs von 1850 über‐ gewechselt war. Und dem leeren Schweigen folgt eine Art Todesreise: Il voyagea. Il connut la mélancolie des paquebots, les froids réveils sous la tente, l’étourdissement des paysages et des ruines, l’amertume des sympathies interrompues. Il revint. […] Des années passèrent; et il supportait le désoeuvrement de son intelligence et l’inertie de son coeur. 88 Er reiste. Er kannte die Melancholie der Frachtschiffe, das kalte Erwachen unter einem Zelt, die Betäubung durch Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit unterbrochener Sympathie. Er kam zurück. […] Jahre vergingen; und er ertrug es, dass sein Verstand untätig war und sein Herz leer. 89 48 2. Theorie eines literarischen Realismus im 19.Jahrhundert 1 Émile Zola, Le roman experimental (1879/ 1880). Hrsg. von Aimé Guedji. Paris 1971, S. 152. Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, von mir. 3. Von der „menschlichen Bestie“ zum „unbekannten Gott“? - Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne Il y a un fonds de bête humaine chez nous / Wir sind im Grunde menschliche Bestien. (Émile Zola, Le roman expérimental, 1879.) 1 Was heißt eigentlich „Natur“ im so genannten „Naturalismus“? Das war jahre‐ lang eine typische und durchaus nicht ganz leichte „Prüfungsfrage“. Man stellte sie besser nicht gleich zu Beginn des „Prüfungsgesprächs“. Doch jetzt wird sie so etwas wie die Leitfrage dieses ganzen Vortrags sein: Was heißt „Natur“ im Naturalismus? Und es wird sich zeigen, wie kohärent diese Frage, etwa bei Schlüssel-Autoren wie Arno Holz oder eben Zola in die Frage nach ausgespro‐ chen „modernen“ Perspektiven in dieser Literatur übergeht. „Der Naturalismus“ galt ja - die allgemeine Formel lautete: „Epoche, Gattung, Autor“ - als leicht überschaubare Epoche; so wurde daraus ein beliebter „Prü‐ fungs-Schwerpunkt“. Und zur Eröffnung des Gesprächs geeignet war, denn dann konnten die Kandidaten erst einmal losreden, die Anregung (der „Impuls“): „Vergleichen Sie bitte die Dramen Nora oder ein Puppenheim (Et dukkehjem, 1879) von Henrik Ibsen, dann Arno Holz / Johannes Schlaf, Die Familie Selicke (1890) und - wer errät das dritte? - Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang (1889)! “ Das galt - die Studierenden gaben entsprechende Unterlagen untereinander weiter - als eine eher „leichte“ Frage. Aber ist sie das wirklich? Dazu die erste These: These I: Die Schriftsteller des Europäischen Naturalismus gehen von gemeinsamen Voraussetzungen aus, folgern daraus literarisch aber durchaus Verschiedenes. Man versteht zu wenig (und blieb bei einem „Dreier“ hängen), wenn man le‐ diglich die drei Geschichten vergleicht. Gewiss, Ibsens Nora, Holz/ Schlafs Toni und Hauptmanns Helene sind alle gefangen in sozialen und familiären Situ‐ 2 Die Diskussion im Anschluss an einen Augsburger Vortrag von Eva Matthes (Henrik Ibsen „Nora oder Ein Puppenheim“. In: H.V. Geppert [Hrsg.], Große Werke der Literatur IX. Tübingen und Basel 2006, S. 61-73) war erbittert („haben Sie selbst Kinder? “), dauerte lange und kreiste vor allem um die Frage: „Darf die so was tun? “. ationen, die sie menschlich erdrücken, erdrücken vor allem in ihrem weiblichen Selbstbewusstsein. Dieser „Milieudeterminismus“ wäre gleich eine dieser ge‐ nannten Gemeinsamkeiten. Die oben in Titel und Motto dieses Vortrags ge‐ nannte „tierische“ Natur des Menschen, das Körperlich-Triebhafte, wäre eine weiteres, weithin gemeinsames Thema, hier beispielsweise vertreten durch die Handlungs-Motive „Alkoholismus“ (eine Art „Hunger“, oder? ) und „Sex“; man denke nur an die betrunkenen Väter, die sich an die Töchter heran machen, und so fort. Aber wenn Nora am Ende des Dramas Mann und Kind verlässt - sei‐ nerzeit und womöglich noch heute ein Skandal -, 2 wenn Toni aus Verantwor‐ tung für ihre Familie ihre Lage akzeptiert und ihrem Geliebten nicht in die Frei‐ heit folgt, und wenn Helene, weil der Mann, der ihre Hoffnung gewesen war, sie verlassen hat, und wenn sie sich ersticht, - ja was sollen wir dann noch weiter dazu sagen? Mal geht es so aus, mal so? Die eine hat Recht, die andere nicht? In Norwegen waren die Frauen emanzipierter als in Deutschland? Ibsen traut ihnen den Schritt in die Freiheit zu, Hauptmann immerhin den Protest des Suizids, Holz allenfalls die Verantwortung, noch dazu eine ganz passive? Und so weiter, und so weiter, „als ob“ das „irgendwie“ sich so „wirklich“ ereignet hätte? Wir sind im Theater. Wenn der Vorhang gefallen ist, ist die Geschichte vorbei und wir gehen wieder. Und wir erinnern uns vor allem an „starke“, eindrucks‐ volle Szenen, z. B. dass Nora die Tarantella tanzt, meistens mehr als an den Schluss. Auf alle Fälle gilt: Es kommt auf das jeweils ganze Drama an, seine Struktur und intendierte Wirkung, nicht lediglich auf den Ausgang der Hand‐ lung. Die drei Dramen gehen von vergleichbaren Voraussetzungen aus, aber folgen verschiedenen Diskursen: Das Zusammenwirken literarischer und the‐ atralischer Mittel folgt unterschiedlichen Argumentations-Strategien und zielt auf verschiedene Wirkungskonzepte; die Dramen wollen die Zuschauer auf ganz verschiedene Weise ansprechen. So müssen sie ja auch ganz verschieden insze‐ niert und gespielt werden. Erlauben Sie dazu ein paar anschauliche, ja, wenn Sie wollen, durchaus plakative Vorschläge: Wenn die „Kindfrau“ Nora auf der Bühne zur selbstbewussten Persönlichkeit heran reift, dies ist ja eine bei Schauspielerinnen sehr beliebte Rolle, dann soll die Inszenierung die Zuschauer, weibliche wie männliche, mitnehmen. Mit‐ nehmen aber heißt nicht lediglich Identifikation oder Vorbild. Am Ende, wenn der Vorhang gefallen ist, soll das Publikum „mit Nora“ jeweils „bei sich“ sein: Dass Nora ihre Kinder zurücklässt, ist dann nicht mehr einfach übertragbar. So 50 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 3 Henrik Ibsen, Dramen. In den vom Dichter autorisierten Übersetzungen. Sonderausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 806 - 808 und 830. 4 Arno Holz und Johannes Schlaf, Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart 1966, S. 5 und 65. 5 Ebd., S. 66. haben ja auch die Dialoge in den letzten Szenen eher „gestische“ Bedeutung: Sie sind ein großes Weggehen. Das letzte Argument, das „Wunderbare“, ist so vage, dass es nur noch eine offene Zukunft bezeichnen kann, eher „das Unbekannte“ als „das Wunderbare“. Und die eigentliche Wende in Noras Emanzipationspro‐ zess war ja eine ästhetische gewesen. Noras Protest gewinnt Kraft, wenn sie so „wild“ und mit „Leidenschaft“ die Tarantella tanzt, „als ginge es [ihr] ans Leben“ - und „das tut es auch“, wie sie selbst sagt, aber eben im Sinne eines „anderen Lebens“, eines Neuanfangs: Spiel im Spiel, Bühne auf der Bühne. Vergessen wir nicht: Der eigentliche Tanz, nach dem nichts mehr ist, wie vorher, findet gar nicht auf der Bühne statt, wir müssen ihn uns verstellen, imaginativ sozusagen selbst tanzen. Wenn Nora endgültig weggeht, muss das als Akt der Befreiung inszeniert werden, der über die Bühne hinaus reicht, also etwa „proxemisch“ (von Bewegungen getragen), wenn Nora lange und langsam und fast tänzerisch schreitet, oder indem vielleicht eine Treppe durch den Saal führt, oder emotional-musikalisch, durch Tarantella-Musik im Hintergrund, oder ir‐ gendwie „empathisch“, das Publikum zum Mitfühlen auffordernd, bis dann zu‐ letzt „die Haustür dröhnend ins Schloß fällt“. 3 Wie auch immer: Die schiere Energie von Noras Denken und Fühlen, auch ihre erotische Ausstrahlung, soll sich den Zuschauern und Zuschauerinnen mitteilen. Und das ist „Methexis“, Teilhabe, eigentlich, und wie im Tanz, Teilhabe an einem Lebensrhythmus, Teil‐ habe an Entscheidungen, eine Teilhabe, die über die „Mimesis“ modellhafter Handlung hinausgeht. Ganz anders die Familie Selicke: Wir sehen und begreifen einen Winkel Ber‐ liner Alltagsrealität um 1890, und dies von Anfang an distanziert, auf einer „Guckkastenbühne“: Hier hat sich dies und das schlimm entwickelt. Man schaut den Personen über die Schulter und hört „hinter“ ihren Dialogen und durch ihre Sprache hindurch Wahrheiten, die sie sich selbst verbergen. Der Schluss ist nicht offen wie in Nora, sondern („Ach Gott ja! […] Ach Gott ja! “ am Anfang und am Ende) 4 auf fast kreisende und provozierende Weise statisch. Die Verheißung: „Ich komme wieder“, 5 wirkt leer, nicht nur beliebig, wie „das Wunderbare“ in Nora, sondern geradezu als ein inszeniertes Verstummen. Wo Nora die Bühne überschreitet und das Publikum mitnimmt, sinkt Toni in die Bühne zurück. Die analytische Distanz wächst am Ende eher noch. Und man kann folgern: Es gibt noch viele solche Winkel. Könnte man sich nicht vorstellen, und das wäre eine 51 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 6 Etwa so wie der „Titeltrick“ in Rainer Werner Fassbinders Fernsehfassung von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1980), vgl. Rainer Werner Fassbinder und Harry Baer, Der Film BERLIN-Alexanderplatz. Ein Arbeitsjournal. Frankfurt a. M. 1980, S. 22-25. 7 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk. Hrsg. von Hans-Egon Hass, 8 Bde., Frank‐ furt, Berlin, Wien 1974, Bd. 1, S. 147. 8 Ebd., S. 227f., vgl. S. 226ff. völlig andere Inszenierung, als sie Nora verlangte, dass Bühne und Schauspieler am Ende - technisch geht das ja inzwischen durchaus - Teil einer Videoinstal‐ lation werden, die viele andere Großstadtszenen gleichzeitig zeigt? 6 Es gilt, das sollen die Zuschauer mitnehmen, das Einzelne und viele Einzelne darum herum kennen zu lernen und sie von Fall zu Fall zu verstehen und zu verbessern. Und Hauptmann? Seine Dramen schließen oft mit großen Gesten. Nicht nur die Namen „Loth“ oder „Helene“ haben etwas Mythisches. Die Personen des Dramas folgen hier immer ihren jeweiligen, sei es äußerlich bestimmten oder, wie es im Text heißt, ihren „inneren Gesetzen“: Dass jemand so „gewissenhaft“ war, dass er „sich eben erschossen“ hat, 7 ist der erste wesentliche Gesprächsin‐ halt, und so fort. Insbesondere Loth kennt, wie sein Name sagt, nur eine gerade Linie und wie sein biblisches Vorbild keine Umkehr. Am Ende - so stelle ich mir das vor - wird die Bühne nahezu dunkel, man hört, wie einen antik-schicksal‐ haften, hier allerdings völlig wirren Chor, die Stimmen der „ununterbrochen schreienden“ Magd und des betrunkenen Vaters („Gald […] a poar hibsche Töchter“ usw.); 8 und vor dem inneren Auge der Zuschauer stehen nur noch die Gestalten menschlicher Erschütterung groß und einsam da: die Mutter mit ihrem toten Kind und die Selbstmörderin. Das ist immer noch eine klassische „Katharsis“, die das Publikum erfahren soll, eine „Reinigung“ des Gemüts, indem es erschüttert wird. Aber es ist kein lebendiges Wertesystem, wie etwa in der Antike, oder bei Racine oder bei Schiller, das sich hier durchsetzt und zu dem die „Katharsis“ führen soll. Dieser Mythos ist ein rätselhaftes Verhängnis, und es bleibt völlig offen, ob die „Erschütterung“ im Drama ihn vollziehen oder zerbrechen wird. Und dann: Sind nicht dieser rätselhaft offene Mythos, oder die „Polyhistorie“ nach dem Drama bei Arno Holz, oder die letztlich „negative Ästhetik“ und die Anrufung des „Unbekannten“ bei Ibsen, sind das nicht alles bereits Signaturen der Moderne, in die diese „naturalistischen“ Dramen, besser, Dramen, die natu‐ ralistisch begonnen haben, tendenziell übergehen? Auf alle Fälle gezeigt hat sich doch wohl dies: Die literarischen Diskurse, die auf gemeinsame Voraussetzungen antworten, gehen in verschiedene Rich‐ tungen auseinander. Und dieses Modell „kontrafaktischer“ Gemeinsamkeit (ge‐ meinsame Voraussetzungen, unterschiedliche Folgerungen) lässt sich auf noch 52 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 9 Anton Tschechow, Die Möwe. Dt. von Kay Borowski, Stuttgart 1975, S. 64. Auch der „Strudel“, ein dynamisches, wegtreibendes und hinunterziehendes „Gefängnis“ (vgl. George Gissings Roman The Whirlpool, 1897), gehört so zu einer für diese Epoche ty‐ pischen „Krisensignatur“ (vgl. unten These V). 10 Ebd., S. 66. 11 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 3, S. 351 und 378 ( der Beginn der Re‐ gieanweisungen zum ersten und dritten Akt). viele weitere Geschichten gesellschaftlich „eingesperrter“ Frauen in dieser Epoche anwenden: August Strindbergs Fräulein Julie (Fröken Julie, 1888), in dem das adlige „Fräulein“ über ihren Privilegien und Restriktionen sich und ihre Welt nicht mehr versteht, argumentiert bereits mit Absurditäten. In Anton Tsche‐ chows Die Möwe (Čajka, 1898) - der Titel setzt allerdings das Freiheitssymbol negativ zum Dramengeschehen - gewinnt die Heldin in den Täuschungen und Zwängen, im „Strudel“ 9 der Welt - ein Strudel ist ein dynamisches Gefängnis, oder? -, ihre innere Freiheit und findet vor allem ihr künstlerisches Selbstbe‐ wusstsein („wenn ich an meine Berufung denke, habe ich keine Angst mehr vor dem Leben“). 10 In Gerhart Hauptmanns Rose Berndt (1903) verkörpern die Frauen im Bund mit der so betont „fruchtbaren Landschaft“ 11 einen weiblich-mütterli‐ chen Gegenentwurf zum Gefängnis der Vorurteile und Abhängigkeiten. Und diesen „Mutter-Mythos“ können die verhängnisvollen Täuschungen, Missver‐ stände und Kurzschlüsse der Handlung nicht negieren. Man könnte sich diese Epoche als Modell einer Gemeinsamkeit vieler Schnitt‐ mengen vorstellen, oder, wenn man will - so deuteten Studierende mein Dia‐ gramm -, als einen Kreis von Leuten, die an einem gemeinsamen Tisch sitzen: 53 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 12 Und es ist diese teils gemeinsame, teils widersprüchliche Vielfalt, die etwa Fontanes „Metonymiene des Naturalismus“ (vgl. unten Kap. 5) zum Sprechen bringt. 13 Thomas Hardy, Tess of the d’Urbervilles. A Pure Women. Hg. von David Skilton, Har‐ mondsworth 1978, in der Reihenfolge der Zitate, S. 300, 324, 486, 485. Und so lassen sich dann auch mehrere Gattungen zusammen sehen. In der deut‐ schen Literatur dieser Zeit fehlt zwar ein naturalistischer Roman von Niveau, daran leidet die Germanistik bis heute, es dominiert das Drama. Aber die großen europäischen Romane im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nehmen vielfach naturalistische Themen und Formen wahr. Sie erzählen schon, bevor das Drama einsetzt, und sie erzählen weiter, nachdem es abbricht. Das macht sie auch für das Drama relevant. In vergleichender Perspektive ist der Roman die wesent‐ liche Leitgattung dieser Epoche, insbesondere eben ihrer Vielfalt. 12 . Der Roman sagt uns, was „Naturalismus“ ausmacht. So werden etwa die Konflikte aus Rose Berndt (1903), die auch in Vor Sonnenaufgang hinter dem sichtbaren Drama stehen - von der Verführung zum Selbstmord - in Thomas Hardys Roman Tess of the d’Urbervilles (1891) bereits differenzierter und härter - von der Vergewal‐ tigung zur Hinrichtung -, aber letztlich in vergleichbarer Argumentation er‐ zählt: Das „pure women“, so der Untertitel, behauptet sich - oder besser: soll sich im Urteil der Leser behaupten - gegen das bewegliche und zugleich unentrinn‐ bare „Gefängnis“ - man denke an die nachtwandlerische Szene, wenn Tess le‐ bendig in den Sarg gelegt wird (Kap. XXXVII) -, ein Gefängnis von Abhängig‐ keiten („I will obey you like your wretched slave“), von Lebens- und Arbeits-Zwängen und vor allem von männlichen Privilegien und Vorurteilen („there is that which I cannot endure“), ein Gefängnis, das der Aufstand der „reinen“ Kreatur nicht durchbrechen kann („they all closed in with evident pur‐ pose“), das aber gegenüber dem geradezu natur-mythischen Opfer („sacrifice […] to the sun“) und eben gegenüber der „Anrufung“ der „reinen Natur“ letztlich nicht Recht behält, nicht Recht behalten darf. 13 Ganz anders, analytisch, relativierend und differenzierend argumentiert ein zeitlich benachbarter anderer englischer Roman. In George Gissings The Odd Women (1893) geht es durchaus „naturalistisch“ um Arbeit, um genau berech‐ nete, kleinbürgerlich enge Lebenshaltungs-Kosten, um Klassenunterschiede, Alkoholismus, bürgerliche Vorurteile, ein ungewolltes Kind usw., aber auch um real-idealistische Projekte weiblicher Bildung und Emanzipation. Wirkt das nicht wie ein vergrößernder Kommentar zu Arno Holz’ Familie Selicke? Die beiden alternativen Heldinnen befinden sich in diesem Geflecht von Konditi‐ onierungen beide in Situationen, die „odd“, unpassend sind. Weder gibt weib‐ liche Anpassung hier die Antwort („she despised herself, and hated him fort the degradation which resultet from his lordship over her“), noch kann sich weib‐ 54 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 14 George Gissing, The Odd Women. Hrsg. von Patricia Ingham, Oxford / New York 2000, in der Reihenfolge der Zitate S. 234, 36, 44, 152 (im Original kursiv). 15 Giovanni Verga, I Malavoglia. Hrsg. von Sarah Zappulla Muscarà, Milano 1982-1987, S. 299 / Die Malavoglia. Dt. von René König, Frankfurt 1982, S. 295 (das unnötige „wie“ in dieser Übersetzung habe ich entfernt, da es die Metapher abschwächt, auf deren Härte es ja gerade ankommt). 16 Ebd., S. 300 und 297. 17 Zu Fontanes „Effi Briests armen Schwestern“ im Kontext des Europäischen Natura‐ lismus vgl. unten Kap. 5. 18 „Kontrafaktische“ ist eine Aussage, wenn die Voraussetzung der Folge widersprechen kann, etwa im Fall der „notwendigen“ aber nicht „hinreichenden“ Bedingung. liche Emanzipation („she is quite like a man […] hard-heartet“) gegen die Falle von Vorurteilen behaupten, die, durch Missverständnisse ausgelöst, sich unent‐ rinnbar schließt. Hier geht es nicht um tiefere menschliche Tragik wie bei Hardy oder Hauptmann. Mythen und Symbole sagen hier nichts. Die Aporie der Frauen ist eine der noch nicht und nicht genug erarbeiteten Bildungs-Emanzipation, an deren Zukunft kein Zweifel besteht: „Women in general shall become rational and responsible human beings“.   14 So könnte man sich immer weiter und weiter umsehen. Zu denken wäre etwa, um noch zwei weltliterarische Beispiele zu nennen, an die Kontrast-Entspre‐ chungen in Émile Zolas Les Rougon Macquart / Die Rougon-Macquart (1871- 1893): Gervaise Macquart-Lantier, eingezwängt in immer engere, immer ärmere soziale Räume, zuletzt in einen Verschlag unter der Treppe (L’Assommoir / Der Totschläger [Die Schnapsbude], 1876), und ihr entgegengesetzt und doch ver‐ gleichbar Renée Rougon (La curée / Die Beute, 1872) in ihrem neureich deka‐ denten Käfig. Aber andere „Zweige“ der Familie werden überleben und frei und stark sein. Nena in Giovanni Vergas Roman I Malavoglia / Die Malavoglia (1881) ist in den Traditionen und Zwängen ihrer sizilianischen Fischerfamilie innerlich so gefangen wie äußerlich in dem „Haus mit dem Mispelbaum“, so dass vom Anfang bis zum Ende der Geschichte ihr „Herz […] in einem Schraubstock ein‐ gezwängt“ bleibt („il cuore stretto in una morsa“). 15 Aber ihre Schicksale und die ihrer Familie spielen vor dem Hintergrund des offenen und unberechenbaren Meeres: „Il mare non ha paese […] ed è di tutti / das Meer hat keine Heimat, und es gehört allen“ 16 - Symbol einer großen unbekannten Alternative zu all den sozialen und mentalen Zwängen, so unbekannt, wie Noras weitere Schicksale bei Ibsen und „das Wunderbare“, auf das sie hofft, oder wie das „unbekannte Kind“ und der „unbekannte Gott“, mit deren Anrufung Émile Zola seinen Rougon-Macquart-Zyklus schließt. Wir müssen hier abbrechen, 17 denn es geht ja lediglich um die These als solche, die These einer „multipel-kontrafaktischen“ 18 Epochen-Struktur - ir‐ 55 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 19 Émile Zola, Le roman expérimental, in der Reihenfolge der Zitate S. 59, 60, 64, 70, 81. 20 Ebd., S. 140. Allerdings fährt Zola fort: „Si nous en restons là, nous n’irons pas loin / Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir nicht weit kommen“. gendwann muss dieser Vortrag ja mal wie Theorie klingen -, einer vielfältigen Gemeinsamkeit der Voraussetzungen und offenen Verschiedenheit der Folge‐ rungen im europäischen Naturalismus. Immer wieder trifft man in dieser lite‐ rarischen Epoche auf gemeinsame, zumindest vergleichbare Situationen, die harte soziale und mentale Realität des späten 19. Jahrhunderts, die aber ganz verschieden, bis hin zum „Antinaturalismus“ und zu vielfältigen Übergängen zur literarischen Moderne, forterzählt werden. These II: Die Naturalisten experimentieren mit Systemen. Mit dem Programm, bzw. „der Vorstellung einer Literatur, die von der Wissen‐ schaft geleitet wird / l’idée d’une littérature déterminée par la science“, mit diesem Stichwort beginnt Émile Zola 1879 seine wichtigste literaturtheoretische Schrift: Le roman expérimental / Der experimentelle Roman. Und „Determi‐ nismus“, so liest man gleich darauf, ist „die Ursache, die die Erscheinung der Phänomene determiniert / ‚déterminisme’ […] la cause qui détermine l’appari‐ tion des phénomènes“. Das literarische Experiment, das so entsteht, ist dann - und das scheint mir jetzt sehr wichtig - eines des Aufzeigens, des Demonstrie‐ rens, des Sichtbar-Machens dieses „Determinismus“: „une expérience pour voir.“ Es geht um die Demonstration von Gesetzmäßigkeiten, nicht um deren Entde‐ ckung oder das Aufzeigen von Sachverhalten. Denn „tout se tient / alles hängt mit allem zusammen“: 19 die klassische Definition eines Systems. So gesehen wäre eine „wissenschaftlich geleitete Literatur“ ein fiktionales, experimentelles Durchspielen eines hypothetischen Systems determinierender Faktoren, eines Systems, das von den Naturwissenschaften („la science“) auf die Literatur über‐ tragen wurde, und dessen Auswirkungen die Literatur simuliert und demonst‐ riert („expériment pour voir“), durchaus so wie etwa ein Chemielehrer vor der Klasse ein „Experiment“ veranstaltet. „Was heißt ‚Natur’ im Naturalismus? “ Wenn wir diese Standart-Frage präzi‐ sieren zu: Was heißt ‚Natur’ in Zolas Formel: „un coin de la nature vu à travers un tempérament / ein Winkel Natur durch ein Temperament hindurch gesehen“ [so die wörtliche Übersetzung; besser wäre], „ein Ausschnitt der Natur, wie ihn einzelne Menschen erfahren“? , 20 dann könnten wir eine erste Antwort geben: „Natur“, das sind für Zola in erster Linie Naturgesetze, Gesetze als hypothetisches System begriffen. Und das bedeutet dann sogleich etwas völlig anderes, als die „Natur“ in Arno Holz’ wörtlich, aber nicht sinngemäß, von Zola übernommener, also produktiv missverstandener, aber zu großer Wirkung weiterentwickelter 56 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 21 Vgl. dazu unten These IV. 22 Émile Zola, La bête humaine. Hrsg. von Robert A. Jouanny, Paris 1972, S. 381f. 23 Émile Zola, Une page d’amour. Hrsg. von Colette Becker, Paris 1973, S. 364f. 24 Ebd. 25 Obwohl er der jüngere ist, wird er zuerst und nach „oben“ führend eingezeichnet. Er vertritt eine „höherwertige“ Entwicklungsmöglichkeit (vgl. ebd., S. 365). Formel: „Kunst = Natur - x“, auf die ich - keine Sorge! - noch eingehen werde. 21 Entscheidend ist für Zola der systematische Zusammenhang der Natur‐ gesetze, nicht deren je einzelne positive Richtigkeit. Hier erlaubt Zola sich ja phantastische Phänomene, etwa, dass ein unglücklich verliebtes Mädchen sich durch den Duft vieler Blumen selbst töten kann (La faute de l’abbé Mouret / Die Schuld des Pfarrers Mouret, 1875), oder dass ein alter Trunkenbold sich mit der Glut seiner Pfeife selbst entzündet (Le docteur Pascal / Doktor Pascal, 1893), oder die berühmte, völlig phantastische Schluss-Szene des Eisenbahner- und Trieb‐ mörder-Romans La bête humaine / Bestie Mensch (1890), dass ein Eisenbahnzug als ein „train fantôme / ein Phantom-Zug“ ohne Kohle und ohne Lokomotiv‐ führer endlos weiter fahren kann - voller betrunkener Soldaten, die 1870 an die Front fahren. 22 Entscheidend ist das Denken, Sehen, Vorstellen und Demonst‐ rieren von Gesetzmäßigkeiten, von Systemen, und das erzählende Experimen‐ tieren mit ihnen. So spielt, um gleich dieses schlechthin zentrale Werk des europäischen Na‐ turalismus, den Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893) weiter vorzu‐ stellen, Zola mit systematisch-gesetzmäßig vorgegebenen Möglichkeiten, näm‐ lich mit der Kombination von Erbfaktoren, die sich ableiten lassen aus einer weiblichen (Adelaide) und zwei männlichen „Erbmassen“ (Rougon und Mac‐ quart). Und nicht nur das. Folgt man dem, im Anhang zum Roman Une page d’amour / Ein Blatt Liebe (1878) veröffentlichten Stammbaum, 23 dann sucht Zola auch die Ergebnisse dieser „Prägungen“, also die einzelnen Mitglieder der Fa‐ milie systematisch, als ein System von Oppositionen auszuarbeiten: reich und arm, bürgerlich und proletarisch, gesund und krank, Minister und Revolutionär, „ehrbar“ und kriminell, genial und „imbécile“ und so fort. Und es handelt sich um ein System, das sowohl hypothetisch, als auch endlich ist. Es kann in sich selbst neutralisiert werden. Interessant sind hier z. B. die Ergänzungen, die Zola später zu diesem Plan hinzugefügt hat, und die immer das Bedürfnis zeigen, das System zu bewahren und zu vervollständigen. So wurde etwa der „Hure“ Anna Coupeau (Nana, 1880), deren „état de vice / Zustand des Lasters“ schon früh geplant war, 24 die im Stammbaum von 1878 noch nicht vorgesehene „Heilige“ Angélique (Le Rêve / Der Traum, 1888) entgegengesetzt. Vergleichbar sollten die beiden Söhne der Gervaise Macquart, Claude, der Künstler, 25 und Étienne Lan‐ 57 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 26 Émile Zola, La fortune des Rougon. Hrsg. von Robert Ricatte, Paris 1969, S. 104. 27 Vgl. unten These VII: Das Unbekannte - Naturalismus und Moderne. tier, der Arbeiter, die Systemstellen „Genie“ und „Triebmörder“ besetzen. Aber im Verlauf der Romane Le ventre de Paris / Der Bauch von Paris (1873) und vor allem Germinal (März bzw. Keimmonat, 1885) hatte sich Étienne als Arbeiter‐ führer zu „edel“ entwickelt, um als Mörder zu enden. Er erhält in den Kolonien eine neue Chance. Statt seiner wurde, wie in einer heutigen „Soap-Opera“, in der es immer einen Bösewicht geben muss, um die System-Stelle auszufüllen, ein früherer Sohn Gervaises, Jacques Lantier, nachträglich hinzu erfunden und eingeführt, der dann diesen erblich angelegten Trieb in einem Umfeld vieler weiterer „Mörder“ ausleben muss (La bête humaine / Bestie Mensch, 1890). Und dass das System hypothetisch und begrenzt funktioniert, zeigt von Anfang an die Figur des Pascal Rougon (La fortune des Rougon / das Glück [Vermögen] der Rougons, 1870/ 1871), der einen, wenn man so sagen darf, völlig edlen und völlig gesunden Gegenpol zu der ganzen Familie darstellt. In ihm haben sich die Erb-Faktoren in der Tat neutralisiert: Rien au moral ni au physique ne rappelait les Rougon chez Pascal. [Il] ne paraissait pas appartenir à la famille. C’était un de ces cas fréquents qui font mentir les lois de l’hérédité. / Nichts im Aussehen und im Charakter Pascals erinnerte an die Rougons. Er schien nicht zur Familie zu gehören. So werden oft die Gesetze der Vererbung Lügen gestraft. So wie Pascal direkt aus den noch über dem System stehenden, sozusagen „meta-systematischen“, „forces créatrices [de] la nature / schöpferischen Kräften der Natur“ 26 hervorgegangen ist, so wird er selbst zuletzt (Le docteur Pascal / Doktor Pascal , 1893) das System aus sich selbst heraus überwinden: Er zeugt mit seiner Nichte einen Sohn, eine Art „Erlöser“, dessen Zukunft völlig offen ist; und - womit er dann völlig zum Sprachrohr seines Autors wird - er will auch the‐ oretisch das hypothetisch-systematische Experiment des Roman-Zyklus in das unbekannte und regellose „Leben“ hinein aufheben. 27 Systematisch aufgebaut ist oft, nahezu immer, die naturalistische Bühne. In Strindbergs Der Vater (Fadren, 1887) bezeichnet die Opposition von Szene und „off stage“ die Feindschaft von männlicher und weiblicher Welt. In Ibsens Die Wildente (Vildanden, 1884) steht der sichtbare Bühnenraum, die bürgerliche Wohnung, für das Bewusstsein, damit auch für Täuschungen, ja für die „Le‐ benslüge“, der unsichtbare, aber in den Dialogen präsente Dachboden steht für die verdrängten Probleme und deren Verhängnis. Mehrfach systematisch-anti‐ thetisch ist die Bühne in Hauptmanns Die Weber (1892) aufgebaut: Die Weber 58 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 28 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 2, S. 455. 29 Ebd., S. 531. 30 Ebd., S. 456. 31 Arnold Bennett, Anna of the Five Towns. Harmondsworth 1988, S. 121. warten rechts, gehen dann nach links zur Bühnenmitte, geben ihre Ware zur Prüfung und zum Wiegen ab, gehen weiter, um ihr Geld zu erhalten, und dann gehen sie wieder in die Gegenrichtung ab; alles ist genau geregelt. Darin glei‐ chen sie dann, wie der Autor anweist, Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. 28 Denn der quer die Bühne teilende Tisch, vor den die Weber nacheinander treten, fügt zur Opposition von „links“ und „rechts“ auch die von „vorn“ und „hinten“ hinzu, die sich raum-symbolisch zur Opposition von „unten“ und „oben“ über‐ höht: ein vollständiges System. Denn der Tisch bedeutet die räumlich-systema‐ tische Grenze zwischen Macht und Ohnmacht. Und wie manchmal in der baro‐ cken Bühne gibt es eine sich öffnende hintere Wand, die die Stelle einer Art Transzendenz einnimmt: das Arbeitszimmer des Fabrikanten selbst. Aber diese Transzendenz ist leer. Der auftretende Direktor bestätigt und verfestigt vielmehr gerade die Gesetzmäßigkeit der Szene: Aus dem System von Arbeit und Aus‐ beutung gibt es keinen Ausweg - einzig am Ende des Dramas die Alternativen eines absurden Glaubens und einer absurden Revolution („die springt vor a Ba‐ jonettern rum, wie wenn se zur Musicke tanzen tät“ 29 ). Aber das Absurde ist selbst eine alternative, „kontrafaktische“, mögliche Folgerung des Naturalismus. Das „Unbekannte“ bei Zola, das „Absurde“ bei Hauptmann, werden da nicht zwei, und ganz verschiedene, Wege zur literarischen Moderne markiert? These III: Die romantische Natur schaut zum Fenster herein. In den ausführlichen Anweisungen zu dieser eben untersuchten Anfangs-Szene der Weber merkt Hauptmann ausdrücklich an, wie hübsch („nicht ohne Reiz“) die halb verhungerten Webermädchen sein können: grazil, mit „zarten Formen“, blass (damals noch ein Schönheits-Ideal), und „mit großen Augen“. 30 Ver‐ gleichbar liest man etwa bei Arnold Bennet (Anna of the Five Towns, 1902), dass die Porzellan-Malerinnen in der Fabrik vom Einatmen der giftigen Farben be‐ sonders schön werden („enjoy a general reputation for beauty“), dass sie volle Lippen, glänzende Augen und seidige Haare bekommen, und dass ihre gefähr‐ liche Arbeit sie mit einem „frivolous charme“ umgibt. 31 Oder man denke daran, dass Cathérine für Étienne Lantier bei der schweren und schmutzigen Arbeit im Bergwerk (Germinal, 1885) erst dann zur „eigentümlich reizvollen Erscheinung“ 59 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 32 Émile Zola, Germinal. Hrsg. von Adeline Wrona, Paris 2008, S. 48. 33 Prosa des Naturalismus. Hrsg. von Gerhard Schulz, Stuttgart 1973, S. 55-63, S. 63. 34 Arno Holz / Johannes Schlaf, Die Familie Selicke, S. 30f. und 39 f. 35 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk in 10 Einzelbänden. Hrsg. von Ulrich Lauterbach, Frankfurt / Berlin / Wien 1981, S. 44. wird („elle lui semblait d’un charme singulier ), 32 wenn sie vom Kohlenstaub schwarz ist und das Weiß ihrer Zähne und das „Grünlich-Katzenhafte“ ihrer „vergrößerten“ Augen umso mehr leuchten. Das ist ein auffällig gemeinsames Motiv: Das plötzliche Auftauchen weiblicher Schönheit in einem Kontext letzt‐ lich unmenschlicher Arbeit wirkt wie eine Erinnerung und ein kleiner, fast ver‐ zweifelter Protest. Erinnert und fordert es nicht eine „schöne“, ja liebende Natur, in der und mit der die Menschen in Harmonie leben könnten? „Alles ist gut, geht es aus den Händen der Natur hervor; alles entartet unter den Händen des Menschen“: Mit diesem Zitat aus Jean Jacques Rousseaus sei‐ nerzeit alternativem Erziehungsroman Émile (1762) schließt Max Kretzer seine gesellschaftskritische Erzählung Die Engelmacherin (1888). 33 Auch dies erinnert an eine „andere“ Natur als die berechenbare und gesetzmäßige Natur der Na‐ turwissenschaften und ihrer wirtschaftlichen und technischen Folgerungen. Und auf diese, hier der Einfachheit halber „romantisch“ genannte Natur - es kommt ja eben vor allem auf die Alternative an, wenn man fragt: Was heißt „Natur“ im Naturalismus? - trifft man in der Literatur dieser Epoche auf Schritt und Tritt. Sie steht nie im Mittelpunkt, ist aber an der räumlichen und mentalen Peripherie immer wieder auf bedeutsame Weise präsent, zu oft präsent, um be‐ liebig zu bleiben. In die sozialen Gefängnisse, die hier so oft entworfen werden, schaut die romantische Natur gewissermaßen „zum Fenster herein“. Dabei ist, wie gesagt, der Kontrast als solcher wichtiger, als das jeweilige Aussehen dieser alternativen Natur. Exemplarisch wären z. B. die einander kor‐ respondierenden Tagträume des sich selbst betrügenden Wendt und des tod‐ kranken Linchens in Familie Selicke, Träume von einer „schönen“ Welt und „ganz andren Menschen“ bzw. von einem Leben „auf [dem] Land“, wo es „immer“ genug zu „essen“ gäbe und die Kinder es „gut hätt[en]“. 34 Das Konven‐ tionell-Idyllische in alledem macht die Alternative sofort hilflos, aber es macht die Sehnsucht nach ihr authentisch. Vergleichbares gilt etwa für die von „hei‐ ligem“ 35 All-Leben erfüllte Naturwelt im Waldes- und Seeleninneren - die Ro‐ mantik lässt grüßen - in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888), oder für den einen einzigen Tag, an dem drei Personen in George Gissings The Nether World ( 1889) den „pest-stricken regions of East London“ entfliehen können, und an dem vor allem die Romanheldin an einem Wendepunkt ihres Lebens, zwi‐ schen dem Druck der Vernachlässigung und dem Sog der illusionär-idealisti‐ 60 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 36 George Gissing, The Nether World. Hrsg. Von Stephen Gill, Oxford / New York, 1992, in der Reihenfolge der Zitate S. 164, 139, 165, 166. 37 Die Publikation in einer Zeitschrift (28.6. - 11.8.1870) wurde durch den Krieg unter‐ brochen und 1871 fortgesetzt, im Oktober 1871 erschien der Roman als Buch. 38 Émile Zola, La fortune des Rougon, S. 38. (Im Französischen klingen „la mer“, das Meer, und „la mère“, die Mutter, genau gleich, was der auffälligen Metapher einen mythischen Unterton gibt.) schen Überforderung, „[she who] had been meant by nature for one of the most joyous among children“, in einer Umwelt, „where man and beast seem on good terms with each other, where all green things grow in abundance“ und in „pure air“ ihre inneren „pure instincts“ im Einklang sehen kann mit „the sweetness of the hour“. 36 All das darf sie nur im Vorübergehen erleben - in der Tat wie einen kurzen Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zugs -, aus dem die Leser freilich immer wieder und viel intensiver „hinaus schauen“ dürfen als die Romanperson. Eine „Natur“ im Sinne Rousseaus und der Romantik, allerdings auch hier und erst Recht in einem immer „kontra-determinierten“, gebrochenen Sinn zu ver‐ stehen, durchzieht in vielen Formen Zolas Rougon-Macquart-Zyklus. So wie in Familie Selicke zwei verschiedene Personen imaginativ durch dasselbe „Fenster“ hinaus sehen können, so werden diese alternativen Natur-Szenerien bei Zola im Einzelnen jeweils, allerdings nur für die Handlung, sofort getilgt; erst ihr Zu‐ sammenhang im Ganzen gibt ihnen, der Großschrift auf einer Karte ver‐ gleichbar, ihre Bedeutung - für den Diskurs. Der erste Roman der Serie, La fortune des Rougon / Das Glück [bzw. Vermögen] der Rougons (1870/ 1871), 37 noch bevor die Vorgeschichte der Familie und ihres Systems von Erbgut und Milieu aufgebaut wird, beginnt zwar auf einem „terrain vague“ / einem „Brachland“, aber dieser Raum enthält buchstäblich einen „Subtext“ unter sich: einen ver‐ wilderten früheren Friedhof, der von Attributen wie „fertilité formidable / un‐ geheure Fruchtbarkeit“ oder „vie ardente des herbes et des fleurs / leidenschaft‐ liches Leben der Kräuter und der Blumen“ geprägt ist. In der ersten Anfangsszene treten die beiden ersten Helden der ganzen Serie, Silvère, „der Waldige“, und Miette, „die Erdkrume“, aus dieser wuchernden Natur- und Nacht-Welt - „une mer d’un vert sombre profonde piquée de fleurs larges / ein dunkelgrünes Meer, von großen Blumen übersäht“ 38 heraus auf die Bühne ihrer tragischen politischen und sozialen Geschichte; und es wirkt so, als verließen sie ihre eigentliche Heimat. Eine „herrliche Kinderwelt“ („un coin d’adorable enfance“), von Sonne, frischer Luft, Vogelgesang und Blumduft erfüllt, aber doch nur eine Insel in einem kalten, „toten Gebäude“ („cette maison morte“), lange schon verlassen und nur noch in der Erinnerung lebendig, wird kurz, aber gerade so bedeutsam evoziert in dem brutalen Erfolgs-Roman, es geht um Immobi‐ 61 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 39 Émile Zola, La curée. Hrsg. von Claude Duchet, Paris 1970, S. 117f. 40 Émile Zola, La Faute de l’abbé Mouret. Hrsg. Von Colette Becker, Paris 1972, S. 232, vgl. v. a. das Livre deux / Das zweite Buch, S. 149ff. 41 Émile Zola, Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris 1975, S. 154: Gerade in der Erinnerung wird das rousseauistisch-romantische Prinzip dieser „Natur“ genau be‐ zeichnet. 42 Émile Zola, L’Oeuvre. Hrsg. von Antoinette Erhard, Paris 1974, S. 203 und 205. 43 Émile Zola, Le rêve. Hrsg. von Colette Becker, Paris 1975, S. 106 und 108. lien-Spekulation, La Curée / Die Beute (eigentlich: Das Ausschlachten der Beute, 1872). 39 Breit und intensiv erzählt, aber doch nur vorübergehend eine natür‐ lich-paradiesische Heimat ist ein Lebensraum mit dem bezeichnenden Namen „Le Paradou“ - „chaque herbe, chaque bestiole leur devenait des amies. Le Pa‐ radou était une grande caresse / jede Pflanze, jedes Tier wurde ihnen zum Freund. Der Paradou war eine große Liebkosung“ 40 -, ein riesiger verwilderter Park, zugleich so etwas wie ein Ökosystem in sich, in dem die gesellschaftlich verbotene Liebe zwischen dem Priester Serge Mouret und dem „wilden“ Natur-Mädchen Albine „au sein de la nature complice / im Schoß der ihnen verbündeten Natur“ 41 gelebt werden kann (La faute de l’âbbé Mouret, 1875, und Le docteur Pascal / Doktor Pascal, 1893). Genauso nur vorübergehend natürlich frei und heimatlich ist für die Personen die Fluss- Wasser- und Inselwelt im VI. Kapitel, also recht genau in der Mitte des tragischen Künstlerromans L’Oeuvre / Das Werk (1886): diese „gute Natur“ („la bonne nature“), in der man nur die reine Lebensfreude empfindet („la joie unique de vivre par toutes les fonctions [du] corps“). 42 Dasselbe gilt für die von allen Attributen des Lebens und der Frische erfüllte Natur-Insel neben und im Schatten der ihr feindlichen Kathedrale - „[un] clos […] solitaire, d’une solitude délicieuse et fraîche, [un] débordement d’herbes folles […], c’était de la santé et de la joie au grand soleil / ein abgele‐ gener, abgeschlossener Platz, köstlich einsam und frisch, in dem die Pflanzen sich wild verbreiteten, und wo Gesundheit und Freude unter der freien Sonne zuhause waren“ 43 - im Roman sanfter, aber tödlicher Heiligkeit Le Rêve / Der Traum (1888). So könnte man noch lange weiter zitieren. Immer wieder hält Zola die Erinnerung an eine - oder den Traum von einer - „andere[n]“ Natur auf‐ recht, einer „eigentlichen, wahren Natur“ gegenüber der von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft geschaffenen Umwelt. Und hat man diese sich durch das ganze Roman-Werk hinziehende „Großschrift“ gelesen, die freilich im je‐ weiligen Kontext „klein“ bleibt, erkennt man sie dann nicht auch selbst in der kleinsten Ecke wieder, etwa im vertrockneten Rasen, den armseligen Kübel‐ pflanzen und dem hingebend gepflückten Strauß von Löwenzahn im Groß‐ stadtroman L’Assommoir / Der Totschläger (1877): eine „arme, bessere Natur“, bei deren Anblick die unglücklich Liebenden buchstäblich in Tränen ausbrechen? 62 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 44 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. In: Theorie des Naturalismus. Hrsg. von Theo Meyer,. Stuttgart 1973, S. 68-174, hier S. 174 und 171. 45 Ebd. 46 Émile Zola, Le roman expérimental, S. 140. 47 In: Theo Meyer (Hrsg.), Theorie des Naturalismus, S. 175 und 181. These IV: Die naturalistische „Natur“ soll die gesamte Realität sein. Die Kunst hat die Tendenz wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung. [Oder kürzer: ] Kunst = Natur - x. 44 Alle, fast alle, die ein Germanistik-Studium durchlaufen haben, kennen die kurze Formel, viele auch die längere. („Der“ Naturalismus ist ja ein beliebtes „Spezi‐ algebiet“ in Prüfungen.) Aber was ist damit gesagt? Was heißt „Natur“ in der Formel: „Kunst = Natur - x“? Natürlich gibt es darauf mehrere Antworten: Wer Arno Holz’ Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891), in der diese Formeln stehen, gelesen hat - das sind nicht alle, die sie zitieren -, kann wissen, dass Holz mit „Natur“ hier ein „Stück Natur“ meint, 45 irgendeinen Ge‐ genstand, irgendein reales Ding, das künstlerisch dargestellt werden kann. Und das ist gleich einmal ziemlich genau das Gegenteil des Naturbegriffs von Zola, für den auch in der von Holz abgewandelten Formel „un coin de la nature, vu à travers un tempérament“, 46 dieser „jeweils subjektiv gesehene Winkel Natur“ - das scheint mir die treffendste Übersetzung -, dass dies im ganzen Kontext der Theorie Zolas immer ein Versuchsfeld, ein Teilbereich des Systems der Natur‐ gesetze ist. Wenn das so ist, wenn „Natur“ hier für Holz „irgendetwas“ sein kann - und genau das illustriert Arno Holz’ Beispiel des kleinen Jungen, der etwas auf eine Schiefertafel kritzelt -, kann man dann nicht weiter folgern: „Kunst = y - x“? Und da dann erst das „x“ den Wert des „y“ bestimmt, folgt dann nicht: „y ← x“, bzw. „y ist Funktion von x“, und ausformuliert: „Die jeweilig dargestellte ‚Natur’ ist Funktion der jeweiligen künstlerischen Mittel“, „Natur ist das, was die Kunst darstellen kann“? In der Tat, genau in diesem Sinne definiert die Kritzelei des Kindes selbst, was sie darstellt. Und genau so hat Arno Holz später lapidar fest‐ gestellt: „Die Entwicklung der Kunst ist die Entwicklung ihrer Mittel“, bzw. noch kürzer, als „Wahlspruch“ für seinen eigenen „Nachruf “, auf Latein und an seine Kritiker gerichtet: „Lex mihi Ars! “ (Die Kunst sei mir ihr eigenes Gesetz). 47 Wie auch immer, zeigt sich hier nicht punktuell, aber recht klar, was sich auch sonst immer wieder zeigt, gerade in Arno Holz’ eigenem Oeuvre - man denke nur an 63 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 48 Vgl. Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stuttgart 1973. den berühmten Phantasus (1898-1924) -, kündigt sich hier nicht der Umschlag an von einer gegenständlich verstandenen Kunst in eine medial, eine von ihren „Mitteln“, ihrer „Sprache“, von der Funktionalität ihrer Zeichen her sich begrei‐ fende, also, und mit einem leicht falsch zu verstehenden Wort bezeichnet, in eine „abstrakte“ Kunst? Ich werde darauf noch zurückkommen. Auf alle Fälle aber richtig bleibt die Lesart der Formel: „Kunst = Natur - x“, die davon ausgeht, dass „Natur“ hier „irgendetwas“ sein kann. Und daraus fol‐ gert genauso klar: „Natur“ bedeutet für die Naturalisten, dass nichts ausge‐ schlossen wird. „Natur“, das soll „die gesamte Realität“ sein: Das ist sicher eine prägende Tendenz des europäischen Naturalismus: Die Kunst soll nichts aus‐ schließen: „Die Kunst habe die Tendenz, sich mit der gesamten Realität zu be‐ schäftigen“. Auch wenn dabei natürlich die Tabu-Brüche gegenüber den vikto‐ rianischen oder wilhelminischen oder einfach gut-bürgerlichen Vorurteilen des späten 19. Jahrhunderts am meisten Aufmerksamkeit erregten, also vor allem die „niederen“ Milieus und Themen am meisten auffielen: Industrialisierung, Proletariat, die Dienstboten, Hunger und Elend, der Kampf in den Familien, der Kampf der Geschlechter, Prostitution, Alkoholismus, Krankheit, das „Bestiali‐ sche im Menschen“ usw., und auch wenn natürlich hier die jeweilige nationale, regionale und soziale Kompetenz der Autoren immer eine große, ja entschei‐ dende Rolle spielt, immer geht es ihnen allen darum, eine möglichst umfassende Realität einzubeziehen. So spielt etwa nicht nur der Weltmarkt in den Überle‐ benskampf der sizilianischen Fischer bei Verga oder in das Weberstübchen bei Hauptmann mit hinein, alle dramatischen Verdichtungen, alle Kurzgeschichten, auch alle Momentaufnahmen - zu finden etwa im Band: (Deutsche) Prosa des Naturalismus  48 -, alles Dargestellte muss immer vor einem großen sozialen, his‐ torischen und durchaus auch geographischen Hintergrund gesehen werden. Zolas Versuch, einen Querschnitt durch die Gesellschaft des Zweiten Kaiser‐ reichs und durch die Regionen Frankreichs zu skizzieren und anhand einer weit verzweigten Familie zu erzählen, von den Ärmsten der Macquarts bis zu den Reichsten und Mächtigsten der Rougons, dieses umfassende Experiment kann hier sicher als allgemein gültiges Paradigma dienen. Und Zolas Programm in Le roman expérimental / Der experimentelle Roman klingt in diesem Sinn genauso lapidar, wie das von Arno Holz: Pour avoir le drame humain réel et complet, il faut le demander à tout ce qui est / will man das menschliche Drama real und vollständig erfassen, muss man es in allem suchen, was es gibt. 64 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 49 Émile Zola, Le roman expérimental, S. 232 und 152. 50 August Strindberg, Abschied von Illusionen. Ausgewählte Erzählungen. Dt. von Hans-Jürgen Hube, hrsg. von Klaus Möllmann, Zürich 1991, S. 22. 51 Émile Zola, L’Assommoir / Der Totschläger (eigentlich: Die Totschlag-Maschine). Hrsg. von Jacques Dubois, Paris 1969, S. 37. 52 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S. 42f. 53 Arno Holz, Der erste Schultag. In: Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus. Stutt‐ gart 1973, S. 65-96, S. 68 und 74. [Oder kürzer: ] Nous disons tout / wir sprechen alles aus. 49 These V: Totalisierungen Der Vorhang geht hoch, und man ist im Bilde: So ließe sich, nicht immer, aber doch sehr oft die naturalistische Bühne kennzeichnen. In der Prosa ist das nicht von Anfang an so deutlich, aber stellen Sie sich einmal die folgenden Textpas‐ sagen verfilmt vor: Es war eine klare Mondscheinnacht und so kalt, daß es aussah, als wäre selbst der Mond bleich geworden. Die Bäume waren mit Rauhreifkristallen bedeckt, die brachen das klare Mondlicht, so daß die Luft voller unzähliger kleiner Lichter zu sein schien, die von Zweig zu Zweig tanzten. Die Sterne blitzten am Himmel und der Erdboden funkelte. Die ganze Natur strahlte Licht aus, aber es war ein Licht ohne Wärme. (August Strindberg, För konsten / Für die Kunst, 1872) 50 Le flot ininterrompu d’hommes, de bêtes, de charettes […] descendait des hauteurs de Monmartre et de la Chapelle [et] s’engouffrait dans Paris où [il] se noyait, continu‐ ellement. / Der Strom von Menschen, Tieren, Wagen floss ununterbrochen die Höhen von Monmartre und La Chapelle herunter und stürzte sich nach Paris hinein, wo er immer weiter versank. (Émile Zola, L’assommoir / Der Totschläger,1876/ 1877) 51 Die Strecke schnitt rechts und links gradlinig in den unabsehbaren grünen Forst hi‐ nein; zu ihren beiden Seiten stauten sich die Nadelmassen gleichsam zurück, zwischen sich eine Gasse frei lassend, die der rötlichbraune, kiesbestreute Bahndamm ausfüllte. (Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel, 1889) 52 In der Klasse war es ganz still. […] Kein Kind rührte sich. […] Die kleinen Sträflinge saßen[…] alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen. (Arno Holz, Der erste Schultag, 1889) 53 65 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 54 Thomas Hardy, Jude the Obscure. Hrsg. von Terry Eagleton und P.N. Furbank, London 1974, S. 33. The brown surface of the field went right up towards the sky all round, where it was lost by degrees in the mist that shut out the actual verge and accentuated the solitude. […] The fresh harrow-lines seemed to stretch like the channelings in a piece of new corduroy, lending a meanly utilitarian air to the expanse taking away its gradations, and depriving it of its history. (Thomas Hardy, Jude the Obscure, 1894/ 1895) 54 Dächte man sich dazu filmische Umsetzungen, müssten hier nicht jeweils lange, ruhige, handlungslose Einstellungen der Kamera stehen: große „Totalen“, oder auch weite, langsame „Schwenks“, eventuell mit einem „Zoom“ am Ende? Denn dies sind bei völlig verschiedenen Inhalten doch formal vergleichbare, immer wieder ganz einheitliche, uniforme, von einem einzigen durchgehenden Muster, einer einzigen oder wenigen kräftigen Farben, oder auch von einer großen Be‐ wegung beherrschte Totalanschauungen. In ihnen verdichtet sich allerdings nicht, das scheint mir unbedingt wichtig, die Handlung der jeweiligen Erzäh‐ lung, sondern es spricht unmittelbar das Sujet dieser Literatur: die immer neu determinierende Situation, von der ausgehend sich die Konflikte entfalten bzw. in ihr zuspitzen. Die, die das so sehen, Personen wie Erzähler, sehen diese To‐ talisierungen als Krise: eine umfassende, gefährliche Gesetzmäßigkeit, die den Menschen überwältigt. Die systematische Ordnung der Welt wird zum Ge‐ fängnis: Die industrialisierte, von Maschinen geprägte Landwirtschaft bei Hardy, das Zwangs-System Schule - die Kinder üben als erstes „Stillsitzen“ - bei Holz, die Monokultur des Nutzwaldes und die einsinnige Zweckmäßigkeit der Bahnlinie bei Hauptmann, die Massenarbeit beim Umbau von Paris in eine moderne und militärisch kontrollierbare Großstadt bei Zola, die geradezu exis‐ tentielle Grenzsituation einer strahlend hell aufgeklärten und tödlich kalten Welt (der Held in Strindbergs Erzählung hat vor, Selbstmord zu begehen), immer wieder macht gerade die Form künstlerischer Darstellung, macht die Totalan‐ schauung einer Welt für das „Temperament“, das sie so „sieht“, eine übermäch‐ tige und krisenhafte Gesetzmäßigkeit anschaulich, und dies in an sich ganz, ja äußerst verschiedenen „Stücken Natur“, um die oben untersuchten Programme aufzugreifen. „Wir sagen alles“, so Zola, und wir erfassen dieses „Alles“, so können wir fortsetzen immer wieder als eine große Totale. Doch dann erzählen die Autoren gegen diese Totalen auf ganz verschiedene Weise an. Bei Hardy soll der kleine Junge, den die völlig geordnete Welt be‐ drückt, die Krähen vom uniformen Acker verscheuchen. Aber er lädt, sie sind doch arm wie er selbst, sie in christlicher Gesinnung zum Essen ein. Gegen die 66 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 55 Vgl. dazu oben Kap. 2. 56 Émile Zola, Germinal, S. 57. 57 Émile Zola, L’Assommoir, in der Reihenfolge der Zitate S. 355, 192, 61, 89 und 149. harte Realität steht ein verzweifelter Bildungsroman. Und in diesem moralisti‐ schen Erzählen, das auch seine eigene Aporie mit zu erzählen vermag, 55 ist Hardy eher Keller oder noch mehr Raabe vergleichbar, als Hauptmann oder Holz. Arno Holz, dessen kurze Erzählung man durchaus als den Anfang eines nicht geschriebenen Lebens-Romans lesen kann - und ist dieses Abbrechen selbst nicht auch schon signifikant? -, sucht die zwanghaft geschlossene Realität durch vielfältige ästhetische Erneuerungen (dazu gleich) punktuell immer wieder zu sprengen. Die „naturalistische“ Totalisierung schlägt um in „anti-na‐ turalistische“ Abstraktion. Gerhart Hauptmann dagegen und noch mehr Zola entdecken in der Totali‐ sierung ihr literarisch-mythisches Potential: ein Etwas, das die Menschen über‐ mächtig beherrscht, bedrohlich, aber auch faszinierend und voll unbekannter Möglichkeiten. Eindrucksvoll verwandeln sich so z. B. bei Zola die großen Ma‐ schinen immer wieder in Dämonen, die auf mythisch-gefährliche Weise ihr Ei‐ genleben führen: das Bergwerk und der Förderturm in Germinal (1885) bei‐ spielsweise, eine „böse Bestie, die nach dem menschlichen Fleisch riecht, das sie verdaut hat“, 56 oder die Lokomotive in La bête humaine (1890), der Panzer‐ schrank der Bank in L’Argent / Das Geld (1891), und so auch in L’Assommoir die große, sich in ein Knäuel von Schlangen verwandelnde Destilliermaschine („des monstres ouvrant leurs mâchoires pour avaler le monde / Monster, die ihr Maul aufreißen, um die Welt zu verschlingen“), oder die apokalyptische Dampf-Schmiede („bien sûr, un jour la machine tuerait l’ouvrier / sicherlich, eines Tages würde die Maschine den Arbeiter umbringen“), oder das große neue Mietshaus, das auf Gervaise wie „une personne géante / eine riesenhafte Person“ und eine „bête de peur / ein Angst-Tier“ wirkt. Und wenn sie dann doch dort einzuziehen beschließt, scheint es ihr, „als werfe sie sich mitten in eine laufende Maschine hinein“ („il lui semblait […] se jeter au beau milieu d’une machine en branle“), und als werde sie von dieser „erdrückt“ („de se trouver écrasée“). 57 In Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel kann man das Umschlagen von Naturalismus - auch ein bloßer „Punkt“ am Horizont ist ja eine konsequent verkleinerte Totale - in modernes, das Offene, ja ein „Unbekanntes“ suchendes Wahrnehmen, hier einen recht konsequenten akustischen Impressionismus, und von diesem wiederum in eine neue technologische Mythologie anschaulich verfolgen. Die Realität wird erst total definiert, löst sich dann auf in „Eindrücke“ und verdichtet sich erneut zu mythischer Dynamik: Der Mensch und seine Welt werden bewegt von einer unfassbaren, übergeordneten Macht: 67 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 58 Gerhart Hauptmann, Das erzählerische Werk, Bd. 1, S. 43f. und 47. 59 August Strindberg, Abschied von Illusionen, S. 23f. Ein dunkler Punkt am Horizont, da wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich […]. Ein Keuchen und Brausen schwoll stoß‐ weise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte - ein starker Luft‐ druck - eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. Das Geschehen wird aufgelöst in visuelle und akustische Eindrücke. Die natu‐ ralistische Totale schlägt um in Impressionismus - viel intensiver, als hier zitiert werden konnte - und verdichtet sich erneut zu einer visionären Verwandlung des Zuges in eine mythische Bestie. Die entsprechende Darstellung des Nacht‐ zuges mutet dann aus heutiger Sicht schon deutlich expressionistisch an: Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. 58 Auch bei Strindberg, um das erste Textbeispiel zumindest anzusprechen, schlägt die naturalistische Totale um in „Antinaturalismus“, allerdings auf erneut ganz andere Weise: Sie geht über in die Vision ihrer Alternative. Der Selbstmörder erlebt in dieser totalen, kalten Lichtwelt eine mystische „Licht-Epiphanie“: In die Lichtquelle selbst ist das hebräische Wort „Jahwe“ eingeschrieben, eine in der Nähe „betende […] kleine“ christliche Gemeinde findet ihn, und er kann, von ihr gepflegt, „glücklich […] und voll Dankbarkeit […] sterben“. 59 Das lässt an Strindbergs späteres Oeuvre denken (vor allem an das Drama Nach Damaskus, 1903), ist aber auch für andere Autoren der Zeit nicht ausgeschlossen; man denke an Gerhart Hauptmanns „mystische“ Tendenzen oder an die „negative Theo‐ logie“ in Hardys Jude the Obscure. Der Naturalismus, überhaupt die lange em‐ piristisch-realistische Tradition des 19. Jahrhunderts, kann immer wieder um‐ springen in Transzendenz. These VI: Krisensignaturen - Gefängnis, Labyrinth, Riss Wenn Gervaise im ersten Kapitel von Zolas L’Assommoir (1876/ 1877) morgens aus dem Fenster schaut, dann nimmt die oben zitierte Totale der nach Paris hineinströmenden Menschen die Bildmitte ein, aber vorher war schon ein nicht weniger bedeutsamer Rahmen darum gelegt worden, der sich, einer mehrdi‐ mensionalen naturalistischen Bühne vergleichbar, wie oben unter These II ge‐ 68 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 60 Emile Zola, L’Assommoir, S. 36, 40 und 61. 61 Gerhart Hauptmann, Das dramatische Werk, Bd. 2, S. 468, vgl. ebd. ff. zeigt, aus systematischen Gegensätzen aufbaut: links und rechts, Mensch und Tier, schwarz und weiß im Kontrast von Schlachthof (schwarz ist das geronnene Blut) und „weißem“ Krankenhaus, geschlossen („le mur de l’octroi / die Zoll‐ mauer“) und offen (der Horizont von Paris), hoch und tief im Gleiten des Blicks, eng ist das bewohnte Zimmer, davor verzweigen sich unbekannte Straßen und Winkel immer weiter, und so fort. Doch all das steht gewissermaßen unter einem zentralen „Oberbegriff “: Hinter der „Zollmauer“ hört man manchmal „des cris d’assassinés / Schreie von Ermordeten“, im Schlachthaus werden Tiere „mas‐ sakriert“, aber auch im Hospital wird der Tod „die Sichel führen / où la mort devait faucher“, was alles natürlich dem Romantitel, wörtlich ja „Die Tot‐ schlag-Maschine“, entspricht. Das System wird für diese Romanheldin zu einem tödlichen Gefängnis werden; und am Ende dieses ersten Kapitels ahnt sie das selbst: „prise d’une épouvante sourde, comme si sa vie, désormais, allait tenir là, entre un abattoir et un hôpital / von einer dumpfen Furcht erfasst, dass ihr Leben von jetzt an hier festgehalten würde, zwischen einem Schlachthof und einem Hospital“. 60 Dass Gervaises „naturalistische Schwestern“ fast überall in Europa in ge‐ fängnisartigen Zuständen leben müssen, dass die naturalistische Bühne oft einem Gefängnis gleicht, wurde bereits gezeigt. Und was umgibt etwa das be‐ sonders „enge“ und unentrinnbare Weber-„Stübchen“ 61 im Zweiten Akt von Ger‐ hart Hauptmanns Die Weber? Man konnte es im Ersten Akt bereits erfahren: Die Produktionsbedingungen für Textilien, die Bewegungen des Weltmarktes, die wirtschaftlichen Folgen der Industrialisierung haben ihre Gesetzmäßigkeit, sie haben ihre Vernunft; aber für die in diesem System gefangenen Personen bei Hauptmann sind sie so wirr und undurchschaubar, wie das Meer für die Fischer in Vergas I Malavoglia tückisch oder freundlich sein kann, und ihr Fang erst lange ausbleibt und dann durch ein Überangebot am Markt entwertet wird. Immer wieder sind die naturalistischen „Gefängnisse“ von „Labyrinthen“ um‐ geben. Das hatte schon für Gervaise in Zolas L’Assomoir gegolten. Beim be‐ rühmten Blick vom höchsten zugänglichen Bauwerk, dem Invalidendom, auf Paris, im 3. Kapitel des Romans - den Eiffelturm gab es damals ja noch nicht -, bestätigt sich das nur: Der Schwindel ist die wichtigste Erfahrung, und die Aus‐ sicht selbst macht stumm. Und, um gleich die dritte wesentliche „Krisensignatur“ zumindest anzuspre‐ chen, es wird der „Durchbruch“, der „Riss“ in ihrer kleinbürgerlichen Wohnung sein, durch den Lantier, der Parasit, Gervaises böser Dämon, wieder in ihr Leben 69 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 62 Émile Zola, L’Assommoir, S. 106ff. und S. 256ff. 63 Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Naturalismus, S. 118ff., vgl. S. 97 - 122. 64 Ebd., S. 68 und 74. eintreten wird. 62 Auch dies hat im literarischen Naturalismus seine Topik: Immer wieder etwa scheint am Ende eines Dramas dieser Zeit, z. B. in Ibsens Nora (1879) oder Die Wildente (1884) oder Hedda Gabler (1890), ein „Riss“ durch die brü‐ chigen, bürgerlichen „Konstruktionen“ zu gehen, ein Riss durch die Lebens‐ räume, in denen die Personen bis dahin gelebt haben. Oder man denke etwa daran, wie in Arno Holz’ und Johannes Schlafs Die papierne Passion (1890) das Fenster vom Sturm aufgerissen wird, um ein dramatisches und zerstörerisches „Stück Natur“ herein zu lassen. 63 Ist dann vielleicht in Arno Holz’ Der erste Schultag gegenüber dem „viereckigen“, „hässlichen […] Raum“, in dem „die kleinen Sträflinge“ regungslos sitzen müssen - auch dies, also die Schule, sicher ein „Gefängnis“ -, ist hier der „Riß oben, mitten in der weißen Decke“ etwas, was auch die Leser „lebhaft […] interessier[en]“ könnte oder sogar sollte? 64 Anschaulich, ja fast plakativ verfolgen lässt sich das Zusammenwirken dieser drei „Krisensignaturen“ in Émile Zolas Bergwerks- und Bergarbeiter-Roman Germinal / Keimmonat, bzw. „März“ nach dem seinerzeitigen „Revolutionska‐ lender“ (1885): Sowie er zum ersten Mal betreten wird und dann immer wieder wirkt der enge Stollen, in dem die Bergleute arbeiten und sozusagen „leben“ müssen, wie ein Gefängnis, besonders bedrückend natürlich vor allem während der Zeit, in der die Arbeiter verschüttet sind. Darum herum legen sich die Gänge und Schächte des Bergwerks als ein „dédale d’escaliers et de couloirs“, ein drei‐ dimensionales „Labyrinth von Treppen und Gängen“. Aber die größte „Bedro‐ hung“, der größte „Schrecken“ („menace“, „terreur“) für diese technisch-ökono‐ misch organisierte, geschlossene und zugleich wirre „Welt“ geht davon aus, dies ist eine eigene eindrucksvolle „Krisensignatur“, dass die Verschalung des Haupt‐ förderschachtes reißen könnte. Ein tödlicher „Riss“: Denn das Bergwerk ist um‐ geben von „unterirdisch strömenden Wassermassen / des masses d’eau séjour‐ nant sous terre“; ja diese bilden geradezu [Une] mer souterraine […], une mer avec ses tempêtes et ses naufrages, une mer ig‐ norée, insondable, roulant des flots noirs / ein unterirdisches Meer, ein Meer mit seinen Stürmen und Schiffbrüchen, ein unbekanntes, unergründliches Meer, das da seine schwarzen Fluten strömen ließ. Wenn der Anarchist Souvarine in die Verschalung einen „Riss“ hinein schlägt, dann bedeutet dies eine Katastrophe, aber auch eine anarchisch-revolutionäre Aktion, die eine Krise dieser technisch-ausbeuterischen Welt auslöst. Doch dies ist hier noch nicht die endgültige „Signatur“ bzw. „Symbolik“. Denn diese Vision 70 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 65 Émile Zola, Germinal, in der Reihenfolge der Zitate S. 75, 507, (vgl. gleich lautend S. 552), 334 f. 66 Artur Rimbaud, Œuvres complètes. Hrsg. Von Antoine Adam, Paris 1972, S. 249 und 251; Charles Baudelaire, Œuvres complètes. Hrsg. Von Claude Pichois, Paris 1975, Bd. 1, S. 124 ; Walt Whitman, The Complete Poems. Hrsg. Von Francis Murphy, Harmondsworth 1975, S. 728. eines unterirdischen Meeres enthält deutlich eine noch tiefere Gegenbedeutung: Der russische Name Souvarine klingt für französische Ohren weiblich; die Ro‐ mangestalt ist noch von weiteren weiblichen Attributen umgeben, so wie hier auch die anarchische Seite der Arbeiter-Revolte - „une furie de visages […] les femmes déliraient / eine Furie von Gesichtern, die Frauen wurden rasend“ 65 - auffallend weibliche Züge getragen hatte. Und „la mer / das Meer“ und „la mêre / die Mutter“ klingen im Französischen gleich. So wie im obigen Zitat „la mer“ zu emphatisch wiederholt wird, um nicht an diese Homophonie zu erinnern: Als würde eine „dunkle Mutter“, eine chthonische Erd- und Wasser-Gottheit be‐ schworen, so scheint die Vision dieses Meeres „mit seinen Stürmen und Schiff‐ brüchen“ den engeren Kontext zu sprengen. Einmal mehr schaut eine „große mütterliche Natur“ durch den „Riss“ in der Technik herein. Sie steht hier für eine, das Zerstörerische einschließende, übermächtige, all-lebendige Alterna‐ tive, aber sie hat auch „ignorée, insondable“ etwas modern Unbekanntes. These VII: Das Unbekannte - Naturalismus und Moderne Die Naturalisten gehen von gemeinsamen Voraussetzungen aus, folgern daraus aber verschiedene, oft geradezu alternative literarische Diskurse. Und die zent‐ rifugale Tendenz dieser „multiplen kontrafaktischen“ Gemeinsamkeit kann, nicht immer, aber auf vielen Wegen, zur „modernen“ Offenheit des Sehens und Darstellens führen: „le dérèglement de tous les sens / die (entregelnde) Befreiung aller Sinne (und Bedeutungen)“, wie es das berühmte Programm Artur Rim‐ bauds für den französischen Symbolismus formuliert hatte, das Programm eines wesentlichen Wegbereiters der europäischen, literarischen Moderne. Und die Dichter, die die Welt so sehen wollen, begeben sich „au fond de l’Inconnu / in den Grund des Unbekannten hinein“, so Charles Baudelaire - nicht zufällig taucht hier das Symbol des Meeres wieder auf -, „arrivent à l’inconnu / kommen an im Unbekannten“, so Rimbaud, „what is known I strip away, and I launch all men and women with me forward into the unknown“, so Walt Whitman, ein weiterer, wesentlicher Anreger der literarischen Moderne. 66 Es muss klar sein, dass dies jetzt nur ganz punktuelle Ausblicke sein können, so wie „das Unbekannte“ eben nur einen tentativen Oberbegriff abgeben kann für vielfältige „moderne“ Tendenzen. Zumal diese noch dazu in ihrem jeweiligen 71 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 67 Émile Zola, Une page d’amour. Hrsg. von Colette Becker, Paris 1973, S. 159, vgl. S. 94ff., 218 ff., 280 ff., 341 ff. 68 Émile Zola, L’Assommoir, S. 106ff. 69 Émile Zola, Une page d’amour, S. 99. Kontext vielleicht kaum auffallen und erst in der vergleichenden Retrospektive sprechend werden. Denn die Modernismen, die in naturalistischen Literaturen vorübergehend auftauchen mögen, sind inzwischen anderswo durchaus stilbil‐ dend geworden. Das gilt etwa für die „expressionistisch“ anmutende „neue My‐ thologie“ bei Gerhart Hauptmann oder Zola, die bereits angesprochen wurde. Und derlei gibt es auch sonst oft. Vergleichbares gilt für die literarischen „Im‐ pressionismen“, wie sie ja etwa für Zola schon von seiner Biographie her nahe lagen und im Künstlerroman L’Oevre / Das Werk (1886) reflektiert werden. So wird beispielsweise in Zolas Roman Une page d’amour / Ein Blatt Liebe (1878) die rhythmisch in jedem Kapitel wiederkehrende Stadt-Ansicht von Paris immer wieder neu variierend in Farbeindrücke und Farbbewegungen, in literarische „Farbimpressionen“ aufgelöst. Nur ein Beispiel, eine halbe Seite, und diese le‐ diglich in besonders anschaulichen Stichworten, seien zitiert: […] enflamma l’azur, roches crayeuses, blocs de carmin, petite nuées nageant lente‐ ment dans le bleu, voiles de pourpre, la ville toute jaune, poussière orange, noir four‐ millement / entflammter Azur, kreidefarbene Felsen, Blöcke von Karmesinrot, kleine Wolken schwammen langsam im Blau, Schleier von Purpur, die ganz gelbe Stadt, orangefarbene Staubwolken, schwarzes Gewimmel. 67 Man sieht, wie die Totalanschauungen hier in einzelne Farb-Abstraktionen um‐ schlagen. Das hat etwas von einer „ästhetischen Befreiung“, insbesondere wenn man diesen freien Blick auf Paris, frei in der Übersicht, frei in der Imagination, mit dem stumm und schwindelig machenden Panorama in L’Assommoir - direkt davor 1877 erschienen - vergleicht. 68 Und dabei fällt ein bezeichnendes Stich‐ wort: Paris „c’était la pleine mer, avec l’infini et l’inconnu de ses vagues / das war dass offene Meer, mit dem Unendlichen und dem Unbekannten seiner Wellen“. 69 Sucht nicht auch hier die Kunst letztlich das Unbekannte? Bei Arno Holz, um ein weiteres Beispiel innovativen Erzählens zu nennen, kann man durchaus von einer „ästhetischen Revolte“, zumindest von „ästheti‐ schem Widerstand“ sprechen. Der Autor bricht in den Formen seiner Darstel‐ lung das „Gefängnis“ auf, in dem die Personen gefangen sind. Und das ist hier bedeutsam: Arno Holz’ Erzählung Der erste Schultag (1889) kann geradezu als ein „Mikrokosmos“ naturalistischer Literatur gelesen werden. Es handelt sich im Kern um eine einfache, durch die „Schulpflicht“ geprägte bzw. „determi‐ nierte“ Geschichte, die aber vielerlei alternative literarische Folgerungen auslöst 72 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 70 Im Folgenden im Text zitiert wird die Ausgabe: Gerhard Schulz (Hrsg.), Prosa des Na‐ turalismus. Stuttgart 1973, S. 65-96. (vgl. These I). Prägend ist sodann auf den ersten Blick ein System. Zunächst einmal hat der Lehrer ein „System. Und von diesem System wich er nie ab“ (75): 70 in der Ablage der Beschwerde-Briefe, beim „regelmäßigen […] Ziehen [der] Notenlinien“ (68), vor allem in der Abstufung der Schul-Strafen und so fort. Aber auch die Sicht, die der Autor von dieser Schul-Welt aufbaut, ist sys‐ tematisch fundiert (vgl. These II): in den Oppositionen von „männlich-weiblich“ („der Lehrer“ gegen „die Mama“), in der Opposition von „drinnen“ und „draußen“ (das Schulzimmer und der „Jahrmarkt“,69), im Gegensatz von „er‐ wachsen“ und „kindlich“ bzw. „jung“ und „alt“, von „bürgerlich“ und „Außen‐ seiter“ (der Judenjunge), bis hin und sehr eindrucksvoll am Ende der Erzählung im Gegensatz von „Leben“ und „Tod“. Den „Blumenstrauß“ der „Mama“, dieses Stück lebendige, liebende Natur - das wird emphatisch vier Mal wiederholt -, wirft der Lehrer zwar „zum Fenster raus“ (73), aber eben durch dieses Fenster schaut im Wertediskurs die romantische Natur (vgl. These III) sichtbar, fühlbar ja „duftend“ herein. Nicht der „Knüppel“ des Lehrers, der Blumenstrauß der Mama behält literarisch Recht. Darauf, dass es Arno Holz um die ganze Realität geht - „die Kunst habe die Tendenz nichts auszuschließen“ -, wurde schon ein‐ gegangen (vgl. These IV), ebenso auf die „Totalanschauungen“ (vgl. These V) und die „Krisensignaturen“, wenn etwa die Kinder wie kleine „Sträflinge“ im Gefängnis des Schul-Systems „still sitzen“ müssen (vgl. These VI). Aber wörtlich heißt es, und damit kommen wir ganz kontinuierlich zur These „Naturalismus und Moderne“: „Die kleinen Sträflinge saßen jetzt wieder alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen“ (74). Und es lohnt sich, dieses Bild auf sich wirken zu lassen: Der Vergleich, in dem die „Holzpuppen […] schlecht angemalt“ sind, befreit sich von seinem Gegenstand, das Bild verdeckt, was es darstellt, die Kinder werden zu „Holzpuppen“, eben weil diese „schlecht angemalt“ sind. Der kühne Vergleich verfremdet zugleich die ganze Zwangssituation zu einer kriti‐ schen Klarheit, die die bloße Beschreibung durchbricht. Und bekommt der Ver‐ gleich nicht in eins damit etwas Spielerisches? Die Freiheit künstlerischen Se‐ hens, sowohl als Impression wie als Expression, als Eindruck wie als emotionales Urteil, opponiert ästhetisch-spielerisch gegen die zwanghafte, die naturalistisch „determinierte“ Realität. Dann ist es nur ein kleiner Schritt zur „ästhetischen Revolte“, wenn ich so sagen darf, etwa zur kühnen, den Vergleich selbst wieder durchbrechenden Me‐ tapher: „Die ganze, große, rote Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! …“ (77), oder zur „expressiven“ Abstraktion von Eindrücken: der „scharf-gezackte 73 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 71 Peter Jones (Hrsg.), Imagist Poetry. Harmondsworth 1972, S. 130. 72 Vgl. zu Holz’ Kunst-Theorie oben These IV. 73 Émile Zola, Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris 1975, in der Reihenfolge der Zitate S. 234, 259 und 283. Schatten“ beispielsweise, oder „der stürmische Applaus“, der in das „stille, ge‐ leerte Klassenzimmer […] wie ein lauter, lang anhaltender Wutschrei gebro‐ chen“ ist (79/ 80), oder zu einer abstrahierend anschaulichen Perspektiven-Ver‐ dichtung im Stil etwa des anglo-amerikanischen „Imagismus“: „Der kleine Jonathan stand da wie tot. Er sah nur noch die Sonne, die sich unten in dem schwarzen Teerstreifen spiegelte“ (90). Das abstrahierte und zugleich verdich‐ tete „image“ - „an intellectual and emotional complex in an instant of time“ (Ezra Pound) 71 - am Ende eines Kapitels scheint die Zeit anzuhalten und den Kontext zu durchbrechen: Zeichen ganz anderer, unbekannter Möglichkeiten, unbe‐ kannter Bedeutungen und unbekannter Realitäten. Diese vielerlei ästhetischen Innovationen - man könnte noch den Mikro-Dia‐ logismus des „Sekundenstils“ als „polyhistorisch“ interpretieren, oder das Gro‐ teske ( etwa das im „Tintenfaß […] in die Höhe“ schwimmende „scheußliche“ Gesicht, 72) oder das Absurde (die im Mund eines Toten gefangene, brummende Fliege, 96), oder das an Bachtins Theorie erinnernde anarchische „Lachen“ (77), und wohl noch anderes. Dieser vielfache Antinaturalismus der sich befreienden literarischen „Mittel“ 72 hat hier sicher etwas Manieristisches, das letztendlich in seiner fast atemlosen Häufung die künstlerische Qualität dieser Prosa vielleicht sogar mindert, aber in vergleichender und eben auch in literaturtheoretischer Perspektive ist er sprechend. Auf alle Fälle scheinen die „naturalistischen Wege zur Moderne“, von denen natürlich noch viel mehr zu sagen wäre, die „kontra‐ faktische Gemeinsamkeit“ in dieser Epochenphysiognomie - gemeinsame Vo‐ raussetzungen, alternative Folgen - noch einmal zu bestätigen, ja zu poten‐ zieren. Und nur ein ganz negativer Oberbegriff wie „das Unbekannte“ scheint hier angemessen. In Émile Zolas Bekenntnis zu einem regellosen Vitalismus ganz am Ende des Romanzyklus Les Rougon-Macquart, auf den letzten Seiten des Romans Le doc‐ teur Pascal / Doktor Pascal (1893), wird ausdrücklich „das Unbekannte“ ange‐ rufen. Zwar geht dem durchaus das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Systems der Vererbung voraus, zumindest in deren Möglichkeit: „Laisser l’évo‐ lution s’accomplir [..,] laisser la nature évoluer […] Qui savait d’où nâitrait la branche saine / die Evolution sich vollenden lassen, die Natur sich entwickeln lassen! Wer konnte wissen, wo der gesunde Zweig wachsen würde? “ 73 Genauso bekennt sich Pascal, ganz wie sein Autor, zum Wert der Arbeit, der Wissenschaft, auch der Technik und Ökonomie. Freilich werden dann die ganzen Dokumente 74 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 74 Émile Zola, Le docteur Pascal,. in der Reihenfolge der Zitate S. 362 und 357. 75 Émile Zola, Le docteur Pascal, S. 384f. zur Familiengeschichte vernichtet: Die „Wahrheit“ bleibt abstrakt und ver‐ borgen, real und historisch setzt sich die „Lüge“ durch („[la] haine de la vérité […] imposant son mensonge à l’histoire“). 74 Doch zuletzt wird in einer neuerli‐ chen Wende des Werte-Diskurses ein Kind, eine Art Erlöser, geboren („le ré‐ dempteur peut-être“), dessen erbliche „Prägung“ völlig offen und „unbekannt“ ist („l’enfant inconnu“). Und auch ideell wird das systematische, quasi-wissen‐ schaftliche Experiment geradezu in sein Gegenteil überführt, wenn das unge‐ zügelte, unberechenbare „Leben“ als solches gefeiert und damit nicht eine „menschliche Bestie“ proklamiert, sondern ein „unbekannter Gott“ angerufen wird. Von der „menschlichen Bestie“ zum „unbekannten Gott“? La vie, la vie qui coule en torrent, qui continue et recommence, vers l’achèvement ignoré! […] C’était une prière, une invocation. A l’enfant inconnu, comme au dieu inconnu! / Das Leben, das Leben, das als ein Strom dahinfließt, das immer weiter führt und immer neu beginnt, einer unbekannten Vollendung entgegen! Es war ein Gebet, eine Anrufung: an das unbekannte Kind und den unbekannten Gott. 75 75 3. Europäischer Naturalismus im Übergang zur Moderne 1 Vgl. Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatisches Erzählen bei Balzac, Dickens, Hardy. Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994, S. 481- 589. 2 Dies ist die erweiterte Fassung eines Vortrags im Herbst 2010 an der Universität Augs‐ burg. Vgl. Verf., Honoré de Balzac: „La comédie humaine / Die menschliche Komödie“. In: Günter Butzer / Hubert Zapf (Hrsg.), Große Werke der Literatur. Bd. XII, Tübingen 2012, S. 61-87. 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? Dies ist ein für die Frage nach „Realismus und Moderne“ zentrales Werk. Seine Modernität liegt in seinem Konzept. Denn wir haben es hier im Einzelnen wie im Ganzen mit einem immer mehrfach und immer wechselnd „anders“ struk‐ turierten Erzählprozess zu tun. Da ist die Kontinuität der Entstehung, das fort‐ laufende Gedanken- und Wirklichkeits-Experiment: ein „realistischer Weg durch die Comédie humaine“, 1 der mehr als alles andere bedeutet. Ganz ver‐ schieden orientiert einen der Aufbau, die „Architektur“, der Plan des Ganzen. Darum herum legt sich der Erzählraum, in dem alles, und auch dies immer wechselnd, verortet ist. Die „paradigmatischen Galerien“ ermöglichen eigene Quer- und Durchblicke auf Variationen und vor allem Kontraste. Balzacs Ar‐ beitsweise vielfacher Revision entwirft wechselnde Kontexte und fordert ei‐ gentlich immer wieder, da er viel in den Druckfahnen korrigierte, ein „verti‐ kales“ Lesen, eine Lektüre in die Tiefe wechselnder Textschichten hinein. Die Hierarchie der Werte und Ideen hat ihre eigene Logik, und auch sie hat ihre Dynamik. Balzac ist ein Meister der „Leerstellen“, was vielerlei moderne Per‐ spektiven eröffnet. So werden noch weitere Strukturierungen aufzuzeigen sein. Wie auch immer, dieses Kaleidoskop von Orientierungen macht die Comédie humaine / Die menschliche Komödie zu einem im Grunde bereits modernen, „po‐ lyhistorischen“, also mehrfach erzählten Roman. Und natürlich hat Balzac viel‐ fach auf die Literatur des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein gewirkt. Auf alle Fälle ist die Comédie humaine ein Großes Werk der Literatur. 2 Es umfasst 91 Romane und Novellen, eine ganze kleine Bibliothek. Geplant waren sogar 137 Erzählungen, sorgfältig geplant, denn es sind alle Titel und viele Skizzen dazu erhalten. Und Honoré de Balzac (1799-1850) hat diese Folge, diesen Zyklus und diese Architektur von Erzählungen, geschrieben etwa zwischen 1829 (Les Chouans) und 1847 (der wichtige Schluss von Splendeurs et misères des cour‐ 3 Das bezieht sich auf Balzacs Schreibarbeit, die im Wesentlichen im Herbst 1847 abbricht. Die letzte Erstveröffentlichung eines Werks der Comédie humaine erfolgte allerdings noch später und ist bezeichnend für Balzacs Arbeitsweise: Der Roman Les Paysans / Die Bauern taucht in Plänen bereits 1833 auf, von 1839 an werden Teile in Zeitschriften veröffentlicht, der ganze Roman aber erscheint erst posthum, nach Balzacs Tod, von Mme. Hanska fertig redigiert im Jahr 1855 (vgl. 9.1237-1249, zur Zitierweise vgl. unten Anm. 7). 4 Zur Biographie Balzacs vgl. z. B. die Einführungen in die Gesamtausgaben: Roger Pi‐ errot, Chronologie de la vie et de l’oeuvre de Balzac, 1.LXXVII-CXVII, oder: Honoré de Balzac, La Comédie humaine. Hrsg. von Pierre Citron, 7 Bde., Paris 1965/ 1966, Bd. 1, S. 11-17; ausführlich: Roger Pierrot, Honoré de Balzac. Paris 1994. tisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen), 3 schon früh, spätestens ab 1833, als er das Projekt Études de moeurs au XIXe siècle / Studien zu den Sitten im XIX. Jahr‐ hundert ankündigte, und von da an immer als eine große Einheit verstanden, ein großes, kontinuierlich zusammenhängendes Werk, auch wenn der seitherige Titel La comédie humaine erst 1841 festgelegt wurde. 4 Und was dieses „große Werk“ für die Frage nach dem Zusammenhang von „Realismus und Moderne“ so interessant macht, ist, abgesehen vom unüberseh‐ baren Einfluss Balzacs auf Klassiker des Romans im Zwanzigsten Jahrhundert wie Proust oder Faulkner (etwa und v. a. The Sound and the Fury, 1929, As I Lay Dyimg, 1930, Light in August, 1932), entscheidend ist wie gesagt das schiere Konzept dieses letztlich einen Werks, das aus vielen, vielen kleinen und großen Geschichten besteht, immer mehrere Strukturierungen vorschlägt, und das auch ganz alternative Schreibweisen integriert, so wie später James Joyces Ulysses (1922), man denke etwa an dessen Kapitel Wandering Rocks, eine Comédie hu‐ maine im kleinen, oder John Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925), oder André Gides Les Faux-Monnayeurs (1925), mit seinen sich immer weiter verzweigenden Lebenslinien, oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder Hermann Brochs Die Schlafwandler, insbesondere deren letzter Band (1932), in dem ganz verschiedene Menschen im Raum und in der Zeit des Ersten Weltkriegs herum‐ irren, sich treffen und verfehlen, durchaus so wie die Personen der Comédie humaine sich durch das von Krisen bewegte Paris der zweiten Monarchie be‐ wegen, oder etwa die Südstaaten-Amerikaner durch das historisch und gesell‐ schaftlich aufgewühlte, traumatisierte und zerrissene „Yoknapatawpha County“ Faulkners. Und spätestens von hier führen die Kontinuitäten des Einflusses zu vielen Autoren, beispielsweise zu solchen der Deutschen Nachkriegsliteratur. Denn wer Faulkner folgt, der folgt auch Balzac. Was Hermann Broch als den „polyhistorischen Roman“ („vieles auf vielerlei Weise erzählend“) und als ein, wenn nicht das Paradigma der Moderne be‐ 78 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 5 Herrmann Broch, Dichten und Erkennen. Essays. Bd. 1, hrsg und eingeleitet von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 236. 6 Eine Metonymie ist eine Figur pars pro parte, wenn z. B. „ein Audi“, lateinisch für „Horch“, den Namen des Firmen-Gründers, noch viele Jahre später ein Auto aus deren Produktion bezeichnen kann. Vgl. dazu den Schluss dieses Vortrags. schrieben hat, 5 gilt, und dies natürlich erst recht für den aus der späten Distanz ihr Ganzes betrachtenden Blick, bereits für die Comédie humaine: ein Netz, ja ein Labyrinth sich verzweigender und überkreuzender Geschichten, Erzähl‐ formen, Werte-Diskurse, und so fort. Nicht zuletzt Germanisten, die sich für das Thema „Realismus und Moderne“ interessieren, dürfen eigentlich Balzac nicht übersehen. Der Blick auf nur die „Nationalliteratur“ macht blind. Dieser Vortrag will, wenn ich so sagen darf, einen „Balzac für Germanisten“ vorstellen. Was also ist die Comédie humaine? Erlauben sie, dass ich meinen Versuch, dieses Werk nicht zuletzt in seiner Vorwegnahme der Moderne vorzustellen, an ein paar Schlüsselszenen orientiere: zuerst an den beiden „Anfängen“, dann an einer Situation der „Grenzüberschreitung“, die recht genau in der Mitte der Comédie humaine steht, und zwar wohlgemerkt sowohl ihrem Aufbau als auch ihrer Entstehung nach, und zuletzt an einer Szene, die vielleicht so etwas wie einen interessanten, wenn auch vorläufigen Schluss dieses langen „Erzähl‐ weges“ markieren könnte, auf alle Fälle eine für das Ganze sprechende und einen letzten Ausblick formulierende Wende. Die beiden Anfänge Wie der Ulysses (mit Kapitel 1 und Kapitel 4) oder Manhattan Transfer gleich auf der ersten Seite, oder Berlin Alexanderplatz mit den mehrfachen Ankündi‐ gungen, oder etwa auch Lion Feuchtwangers polyhistorischer Roman Erfolg (1930) mit sprunghaft eingeführten immer neuen Geschichten, fängt die Co‐ médie humaine mindestens zweimal an und entwirft dabei sogleich zwei alter‐ native, aber beide für das Gesamtwerk prägende Strukturen. Die erste dieser Anfangs-Szenen ist „metonymisch“ strukturiert: Ein kleiner „Teil“ steht für viele weitere „Teile“. 6 Das hat durchaus etwas von der Konzentration und dem kal‐ kulierten Abbrechen einer modernen Kurzgeschichte, etwa einer von Tschechov oder Hemingway: Ein junger Mann betritt frühmorgens, gleich nach dem Öffnen, ein Spielcasino, setzt dort sein letztes Goldstück - daher der ursprüng‐ liche Titel Le dernier Napoléon (1830, vgl. 10.1232) -, verliert es, geht ein paar Straßen weiter und will sich von einer Brücke in die Seine stürzen. Da bricht die „Kurzgeschichte“ zunächst einmal ab (vgl. 10.58-65). Erst später wurde ein Roman daraus. Und mit diesem „suicide […] retardé / verzögerten Selbstmord“ 79 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 7 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Honoré de Balzac, La comédie humaine. Édition de la Pléiade, Hrsg. von P.G. Castex, 12 Bde., Paris 1967-1981, nach Band und Seitenzahl. Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, von mir. 8 „La Peau de Chagrin est le porche [de] cette cathédrale qu’est La Comédie humaine/ die Eingangshalle zu dieser Kathedrale, welche die Comédie humaine ist”, Pierre Citron, Introduction / Einführung zu: La peau de chagrin, 10. 45. 9 Vgl. zu einer genaueren Analyse oben den Anfang von Kap. 2. 10 Zu solchen erzähltheoretischen und -analytischen Begriffen (Geschichte, Stimmen, Werte) vgl. Verf., Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung. In: Günter Butzer und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Bd. IV, Tübingen und Basel 2009, S. 305-337. (10.88) 7 - das steht seit langem für die Forschung fest -, 8 beginnt die eigentliche, kontinuierliche Arbeit an der Comédie humaine, auf alle Fälle die an ihrem wichtigsten Erzähl- und Bedeutungsweg. Hier ist vieles interessant und weist weit auf das Gesamtwerk voraus: 9 die Kunst verdichteter Indizien, wenn etwa das „Spielcasino am Morgen“ auf einen süchtigen, gar verzweifelten Spieler schließen lässt, oder z. B. die Bedeutung von Recht und Gesetz, sofern der Staat diese für ihn einträglichen Orte reguliert und schützt, oder die durchgehende Krisen-Metapher des Glücksspiels und so fort. Und besonders interessant scheint mir die sehr klar eben strukturierende Be‐ deutung dieser Szene: Das Werk als solches, die Kontinuität der Arbeit an der Comédie humaine, dieses Erzählexperiment im Ganzen tritt an die Stelle des abgebrochenen oder doch suspendierten Lebensexperiments des Romanhelden - darin sind ja auch Teile von Balzacs eigener Biographie enthalten -, der Werk-Entwurf nimmt den Lebens-Entwurf auf, führt ihn immer neu und ver‐ schieden ansetzend fort und arbeitet seinen möglichen Sinn heraus. So haben dann später Klassiker des literarischen Realismus wie Dickens, Keller oder Flau‐ bert, und ebenso auch Klassiker der Moderne wie Proust oder Joyce ihren letzt‐ lich eigenen Lebens-Roman immer neu angefangen und fortgeschrieben. Auch die zweite Anfangs-Erzählung, die ich skizzieren möchte, die „parabo‐ lisch-beispielhafte“ - ein „Teil“ steht modellhaft bedeutsam für ein „Ganzes“ -, ist exemplarisch und weist weit in das Gesamtwerk voraus. Man denkt jetzt statt an die offenen Realitäts-Fragmente Tschechovs vielleicht eher an Maupassant oder Joyces Dubliners (1912): an Kurzgeschichten, in denen markant charakter‐ isierte Personen sich in Konflikten entscheiden müssen, und die auf eine Pointe zu führen, oft, so wie hier, eine absurd tragische. Auch jetzt freilich tritt bei Balzac das Erzählen als solches, und auch hier ein spezifisch „realistisches“ Er‐ zählen, in eine „Leerstelle“ ein. Aber die Handlung bricht eben nicht ab, sie ist im Gegenteil geradezu tragisch geschlossen. Es geht um eine Leerstelle im „Werte-Diskurs“, 10 eine Leerstelle in der sinnvollen, oder nur „sinn-möglichen“ 80 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 11 Pierre Citron, Introduction / Einführung zu: La maison du Chat-quipelote. In: Balzac, La comédie humaine. Hrsg. von Pierre Citron, 7 Bde., Paris 1965/ 1966, Bd. 1, S. 59. 12 Vgl. oben Kap. 2, These 13. 13 Roland Barthes’ Erzähltheorie wurde bezeichnenderweise am Beispiel Balzacs entwi‐ ckelt. Vgl. Roland Barthes, S/ Z. Dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987. Eine solche „se‐ miotische“ (zeichen- und sprachtheoretisch angeregte) Balzac-Lektüre ist inzwischen v. a. in Frankreich breit akzeptiert; vgl. z. B. Nicole Ramognino (Hrsg.), Lecture actuelles de l’0euvre de Balzac. Livre réel, livres possibles, monde commun. Paris 2006. 14 Der ursprüngliche Titel lautete bezeichnenderweise Gloire et Malheur / Ruhm und Un‐ glück, vgl. 1. 1176 ff. Wirksamkeit von Gewohnheiten, Überzeugungen und Motivationen, ein De‐ fizit, welches das Verhalten der Personen offen lässt, und so dann folgerichtig um eine, was zentral ist für die Comédie humaine überhaupt, Aufgabe für die „études de moeurs / das Studium der Sitten“ im Ganzen, eine wesentliche Per‐ spektive für Balzacs moralistisches Erzählen: Mit dem kurzen, frühen Roman La maison du Chat-qui-pelote / Das Haus zur spielenden Katze (1829) beginnt die Comédie humaine, wenn man sie ihrem Aufbau, ihrer Gliederung bzw. „Architektur“ nach betrachtet. Dies ist der erste Roman des ersten Bandes der ganzen kleinen Bibliothek. Er gilt übrigens vielen, und dies zu Recht, auch als „le premier roman ‚réaliste’ […] de la littérature française“ (der erste „realistische“ Roman der französischen Literatur). 11 Und dies ist die erste Schlüsselszene dieses ersten Romans: Ein talentierter junger Maler geht am „Haus zur spielenden Katze“ vorbei und sieht durch das Fenster hindurch ein schönes Mädchen, das der Fensterrahmen als schon gewisser‐ maßen „fertiges Bild“ ganz wörtlich „eingerahmt“ hat (1.52/ 53). Er verliebt sich in dieses Bild, geht immer wieder an dem Haus vorbei; schließlich kann er das Bild zu einem vielfach bewunderten, sogar preisgekrönten Gemälde ausarbeiten. Aber dies ist dann auch der Beginn eines tragischen Liebes- und Eheromans, wie er für die erste Unter-Abteilung der Comédie humaine mit dem Titel Scènes de la vie privée / Szenen aus dem Privatleben, bezeichnend ist. Und noch viel weitergehend modellhaft ist die Struktur des Konflikts, der hier erzählt wird: Der Maler sieht nur das Bild und die Schönheit. Das Mädchen sieht nur die Liebe. Ihre gut bürgerlichen Eltern stimmen der Ehe mit einem „Künstler“ nur zu, weil das ererbte Vermögen des Malers sie überzeugt. So leben diese Personen in ganz verschiedenen Traditionen und eben „Wert-Welten“: ein schlechthin charakteristisches Thema des Europäischen Realismus (Stichwort: „kritischer Moralismus“). 12 Diese Personen können so, wie sie jeweils ihre Welt „sprechen“, wie sie sie „codieren“ und „decodieren“, 13 einander nicht verstehen. Natürlich entfremden sie sich einander. Der Maler verschenkt später geradezu das Bild, das für ihn eben zu allererst ein anerkanntes, begehrtes Kunstwerk ist, 14 er 81 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 15 Vgl. unten Kap. 8. 16 Vgl. Verf., Der realistische Weg, v. a. S. 143ff., sowie oben Kap 2 (These 14: Krise der Bilder - Bilder der Krise). schenkt es noch dazu einer „femme fatale“ der großen Gesellschaft, einer typi‐ schen Balzac-Gestalt. Doch wie diese ihrerseits, fies berechnend, das Bild der jungen Frau zurück schenkt, zerstört der Maler es. Und die Frau stirbt an ge‐ brochenem Herzen (vgl. 1.38-94). Was nun ist an dieser, hier freilich nur sehr grob skizzierten Geschichte über‐ haupt so interessant? Der Gedanke, dass die Kunst dem Leben gefährlich werden, dass sie es geradezu zerstören kann, wurde im 19. Jahrhundert immer wieder dargestellt: mehrmals z. B. von E.Th.A. Hoffmann, mindestens noch einmal von Balzac selbst (Le chef-d’oevre inconnu / Das unbekannte Meisterwerk, 1831) 15 , parabelhaft dicht von Edgar Allen Poe (The Oval Portrait, 1840), breit und deutlich in der Nachfolge Balzacs von Émile Zola (L’Oeuvre / Das Werk, 1886), um nur die vielleicht wichtigsten Beispiele zu nennen. Am Übergang zur Moderne wird es zu einem typischen Thema der „Décadence“. Aber von Balzac wird dieses böse „Märchen vom bedingten Leben“ eben ganz „realistisch“ er‐ zählt, z. B. sorgfältig eingebettet in den Alltag und die streng konservativen Ge‐ wohnheiten einer Familie von Tuchhändlern, mit genauen lokalen und kultu‐ rellen Details, etwa zur Kleidung oder den Essgewohnheiten, langsam fortschreitend mit sorgfältiger psychologischer und moralischer Motivation und vielem mehr. Auch das eigentümliche „Bildnisverbot“, die Warnung vor der ver‐ führerischen Beliebigkeit von Bildern, hat bei Balzac, wie auch sonst im litera‐ rischen Realismus, 16 eine erkenntnisbezogene, aufklärerische, auf den genauen Kontext der Indizien, Spuren und Wege verweisende Bedeutung: Das „Bild“ be‐ deutet für jede(n) der Beteiligten hier ja etwas jeweils genau motiviert Ver‐ schiedenes; während etwa E.A. Poe seine Leser fern von jedem weiteren Kontext in einem abgelegenen Schloss ein Bild, eine vergilbte Handschrift und ein phan‐ tastisches Verhängnis finden ließ. Denn Balzac geht es weniger um eine allgemein menschliche als vielmehr um eine spezifisch bürgerliche Parabel. Und deren Bedeutung ist, so möchte ich behaupten, nichts weniger als die Comédie humaine als solche. Was den Per‐ sonen fehlt, was die „Leerstelle“ in ihrem Verhalten ausmacht, ist genau das, was Balzac im wichtigsten Teil seines Erzählwerks sich zu leisten vorgenommen und auch als programmatische Überschrift der ersten Abteilung der Comédie hu‐ maine gewählt hat: 82 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 17 Das Register der Personnages réels / Realen Personen im Anhang der Édition Intégrale, Hrsg. von Pierre Citron, Paris 1966, Bd. 7, S. 652-687, dürfte, auch wenn man „biblische und mythologische“ Figuren abzieht, immer noch etwa 1000 historische Namen um‐ fassen. 18 Jürgen Grimm (Hrsg.), Französische Literaturgeschichte. Stuttgart, 2. Aufl., 1991, S. 253; auf das „Drama des Geldes“ bei Balzac gehe ich am Schluss dieses Vortrags ein. „Études de moeurs“ - Kritische Moralistik Was also ist die Comédie humaine? Diese ersten beiden Schlüsselszenen geben bereits wichtige Hinweise. Zunächst einmal zeigen sie, was dieses große Erzäh‐ lexperiment nicht ist: Es ist keine Chronik der französischen Geschichte ihrer Zeit, kein großer historischer oder zeithistorischer Roman, obwohl immer wieder historische Daten, Personen und Ereignisse genannt werden, 17 insbe‐ sondere solche aus der Vorgeschichte, die bei allen wichtigen Personen bis zur Revolution und der Napoleonischen Zeit zurück verfolgt wird. Man kann viel‐ mehr von einer Art historisch „gebrochener Perspektive“ sprechen. Der Zeit‐ rahmen, in dem die meisten Erzählungen der Comédie humaine spielen, ist, grob gesagt, der der Restaurationszeit, zwischen 1815, insbesondere von etwa 1819 an, und 1830. Aber die Personen verhalten sich wie die in der bourgeois, liberal und kapitalistisch dominierten Zeit nach 1830. „Enrichessez vous! / Bereichert Euch! “: So lautete das viel zitierte Motto dieser Zeit. „Eine allgemeine Jagd nach Besitz und Reichtum“ 18 ist ihr Lebens-Prinzip. Und der Titel der größten, ersten Abteilung der Comédie humaine: Études de moeurs, zu übersetzen etwa als Stu‐ dien zu den Sitten und Gebräuchen unserer Zeit, dieser programmatische Titel bezeichnet nicht einen chronikalischen oder nacherzählenden Zugriff, sondern einen exemplarisch-systematischen, besser „panoramatischen“ Blick: Wie ver‐ halten sich Menschen, wie verhält sich die französische Gesellschaft, in der Balzac und seine Zeitgenossen, vor allem eben auch seine Leser, leben, bzw. gelebt haben? Die Comédie humaine ist eine kritisch-moralistische Studie, ein großes Pan‐ orama der französischen Gesellschaft: von den Familien in den Provinzstädten bis zu den Zentren von Paris, von den Bauern und dem Kleinbürgertum über die so wichtige Schicht der kleinen und großen Kaufleute bis zur Geld- und Adels-Aristokratie, nicht zu vergessen die Welt der Künstler, Schriftsteller und der Wissenschaft, aber auch die der Bürokratie, des Militärs, schließlich und sehr farbig die des Verbrechens. Da all dies in jeweils individualisierten Geschichten erschlossen wird, ist die Comédie humaine, und diese direkte und nahe Sicht prägt meistens ja überhaupt den ersten Eindruck, wenn man eben irgendwo in ihr zu lesen beginnt, Balzacs „großes Werk“ ist eine immer neu einsetzende, kritische, also differenzierende Untersuchung menschlicher Charaktere: ihrer 83 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? Physiologie - man erfährt immer genau, wie die Personen körperlich gebaut und veranlagt sind, wie gesund oder wie und woran krank, wie sie aussehen und wie sie sich kleiden, oder wo und wie sie wohnen -, ihrer psychischen Disposition, ihres familiären und sozialen Werdegangs und ihrer intellektuellen und moralischen Bildung. Dass sie diese ihre jeweilige „moralistische Physiog‐ nomie“ untereinander nicht kennen, dass sie ihre Verhaltensmuster wechsel‐ seitig nicht verstehen, machte ja eben die Tragik der Personen aus in der vorhin skizzierten Anfangserzählung La maison du Chat-qui-pelote / Das Haus zur spiel‐ enden Katze. Und diese Leerstelle ihres Anfangsromans auszufüllen, ist genau die Intention, die von da an den Erzählraum der Comédie humaine öffnet. Wie ist dieser Erzählraum, dieses immer neu individualisierte Panorama der französischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geordnet, welche Strukturierungen bietet er an, welche „Wege“ führen hindurch, und vor allem, wie und mit welchem „Sinn“ führen sie über ihn hinaus? Erlauben Sie, dass ich mich diesen Fragen von einer dritten Schlüsselszene her nähere! Sie ist recht genau in der Mitte der Comédie humaine situiert und bedeutet in ihr Eine zentrale Grenzüberschreitung: A Paris, les masses s’emparent tout d’abord de l’attention: […] la hauteur des maisons, l’affluence des voitures, les constantes oppositions que présentent un extrême luxe et une extrême misère saisissent avant tout. Surpris de cette foule à laquelle il était ét‐ ranger, cet homme d’imagination éprouva une immense diminution de lui-même […] une perte totale et subite de [sa] valeur […]. Paris allait être un affreux désert. (5.264) / In Paris drängt sich von Anfang an die Masse von Eindrücken auf: Die Höhe der Häuser, der Strom der Fahrzeuge, der ständige Gegensatz von äußerstem Luxus und äußerstem Elend, all das ergreift einen zuallererst. Überrascht von dieser Menge, der er ganz fremd gegenüber stand, erfuhr dieser phantasiebegabte junge Mann so etwas wie eine unermessliche Verkleinerung seiner selbst; er schien plötzlich überhaupt nichts mehr wert zu sein. Paris würde für ihn zu einer fürchterlichen Wüste werden. Diese Sätze stehen im letzten Kapitel des ersten Bandes von Illusions perdues / Verlorene Illusionen (1937); dort stehen sie in allen Ausgaben auch heute. Aber als 1839 der zweite Band dieser Romantrilogie erschien (Un grand homme de province à Paris / Ein großer Mann aus der Provinz in Paris), da begann diese Fortsetzung mit der Wiederholung dieses Schlusskapitels des ersten Bandes. Es ging Balzac offensichtlich um einen Schluss und einen Anfang zugleich, um eine Grenzüberschreitung als Dreh- und Angelpunkt seines Romans. Und diese Schwelle ist bedeutsam für die Comédie humaine schlechthin, und zwar sowohl ihrem Aufbau als auch ihrer Entstehung nach. Denn genau hier beginnt 84 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 19 Aude Déruelle / Francoise Rullier-Theuret, „Illusions Perdues“ de Balzac. Paris 2003, S. 152, vgl. ebd. ff. der eigentliche Paris-Roman des vielleicht komplexesten und schillerndsten Ro‐ manhelden Balzacs, eines immer negativer sich entwickelnden Romanhelden, dessen Charakter, einer Mischung aus „Ehrgeiz und Passivität“ („ambition et passivité“) 19 sein Autor offensichtlich mit entschiedener Kritik, aber zugleich auch mit großer Nähe gegenüber steht - als solle der seit der Anfangszene „Morgens im Spielcasino“ angekündigte „Selbstmord“ („le suicide retardé“) jetzt empathisch-fiktional vollzogen werden: Lucien Chardon heißt eigentlich „Distel“, aber er hat widerrechtlich den alt‐ adligen Namen seiner Mutter „de Rubempré“ - darin steckt ein ganzer eigener kleiner Roman - angenommen, weil er überzeugt ist, dass dieser besser zu ihm passt. Er ist vielfältig begabt und hält sich selbst für einen genialen Dichter. Vor allem ist er auf eine fast mädchenhafte Weise schön. Eine „große Dame der Provinz“, erheblich älter als er, und Lucien haben sich in der Provinz in einen romantischen Liebesroman hinein gelebt, haben ihn weitestgehend einander vorgespielt; es gab einen Provinz-Skandal, Mme. de Bargeton flieht nach Paris, und Lucien reist mit ihr, um in der Metropole dichterischen Ruhm und zugleich gesellschaftlichen Erfolg und ebenso, für ihn unlösbar damit verbunden, Reichtum zu erringen; denn von alledem meint er, dass es ihm zusteht. Man kann an dem oben zitierten Textabschnitt herauslesen - „Höhe der Häuser, Strom der Fahrzeuge, extremer Luxus dicht neben äußerstem Elend“, mich erinnert dies immer an meinen ersten Eindruck von New York -, man spürt, wie Lucien sich sofort in seinem Urteil den Quantifizierungen um ihn herum unterwirft, und wie jede Authentizität seines Selbstwerts sofort lediglich zu einer Erinnerung wird. In der Tat, in wenigen Tagen wird sein falscher Adelstitel grausam entlarvt, der weitaus größte Teil seines geborgten Startkapitels wird weg sein, ausge‐ geben für großspurige Trinkgelder und v. a. für ungeschickt gewählte, modisch „feine“ Kleidung. Seine mütterliche Geliebte fährt nach drei Tagen in Paris auf der Straße in der Kutsche grußlos an ihm vorbei („il n’existait même pas / er existierte nicht einmal“, 5.287). Am Ende dieses letzten und zugleich ersten Ro‐ mankapitels muss er in einem winzigen, kalten Dachzimmer als Student und freier, will sagen, auf lange Zeit erfolg- und mittelloser Schriftsteller ganz neu beginnen. Auf nichts als sein Talent und seinen schieren, zähen Willen zum Weg nach oben ist er reduziert. Aber dieser Wille ist für Balzac nicht wenig, er ist sehr viel. Lucien wird über mehrere hundert Romanseiten hinweg - seine Schicksale werden ja noch zehn Jahre lang forterzählt - erstaunlich hoch ge‐ sellschaftlich aufsteigen, dann sehr tief fallen („un zéro social / eine soziale Null“, 85 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 20 Vgl. Verf., Dreistellig-semiotische Erzähltheorie (wie Anm. 10), v. a. S. 314ff. 21 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied und Berlin 1963, S. 114, vgl. ebd. ff. 5.686) und als „Kreatur“ und „Kurtisane“ des Großverbrechers Vautrin sich zu‐ letzt im Gefängnis aufhängen - so als sei nur noch ein leerer Anzug von ihm übrig geblieben (der Schluss von Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen, 1847, vgl. 6.697ff.). Man versteht vielleicht, so kurz hier die Handlung zusammengefasst werden musste, warum Balzac diese Grenzüberschreitung von der Provinz nach Paris mit Dantes Abstieg in die Hölle verglichen sehen wollte. Aber das sind nur zwei der hier möglichen Orientierungen. Wie verhalten sich also, wenn wir von Illusions perdues ausgehen, die verschiedenen Strukturierungen der Comédie humaine zueinander? „Struktur“ allerdings ist hier, wie eigentlich immer in der Erzähltheorie, als Prozess zu verstehen. 20 Gerade in der Comédie humaine muss jede bedeutsame Relation, Differenzierung, Äquivalenz, Codierung usw. immer verstanden werden als eingebunden in eine Vielfältige Dynamik. Im ersten Band der Illusions perdues (erstmals erschienen 1837, der spätere und seitherige Titel dieses ersten Bandes der Trilogie lautet: Les deux poètes / Die zwei Dichter), geht es um die gesellschaftliche Hierarchie in Angoulême, einer Provinzstadt, es geht um Provinzehrgeiz und Provinzintrigen, in denen zwei romantisch „breiter“ und tiefer als ihre, ihnen „unangemessene“ Umwelt ange‐ legte „Seelen“, 21 zwei „Dichter“ eben, sich aufreiben. Da der dritte Band zu diesem Schauplatz zurückkehren wird, ist es plausibel, dass Balzac den Gesamt‐ roman in die Scènes de la vie de province / Szenen aus dem Leben in der Provinz platziert hat, die zweite Unterabteilung der Études de moeurs. Aber der zweite Band der Illusions perdues für sich: Un grand homme de province à Paris / Ein großer Mann der Provinz in Paris (1839) - diese „Größe“ wird freilich bereits vom Titel „in Paris“ ironisch gebrochen -, gehört mit seinen schnellen Handlungs‐ folgen, dem jähen Wechsel der Schicksale, dem harten Gegeneinander der In‐ teressen, schrankenlosem Ehrgeiz, Knäuel von Intrigen, einer einem Glücksspiel gleichenden Werte-Welt und der allgemeinen Maxime: „de l’or à tout prix / Gold um jeden Preis“ (5.287), bereits klar in die Scènes de la vie parisienne / Szenen des Pariser Lebens, die dritte Unterabteilung der Études de moeurs, so dass auch die Position des ganzen Romans am Ende der Scènes de la vie de province genau motiviert ist. Der dritte Band: Les souffrances de l’inventeur / Die Leiden des Erfinders (1843), in dem der „Erfinder“, ein nahezu genialer Chemiker und Ingenieur, zwar von 86 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 22 Es gab auch einmal (1836; während der Arbeit am ersten Band) einen Plan, diesen Romanteil eng mit La recherche de l’Absolu / Die Suche nach dem Absoluten (1835) zu verbinden und tatsächlich in die Études philosophiques einzuordnen (vgl. 5.87). 23 V.a. das Avant-Propos / Vorwort (1842) zur Comédie humaine als solcher (vgl. 1. 5-20), sowie die zusammen mit Félix Davin verfassten Préfaces / Vorworte zu den Études Phi‐ losophiques (1834, vgl. 10. 1200-1218) und zu den Études de moeurs au XIXe siècle (1835, vgl. 1. 1145-1172). Aber auch jeder einzelne Roman erschien bei seiner ersten Publika‐ tion mit einem programmatischen Vorwort. einer Meute von konkurrierenden Unternehmern und Advokaten ausgebeutet wird, seine Erfindung selbst aber ganz einfach wahr und richtig ist und sich auf lange Sicht durchsetzen wird, dieser Kampf einer Idee, zugleich eines starken und unbeugsamen Willens gegen eine feindliche Realität, Roman einer Idee, die ihren Träger aufreibt, all das erinnert doch recht klar bereits an die Études phi‐ losophiques / Philosophische Studien,  22 die nach dem Plan der Comédie humaine auf die Études de moeurs folgen und zu ihnen eine Art Gegengewicht bilden sollen: Die „Sitten“ verändern sich, die Personen mögen scheitern, die „Ideen“, die Beweggründe ihres Handelns, behaupten ihre Wahrheit, so wie in Louis Lambert (1832 ff.), dem wichtigsten „philosophischen“ Roman Balzacs, der ge‐ niale Romanheld im Wahnsinn endet, seine Maximen und Aphorismen aber ihre philosophisch allgemeine Wahrheit behaupten sollen. Und wenn man bedenkt, dass am Anfang von Illusions perdues durchaus fa‐ miliäre Probleme und Konflikte stehen - ein Vater betrügt seinen Sohn um dessen mütterliches Erbe und beutet seinen Familiensinn aus; Mutter, Schwester und Freund verwöhnen einen armen, begabten, vaterlosen Jungen und erziehen ihn zum Egoisten; eine junge Frau muss standesgemäß einen viel älteren, schon ziemlich, wie es heißt, „beschädigten“ Mann heiraten, eine für Balzac und den Roman des 19. Jahrhunderts typische Konflikt-Konstellation -, sieht man sich das an, dann kann man zumindest in Spuren, aber in deutlichen Spuren, auch charakteristische Handlungskerne der ersten Abteilung der Comédie humaine: Scènes de la vie privée / Szenen aus dem Privatleben erkennen. Kurz, der Roman Illusions perdues steht nicht nur an einer zentralen Schwelle im Erzählraum der Comédie humaine, er ist durchaus auch so etwas wie ihr Modell. Er vollzieht im kleineren Maßstab die wichtigsten Schritte ihres Aufbaus, ihrer Architektur im Ganzen nach. In den Préfaces / Vorworten zu den einzelnen Abteilungen seines „großen Werks der Literatur“ 23 reklamiert Balzac für dessen Aufbau aber z. B. auch das Modell eines Entwicklungs- und Bildungs-Romans, in dem die Zirkel der Er‐ fahrungen und Konflikte sich immer mehr erweitern und vertiefen, bis hin zur Abgeklärtheit des Alters („le soir après une journée bien remplie / der Abend nach einem arbeitsreichen Tag“, 1.1148), oder er entwirft das Modell einer Reise, 87 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 24 So im Vorwort zu La fille aux yeux d’or / Das Mädchen mit den Goldaugen (1834), das entsprechend - man denke an Gedichte von Baudelaire, Heym oder Lichtenstein, an Gemälde von Dix usw. - schon auffallend modern, aus deutscher Sicht geradezu ex‐ pressionistisch beginnt: „L’aspect général de la population parisienne, peuple horrible à voir, hâve, jaune, tanné. […] les visages contournés, tordus, rendent par tous les pores l’esprit, les désirs, les poisons dont sont engrossés leurs cerveaux ; non pas des visages, mais bien des masques: masques de faiblesse, masques de force, masques de misère, masques de joie, masques d’hypocrisie; tous exténués, tous empreints des signes inef‐ façables d’une haletante avidité ? Que veulent-ils ? De l’or, ou du plaisir? / Ein schreck‐ liches Schauspiel hat man vor Augen, wenn man die Bevölkerung von Paris als ganze betrachtet, Menschen, die entsetzlich aussehen, hager und gelb gegerbt. […] Schiefe verrenkte Gesichter, denen aus allen Poren die vergifteten Gedanken und Wünsche entströmen, von denen die Gehirne aufgebläht sind; nein, keine Gesichter, eher Masken: Masken der Schwäche und Masken der Stärke, Masken des Elends und Masken der Freude, Masken der Heuchelei; alle entkräftet, alle mit dem unauslöschlichen Brandmal keuchender Gier gezeichnet? Was wollen sie? Gold oder Vergnügen? “ (5.1039, vgl. 5.1528ff.). 25 Le médecin de campagne / Der Landarzt (1833) und Le curé de village / Der Dorfpfarrer (1839-1841). oder das einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung oder das einer Serie von Gerichtsprozessen des Autors gegen die Gesellschaft vor dem Urteil der Leser. Und strukturierende Bedeutung hat sicher auch das Anspielen des, allerdings erst 1841 gefundenen Titels Die menschliche Komödie auf Dante Allighieris be‐ rühmte La divina commedia / Die göttliche Komödie (1309-1321): In der Tat kann man so etwas wie den Abstieg des Autors und der Leser in immer tiefere „Kreise“ der „Hölle“ erkennen, in dessen Fortgang uns immer neue Personen begegnen und vor einer zwar Anteil nehmenden, aber doch kritischen Instanz ihre Ge‐ schichten preisgeben. In der Mitte, am tiefsten Punkt dieses Weges, stünde dann das symbolische „Paris […] un enfer / eine Hölle“. 24 Auf den „Teufel“, der diese Welt, aber auch eine „Wende“ in ihr in sich verkörpert, komme ich noch zurück. So gesehen käme dann den auf die Welt von Paris folgenden Scènes de la vie de campagne / Szenen aus dem Leben auf dem Land, in denen sich beispielsweise zwei ländlich-konservative Utopien finden - abgelegene, kulturell und mora‐ lisch verkommene Täler werden musterhaft saniert - , 25 ihnen käme auf diesem „menschlichen Heilsweg“ die Position der „Läuterung“ zu. Und in den Études philosophiques würde sich das Erzählen schließlich über die Realität hinaus zu den Wahrheiten selbst erheben, zum „centre lumineux / der Mitte von Licht“ (1.1149), dem alles zu strebt, zur Wahrheit der christlichen Religion, der Mon‐ archie, der Moral, zur Überzeugung, dass der Mensch sich immer weiter ver‐ 88 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 26 Im großen Avant-Propos / Vorwort zur Gesamtausgabe von 1842, das jetzt in der Regel am Anfang aller Ausgaben der Comédie humaine steht (1.7-20), nimmt Balzac sich vor, „[de] voir en quoi les Sociétés s’écartent ou se rapprochent de la règle éternelle, du vrai, du beau? / inwieweit sich die Gesellschaften von der ewigen Regel des Schönen und Guten entfernen oder sich an sie annähern? “ (1. 11/ 12). Wird so dieses „Ewige“ nicht zu einer Frage, ja zu einer offenen Perspektive? 27 Pierre Barbéris, Balzac. Une mythologie réaliste. Paris 1971, S. 229 (genauer: „Der Rea‐ lismus ist hinreichende Bedingung des Absoluten“). 28 Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle, Rainer Warning (Hrsg.), Honoré de Balzac. München 1980, S. 227. 29 Nicole Mozet, Balzac au pluriel. Paris 1990, S. 32. bessern kann, zur „règle éternelle du vrai, du beau / zum ewigen Gesetz des Wahren und des Schönen“ (1.11/ 12). 26 Gewiss: „[Pour Balzac] l’absolu n’est pas menacé par le réalisme et le réalisme implique l’absolu / das Absolute wird für Balzac durch den Realismus nicht be‐ droht, und der Realismus führt zum Absoluten.“ 27 Aber wie überzeugend können diese Selbstdeutungen Balzacs, die wir freilich nur äußerst verkürzt zitieren konnten, allenfalls sein? Wenn man beispielsweise bedenkt, dass die wichtigsten Teile der Études philosophiques entschieden früher als die zugespitzt zeitkriti‐ schen Romane, etwa die der Scènes de la vie parisienne entstanden sind, insbe‐ sondere z. B. die späten, bitteren, ja „vergifteten“ Romane La cousine Bette und Le cousin Pons (1846/ 1847), auch wenn man nicht so weit gehen will, „die fiktive Totalität für Balzac eine notwendige Illusion“ zu nennen, 28 können diese „Wahr‐ heiten“ der „Philosophie“, verstanden als Aussagen zum „Sinnganzen“ der Co‐ médie humaine, können sie mehr Geltung beanspruchen als die einer transzen‐ denten Idee, oder die einer Forderung oder die einer Hypothese? Muss man nicht zumindest, will man die Comédie humaine verstehen, immer mehrere Bedeu‐ tungs-Wege gleichzeitig verfolgen, auch und gerade wenn sie in gegensätzliche Richtung weisen? Auf alle Fälle muss man sich die Texte Balzacs als in ständiger Bewegung begriffen vorstellen, das ist ein wesentlicher Aspekt ihrer Modernität: ein im‐ merfort sich veränderndes work in progress, ein progressives „oeuvre toujours recommencé / ein immer wieder neu begonnenes Werk“. 29 Da Balzac seine Er‐ zählungen immer wieder aufnahm, fortsetzte, wieder neu herausgab, zuerst als Fortsetzungsromane in Zeitschriften, dann als einzelne Bücher, manchmal in Teilsammlungen, dann in Bänden der Comédie humaine, indem er sie dabei immer wieder neu gruppierte und so fort, hat er auch ständig an ihnen Ver‐ änderungen vorgenommen, immer neue „relectures et modifications [dont] le texte final garde les traces / Lesarten und Modifikationen, deren Spuren noch 89 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 30 Nicole Ramognino (Hrsg.), Lectures actuelles de l’oeuvre de Balzac. Livre réel, livres pos‐ sibles, monde commun. Paris 2006, S. 43. 31 Minutiös exemplarisch untersucht von Suzanne Jean Bérard, La genèse d’un roman de Balzac „Illusions perdues“ 1837. 2 Bde., Paris 1961, die geradezu zusammenfasst: „Balzac crée son roman sur ses épreuves / Balzac erschafft seinen Roman auf seinen Probeab‐ zügen“ (Bd. 2, S. 302). der letzte Text bewahrt“. 30 Seine Entdeckung, sein „Geniestreich“ wiederkehr‐ ender Personen führte dazu, dass er auch das Personal früher entstandener Ro‐ mane immer wieder veränderte und so immer wieder und manchmal tief in die Handlung eingriff. Ebenso schob er einzelne Werke immer wieder zwischen verschiedenen Abteilungen der Gesamt-Architektut hin und her. Und alle diese immer neuen Kontexte eröffnen immer neue Deutungsperspektiven. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als der zweite Band von Illusions perdues 1839 erschien, dessen erstes Kapitel mit dem letzten des ersten Bandes (1837) identisch ist - wir haben oben daraus zitiert -, da war schon vorher die Kurzgeschichte La Torpille (1838), also der Anfang von Splendeurs et misères des courtisanes ert‐ schienen (vgl. 6.1309ff., v. a. 1310), der Fortsetzung von Illusions perdues; und noch sprunghafter: Der Titel und das Projekt La Torpille tauchen schon 1835 im Zusammenhang mit Le père Goriot (1835) auf. Man sieht, wie früh schon Lucien als der unglückliche „Doppelgänger“ Rastignacs entworfen wurde; und wenn er dann in die fiktive Welt der Comédie humaine eingeführt wird, wie um ihn herum sogleich drei Zeiten, ja drei „Welten“ einander überlagern: Luciens Eintritt in die Welt von Paris trägt immer schon die Vorzeichen seines Scheiterns und seiner Wiederkehr in einem neuerlichen, destruktiven Glücksspiel („la bouil‐ lotte“, 5.702, „la roulette“, 6.431) in sich; in Paris begegnet er sofort, wenn auch noch verborgen, dem Großverbrecher Vautrin, „le type de toute une nation dé‐ génerée, d’un peuple sauvage et logique, brutal et souple / Typus einer ganzen verkommenen Nation, eines wilden und logischen, brutalen und gerissenen Volkes“ (3.219), wie man ihn schon vom Ende von Le père Goriot (1835) her kennt. Und sein Abstieg zur männlichen „Kurtisane“ ist schon jetzt vorgezeichnet. Die Zukunft ist immer schon anders, als man sie überhaupt erwarten kann. Und diese Dynamik setzt sich bis in die kleinsten Gliederungen der Werke hinein fort. Eine für Balzac eigentümliche Form der Arbeit am Text, seine speziell für ihn charakteristische Weise des „work in progress“ bzw. des „oeuvre toujours recommencé“ ist, was sich ein ehemaliger professioneller Buchdrucker eigent‐ lich kaum erlauben sollte, die ausufernde Korrektur auf den Probeabzügen der Druckfahnen. 31 Der Charakter des Romanhelden der Illusions perdues beispiels‐ weise verschlechtert sich so nach und nach immer weiter auf den Druckfahnen, die einander oft in mehreren Schichten überlagern und ablösen. Es gibt zu Pas‐ 90 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 32 Vgl. ebd. Bd. 2, S. 120ff. 33 Untersucht ebd., Bd. 2, S. 237ff. 34 Die ideale „Gegenwelt“ zur Welt von Paris, das “Cénacle“, auf das wir unten eingehen werden, kommt wesentlich erst in den Korrekturen auf den Druckfahnen hinzu, wie ein erwünschte Antwort auf diese fragwürdige Welt (vgl. 5.1239 ff). 35 Vgl. z. B. das Register der Personnages fictifs im Anhang der Édition Intégrale, hrsg. von Pierre Citron, Bd. 7, S. 619-651, oder etwa Fernand Lotte, Dictionnaire des personnes fictives de la Comédie humaine. Paris 1952. 36 Vgl. ebd., S. 497-502 (der Lebenslauf wird kontinuierlich erzählt) mit dem Register der Édition Intégrale, S. 645, das dem Aufbau der einzelnen Abteilungen folgt; aber man müsste auch ein Register erstellen, das sich an der Entstehung der Comédie humaine orientiert. sagen der Illusions perdues bis zu 33 Abzüge. 32 Genannt sei nur der solcherart auf dem 11. Korrekturabzug 33 nachgetragene fiese Zug, dass Lucien die Liebe zwischen seinem Freund und seiner Schwester nicht recht ist, weil sie ihn ge‐ sellschaftlich, genauer, in seinen snobistischen Ambitionen, vielleicht hinab‐ ziehen könnte (vgl. 5.223 und 5.1195). Es ist, als „verlöre“ der Autor selbst nach und nach beim Schreiben seine „Illusionen“ über seinen Helden, der, und das scheint mir sehr wichtig, in vielem ja auch sein eigenes „anderes Ich“ ist, eine schillernde und dunkle Möglichkeit in ihm selbst. Und besonders viele korri‐ gierte Druckfahnen gibt es dann zum zweiten, noch wichtigeren Band dieses Romans. 34 So könnte man, und müsste eigentlich, bei Balzac immer auch in die Tiefe der Texte und in die Schichten der Veränderungen dieses in der Tat poly‐ historischen „work in progress“ hinein lesen. Lebensläufe und Galerien: Geradezu ein Markenzeichen des Erzählers Balzac, und seit ihm weltweit viel‐ fach nachgeahmt, ist der Kunstgriff der „wiederkehrenden Personen“. Und mit diesem eng verbunden ist das Prinzip alternativ variierender Typisierung. Man kann, und wird wohl oft, die Comédie humaine auch so lesen - dazu gibt es Lese-Führer -, 35 dass man den Lebenslauf einer wichtigen oder auch nur inte‐ ressanten wiederkehrenden Person durch verschiedene Abteilungen des Ge‐ samtwerkes hindurch verfolgt. Und je weiter man sich umsieht, umso deutlicher versammeln sich diese Personenentwürfe dann auch in einer imaginären Galerie von Doppelgängern, Familienähnlichkeiten und Kontrastgestalten: Rastignac beispielsweise, der erste und wohl wichtigste wiederkehrende Ro‐ manheld Balzacs, 36 tritt erstmals auf als ein Mann von Welt, der in Paris prob‐ lemlos zu Hause ist, im wichtigen phantastisch-philosophischen Roman La peau de chagrin / Die Eselshaut (Der Talisman, Die tödlichen Wünsche), der früh, 1831 entstanden ist, aber spät, nämlich erst in den Études philosophiques präsentiert 91 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 37 Pierre Barbéris, Balzac et le mal du siècle. Paris 1970, S. 1448. 38 Der Talisman, erworben aus verzweifelter Sehnsucht nach dem Unbedingten, erfüllt jeden Wunsch, verkürzt aber dabei jedes Mal das Leben. 39 Ich habe das irgendwo gelesen, kann es aber nicht verifizieren. wird. Der Entstehung der Comédie humaine nach verkörpert Rastignac hier ge‐ genüber dem verzweifelten Romanhelden einen vitalen „cynisme total / volle‐ ndeten Zynismus“, 37 der eine Antwort auf die „tödlichen Wünsche“ 38 gewesen wäre. Aber folgt man dem Aufbau der Comédie humaine, dann wird Rastignac, zugespitzt argumentiert, zu einem Teil für die Gründe, die den Romanhelden Raphael in die Verzweiflung getrieben haben. Und es wirkt dann geradezu wie eine Antwort auf diesen konzeptionellen Widerspruch, wenn im Verlauf der Entstehung der Comédie humaine die erste „Wiederkehr“ Rastignacs, zugleich die erste Einführung dieses erzählerischen Kunstgriffs überhaupt, wenn also im Roman Le père Goriot / Vater Goriot (1834) eine frühere Phase in Rastignacs Leben nachgetragen wird. Man erfährt, wie er zu dem wurde, was er ist, und was er nicht ist. Jetzt ist Rastignac durchaus ein jugendlich edler und - was sein spä‐ terer, kontrastierender „Doppelgänger“ Lucien nie sein wird - ein charakter‐ starker Romanheld: Er ist (noch) arm, aber auch (noch) ehrlich; er widersteht den Avancen des „Versuchers“ Vautrin (Lucien wird ihnen später verfallen), er ist der Freund des Medizinstudenten und späteren großen Arztes Bianchon, einer Lichtgestalt der Comédie humaine - Balzac, todkrank, soll gesagt haben: „Holt Bianchon! “ 39 -, und er pflegt mit diesem zusammen selbstlos und aufop‐ fernd den alten, früher sehr reichen, jetzt völlig verarmten „Vater Goriot“, der selbst wiederum die Variation eines Typs ist und in seine eigene „Galerie“ von Portraits gehört. Denn Goriot ist deutlich ein Gegenentwurf zum Urbild aller Wucherer Grandet (aus Eugénie Grandet, 1833), oder auch zum späteren alten Séchard (aus Illusions perdues, 1837): Während diese gerade auch ihre Familie ausbeuten und betrügen, teilt Goriot seinen ganzen Reichtum zwischen seinen Töchtern auf - dies ist ja wesentlich eine King-Lear-Adaption -, die seinen ganzen Besitz verbrauchen, geradezu auf seinen Tod spekulieren, sprich, seine Leibrente verpfänden („escompté […] la mort de [leur] père“, 3.299), und ihn zuletzt in einem Dachverschlag verhungern lassen. Und wie geht es mit Rastignac, einem für die Comédie humaine schlechthin zentralen Romanhelden, weiter? Um das zu erfahren muss man im Aufbau des Werkes sozusagen herumspringen. Le père Goriot schließt mit der berühmten Szene, in der Rastignac nach der Beerdigung Goriots von den Höhen des Fried‐ hofs herab auf das nächtlich erleuchtete, wie eine vielköpfige Hydra sich wind‐ ende Paris hinab schaut, die Faust reckt und ausruft: „À nous deux maintenant / Jetzt zu uns beiden! “ (3.290). Aber ein Heros, ein Ritter, der selbst die Hölle nicht 92 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 40 Der Roman ist sowohl der Entstehung als auch der Ordnung der Comédie humaine nach eng mit dem Roman Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau / Ge‐ schichte der Größe und des Niedergangs des César Birotteau (1837) verbunden (6.37-312), auf den ich am Ende dieses Vortrags eingehen werde. 41 Es ist bezeichnend, dass Balzac diese Erzählung zunächst in die Études philosophiques einordnen wollte, denn es geht um Gerechtigkeit, Wissenschaft, ja um naturnahe Re‐ formpädagogik (des Marquis für seine Kinder), dann in die Scènes de la vie parisienne, denn Intrigen und Bereicherung motivieren die Handlung, zuletzt in die Scènes de la vie privée, denn im Mittelpunkt steht ein Konflikt zwischen Eheleuten (vgl. 3.1380/ 1381). fürchtet - „je suis en enfer et il faut que j’y reste / ich bin in der Hölle, und da muss ich bleiben“(3.268) hatte er schon früher gesagt, als hätte ihn sein Autor in den großen Plan des Werkes eingeweiht, in dem er steht -, ein solcher Kämpfer für eine bessere Welt ist Rastignac nur diesen einen Augenblick lang. Wenn er in zwei 1836 und 1838 erschienenen kürzeren Erzählungen wieder auftritt, hat er sich mit bedenklichen Personen verbündet: Er hilft z. B. dem Baron de Nucingen mit der Fassade seines alten, Vertrauen erweckenden Na‐ mens bei dessen Anlage-Betrügereien und wird selbst dabei wohlhabend (La maison Nucingen / Das Haus Nucingen, 1838, wobei „Haus“ ironisch für „Bank“ steht). 40 Und noch später in seinem Leben - aber die Erzählung selbst wurde wohlgemerkt vor der eben erwähnten veröffentlicht, wodurch der Sprung vom armen Studenten zu „l’un des hommes les plus élégants de Paris, le baron de Rastignac/ einem der elegantesten Männer von Paris, dem Baron de Rastignac“ (3 421) noch plötzlicher wird -, verbündet Rastignac sich beispielsweise mit der Marquise d’Espard, einer zynischen Intrigantin ( „[une] femme comme […] une vipère / eine Frau wie eine Schlange“, 3.459), bei deren Versuch, ihren Mann, einen aufgeklärt denkenden und handelnden „wahren Edelmann“ gerichtlich für unmündig erklären zu lassen, was aber dank des weisen und unbestechlichen Richters Popinot, einer weiteren Lichtgestalt der Comédie humaine, fehlschlägt (L’Interdiction / Die Entmündigung, 1836). 41 Man sieht, wie Rastignac gesell‐ schaftlich emporkommt und moralisch absteigt. Er kämpft nicht gegen die Ge‐ sellschaft, sondern um einen Platz in ihr. Er kämpft, indem er sich anpasst. So wird er dann auch als der erfolgreichere Doppelgänger des Romanhelden in Illusions perdues erneut wieder auftreten - der Entstehung nach später, seinem Lebenslauf nach aber früher als der korrupte Charakter, der er in La maison de Nucingen für die Handlung erst noch sein wird, für das Urteil der Leser aber bereits gewesen sein konnte. Wie eine Einblendung in einem Film kann man ihn mehrfach und in sich selbst gespalten, sich selbst gegenüber verfremdet, wahrnehmen: nah vor den Augen der Vorstellung in der aktuellen Szene und zugleich in der verurteilenden Distanz kritischer Moralistik. Wird hier nicht 93 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 42 Er ist der von der Geschichte des Südens und der seiner eigenen Familie traumatisierte Erzähler in Absalom, Absalom! (1936); aber man weiß aus dem 9 Jahre früher erschienen Roman The Sound and the Fury (1927), dass er wenig später Selbstmord begehen wird. 43 Vgl. das Register fiktiver Personen der Édition Intégrale, S. 639. 44 Vgl. Gérard Gengembre, Honoré de Balzac „Le lys dans la vallée”. Paris 1994, S. 29, wobei allerdings noch prägender Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloise (1761) war (vgl. ebd., S. 26ff.), die ja auch schon für den Werther ein wesentliches Vorbild abgab; de Vandenesse und Werther wären also sozusagen „Vettern“. höchst modern - man denke etwa an die Gestalt des Quentin Comptson bei Faulkner 42 - mit mehreren und mehrfach gebrochenen Perspektiven gespielt? Im zweiten Band der Illusions perdues, der in Paris situiert ist, kehrt nicht nur Rastignac wieder, es strömen überhaupt Gestalten aus vielen Teilen der Comédie humaine zusammen. So wie dieser Roman-Teil ja auch auffallend viel und dicht in den Korrekturabzügen überarbeitet wurde. Lucien, der „große Mann der Pro‐ vinz in Paris“, steht so gewissermaßen im Schnittpunkt mehrerer „Galerien“ und Typen-Reihen: Er ist ehrgeizig wie Rastignac, aber ohne dessen Härte und Auf‐ stiegschancen; er ist schön, mädchenhaft schön („une jeune fille déguisée“, 5.143) wie de Marsais („une beauté de jeune fille“, 5.277) - eine Art Traum-Ich Balzacs, das vielleicht, allerdings jeweils kürzer als Rastignac, noch öfter in der Comédie humaine wiederkehrt -, 43 aber ohne dessen Raubtierqualitäten („un tigre“, ebd.), die diesen zuerst zum Don Juan (La fille aux yeux d’or, 1834) und später zum hohen Politiker und Diplomaten befähigen (z. B. Une ténébreuse affaire / Eine dunkle Begebenheit, 1841). Er ist empfindsam, ja kindlich in seinen Gefühlen, wie der Romantiker de Vandenesse, eine Gestalt der Werther-Nachfolge (aus Le lys dans la vallée / Die Lilie im Tal, 1836), 44 aber ohne dessen Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Am fatalen Abend in der Oper setzt Rastignac sich in Szene, indem er - beide kommen aus derselben Stadt - zur allgemeinen Erheiterung die klein‐ bürgerliche Herkunft Luciens enthüllt; de Vandenesse schenkt Lucien einen mitleidigen Blick; de Marsais betrachtet ihn ironisch durch sein Monokel, das er dann signifikant fallen lässt, „wie das Beil einer Guillotine“. Aber in dieser Konfrontation kehren sich zugleich, kennt man die Romane, die jede dieser Per‐ sonen mit sich trägt, die Perspektiven um: Die Gegenüber in dieser „Galerie“ von Doppelgängern sind bereits menschlich ausgehöhlt, sie haben ihre Romane bereits hinter sich und stellen „erledigte“ moralistische Experimente dar; sie wirken wie Schauspieler ihrer selbst; und Lucien wird, zumindest in dieser Szene - er ist dumm, andere sind fies -, zum menschlich interessanteren, gedemütigten Opfer einer Welt, die selbst nur eine Welt des Scheins ist. Doch mit dieser „Hinrichtung“ seiner „Größe“ ist Luciens Paris-Roman ja noch keineswegs zu Ende. Wenn er im folgenden Kapitel arm aber fleißig zu studieren und literarisch zu arbeiten beginnt, schließt er Freundschaft mit 94 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? jungen Künstlern, Literaten und Gelehrten, von denen viele ihren eigenen Roman haben oder noch erhalten werden. Und viele von ihnen sind wirklich begabt, leisten etwas und werden sich durchsetzen: Ein veritabler Bildungs‐ roman erschließt sich nach und nach, zumindest in Perspektiven. Könnte man ihn zusammenhängend, also quer durch die Abteilungen der Comédie humaine hindurch lesen, er wäre durchaus mit dem Wilhelm Meister vergleichbar, auch und gerade darin, dass Lucien an ihm eben vor allem desillusionierend teil‐ nimmt. Ein weiterer Typen-Kreis tut sich auf, wenn Lucien in der Welt des Journa‐ lismus und der des Theaters - beide sind hier eng verzahnt - seinen gesell‐ schaftlichen Wiederaufstieg beginnt. Die Liaison eines Journalisten/ Schriftstel‐ lers mit einer Schauspielerin - um nur eine, für Lucien „vielleicht lebensentscheidende“ (5.415) Szene zu nennen: Neben seiner neuen Geliebten, der wunderschönen Schauspielerin Coralie, er selbst modisch elegant wieder hergestellt, in der prächtigen Kutsche von Coralies Gönner, dem reichen Groß‐ händler Camusot, fährt er triumphierend an der ältlichen, schon etwas „ver‐ trockneten“ Mme. de Bargeton vorbei, für die er vor kurzem „nicht existiert“ hatte, und schaut sie „mit Verachtung“ an; und im Klatsch-Teil seiner Zeitung wird er sich erst recht an ihr rächen - sowohl dieser Handlungs-Kern: Journalist und Schauspielerin, als auch die kontrastierende Kombination: Schriftsteller und große Dame, eine Obsession aus Balzacs eigener Biographie, kehren im Gesamtwerk immer wieder. In einer Reihe von Erzählungen, die in großer zeit‐ licher und thematischer Nähe zu Illusions perdues entstanden sind, deren Per‐ sonal teilen und ihre Handlung spiegeln, kann man geradezu von „geprüften“ oder auch „korrigierten Illusionen“ reden: In Une fille d’Eve / Eine Tochter Evas (1839) etwa wird der Literat, ein „Genie-Darsteller“, von der „Dame“ durch‐ schaut. Oder es gibt so etwas wie „Illusionen, die zu Wahrheiten werden“, z. B. in Une princesse parisienne / Eine Pariser Prinzessin (später: Les secrets de la prin‐ cesse de Cadignan / Die Geheimnisse der Prinzessin von Cadignan, 1839), wo das wahre Genie und eine wirklich „große“ Dame alle Vorurteile hinter sich zu lassen vermögen. Oder es trennen sich einmal „Illusion und Selbstbewusstsein“, wie in La muse du département / Die Muse des Regierungsbezirks (1834/ 1844), wo eine Art weiblicher Bildungsroman die Dame intellektuell und menschlich über den berühmten Journalisten, einen „Blender“, hinauswachsen lässt, und so fort. Es ist, als wollte Balzac durch dieses Öffnen seiner „erzählten Galerie“ zeigen, wie viele mögliche Wendungen die Konfliktstruktur seines zentralen Romans hätte nehmen können. Denn „Struktur“, wir erinnern uns, heißt hier immer „Prozess“. Und, um nur einen Punkt in diesem Netz von Querverweisen anzusprechen, die zentralen Stichwörter, die jeweils das Lebensmotto der Romanhelden formu‐ 95 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? lieren: „mais / aber“ (Une princesse parisienne, 6.1003) und „parce que / weil“ (La muse du département, 4.788), diese Maximen des Denkens und Lebens korres‐ pondieren einander nicht nur ganz offensichtlich, sie geben auch recht konzise ein Erzählprinzip der ganzen Comédie humaine an: die folgerichtige Konsequenz („weil“) und zugleich die Offenheit („aber“) dieses moralistischen Experiments. Es ist im Einzelnen realistisch konsequent erzählt und öffnet sich zugleich im Ganzen, auf dem Weg zur Moderne, einer Weltsicht, in der alles immer „autre / anders“ sein kann. Die verfremdete Autobiographie Das Besondere im Zirkel all dieser Variationen, der noch viel weiter ausgreift, als hier skizziert werden konnte, das, was Illusions perdues gleichwohl heraus‐ hebt, erst recht wenn man diesen Roman mit seiner Fortsetzung Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen (1838-1847) zusammen sieht, ist, und auch hier sieht man einen Weg zur Moderne, die Radikalität des Experiments: Es führt vom kalten Dachboden zum Luxus der Salons, von all‐ gemeiner Verachtung zur Liebe der schönsten Frauen, vom Paria auf der Straße in die höchsten Gesellschaftskreise hinauf, ja nahezu hinein in die Familie eines Herzogs, es führt auch von authentischer Poesie zu allen Formen geistigen Be‐ trugs, von der Idee - auch für Balzac wie für Hegel eine Idee der Humanität - zum alles beherrschenden Geld, „der einzigen Macht, vor der diese Welt nie‐ derkniet“ („la seule puissance devant laquelle ce monde s’agenouille“, 5.287), von der ethischen und intellektuellen Integrität des Cénacle - dazu gleich - zum „schlauen und brutalen“ Verbrechen in der Welt Vautrins. Wohl nirgends sonst in der Comédie humaine, wenn nicht überhaupt im Roman des 19.Jahrhunderts, wird die Auseinandersetzung zwischen einer Idee von Humanität und den „Sitten“, den bürgerlichen Verhaltensmöglichkeiten der Zeit, so extrem ausge‐ tragen wie hier. Zu diesem „realistischen Ernst“ im Sinne der Aristotelischen „Mimesis“ passt es, dass Balzac hier seine eigene Biographie, und zwar zugleich entschieden verdichtet und noch entschiedener verfremdet, in sein Erzählexperiment ein‐ gebracht hat. Verfremdend wirkt es ja bereits, dass es in Illusions perdues zwei ganz alternative Helden gibt; und beide tragen deutlich autobiographische Züge: Der „Erfinder“ - ist nicht auch ein Romancier ein „inventeur“, ein „Erfinder“? - David Séchard hat deutlich Balzacs eigene Physiognomie und, was vielleicht noch wichtiger ist, charakterliche Energie. Er betreibt, wie sein Autor es zeit‐ weilig und vergleichbar verlustreich versucht hat, eine Druckerei; und er ver‐ folgt als Wissenschaftler ein Projekt, das auch Balzac immer wieder, allerdings nur theoretisch beschäftigte: die Herstellung eines preiswerten Papiers aus 96 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 45 Un Balzac non tel qu’il était, mais tel qu’il aurait rêvé d’être“, Suzanne Bérard, La genèse d’un roman, Bd. 1, S. 28. pflanzlichen Rohstoffen. Aber es ist nicht die Chemie und die Technik, deren Probleme er ja durchaus zu lösen vermag, es ist auch nicht der Markt, also das Missverhältnis von Investition, Liquidität und zu spät einsetzender Rendite, auch wenn dieser Hintergrund durchaus bewusst bleibt, woran David scheitert, sondern - und hier zeigt sich eben der Moralist - es ist ein Meute von falsch spielenden Konkurrenten, überhöht verzinsenden Bankiers, korrupten An‐ wälten, die seinen Vorteil verraten, bestochenen Angestellten der Verwaltung, nicht zuletzt sein eigener Vater, der ihn hereinlegt, und sein bester Freund, der seine Unterschrift auf Wechseln fälscht, es ist mannigfacher Betrug, der David um den materiellen Erfolg seiner Erfindung bringt. Und wohlgemerkt, wissen‐ schaftlich und technisch führen seine „Leiden“ ja zum Erfolg. Und Lucien, das traumhaft 45 schöne Gegenüber Davids - dass Balzac selbst von solchen „séduisant[s] hommes-filles“ (6.330, „verführerischen Männer-Mädchen“) geträumt hat, haben nicht zuletzt Marcel Proust, bzw. sein Baron de Charlus bemerkt -, schreibt und publiziert wie Balzac selbst einen Romanerstling in der Walter-Scott-Nachfolge, ihm werden eigene Gedichte seines Autors anvertraut, er arbeitet und hungert eine Zeit lang in einer Stu‐ dentenmansarde, versucht sich, allerdings mit viel mehr Erfolg, als Journalist, lebt zugleich im Theater und in den Salons, und er hat Balzac vergleichbare, allerdings erfindungsreich vergrößerte Amouren. Aber er ist in alledem allen‐ falls Balzacs „katastrophales Möglichkeits-Ich“: eine mit illusionsloser, kriti‐ scher Distanz verfolgte Experimentalfigur, die sein Autor wie eine Art Sonde in die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären von Paris einführt. Lucien, von Anfang an ein Talent, das sich für ein Genie hält, ein Streber, der sich überredet hat und überreden lässt, ein Dichter zu sein, wird dem Sog von Paris, wie Balzac es sieht, völlig erliegen. Er wird im Verlauf des zweiten Bandes der Illusions perdues immer charakter- und willenloser: So mutiert er vom Dichter zum total käuflichen Journalisten, er verfasst z. B. Rezensionen und Kri‐ tiken, noch dazu virtuos, so gut wie im Auftrag der Theater und Verlage; er kann je nach persönlichem Vorteil seine politischen Überzeugungen beliebig wech‐ seln, bis hin zu seinem, durch Versprechungen erkauften Übergang vom libe‐ ralen ins konservative Lager; wobei freilich nie jemand in der Regierung ernst‐ haft vorhatte, diese Versprechen einzuhalten. Auch die treuen und edlen Freunde, die er findet, den „philosophischen Romancier“ d’Arthez beispielsweise - ein weiteres idealisiertes Selbstportrait Balzacs - wird er verraten. Das Glücks‐ spiel wird für ihn zur Sucht. In diese Phase seines Lebens fällt ja auch sein 97 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 46 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher Verf., Der realistische Weg. Formen prag‐ matischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994, v. a. S. 481ff.: Ein realistischer Weg durch die „Comédie humaine“. Wechselbetrug. Die Prostitution begrüßt ihn schon früh als gleichwertig. In freundlicher Form ist sie an seinem Aufstieg beteiligt: Die ihn aufrichtig liebende schöne Coralie ist die Mätresse des reichen Camusot; in brutaler Form „verdient“ Coralies Dienerin am Ende des zweiten Bandes „auf der Straße“ das Geld für Luciens Abreise aus Paris. Und da das Fragment La Torpille, also der Anfang von Splendeurs et misères des courtisanes, schon vor diesem zweiten Band der Illusions perdues erschienen war, ist auch Luciens nächste Rolle als „Kurtisane“ das Groß‐ verbrechers Vautrin, ja mittelbar auch die des Zuhälters der „edlen Hure“ Esther, schon früh seinem Charakter eingeschrieben. Balzacs „Zweck-Idee“ - und die große Leerstelle Wie geht das alles zusammen? Worauf könnte das hinauslaufen? Was ist der verstehbare „Sinn“ dieses extremen Erzählexperiments? Wenn Lucien im letzten, 1847 veröffentlichten Romanabschnitt im Gefängnis Selbstmord begeht, kommt ja auch eine lange Serie immer neu variierter, aber, zumindest in Teilen, doch auf sprechende Weise erkennbarer, autobiographischer Entwicklungsro‐ mane an ihr Ende, die die ganze Comédie humaine durchzieht. 46 Auch in dieser Kontinuität hat Illusions perdues eine besondere Bedeutung. In vergrößertem Maßstab wiederholt sich, was schon die beiden oben skizzierten „Anfänge“ so interessant gemacht hatte, und was ich Ihnen heute zumindest als These an‐ bieten möchte: Erneut tut sich eine „Leerstelle“ auf, die auf die Comédie humaine als ganze und damit auf ihren experimentellen, „moralistischen“ Realismus ver‐ weist. Die Art und Weise, wie Balzac erzählt, das Werk, das so entstanden ist, der „Diskurs“ der Comédie humaine, die Praxis literarischer Arbeit als solche, all das wird selbst zum Argument in diesem rücksichtslosen „Verlustspiel der Illu‐ sionen“ und gegen es. Und das Ziel dieses fiktionalen Erfahrungsexperiments, zumindest sehe ich dies als eines seiner wesentlichen Ziele, ist ein Konsens des Wissens, Denkens und letztendlich auch Entscheidens - den es nicht wirklich gibt. Denn die Illusions perdues sind neben vielem anderem ja ein ausgesprochener und umfassender Medien-Roman, ein Roman der Wort- und Printmedien, der so gut wie vollständig die Arbeitsfelder vorstellt, in denen Balzac selbst tätig war. Das beginnt, vom Aufbau, vom Paradigma des Mediums selbst her be‐ trachtet, schon ganz materiell mit den vielen technischen und wirtschaftlichen Aspekten der Papierproduktion, die ausgebreitet werden. Umfassend untersucht 98 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 47 Vgl. zum Folgenden, also zum „effacement progressif du référent externe“ (der fort‐ schreitenden Tilgung externer Referenz, 5.1279) die erläuternden Kommentare der Édi‐ tion de la Pléiade, v.a. 5.1278ff. der Roman sodann vor allem eben die vielfältigen Formen professionellen Schreibens, also ganz nah und anschaulich die teils einsamen, teils geselligen Mühen und Freuden von Autoren: Lyrik, Roman, Theaterstücke, überhaupt Bü‐ cher, Zeitungsartikel der verschiedensten Sorte, und so fort. Vorgestellt werden, und nicht gerade freundlich, verschiedene Typen von Verlegern, deren Strate‐ gien beim Erwerb von Manuskripten, aber durchaus auch ihr Marketing; es treten ja beispielsweise auch Handelsvertreter auf. Genauso gibt es sehr farbige Szenen zu anderen Formen der Publikation: Theaterarbeit, Erfolge und Flops der Inszenierung bis hin zu professionellen Claqueuren, nicht zuletzt auch zu den vielerlei Intrigen hinter den Kulissen. Wie wird, blicken wir weiter, eine Zeitung vorbereitet, gemacht und verkauft? Wie helfen, befehden und verraten die Jour‐ nalisten einander? Wer setzt wen und wie jeweils unter Druck? Vor allem: Was kann man jeweils bei alledem, in den vielfältigen Funktionen dieses Mediums, verdienen? Und wohlgemerkt, ein beträchtlicher Teil des Romans kreist schließ‐ lich ja um das technische, betriebliche, geschäftliche und kulturelle Leben einer Druckerei. Balzac kannte das alles aus eigener Erfahrung. Neben so vielem an‐ derem hat er sich ja etwa auch als Verleger versucht, interessanterweise als Verleger kompakter, preiswerter Klassiker-Ausgaben - es fehlte ihm allerdings das Vertriebssystem - , als habe er das spätere Schicksal seines eigenen Oeuvre vorhergesehen. Diese in der Tat so gut wie vollständige Welt der Wort- und Printmedien, die in Illusions perdues einen so zentralen Platz einnimmt, ist Balzacs eigene Welt. Aber er gehört dieser Welt auch wieder nicht an. Nicht nur dass er sie, so wie sie im Roman aussieht, ausdrücklich als etwas bei dessen Erscheinen, also zwi‐ schen 1837-1847, völlig Überholtes darstellt. 47 Die wichtigen damaligen und auch seitdem weiter bestehenden Zeitungen etwa werden gar nicht genannt; die Theater, in denen der Roman spielt, waren eher unbedeutend, und es gibt sie zehn Jahre später nicht mehr. Auch die „Residenz“ des Großverlegers wurde inzwischen abgerissen. Selbst die Druckmaschinen, die der zweite Romanheld David Séchard ruinös betreibt (das „Stanhop-Modell“), waren schon zur Zeit der Handlung des Romans überholt; und als dieser dann erschien, gab es für Zei‐ tungen bereits die Rotationspresse, und so fort. Es geht nicht um Fakten, es geht gar nicht um dokumentierte Geschichte, es geht um menschliches und gesell‐ schaftliches Verhalten, um „les moeurs“: um kritische Moralistik. Umso bemer‐ kenswerter ist es dann aber, dass unter den vielen Literaten, die der Roman vorstellt, gerade der Platz eines energischen, kreativen und erfolgreichen Ro‐ 99 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 48 Vor allem in der Gestalt und der Arbeit des Romanciers Sandoz in L’Oeuvre (1886) sowie in den Projekten zur „Geschichte einer Familie“ des Romanhelden in Le docteur Pascal (1893). 49 Nur ein höchst prominentes, „klassisch modernes“ Beispiel sei genannt. Wenn James Joyce’s Ulysses (1922) durchgehend Stationen der Odyssee Homers, wie spielerisch immer, in die Welt Dublins übersetzt, dann fehlt, abgesehen von winzigen, freilich schneidend klaren Hinweisen, eine, ja die zentrale Episode aus dem V. Gesang: Odysseus zwischen dem Zorn des Poseidon und der Rettung durch Leukothea, zwischen Tod und (auferstandenem) Leben, männlichem und weiblichem Prinzip, Untergang und „Heim‐ kehr“, und so fort. Und genau diese Schwelle ist so ernst und bedeutsam, dass sie - von „null“ zu „unendlich“ - den ganzen Roman beschäftigt. Vgl. Marion Lausberg / Verf., Homer „Odyssee“ - James Joyce „Ulysses“. In: Verf. (Hrsg.), Große Werke der Literatur VII. Tübingen und Basel 2001, S. 119-151, v. a. S. 129-134. manciers leer bleibt. Es gibt nirgends die Erzählfigur, dass, wie etwa in David Copperfield oder dem Grünen Heinrich am Ende eines Romans das Aufschreiben dieses Romans steht. Balzac spiegelt auch keinesfalls, so wie es z. B. später Émile Zola getan hat, 48 sein mindestens vergleichbar groß angelegtes eigenes Projekt, eben die Comédie humaine selbst, in einem seiner „Dichter- und Schriftsteller-Romane“. Es wäre ja leicht vorstellbar, dass am Ende d’Arthez oder Canalis oder Blondet oder Camille Maupin sich in ein mit Papieren vollge‐ stopftes Arbeitszimmer, oder in ein Landhaus, oder in eine elegante, an den Salon angrenzende Bibliothek, oder einen Pavillon irgendwo im Garten zurückziehen und anfangen diese Geschichte aufzuschreiben: die Geschichte des Lucien Chardon, der sich de Rubempré nannte, der beinahe ein berühmter Dichter ge‐ worden wäre, beinahe ein einflussreicher Journalist, beinahe ein Marquis, und der sich im Gefängnis erhängt hat. Aber: „Halt! “, muss man sogleich rufen. Ist nicht gerade diese Leerstelle viel wirksamer? Sagt sie nicht noch viel eindrücklicher als jedes Selbstportrait: Diese Welt braucht einen Balzac, damit sie sichtbar und begreifbar wird, damit wir sie beurteilen und an ihr lernen können? Und zugleich markiert die Leerstelle, über dieses „realistische“ Selbstbewusstsein hinausgehend, einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Moderne. Wenn, zugespitzt gesagt, die Comédie humaine in sich selbst nicht vorkommt, dann ergibt sich eine Entsprechung wie die der Zahl „null“ zur Zahl „unendlich“. Die Wahrheit der Comédie humaine, wenn ich so sagen darf, ist nirgends in den hier erzählten Geschichten einfach zu finden, sie muss gesucht werden, nein, sie ist die unendliche Fortsetzbarkeit ihrer Perspek‐ tiven und möglichen Lektüren. Hat das nicht etwas entschieden Modernes? 49 Freilich, ganz leer ist diese Sinn-Stelle in den vielfältigen Dynamiken der Comédie humaine dann ja nun doch nicht. Nicht nur ist der Dichter-Philosoph d’Arthez sicher ein idealisiertes Selbstportrait seines Autors, noch sprechender ist die Welt, in der er lebt, dessen Ideal. Denn sie ist der Welt des Journalismus, 100 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? des Theaters, des mondänen Ehrgeiz und der politischen Intrigen diametral ent‐ gegengesetzt. Rastignac hätte keinen Zugang zu ihr. Lousteau, der Lucien zum Journalismus geradezu „verführt“, ist dem Aufbau der Handlung nach d’Arthez sorgfältig, geradezu spiegelbildlich, kontrastiert. Dagegen nimmt d’Arthez dann folgerichtig die Stelle Davids, des aufrichtigen Freundes aus dem ersten Band ein, nicht zuletzt z. B. darin, dass er und seine Freunde Lucien finanziell unter‐ stützen, und leider auch darin, dass Lucien - er schreibt, der Linie seiner Zeitung folgend, eine vernichtende Rezension von d’Arthez’ erstem Roman - auch ihn verraten wird. Und sehr wichtig scheint mir, dass die Textpassagen zu d’Arthez und seiner Bildungswelt wesentlich erst über die Korrekturfahnen der Druck‐ legung in den Roman hineingekommen sind (vgl. 5.1242ff.). Sie stellen den Ent‐ wurf eines idealen Bildungsziels dar, das der Romanheld verfehlt, mit dem sich aber der Diskurs der Illusions perdues, ja der der ganzen Comédie humaine ver‐ bündet, das jedoch in der Geschichte so gut wie eine Insel bleibt. Wenn, folgt man der Entstehung des Romans, das Ideal die Realität, das authentische Denken dessen Korruption, den Journalismus korrigieren, dann lediglich, aber dies dann doch klar, im Sinne eines bloßen Entwurfs, genauer: einer Zweck-Idee, die über jedes reale Substrat hinaus führen kann. Was das „Cénacle“, der Kreis hochbegabter junger Wissenschaftler, Künstler und Philosophen, die sich um d’Arthez versammeln, und zu denen Lucien eine Zeit lang gehört, was diese innere Gegenwelt zur Welt von Paris verkörpert, ist vor allem eine Kultur der Kommunikation: Tous discutaient sans disputer […]; l’opposant quittait son opinion pour entrer dans les idées de son ami […]. Ils pouvaient tout penser et se tout dire sur le terrain de la science et de l’intelligence. […] L’estime et l’amitié faisaient régner la paix entre les idées et les doctrines les plus opposées. / Alle diskutierten miteinander, aber sie lie‐ ferten sich keine Dispute […]; ein Gegner konnte seine Meinung aufgeben und in die Vorstellungen seines Freundes hinein finden […]. Sie vermochten alles zu denken und sich alles mitzuteilen, was Wissenschaft und Verstand zugänglich war. […] Hochach‐ tung und Freundschaft ließen die gegensätzlichsten Ideen und Lehren friedlich auf‐ einander treffen. (5. 318) Diese Kultur der Kommunikation, in der es um die Wahrheit geht, nicht darum, Recht zu behalten, in der alle Wahrheiten kritisch geprüft sowie jederzeit auf‐ gekündigt werden können und nur dann gelten, wenn sie vor der Wissenschaft und dem Verstand sich behaupten können, in der es keinen Zwang gibt und keine fraglose Autorität und so fort, ist das nicht in der Tat so etwas wie ein ideales Ziel kritischer Moralistik? Und wenn es von d’Arthez beispielsweise heißt: „Il étudiait le monde écrit et le monde vivant, la pensée et le fait / er 101 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 50 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 2, München 1966, S. 663. 51 Florence Terrasse-Riou, Balzac. Le roman de la communication. Paris 2000, S. 148. 52 Den Hinweis verdanke ich Carol-Mary Geppert. untersuchte die Welt des Geschriebenen und die des Lebens, die Gedanken und die Fakten“ (5.314), spiegelt sich hier nicht genau jenes moralistische Programm einer „étude de moeurs“ wieder, das der Diskurs der Comédie humaine als sol‐ cher, die literarische Arbeit in actu, also als Praxis des Erzählens sein will? So wie der Romanheld aus ihr ausgeschlossen wird, so sucht der Autor seinen Platz in dieser idealen Bildungswelt des „Cénacle“ - die zuletzt freilich (noch) nicht von dieser Welt ist. Balzac und die Moderne - Balzac aktuell Aber es ist nicht diese Zweckidee ihres Diskurses, die die große Wirkung von Balzacs Comédie humaine geprägt hat. Viel faszinierender als die Welt des „Cé‐ nacle“ war die Welt der Geldleute, der familiären, gesellschaftlichen und politi‐ schen Intrigen, auch die Welt Vautrins, das zerstörerische Prinzip eines Kampfes aller gegen alle, war der schonungslos desillusionierende Aspekt dieser er‐ zählten Moralistik - „montrer ses plaies / seine Wunden zeigen“, wie es etwa Nietzsche an Balzac rühmte -, 50 waren auf jeden Fall die pluralen und zentrifu‐ galen, widersprüchlichen und negativen Perspektiven der Comédie humaine: „Nombreuses sont les tensions, les polyphonies, complexes sont les paradoxes / zahlreich sind die Spannungen, die Polyphonien, komplex sind die Parado‐ xien.“ 51 Aber auch Vautrin wird ja bei Balzac ganz zuletzt eine ideal-zweckmä‐ ßige Wende in seinem Leben vollziehen. Bevor ich darauf, also auf die ganz am Anfang dieses Vortrags angekündigte „letzte Szene“ der Comédie humaine ein‐ gehe, erlauben Sie einen Ausblick auf „Balzac und die Moderne“ und insbeson‐ dere, wenn auch nur punktuell, zur gegenwärtigen literarischen Aktualität Bal‐ zacs. Ich stelle einen Roman vor, der 2009 (Copyright) bzw. 2010 (als Taschenbuch) erschienen ist, und auf den ich während der Arbeit an diesem Vortrag aufmerksam wurde. 52 Der große realistisch-naturalistische französische Roman des 19. Jahrhun‐ derts wäre ohne Balzac nicht vorstellbar und hat dessen Wirkung gewisser‐ maßen potenziert. Henri, der eine der beiden Helden in Flauberts so genannter Première Éducation Sentimentale (1843-1845), der Verführer, Streber und Blender, ist eine forterzählte Balzac-Figur; noch deutlicher erinnert an Balzac etwa der Provinzwucherer L’Heureux in Madame Bovary (1857); und die „Schul‐ dentragödie“, an der diese Romanheldin zerbricht - sie selbst meint allerdings, „nur an ihrer Liebe zu leiden“ -, steht ebenso in der Nachfolge Balzacs, wie der 102 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 53 „Denk an Rastignac / Rappelle-toi Rastignac dans la Comédie humaine! ” (Gustave Flau‐ bert, Oeuvres. Hrsg. von A. Thibaudet und R. Dumesnil, Bd. 2, Paris 1952, S. 49). 54 Vgl. dazu oben Kap. 3. 55 Zur lebenslangen Beschäftigung Prousts mit Balzac vgl. z. B. Joëlle Gleize, Honoré de Balzac. Bilan critique. Paris 2005, S. 19ff. 56 Herrmann Broch, Dichten und Erkennen. Essays. Bd. 1, hrsg. und eingeleitet von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 236. 57 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Dt. von Rainer Grübel und Sabine Reese, hg. und eingeleitet von R. Grübel, Frankfurt 1979, S. 252. Untertitel des Romans Moeurs de province / Sitten der Provinz diesen geradezu in die zweite Abteilung der Études de moeurs der Comédie humaine einzuordnen scheint. Auch Flauberts „Lebensroman“ L’Éducation sentimentale (1870) - wie Illusions perdues ein Roman zweier Helden, von denen der eine Balzacs Rastignac geradezu zum Vorbild erhebt -, 53 und vielleicht noch klarer Guy de Maupassants Bel Ami (1885) - man denke hier etwa nur an die Verbindung von Zeitung, Bör‐ senspekulation, politischer und familiärer Intrige, in deren Mitte der angepasste Aufstieg eines „Lieblings der Frauen“ steht -, diese Romane, die selbst und zu Recht zur Weltliteratur gehören, zeigen bei aller Originalität deutlich den Ein‐ fluss Balzacs, nicht zuletzt eben den der Illusions perdues. Henry James beruft sich wiederholt auf Balzac. Viele Linien führen zu Dostojewski. Émile Zolas zwanzig Romane: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire / Die Rougon-Macquart. Natürliche und soziale Geschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich (1871-1893) erzählen eine naturalistische (eine „systematisch-experimentelle“) 54 Comédie humaine, die ihrerseits viele Wege zur Moderne eröffnet. Marcel Proust und seine Personen sind in der Co‐ médie humaine geradezu zu Hause. 55 Joyce und auf alle Fälle Faulkner haben von Balzac letztlich das Prinzip der wiederkehrenden Personen übernommen. So könnte und müsste man fast unendlich weiter ausführen. Wenn der „polyhistorische Roman“, 56 der „galileische […] 57 Roman“, der einen Erzählraum vieler Geschichten, vieler Perspektiven und Erzählformen entwirft, oft handelt es sich ja auch um einen Großstadtroman, wenn dies die prägende Romanform des Zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist, dann ist sie im großen „Panorama“ der Comédie humaine entschieden voraus entworfen. Der europä‐ ische und amerikanische Roman der Moderne wäre ohne Balzac ein anderer, oder er wäre nicht. Und in dieser „polyhistorischen“ Tradition, wenn auch in‐ zwischen in einer glatten, gefälligen Form, steht letztlich auch der Roman, mit dem ich diesen kurzen Ausblick abschließen möchte, bevor ich noch einmal zu Balzac selbst zurückkehre. Ich zitiere ein Gespräch zweier Personen, die gerade dabei sind, sich inein‐ ander zu verlieben. Und sie reden nun in der Tat - über Balzac: 103 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 58 Sebastian Faulks, A Week in December. London (Vintage) 2010, S. 197. 59 Vgl. oben Kap. 2, Thesen 2 und 13. 60 Vgl. ebd., S. 84. 61 Ein Ausschnitt aus einer Besprechung des Romans in Prospect, zitiert ebd., S. III. “You like reading, don’t you? ” “Yeah, I do.” “Why? ” “Dunno. I s’pose it`s an escape from the real world.” “But surely it’s just the opposite,” said Gabriel. “Books explain the real world. They bring you close to it in a way you could never manage in the course of the day.” “How do you mean? ” “People never explain to you exactly what they think and feel and how their thoughts and feelings work, do they? […] But that’s what books do. […] Good books anyway. Of my total understanding of human beings, which is perhaps not very great … I’d say […] ninety per cent has come from reading books. Less than ten per cent from reality - from watching and talking and listening - from living.” “You’re funny.” 58 Diese Unterhaltung, dieses „Bildungsgespräch ästhetischer Erziehung“ zwi‐ schen Jenny und Gabriel im 2009 erschienenen Roman A Week in December von Sebastian Faulks, enthält eine richtig gute Definition von „literarischem Rea‐ lismus“: „A better understanding of what people think and feel [and how they are prepared to act] to explain the real world“, moralistische Erkenntnis als Zweck des Erzählens. 59 Und zu den „good books“, die Gabriel hier meint, gehört ausdrücklich Balzac. Dass mehrere Bände Balzac in seinem Büro im Regal stehen, war Jenny an Gabriel aufgefallen 60 . (Vielleicht sind dies ja die auffallend roten, großen, preiswerten Leinen-Bände der Édition Integrale, die arme, fleißige Studenten der 60er Jahre sich leisten konnten? ) Und auch Gabriel selbst hat etwas von einer Balzac-Figur: ein nahezu arbeitsloser junger Rechtsanwalt (ein „Barrister“, der Fälle vor Gericht vertritt), Jenny ist eine seiner ganz wenigen Klienten; und so hat er eben, mangels Arbeit, Zeit zum Lesen, nicht zuletzt zum Lesen von Balzac. „This is a Balzacian enterprise“, 61 bemerkte ein Rezensent zu Recht zum Per‐ spektiven-Reichtum, zur Vielfalt sich überkreuzender Handlungs-Stränge, zur Dramatik der Entscheidungs-Situationen und vor allem eben zur Dynamik des großstädtischen Lebens in diesem Roman. Und nicht nur der junge Anwalt, auch etwa der professionelle Literaturkritiker, der unter mehreren Pseudonymen in verschiedenen Zeitungen einander widersprechende Rezensionen verfasst, er‐ innern an Balzac. Genau das hat beispielsweise Lucien Chardon in Illusions per‐ 104 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 62 Er schreibt zuerst unter einem Pseudonym einen Verriss, dann unter seinem eigenen Namen ein Lob und danach unter neuem Pseudonym ein abwägendes Urteil (Vgl. 5. 442 ff.). 63 Insbesondere in der „Trilogie”: The Girl at the Lion d’Or (1990), Birdsong (1993) und Charlotte Gray (1998). 64 Roland Barthes, S/ Z. Dt. Von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987, S. 44. 65 Vgl. z. B. Jacque Dubois u. a., Allgemeine Rhetorik. Übers. und hrsg. von Armin Schütz, München 1974, S. 152ff. und 194 ff.; Heinrich F. Plett, Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen. München 2000, S. 191ff. dues virtuos vorexerziert. 62 Und was den oben zitierten Rezensenten wohl am meisten an Balzac erinnert haben mag, was ja auch in der Tat ein klassisches Balzac-Thema bildet, ist die Dramatik der Geld-Bewegungen in A Week in De‐ cember. Da ich das bisher bei Balzac immer nur im Vorbeigehen angesprochen habe, kann ich es jetzt nachtragen. Sebastian Faulks, der ja auch in seinen an‐ deren Romanen immer wieder sehr an Frankreich interessiert ist, 63 hat vermut‐ lich seinen Balzac sorgfältig gelesen. Ich bin mir ziemlich sicher, er kannte Bal‐ zacs Roman Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau / Geschichte der Größe und des Niedergangs des Caesar Birotteau (1837). Und ich würde sogar vermuten, er kannte auch Roland Barthes’ Anmerkung, bei Balzac stelle das Geld ein „metonymische Störung“ dar. 64 Eine „metonymische Stö‐ rung“? Exkurs: Die Rhetorik des Gelds Erlauben Sie einen Exkurs! Was ist das, eine Metonymie? 65 Das klassische Bei‐ spiel wäre eine Aussage wie: „Ich fahre einen alten Ford“. Der Name des Fir‐ mengründers steht hier für ein Auto, das viele Jahre später von dieser Firma hergestellt wurde; allgemein gesagt: Eine Teilmenge möglicher Aussagen, der Name des Firmengründers, steht im umgreifenden Kontext der Firmenge‐ schichte für eine andere Teilmenge möglicher Aussagen, ein ganz bestimmtes Auto. Die Metonymie ist eine Figur, ein Tropus: pars pro parte, ein „Teil“ vertritt einen anderen „Teil“, was eben (per contiguitatem) ein umgreifendes, gemein‐ sames „Ganzes“, einen Kontext, einen größeren Zusammenhang voraussetzt. Natürlich dürfte auch ein „alter Ford“ anfällig sein für nicht nur „metonymi‐ sche Störungen“. Aber anschaulicher wäre etwa ein Beispiel aus der Werbe‐ sprache, in dem die „Störungen“ des Produkts eben gerade dessen Erfolg aus‐ machen, und dies genau dadurch, dass sie bewusst verdeckt werden, ganz so wie bestimmte Geld-Operationen bei Balzac und heute. Wenn etwa ein mit Crème gefüllter Doppelkeks mit dem Slogan beworben wird: „So erhalten Ihre Kinder immer eine Extraportion Milch“ - aus dem Gedächtnis zitiert, also „ohne Ge‐ währ“ -, so ist diese „Menge Milch“ sicher eine Teilmenge im Gesamt-Keks. Die 105 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? Werbung verspricht eine Synekdoche, bei der ein Teil für das Ganze steht, pars pro toto: „Die Milchschnitte ist eine Portion gute Milch“. Erfüllt werden kann aber bestenfalls eine Metonymie, sofern der gefüllte Keks unter anderem „auch Milchbestandteile“ enthält. Sie ahnen jetzt sicher die weitere Analyse: Die „me‐ tonymische Störung“ in alledem besteht eben darin, dass die Kinder zwar ir‐ gendwie auch etwas aus Milchbestandteilen bekommen, aber zusätzlich und viel massiver „eine Extraportion Zucker“, dazu noch eine Extraportion Fett, eine Extraportion Farb- und Aromastoffe, ja eventuell auch, wie man hört, eine kleine „Extraportion Alkohol“. „Milchschnitte“ heißt, liest man die verdeckte „Störung“ in der Metonymie als neue offene Synekdoche, also ganz einfach als Verallge‐ meinerung: „Fette Zuckerschnitte“. Wenn das schon ein gutes Geschäft ist, dann ist die entsprechende „Rhetorik des Geldes“ für die, die wissen, wie das geht, damals wie heute, ein noch viel besseres. Und hier erzählen Balzac 1837 und Sebastian Faulks 2009 strukturell genau vergleichbare Geschichten, die sich Schritt für Schritt parallel setzen lassen: Der Bankier de Tillet betreibt seine Bank vor allem als Fassade für Geschäfte auf eigene Rechnung und für persönliche Spekulationen. / Der Manager eines „Hedge-Fonds“ John Veals verwaltet und mehrt vor allem sein eigenes Ver‐ mögen. De Tillet unternimmt es, den größten Teil des Vermögens seines ehemaligen Arbeitgebers Birotteau an sich zu bringen. / Veals spekuliert gegen die Londoner Großbank, bei der er selbst seine Laufbahn begonnen hat. De Tillet überredet mithilfe eines korrupten Notars und einer scheinbar un‐ abhängigen, aber von ihm kontrollierten anderen Bank Birotteau zu einer Im‐ mobilienspekulation, in die Birotteau sein gesamtes Vermögen einbringt, sowie das von Verwandten und Freunden. Birotteau hat im Hinblick auf den zu er‐ wartenden Gewinn auch weitere Schulden gemacht, von denen de Tillet weiß. Der Notar flieht in die Schweiz. Er und de Tillet teilen sich die Anzahlungen Birotteaus und seiner Freunde. / Veals geht, abgesehen von einer illegalen Be‐ schaffung von Informationen, Geschäften durch Mittelsmänner und ein paar ausgestreuten Gerüchten, ganz legal vor. Er zahlt ja auch seit Jahren keine Steuern, auch dies ganz legal. Die Bank hat sich, so wie Birotteau seinerzeit noch 106 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 66 Was selbst bereits eine „metonymische Störung“ bedeutet. Was bei der „Milchschnitte“ die „Milch“ ist, ist jetzt eine zu erwartende und gut bewertete Verzinsung; dem „toxi‐ schen“ Zucker entsprechen die in die Wertpapiere hinein „gemischten“ unsicheren, teilweise wertlosen Hypotheken. (Und entsprechen die „Rating“- Agenturen, die diese Misch-Fonds empfehlen, dann dem Notar bei Balzac? ) 67 Er verkauft geliehene Aktienpakete, um sie zu einem vereinbarten späteren Zeitpunkt und vor allem nach dem zu erwartenden Kursverfall wieder zurück zu geben. Die Wert-Differenz ist sein Gewinn. weitere Schulden hatte, mit amerikanischen Immobilienwerten verspekuliert. 66 Aber bis dahin könnten beide „Opfer“ sich noch behaupten. Doch genau jetzt setzt der „Angriff “, also die lukrative „metonymische Stö‐ rung“ ein: De Tillet, bzw. sein Mittelsmann, haben Birotteau für den Einstieg in den „geschlossenen Immobilienfonds“ gegen einen Wechsel, den Birotteau un‐ terschrieben hat, eine große Summe geliehen - die freilich nie jemand zu sehen bekommt -, und sich verpflichtet, die Hälfte der noch verfügbaren Fondsanteile beizubringen, was sie ebenfalls nicht tun. Da der Notar verschwunden ist, kommt nie ans Licht, dass alle diese Gelder nie geflossen sind. / John Veals tätigt in großem Stil über Mittelsmänner, die international operieren, „Leerverkäufe“ von Aktien der Bank, 67 die er angreifen will. Deren Kurs stürzt ab. Man sieht, wie in beiden Fällen, dem „Zucker“ in der „Milchschnitte“ vergleichbar, eine „Störmenge“ in das Aktienbzw. Besitz-Paket eingeführt wird, auf das es die Angreifer abgesehen haben. 107 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? In beiden Fällen hat die „metonymische Störung“ einen fatalen Effekt, so wie Kinder von der Milchschnitte Karies bekommen oder dick werden. Da Birotteau in Schwierigkeiten ist, hat de Tillets Mittelsmann die „Wechsel“, also Schuld‐ verschreibungen weiterverkauft, „um die anderen Fond-Eigentümer zu schützen“, die er zu vertreten behauptet, die es aber gar nicht gibt. Jetzt kann Birotteau erst recht sich weder refinanzieren noch sonst Kredit finden. Bei seinem Bankrott zieht de Tillet günstig das gesamte geplante Immobilienge‐ schäft an sich und erwirbt als ein Haupt-Gläubiger noch günstiger aus der Kon‐ kursmasse weiteren Grundbesitz Birotteaus. Da all dies bald sehr stark im Wert steigt, gewinnt de Tillet große Summen, ohne genau genommen eigenes Geld eingesetzt zu haben. / Veals verdeckte Leerverkäufe zusammen mit der jetzt 108 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 68 Sebastian Faulks, A Week in December, S. 375 und 377; das ist dann so eine „synekdo‐ chische Öffnung“ wie die, die bei der „Milchschnitte” dem Hersteller Geld bringt und den Kindern Übergewicht und Karies. bekannt werdenden Schieflage der Bank lassen deren Aktienkurs abstürzen. Veals „Leerverkäufe“ verwandeln sich in Gewinn. Da es sich um eine sehr große Bank handelt, wird die Regierung mit Garantien usw. einschreiten; und an dem dann wieder steigenden Wert der Bank-Aktien wird Veals erneut verdienen. Auch er wird letztlich kein eigenes Geld eingesetzt haben. Und was wird aus den anderen „Teilmengen“ an Geld, etwa dem der Bank-Aktionäre, dem Geld von Bank-Kunden (z. B. Privat-Rentnern), schließlich auch dem der Steuer‐ zahler? „It’s gone into John Veals’s back pocket, [let alone] millions of people in the real economy losing their jobs”. 68 Wir müssen hier abbrechen, obwohl alles natürlich noch viel detaillierter und spannender erzählt wird. Nicht nur ist Balzacs Dramatik und Rhetorik des Ge‐ ldes offensichtlich ganz aktuell. Sebastian Faulks Hommage an Balzac hat noch weiter reichende Bedeutung. Auch er erzählt seine „Geld-Geschichte“ klar aus moralistischer Perspektive: Die Leser werden wie bei Balzac über die Geld-Ma‐ nipulationen aufgeklärt. Und hier wie dort ist nicht nur der Diskurs ein moral‐ istischer, es gibt hier wie dort auch Personen, die alles durchschauen und zur Sprache bringen, jedes Mal allerdings ohne dass jemand auf sie hört. So enthält Faulks multiperspektivischer Großstadt-Roman schließlich wie Balzacs Comédie humaine zuletzt durchaus Fragmente von Bildungs-Romanen: Jenny kommt durch Gabriels, des Balzac-Lesers, „ästhetische Erziehung“ los von ihrer Sucht nach dem Internet-Spiel „Paralax“ und dessen Scheinwelt. Der Li‐ teraturkritiker wendet sich ehrlicher Arbeit wie der Literatur-Geschichte und der Orthographie-Kritik zu. Und die dramatischste Wendung nimmt sicher das Leben des jungen islamistischen Fanatikers, der im letzten Augenblick die Zünder weg wirft zu den Rucksack-Bomben, mit denen eine Nervenklinik ge‐ sprengt werden sollte, eine Klinik, in die der durch Drogen-Konsum schwer kranke Sohn des Geld-Manipulators John Veals gerade eingeliefert wurde. Eine mindestens ebenso dramatische, moralistisch-aufklärerische Entschei‐ dung prägt die Schluss-Szene von Splendeurs et misères des courtisanes (1847), die ich für eine sozusagen abschließende Szene in der Entstehung der Comédie humaine überhaupt halte. Und damit käme ich dann auch zum Schluss meines Vortrags: Vautrin, der Großverbrecher, nach dem Tod seines geliebten Lucien, den er wie ein Dichter sein Geschöpf stellvertretend in die Welt geschickt hatte - auch das hat mittelbar aber deutlich etwas von einer spielerisch verfremdeten 109 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 69 „In Vautrin ist nicht nur der Empörer Balzac, sondern auch der Schöpfer und der in seinen Geschöpfen lebende Balzac“, Ernst Robert Curtius, Balzac (1923). Frankfurt 1985, S. 158. Erzähler-Autobiographie -, 69 dieses zerstörerische Prinzip in der Comédie hu‐ maine, das mit seiner bürgerlichen Gegenwelt letztlich doch tief identisch ist, entschließt sich zu einer „dernière incarnation / letzten Inkarnation“ (6.872). Es ist, denkt man an Dantes Divina Commedia, als wenn der Teufel selbst im tiefsten Punkt der Hölle sich umdrehte um hinauf in den Läuterungs-Berg zu klettern. Wenn Vautrin auf die Seite der Polizei wechselt - wofür es ein historisches Vorbild gab -, dann will er sich ausdrücklich nicht mit der Gesellschaft, schon gar nicht mit der Regierung identifizieren, sondern mit der Justiz, mit dem Recht als solchem: „Je veux me nommer la Justice / ich will im Namen des Rechts handeln“ (6.921). Das ist nicht nur, zumindest aus der Sicht des Autors, eine völlig moralistische Entscheidung im Namen des aufgeklärten Rechtsstaats. Es kann dabei letztlich auch gar nicht um das Recht gehen, wie es ist, sondern darum, wie es sein könnte und sollte, um eine auf die Zukunft bezogene Zweck-Idee, die auch ohne ihrer reale Verkörperung wahr sein kann. Erst in ihr wäre der Rechtsstaat verwirklicht - auch der Irrealis ist eine realistische Figur -, oder mit Vautrins (und Balzacs) Schlusswort, sozusagen bevor der Vorhang fällt: „La réalité c’est l’idée! / wirklich ist die Idee! “ (6.912). 110 4. La comédie humaine - ein „polyhistorischer“ Roman? 1 Vgl. oben Kap. 3, These V: Totalisierungen. 2 Der Vortrag, erstmals gehalten zu Gunter Gottliebs 70. Geburtstag und jetzt überarbeitet und erweitert, trug ursprünglich den Titel: Suchbild Europa. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus. Vgl. Gregor Weber (Hrsg.), Europa im Blick. Siebtes gemein‐ sames Symposion der Universitäten Augsburg und Ossiek. München 2006, S. 15-29. 5. „Effi Briests arme Schwestern“ - Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus für Gunther Gottlieb Wenn ein Text, ein „textum“, wie der lateinische Name sagt, ein „Gewebe“ ist, ein Gewebe wie Tweed beispielsweise, ein Gewebe aus vielen feinen, verschie‐ denfarbigen Fäden, und wenn man ein unifarbenes Kleidungsstück, etwa einen dunkelblauen Kaschmir-Pullover oder eine rostrote Krawatte gegen eine Tweed-Jacke hält - alles natürlich aus Schottland, das Fontane bekanntlich sehr liebte -, dann werden in dem vielfarbigen Gewebe, dem „textum“, blaue oder rote Muster sichtbar, die man ohne diesen deutlicheren „Kon-Text“ vielleicht übersehen hätte. Fontane erzählt oft in vielen Farben angelegte „Gewebe“ aus feinen Fäden. Und der so gut wie zeitgleich um ihn her dominierende europäische Natura‐ lismus eines Zola, Ibsen, Arno Holz, Hardy, Gissing oder Verga hat oft etwas farbig Kräftiges, Drastisches und bewusst Provozierendes, ja Plakatives. Man setzte auf „Totalanschauungen“. 1 Das war Fontanes Sache nicht. Aber hält man solche kräftigeren, eindeutiger geprägten und farbig expliziten Kontexte gegen ein Textkorpus wie das Fontanes, so wie etwa einen rostroten Kaschmirschal gegen eine grau-blau-beige-rote Tweedjacke, es können Spuren und Fäden feiner Muster sichtbar werden, die gleichwohl klar konturiert hervortreten. Hier setzt mein Vortrag an. Denn so schließen sich vielleicht solche feinen, oft jedoch sehr deutlichen und kontrastreichen Spuren zu einem kohärenten „Suchbild” zusammen, 2 das mehrere für Fontane wichtige Themen anspricht: das Thema „Effi Briests arme Schwestern“ beispielsweise, oder das Thema „Theodor Fon‐ tane und der Europäische Naturalismus“, und schließlich vielleicht auch den Zusammenhang jener drei, in ihrer Entstehung eigentümlich verflochtenen und 3 Es kommt in der Tat darauf an, die „ungewöhnliche Dichte der Vernetzung seiner [Fon‐ tanes] Texte mit zeitgenössischen Kontexten” zu untersuchen (Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt 1998, S. 40), wobei die ver‐ gleichende Perspektive gerade auch das ansprechen könnte, was Mecklenburg für Fon‐ tane ausschließt, nämlich den naturalistischen Diskurs, Gesellschaft als „absolut deter‐ minierendes, inhumanes Zwangssystem zu denunzieren” (ebd., S. 50). Diese entlarvende Sicht gibt es bei Fontane durchaus auch, aber eben auf dessen eigene, feine, gleichwohl klare Weise. 4 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel u. Helmut Nürnberger, Bd. 4, München 1973, S. 294. 5 Das ist, im Germanisten-Jargon gesprochen, die „positive Akzentuierung weiblichen Andersseins“, Sabina Becker, Literatur als “Psychographie”. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen. In: Norbert Oellers u. Hartmut Steinecke (Hg.), Rea‐ lismus? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts. Sonderband der Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 90-110, S. 94. ineinander verschachtelten Erzählungen Cécile (1887), Irrungen Wirrungen (1888) und Stine (1890), um die es heute vor allem gehen soll. Denn so wie verschiedene Dessins und Schnitte gleichwohl bestimmte feine Fäden und Muster gemeinsam haben können, die eigentlich erst ein mehr uni‐ farbener fremder Text sichtbar macht, könnte es dann so sein, dass die drei Novellen Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine um so etwas wie eine „externe Mitte“ kreisen: um Motive und Strukturen des europäischen Naturalismus? 3 Erzähl-Fäden und -Muster Ich beginne meine Beobachtungen und Überlegungen mit einer kleinen, aber wichtigen Szene aus Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888). Der ur‐ sprüngliche Untertitel Eine Berliner Alltagsgeschichte passt zur Alltäglichkeit der Szene. In ihr - man merkt gleich das Kräftige im Feinen - geht es um eine kleine alltägliche Tragik, um die Erfahrung, alltäglich ein wenig zu sterben. Die beiden Hauptpersonen, indem sie sich dem Alltag gesellschaftlicher Konventionen un‐ terworfen haben, erleiden einen leisen, allmählichen, aber kalten Tod: erst in ihren Gefühlen, dann in ihrem humanen Selbstbewusstsein, in ihrem „Herzen”, wie man zu Fontanes Zeit sagte, bis sie immer mehr nur noch wie Automaten weiterleben. Denn „ohne rechte Liebe”, 4 wie es später Effi Briest (1894) formu‐ lieren wird, eine Liebe, die Freiheit und Aufrichtigkeit voraussetzt, können manche Menschen, können vor allem viele Frauen bei Fontane, nicht über‐ leben. 5 Wie auch immer: Problem-, Dreh- und Angelpunkt der Handlung in Irrungen, Wirrungen ist die unmögliche Liebe zwischen einem Baron, Gardeoffizier, von Schulden bedrängt - was sonst? -, und einer jungen, hübschen, kleinbürgerlich lebenden Textilarbeiterin. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sich beide getrennt 112 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 6 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 4), Bd. 2, München 1971, S. 319-475, sowie S. 906-949. und Botho von Rienäcker hat eine reiche Erbin geheiratet. Eines Tages, auf dem Heimweg von der Arbeit, geht Lene die Lützowstraße in der Nähe des Tiergar‐ tens hinunter: Aber mit einem Male hielt sie und wußte nicht wohin, denn auf ganz kurze Entfernung erkannte sie Botho, der, mit einer jungen, schönen Dame am Arm, grad auf sie zukam. Die junge Dame sprach lebhaft und anscheinend lauter heitre Dinge, denn Botho lachte beständig, während er zu ihr niederblickte. Diesem Umstand verdankte sie’s auch, dass sie nicht schon lange bemerkt worden war, und rasch entschlossen, eine Begegnung mit ihm um jeden Preis zu vermeiden, wandte sie sich, vom Trottoir her, nach rechts hin und trat an das zunächst befindliche große Schaufenster heran, vor dem, mutmaßlich als Deckel für eine hier befindliche Kelleröffnung, eine viereckige geriffelte Eisenplatte lag. Das Schaufenster selbst war das eines gewöhnlichen Mate‐ rialwarenladens, mit dem üblichen Aufbau von Stearinlichtern und Mixed-Pickles-Flaschen, nichts Besonderes, aber Lene starrte drauf hin, als ob sie der‐ gleichen noch nie gesehen habe. Und wahrlich, Zeit war es, denn in ebendiesem Au‐ genblicke streifte das junge Paar hart an ihr vorüber, und kein Wort entging ihr von dem Gespräche, das zwischen beiden geführt wurde. […] Lene fühlte das Zittern der dünnen Eisenplatte, darauf sie stand. Ein waagerecht lieg‐ ender Messingstab zog sich zum Schutze der großen Glasscheibe vor dem Schaufenster hin, und einen Augenblick war es ihr, als ob sie, wie zu Beistand und Hilfe, nach dem Messingstab greifen müsse, sie hielt sich aber aufrecht, und erst als sie sicher sein durfte, dass beide weit genug fort waren, wandte sie sich wieder, um ihren Weg fort‐ zusetzen. Sie tappte sich vorsichtig an den Häusern hin, und eine kurze Strecke ging es. Aber bald war ihr doch, als ob ihr die Sinne schwänden, und kaum, dass sie die nächste nach dem Kanal hin abzweigende Querstraße erreicht hatte, so bog sie hier ein und trat in einen Vorgarten, dessen Gittertür offen stand. Nur mit Mühe noch schleppte sie sich bis an eine kleine zu Veranda und Hochparterre hinaufführende Freitreppe, wenige Stufen, und setzte sich, einer Ohnmacht nah, auf eine derselben. Als sie wieder erwachte, sah sie, dass ein halbwachsenes Mädchen, ein Grabscheit in der Hand, mit dem sie kleine Beete gegraben hatte, neben ihr stand und sie teilnahm‐ voll anblickte […]. (415/ 416) Und als Lene wieder etwas zu Kräften kommt und weggeht, sieht ihr das Kind „traurig verwundert nach, und es war fast, wie wenn in dem Kinderherzen eine erste Vorstellung von dem Leid des Lebens gedämmert hätte” (ebd.). 6 113 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 7 Die erzähltheoretisch relevante Form dieser Bedeutungsübertragung ist die der Meto‐ nymie: pars pro parte in einem umfassenden Kontext, also nicht, das ist das „Feine“ darin, nicht deren (synekdochische) Verallgemeinerung. Die Begriffe erklärt jede Einführung in die Rheorik, am trennschärfsten m. E. z. B. Jacques Dubois, Francis Edeline, Jean-Marie Klinkenberg u. a., Allgemeine Rhetorik (Rhétorique générale, 1970), übersetzt [leider sehr schlecht] und hrsg. von Arnim Schütz, München 1974, S. 52ff. und 152 ff.; als knappe Einführung vgl. Verf., Rhetorik und Literaturtheorie. In: Verf. / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur II. Tübingen und Basel 2005, S. 49-83, S. 61ff.; auch in Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006, S. 49ff.; vgl. auch unten das Unter-Kapitel Metony‐ mien des Naturalismus. 8 Beispielhaft wären etwa die gezielten Spiegel-Inszenierungen in Rainer Werner Fass‐ binders, Fontane Effi Briest (1974). Vgl. Verf., „Nicht so wild Effi! “ Verfilmung eines lite‐ rarischen Felds. In: Verf., Literatur im Mediendialog (Anm. 7), S. 107-127, v. a. S. 116ff. Dies könnte eine naturalistisch genaue Theater- oder Filmszene sein. Aber die feinen Fäden der Erzählkunst Fontanes zeigen viel mehr als nur Szene und Handlung. Hier ist alles voll Bedeutung, die weit voraus- und zurückführt. 7 Zunächst ist es die Kunst der Perspektiven, die die „Fäden“ sozusagen „ausein‐ ander zieht“, also die Aussagen differenziert. Wir, die Leser, sehen genau und fühlen geradezu haptisch mit Lene, sehen aber auch hinter ihrem Rücken wie Botho und Käthe vorbeigehen. Botho bewegt sich, was eine weitere Perspektive eröffnet, auf Lene zu, aber ohne sie zu bemerken. So macht die Konstellation der Figuren auch sie für ihn zu einem Ding unter so vielen anderen Dingen. Und wir Leser sollen alles registrieren: die vielen Leute und die Einzelnen, die In‐ tensität von Lenes Betroffenheit und die Tatsache, dass ihr Geliebter sie über‐ sieht, die Welt der Gefühle und die Oberfläche der Dinge, die Detailgenauigkeit der „geriffelten Eisenplatte” beispielsweise, oder die der „Stearinlichter” oder die des „waagerecht liegenden Messingstabes”, den wir geradezu anfassen können. So wird Lene ganz wörtlich und vor unseren Augen „verdinglicht“. Und was bedeutet das Schaufenster? Es wäre von hier nur ein kleiner Schritt gewesen zu einer Film-Inszenierung, etwa im Stile Rainer Werner Fassbinders: 8 Wirkt die Schaufensterscheibe nicht bereits jetzt in der Vorstellung beim Lesen wie ein Spiegel, in die wir Leser, ganz wie im Film die Kamera, über Lenes Schulter hinweg hineinschauen und in dem wir die junge Frau erblicken, überblendet von Dingen, Straße, Passanten, „gleich-gültig“ im Blick des sie nicht bemerkenden, selbst aber ebenfalls im Spiegel sichtbaren Geliebten, eine unter vielen und Ding unter Dingen? Doch diese Spiegelung sagt mehr, viel mehr: „Ding unter Dingen“ ist jetzt nicht nur Lene, das ist hier auch er. Und das hat, wenn man richtig hinschaut, weit rei‐ chende Bedeutungen. 114 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 9 Er spielt mit diesem Namen an auf die Königsmätresse aus Friedrich Schillers Die Jung‐ frau von Orléans, was Lene nicht versteht, aber in der Tendenz ahnt. Denn was so verfremdet wird, das wird bedeutsam herausgehoben. Es ver‐ weist auf andere Details und Szenerien außerhalb des engeren Kontextes, ins‐ besondere auf Motivgemeinsamkeiten und Handlungsstationen intensiver oder auch konträrer Bedeutung. Man sieht, wie mehrere Erzählfäden sich treffen. Bothos Lachen und Nichtbemerken erinnert etwa retrospektiv daran, wie er Lene früher einmal, als sie noch zusammen glücklich waren, „mit leichter Hand‐ bewegung” als „Mademoiselle Agnes Sorel” vor seinen befreundeten Offi‐ ziers-Kameraden beleidigt hatte (390). 9 Und dem entspricht dann auch ein nach vorn weisender Bruch in Lenes Leben, der genau jetzt beginnt. Sie wird wegen dieser Begegnung in der Lützowstraße von der nahe gelegenen Gärtnerei, ihrem früheren kleinen Refugium und „Liebesgärtlein“ wegziehen. Diese Fremde, auch der immer noch offenkundige Gegensatz von Natur und Stadt, sind jetzt schon spürbar als plötzliche Kälte und Anonymität um sie her, durch das Motiv des kleinen Vorgartens, wo sie zusammenbricht, noch unterstrichen. Noch genauer und feiner: Von der jetzigen Erschütterung wird die junge Frau „eine weiße Strähne” in ihrem Haar behalten (423), ein feiner, aber erkennbarer Verweis zurück auf ihr Haar, mit dem sie einmal ein paar Blumen für Botho gebunden hatte, und zugleich ein Blick voraus, eben ein Zeichen für Alter und Tod, so dass das Zerbrechen dieses Verbundenseins - „Haar bindet”, hatte sie damals ah‐ nungsvoll gesagt (379) - nach und nach den inneren, den emotionalen und im weiteren Sinn auch den humanen Tod bedeuten wird, auch wenn es nur ein leiser Tod ist. Botho hat dem „Herkommen gehorcht” und weiß, dass er daran innerlich „zugrunde gehen” wird, aber auf komfortable Weise, oder, wie er sich ausdrückt: „Er geht besser zugrunde, als der, der […] widerspricht” (405). In einer viel spä‐ teren, dieser hier korrespondierenden Szene auf dem großstädtischen Friedhof - ein kultivierter Natur-Raum innerhalb der Großstadt, wie der Tiergarten-Park und natürlich die Gärtnerei und jetzt der kleine Vorgarten - wird er von Zeichen des Todes umgeben sein, die zugleich eine Welt gefühlskalter Oberflächlichkeit und universaler Käuflichkeit vorstellen, so wie jetzt schon die Dinge im Schau‐ fenster. Ich meine jene Episode, in der er einen Kranz auf das Grab von Lenes Mutter legen will: Gerade im Versuch, an eine für ihn eigentlich lebenswichtige Kontinuität zumindest in einer Geste anzuknüpfen, erlebt er deren endgültiges Zerreißen, auch dies wieder in einer alltäglichen und doch zugleich viel tiefer bedeutsamen Weise. Er fährt, von einem dürren, fast verhungerten Klepper ge‐ zogen, endlos durch öde Vorstadtstraßen und an Wänden voll wirrer Reklame‐ 115 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 10 So wird etwa auch in Cécile mehrfach deren „Kinderseele“ und „Kinderfreude“ betont (184 und 208). Noch bevor ihre „Geschichte“ bekannt wird, ist Cécile vom Erzähler sozusagen „rein“ gesprochen worden. Das alles hindert freilich nicht den genauen, kri‐ tischen Umgang mit kindlichem Leiden und kindlicher Angst an anderer Stelle, sondern vertieft ihn kontrastierend, z. B. in der Autobiographie Meine Kinderjahre (1893). In Der Stechlin (1898) stoßen in der kleinen Agnes die romantisch-symbolistische Verklärung der Kindergestalt und ihre geradezu naturalistische, allerdings nur angedeutete Unter‐ drückung (Agnes droht am Ende des Romans das Waisenheim) explizit aufeinander. Vgl. z. B. Verf., Theodor Fontane „Der Stechlin”. In: Verf. (Hrsg: ), Große Werke der Literatur. Bd. VI, Tübingen u. Basel 1999, S. 103-115, v. a. S. 107f. plakate hin, bekommt nur einen billigen, industriell gefertigten Kranz nach der Mode und braucht schließlich einen Führer, um - das muss der Leser sich hin‐ zudenken - im Wirrsaal der Friedhofswege zwischen Gräbern, die alle fast gleich aussehen, nicht verloren zu gehen (446-453). Und diese Szene, diese das Innere veräußernde fremde Todeswelt, wäre nun wirklich sehr gut in einen Film um‐ zusetzen. Sieht man die beiden Szenen zusammen, dann verstärkt die Korrespondenz der Motive erneut deren Zeichenfunktion, eine Funktion des Verweisens auf anderes; und je mehr diese Intensität wächst, um so mehr kann sie auch Kont‐ räres bezeichnen: Die Fremde spricht von verlorener Nähe und Heimat als etwas Lebensnotwendigem, die beliebige oder auch wirr zugebaute Stadtwelt spricht von der Sehnsucht nach harmonischen Naturlandschaften, einer Sehnsucht, die noch über die Verweis-Kette von Vorgarten bzw. Friedhof, Gärtnerei, Park, Aus‐ flugsort am Fluss und so fort hinausführt. Wenn dort der entscheidende Bruch in der Liebesgeschichte geschehen war, der sich im endgültigen Abschied nach der plötzlichen Begegnung und im Wegziehen aus der Gärtnerei wiederholt, so spricht auch das vom Bedürfnis nach umfassenderer, lebendiger Geborgenheit und ganz einfach Liebe. Der „Ring“ aus Haar, der gerundete Kranz aus „Immor‐ tellen”, das Anteil nehmende und gärtnernde Kind - bei Fontane durchaus noch von romantischer Symbolik des sich erneuernden Lebens geprägt -, 10 all das erinnert gerade in seinen großstädtisch-modernen Verfremdungen, die ja auch ein Moment zeitlicher Unwiederbringlichkeit markieren, an eine zyklisch sich erneuernde Natur, harmonisch, liebevoll, groß im Sinne Rousseaus, der Ro‐ mantik, Ludwig Feuerbachs, durchaus auch noch bei Karl Marx, erst recht bei Friedrich Engels zu finden, und vor allem eben - und damit erkennen wir viel‐ leicht einen Teil des Suchbilds - eine zur Zivilisation und Technik alternative Natur, der wir, und das mag viele überraschen, immer wieder im Roman des 116 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 11 Zur Frage nach einem „Europäischen Naturalismus” und seinen Naturbegriffen vgl. grundlegend etwa die Arbeiten von Yves Chevrel, insbesondere: Le Naturalisme dans les littératures européennes, Nantes 1983; Le naturalisme en question, Paris 1980; Le na‐ turalisme. Étude d’un mouvement littéraire international, 2. Aufl., Paris 1993; vgl. auch oben Kap. 3, v. a. These III. 12 Romane von Gustave Flaubert, Leo Tolstoi, George Eliot u. Henry James. Vgl. z. B. die Hinweise auf die Arbeiten von Böschenstein, Degering, Furst, Glaser, Mayer, Pótrola u. a. , in: Hugo Aust, Theodor Fontane. Tübingen u. Basel 1998, S. 238-242; oder Maria R. Rippon, Judgement and Justification in the Nineteenth century Novel of Adultery, Westport, Conn. 2002. 13 Vgl. Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac,Dickens, Hardy ,Keller, Raabe und anderen Autoren des 19.Jahrhunderts. Tübingen 1994, S. 90-121. Europäischen Naturalismus begegnen. Sie schaut bei den Naturalisten sozu‐ sagen „zum Fenster herein“. 11 Cécile, Lene, Stine: „Effis Schwestern“ Dass die Europäischen Naturalisten auch, und meines Erachtens sogar wesent‐ lich, geradezu Rousseauisten und Romantiker waren, und dass Fontane in feinen Verweisen und Verknüpfungen daran Teil hat, soll uns gleich beschäftigen. Vor‐ erst wollen wir die andere Hälfte des „Suchbildes” im Œuvre Fontanes finden: die Natur im Sinne Darwins, den „natürlichen“ Überlebenskampf in der mo‐ dernen Zivilisation und Gesellschaft. Die Komparatistik hat sich bei Fontane fast nur für Effi Briest interessiert und diesen Roman immer wieder in den Kontext von Madame Bovary, Anna Kare‐ nina, Middlemarch oder A Portrait of a Lady gestellt. 12 So auch ich. 13 Aber das ist nur zum Teil überzeugend. Dieses „Feld“ der Vergleiche ist nicht „weit“ genug, um Fontane gerecht zu werden. Es geht in Effi Briest sicher auch um den Konflikt von Illusion und Desillusion im Zusammentreffen von weiblicher Psyche bzw., und genauer, weiblicher Humanität, und der ihr feindlichen Gesellschaft. Doch Effi Briest ist bei allem feinen psychologischen Takt materialistisch härter kon‐ zipiert. Und dabei nähert sich Effi stärker als ihre genannten europäischen Lei‐ densgenossinnen eben ihren noch ärmeren naturalistischen Schwestern an, die sich Illusionen gar nicht leisten können. Denn nicht das Ausbrechen aus ihrer gesellschaftlichen Umwelt wie bei der Bovary oder Anna Karenina, sondern die Anpassung stellt für Effi, wie für Cécile oder auch Lene und erst recht für Ge‐ rvaise, Nora oder Tess - zu ihnen gleich - die gefährlichere Illusion dar. Denn der Materialismus, an den sie sich anpassen wollen, ist für Effi, wie für ihre anderen „armen Schwestern“ lebensfeindlich. Nur ist das in Effi Briest nicht gleich direkt sichtbar. Aber wird nicht Effi, wenn sie von ihrem Mann umworben und von ihren Eltern verheiratet wird, wird sie nicht letztlich wie ein Ausstat‐ 117 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 14 „So stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen“, Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 4), Bd. 4, S. 28. 15 Gustave Flaubert, Madame Bovary. Hrsg. von Bernard Ajac, Paris 1986, S. 387. 16 Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 4), S. 253. tungsstück behandelt, das richtig „stehen“ muss, 14 um gut zu wirken? Wird sie nicht, wie gesellschaftlich gesittet und leichthin immer, eigentlich doch gera‐ dezu verkauft, und hat sie das nicht von vornherein akzeptiert? Natürlich hat Tolstois Anna den mächtigen Herrn Karenin auch wegen gesellschaftlicher, letztlich materieller Vorteile geheiratet. Aber das ist nicht der Konflikt, an dem sie verzweifelt. Sie stirbt an der Enttäuschung ihrer totalen Liebe. Effi hat ihren Verführer Krampas nie geliebt und empfindet seinetwegen keine Schuld. Auf‐ gerieben wird sie davon, dass sie lügen muss und dass sie abhängig bleibt: Ab‐ hängig ist sie im Sorgerecht, ja Besuchsrecht für ihr Kind, abhängig ist sie le‐ benslang von den Vorurteilen anderer, vor allem denen ihres geschiedenen Mannes; und eben auch materiell und in ihrer ganzen Lebensführung ist sie abhängig. Nur ein Detail sei aus vergleichender Perspektive genannt. In Madame Bovary ist viel von Geld die Rede. Aber wenn die Bovary das Geld ihres Mannes verschwendet und Schulden macht, sie würde ja auch stehlen oder sich prosti‐ tuieren, dann letztlich aus verzweifelter Sehnsucht nach einem von Liebe er‐ füllten Leben, so geprägt von Clichés, illusionär, ja teilweise dumm sie sich das immer vorstellen mag. In dem Augenblick, in dem sie das Gift nimmt, von ihren Schulden gehetzt, ist sie doch strahlend schön wie nie zuvor, und, wie es aus‐ drücklich heißt, „elle ne souffrait que de son amour / sie litt nur an ihrer Liebe”. 15 Wenn Effi Briest dagegen den Brief öffnet, in dem ihre Eltern ihr von Duell und Scheidung berichten und sie ja geradezu verstoßen, liegt höchst ma‐ teriell ein Bündel Banknoten bei. Auf dem umhüllenden Papierstreifen steht die Summe, und ausdrücklich vermerkt der Erzähler: „von des Vaters Hand”. 16 Das ist viel unauffälliger erzählt als die Geldverwicklungen der Bovary, aber heißt es nicht ganz fein, ganz hart und ganz anders: Innstetten hat Effi ihren Eltern wie eine fehlerhafte Ware zurückgegeben, und sie mögen von jetzt an bitte für ihren Unterhalt aufkommen? Die Mutter hat geschrieben, aber natürlich ver‐ waltet der Vater das allmächtige Geld. Wie steht es nun mit Effi Briests „armen Schwestern”, zunächst einmal denen bei Fontane selbst? So wie Fontane 1881 bereits die Erzählung Stine konzipierte, dann aber 1882 Irrungen, Wirrungen begann, diese Arbeit dann unterbrach, um Cécile zwischen 1884 und 1887 zu schreiben, danach Irrungen, Wirrungen zwi‐ schen 1886 und 1888 abschloss, um schließlich Stine bis zur Druckfassung 1890 118 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 17 Vgl. die Anmerkungen zur Entstehung S. 865ff., 906 ff. und 949 ff. 18 „Mit Macht drängt die Erzählung den Naturraum des Harzes in den Vordergrund” (Cor‐ nelia Blasberg, Das Rätsel Gordon oder: Warum eine der „schönen Leichen” in Fontanes Erzählung „Cécile” männlich ist. In: Hartmut Oellers / Norbert Steinecke (Hrsg.), Rea‐ lismus? [wie Anm. 5], S. 111-127, S. 115), aber, und das scheint mir nun sehr wichtig, die metonymischen Verweise „zielen” eben gerade nicht „darauf, das Signifikat ‚Frau’ mit dem der ‚Natur’ zu verschmelzen” (S. 116, das würde eine synekdochische Verallge‐ meinerung bedeuten), sondern zeigen (metonymisch) an, dass etwas Lebensnotwen‐ diges fern, ja genau genommen „abwesend” ist. Genaueres im folgenden Kapitel: Me‐ tonymien des Naturalismus. zu beenden, 17 anders gesagt: So wie sie im Arbeitsprozess einander einrahmen, so sind die drei Erzählungen auch motivisch und konzeptionell eng miteinander verflochten. Und dabei wächst ihre Relevanz für das „Suchbild Europäischer Naturalismus”. Noch viel drastischer als Effi war Cécile, eine sehr schöne, sen‐ sible, innerlich aufrichtige, aber nahezu völlig ungebildete „femme fragile”, sei‐ nerzeit als „ein halbes Kind“ (291) geradezu „gekauft” worden: vom alten Fürsten von ihrer Mutter, um dann dessen Neffen „vererbt” zu werden, ein schöner, wertvoller „Besitz“, wie ein edles Pferd, aber eben genau das. Und das ist sie immer noch für den Oberst, ihren Mann. Als Fürstenmaitresse hatte sie die öko‐ nomische Basis erworben („das Gut […], das will sagen, [das] Gut der Frau“, 252), auf der ihr Mann und sie jetzt gut leben können. Eine adlige Fürstenmaitresse gehört allerdings zur großen Gesellschaft. Aber so ist sie freilich auch mit einer „Geschichte” belastet, die Gordon, der sie zu lieben meint, nicht erträgt. Wenn er Cécile beleidigt, beleidigt er auch die Liebe, zu der er nicht finden kann. Und wie eine erinnerte Heimat, in die man ebenfalls, wie in die verweigerte Liebe, nicht hinein findet, stehen hier die Waldlandschaften des Harz dagegen und die üppigen Blumengärten in Quedlinburg (174) und später auch, in Berlin, die bunte, duftende „Blumenwelt“ (259), die die kranke Cécile auf ihrer Terrasse umgibt. Sie stehen da wie eine Natur, die man durch ein Fenster betrachtet. Hinter allem Zwang und Krampf gesellschaftlicher „Wirrungen“ wird eine Natur sichtbar, die schmerzlich, ja tödlich fehlt. 18 In Irrungen, Wirrungen, wie Cécile eine Geschichte unlebbarer Anpassung an gesellschaftliche Konventionen, schlägt die Beleidigung noch klarer auf den Be‐ leidigten zurück. Und auch hier, im Kern der „Wirrungen”, geht es nur ober‐ flächlich um Standesunterschiede: Botho hat, wie die Leser genau erfahren, „9 000 jährlich und gibt 12 000 aus“ (361): für Rasse-Pferde, eine Gemälde-Samm‐ lung und dergleichen, darin deutlich verwandt seinem altpreußisch-dekadenten Vetter in Schach von Wuthenow (1882). Die Hypothek auf seinen Familienbesitz wurde eben gekündigt. Er muss, er muss, er kann nicht anders, als sich an eine reiche Erbin zu „verkaufen“, heiter und komfortabel gewiss, alles wird im Plau‐ 119 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 19 Erklärungen gibt jede Einführung in die Rhetorik, z. B. Gert Ueding / Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode: Stuttgart 1986; vgl. auch oben Anm. 7. 20 Im Sinne der Rhetoric of Fiction von W.C. Booth und anderen. Zur Orientierung vgl. z. B. Matthias Bauer, Romantheorie. Stuttgart / Weimar 1997. derton vereinbart, so wie ja auch Céciles Vorgeschichte als Fürstenmaitresse, ganz gesittet verlaufen und nach „höfisch“ geprägten Moralgesetzen noch völlig akzeptabel gewesen war und dann ja auch bürgerlich wohl situiert zu Ende geht. Aber prinzipiell herrscht hier derselbe materielle Zwang wie bei Stines Schwester Pauline, die sich vom Baron aushalten lassen muss. Und nun erkennt man auch den komplementären Wertekonflikt zu den Beleidigungs-Konstella‐ tionen. Stine weiß neben vielem anderen, dass ihr kranker junger Graf, krank durch eine „standesgemäße“, ritterliche Kriegsverletzung, so er wegen einer Mésalliance sein Erbe verlöre - wohlgemerkt: Was sein Adel wert ist, wird durch ein „Majorats-” (541), also durch einen Erbschafts-Vertrag bürgerlichen Rechts geregelt -, dass er dann so gut wie mittellos wäre und als gewöhnlicher Invalide auch so gut wie erwerbsunfähig. Und für alles, was dann das Leben an Härte und Misere bringen wird, fragt ihn Stine, „soll das Herz aufkommen (552)? Bei Fontane ist alles taktvoll gemildert, aber das „Herz“ hat für Effi und ihre Schwestern keine Chance. So geht es letztlich sehr klar auch jetzt um Menschen, die vom Geld definiert werden, die sich verkaufen müssen, deren Humanität dagegen, wie die Stines, hilflos ist, oder die, wie in den Beleidigungen gegenüber Cécile und Lene, zuletzt sich selbst zerstörend gegen die Welt opponiert. Und es geht auch bereits um arbeitende Menschen: Gordon ist ein akademisch gebil‐ deter „leitender Angestellter“, wenn seine Chefs ihn rufen, muss er sofort reisen. Lene und Stine sind Arbeiterinnen. Sie machen saubere, feine, anspruchsvolle Textilarbeit, teilweise, und nicht ungemütlich, zu Hause; und die Industriearbeit bei Borsig wird in einer oft zitierten Szene in Stine gerade als Mittagspause dargestellt. Gleichwohl, die Verweisfunktion auch feiner Fäden und Spuren auf eine harte Realität der Zeit ist unverkennbar. Solche Verweise werden mit dem Fortschritt des Spätwerks, etwa in Der Stechlin (1898) und dann Mathilde Moeh‐ ring (entstanden 1895/ 96, erschienen 1906), vielleicht noch klarer. Anders gesagt, und das scheint mir jetzt wichtig, Fontane erzählt Metonymien des Naturalismus Metonymien sind rhetorische Figuren, 19 und dazu zählen im Sinne einer Rhetoric of Fiction auch Erzählfiguren, 20 genauer: es sind Tropen, die Bedeutungsübert‐ ragungen herstellen (Metasememe), und zwar hier nach dem Prinzip partes pro partibus (Teile stehen für Teile). Aha, mögen Sie sagen, und was bitte heißt das? 120 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 21 Theodor Fontane (wie Anm. 6), S. 141-145; das vorhergehende und die folgenden wört‐ lichen Zitate entstammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, alle diesem Textabschnitt. Ein Beispiel: Ein Firmenchef hat eine Tochter namens „Mercedes“. Muss ich weiter erzählen? Heute kann ich sagen: „Meinen Mercedes habe ich dreizehn Jahre lang gefahren“. Zwei partes werden bezeichnend verbunden in einem im‐ pliziten totum von Firmengeschichte und Produktion und Vertrieb von Auto‐ mobilen. Und dann gibt es ja auch Uhren und Fahrräder und Jacken usw., deren Verkauf nach derselben metonymischen Figur von diesem ersten pars profitiert. Und genauso, nach demselben Mechanismus wechselseitiger Bedeu‐ tungs-Vertretung, können dann auch umfangreichere Texte und Kultur-Phäno‐ mene bedeutsam aufeinander bezogen werden. Metonymien stellen also ein Wechselspiel her von Verallgemeinerung und Vereinzelung, Distanz und Punkt, Konnex und Identität, einen wechselseitigen Bezug von Teilen, Ganzheiten und anderen Teilen auf einender, bis hin zu ganzen Bezugs-Netzen. In diesem Sinne war das eingangs skizzierte „Textum“-Modell von „Tweed und Kaschmir“, in dem vielfarbige Fäden auftauchen, verschwinden, irgendwo sonst, vielleicht sogar weit getrennt, wieder hervortreten und so fort, und dass diese Muster durch einfarbige Kontexte (jeder ein totum) besser zu identifizieren seien, ein solches „Gewebe“ war immer schon eine metonymische Konfiguration. Es funktioniert nach derselben Logik wie die Verbindung eines einzelnen alten Autos mit großen farbigen Ereignissen, Staatskarossen oder Formel 1-Rennen etwa, und diese wieder mit einer in einer Schublade vergessenen Uhr und schließlich dem Namen eines kleinen Mädchens. Dazu nun gleich ein weiteres Beispiel zum Thema „Fontane und der europä‐ ische Naturalismus“: Der ältere Herr […] reichte seiner Dame den Arm und ging im langsamen Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zugs. Die gepflegte Langeweile - „niemand sprach“ - in einem Abteil des Schnellzuges von Berlin in den Harz am Anfang von Fontanes Cécile   21 hat auf den ersten Blick sicher wenig zu tun mit der Brutalität der Handlung in Zolas Eisen‐ bahn-Roman La bête humaine / Die menschliche Bestie (1890). Aber das Eisen‐ bahnnetz ist ganz wörtlich ein großer „Konnex“ (ein totum), in dem dieses betont „leere […] Compartiment“, in dem man „allein“ zu bleiben hofft, Station für Sta‐ tion und explizit anschaulich (in praesentia) nicht nur mit Berlin („die Sieges‐ säule halb gespenstisch“) und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit („Sahst du Saldern? “) verbunden bleibt, sondern dieses ganz Europa umspannende Netz verknüpft, implizit gewiss, aber genau gesehen dann doch fest, diese kleine und 121 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 22 Émile Zola, La bête humaine. Hrsg. von Robert A. Jouanny, Paris 1972, S. 53. 23 Später von Agatha Christie im Roman 4.50 from Paddington (1957) abgekupfert. leise Eisenbahn-Szene aus Cécile durchaus mit dem großen und lauten Bahnhof des „quartier de l’Europe“ in Paris 22 - „quartier de l’Europe“: ein bezeichnender Name -, wo La bête humaine beginnt. Und dieser reale Nexus der beiden Sze‐ nerien (in der Tat ein totum für zwei getrennte partes), anders gesagt: Dieser fern reichende, bei Fontane ganz feine, für Zola dicke und laute, gleichwohl gemeinsame „Erzählfaden“ scheint mir alles andere als beliebig. Sieht man nur etwas genauer hin, dann entdeckt man viele weitere solcher metonymischen Gemeinsamkeiten. So wird diese rhetorische Figur literarisch interessant. In La bête humaine geht es, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt, um die menschliche Fähigkeit zu töten, ja zu morden, die sich in der technisierten Ge‐ nauigkeit und Brutalität der Eisenbahn spiegelt: Mord aus Gier (Misard), aus Eifersucht (Rouault), vor allem aber, so ist das bei Zola, aus ererbter, triebhafter, unentrinnbarer Aggressivität ( Jacques Lantier).Und diese „menschlich bestiali‐ sche“ Brutalität spiegelt sich auch im zentralen Eisenbahn-Unfall wieder, zuletzt im Kriege. Wird an dem „Erzählfaden“ entlang auch ein naturalistisches „Muster“ sichtbar? Wie hat bei Zola diese drastische Serie von Mord und Tot‐ schlag begonnen? Der reiche und mächtige Eisenbahndirektor hatte Jahre früher sein Mündel Sévérine sexuell ausgebeutet. Ihr Mann ermordet ihn aus später Eifersucht, und das auf brutale und zugleich raffinierte Weise; damit beginnt die eigentliche Handlung. 23 Der einzige Zeuge, Jacques Lantier, schweigt. Aber die beobachtete Tat „weckt“ den Triebtäter in ihm auf, und am Ende des Romans wird er Sévérine ermorden. Alles sehr kräftig und laut und weit entfernt von den feinen Erzählfäden Fontanes. Aber wenn in Cécile der alte Fürst seine sehr junge Maitresse ihrer Mutter sozusagen „abgekauft“ hat und sein Erbe sie weiter „beschäftigte“, zeigt sich da nicht ganz fein letztlich doch dieselbe „Erzählfarbe“? St. Arnaud, der sich selbst zu den „Leuten vom Fach [des Tötens]“ zählt (212), und der überhaupt von Anfang an von Todes-Motiven umgeben ist, erschießt seine Gegner ganz gesittet im Duell, aber die „Ich-Kränkung“, die aus seinem Handeln spricht, reicht offensichtlich, und letztlich wie die in La bête humaine, viel weiter und tiefer zurück, als der jeweilige Anlass; und so wie es erzählt wird, scheint er den „Kick“ des Tötens durchaus zu genießen. Ist es irgendwie nicht doch ein ele‐ ganter „Triebtäter“, der da kämpfen will, eine verfeinerte und dekadente, gleich‐ wohl tödliche bête humaine? Cécile, eine schöne, aber schwache Frau wie Sé‐ vérine (beide zeittypische femmes fragiles), wird nicht ermordet, aber leidet an der Ächtung ihrer bürgerlichen Umwelt, nicht zuletzt an der fast reflexhaften 122 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 24 Am Ende von La bête humaine fährt ein dahin rasender Eisanbahnzug betrunkene fran‐ zösische Soldaten nach Osten, in den Krieg von 1870/ 1871. Der liegt für die Handlung von Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine bereits zurück, wird aber regelmäßig noch erwähnt (St.Arnaud hat knapp überlebt, S. 148; Botho hat einen „Kriegskameraden“, S. 338; Graf Haldern wurde im Krieg zum Invaliden), zu oft, um nicht bedeutsam zu sein. Man könnte durchaus auch von „Metonymien des Krieges“ reden. 25 „Qu’importaient les victimes que la machine écrasait en chemin! N’allait-elle pas quand même à l’avenir […]? / Was bedeuteten die Opfer, die die Maschine auf ihrem Weg zermalmte! Führte sie nicht trotz allem in die Zukunft ? “, Emile Zola, La bête humaine, (wie Anm. 22), S. 382. 26 Einmal freilich und an entscheidender Stelle, wenn die fragile Idylle im Harz in die „Tragödie“ (260) in Berlin übergeht, taucht, sozusagen als eine Metonymie in praesentia, ein naturalistisches, ja expressionistisches, an Zola oder Hauptmanns Bahnwärter Thiel erinnerndes Bild der Eisenbahn auf: „Unten im Tal, von Quedlinburg und der Teufels‐ mauer her, kam im selben Augenblicke klappernd und rasselnd der letzte Zug heran, und das Mondlicht durchleuchtete die weiße Rauchwolke, während vorn zwei Feuer‐ augen blitzten und die Funken der Maschine weithin ins Feld flogen“ (239). Beleidigung durch ihren Geliebten, und sie stirbt daran. Und hier wie dort ver‐ stärkt das Verschweigen und Verdrängen das Konfliktpotential im Zusammen‐ spiel von gekränkter Natur und gesellschaftlichem Druck, einen im Prinzip „na‐ turalistischen“ Konflikt, der sich bei allen Unterschieden dann ja auch in Cecile gewaltsam entlädt. 24 Doch nun gilt es natürlich auch das Trennende zu sehen, auf alle Fälle die Distanz, was ja ganz wesentlich zur Figur der Metonymie gehört. Für Zola ist die Eisenbahn Teil eines „natürlichen“ Systems, in dem physikalisch-technische, wirtschaftliche, physiologische und eben auch psychische, also immer noch medizinische Gesetze zur Anwendung kommen und sich wechselseitig poten‐ zieren. Dieses System von Gesetzen kann töten, wird auf lange Sicht aber, dieser Gedanke prägt vor allem die letzten Romane des Rougon-Macquart-Zyklus, durch alle Katastrophen hindurch sich selbst regenerieren und heilen. Bei Zola wird so die Maschinerie der Eisenbahn, vor allem die Lokomotive, zu einem lauten, kraftvollen, oft zerstörerischen, geradezu mythischen Monster überhöht, das Menschen „zermalmt“, aber letztlich eben doch in eine bessere Zukunft hi‐ nein führt. 25 Fontane erzählt lediglich Metonymien dieses naturalistischen Systems, weil er ganz anders argumentiert. Bezeichnenderweise bewegt sich sein Zug völlig lautlos und geruchsfrei. 26 Er steht nicht wie der Zolas für eine Dynamik von Gesetzen, ja Zwängen; er steht für eine Dynamik der Gefühle und des Denkens. Fontane übersetzt die metonymischen Eisenbahn-Geschichten in Impulse für einen „Werte-Diskurs“, den der Autor und die Personen mit den Lesern führen 123 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 27 Zu diesem Begriff und der entsprechenden Erzähltheorie vgl. Verf., Dreistellig-semioti‐ sche Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung. In. Gunter Butzer und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Bd. IV, Tübingen 2009, S. 305-337. 28 Man könnte sich eine Bühne in Form einer verdichteten Lokalität aus Haus und Garten vorstellen, etwa wie die Bühnen von Anton Tschechow in Die Möwe (1896), oder Onkel Wanja (1897) oder Der Kirschgarten (1904), die ja in der tat Welt-Metonymien sind, Aus‐ schnitte von Netzen von Bezügen. sollen. 27 So ist die Eisenbahn, genauer, die Fahrt durch deutsche Geographie („die Siegessäule halb gespenstisch“, „Magdeburg und sein Dom“), in Cécile Teil eines Netzes von Informationen. Entlang der Strecke zwischen Berlin und dem Harz werden Erfahrungen ausgetauscht: „Geschichten“ („täuschte nicht alles, so lag eine ‚Geschichte’ zurück“, 143, eine singulare Geschichte, die den gesellschaft‐ lichen „Wert“ Céciles radikal verändert), andere Nachrichten, Emotionen, auch Vorurteile und Traumatisierungen, Missverständnisse, Täuschungen und so fort werden weiter und zurück gegeben. Das sind alles „Wertungen“, die zwischen den Personen, zwischen Teilen der Gesellschaft (die Briefe an die und von der gut informierten „Klotho“), zwischen Berlin und dem Harz ausgetauscht werden, die vor allem auch aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein wandern. Das Eisenbahn-Netz vertritt ein Kommunikations-Netz. Und in diesem ist Ver‐ ständigung und Konsens prinzipiell zumindest möglich. Insbesondere wenn dieses Kommunikations-Netz auf die Ebene des literarischen Erzählens gehoben und so erst recht verallgemeinert wird. Fontane erzählt das alles ganz illusi‐ onslos und durchaus auch ein wenig brutal, aber er erzählt immer nur „Teile“ von „Teilen“ des europäischen Naturalismus, und er erzählt zugleich gegen diesen an. Er „transferiert“ gemilderte und verfeinerte „Teile“ aus dessen Er‐ zähl-Welt in seinen eigenen Diskurs, so dass sie zu „Teilen“ (pars pro parte) eines nun letztlich human verfassten, an „Werten“ orientierten Kommunikations-, ja Gesprächs-Netzes werden. Solche „naturalistischen“ Fragmente, hier also die Eisenbahn-Szene, die in ein kommunizierendes und reflektierendes Medium übertragen werden, zeigte etwa auch die weiter oben bereits untersuchte Spiegelung der Umwelt in Ir‐ rungen, Wirrungen: Lene wird zum Ding unter Dingen, aber dies wird zugleich ganz wörtlich auf die Ebene der Spiegelung, also der „Re-Flexion“ gehoben. Noch raffinierter wirkt in diesem Sinne der „Dreh- und Straßenspiegel“ in Stine (vgl. 482), der Distanz zur „Straße“ wahrt, diese aber zugleich auch pars pro parte heranholt; und Stine wird diesem Sog letztlich nicht entgehen, so wie auf ihre Weise auch Lene nicht oder Cécile. Und, um ein vorerst letztes Beispiel zu nennen, die vielfach verschachtelte, in Teilen verborgene, in Teilen zur Er‐ zähl-Bühne 28 erweiterte Gärtnerei am Anfang von Irrungen, Wirrungen hängt 124 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 29 Vgl. oben Kap. 3. 30 So hat beispielsweise auch die oben an der Szene: „Lene vor dem Schaufenster“ be‐ obachtete Detailgenauigkeit, ja Übergenauigkeit, etwas „Naturalistisches“, jetzt freilich beispielsweise im Sinne der Prosa von Arno Holz (etwa Papa Hamlet, 1889; Der erste Schultag, 1889). Auch der Zusammenhang und Übergang von Naturalismus und Déca‐ dence klingt in der für Fontane charakteristischen „distanzierten Teilnahme“ bei ihm immer wieder an. sicher metonymisch mit der großen und harten Großstadt-Welt „draußen“ zu‐ sammen: Man denke nur an die Betrügereien und die sexuellen Anspielungen des Dürr-Paares. Aber präsent ist die Welt „draußen“ auf dieser erzählten „Bühne“ vor allem in der Musik vom Tiergarten her und natürlich in den weit hinaus schweifenden Gesprächen: alles Teile, nicht Bilder der Großstadt. For‐ dern sie die Leser nicht geradezu auf, mit hinein zu hören und zu reden und zu denken? Effi Briests „ganz arme Schwestern“ Freilich „den“ Naturalismus gibt es nicht. Es gibt, wie anderswo gezeigt, 29 klare gemeinsame Voraussetzungen und durchaus widerstrebende Folgerungen. Und genau in diese Vielfalt sind Fontanes Metonymien zwar distanziert, aber farbig und fest hinein „verwoben“. 30 Für eine transnational interessierte Lektüre Fon‐ tanes nun besonders aufschlussreich scheint mir zuvorderst jene zweifache Be‐ deutung, die „Natur” im europäischen Naturalismus oft hat: „Natur” im Sinne eines soziologisch gewendeten Darwinismus; das kann hier natürlich nur ganz allgemein so benannt werden, bleibt aber richtig. Und mindestens ebenso wichtig wird hier „Natur” im Sinne Rousseaus und der Romantik. In diesem doppelten metonymischen Verweis lässt sich auch das „Suchbild Europäischer Naturalismus” bei Fontane mit weiterer Farbe füllen, treten dessen „feine Fäden“ kräftiger hervor, und verknüpfen die drei in ihrer Entstehung einander ein‐ rahmenden Erzählungen: Cécile, Irrungen Wirrungen, und Stine. Immer ist es dabei der Roman des Naturalismus, den es auf einem Niveau wie dem Fontanes in der Deutschen Literatur ganz einfach nicht gibt, der diese kräftigen Farben liefert: Wo etwa Fontanes Stine nur fürchtet, dass „das Herz” gegen die Alltagsmisere nicht „aufkommen” wird - „es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder es wirklich führen” (552) -, da wird genau dieser Konflikt, „ein armes […] Leben […] wirklich führen” zu müssen, im Europäischen Natu‐ ralismus immer wieder drastisch zu Ende erzählt. Und dieser Konflikt ist, was es bei Fontane nie gibt, eigentlich immer schon vorweg entschieden. Man kann hier völlig zu Recht von „Effi Briests ganz armen Schwestern” sprechen und 125 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus sehen, wie Lene oder Stine sich ihnen nähern. Der Ring aus Haar, der Kranz aus Blumen bleiben in Fontanes Irrungen, Wirrungen fern hin verweisende Spuren, feine Fäden, die aber mit drastischeren Texten verbunden werden können. In George Gissings The Nether World (1889) etwa muss alles, was an eine bergende, zyklische Welt auch nur erinnert, sofort verkauft werden: der Ehering am Tag nach der Hochzeit - so plakativ geht es bei Fontane nie zu, aber sagt nicht Lenes Ring aus Haar letztlich genau dasselbe? -, die Kinder zur Arbeit, der Rhythmus von Morgen und Abend an die Sorge um Essen und Alkohol, die Familien-Kon‐ tinuitäten an das Milieu bzw. an das Geld, ein Geld, das verdient wird nicht nur durch Arbeit, sondern eben auch durch Verbrechen und Prostitution. Sind aber nicht auch solche Farben in den feinen Motiv-Fäden Fontanes präsent? Am nächsten kommt Fontane vielleicht dem Naturalismus, wenn der Versuch, aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, sich nur als neue Form der Anpassung realisieren ließe und erst recht tödlich endet. Freilich bleibt es bei Fontane lediglich beim Gedanken an ein Ausbrechen, und der Tod ist mild: Der Selbstmord des jungen Grafen in Stine ist ein resigniertes, aber auch versöhntes Einschlafen; die Duelle in Cécile und Effi Briest haben etwas Rituelles, fast Spie‐ lerisches; selbst Krankheit und Tod wie in Cécile, Stine, und erst recht in Effi Briest werden umsorgt und gepflegt erlitten, verstanden und akzeptiert. Man könnte bei Fontane manchmal fast von „Metonymien des Todes“ reden. Und doch sind sie ein leidendes Plädoyer für das Atmen- und Leben-Wollen der Menschen schlechthin. Auch so aber wird auf das viel drastischer erzählte, naturalistische Paradigma immer noch deutlich verwiesen. Der männliche Held in Theodore Dreisers Sister Carrie (1900), oder die Protagonistin in Emile Zolas L’Assommoir (1877) sind allerdings aus ihren angestammten sozialen Räumen ausgebrochen: nach New York und nach Paris. Aber das ist eine neue Form der Anpassung. Und der soziale Abstieg, den sie mit sich bringt, wird langsam und detailliert ausgearbeitet. Sie sterben im Obdachlosenasyl und im Verschlag unter der Treppe des großen Mietshauses. Dieser Tod ist ein Protest ganz ohne subjektive Versöhnung. Wenn er Perspektiven eröffnet, dann nur im radikalen Verweis auf andere und anderes, das es im weiteren Œuvre dieser Autoren dann auch gibt. Bei Fontane dagegen lässt sich über alles reden, alles bedenken und aus allem lernen. Betrachten wir andere Konfliktkonstellationen: Lene und Stine bei Fontane werden von Standesvorurteilen beiseite geschoben, Cécile und Lene werden von moralischen Gewohnheiten beleidigt, wenn auch leichthin, im gesitteten Ge‐ spräch, ja im Plauderton. Effi Briest wird verletzt, weil man sie nicht versteht, nicht verstehen will. Thomas Hardys Tess of the d’Urbervilles (1891) aber wird von Standesprivilegien vergewaltigt und von Unverständnis und moralischen 126 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 31 Giovanni Verga, I Malavoglia. Hrsg. Von Sarah Zappulla Muscarà, Milano 1987, S. 299. 32 Ebd., S. 300. Vorurteilen in ihrer Identität nahezu zerstört. Sie stirbt nicht versöhnt, sondern wird hingerichtet. Umso kräftiger tritt dem das Thema der „reinen Natur” ent‐ gegen (A pure woman, so der Untertitel): Denn hier gibt es durchaus auch eine nährende, bergende, aber zugleich wuchernd vitale Natur, bis hin zu grausam „natürlichen“ Szenen („the rat-catching“ in Kap. 48 etwa) und bis hin zum „mör‐ derischen“ Aufstand der Kreatur am Ende. Aber diese Natur, das ist bei aller Tragik immer klar, soll Recht behalten. Sich als Ehepartner „verkaufen” zu müssen, ist für Botho in Irrungen, Wir‐ rungen etwas zum Lachen: laut, albern, immer wieder, und darin freilich verrä‐ terisch. In Effi Briest wird es sogar nur ein vermeidbares Missverständnis be‐ deuten, wie die Eltern am Ende einsehen. In Giovanni Vergas Romanen dagegen wird die Qual der Anpassung langsam und intensiv dramatisiert: als unwider‐ stehlicher, täglich neuer materieller Druck für die Tochter der armen Fischer in I Malavoglia (1881), oder als Sog für den Aufsteiger in Maestro Don Gesualdo (1889), in beiden Fällen als unerbittlich fortschreitende Zerstörung des humanen Selbstbewusstseins. Man verfolgt ganz direkt, wie „das Herz” gegen Druck und Sog materieller Bedingungen „nicht aufkommen” kann (Stine) - „ il cuore stretto in una morsa / das Herz in einen Schraubstock eingespannt“, heißt es bei Verga -, 31 und wie „zugrunde gehen” wird, wie es in Irrungen, Wirrungen heißt, wer, wie Gesualdo, sich anpasst. Doch geradezu mythisch steht hinter allem bei Verga die Präsenz der in ihren natürlichen Rhythmen, auch denen der Arbeit, lebenden sizilianischen Landschaft und erst recht die des Meeres. Das freie, offene Meer - „il mare non ha paese / das Meer hat keinen Ort“ 32 - spricht in I Malavoglia immer mit hinein, lauter als der Wald in Cécile (der Harz) oder die Flussauen in Irrungen Wirrungen (Hankels Ablage) oder die Dünenlandschaft in Effi Briest (Kessin) gewiss, aber auch dort ist deren Stimme immer zu hören. Der Autor nun, der ganz gegensätzlich orientierte naturalistische Para‐ digmen, die Antithesen der „Natur” im Naturalismus, vielleicht am konsequen‐ testen gegeneinander stellt, ist Emile Zola. Die Erfolge und Katastrophen in‐ nerhalb einer weit verzweigten Familie unter dem Zweiten Kaiserreich erreichen die höchsten politischen Intrigen am Kaiserhof und in der Regierung, oder etwa die der Börsen- und Immobilienspekulation, die Romane dringen aber auch vor in die Tiefen der Arbeitswelt in den Bergwerken, auf den Großbau‐ stellen oder den Eisenbahnen, und führen hinein in die letzten Winkel von Al‐ koholismus, Prostitution oder Krankheit. Zola begreift - aber das ist eben nur eine seiner Orientierungen - in seinem antithetisch-monistischen Weltbild die 127 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 33 “Il y a un fonds de bête humanaine chez nous” (wir sind im Grunde menschliche Tiere), Emile Zola, Le roman expérimental. Hrsg. von Aimé Guedji, Paris 1971, S. 152. Vgl. auch oben Kap. 3. 34 Man kann als deutscher Leser hier nicht anders als an Fontanes vielleicht berühmtestes Gedicht Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889) zu denken. Ein Einfluss liegt sicher nicht vor. Fontane hatte das Motiv viel früher entdeckt. Aber ist nicht auch dies eine heitere Metonymie des Naturalismus. 35 Emile Zola, La fortune des Rougon., Hrsg. von Robert Ricatte, Paris 1969, S. 38. Realität seiner Zeit als „Natur” im Sinne Darwins oder des Positivismus: 33 als Überlebenskampf der Evolution, wobei freilich immer auch die Selbstheilungs‐ kräfte der erzählten Gesetzmäßigkeiten, die starken und oft auch freundlichen „Triebe” weiter verfolgt werden. Andererseits aber - und das wurde in Deutsch‐ land und wird bis heute in der Germanistik meist übersehen - ist Zola unter den Naturalisten vielleicht der am tiefsten gläubige Rousseauist und Romantiker. Immer wieder im zwanzigbändigen Hauptwerk und folgerichtig dann in den Utopien trifft man auf groß und farbig ausgemalte Bilder „mütterlicher”, nähr‐ ender, bergender, zyklisch sich erneuernder und den Menschen freundlicher Natur. Und beide Orientierungen zusammen geben nun in der Tat einen sprech‐ enden Kontext ab für Fontanes metonymische Verweise. Der Friedhof im letzten Teil von Irrungen, Wirrungen - wir haben ihn oben ausführlicher betrachtet - erinnert nur von fern und auch geradezu in negativer Entsprechung an die reichere und lebendigere Natur anderswo. Fontane lässt seinen Romanhelden, wenn er mit einem billigen, industriell gefertigten Kranz für das Grab der Mutter seiner Geliebten im Gewirr genormter Friedhofswege herumirrt, er lässt ihn, sieht man genau hin, eine Natur suchen, aus der Botho selbst sich entfernt hat, die aber die Leser begreifen. Effi Briests einsames Grab befindet sich nicht auf dem Friedhof, sondern, als stünde sie außerhalb der ehr‐ baren Gemeinde, im heimischen Garten; und dort ruht sie bezeichnenderweise anstelle des Heliotrop: in ihrem verlorenen Kindheitsparadies, dem bildhaft sein Sinn, die Ausrichtung auf die Sonne, genommen wurde. Doch erinnert nicht gerade dies noch deutlicher als das Großstadt-Grab in Irrungen, Wirrungen an das Leben, das volle, freie Leben, das hier fehlt? Auf einem aufgegebenen Friedhof nun beginnt Zolas zwanzigbändiger Ro‐ manzyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893), also der Anfang der ganzen Fa‐ miliengeschichte im Roman La fortune des Rougon (1871): Aber dies ist jetzt ein vegetativ wuchernder Natur-Ort, wo immer wieder ganz zyklisch Tod in Leben, also wo ganz drastisch menschliche Verwesung in Pflanzen, Blumen und, ja, auch dies, in Früchte übergegangen war, etwa in saftige, wohlschmeckende Birnen. 34 Zola macht daraus einen geradezu mythischen Ort: „une mer d’un vert sombre, profonde (d’)une fertilité formidable”, 35 „ein tief dunkel-grünes Meer” 128 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 36 Ebd., S. 48. 37 Emile Zola, L’Assommoir. Hrsg. von Jacques Dubois, Paris 1969, S. 267-271. - „la mer”, das Meer, ist im Französischen phonematisch gleich mit „la mère”, die Mutter, was hier natürlich bedeutsam ist -, ein „mütterliches Meer” von „außerordentlicher Fruchtbarkeit”. Und die beiden ersten Romangestalten, die nachts aus romantischem Walddunkel heraustreten: „Miette”, wörtlich „Brot“- oder „Erd-Krume”, und „Silvère”, „der Waldige”, ihr Aussehen, z. B. Miettes prächtiges Haar „pareils à une mer crépue”, 36 das einem „gekräuselten Meer” gleicht, nehmen das Thema lebendiger Naturtotalität ebenso auf, wie die ganze romantische Liebes- und Revolutionsgeschichte dieser beiden Kinder. Nur in solchen Naturräumen können Zolas Liebende glücklich sein: im Kon‐ trast zu den gierigen Meuten, die sich um Erfolg und Besitz raufen, oder den todbringenden Maschinenwelten der Mietshäuser, Destillen, Fabriken und so fort. Die Gärtnerei in Irrungen, Wirrungen, der freilich „alles Feinere fehlte” (324), ein kleinbürgerliches Paradiesgärtlein zwischen Karotten und Lauch, an das der vielfach belebte Tiergarten-Park angrenzt, ist gleichwohl für Lene und Botho ihr Natur-, Freiheits- und Seelen-Raum voller „Duft und Frische” (342), wo sie meinen dürfen, sich außerhalb von Konvention und Verstellung ihrer Liebe hin‐ geben zu können. Und diese Liebe ist für Fontane, wie eigentlich im ganzen 18. und 19. Jahrhundert, ein bedeutsamer Teil, pars pro toto für Humanität. Sehr viel deutlicher und kräftiger nun kann man die Variation solcher Natur- und Hu‐ manitätsinseln, in den Rougon Macquart wieder finden: von dem Großstadt‐ garten, kostbar und gepflegt wie ein Salon, in dem Roman mit dem bezeichn‐ enden Titel Une page d’amour / Ein Blatt Liebe (1878) über die luftige und helle Dachterrasse mit ihren Kübelpflanzen hoch über der Seine in La Curée / Die Meute (wörtlich „Beute der Hunde” nach der Hetzjagd, 1874), einem paradiesi‐ schen Kinderzimmer, aus dem heraus die Romanheldin noch brutaler als Cécile oder Effi an einen viel älteren Mann „verkauft“ wird, oder kontrapunktisch ent‐ sprechend später über den großen warmen Wintergarten, der zum bevorzugten Treffpunkt der Liebenden im selben Roman wird (wie in Fontanes L’Adultera, 1882), ja bis hin zu dem kleinen Grasplatz mit dem vertrockneten Baum in L’Assommoir (1877), wo Gervaise und ihr Goujet von ihrer Liebe nur zusammen reden und träumen dürfen, wo der Anblick von ein paar Buchsbaumhecken vor einer Kneipe sie fast zu Tränen rührt und Goujet für Gervaise viele Löwen‐ zahnblüten pflückt, 37 so wie Stine und Waldemar bei Fontane, die durch das Fenster nur auf ein paar Bäume blicken können. Aber hat dann nicht auch in Irrungen, Wirrungen der kleine Vorgarten, in dem das „gärtnernde” Kind mit 129 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 38 „La terre, seule demeure l’immortelle, la mère d’ou nous sortons et où nous retournons / Die Erde allein bleibt unsterblich, die Mutter, aus der wir kommen und in die wir zu‐ rückkehren“, Emile Zola, La terre. Hrsg. von Marcel Girard, Paris 1973, S. 482; auch hier wird ein Friedhof symbolisch überhöht (vgl. S. 469ff.). 39 Émile Zola, La faute de l’abbé Mouret. Hrsg. von Colette Becker, Paris 1972, S. 86, vgl. S. 77 u. S. 163ff. („une mer de verdure” etc.). 40 Vgl. Émile Zola, Le docteur Pascal. Hrsg. von Jean Borie, Paris 1975, S. 231ff. 41 Ebd., S. 386. Lenes „Leid des Lebens” mitfühlt, eine Bedeutung, die solche Zusammenhänge wachruft? Alle diese Räume verweisen bei Fontane und in den bis jetzt gezeigten Kon‐ texten auch bei Zola lediglich auf freiere sinnerfüllte Natur in der Tradition der Romantik. Doch bei Zola gibt es solche all-lebenden Vegatations-Welten auch ganz farbig und direkt. Denn von den domestizierten Natur-Räumen in der Großstadt reicht bei dem wichtigsten Romancier des europäischen Naturalismus die erzählte und imaginierte Galerie der Naturentwürfe bis zu dem mythisch-tel‐ lurischen Raum einer nun in der Tat zyklischen Natur, Inbegriff der „forces mères / mütterlichen Kräfte” in La terre (1887) 38 oder zu der Garten-, Fluss- und Inselwelt im Mittelteil des Künstlerromans L’Œuvre (1886), in der die das Leben verzehrende künstlerische Arbeit keinen Platz hat, in der aber die Liebe und das Kind, die Antithesen, ja Anti-Mythen der Kunst, leben und gedeihen, ein Na‐ turraum, den Lene und Botho vergleichbar in „Hankels Ablage” noch kürzer auch nur durchqueren dürfen, oder, - und hier, so könnte man sagen, wird Effi Briests Kindheitsgarten in großem Maßstab explizit gemacht - bis hin zu dem verwilderten Park „le Paradou”, ein Garten Eden voll Blumen, Früchten, von Bächen durchzogen usw., in La Faute de l’abbé Mouret (1875), „une île (de) nature tout à fait primitive” (eine Insel ganz ursprünglicher Natur), 39 wo der von seinen Zwängen befreite Priester und das vollkommene romantische „Naturkind” - Effi Briest ist dies ja nur mit einem Teil ihres Wesens - jenes Liebesglück finden, freilich auch den romantischen Liebestod, an dem Effi (nicht zufällig heißt der Name „Eva”) allenfalls von ferne teilhat. Und bei Zola wird dieser Garten „le Paradou” im Schlussroman des Zyklus Le docteur Pascal (1893) und in der Vor‐ stellung und im Gefühl zweier Liebender ausdrücklich, und wie ein Bekenntnis, neu erschaffen. 40 Zuletzt beherrscht dann bei Zola ein neugeborenes Kind die allerletzte Roman-Szene, das als „appel à la vie / als Anruf an das Leben”, sein Fäustchen in den Himmel reckt. 41 Freilich, hat nicht auch in Effi Briest ein sym‐ bolischer Garten, von einem Eva-Kind bewohnt, auch wenn es ein totes ist, zu‐ mindest ein letztes Wort, zumindest eines von mehreren, allerdings eben als metonymisches Argument in absentia, als Hinweis auf etwas Lebensnotwen‐ diges, das fehlt? 130 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 42 Theodor Fontane, Emile Zola. In: Theodor Fontane, Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. 1, Aufsätze und Aufzeichnungen. Hrsg. von Jürgen Kolbe, München 1969, S. 534-550 u. S. 915-918. 43 „Vielleicht lese ich [von einem Band Zola] nur zwei, drei oder vier Kapitel”, ein Brief Fontanes an Emilie vom 8. Juli 1883, ebd., S. 915. Meines Erachtens kannte Fontane die ersten beiden Bände der Rougon-Macquart sowie L’Assommoir. Fontane und der Europäische Naturalismus Natürlich gäbe es jetzt zu alldem noch viel mehr zu sagen. Fontane hat sich ja auch von Zola in Aufzeichnungen und Briefen zwischen 1880 und 1883 42 in fast schon übertriebener Lautstärke abgegrenzt (ihn freilich auch wohl nur sehr überschaubar gekannt). 43 Aber die distanzierten, gleichwohl festen Gemeinsam‐ keiten bleiben sprechend, man muss sie nur richtig sehen. Anders gesagt, sähe man diese Gemeinsamkeiten ohne die Differenzierungen: ein eben lediglich metonymischer Verweis auf rousseauistisch-romantische Natur bei Fontane, ihr expliziter Entwurf bei Zola, ohne die kontextuellen Relativierungen und die be‐ reits im Œuvre gegebenen intertextuellen Verflechtungen, die damit jeweils verbunden sind, und vor allem ohne die Korrespondenz ihrer Gegenpole, die Fontane deutlich auch, aber eben auch lediglich metonymisch anspricht, die Welt der Arbeit, des Geldes, der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und - und er‐ neut ist der Unterschied der Autoren zwar drastisch, aber relativ - der gesell‐ schaftlichen Unmenschlichkeiten, würde man also solche Vergleiche aus diesem Netz von polaren Verweisungen herausnehmen, dann wären sie vielleicht be‐ liebig oder banal. So aber machen sie doch tiefgehende Gemeinsamkeiten deut‐ lich. Die farbigeren, großflächigeren, expliziteren Texte Zolas können auch in den feineren Fäden Fontanes sichtbar machen, wie sehr er am Europäischen Naturalismus teilnimmt, wie klar sich dessen „Suchbild” auch im Erzählwerk Fontanes abzeichnet. Aber Fontane nimmt nur daran teil und verweist darauf, wie auf einen Rahmen von Zwang und Sog, von Sehnsucht und Gefahr. Der Rahmen mit seinen kräftigen Farben gilt, aber die feinen Fäden des Erzählwerks sagen letzt‐ lich etwas anderes. Denn genauso wichtig wie die Verweise und Vernetzungen sind hier eben die Unterschiede. Die antithetischen Natur- und Gesellschafts‐ entwürfe Zolas: Natur als vitale, liebende Heimat, Natur als Kampf ums Dasein, man denke etwa auch an die Tiermetaphern, diese Gegenwelten heben sich evolutionär auf. Das Gesamtsystem lebendiger Naturgesetze, das auch Zivilisa‐ tion, ja Technik und Intellekt beherrscht, heilt sich, so Zola, auf lange Sicht selbst. Die Kranken leben nicht fort, gesunde neue Triebe sprießen überall hervor, die bösen Anlagen zerstören sich wechselseitig oder werden vertrieben, Arbeit, Klugheit, Liebe, Kunst und Literatur, nicht zuletzt patriotisches Engagement, 131 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 44 Émile Zola, L’Argent. Hrsg. von Émilien Cararsus, Paris 1974, S. 452. 45 Émile Zola, Le Docteur Pascal, S. 385. tun das ihre; auch das Geld ist zugleich „empoisonneur et destructeur”, „zerstö‐ rerisches Gift” und notwendiger „Dünger“ des Fortschritts, „le ferment de toute végétation sociale”, bis hin zur Bedingung einer neuen Welt, „le réveil d’un monde, l’humanité élargie et plus heureuse”, bis hin also zur Ankunft freierer und glücklicherer Humanität. 44 Die Zukunft gehört der unbegrenzten Evolution des Lebens: La vie, la vie qui coule en torrent, qui continue et recommence, vers l’achèvement ignoré! La vie où nous baignons, la vie aux courants infinis et contraires, toujours mouvante et immense, comme une mer sans bornes / Das Leben, das Leben, das wie ein Strom dahin fließt, das sich fortsetzt und wieder beginnt, einer unbekannten Voll‐ endung entgegen! Das Leben, in dem wir schwimmen, mit seinen unendlichen ge‐ genläufigen Strömungen, unendlich und immer in Bewegung, wie ein Meer [eine Mutter] ohne Grenzen. 45 Der alte Fontane steht solchen Visionen tief skeptisch gegenüber. Er erzählt eher eine Aporie bloßer Ideen und Utopien. Die deutschen Naturalisten, vor allem Gerhart Hauptmann und Arno Holz, teilen Zolas Antithesen, sehen sie aber prinzipiell unaufgelöst. Natur im Sinne Rousseaus oder der Romantik ist bei ihnen der handelnden Außenwelt gegenüber buchstäblich Erinnerung, so aber hat sie immer noch ihren Sehnsuchtswert. Wie durch ein Fenster schaut sie manchmal in die Gefängnisse der naturalistischen Dramen-Räume herein. Und Sehnsuchtswert hat eine freundliche, humane Natur auf alle Fälle auch für Fon‐ tane. Man denke über die bisher vorgestellten Natur- und Liebes-Räume hinaus überhaupt an den Mythos der Ozeanien, Undinen und Melusinen, der Natur-Wesen, ein Mythos, der ihn zeitlebens faszinierte. Aber auch Sehnsüchte oder Mythen haben bei Fontane nicht einfach Recht. Ich habe gezeigt, wie beide Seiten der antithetischen Naturauffassung, z. B. der Zolas, sich bei ihm finden lassen; sie erscheinen freilich feiner, sozusagen homöopathisch gemildert, aber immer noch wirksam; das Medizinische ist für die Naturalisten immer eine Ori‐ entierung gewesen, und Fontane war ja von Haus aus Apotheker. Fontane ar‐ gumentiert eben, was man ihm ja auch oft vorgeworfen hat, lediglich in indi‐ rekten Verweisen. Und er verfolgt - das darf nicht verwischt oder gar gleichgesetzt werden - ein von den Naturalisten grundsätzlich verschiedenes, 132 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 46 Vgl. ausführlich Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, zu Fontane v. a. S. 19, S. 111-113, S. 313f. „Pragmatisch” heißt hier im Sinne von Kant (und etwa Habermas): der allgemeine Zweck eines vernünftigen, also zwangfrei selbst‐ bestimmten Konsens; vgl. auch Verf., Theodor Fontane „der Stechlin“ (wie Anm. 10); sowie oben Kap. 2. 47 Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 6), Bd. 5, München 1980, S. 271. 48 Bezeichnenderweise eine Erfahrung während einer Eisenbahnfahrt: „Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte“ (ebd., S. 296). 49 Ebd., S. 270 u. S. 274. erzählstrategisches Ziel. 46 Bei Zola sollen sich die Leser von der Evolution mit‐ tragen lassen und ihrerseits an ihr arbeiten. Die Deutschen Naturalisten suchen Einsichten und provozieren Alternativen. Fontane will im Netz der Metonymien den „großen Zusammenhang der Dinge” erkennen, wie es im Roman Der Stechlin heißt. 47 Genauer: Die Kunst des Verweisens will die Antithesen der zuletzt nicht weniger deutlich als die Naturalisten gesehenen „harten” Realität übersetzen in Reflexion, Sprache, Bewusstsein der Gefühle und in Denken. Die Metonymien des Naturalismus werden übersetzt in Perspektiven eines auf humane Verstän‐ digung gerichteten „Wertediskurses“. Der „große Zusammenhang” ist für Fon‐ tane alles andere als eine evolutionäre Utopie, wie Zola sie entwirft, sondern ein bewusst gesuchter und ganz illusionslos, ja durchaus skeptisch gesehener, al‐ lenfalls möglicher intersubjektiver Konsens. So formuliert gerade das voll‐ kommen humanisierte Naturwesen Melusine, eine liberal und progressiv den‐ kende Aristokratin in Fontanes letztem Roman Der Stechlin (1889) - die freilich auch ihrerseits eine traumatische Metonymie des Naturalismus mit sich herum‐ trägt 48 -, sie spricht diese sozusagen regulative Idee der Humanität am klarsten aus, wenn sie sagt, dass „wir […] den großen Zusammenhang der Dinge“ in allen „neuen” Bestrebungen suchen und dafür „recht eigentlich leben” sollen. Aber sie hält diesen „revolutionären Diskurs” 49 nicht als Vision oder Hymne, wie die Schlussworte von Zolas Docteur Pascal, sondern gerade auch den Lesern gegen‐ über von gleich zu gleich, nur so ist intersubjektiver Konsens möglich, als Ge‐ spräch, ja, - und warum nicht? - im Plauderton. 133 5. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus 1 Vgl. Verf., Vergangene Vergangenheit? Realismus und Moderne bei Fontane, Faulkner und Johnson. In: Frick, Werner (Hrsg.), Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Tübingen 2003, S. 231-245; dieser Aufsatz wurde jetzt gründlich überarbeitet. 2 Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. 4 Bde., Franfurt a. M. 1983, B.4, S. 1694. 3 Auf Fragen, wer ihn am meisten „beeinflusst“ habe und wer zu seinen „Lieblings‐ schriftstellern“ gehöre, antwortete Johnson immer wieder: „Fontane“. Eberhard Fahlke (Hrsg.), „Ich überlege mir die Geschichte.“ Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt 1988, S. 208, 211, 218. 6. „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen …“ - Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert für Klaus-Detlef Müller 1 Einhundert und eins Jahre nach seinem Erscheinen wurde Fontanes Schach von Wuthenow in einem wichtigen, vielleicht dem wichtigsten deutschsprachigen Roman des späteren Zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal überraschend pro‐ minent: Die Jahreszeiten gingen ihren Gang; immer noch lasen wir „Schach“. Schach! 2 Wo steht dieser Satz? Und vor allem, was bedeutet die Wiederholung, erst mit Anführungszeichen: „ ‚ Schach’“, dann ohne, noch mal „Schach“? Der Satz steht im vierten Band von Uwe Johnsons Roman Jahrestage (1983). Die Romanheldin erinnert sich an einen für sie sehr wichtigen Deutschunterricht - „wir hatten […] das Deutsche [die deutsche Literatur] lesen gelernt“ -, als ausführlich und aus immer anderer Perspektive dieser Roman Theodor Fontanes Schach von Wuthenow (1882) behandelt wurde. Offensichtlich halten nicht nur Gesine, son‐ dern auch der über ihre Schulter schauende „Genosse Autor“, also Uwe Johnson selbst (er starb ein Jahr später mit 49 Jahren), diesen Roman für sehr lesenswert und anregend. 3 Auf den Romantitel also bezieht sich das erste „Schach“. Das zweite aber bezeichnet in einem ganz eigenen elliptischen, also in einem auf ein Wort verkürzten Satz nicht mehr die Namen des Romanhelden und des Romans, sondern es funktioniert die sprachliche Denotation des Wortes selbst, also ganz einfach seine nächstliegende Bedeutung. Gemeint ist jetzt das Spiel „Schach“ als 4 Solche Begriffe erklärt jede Einführung in die Erzähltheorie oder -analyse, z. B. Matthias Bauer: Romantheorie. Stuttgart-Weimar 1997. 5 Sie war bereits die Romanheldin in Uwe Johnsons früherem Roman: Mutmaßungen über Jakob (1959). 6 Vgl. z. B. Verf., Uwe Johnson „Jahrestage“. In: Verf. (Hrsg.), Große Werke der Literatur VIII, Tübingen und Basel 2003, S. 233-251. 7 Zu Fontanes Vorlagen und Anregungen und zur Entstehung des Romans vgl. etwa Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 1, Hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, Darmstadt, 2. Aufl., 1970, S. 952-958 solches, bzw. durchaus noch genauer: ein bestimmter entscheidender, eine Be‐ drohung ankündigender Spielzug. Wer darauf nicht reagieren kann, wird „zu‐ grunde gehen“. Aber wer spricht denn dann jetzt: die Romanperson oder der Autor? Und wer sagt hier zu wem „Schach“? So wie die Wendung „die Jahreszeiten“ an den Ro‐ mantitel Jahrestage anzuspielen scheint, so scheint der Autor Johnson hier zu signalisieren, dass er selbst, und offensichtlich eben angeregt durch Fontanes Roman, eine Art „Erzähl-Schach“ spielt. Er spielt ein literarisches Strategie-Spiel mit vorgegebenen Figuren, bzw. um es in der Sprache der Erzähltheorie zu for‐ mulieren, mit literarischen „Aktanten“, 4 und das müssen nicht nur Personen sein. Johnson „spielt-erzählt“ mit seiner deutlich als „Spielfigur“ konstruierten Romanheldin 5 an gegen die damals aktuelle gesellschaftlich-politische Situation, vor allem die in der DDR, aber beispielsweise auch die in den USA mit ihren Rassenunruhen und dem Vietnam-Krieg. Vor allem aber erzählt er an, führt er ein literarisches Strategie-Spiel gegen die deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin. 6 Ein komplexes Spiel, das überraschende Bezüge und Sprünge erlaubt, aber doch sehr klar angelegt ist in seiner Grund-Konzeption. Und das wäre dann die Frage, die ich mir und Ihnen heute stellen möchte: Lässt sich dieses Modell eines literarischen Strategie-Spiels auch auf Fontanes Schach von Wuthenow selbst anwenden? Uwe Johnson scheint das so gesehen zu haben. Fontanes Roman-Titel - das historische Vorbild hieß ja „von Schack“, 7 nicht „von Schach“ - und viele weitere Hinweise im Text eröffnen zumindest die Möglichkeit, so zu lesen. Wer also spielt hier wie und womit und gegen wen „Schach“? Die Frage nach dem „womit“, also nach den „Aktanten“, zumindest nach den wichtigsten, ist leicht zu beantworten. Fontane versammelt sie und ordnet sie einander zu, in der Tat wie Figuren auf einem Schachbrett: eine Skandalge‐ schichte aus Preußen einerseits, die sich in Wahrheit 1815 ereignet hat, und in deren Mittelpunkt ein früherer Major des seinerzeit berühmten und berüch‐ tigten „Regiments Gendarmes“ stand, das ist sozusagen ein „Aktant“. Anderer‐ seits steht dem gegenüber der preußisch-französische Krieg von 1806, der mit 136 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 8 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Theodor Fontane, Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Mit einem Nachwort von Walter Keitel, Stuttgart 1961 (= Reclam-Universal-Bibliothek 7688). 9 Hugo Aust, Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen und Basel 1998, S. 91. 10 Vgl. zum Folgenden Verf., Prussian Decadence. „Schach von Wuthenow“ in an Internati‐ onal Ccontext. In: Howe, Patricia / Chambers, Helen (Hrsg.), Theodor Fontane and the European Context. Literature, Culture and Society in Prussia and Europe. Amsterdam/ Atlanta 2001, S. 105-117. der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstädt am 14. Oktober endete, und der 1882 sicher noch lebendiger im allgemeinen Gedächtnis war, als heute. Die spätere Skandalgeschichte vor diesen Hintergrund zu stellen, ist vielleicht der wichtigste „Schachzug“. Und dann erfasst dieses Spiel der Zuordnungen und Konfrontationen auch die Personen und Personen-Gruppen des Romans, bis hin zur liebenswürdig verschrobenen Tante Marguerite, die sogleich eine Liebes‐ geschichte zwischen Schach und Victoire errät, oder bis hin zum modisch kleinen englischen „groom“, der als erster - „Heavens, he is dead“ (146) 8 - von Schachs Selbstmord erfährt: Dies wären dann alles „Aktanten“ auf dem Schach‐ brett des Erzählens. Dass es hier um „Schachfigur[en] im Untergangsspiel“ geht, 9 wurde immer wieder beobachtet. Aber das Modell reicht viel weiter, ja es reicht letztlich über Fontanes eigene Zeit hinaus. Eine klassische Erzählstrategie Zur Einführung ein Rückblick auf drei klassische Romane des 19. Jahrhunderts, die Fontanes „Spielzüge“, Zug um Zug ein Spiel von Setzung, Verneinung und dann Verallgemeinerung, vielleicht plastischer sichtbar machen, drei „Partien Erzähl-Schach“ sozusagen, einmal die eines unbestreitbaren Vorbilds für Fon‐ tane, dann die zweier „Großmeister“ des europäischen Romans: Edward Waverley geht Hirsche jagen im Schottischen Hochland. So beginnt ein auf den ersten Blick kurioses, im Ganzen aber entscheidendes Kapitel in Walter Scotts gleichnamigem Roman von 1814. 10 Plötzlich wendet sich das Rudel Hirsche und jagt genau auf die Jäger zu. „Werft euch auf den Boden! “, ruft man von allen Seiten. Aber Edward versteht kein Gälisch. Seine Genesung dauert ein paar Wochen, verläuft jedoch recht glücklich. Jetzt freilich versteht sein ge‐ schickter Wundarzt im Schottischen Hochland kein Wort Englisch. Und genau zu dieser Zeit, wenn der Romanheld völlig untätig und in einem Informa‐ tions-Vakuum eingeschlossen ist, geht der Stuart-Prinz Charles-Edward, der le‐ gendäre „Bonny Prince Charly“ an Land, es versammeln sich die Clans, die weiße Kokarde der Jakobiter wird getragen, die historischen Ereignisse der Rebellion von 1745 beginnen. Edward wird des Verrats verdächtigt. Beim Versuch, zu seinem Regiment zurück zu kehren, wird er festgenommen, dann von den Re‐ 137 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 11 Walter Scott, Waverley. Hrsg. von Andreas Hook, London 1972, S. 333 und 415. 12 Stendhal, La chartreuse de Parme, hrsg. von Michel Crouzet, Paris 1964, S. 37-107. 13 „Ce qu’il avait vu, était-ce une bataille, et en second lieu, cette bataille était-elle Wa‐ terloo? “, ebd., S. 105. (Alle Übersetzungen stammen von mir.) 14 Gustave Flaubert, L’Éducation sentimentale, hrsg. von Éduard Maynal, Paris 1964, S. 284. bellen befreit, dann wird er erneut krank, tagelang liegt er im Fieber. Inzwischen hat „Bonny Prince Charly“ Edinburgh eingenommen, und Edward hat so gut wie keine andere Wahl, als sich der Rebellion anzuschließen. Wie ein Schlaf‐ wandler - das wird ein wichtiges Stichwort werden - ist er hinein geraten, der Bürgerkrieg erscheint ihm bald als Alptraum: „a dream, strange, horrible and unnatural“, und erst nach Wochen wird er in die „real history of his life“ zu‐ rückkehren. 11 Inhaltlich ganz anders, strukturell aber vergleichbar, verläuft die Geschichte eines anderen „Schlafwandlers“ in historisch bewegter Zeit. Von den etwa drei Monaten des Jahres 1815, in denen der Romanheld Fabrice in Stendhals (Marie-Henri Beyles) Roman La chartreuse de Parme / Die Kartause von Parma (1839) in die Geschichte hinein reist, um sich der Armee Napoleons anzu‐ schließen, und dann wieder aus ihr heraus zurückkehrt nach Savoyen, 12 davon verbringt er genau 33 Tage im Gefängnis, etwa vier Wochen ist er krank, verletzt durch einen fliehenden französischen Soldaten. Zwischen diesen Phasen völ‐ liger Lähmung nimmt er irgendwie, ja fast unwirklich, als Husar verkleidet, Teil an der zweitägigen Schlacht von Waterloo. Aber auch während dieser 43 Stunden treibt er so gut wie passiv mit den Truppen mit und versteht überhaupt nicht, was um ihn vorgeht („il ne comprenait rien à rien“): Er versteht nicht, warum die Erde sich neben ihm so „eigenartig bewegt“, also dass da Kanonen‐ kugeln einschlagen, er erkennt nicht den berühmten Marschall Ney, und wenn sein Idol selbst, der leibhaftige Napoleon, vorbei reitet und alles schreit: „Vive l’empereur / Es lebe der Kaiser! “, ist er gerade, denn er hat statt etwas zu essen nur ein paar Schluck Schnaps bekommen, leicht betrunken eingeschlafen. Be‐ wegt nicht auch er sich wie ein Schlafwandler durch die Geschichte? Noch nach Wochen, auf der Heimreise, muss er sich ernsthaft fragen, ob das, „was er ge‐ sehen hatte, eine Schlacht gewesen war, und wenn eine Schlacht, war das die von Waterloo? “ 13 „Le repas fut long, délicat / Die Mahlzeit zog sich lange hin und war de‐ likat“. 14 Die Erzählstrategie, dass der Romanheld wie im Schlaf von der Ge‐ schichte umgeben ist, aber doch nicht dazu gehört, und dass genau das rückbli‐ ckend bedeutsam wird, eine Erzählfigur, die bei Scott und Stendhal und dann auch bei Fontane ganze Kapitel füllt, zieht sich bei Flaubert genau genommen auf einen Satz zusammen. Man schreibt den 23. Februar 1848. Auf den Straßen 138 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 15 Der Brief in Kap. 5 beispielsweise ist auf den „3. Mai“ datiert (43); da dort der Ausflug nach Tempelhof als „erst gestern“ (45) bezeichnet wird und das entsprechende Kapitel am „nächsten Morgen“ (25) der Eröffnungsszene beginnt, ergibt sich für diese der 1. Mai. Auf die gleiche Weise kann man recht genau den zeitlichen Verlauf des ganzen Romans erschließen. von Paris züngeln die Flammen der Revolution. Die jungen Leute fiebern ihr entgegen. Am Tag darauf wird sie losbrechen. Aber Frédéric Moreau, der Held von Gustave Flauberts Roman L’Éducation sentimentale (1869), führt die leicht‐ lebige Rosanette zum Diner und dann in die kleine Wohnung, die er liebevoll für eine „andere“ („l’autre“) eingerichtet hatte; doch die war nicht gekommen. Nachts wacht er auf, er hört das leichte Dröhnen der heran strömenden Massen. Unter Tränen, die freilich Tränen wegen „der anderen“ sind, gesteht er Rosanette seine Liebe. Das ist eine Lüge: eine Lüge, die an die Stelle einer Illusion getreten ist. Ein solcher Selbstbetrug und Betrug anderer, eine Illusion und dann eine Lüge, war nach Flaubert diese Revolution. In diesem Kontext bedeutet die feine Stilistik des Satzes: „Le repas fut long, délicat“, die mit „die Mahlzeit dauerte lang und war delikat“ nur höchst unvollkommen zu übersetzen ist, nicht nur eine Ohrfeige für die revolutionäre Begeisterung um Frédéric herum. Das französi‐ sche passé simple spricht zum Leser von sofortiger Desillusion. Es bezeichnet eine abgeschlossene, vergangene Handlung: Die „lange“ Zeit des Dinierens zieht sich jäh zusammen; das nachgetragene „delikat“ wird sofort so gut wie be‐ langlos; und rückwirkend macht dieses Fade in „delikat“ auch die „Länge“ der Zeit wertlos und leer. Die Lebenszeit des Romanhelden und die Zeit der Ge‐ schichte sind gegeneinander erst aus den Fugen geraten, um sogleich in ihrer Sinnlosigkeit übereinzustimmen: nur einen Augenblick lang, aber noch inten‐ siver, als im gelebten „Alptraum“ von Walter Scotts Waverley, oder als im Nicht-Verstehen der Ereignisse bei Standhals Fabrice. Leben nicht alle drei, wie später Fontanes Schach, in einer „Welt des Scheins“? Und werden nicht gerade so ihre Erlebnisse bedeutsam für die Sicht von Geschichte in diesen Romanen? Dass auch die wichtigen Personen in Fontanes Schach von Wuthenow sich immer mehr wie Schlafwandler bewegen, gibt erst der Roman als ganzer zu erkennen. Das Fatale daran wird noch dadurch intensiviert, dass der Romanbe‐ ginn historisch genau datiert ist. Und das wird für alle Stationen der Handlung gelten: eine genau situierte Scheinwelt und Zeit des Schlafwandelns. Man schreibt den 1. Mai 1806. Die genaue Datierbarkeit der Handlung hat Fontane mit Stendhal und Flaubert gemeinsam, 15 so wie später etwa mit Faulkner und vor allem eben mit Uwe Johnson. Im Salon der Frau von Carayon, in dem meh‐ rere Offiziere des Regiments Gendarmes fast zu Hause sind, kreist das Gespräch um die, wie es heißt, „kurz vorher beendete Haugwitzsche Mission“(4). Graf 139 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 16 Zum historischen Hintergrund des Romans vgl. etwa die Kommentare in: Theodor Fontane, Werke (wie Anm. 7), S. 969ff.; oder Theodor Fontane, Schach von Wuthenow. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Walter Wagner und Harald Tanzer, Stuttgart 2004, S. 5ff., hier S. 6f. 17 Das feudale Kürassier-Regiment hatte aufgrund unklarer Befehle in die Schlacht von Jena nicht eingegriffen, wurde kampflos gefangen genommen, musste später demüti‐ gend durch Berlin paradieren und wurde danach aufgelöst. 18 Ihren verdeckten Antrag: „Sie werden mich eifersüchtig machen“ (34) - derselbe Satz begründet in Der Stechlin (1897, Kap. 25) eine Verlobung - bemerkt Schach gar nicht. Haugwitz war damals Preußischer Außenminister. Aber das entscheidende Er‐ eignis seiner „Mission“ dürfte eigentlich nicht mehr Tagesgespräch gewesen sein: Der Vertrag von Schönbrunn zwischen Preußen und Frankreich, war schon dreieinhalb Monate früher, am 15. Dezember 1805 geschlossen worden, 16 Fon‐ tane jedoch lässt ihn wie ein Tagesereignis diskutieren. Genauso gezielt ana‐ chronistisch verfährt er am Ende des Romans, wenn es in einem Brief vom „14. Sept. 1806“ heißt: „Der Krieg ist erklärt“ (149). Das preußische Ultimatum an Frankreich erfolgte erst am 26. September, die Kriegserklärung noch später am 9. Oktober. Auch jetzt verengt Fontane den historischen Hintergrund des Ro‐ mans. Denn so rückt ja auch die vernichtende Niederlage bei Jena am 14. Ok‐ tober, also nur fünf Tage nachdem „der Krieg […] erklärt“ wurde, noch näher an das Romanende heran. Man kann erneut erkennen, wie kalkuliert und durchaus strategisch Fontane seine „Aktanten“ auf dem „Schachbrett“ seines Erzählens verschiebt. Doch so klar, ja eng und beklemmend dieser historische Rahmen einge‐ zeichnet ist - auch der Untertitel Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes weist von Anfang an darauf hin -, 17 die fiktive Haupthandlung des Romans, die „Skandalgeschichte“, selbst ja erzählstrategisch gezielt von 1815 auf 1806 vor‐ verlegt, blendet diesen drohenden Hintergrund immer konsequenter aus. Die Personen scheinen zu vergessen oder sie verdrängen geradezu, was da in der preußischen Geschichte vorgeht: „Schlafwandler“, die sich in ihrer „Welt des Scheins“ (149) immer mehr verfangen. Und genau so erhält ihre „Skandalge‐ schichte“ ihre besondere Bedeutung: Der außerordentlich gut aussehende, formvollendet auftretende, aber als Per‐ sönlichkeit hohle und sehr eitle Rittmeister von Schach gibt vor, die schöne Frau von Carayon, eine reiche Witwe, zu verehren. 18 Aber es ist deren Tochter Vic‐ toire, die wirklich in ihn verliebt ist. Doch sie gilt wegen ihrer Blattern-Narben in der Gesellschaft als hässlich, als. „unrepräsentabel“ (22), wie es heißt, und sie sieht sich auch selbst so. Schach vermied es sogar einmal ostentativ, mit ihr in der Öffentlichkeit auch nur gesehen zu werden (vgl. 42/ 43), was Victoire, wie sie einem Brief anvertraut, „einen Stich durchs Herz“ (46) gegeben hatte. Gleich‐ 140 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 19 Der Erzähler beobachtet das Geschehen, kennt aber auch die Innenperspektiven der wichtigen Personen. Ganz selten nur gibt er eigene Wertungen oder Kommentare. wohl, insbesondere nachdem bei einer Soirée „der Prinz“ (Louis Ferdinand von Preußen) über den „Vorzug“ einer „beauté du diable“, einer „teuflischen Schön‐ heit“, die Schönheit der Hässlichen, schwadroniert hatte (63 ff.), kommt es zu einer äußerst diskret erzählten intimen Begegnung zwischen Schach und Vic‐ toire, der sich Victoire „in einer süßen Betäubung“ hingibt, während Schach sich sogleich innere Vorwürfe macht: „Erst die Schuld und dann die Lüge“, klang es in ihm. […] Aber die Spitze seiner Worte richtete sich gegen ihn und nicht gegen Victoire. (75/ 76) Man weiß freilich nicht: Sieht er seine „Schuld“ in mangelnder Moral oder in fehlender Vorsicht? „Schach zieht sich zurück“, beginnt das nächste Kapitel (76). Aber Victoire erwartet dann doch ein Kind; jetzt erst wird klar, wie nahe sie und Schach sich gekommen sind. Sie vertraut sich ihrer Mutter an, diese stellt Schach zur Rede: „So muß ich denn auf Legitimisierung des Geschehenen dringen“ (93). Schach willigt in eine Ehe ein, zunächst eher „artig“ und „kühl“, „andern Tags“ aber in einem Brief in „wärmerem Ton“ und „herzlicherer Sprache“ (93/ 94). „Schach legte sich’s zurecht“, heißt es wenig später; das „Lächerliche“ seiner Situation, so hofft er, würde bald „tot und vergessen“ sein (97/ 98). Aber: „Armer Schach! Es war anders in den Sternen geschrieben“ (98), geht es gleich darauf weiter. Dass der Erzähler hier einmal seine „neutrale Allwis‐ senheit“ 19 aufgibt und sich direkt einmischt, zeigt an: Sein „Erzähl-Schach“ hat eine neue entscheidende Phase erreicht, und die eigentliche Krise dieser „Welt des Scheins“ beginnt. Die „Verlobungsanzeige“ ist noch nicht heraus, da werden drei boshafte, ja verletzende Karikaturen veröffentlicht, wahrscheinlich im Auf‐ trag von Regimentskameraden, die Schachs Entscheidung für die „unschöne Tochter“ einer „schönen Mutter“ verspotten, und sogar andeuten, dass er da hinein manövriert wurde: „Schach-matt“ steht unter der zuletzt erschienenen spöttischen Zeichnung (98-101). Schach erträgt es nicht, so verlacht zu werden, er „ließ sich krank melden, sah niemand“ (101) und flieht auf sein Gut, wo er wie gelähmt etwa eine Woche verbringt. Frau von Carayon, empört über Schachs „Flucht“ (118), erhält, denn „die Carayons [sind] eine alte Familie“ (132), eine Audienz beim König (Friedrich Wilhelm III), der Schach, es sei denn, dieser würde, was „das Schmerzlichste“ wäre, seinen „Abschied nehmen und den Dienst quittieren“ (132), die Ehe befiehlt. Die Trauung findet in kleinem aber angemessenem Kreise statt, nach dem Empfang fährt Schach, denn die Hoch‐ 141 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 20 „Eitlen, auf die Ehre dieser Welt gestellten Naturen ist der Spott und das Lachen der Gesellschaft derart unerträglich, daß sie lieber den Tod wählen als eine Pflicht erfüllen, die sie selber gut und klug genug sind, als Pflicht zu erkenne, aber auch schwach genug sind, aus Furcht vor Verspottung nicht erfüllen zu wollen“: Fontane hatte den Kern des Konflikts schon sehr früh, in einem Brief an Gustav Kerpeles vom 14. März 1880 genau benannt (Theodor Fontane, Werke, wie Anm. 7, S. 961). Auch daran zeigt sich, wie stra‐ tegisch kalkuliert er sein „Erzähl-Schach“ führt. 21 Es ist der „andere Vormittag“ nach Victoires „Beichte“, die am Abend der historisch belegten „Schlittenfahrt auf Salz“ am 23. Juli stattgefunden hatte. 22 Die Verlobung wird „andern Tags“ nach dem „Legitimisierungs “-Gespräch vom 24. Juli vereinbart (94-96), keine ganze „Woche“ später (98) erscheint die erste Karikatur, da‐ nach „in zweitägigen Pausen“ (101) folgen die beiden anderen. Schachs „Flucht“ kann so auf die zweite August-Woche datiert werden. zeitsreise soll gleich beginnen, noch einmal in seine Wohnung. In seiner Kutsche erschießt er sich und ist sofort tot. 20 Man kann sehen, wie die Zeit dieser „Skandalgeschichte“ sich immer mehr dramatisch zuspitzt und der Handlungsraum, in dem die Personen sich bewegen, wie der „shrinking room“ bei E.A. Poe, sich immer enger zusammen zieht. Zu‐ letzt bleibt Schach nur der Innenraum seines dahinrollenden Wagens. Doch im selben Erzählzug wird auch der auf seine Weise ebenfalls dramatische, ja fatale historische Kontext völlig ausgeblendet und wie eine barocke Hinterbühne ver‐ schlossen, bis mit dem Satz: „Der Krieg ist erklärt“, der Vorhang wieder spek‐ takulär aufgezogen wird. Und da zeigt sich im Zusammenspiel der genauen Da‐ tierungen sehr klar ein erzähl-strategisches Kalkül Fontanes, das auf ganz neue Weise durchaus dem von Scott, Stendhal und Flaubert, und später dann dem von Faulkner oder Johnson vergleichbar ist: Der Tag etwa, an dem Frau von Carayon von Schach „die Legitimisierung des Geschehenen“ verlangt, 21 der 24. Juli, ist nach dieser Zeitregie beispielsweise auch der Tag, an dem Preußen und Russland einen wechselseitigen Beistandspakt beschließen. So wird oft ja ein Krieg vor‐ bereitet. Die Personen, aber auch der Erzähler, bemerken das jedoch mit keinem Wort. Nicht erwähnt wird etwa auch die Gründung des von Frankreich ge‐ führten Rheinbundes im Sommer 1806, was ja für die preußische Außen- und Militärpolitik eine gewisse, gefährliche Isolierung bedeutete. Noch beredter verschwiegen wird dann das Ende des „Heiligen Römischen Reiches“ am 8. Au‐ gust. Und noch krasser wirkt das Folgende: Wenn Schach von seiner „Flucht“ auf sein Gut, wo er sich etwa vom 6. bis zum 12.8. aufgehalten haben muss, 22 nach Berlin zurückkehrt, wird überhaupt nicht erwähnt, niemand also im Roman scheint zu bemerken, dass die preußische Armee inzwischen mobilisiert worden war. Wie turbulent es da in Berlin zuging, hatte nicht zuletzt Willibald Alexis in seinem Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) anschaulich be‐ schrieben. Schach dagegen bewegt sich, als sei er nicht von dieser Welt. Und 142 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 23 Eine Metonymie ist eine Figur „pars pro parte“: Ein „Teil“ der preußischen Geschichte, der „Skandal“, steht für einen anderen Teil, den „Krieg“. Die „Para-Metonymie“ entsteht, indem genau kalkuliert die Skandalgeschichte „para“, also gegenüber dieser ausge‐ grenzt, „neben“ die allgemeine Geschichte der Vorbereitung des Krieges gestellt wird. Ihre Inhalte werden so „allgemeiner“ bedeutsam („amplificatio“), über den engeren Kontext hinaus: Sie generieren Deutungsvorschläge („hypothetisch“) für viele („mul‐ tipel“) historische Situationen. Die Begriffe erklärt jedes Handbuch der Rhetorik. Vgl. z. B. Gert Ueding/ Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart, 2. Aufl., 1986. Als knappe Einführung vgl. Verf., Rhetorik und Literaturthe‐ orie. In. Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspek‐ tiven. Bd. 2, Tübingen und Basel 2005, S. 49-83. wenn er ein paar Tage vor der Hochzeit „allen erdenklichen Reiseplänen“ nach‐ hängt (139), dann hat das bereits etwas Surreales: Reisepläne eines ehrgeizigen Berufsoffiziers in einem Elite-Regiment am Vorabend eines Krieges? Schach und die Carayons sind bei Fontane noch viel schlimmere „Schlafwandler“ als die Romanhelden Scotts, Stendhals und Flauberts. Diese klassische Erzählstrategie einer vorübergehend negierten Teilhabe der Romanhandlung am dokumentierten Verlauf der Geschichte, in der sich Fontane als Autor auf europäischem, ja Welt-Niveau erweist - ich bin versucht von einer „Para-Metonymie“ zu sprechen, dazu gleich -, worauf zielt sie? Könnte es - wenn ich schon dabei bin, unverständlich zu reden - um eine „multiple hypo‐ thetische amplificatio (Verallgemeinerung)“ gehen? „Dame“ schlägt „Ritt[meist]er“ Das mag Ihnen jetzt zu spielerisch, ja preziös vorkommen, ein wenig ist es das ja auch, aber diese Abstraktion 23 ist hilfreich um die „Schach“-Metapher als Mo‐ dell für Fontanes Erzählen weiter zu verfolgen, sein Strategie-Spiel gegen die preußische Geschichte. Was könnte uns diese Schach-Metapher weiter lehren? Fontane hatte lange in England gelebt, sich lange beruflich mit der englischen Presse beschäftigt, sprach und las fließend englisch, war vertraut mit Scott, Thackeray und so fort. Könnte er nicht durchaus daran gedacht haben, dass das englische Wort für die Schachfigur des „Springers“ oder „Pferdchens“ eben „Knight“ ist, übersetzt also: „Ritter“? Steckt dieses Wort nicht im Titel „Ritt‐ meister“? Anspruchsvoll modellierte Schach-Figuren stellen manchmal ja in der Tat schwarze und weiße Ritter zu Pferde dar. Wie auch immer: Der „Ritt[er]meister von Schach hat bei Fontane nicht nur keinen Vornamen, er ist erzählerisch gesehen überhaupt ein „flacher Charakter“, eben eine „Schach‐ figur“. Und hat nicht die entscheidende Konstellation von „Dame“ (Madame de Carayon), „Ritt[meist]er“ - das historische Vorbild war wohlgemerkt Major - und „König“, wobei dann einerseits gegnerische „Ritter“ (Regimentskameraden), 143 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 24 Schach läuft am fatalen Hochzeitstag beim „süßen Klang ihrer Stimme“ noch einmal zurück, „umarmte sie“ und „küßte sie“ (145). In diesem Augenblick, das weiß Victoire später, hat sie seine „Liebe […] gehabt“ (152). 25 Vgl. Verf., Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung. In: Günter Butzer und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. IV, Tübingen und Basel 2009, S. 305-337. andererseits die „Dame“ im Zusammenspiel mit dem „König“ den „Ritter“ erst einkreisen, dann „schlagen“, und dann auch noch ein „Bauer“ (146) am Ende des Kapitels sich als überlegen erweist, suggeriert das nicht eine Situation, die in der Tat an ein Schach-Spiel erinnert? Der „Ritt[meist]er“ von Schach wird von seinem Erzähler ja auch geradezu „vorgeführt“. Immer wieder läuft er in ironisch inszenierte, kritische, ja fatale Konstellationen hinein. Bei seinem ersten Auftreten erhält er sogleich Gelegen‐ heit, zu zeigen, wie oberflächlich er urteilt: Denn er kann offensichtlich zwi‐ schen dem „Schein“, zwischen der Selbstdarstellung eines „starken und selb‐ ständigen Preußen“ (9) im Vertrag von Schönbrunn, und der Realität nicht unterscheiden, genauer, er schließt vom Schein auf die Wirklichkeit. „Stärke“ ist für ihn irgendwie gleichbedeutend mit einer gelungenen Parade. Immer wieder sagt er das, was andere ihm vorher in den Mund gelegt haben („die Welt ruht nicht sicherer auf den Schultern des Atlas, als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee“, 36, vgl. 23). Wenn er Victoire einmal begeh‐ renswert findet, dann weil der Prinz ihm vorher das Stichwort gegeben hatte (63 und 73), und er gesteht ihr seine Bewunderung in geläufigen Formeln (74/ 75). Die Gründe für seine letztendliche Entscheidung: Lieber alles, bis hin zum Selbstmord, als „das Ridikül“ (96) einer als hässlich geltenden Frau, haben andere bereits im zweiten Kapitel als Teil seines Charakters bzw. ‚Nicht-Charakters’ für ihn genannt (22). Wenn ihm „nachgesagt“ wird, dass er „der garstigsten Prin‐ cesse vor der schönsten Bourgeoise den Vorzug geben würde“ (43), dass er also ein völlig berechenbarer gesellschaftlicher Streber ist, widerspricht er nicht. Selbst seine inneren Monologe, etwa im Kapitel In Wuthenow am See (102 ff.), kreisen um die Bilder und Urteile, die andere sich von ihm machen würden. Schach ist in der Tat, allerdings mit der wichtigen Ausnahme einer einzigen Szene, ja eines Augenblicks, den nur Victoire im Nachhinein versteht, 24 eine „Schachfigur“ im Strategie-Spiel seines Autors gegen das Preußen seiner Zeit. Wer ist eigentlich Schachs Gegenspielerin? In der Handlung des Romans führt sicher Frau von Carayon, eine wirkliche und allgemein anerkannte „Dame“, diesen Part aus. Der König „schlägt“ Schach im Zusammenspiel mit ihr. Aber im „Werte-Diskurs“ des Romans, dem Spiel der Argumente, Urteile und Bewer‐ tungen, 25 ist es Victoire, die ihren Namen „Sieg“ einlöst, die schon früh geistvoll 144 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 26 Carlotte Bontë, Jane Eyre, 1847; George Eliot (Mary Ann Evans), Middlemarch, 1871- 1872; Henry James, The Portrait of a Lady, 1881; Henrik Ibsen, Ein Puppenheim, 1879; Anton Tschechov, Die Möve, 1896; Theodor Fontane, Der Stechlin, 1898; Mathilde Möh‐ ring, aus dem Nachlass 1907. den falschen „Tempelritter“ Schach entlarvt (40 f.), die überhaupt immer wieder dessen „Ritterlichkeit“ diskutiert - gerade indem sie ihn verteidigt, stellt sie ihn in Frage -, und die bei den Lesern schließlich gegen Schach gewinnt, so wie sie ja überhaupt im Roman das letzte Wort erhalten wird. Victoire allein steht am Ende auf dem Schachbrett des Erzählens noch aufrecht da. Ist es nicht bemerkenswert, dass Victoire erzähltechnisch gesehen lange genau analog behandelt wird wie Schach? „Man“, also die Leute, die viel über Schach sprechen, sprechen auch über sie. Indem Schach den Worten des Prinzen über die „beauté du diable“, die „teuflische Schönheit“, folgt und Victoire sozu‐ sagen „vom Blatt“ weg verführerisch findet, versucht er gewissermaßen, auch sie „vorzuführen“. Er sieht sie als das, was andere von ihr gesagt haben. Aber natürlich beweist er in dieser Szene nur, wie menschlich flach, ja hohl er ist, während Victoire sich genau jetzt von allen Vorurteilen und Außenperspektiven befreit: „Ich … bin ich […] und freue mich meiner Freiheit. Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich. [Früher] war ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, eine Sklavin. Oder doch abhängig von hundert Dingen. Jetzt bin ich frei. (73) Während Victoire ihr Selbstbewusstsein formuliert in Sätzen, die auch Charlotte Brontës Jane oder George Eliots Dorothea oder Henry James’ Isabel oder Ibsens Nora oder Tschechovs Nina oder Fontanes Melusine oder Mathilde Möh‐ ring hätten sagen können, 26 da fährt der Erzähler fort: Schach sah verwundert auf die Sprecherin. Manches was der Prinz über sie gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf. (ebd.) Er hört gar nicht auf das, was sie sagt, sondern achtet nur auf das „Feuer in ihren Augen“ (ebd.), worin er die „Leidenschaft“ wieder erkennt (64), die der Prinz gerühmt hatte. Und gibt nicht umgekehrt spiegelbildlich Victoire, indem sie „die Kraft [ihrer] Liebe“ (65) auslebt, der hohen Meinung des Prinzen von der „beauté de diable“ letztlich doch recht, während Schach erst konventionelle „Schuld“ (76), und dann lediglich „die Peinlichkeit“ (77) seiner Situation empfindet? Endgültig über den ihr spiegelbildlich entgegen gesetzten „Ritter“ hinaus wächst die „Dame“ Victoire dann in den beiden einander kontrastierenden Briefen am Ende des Romans. Schach lebte in einer „Welt des Scheins“, ja er identifizierte sich mit ihr. Victoire war immer auf Erkenntnis der Wahrheit in 145 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 27 Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen, 1888; Stine, 1890; Frau Jenny Treibel oder Wo sich Herz zum Herzen find’t, 1892; Effi Briest, 1895. 28 Vgl. Fontane, Werke (wie Anm. 7), S. 966. allem gerichtet gewesen, was ja nach Fontane durchaus das Ideal eines realisti‐ schen Erzählers sein soll. So kann sie jetzt Schachs Schwächen zugeben und sich zugleich zur „Liebe“ bekennen, die sie „gehabt“ hat (152). Wie Lene, Stine, Co‐ rinna in Frau Jenny Treibel, Effi Briest, 27 die Gräfin Melusine in Der Stechlin oder die Romanheldin von Mathilde Möhring ist Victoire, auch wenn sie wie diese ihre „Schwestern“ sich gesellschaftlich nicht durchsetzen kann, doch aufrichtig gegen sich selbst. Auch dass sie so ausführlich zu Wort kommt, hat etwas Eman‐ zipatorisches. Zuletzt bricht sie aus den preußischen Traditionen aus, etwa wenn sie in Italien zur „Mutter Gottes“ betet. Und ihr Kind ist ganz grundsätzlich ein Hoffnungssymbol. Die Gestalt der Victoire, besser, und das scheint mir sehr wichtig, und man muss genau lesen, ihre Rolle im Erzähl-Spiel, denn es geht ja nicht irgendwie um ein Vorbild, auch was sie am Ende tut, hat nichts Exemplarischen, ihre strukturelle Größe, der „Sieg“ (Victoire) der Werte, die sie verkörpert, schafft eine deutliche Verbindung zwischen der Zeit des Romans und dem, was Fontane seiner eigenen Zeit sagen will. Gilt das schließlich auch für den „Fall Schach“ und wenn ja, wie? Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert „Mirabeau hatte recht, den gepriesenen Staat Friedrichs des Großen mit einer Frucht zu vergleichen, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden. […] Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist.“ (5 und 149) Es ist nicht der Erzähler, der das sagt, sondern der verbitterte von Bülow, einer der immer Recht behält, aber nie etwas erreicht, eine in ihrer Kritik an Preußen durchaus unzuverlässige Stimme. Aber ist durch die Person hindurch nicht doch auch die Stimme des Autors zu hören? Und bekommen nicht solche Sätze in einem 1882 erschienen Roman, als Preußen und das deutsche Reich sich für absolut glor- und siegreich hielten, etwas Provozierendes? Haben sie nicht, wie verdeckt immer, doch auch die eigene Gegenwart mit im Blick? Immerhin geht es ja doch um eine vernichtende Niederlage, ein fortwirkendes nationales Trauma, wobei Fontane zeitweilig erwogene alternative und plakativere Titel wie Vor Jena, Vor dem Niedergang, Vor dem Sturz oder Vor dem Fall ebenso ver‐ meidet, und damit ja auch den relativierenden Kontrast zum glorreichen Aus‐ blick seines früheren, vaterländischen Romans Vor dem Sturm (1878), 28 wie er 146 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 29 Vgl. Verf., Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie. In: Verf. und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Bd. III, Tübingen und Basel 2007, S. 61-79. 30 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Dt. von Rainer Grübel und Sabine Reese, hrsg von Rainer Grübel, Frankfurt 1979, S. 255. eben gerade nicht am Ende auf „Katzbach“ und „Leipzig“ vorausblickt, wie es Willibald Alexis in seinen Romanen über dieselbe historische Zeit getan hatte. Fontane sucht die Verallgemeinerung und hält die Provokation offen. Allerdings geht es weniger um eine direkte Provokation, als viel mehr um einen Zweifel, einen Verdacht, oder um Sorge. Jeder Autor spricht durch seine Personen hindurch. Aber dabei ändern sich, wie v. a. der Literatur-Theoretiker Michail Bachtin gezeigt hat, 29 die Vorzeichen. Die Aussage wird problematisch und „hypothetisch“ und verwandelt sich letztlich in eine Frage. 30 Der (impli‐ zierte) Autor sagt: Wenn wir diese Aussagen auf unsere eigene Gegenwart be‐ ziehen, denken wir zumindest einmal darüber nach, ob nicht auch wir dem‐ nächst einer „faulen Frucht“ gleichen und an einer „Welt des Scheins zugrunde“ gehen könnten? Bezeichnenderweise fällt das Stichwort von der „Welt des Scheins“ vor der zeitlichen Leerstelle in der Handlung zwischen den beiden Briefen, einer Leer‐ stelle, die die Niederlage Preußens von 1806 zugleich bezeichnet und ausgrenzt. Das zeigt erneut, wie bewusst Fontane jene klassische, oben an Scott, Stendhal und Flaubert gezeigte, „para-metonymische“ Erzählstrategie einsetzt (pars pro parte), so dass ein „Teil“, also hier der „Skandal“, einen anderen „Teil“ der preu‐ ßischen Geschichte bezeichnet, also die Niederlage. Dann aber, und das scheint mir der klassische Trick dieses „Erzähl-Schach-Spiels“ zu sein, wird die eigent‐ liche Krise der Verwicklungen von Liebe, Eitelkeit und scheinbarer Ehre betont, ja überbetont eingegrenzt; sie verdeckt den historischen Kontext und steht wie neben ihm (daher „para-“, griechisch „neben“). Sie zieht alle Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf sich, kommt ihnen nahe wie ein Film oder eine Theateraufführung. So wird sie dann ganz gegenwärtig. Und mit dieser Zeitdy‐ namik wird dann auch die verdeckt miterzählte Historie aufgeladen. Wer den historischen Hintergrund im Auge behält, für den wächst das Drama, wer ihn nicht kennt oder mit den Personen vorübergehend vergisst, für den wächst, wenn es heißt: „Der Krieg ist erklärt“, der Schock. Gerade der vorübergehend eingegrenzte „Skandal“ bezeichnet die „Niederlage“ zuletzt geradezu implosi‐ onsartig erst recht, so wie gerade die Leerstelle in der Handlung und der Zeit‐ sprung erst recht das Datum und das Ereignis „14. Oktober, Schlacht bei Jena“ bezeichnen. Man sieht erneut, wie kalkuliert Fontane seine „Aktanten“ auf dem „Schachbrett“ seines Erzählens bewegt. Denn jetzt gilt sein „Erzähl-Schach“ tat‐ 147 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 31 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Frankfurt, 3. Aufl. 1965, S. 123. 32 Vgl. z. B. die Forschungsstimmen in Walter Wagner und Harald Tanzer (Hrsg.), Theodor Fontane: Schach von Wuthenow (wie Anm. 14), S. 87ff. sächlich und zuletzt dem „König“, nur dann gälte es ja überhaupt. Es gilt zuletzt Preußen allgemein. Auch bei den Vorbildern und „Großmeistern“ des „Erzähl-Schach“, die ein‐ gangs vorgestellt wurden, hatte diese strategische Figur immer eine Verallge‐ meinerung, eine „hypothetische amplificatio“ eingeleitet. Für Stendhal und Flau‐ bert beginnt eine Geschichte tiefer Desillusion und allgemeiner Geschichts-Skepsis. Zuletzt wird Stendhals Romanheld ja ein Einsiedler, ein sä‐ kularer „Karthäuser“ werden. Und die oben analysierte kurze, aber unendlich leere Zeit bei Flaubert wird am Ende des Romans die ganze Wirklichkeit des Romanhelden prägen. Dieser „träg-stetige Ablauf […] der Zeit als Dauer“ wird für ihn die „tiefste und erniedrigendste“ 31 Desillusion seiner Geschichtserfah‐ rung bedeuten. Und sehr interessant ist auch die wesentlich begrenztere, gleich‐ wohl deutliche amplificatio dieser Erzählfigur bei Walter Scott. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, und Scotts späterer Roman Redgauntlet (1924) verstärkt ja gerade diesen Aspekt, dass er mit dem „Schlafwandler“ Waverley auch spätere Bestrebungen für eine Unabhängigkeit Schottlands im Blick hatte. „Wir könnten an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Hugh Redgauntlet zu‐ grunde gegangen ist“: Das könnte durchaus am Ende dieses Romans von 1824 gestanden haben. Scott begrüßte die Britische Union. Derlei wird noch heute diskutiert. Noch im Streit vor dem Schottischen Unabhängigkeits-Referendum im Jahr 2014 wurde Scott von den Anti-Separatisten der „Better-Toge‐ ther“-Partei tatsächlich als einer ihrer Kronzeugen angeführt. Wenn also Fontane zu seinen Lesern von 1882 und danach zu sagen scheint: „Schau hin, überlege einmal, ob nicht vieles in diesem Roman auch für unsere Gegenwart gültig ist? “, dann gibt es in der Tat, das ist inzwischen wohl allge‐ meine Forschungs-Meinung, 32 viel anzuführen: die Arroganz in Teilen des Adels („et pour la canaille“, 86), dessen Privilegien in der Armee, überhaupt der Mili‐ tarismus, und dann natürlich der Ruhm-, Ehr- und Größenwahn, der 1882 wo‐ möglich noch ausgeprägter war als 76 Jahre früher. Wie sehr der Konflikt lähm‐ ender gesellschaftlicher Vorurteile und dem gegenüber das Paradigma der für sich selbst fühlenden, denkenden und redenden Frau auf Fontanes Berliner Ro‐ mane verweisen, wurde bereits erwähnt. Dass die hier vielfach zu findenden Motive des Ästhetizismus, eine Haltung, „alles so ganz und gar auf das Ästhe‐ tische zurückzuführen“ (22), oder der Symbolismus des Todes, etwa die „Flot‐ tille“ der Schwäne vor den „schwarz und schweigend“ stehenden „hohen Pap‐ peln“ (66), oder wenn Schach auf einem „toten Arm des Sees“ treibend in „tiefer 148 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 33 Vgl. etwa Ronald Spiers, Fontane und die Dekadenz. In: Friedhilde Krause (Hrsg.), Fontane im literarischen Umfeld seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Berlin 1987, S. 134-149; Verf., Prussian Decadence: „Schach von Wu‐ theno“ in an International Context. In: Patricia Howe und Helen Chambers (Hrsg.), Thedor Fontane and the European Context. Literature, Culture and Society in Prussia and Europe. Amsterdam/ Atlanta 2001, S. 105-117. 34 Fontane, Werke (wie Anm. 7), S. 756, 762, 766 . 35 Cécile, 1887; Irrungen, Wirrungen, 1888. 36 Ferdinand von Saar, Leutnant Burda. Hrsg. von Veronika Kribs, Tübingen 1996, S. 6. Vgl. Norbert Bachleitner, Of Grieving Girls and Suicidal Soldiers: Theodor Fontane and Ferdi‐ nand von Saar. In: Patricia Howe und Helen Chambers (Hrsg.), Theodor Fontane (wie Anm. 33), S. 34-41. 37 Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl und andere Erzählungen. Das erzählerische Werk. Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 218. 38 Gustl’s Säbel wurde von einem reichen Handwerker angefasst, er kann diesen weder fordern noch verprügeln, fürchtet, wie er jetzt da stehen wird, den allgemeinen Spott und will sich erschießen. Aber sein „Beleidiger“ erleidet rechtzeitig einen Schlaganfall. Stille“ einschläft (108/ 109), oder das den ganze Roman durchziehende Thema der „Decadence“ (13), dass all dies eine Verbindung zur Kultur des fin du siècle herstellt, scheint evident. 33 Der Typus des „dekadenten Offiziers“, der eigentlich nichts zu tun hat, so wie Schach sein Gut verpachtet und überhaupt „Dienstliches“ allenfalls „vorschützt“ (17), und der zwischen Affairen, Glücksspiel und Duellen hin und her pendelt, auch den Suizid eher achselzuckend versteht, lässt sich in der Tat für das spätere 19. Jahrhundert vervielfältigen. Man kann ihn am ehesten vielleicht mit der ös‐ terreichischen Literatur und Kultur der Jahrhundertwende zusammen sehen. Der Hinweis auf ein „Champagnerleben als ein Ideal“, auf „Triumphe“ bei den Damen der „Garnisons“-Stadt und auf den „Respekt vor [s]einen Pistolen“ 34 in Fontanes Roman über den ungarisch-österreichischen Graf Petöfy (1884) zeigt, dass er selbst diesen Zusammenhang durchaus im Blick hatte. Schach jedenfalls, noch mehr als die Serge, Pitt oder St.Arnaud aus anderen Erzählungen Fon‐ tanes, 35 steht seinen K. u. K.-Kameraden in vielem auffallend nahe: Dass die „garstigste Princesse“ immer noch schöner sei, als die „schönste Bourgeoise“ (34), hätte etwa auch Ferdinand von Saars Leutnant Burda (1887) sagen können: „Für Burda begann das weibliche Geschlecht erst bei der Baro‐ nesse; […] auf gewöhnliche Hofratstöchter pflegte er mit einer Art von Mitleid herabzusehen; Damen der Plutokratie verachtete er gründlich“. 36 Oder wenn Schach sich sagt: „Was ist leben? Eine Frage von Minuten, eine Differenz von heut auf morgen“ (135), dann scheint Artur Schnitzlers Leutnant Gustl (1901) diesen inneren Monolog geradezu fortzusetzen: „Aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! Punktum und Streusand drauf! “ 37 Ist nicht Gustl’s „Ehre“-Problem 38 149 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 39 Joseph Roth, Radetzkymarsch. München, 27. Aufl. 2015, S. 32. 40 Kann, ja muss man nicht, wenn man heute liest, der Oberst von St. Arnaud in Cécile habe „ein tiefes Überzeugtsein von der Gleichgültigkeit des Einzelindividuums“ (The‐ odor Fontane, Werke, wie Anm. 7, Bd. 2, S. 274), an die Generäle des Ersten Weltkriegs denken? ohnehin so etwas wie die Farce zu Schachs Tragödie in einer „Welt des Scheins“? Schach bewundert, wie russische „neue Regimenter […] klingenden Spiels“ in die bereits so gut wie „verlorene“ Schlacht von Austerlitz gegangen sind (54); klingt das nicht schon ein wenig so, wie der berühmte Satz: „Am besten starb man für [seinen Kaiser] bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch“, aus Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932)? 39 Und ist nicht Schach mit seiner krankhaften Eitelkeit und zuletzt tödlichen Obsession für „das Ästheti‐ sche“ (22), dessen eigentliche „Liebhabereien […] Kupferstische und Rennpf‐ erde“ sind (47), der sich einen betont englischen und ganz modischen „kleinen Groom“ hält (26), und der sogar „safranfarbene Nachhandschuhe“ (24) tragen soll, ist er nicht überhaupt so etwas wie der altpreußische Vetter der dekadenten Dandys in London, Paris oder Wien? „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen“: Sollte dieser Satz also, wie hypothetisch und problematisch und letztlich fragend immer, an Fontanes eigene Zeit gerichtet sein? Wir werden die Antwort weder bei Fontane selbst, noch bei seinen Zeitgenossen finden. Fontane kritisiert und provoziert, und dies in seinem Erzählen pointierter als in seinen Briefen oder Kommentaren, aber er war kein Prophet. Es sind die Kriege des Zwanzigsten Jahrhunderts, die Preußen „zugrunde gehen“ ließen. 40 Und es sind bezeichnenderweise Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts, die diese Figur des „dekadenten Offiziers“ kon‐ tinuierlich in den Ersten Weltkrieg hinein geführt haben. Immer wieder werden dabei auch markante Züge der Schach-Figur variiert und weiter erzählt. Es ist ja völlig klar, dass Schach in seiner Laufbahn einer Familientradition folgt. Die Betrachtung der Bilder seiner Ahnen etwa, „alle waren in hohen Stel‐ lungen in der Armee gewesen“, macht ihm seine eigene Situation schlechthin unerträglich: „Nein, nein! “ (214/ 215). Für die Romanhelden bei Josef Roth und Herrmann Broch (Die Schlafwandler, Bd. 1, 1931) ist solche Familien-Tradition auf viel härtere Weise zum Zwang geworden, beide Male verkörpert in ihren Vätern. Der eine entgeht diesem Zwang eher passiv, er kann sich mit dieser Welt nicht identifizieren; die eigentlich „dekadenten Offiziere“ sind seine Regiments‐ kameraden; doch gerade wenn er aus diesem Milieu herausgekommen ist, wird er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückkehren müssen, um sogleich zu fallen, letztlich dann doch im Sinne der Familien-Tradition: „Er hörte schon 150 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 41 Josef Roth, Radetzyimarsch (wie Anm. 38), S. 390. 42 Theodor Fontane, Werke (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 338. 43 Herrmann Broch, Pasenow oder die Romantik. Roman. Frankfurt 1969, in der Reihenfolge der Zitate S. 13, 26 f. und 22 f. die Schüsse […] und gleichzeitig die ersten […] Takte des Radetzkymarsches“. 41 Der zweite unterwirft sich, und dieser Ausdruck ist hier wirklich angebracht. Und nachdem sein Sohn, mit dessen Geburt der erste Band der Schlaf‐ wandler-Trilogie endet, im dritten Band, sozusagen stellvertretend für ihn selbst, als gefallen erwähnt wird, gerät er, inzwischen völlig farblos, ja willenlos ge‐ worden, als irgend „ein Major“, wie ein Stück Treibgut des Kriegsgeschehens aus dem Blick. Aber müssten wir uns nicht auch die Zukunft der jungen Offiziere in Fontanes Romanen, etwa die des „Taschen-Moltke“ Woldemar von Stechlin, 42 sofern sie Söhne haben, so oder ähnlich weiter erzählen? „ Ah ba! […] Schach ist ein blauer Rock mit einem roten Kragen“, und es soll Offiziere geben, die der Taille wegen „ihren Unformrock direkt auf dem Leibe tragen“ (120, 52): Was zwei Romanpersonen in Schach von Wuthenow ironisch über den Romanhelden und seine Welt sagen, hat Herrmann Broch 53 Jahre nach Fontane kontinuierlich geradezu forterzählt und, wenn ich so sagen darf, zur Kenntlichkeit verzerrt. Nicht nur klingt der Name „von Pasenow“ deutlich an die Figur Fontanes an; auch die Uniform, „des Königs Rock“, wird in Pasenow oder die Romantik, dem ersten Band der Schlafwandler-Trilogie, geradezu zu einem mythischen Ding überhöht bzw. dämonisiert. Noch deutlicher als seiner‐ zeit Schach hat sie auch hier dem Romanhelden letztlich seine Identität ersetzt: Wenn einer seit seinem zehnten Lebensjahr daran gewöhnt ist, eine Uniform zu tragen, dem ist das Kleid schon wie ein Nessushemd eingewachsen, und keiner, am allerwenigsten Joachim von Pasenow, vermag dann noch anzugeben, wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt. „Wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt“: Natürlich erzählt Herrmann Broch eine ganz andere Geschichte, aber so wie Brochs Pasenow es als gut empfindet, dass das „Symbol“ der „Uniform“ ihm seine „persönliche und menschliche Freiheit“ so gut wie genommen hat, das Symbol einer „auf Un‐ duldsamkeit und Unverständnis gegründeten […] eigentlichen Romantik dieses Zeitalters“, 43 hat nicht so auch Fontanes Schach sein Ich so total mit seiner uni‐ formierten gesellschaftlichen Geltung identifiziert, dass er es nur noch mit „un peu de poudre“ auslöschen kann (148)? Auf alle Fälle schließt das, was Broch „Romantik“ nennt, wenn auch viel härter formuliert, an das an, was Fontane eine „Welt des Scheins“ genannt hatte. Und dass „Schlafwandler“ in „Alpträume“ der Geschichte hinein geraten, so wie die Figuren Herrmann Brochs in den 151 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 44 Heinrich Mann, Eugénie oder Die Bürgerzeit, Ein ernstes Leben. Zwei Romane. Hamburg 1961, S. 7. Krieg, hat die europäische Literatur seit langem immer wieder erzählt, intensiv und dramatisch kalkuliert bereits eben Fontane. Heinrich Manns Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit (1928), ich halte ihn für ein kleines Meisterwerk, beginnt mit den Worten: „1873 eines Nachmittags“, 44 spielt also kurz nach der Reichsgründung und auf alle Fälle in der Zeit Fontanes. Zwar steht die Figur des dekadenten Offiziers hier eher an der Peripherie, ist aber zu deutlich erkennbar und zu präsent, um unwichtig zu sein. Die beiden adeligen Leutnants, wieder einmal eingebildete Nichtstuer, ungeschickte Er‐ oberer der Damen, noch linkischere zeremonielle Duellanten und so fort, werden hier ganz direkt und einfach ironisch dargestellt. Schon dass sie immer zu zweit auftreten, wie zwei Clowns, setzt sie ungünstig in Szene. So sind gerade auch sie Teile einer „Welt des Scheins“, um deren „Untergang“ es bei Heinrich Mann in mehrfachem Sinne und ganz offen geht. Der eine Offizier spielt den tollkühnen Don Juan, allerdings mit dem Vorbehalt, „dienstliche Unannehm‐ lichkeiten“ vermeiden zu wollen: „Meine Karriere ist mir die Sache denn doch nicht wert“. So hatte letztlich auch Schach gedacht. Der andere muss sich von der angebeteten Dame sagen lassen: „Ihre Maske ist übertrieben […]. Sie möchten beständig mehr aus sich machen, als sie verantworten können; wird es aber ernst, sind Sie mit Ihrer ganzen Romantik nicht mehr da“, was durchaus an Frau von Carayons Urteil über Schach erinnert. So wie hier die „Dame“ leichthin den „Ritter“ vom Brett fegt, ist so nicht überhaupt inzwischen Schachs Tragik zur Farce geraten? Im Mittelpunkt der Handlung bei Heinrich Mann steht eine Theaterauffüh‐ rung, die Produktion einer eigenen „Scheinwelt“ innerhalb dieser ganzen „Welt des Scheins“. Gespielt wird ein vaterländisches Stück, das das letzte Zusam‐ mentreffen des vor kurzem geschlagenen französischen Kaisers Napoleon III mit seiner Frau Eugénie zum Gegenstand hat. Aber die Theater-Metapher reicht weit darüber hinaus: Die Personen hier sind alle „Schauspieler“ dessen, was sie für ihre „Persönlichkeit“ oder für ihre Rolle in der Gesellschaft halten, immer „stellen“ sie etwas „vor“, sind mit „wechselnden Masken“ und im „Kostüm“ zu‐ gange, „seinesgleichen will eine Rolle spielen“, „das ist […] meine ganze Rolle hierselbst“, und so fort. Sie identifizieren sich und einander bei den Theater-Proben immer wieder mit den Gestalten, die sie darstellen. Auch bei der Aufführung kann und will das Publikum in patriotischer Ergriffenheit zwischen Theater und Historie kaum noch unterscheiden: in der Tat eine „Welt des Scheins“. Und gleichzeitig, das ist die Pointe des Romans, geht eine riskante 152 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 45 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate, S. 133, 187, 105, 14, 49, 153, 93, 200, 206. 46 In seiner Bibliothek fand sich zwischen Goethe und Thomas Mann keine deutsche Li‐ teratur; so Joseph Blotner, William Faulkner’s Library. Charlottesville 1964, S. 4. 47 Uwe Johnson, Jahrestage (wie Anm. 1), S. 1702f. Faulkner ist berühmt dafür, verschie‐ dene Personen dieselbe Geschichte ganz verschieden erzählen zu lassen. 48 Dies wird ausführlich diskutiert und begründet in Verf., „Vergangene Vergangenheit? “ Realismus und Moderne bei Fontane, Faulkner und Johnson. In: Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges (Hrsg.), Aufklärungen: Zur Litera‐ turgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Tü‐ bingen 2003, S. 231-245; vgl. dazu auch Verf., Der historische Roman. Geschichte umer‐ zählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, S. 94-101, 226-236, 290-298. 49 William Faulkner, Absalom, Absalom! London 1971, S. 6. Börsen-Spekulation, ein anderes „Spiel“ mit Schein-„Werten“, hinter dem Spiel des Theaters und hinter dem Rollenspiel der Gesellschaft, ihrem Krach entgegen: Genau dann, wenn Schauspieler und Publikum „den Sieg und die Niederlage“ auf der Bühne mitfühlen, als geschehe dies gerade jetzt, erfahren sie, dass viele von ihnen genau ab jetzt selbst finanziell ruiniert sind. Dann freilich „gilt kein Spiel mehr, die unverhüllteste Wirklichkeit hat eingegriffen“. 45 So wie Fontane das Jahr 1806 mit dem Jahr 1882 verbunden hatte, so verbindet Heinrich Mann doch wohl die Jahre 1873 und 1928. Und stellt er, und gerade in seiner ihrerseits bewusst theatralischen Inszenierung, nicht erst recht eine „Welt des Scheins“ dar, der ein mehrfach gebrochener Spiegel zeigt, wie sie selbst einmal „zugrunde gehen“ wird? William Faulkner kannte Fontane mit einiger Sicherheit nicht. 46 Aber der Deutschlehrer in Uwe Johnsons Jahrestagen scheint seinen Faulkner gelesen zu haben: „Wer ist der Erzähler? “, „Was beginnen wir, nachdem wir Tante Margue‐ rite in den Mittelpunkt gesetzt haben? “, 47 solche Fragen scheinen, Fontanes Er‐ zähl-Spiel allerdings ins ganz Widersprüchliche und Offene hinein radikalisie‐ rend, bereits eher auf Faulkner zu zielen. Anders gesagt: Der von Faulkner begeisterte Uwe Johnson schaut dem Deutschlehrer über die Schulter. Johnson las Fontane mit an Faulkner geschulten Augen. 48 Folgt man diesen Hinweisen, dann ergeben sich in der Tat verblüffende Gemeinsamkeiten. So wie die Gestalt des dekadenten Offiziers bei Roth, Broch oder Heinrich Mann wird auch Fon‐ tanes Konflikt-Struktur im Zwanzigsten Jahrhundert sozusagen zur Kenntlich‐ keit verzerrt. Faulkner steht ja wie Fontane in der entschiedenen Nachfolge Walter Scotts, und er hat Fontanes „Finessen“ leidenschaftlich, radikal und als unversöhnliche Gegensätze, aber doch strukturell tief vergleichbar, forterzählt. So findet man etwa in seinem historischen Roman Absalom, Absalom! (1936), der eine verletzende familiäre „Skandalgeschichte“ vor das „Untergangs“-Sze‐ nario des amerikanischen Südens stellt, „the deep South, dead since 1865“, 49 die 153 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 50 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate, S. 6, 9, 60,292, 295, 171. 51 Uwe Johnson, Jahrestage (wie Anm. 1), S. 1694. 52 Ebd., S. 1697 und 1702 f.. vielleicht drastischsten „Schlafwandler“- Figuren dieser langen Tradition: Die Geschichtserfahrung kann hier ganz explizit die „logicand reason-flouting quality of a dream“ haben; oder der Krieg erscheint wie ein Fieber, das eine lange Krankheit des Südens beendet, aber die Leute blicken „with stubborn recalcit‐ rance backward beyond the fever and into the disease with actual regret“, oder - und das erinnert am meisten an Schach von Wuthenow - die von den Personen verdrängte Historie gleicht einem See, dessen Dämme jeden Augenblick bersten können, „which would be the lands catastophe […], rising almost imperceptibly and in which the four members [der konfliktträchtigen Familie] floated in sunny indifference“. Schwimmen nicht auch Schach und die Carayons letztlich so in einem bald berstenden Stausee herum? Und wie bei Fontane, nur viel tiefer verletzend, gip‐ felt die Familiengeschichte in Faulkners Absalom, Absalom! in einem Konflikt falscher „Ehre“. Es ist ja eben nicht der Inzest-Vorwurf (nach Samuel 2, 13-18, daher der Romantitel), der den einen Halbbruder den anderen töten lässt, son‐ dern die Rassen-„Ehre“ des amerikanischen Südens. „His mother was part negro“, und „I’m the nigger that‘s going to sleep with your sister“: Das markiert den entscheidenden Konflikt. Diese „Reinheits“-Obsession ist noch tödlicher als die Schönheits-Obsession Schachs. Und stellen diese „iron old traditions“ 50 der weißen Südstaatler nicht erst recht eine „Welt des Scheins“ dar, die zum „Un‐ tergang“ bestimmt ist? Warum ist dann in Uwe Johnsons Jahrestage - damit komme ich zum Ende meines Vortrags und kehre zugleich an den Anfang zurück -, warum ist hier bei der Beschäftigung mit Schach von Wuthenow von einer „Welt des Scheins“, die zum „Untergang“ bestimmt ist, gar nie die Rede? Das wäre doch wirklich ein entscheidendes Stichwort gewesen! Wir haben wiederholt gesehen, wie spre‐ chend gerade „Leerstellen“ in dieser klassischen Erzählstrategie waren, so nicht zuletzt in Fontanes „Erzähl-Schach“. In dem ausführlich dargestellten Deutsch‐ unterricht („wir lesen ‚Schach von Wuthenow’“) 51 an einer Schule der DDR im Jahr 1950/ 1951 achtet der Lehrer pingelig auf alle historischen und topographi‐ schen Details. Aber auf Themen wie „Verhaftung wegen Schriftstellerei“ (der historische von Bülow starb im Gefängnis), oder dass in bestimmten Lokalen einem die „Aufpasser […] die Kehle zuschnürten“, und so fort, geht er, wie die Erzählerin anmerkt, gezielt eben gerade nicht ein: „Glatteis vermied er“, sagt sie, „ein ideologischer Revisor auf Durchreise hätte gut und gern bei uns hospitieren dürfen oder uns vernehmen in [des Lehrers] Abwesenheit“. 52 Ein „ideologischer 154 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 53 Ebd., S. 1705f. Revisor“? Sieht man dieses Stichwort zusammen mit den Unterrichtsbeispielen darum herum, wenn die Schüler fast ersticken an den politisch korrekten Lügen, die sie lernen und aufsagen müssen, und liest man aufmerksam den einzigen Hinweis, den der Deutschlehrer gibt: „Spricht jener von Bülow am Ende das Urteil des Autors“ aus? - also das „Urteil“ über Preußen als eine „Welt des Scheins“ -, und dann die Antwort: „Fontane wünschte seine Leser unabhängig“, ein Hinweis, mit dem die Unterrichts-Einheit abbricht, denn es war eine poli‐ tisch korrekte, eben publizierte „sozialistische“ Verurteilung Fontanes im Sinne der „ostdeutschen Staatskultur“ von einem Schüler verlesen worden, der das sofort bereut, und von da an war diese Klasse dem Lehrer „widerlich“. 53 Aber dies ist natürlich auch ein Signal an die Leser wie Zeitsprung und Stimmen‐ wechsel bei Fontane, sieht man all das zusammen, ist dann nicht von einer „Welt des Scheins“ indirekt, aber so eben nur umso deutlicher die Rede? Sie ist dort und dann überall um einen herum. Was Fontane „Schein“ nannte, herrscht bei Johnson als „ostdeutsche Staatskultur“ und als zum Untergang bestimmte Ideo‐ logie. So wendet Johnson ja dann auch einen geradezu klassischen Spielzug des „Erzähl-Schach“ aus Fontanes Roman an: die Kunst der Leerstelle, die das erst recht bezeichnet, was sie ausgrenzt. Auf alle Fälle gibt es keine inhaltlichen Parallelen zwischen Schach von Wuthenow und Jahrestage - bis auf eine wichtige Ausnahme, dazu gleich. Umso klarer, ja prägend, sind die strukturellen Ge‐ meinsamkeiten. Was Fontane indirekt, aber doch recht deutlich andeutet, das Erzählen auf zwei Zeitebenen, das hat Johnson ganz einfach zum Prinzip er‐ hoben: einerseits die Geschichte der Stadt Klütz in Mecklenburg, andererseits Tag für Tag ein Jahr 1967/ 1968 in New York. Und was schließlich die Erzähl‐ strategie der „Para-Metonymie“ betrifft - ich verspreche, diesen Begriff von jetzt an nicht mehr zu verwenden -, könnte Johnson prominent in die Galerie jener eingangs vorgestellten „Großmeister“ des „Erzähl-Schach“ aufgenommen werden, zu der auch Fontane gehört: Man schreibt „den dritten März 1933“, an diesem Tag erblickt die Roman‐ heldin Gesine Cresspahl das Licht der Welt. Ihretwegen ist ihr Vater aus einer Art Exil nach Deutschland zurückgekehrt, ihretwegen wird er bleiben. Zwei Tage später, am 5. März erreichen die NSDAP und die Nationalen bei der Reichs‐ tagswahl 52 %, und Heinrich Cresspahl hat, ausgegrenzt und gefangen zugleich wie Waverley oder Fabrice oder Faulkners Sutpen-Familie oder eben Schach, „die Empfindung von zwei verschiedenen Wirklichkeiten und wäre lieber nur in einer gewesen“: eine „Para“-, also „Neben-Welt“ in der Tat. Noch lange behält 155 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 54 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate S. 201, 199 und 226. 55 Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob [1959]. Frankfurt 1974, S. 7. er „eine taube und zugleich horchende Miene, wie ein Hase, der ertappt ist und auf den Schlag wartet“, 54 ganz wie jemand, der betäubt ist oder im Stehen schläft. Zu einem noch drastischeren „Schlafwandler“ macht die Geschichte dann Ge‐ sines Geliebten Jakob, der als Eisenbahner „immer quer über die Gleise ge‐ gangen“ war. 55 Aber die Sonderzüge, die im Sommer 1956 russische Truppen zur Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die DDR transportieren, kann er nicht auf seinem inneren Fahrplan gehabt haben. Schließlich enden ja die Jahrestage, und das muss von Anfang an so geplant gewesen sein, überhaupt mit Leerstellen, die an Fontane erinnern. Gesine muss so auf ihren Geliebten „D.E“ gewartet haben, bekanntlich eine Projektion von Johnson selbst, wie Faulkners Judith auf ihren Charles und wie Fontanes Victoire auf ihren Schach. Am 20 August 1968 ist sie unterwegs in die Tschechoslowakei, um sich für den „Prager Frühling“ einzusetzen. Johnson erzählt aber ebenso ausdrücklich nicht, genauso wie Fontane die Niederlage von Jena als eine Leer‐ stelle belassen hat, dass an diesem Tag der Warschauer Pakt dort einmarschieren wird. Denken wir noch einmal zurück! Culloden bei Scott, Waterloo bei Sten‐ dhal, Jena bei Fontane, „Appomatox Court House“ (die Kapitulation der Süd‐ staaten) bei Faulkner, Ungarn 1956 und Prag 1968 bei Johnson: die eindrucks‐ volle Serie bedeutsamer „Leerstellen“ belegt, wie sprechend die „Schach“- Metapher für Fontanes Erzählkunst offensichtlich ist, noch über die Namens-Anspielung und die Konstellation von „Dame-König-Ritt[meist]er- Bauer“ und das „Untergangs-Spiel“ usw. hinaus. Das muss Johnson gesehen haben, und des scheint sein zweimaliges „Schach“ zu meinen. Denn kommt es nicht gerade im Schach-Spiel wesentlich, ja entscheidend darauf an, gerade auch die „leeren“ Felder jeweils in das Spiel einzubeziehen? Schach war und ist immer ein Spiel mit Leerstellen. Auf alle Fälle: So wie Victoire, allein im Exil mit ihrem Kind, bei Fontane das letzte Wort behält, so werden für Gesine das Exil und ihr Kind zu Hoffnungs‐ symbolen. Und sie identifiziert sich noch auf eine weitere sprechende Weise mit Fontanes Welt. Bekanntlich fühlt sie sich im Wasser besonders wohl. Bei ihrer Obsession für das Schwimmen, wo immer es geht, ist es kaum vorstellbar, dass sie bei ihrem Ausflug an die Ostsee, und der 20. August war ein schöner Tag, dass sie da nicht auch noch ins Wasser gehen wird. Von Victoire wird einmal erwähnt, dass sie mit den Grafen von Lusignan verwandt ist, „aus deren großem Haus die schöne Melusine kam“ (120). Das geschieht ganz beiläufig, aber für Fontane ist dies ein wichtiger Name. Er verbindet Victoire mit jenen 156 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 56 Vgl. Theodor Fontane, Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd. 6, S. 582. 57 Vgl. Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 713. 58 Theodor Fontane, Sämtliche Romane (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 270. „Wasser-Wesen“ wie Oceanie von Parceval,  56 Betty von Ottersund (ein sehr früher Name für Effi Briest) 57 und anderen, vor allem eben auch mit der Melu‐ sine, die in Der Stechlin (1889), und ebenfalls in einem Brief, das letzte Wort hat. In deren Tradition, und damit auch in die Victoires, stellt auch Johnson seine Romanheldin. Das Wasser ist für ihn wie für Fontane ein elementares Todes- und Lebenssymbol, es symbolisiert die dahin fließende Zeit, die vergehende und die kommende Geschichte, nicht zuletzt das Unbekannte der Zukunft und damit auch, das sagen ja auch die gezielten Leerstellen, noch unerfüllte Hoffnungen. Die Gräfin Melusine in ihrem „revolutionären Diskurs“ ganz am Ende von Fon‐ tanes Werk in Der Stechlin (1889) sagt, was letztlich schon die moralisch sieg‐ reiche „Dame“ in Schach von Wuthenow verkörpert hatte. Beide, so wie letztlich Faulkners Judith und Johnsons Gesine hoffen auf eine bessere Zukunft: „Für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“ 58 157 6. Theodor Fontane und das Zwanzigste Jahrhundert 1 Der seitdem überarbeitete und erweiterte Vortrag wurde gehalten anlässlich der Über‐ reichung der Festschriftt: Werner Frick, Fabian Lampart, Bernadette Malinowski (Hg.), Literatur im Spiel der Zeichen. Festschrift für Hans Vilmar Geppert. Tübingen 2006. 7. Spiel, Chaos und „Prodigium“ der „Zeichen in der Welt“ - Wilhelm Raabe und die Postmoderne für Werner Frick, Fabian Lampart und Bernadette Malinowski 1 Und Noah ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her. (1. Mose 8, Vers 6/ 7) Dieser da, schau, der Engel dort. […] Er hebt ab, er fliegt, endlich. (Uwe Timm, Rot, 2001) Alors, l’ange s’envola réellement / Da flog der Engel tatsächlich davon. (Pierre Lemaitre, Au revoir là-haut, 2013) Noahs Rabe, und er ist sehr wichtig für Wilhelm Raabes (! ) Roman Das Odfeld (1888), ist letztlich ja doch Teil einer ausgesprochenen Heilsgeschichte. Wir er‐ innern uns: Sintflut, Arche, Rabe, Taube, Regenbogen, „Bund“ Gottes mit den Menschen und so fort. Was haben der „heilsgeschichtliche Rabe“ und die beiden per definitionem hilf- und trostreichen Engel, wenn sie alle auf fliegen, was haben sie (vielleicht) gemeinsam, und was sagen diese hoffnungsreichen Aus‐ blicke im Kontext dreier ganz „heilloser“ Geschichten? Davon, und der Zusam‐ menhang wird sich als verblüffend erweisen, später mehr. Vorerst beginnen wir mit einer recht beliebigen - „anything goes“, sagt die Postmoderne -, auf alle Fälle einer ganz anderen Szene: Es regnet, die Bahn hat Verspätung. Echte Raben sehen wir selten, Engel noch seltener, aber das kennen wir nur zu gut! An der Haltestelle steht ein Mann und gerät in immer größere Panik. Denn es ist der 14. Februar und 13 Minuten vor 12, gerade noch etwas über eine Stunde bis die Uhr 12.50 zeigen wird. „Na und? “, werden Sie sagen. Für den Romanhelden freilich am Beginn von Barry Unsworths Roman Loosing 2 Graham Swift, Waterland. Revised Edition, London 1992, S. 196, und: “This natural stuff is always getting the better of […] artificial history” (ebd., S. 205f.). 3 Barry Unsworth, Morality Play (1995), Uwe Timm, ROT (2001). 4 Michel Tournier, Le roi des aulnes. Paris 1970: „Les symboles brillaient“, „une réalité significante“ (S. 280 und 405). Zu diesem freilich sehr kontrovers lesbaren Roman (Der Erlkönig. Dt. Von Hellmut Waller, Frankfurt 1984) vgl. ausführlicher Verf., Der historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, S. 353-369. Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes angemerkt ist, von mir. Nelson (1999) ist das ein lebenswichtiger Zeitpunkt. Nach einer verzweifelten Taxi-Suche und -Fahrt hält er ihn gerade noch ein: Der 14. Februar ist der Tag der Seeschlacht am Kap von St. Vincent (1797). Um 12.50 griff damals, so erfährt der Leser, das Schiff „The Captain“ unter Horatio Nelson in die Kämpfe ein. Und der Romanheld spielt mit Schiffsmodellen, die er jahrelang liebevoll und so ori‐ ginalgetreu wie irgend möglich gebastelt hat, jedes Jahr die Seeschlachten Nel‐ sons nach: auf Tag, Stunde und Minute genau. Er hat ja auch sein Haus, dessen Einrichtung, Bücher und Bilder, letztlich sein Leben in ein einziges Nelson-Mu‐ seum verwandelt. So spielt er mit der Geschichte. Aber er spielt damit, wie sich nach und nach ergeben wird, buchstäblich um sein Leben. Er zeichnet so genau wie möglich das Leben seines bewunderten, „wunderbaren“ Helden nach - „prodigium / Wunder“ könnte man immer noch sagen -, er will es „nachleben“, und gerät immer unentrinnbarer in das Chaos der Zeichen hinein, denen er sich ausge‐ liefert hat, und die mit ihm ihr Spiel treiben, ein Spiel der Zufälle, ungewollten Begegnungen, ungeahnten Folgen, der Ähnlichkeiten und fatalen Unterschiede und so fort. Er „verliert“ Nelson (Loosing Nelson) und damit sich selbst. Und das ist ein „postmodernes“ Erzählverfahren: ein Spiel mit Zeichen für Historisches und zugleich, in immer wieder wechselnder Bedeutung, ein Spiel der Zeichen gegen die Geschichte. Was hier die Schiffsmodelle sind, originalgetreu und zugleich immer mehr in phantastische Gespenster sich verändernd, können anderswo etwa die Aale sein: „There is much that the eel [this enigma] can tell us“. 2 Ihr extremes Anderssein macht sie human und damit für unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein inter‐ essant. Es können aber auch die Zeichensprachen des mittelalterlichen Theaters ihre Dynamik entfalten, oder die Farbenspiele von „rot“, 3 oder etwa grausam „strahlende Symbole“ faschistisch ästhetisierter Gewalt: Auch diese bilden, so die Roman-Stimme in Michel Tourniers Le roi des aulnes / Der Erlkönig (1970), eine schlechthin „zeichenhafte Realität“, die sich über die bekannte Historie legt. 4 Für den perversen Romanhelden sind diese Zeichen durchaus ein „prodi‐ gium“, eine Offenbarung, und zugleich werden sie für ihn zum Sog aus „Chaos“ 160 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 5 Christoph Ransmayr, Die letzte Welt (1998), Bernhard Schlink, Die Heimkehr (2008: Die Odyssee-Begeisterung eines untergetauchten Nazi-Intellektuellen hinterlässt publizis‐ tisch eine Spur, mit der sein Sohn, ein postmoderner Telemachos, ihn aufspürt), Dan Brown, Inferno (2013). 6 Pierre Lemaitre, Au revoir là-haut (2013). Paris 2013, S. 259 und 224. und Zwang, den erst und nur das Urteil der intendierten Leser durchbrechen kann. Zu denken wäre aber etwa auch an die vielerlei Signaturen der Verwandlung in den neu beschworenen Welten Ovids, oder an die Stationen der Odyssee oder von Dantes Inferno, die jeweils ihre Zeichen-Spuren legen, 5 oder an die vielfarbig skurrilen Masken, die ein Kriegstrauma verbergen, aber so zugleich eben erst recht offen halten, „ein Karneval“ von Masken, mit denen ein aufs Schwerste im Krieg Verletzter und ein Kind gegen ihre historische Realität anspielen, und mit denen sie beispielsweise wieder „das Lachen“ lernen und so fort. 6 Ein fröhliches Chaos, nicht? Und hierher gehören eben auch bereits, davon bin ich überzeugt, die zugleich natürlichen wie phantastischen, die Zeiten umkehrenden, sie durchbrechenden und wieder herstellenden, eine „Offenbarung“ und eben auch ein Chaos eröffnenden, mit der und gegen die Geschichte zeichenhaft spiel‐ enden, vielerlei „Raben“ in Wilhelm Raabes Das Odfeld (1888), die ja doch wohl auch ein persönliches, hier also„namentlich“ genanntes, aber so zugleich auch spielerisch verborgenes Trauma, auf alle Fälle eine Sorge ansprechen, oder? The Antiquary Um solche polysemen und polysyntaktischen Welten von Zeichen zu er‐ schließen tritt nicht immer, aber doch sehr häufig ein narratives Medium auf, ein ganz bestimmter Typ von historisch gelehrtem, zumindest interessiertem und zugleich historisch geprägtem, oft von der Geschichte verletztem Roman‐ helden, einer der die historischen und die antihistorischen Zeichen deutet und an ihnen leidet. Dieser freilich ist selbst wieder, ganz wie seine „Zeichen“ auch, extrem wandelbar: Um mit der klarsten Tradition zu beginnen: Der Exzentriker, der in unserem anfänglichen Beispiel Loosing Nelson auftritt, hat in der engli‐ schen Literatur, und natürlich nicht nur dort, viele Brüder und eine lange Ah‐ nenreihe. Und sicher, darum soll es gleich gehen, gehört auch Raabes, sowohl den Spuren der Geschichte, als auch den „Raben“-Zeichen so zugetaner Magister Buchius in diese Ahnen-Galerie. Der vielleicht älteste Vorfahr nun des gelehrten Magisters bei Raabe und des Nelson-Kenners bei Unsworth und vieler anderer wäre vielleicht ein skurriler Romanheld, der gleich nach den Napoleonischen Kriegen, was kein Zufall war, die literarische Bühne betrat: 161 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 7 Walter Scott, The Antiquary. Hrsg. von David Hewitt, London 1988, S. 29f., vgl. S. 27- 31. 8 John Sutherland, The Life of Walter Scott. A Critical Biography. Oxford / Cambridge (Mass.) 1955, S. 172f. Man könnte meinen, der Held von Walter Scotts Roman The Antiquary (1816) sei lediglich ein humoristisches Portrait des Geschichts-Enthusiasmus seines Autors, wie er ganz in der Vergangenheit lebt, wie er alle nur irgend auffindbaren Relikte der Historie bemerkt, sie in sein Museum schleppt, ihre Spuren und Nachrichten zu entschlüsseln sucht und zu manchmal sehr kühn gefolgerten Geschichten ausspinnt. Eine seiner Obsessionen ist es etwa, Tacitus zu korri‐ gieren und Erfolge der Picten, also der Ahnherrn seiner schottischen Landsleute, gegen die Römer unter Julius Agricola nachzuweisen. Er hat eigens ein Stück Land erworben, das er für einen historischen Schauplatz hält: „From this place […] we may suppose Agricola to have looked forth on the immense army of Caledonians”. Und ein entscheidendes Indiz für seine These ist ihm ein Stein mit dem Umriss einer Opferschale und der Inschrift „A. D. L. L.”, die er liest als: „Agricola Dicavit Libens Lubens”, zu deutsch - ich hoffe, ich übersetze richtig -, „dies hat Agricola freudig dem Liber [einem altitalischen Gott der Fruchtbar‐ keit] geweiht”. All dieser Aufwand an historischem Scharfsinn aber führt ins Leere; denn der gelehrte Historiker muss sich von Einheimischen sagen lassen, hier habe vor zwanzig Jahren ein gewisser Aiken Drum seine Hochzeit gefeiert, und als Spott auf dessen Geiz, wie er ja für Schotten ganz und gar nicht cha‐ rakteristisch ist, habe ein Steinmetz eine Schöpfkelle eingemeißelt und die In‐ schrift: „A. D. L. L.”, „Aiken Drum’s Lang Ladle / Aiken Drums langer Löffel”. 7 Man könnte in der Tat meinen, The Antiquary sei lediglich ein selbstironisch humoristischer Roman. Aber, wie man beispielsweise aus Walter-Scott-Biogra‐ phien lernen kann, er hat zum Hintergrund, wie so oft beim humoristischen Erzählen, so wie nicht zuletzt ja dann auch bei Raabe, durchaus bittere Erfah‐ rungen und skeptische Gedanken. Die schottische Geschichte, insbesondere die der englisch-schottischen Konflikte, ist ohnehin eine für die Schotten traum‐ atische Geschichte: Die agrarindustrielle Revolution, die in Schottland beson‐ ders brutal durchgeführt wurde, und zwar von Schotten selbst, die so genannten „Highland Clearances“, bedeutete auch Konflikte und Risse in Scotts aufgeklärt progressivem Geschichtsverständnis. Die napoleonischen Kriege musste er, selbst ja mit einer Französin verheiratet und „very attached to Frances culture“, mit einem „sense of division“ erlebt haben. 8 Er litt daran, ganz ohne Einfluss auf die reale Geschichte seiner Zeit zu sein. Vor allem, und das scheint mir nun sehr bedeutsam, hatte er 1815 mit Erschütterung die Schlachtfelder von Waterloo und die Lazarette ringsumher gesehen: in Brüssel allein 20 000 Verwundete. Die 162 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 9 Vgl. ausführlicher Verf., Raabe und Faulkner. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2002, S. 1-20. Härte, ja Brutalität der Kriegsdarstellung im Roman Old Mortality (1816), die Einebnung alles Heroischen, die Kritik an blindem, religiösem und nationalem Fanatismus in diesem sehr düsteren Roman, ist sicher ein Zeugnis dieser Er‐ schütterung. Wenn man bedenkt, dass Old Mortality im selben Jahr wie The Antiquary erschienen ist, dann erkennt man eine für den Vergleich mit späteren und viel späteren Werken, nicht zuletzt mit dem Raabes, bedeutsame Konstel‐ lation. Denn dieser „Antiquary“, der Geschichts-Enthusiast, bekommt in der Scott-Rezeption immer mehr etwas Sinnkritisches und eigentlich schon „De‐ konstruktives“: Die erzählten „Zeichen“ der Geschichte, Relikte, Dokumente etc., lösen sich auf und widersprechen ihrem Zweck. Der „Tendenzsammler“ in Fontanes Vor dem Sturm (1878) beispielsweise, um nur ein paar Zwischenstati‐ onen zu nennen, der in Brandenburg, so wie der „Antiquary“ Erfolge der Picten, jetzt vorslawische, „urgermanische“ Siedlungen nachweisen will, und sein ganzes skurriles Museum stehen im Kontext eines geschichtsskeptischen Er‐ zählens, das Preußens Gloria in den Spiegel preußischer Niederlagen blicken lässt. Oder wenn die neugierig immer weiter fragenden, aber selbst fragwür‐ digen und bereits skurril-exzentrischen „Helden“ in Flauberts Bouvard et Pécu‐ chet (1881) eine Zeit lang Historiker spielen und ein fast absurdes, durchaus oft komisches Museum zusammentragen, dann steht dahinter unübersehbar gera‐ dezu die Verzweiflung an den verlorenen Idealen der Aufklärung und der Re‐ publik. Vielleicht der wichtigste, auf alle Fälle ein genauer und exzessiver Leser Walter Scotts, er fand ihn vollständig in der Bibliothek seines Großvaters, war der ja auch sonst auf seine schottische Herkunft stolze William Faulkner. Spä‐ testens hier werden, was bei Scott nebeneinander steht, The Antiquary und Old Mortality, exzentrisches Leben in der Vergangenheit einerseits und nationales Trauma andererseits, direkt verbunden - was rückblickend ja nun auch wieder an Raabe denken lässt. 9 Faulkners Romane und Erzählungen sind voll von Per‐ sonen, die auf bereits sie selbst zerstörende Weise in der Vergangenheit leben: Reverend Hightower etwa in Light in August (1931), dem der Bürgerkrieg, ge‐ nauer, sein Großvater, immer als durchaus traumatische Fehlleistung in seine Predigten hinein geraten, oder Miss Rosa in Absalom, Absalom! (1936), die die Zerstörung ihrer Familie und die des amerikanischen Südens immer neu durch‐ leben muss, gespiegelt in dem jung-alten Quentin, der diesem Trauma nicht entgehen kann, und erneut, und noch radikaler gespiegelt in dem „Narren“ 163 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 10 Zu diesem und ähnlichen Begriffen („diahistorisch“ hieße: mehrere historische Zeit‐ schichten durchquerend und verbindend usw.) vgl. Verf., Der historische Roman (wie Anm. 3), S. 202ff. Benjyi (aus The Sound and the Fury, 1928), dem die Zeitschichten seines Lebens chaotisch durcheinander geraten. Und hier gibt es viele weitere Beispiele. Dies sind alles radikale, oft närrische Außenseiter, sehr oft erzählende Ge‐ schichts-Vermittler und unentrinnbar in die heroisierten Niederlagen und zu‐ gleich die Schuld-Komplexe des amerikanischen Südens, also in das Trauma des Bürgerkriegs verstrickt. Von hier führen die Kontinuitäten und Analogien in viele Literaturen des weiteren 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der Exzentriker in Barry Un‐ sworth’s Loosing Nelson beispielsweise, mit dem ich begonnen habe, lebt in der Vergangenheit, weil er kein eigenes Leben hat. Er spielt mit der Geschichte, aber mit einem für ihn immer weniger beherrschbaren Risiko. Seine Heroisierungen riskieren den, nein, führen zum Sinnverlust. Zuletzt wird er das, woran er so total geglaubt hatte, buchstäblich „erschlagen“. Das hat etwas Bezeichnendes. Denn das literarisch-fiktionale Spiel mit den Traumatisierungen der Geschichte gehört zu den Charakteristika der Postmoderne. Und in der langen Vorge‐ schichte dieses Spiels kommt Raabe der Postmoderne verblüffend nahe. „Übergelehrte Raben“ Dass Wilhelm Raabe Walter Scotts The Antiquary kannte, ist meines Wissens nirgends belegt. Aber im Hinblick auf seinen Roman Das Odfeld (1888) und dessen Helden ist es mehr als nur wahrscheinlich. Das wird sich gleich zeigen. Noch interessanter und auffallender freilich ist Raabes Nähe zu viel späteren „Nachkommen” Walter Scotts. Natürlich darf man diese Ahnenreihe nicht zu eng und fest und vor allem nicht ausschließlich sehen. Es führen viele Wege von oft alten Traditionen in die Moderne und die Postmoderne, für die ja Vielfalt und Gegensätze überhaupt charakteristisch sind. Postmoderne heißt oft auch „Praemoderne“. Aber, und das behaupte ich, Raabe hat gerade die „postmo‐ dernen” Momente der Tradition, vor allem der Tradition des historischen Ro‐ mans, der selbst ja immer schon eine „hybride“ Form war, gesammelt, gebündelt und genutzt wie kein Autor vor ihm. Die Nicht-Helden, die Vermittler und Verfremder von Geschichte zugleich sind, und deren exzentrische Subjektivität jeden Sinn gezielt in Frage stellt, diese postmodernen Nachkommen des „Antiquary”, braucht man eigentlich nur auf‐ zureihen, um die Ähnlichkeiten zu erkennen. In Raabes Roman Das Odfeld (1888) spielt die Handlung an einem Tag des siebenjährigen Krieges. Doch die Anspie‐ lungen, Analogien und „diahistorischen“ Bezüge, 10 die hergestellt werden, rei‐ 164 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 11 Wilhelm Raabe, Das Odfeld. Hrsg. von Ulrich Dittmann, Stuttgart: Reclam 1977, in der Reihenfolge der Zitate S. 18, 23, 16, 42 und 17 f. 12 Wilhelm Raabe, Hastenbeck. Hrsg. von Karl-Jürgen Ringel, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 30. chen weit darüber hinaus. Und die ganze Erzählung kreist nun in der Tat um einen „Antiquary“, um einen alten, „verbrauchtesten“, „übergelehrten Rab[en]“, einen beim Umzug seiner Schule einfach „zurückgelassenen“ Schulmeister. Er wandert wie sein Vorbild bei Scott durch geschichtsträchtige Landschaften, liest ihre historischen Signaturen aus vielen Zeitschichten, sammelt Spuren und Re‐ likte und lebt so intensiv in den verschiedenen Vergangenheiten, dass er sie buchstäblich in sich verkörpert: „Höhlenbewohner“, alter „Römer“, frühchrist‐ licher „Einsiedler“, einer, der lebt wie ein „Zisterzienser“, auch wie ein „Ver‐ folgter“ der Religionskriege und so fort, aber doch zugleich „zuhause im nüch‐ tern altklugen 18. Jahrhundert“. Dabei ist er, wie eigentlich alle seine Vor- und Nachfahren, ein ganz „passiver […] Held“. 11 Auch erweist er sich, auch darin durchaus Scotts „Antiquary“ verwandt, immer wieder als ein Beschützer der Liebenden. Denn seine wesentliche Hel‐ dentat, als er und eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe jüngerer Leute einen Tag lang durch das Schlachtfeld auf dem „Odfeld” irren, besteht einfach darin, mit knapper Not diese und sich selbst am Leben zu erhalten. (Im Komplemen‐ tärroman Hastenbeck [1902] befinden sich ein Künstler und Deserteur, dessen Geliebte und eine weise alte „Hexe“ in noch prekärerer Situation.) Der Ge‐ schichtskundige und Geschichtsvermittler leidet an der erlebten Geschichte: den Schrecken des Siebenjährigen Krieges. Das wird in wechselnden, aber ver‐ gleichbaren Konstellationen, ein immer wiederkehrendes Muster werden. Raabe erzählt diese Schrecken völlig unbeschönigt und manchmal mit einer Drastik, die vorwegnehmend an den Expressionismus und überhaupt das Zwan‐ zigste Jahrhundert erinnert. Berühmt ist das Bild des Morastes aus Dreck, Pferden und Menschen, aus dem eine Hand wie eine absurde Mahnung in den Himmel weist. Man kann wirklich sagen, dass das Sinnrisiko der Geschichte im Mittelpunkt dieses Romans steht. Und die weit ausgreifenden historischen und mythischen Parallelen vertiefen das nur. So viele Kriege zu erinnern und selbst „so viele Kriege erlebt“, sagt der Erzähler in Raabes letztem Roman Hastenbeck (1902), wie gesagt, eine Art Ergänzung zu Das Odfeld, und das ausdrücklich als einer von denen, „die wir innerlich so große Angst haben vor dem kommenden, neuen, dem […] nach unserer Meinung schrecklichsten“, den er für die Zukunft erwartet. 12 Eine bemerkenswert klarsichtige Warnung, ähnlich, aber noch viel deutlicher als Fontanes verdeckte Voraussage: „Wir werden an derselben Welt 165 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 13 Vgl. oben Kap. 6. 14 Graham Swift, Waterland (wie Anm. 1), S. 5ff. und 21 ff. des Scheins zugrunde gehen“, an der Preußen [bei Jena 1806] zugrunde ge‐ gangen ist (Schach von Wuthenow, 1883). 13 Man sieht auch, wie Raabe in der Tat, so wie später Faulkner und viele nach ihm, die Gestalt des „Antiquary“ und das Thema „nationales Trauma“ in einen einzigen Roman zusammenzieht, die bei Scott noch auf verschiedene Romane verteilt nebeneinander gestanden hatten. Dieser kommende neue Krieg, der schrecklichste von allen, das schrieb Raabe 1902, ist sozusagen der „Interpre‐ tant“, das „hermeneutische Ziel“, das schlüssige Bezugs-Prinzip, für das Sinnri‐ siko der Geschichte, das Raabe in seinen späten Romanen darstellt. Und - ein wichtiges Motiv, das sich bei Scott noch nicht findet, aber für die Postmoderne prägend wird - am Ende des Tages werden diesem „Antiquary“ seine zuletzt wichtigsten Lebensinhalte, eben seine Bibliothek und sein Museum: kurios, he‐ terogen, teilweise verblüffend wertvoll, lebenslang zäh gesammelt und vom Er‐ zähler ausführlich gewürdigt, diese Bibliothek und Museum, in denen der alte Magister eigentlich gelebt hatte, sie werden ihm zerstört, symbolisch, aber darin völlig stringent lesbar, zerstört letztlich von ihm selbst. Das wird eine typische Konstellation werden: Der alternde Geschichtslehrer in Graham Swifts Waterland (1983), dem am Höhepunkt der Thatcher-Ära in einer betriebs- und naturwissenschaftlich orientierten Lehrplan-Reform Fach und Stelle weggekürzt werden („the end of History“, „cutting History“), ist nicht gerade auch er ein „ausgemusterter“ Antiquary? In seiner Not - es kommen noch familiäre Probleme hinzu - beginnt er, wie es diese passiven Helden alle tun, er beginnt zu erzählen („children let me tell you“): 14 von seiner Region, seiner Familie, wie der Krieg sein ganzes seitheriges Leben geprägt und verletzt hat, aber auch von den Aalen, vom Treibsand, von der Bierkultur und so fort. Auch sein Lieblings-Schüler geht ihm, wie Raabes Magister, verloren. Und am Ende muss er den Sinn dieser Familien-Tradition, damit eben auch sein imagi‐ näres Museum, erzählend zerstören. Denn der letzte Spross der Familie, deren Geschichte er für mehr als hundert Jahre verfolgt hat, ein inzestuös gezeugter, erwarteter „Erlöser“, ist - ein „potato head“, ein Schwachsinniger und ein Mörder. Noch drastischer geht es in dem bereits mehrfach erwähnten Roman Loosing Nelson (1999) zu. Nachdem sich das Leben in der Vergangenheit und im Museum zur Halluzination verdichtet hat, tötet dieser „Antiquary“ geradezu den Heros, an den er nicht mehr glauben kann. Er hält einen beliebigen Jungen für den „Midshipman [einen Offizieranwärter] Horatio Nelson“, der gerade unterwegs 166 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 15 Barry Unsworth, Loosing Nelson. London 1999, S. 213. 16 Graham Swift, Waterland, (wie Anm. 1), S. 62. sei auf sein erstes Schiff, „taking my life with him”. 15 Und dann erschlägt er ihn. So sind dann auch sein Museum und seine Bibliothek sinnlos geworden. Milder, aber strukturell genauso dekonstruktiv, ergeht es dem alten Butler in Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989). Er ist mit seinen Fähigkeiten, denen er sein Lebensglück geopfert hat, ein Kuriosum geworden, auch er „ausgemustert“. Er kann nur noch eins: voll Verehrung von seinem Lord und Herrn erzählen und von dessen Teilhabe an der englischen Geschichte. Aber dieser war ein Nazi-Freund, von dem der Butler-Antiquary letztlich nur zu sich selbst und dem Buch sprechen kann. Und so zerstört er dann das Buch, die Veröffentlichung seiner Erzählung, und damit den Wert dessen, woran sein Held in der Geschichte geglaubt hatte. Spiele der Zeichen gegen die Geschichte Freilich, alle diese Romane kritisieren, zersetzen, ja zerstören den Sinn antiqua‐ risch bewahrter und/ oder „monumentalisch“ verehrter Traditionen, Vorbilder und Mythen. Aber sie zerstören nicht den Sinn des Erzählens und erzählenden Erinnerns selbst. Auch bei Scott und bei Raabe waren sich erzählter und erzäh‐ lender „Antiquary” sehr nahe gestanden, hatten sich ausgetauscht und argu‐ mentativ bestätigt. Das Erzählen bewahrt die Kontinuität, die der Romanheld in Frage stellt oder gar zerstört: „Man is the story telling animal”, heißt es bei Graham Swift. 16 Das hätte auch Raabe sagen können. Und so geht es meiner Überzeugung nach auch in den hier behandelten historischen Romanen der Postmoderne, wenn auch oft auf ziellos scheinenden Umwegen, letztlich immer noch um Aufklärung, eine Aufklärung allerdings mit vollem dekonstruktivem Risiko. Die Kritik der Tradition zielt darauf, neue, vielleicht unbekannte, jeden‐ falls andere Möglichkeiten von Geschichte offen zu halten. So haben diese Ro‐ mane oft etwas Spielerisches. Das möchte ich nun an drei weiteren (und, was diesen perspektivischen Aus‐ blick betrifft, letzten) Beispielen zeigen, die ersten zwei aus der jüngeren deutschsprachigen Literatur, die beide aus dem Jahr 2001 stammen, das dritte ganz neu, erst 2013 erschienen. Eine tragische, ja verzweifelte Variante des „An‐ tiquary“ erzählt W.G. Sebald: Der Held des Romans Austerlitz (2001) wurde durch seinen Namen und durch den Einfluss eines von Napoleon begeisterten Geschichtslehrers selbst zum Historiker. Als ein in unendliche Forschungen verlorener „Antiquary“, ein durch Geschichtslandschaften wandernder Archi‐ tekturhistoriker - charakteristisch ist sein Rucksack - sammelt und entziffert 167 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne er Zeit- und Kultursignaturen. Er hat ein immenses Archiv zusammengetragen. Und indem er den „Zeichen“ der Geschichte folgt, findet er die Spuren seiner eigenen Kindheit und die seiner in der „Schoa“, im „Holocaust“ verschollenen Eltern. Aber diesen Spuren folgend verliert er auch sich selbst. Und auch sein reiches Museum und Archiv werden am Ende zerstreut und vergessen. Doch die vielen Geschichts- und Kultur-Signaturen, die hier im erzählten Text selbst, und nur hier, aufgezeichnet und reflektiert werden, durch einmontierte Fotos er‐ gänzt, erhalten ganz wesentlich eigenes Gewicht. Sie ermöglichen Erinnerung und Trauer und geben Reflexionsanstöße. Vor allem aber spielen sie auch mit alternativen Raum-Zeit-Modellen: solchen der Kunst und eben der Architektur, aber auch aus der Natur, Astronomie, bis hin zu den Spiral-Nebeln, und so fort. Die exzentrische Subjektivität in ihrer Auseinandersetzung mit Geschichte hebt sich auf in ein Spiel der Zeichen. Es geht zweifellos hier im Lesen der Ge‐ schichtssignaturen um eine Suche nach Wahrheiten, sehr oft eine schmerzliche Suche, aber es geht immer auch um eine Suche nach Alternativen. In Uwe Timms Roman Rot (2001) kann man retrospektiv die ganzen bisher gezeigten Entwicklungen wieder finden. Der „Antiquary“ tritt hier in Variati‐ onen, Doppelgängern und Spiegelungen auf. Er hatte sich ja schon bei Walter Scott etwa in dem Grabsteinpfleger „Old Mortality“ oder dem exakten Kom‐ mentator von Fußnoten „Dr. Dryasdust“ vervielfältigt. Oder es sei nur an Faulkner erinnert und daran, wer da alles in der Vergangenheit lebt. Ein „Anti‐ quary“ bei Timm ist sicher auf seine Weise auch der, so wie Raabes Magister, „ausgemusterte“ Dr. phil. und „Altachtundsechziger“, der seit dem Studium ohne feste Anstellung gewesen war, inzwischen weit über fünfzig, und der seine Be‐ rufung schließlich als professioneller Begräbnisredner gefunden hat. Ist nicht auch er ein Sammler und „Aufheber“ von Lebensgeschichten, die immer, und darauf achtet dieser „Antiquary“ besonders, auch Zeit- und Geschichtssigna‐ turen enthalten? Noch näher kommt den Vorbildern seit dem 19. Jahrhundert oder auch seit Faulkner und eben auch Raabe sein Widerpart, ein alter Anarchist, der sich treu geblieben ist, asketisch lebt, vergraben in seine vielen, inzwischen teilweise raren Bücher und Aufzeichnungen. Er veranstaltet „alternative Stadt‐ führungen“, geht also ganz wörtlich wie seine Vorgänger bei Scott oder Raabe, oder wie seine Brüder bei Swift, Unsworth und anderen, herum in Geschichts‐ landschaften, deren Signatur er liest: kritisch gegenüber der deutschen Ge‐ schichte von Krieg und Unterdrückung und andererseits ausdrücklich erinnernd an vergessene linke Kultur in Berlin. Sein ganzes Denken kreist um die dortige „Siegessäule“, ein Monument, in dem sich in der Tat verschieden Zeitschichten überlagern und zur Geschichtssignatur verdichten. (Man ist versucht von einem „diahistorischen Chronotopos“ zu sprechen). Der anarchische „Antiquary“ liest 168 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 17 Uwe Timm, Rot. Vom Autor durchgesehene Ausgabe, München: dtv. 2003, S. 154 es so, als wolle er die Sicht Raabes auf das „Odfeld“ und dessen Schichten von Zeit-Signaturen retrospektiv bestätigen. Denn ihm geht es nicht um die „Siege“, sondern allein um Kriege und Elend, die ihre Erinnerung an der „Siegessäule“ hinterlassen haben; und mit ihnen verbindet er, wie letztlich auch Raabe, die Aussicht auf den kommenden Krieg, den er als unvermeidbar erwartet, mit Raabes Worten, die hier wie von selbst sich aufdrängen: den „schrecklichsten von allen”. Erneuert wird hier auch das bei Raabe so wichtige, bei Unsworth oder Sebald und anderen wieder aufgenommene Motiv der zerstörten Bibliothek. Es findet sich jetzt in immer neuen Varianten. Konsequent hat der eine Romanheld alle Bücher und persönlichen Spuren der Vergangenheit weggegeben, dies im Ver‐ such, seine eigene Geschichte zu negieren - ein „cutting history“ (Graham Swift), das einhergeht mit dem Entschluss, „in Zukunft ein Wort nicht mehr zu benutzen: Hoffnung“ 17 -, nur um von dieser Vergangenheit unentrinnbar wieder eingeholt zu werden. Seinem „kontrastiven Doppelgänger“ dagegen, dem links-konservativen Alt-Anarchisten, werden sein überquellendes Archiv und seine reiche Bibliothek revolutionärer Klassiker ganz einfach und brutal bei der Auflösung seiner Wohnung „entsorgt“, was ein kaltes, geschäftsmäßiges, und so vielleicht nur um so härteres „cutting histrory“ bedeutet. Ein weiterer Dop‐ pelgänger, auch er ein angepasster Überlebender des Heißen Sommers von 1968, der Held aus Uwe Timms gleichnamigem früherem Roman (1974), ist, was auch Raabes „Magister“ gewesen war, nämlich Studienrat; und er betreibt mit viel Hingabe ein Archiv linker Literatur von damals, was vielleicht auch einer Ne‐ gation gleichkommt. Denn es entsteht ja eine gegen jede Aktualität abgeschot‐ tete Zeitkapsel wirkungsleerer Raritäten. Und in einer weiteren Alternative, die vom „ausgemusterten“, weil gar nicht erst angestellten Romanisten zum erfolg‐ reichen Händler mit französischem Wein geführt hatte, wird die obligatorische linksintellektuelle Bibliothek, samt zeitgerechtem Designer-Mobiliar, von der Gattin, die die Trennung anstrebt, handstreichartig ausgeräumt. Man sieht, wie konsequent hier die Tradition Scotts und Raabes und Faulkners forterzählt wird. Nur sind die Spiele noch spielerischer, noch vielfältiger, aber auch die Brüche schärfer geworden. Bei Timm sind der gescheiterte, illusionäre Aufbruch in eine bessere Welt und der seinerzeitige Widerstand gegen Zeit und Geschichte zuletzt abstrakt ge‐ worden, ins Leere gelaufen oder wurden zynisch indifferent maskiert. Aber die postmoderne Konsequenz ist die, den Geschichte verändernden Impuls in ein Spiel der Zeichen zu übersetzen. Es bleiben nur Zeichen. Und sie werden immer 169 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 18 Ebd., S. 362, Hervorhebung von mir. spielerischer. Der Anarchist will ganz wörtlich zuletzt nur noch eins, und dies ist ein wichtiges Stichwort: „Er wollte dieses Zeichen. Ein Zeichen setzen”, 18 nämlich die Berliner „Siegessäule“ in die Luft sprengen. Und in einer Vision des Romanhelden scheint der Engel darauf dann tatsächlich zu fliegen, endlich von aller Schwere befreit. Doch dies ist nur ein Zeichen-Spiel von mehreren. Auch die Auf-„Zeichnungen” des Erzählers enthalten viele Reflexionen zur deutschen Geschichte, Politik, Kultur und Nicht-Kultur. Sie bewahren Thesen von Alt‐ husser, Gramsci, Marcuse oder Bloch. Der Text selbst wird zum potentiell alter‐ nativen Zeichen. Kunst als Antihistorie Ganz konsequent geht hier dann das Lesen von Geschichts-Signaturen über in Kunst-Spiele. Denn auch jener Künstler in Uwe Timms Roman Rot, der Zeichen von Alltags-Geschichten zu Bild-Collagen verarbeitet, zum Beispiel einen Ar‐ beitslosenausweis, der Spuren von Schuhsohlen zeigt, auch er ist auf seine Art ein „Antiquary”. Und sehr folgerichtig spielen schließlich zwei weitere Erzähl‐ stränge mit fundamentalen Bedingungen der Möglichkeit alternativer, radikal alternativer Zeit- und Geschichts-Entwürfe. Ich erinnere an die Aale bei Graham Swift, oder die Spiral-Nebel bei W.G. Sebaldt oder die Masken bei Pierre Lemaitre - dazu gleich -, oder eben die Raben bei Raabe. Vorgestellt werden hier immer gegenüber der Geschichte völlig andere Zeit- und Daseins-Formen. So interes‐ siert sich auch Timm mehrfach für klar anti-historische Formen von Zeit. Der Roman Rot ist voll von Diskursen über Licht und Farben. Ausführlich nachge‐ dacht wird etwa über Symbolik und Psychologie der Farbe Rot. Aber auch er‐ zählte Beispiele von Licht-Design und von Kunstwerken aus Licht werden vor‐ gestellt. Geht es hier nicht um sichtbar gewordene Veränderungen und Alternativen von Schwingungen, also um kleinste Zeitintervalle? Licht ist sichtbar gewordene Zeit, so wie Geschichte erfahrene und erinnerte zeitliche Veränderung ist. Der Romanheld will ein Buch über die Farbe „Rot” schreiben. Zwar kommt er um, als er bei Rot über die Straße gehen will, aber Rot, die drängende, revolutionäre, leidenschaftliche Farbe und so fort, das lässt sich jetzt gar nicht zusammenfassen, ist ein „Hyper-Zeichen“ des Romans, erst recht, wenn man dies zusammen sieht mit diesem ganzen Kontext von Licht und Farben überhaupt. Das Rot in Rot, so wie letztlich schon die Raben bei Raabe, entwirft eigene Realitäten. Daneben gibt es in Rot mindestens noch einen weiteren „alternativ-histori‐ schen Zeit-Diskurs“. Einer intermedialen Collage gleich ist der Roman durch‐ 170 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 19 Erinnert sei nur an die für dieses Thema klassischen Romane Ragtime (1975) von E.L. (Edgar Laurence) Doctorow und Jazz (1992) von Toni Morrison. zogen von sehr genauen Hinweisen auf und Reflexionen über Jazz. Eigentlich müsste, und könnte ja auch, eine CD beigefügt sein. Auf alle Fälle ist Musik Kunst gewordene Zeit, und Jazz ist wie die Farbe „Rot” ein Freiheitssymbol. 19 Auch hier geht es um ein Spiel mit der und gegen die Geschichte, eben um radikal andere Formen von Zeit: Töne, Takte, Synkopen, Rhythmen, ein Gegeneinander und Zusammenspiel von Stimmen, die Zeit hörbar machen, so wie Farben Zeit sichtbar gemacht hatten. Das ist zuletzt nur ein Spiel der Zeichen, aber in diesem Kontext ein Spiel der Zeichen gegen die Geschichte. Das Risiko der Sinnlosigkeit in der Geschichte setzt sich fort in das Risiko der Beliebigkeit in der Ästhetik. Das haben alle diese postmodernen historischen Romane gemeinsam. Aber bei aller spielerischen Offenheit ist Rot letztlich doch ein human engagierter Roman. Der Held spricht nicht mehr von „Hoffnung“, der Roman durchaus: Das ästhetisch freie Spiel der Zeichen soll hier, wie bei Schiller oder in der Romantik oder bei Ernst Bloch, der breit zitiert wird, auch als Vorschein wirklicher Freiheit verstanden werden, es beansprucht die potentia possibilitas, die Kraft des Möglichen utopischer Funk‐ tion. Das letzte Wort des Romans heißt „Licht”. Dass diese „Spiele der Zeichen“ auch anders als so deutsch-idealistisch, son‐ dern ganz skeptisch, ja provozierend funktionieren können, soll mein letztes „modernes“ bzw. „postmodernes“ Beispiel zeigen. Und solche Skepsis charak‐ terisierte ja wohlgemerkt bereits eben auch Raabe. Die Handlung des Romans Au revoir là-haut / Auf Wiedersehen da oben von Pierre Lemaitre (2013) spielt in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs und den ersten Jahren der Zeit danach, vom November 1918 bis genau zum 14. Juli 1920, dem dramatischen Finale am französischen Nationalfeiertag. Der Épilogue ( Nachwort) führt dann noch bis ins Jahr 1987 und zu einer Historiker-Konferenz zum Thema: „14-18 - Les com‐ merces de la guerre / 1914-1918 - Geschäfte mit dem Krieg“. Das ist durchaus bezeichnend, denn in diesem Roman geht es zwar auf eigenwillige Weise auch, wie in allen bisher genannten Beispielen, etwa bei Swift oder Timm, um „Erin‐ nerungs-Kultur“ und „Erinnerungs-Arbeit“; doch vor allem, ja so gut wie aus‐ schließlich, geht es jetzt um „Geschäfte“, also um Möglichkeiten, eben mit der Erinnerung, der „vaterländischen Erinnerung“ an den „heroisch gewonnenen“ Krieg, Geld zu ergattern. So sind auf den ersten Blick die drei Helden dieses Romans, drei Kriegsteil‐ nehmer, die sich danach mit ganz verschiedenem Erfolg durchschlagen, sicher keine gelehrten „Antiquaries“. Auf ihre Weise aber leben durchaus auch sie in 171 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 20 Pierre Lemaitre, Au revoir là-haut. Paris 2013, S. 299 (wiederholt S. 329). 21 „Französische Gräber, und darin - saudeutsche Soldaten“ (ebd., S. 451). 22 Pierre Lemaitre, Au revoir là-haut, S. 287ff. 23 „das ist kein Hühnerknochen“ (ebd., S. 330). der Vergangenheit und immer mehr leben sie auch von ihr. Sie wollen ganz wörtlich, so zynisch das klingt, der „Erinnerung einen Ort bereiten“. Und die Negativität des Zeitabstands, die zum „Antiquary“ gehört, und die hier quanti‐ tativ ja äußerst gering wäre, keine zwei Jahre, wird kunstvoll und konsequent qualitativ in Szene gesetzt. Das Negative der Zeit wird ersetzt durch das Negative der Lüge. Denn bei den zwei großen Projekten zur „Erinnerungs-Kultur“, die hier im Erzählen vorgestellt werden, handelt es sich in beiden Fällen um kon‐ sequent inszenierten Betrug. Von Betrug freilich war schon, so wie er hier erzählt wird, der Krieg geprägt gewesen: Befehle werden gefälscht, Kriegsberichte fingiert, Zahlen werden ma‐ nipuliert, Identitäten vertauscht, Vorfälle täuschend arrangiert. Ein Offizier etwa erschießt aus dem Hinterhalt zwei seiner eigenen Leute, damit der Rest mit mehr Hass angreift; und so erhält er dann eine Dekoration und Beförderung. War so bereits das „heroische Geschehen“ weitgehend Betrug und Illusion, so wird es die heroisierende Erinnerung daran erst recht. Der Offizier erhält den Auftrag zur Errichtung von Soldatenfriedhöfen, soll also ganz offiziell „Gedenkstätten“ errichten, und bereichert sich daran ganz persönlich und brutal, etwa, um nur drei Details zu nennen, indem die Leichen nicht nur verstümmelt in zu kleine Särge gepresst werden, es wird auch ihre Identität als ganz belanglos behandelt - „nous ne savons absolument pas qui est qui / wir wissen absolut nicht, wer hier wer ist“ 20 -; nur schnell und billig muss alles gehen. Und - welch ein Horror! - es gibt sogar „des tombes françaises […] avec, dedans, des soldats boches“. 21 Die zweite Betrugsgeschichte wirkt dagegen wie ein bitterer, aber durchaus „schelmischer“ Protest: ein Betrug gegen den Betrug. Zwei ehemalige einfache Soldaten, ein Buchhalter und ein schwer versehrter Künstler, lancieren die Ak‐ tion „Le Souvenir Patriotique / Das Patriotische Gedenken“: 22 ein groß und kunst‐ voll entworfenes und seriös wirkendes Angebot von industriell gefertigten Krieger-Denkmälern. Die beiden bieten es erfolgreich Städten und Gemeinden an, nehmen Bestellungen entgegen, sie erhalten eine beträchtliche Summe an Vorauszahlungen. Und, wie es von Anfang an geplant war, sie machen sich damit davon. Es ist unübersehbar, dass die beiden Betrugs-Aktionen genau aufeinander bezogen sind: Auf den allerersten, noch ganz vagen, öffentlichen Verdacht gegen das Friedhofs-Projekt (was der Hund da herumträgt, „c’est pas un os de poulet“ 23 ) folgt im nächsten Kapitel der definitive Entschluss der Freunde, ihr 172 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 24 „Il sourit […] et lui tendit la main / er lächelte und reichte ihm die Hand“ (ebd., S. 344), dann schreibt er den ersten Brief, mit dem die Aktion beginnt. 25 „Ich habe immer gewusst, dass sie ein Schurke sind. Sie werden im Gefängnis enden“ (ebd., S. 430f.); „Plötzlich begann es Geld zu regnen. In Strömen“ (ebd., S. 434, vgl. auch S. 551). 26 „Nahezu so groß wie in der Natur“ (ebd., S. 282, vgl. S. 486). 27 Wilhelm Raabe, Das Odfeld (wie Anm. 10), S. 202f. Denkmal-Unternehmen anzugehen. 24 Und der erste Höhepunkt in der Aufde‐ ckung des Friedhof-Betrugs - „j’ai toujours su que vous étiez une crapule […], vous finirez en prison“ - fällt zusammen mit dem plötzlichen Höhenflug des „Souvenir-Patriotique“-Projekts: „Soudainement, l’argent se mit à tomber. [Ab‐ satz] À flots“. 25 Durch die Szenenregie werden die Leser zur Identifikation ein‐ geladen. Die Anti-Helden, die von der Öffentlichkeit „Vergessenen“, so wie Raabes oder Swifts Schulmeister amtlich „vergessen“ worden waren, die von der Kultur an den Rand gedrängten Außenseiter, wie Timms oder Sebalds „Anti‐ quaries“, erhalten, was Swift oder Timm oder Sebald oder eben auch Raabe durch direkte Anrede erreichen, die Hochachtung und die Sympathie von Autor, Er‐ zähler und Lesern. Der Betrug entlarvt den Betrug: den Betrug des Krieges, den Betrug des Heroismus, den des Vaterlandes und so fort. Und zu dieser narrativen Überlegenheit der Anti-Historie trägt dann noch mehr das Spiel mit den Masken bei. Ohne sie hätte es diese „schelmische“ Gegen-Handlung, das wird völlig klar, nie gegeben. Die Masken gehen konti‐ nuierlich aus dem Krieg hervor: Sie verdecken zunächst und vor allem die total entstellende Gesichtsverletzung des Künstlers. Genau betrachtet überführen sie diese jedes Mal von neuem in ein je aktuelles „Eingedenken“, ja, so zynisch es klingt, da sie an das fehlende Gesicht ja immer nur erinnern, ist jede von ihnen ein immer neues, bloßes „souvenir patriotique“. Die erste, entscheidende Maske etwa, der Pferdekopf, „presque grandeur nature“, 26 wird getragen, wenn der Ge‐ danke an den schelmischen Aufstand erstmals konkrete Gestalt annimmt; nur diese Maske wird zuletzt, eben als bleibende Erinnerung, auf die Flucht mitge‐ nommen. Und die Pferde-Maske selbst erinnert hier ebenfalls bereits an ein, ja sie verkörpert ein Kriegs-Trauma: Als der Offizier, der später die Friedhöfe bauen wird, seinen Soldaten in einen verschlammten Granatentrichter hinein stieß - je mehr Tote, um so „heroischer“ die Aktion -, konnte dieser sich nur so vor dem Ersticken retten, dass er in einen Pferde-Kadaver hinein kroch. Das ist noch viel drastischer gestaltet als die aus einem Morast von Menschen- und Pferdeleichen und eben auch toten Raben aufragende Hand bei Raabe, 27 aber folgt es nicht derselben Argumentation? 173 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 28 „Tiefblau, doch leuchtend, mit kleinen goldenen Punkten übersäht“ (Pierre Lemaitre, Au revoir là-hau (wie Anm. 20), S. 224. 29 „Pour la première fois […] une expression proprement humaine / zum ersten Mal sah er wieder wirklich menschlich aus“ (ebd.). Es sind grausame Spiele, die hier getrieben werden. Aber es sind Spiele der Zeichen gegen die Geschichte. Und sie gehen bei Lemaitre noch stringenter als der Licht- und Jazz-Diskurs bei Timm - für Raabe werden wir allerdings den Komplementär-Roman Hastenbeck hinzu ziehen müssen -, in ausgesprochen ästhetische Spiele über: in einen Diskurs bewusster Kunst als Anti-Historie. Genau gesehen kommt hier ja wohlgemerkt das Spiel, kommen das kindliche Lachen und die freie Phantasie vor der Erinnerung zu Wort, so wie die erste Maske, „bleu profond mais lumineux […] parsemé de miniscules points dorés“, 28 die ein bloßes Spiel der Phantasie war, der fokussierten Erinnerung in der Pferde-Maske vorhergeht. Die Maske erst erschafft in der Erinnerung das ver‐ lorene Gesicht: „Erstmals sieht der Freund wieder wie ein Mensch aus“, 29 und erst das Spiel ermöglicht - um Geld war es dem Künstler selbst nie gegangen - diese spezielle Form „schelmisch“-aggressiver Erinnerungskultur. Doch von Anfang an spielen die Masken hier ihr ganz eigenes Spiel und er‐ halten ihren kontinuierlich eigenen Diskurs, einen Diskurs, der zu ausführlich und anschaulich erzählt wird, als würden farbige Illustrationen entworfen, und der zu faszinierend ist, um nicht in seinem ästhetischen Eigenwert wahrge‐ nommen zu werden. So wie den Diskurs über Farben, Licht und Jazz bei Timm, oder über die Zeit in der Architektur bei Sebald, oder über die Aale und den Fluss-Schlamm bei Swift usw., oder eben die wiederholten Reflexionen über „Den Raben in Mythologie und Volksglauben und in der Natur“ bei Raabe, gibt es hier einen Diskurs zur Kunst der Gesichts-Masken. An Raabes vielfältige, heterogene und widersprüchliche Raben-Mythologie lässt etwa, obwohl alles ganz anders aussieht, die folgende ausführlich beschriebene „farbig lebhafte, heitere Maske“ denken. Sie hat etwas ganz rätselhaftes, vielerlei vermischendes Mythisches, und scheint doch zugleich zu erwarten, dass man sie wieder er‐ kennt: Heute trug er, trotz der Hitze, eine sehr große Neger-Maske, die seinen ganzen Kopf verdeckte. Über dem Schädel erhoben sich zwei krumme Widder-Hörner, und von den Augen liefen zwei punktierte, nahezu glitzernde blaue Linien wie Freudentränen in einen gestrichelten Bart hinab, der sich wie ein Fächer ausbreitete. Alles war in Ocker-, Gelb- und leuchtenden Rot-Tönen gemalt; man sah sogar, an der Grenze von Stirn und Kopfbedeckung, die runde, samtene, tiefgrüne Schlinge einer kleinen Schlange, die so 174 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 30 „Ce jour-là, malgré la chaleur, il portait un masque nègre, très haut, qui lui recouvrait toute la tête. Au-dessus du crâne trônaient deux cornes enroulées sur elles-mêmes comme celles d’un bélier, et, à partir du point lacrymal, deux lignes pointillées d’un bleu presque phosphorescent descendaient, comme des larmes joyeuses, jusqu’à une barbe bariolée qui s’épanouissait en éventail. Le tout peint dans des ocres, des jaunes, des rouges lumineux; il y avait même, à la limite du front et du couvre-chef, la sinuosité ronde et veloutée, d’un vert profond, d’un petit serpent si criant de vérité qu’on aurait dit en train de glisser lentement, dans un mouvement continu, autour de la tête […], comme s’il se mordait la queue.“ (ebd., S. 405). 31 Vgl. ebd. in der Reihenfolge der Belege S. 225, 369, 412, 440, 488. schreiend lebendig war, dass man glauben konnte, sie gleite langsam in ständiger Bewegung um den Kopf herum, als bisse sie sich selbst in den Schwanz. 30 Das Ganze ist ein fröhliches, farbiges Rätsel. Aber jedes Detail scheint bedeutsam und irgendwie bereits vertraut. Vergessen wir nicht: Getragen wird die Maske am 15. Juni 1920, ein fiktives Datum, aber gelesen konnte die Szene erstmals 2013 werden. Verstärkt nicht der Zeitabstand das Über-Lebens-Große der „Neger“-Maske: Was lange verachtet und unterdrückt wurde, wandelt sich ins Majestätische. Ja, die Widder-Hörner haben etwas Göttliches; und die tie‐ risch-menschlichen Halbgötter der Antike (die Zentauren oder Satyrn oder der Minotaurus) hatten eigentlich immer etwas Anti-Olympisches und Subversives gehabt. Der gehörnte Teufel ist der Widersacher Gottes. So könnte man noch Vieles wieder erkennen. Die Maske revoltiert in ihrer Farbigkeit gegen die sie umgebende, trostlose Geschichte, und sie revoltiert in ihrer schieren Gegenwart gegen die dominante Zeit-Kultur. Die „schreiend lebendige“ kleine Schlange wirkt dann wie ein nochmaliger Widerspruch im Widerspruch, eine Revolte in der Revolte, etwas alternativ Lebendiges, fast wie ein visueller Sprengsatz. Auf alle Fälle kann man sehen, dass die Spiele der Masken einen Diskurs bilden und ihre eigene Sache vertreten. Die Masken-Spiele sind Spiele der Frei‐ heit, einer Freiheit, die nicht lediglich imaginär bleiben will. Keine Maske wird mehr als einmal getragen, eine neue folgt unablässig der alten, mit dem Fort‐ schritt der „Aktion“ wird ihr Spiel immer „farbiger und verrückter“, sie for‐ mieren sich schließlich zu einem skurrilen Fundus, einem Paradigma, als war‐ teten sie nur darauf, frei gelassen zu werden. Die allerletzte Maske ist dann allerdings die des eigenen Gesichts. 31 Und genau das unterstreicht die Kohärenz dieses Diskurses. Denn erst das ästhetische Spiel gibt dem Gesicht die Identität zurück, die die Geschichte zerstört hatte. Aber diese Maske wird für den Freitod getragen; der Künstler stellt sich vor ein fahrendes Auto; dazu hat er grüne Flügel an seinem Rücken befestigt, „comme des ailes d’ange / wie Engelsflügel“; und 175 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 32 Ebd., S. 532 und 556. 33 Ein Teil eines Ganzen, der für einen anderen Teil steht (pars pro parte). beim Zusammenstoß wird er wie ein, nein, als ein Engel davon fliegen: „alors, l’ange s’envola réellement / da flog der Engel tatsächlich davon“. 32 „Prodigium“, „Praesagium“, „Portentum“: Raabe und die „Zeichen in der Welt“ Der Engel am Ende von Au revoir là-haut, der Sieges-Engel, der sich am Ende von Uwe Timms Rot in einen davon fliegenden Friedensengel verwandelt, das ist nicht dasselbe wie wenn Noah einen Raben fliegen lässt. Aber auf Noahs Raben muss, sobald er genannt wird, figural, dem Muster der biblischen Ge‐ schichte nach, die Taube mit dem Ölzweig folgen. Der biblische Rabe ist eine Metonymie  33 der Taube. Anders gesagt: Alle diese drei Motive haben ursprüng‐ lich „heilsgeschichtliche“ Bedeutung. Es geht um Erlösung. Heute würde man sagen, sie eröffnen utopische Perspektiven. Raabes Roman ist nicht Teil der Postmoderne, aber diese ist sichtbar in ihm angelegt. Es sind ja viele Spuren, die beide verbinden: Vom „Antiquary” zu den Geschichtssignaturen, zu deren Dekonstruktion und zum Risiko ihrer Sinnlo‐ sigkeit, dann zum Spiel der Zeichen mit der und gegen die Geschichte, zu den Antihistorien, zur Ästhetik und zur Utopie. Damit wäre der diskursive Weg ab‐ gesteckt, auf dem sich Wilhelm Raabes späte historische Romane bewegen. Postmodern aktuell, so haben wir begonnen, ist seine Version des „Antiquary” auf der einen und das radikal ausgespielte „diahistorische“ und „polyhistori‐ sche“, aus der Überlagerung von Zeit-Schichten und aus der Vervielfältigung der jeweiligen Historie hervorgehende Risiko der Sinnlosigkeit in der Geschichte. Raabe und sein Romanheld „lesen” das Odfeld, Schauplatz vieler Schlachten aus vielen Zeiten, verblüffend genau so skeptisch, wie der anarchistische „Anti‐ quary” bei Timm die Berliner Siegessäule „liest”: Signatur nicht einer stolzen, sondern einer verheerenden Geschichte. Und verblüffend vergleichbar gewinnen dann auch bei Raabe freiere Spiele von Zeichen Raum. Es gibt im Roman Das Odfeld zu den drei wichtigsten Hand‐ lungsträgern: also zu der Gestalt des geschichts-kundigen und Geschichte er‐ leidenden Helden, dann zu der fiktiven Schlacht auf dem Odfeld im Kontext des siebenjährigen Krieges und drittens zu deren diahistorischer amplificatio als Si‐ gnatur vieler Zeitschichten, es gibt dazu noch eine phantastische und nun also auch hier explizit zeichenhafte Rahmenhandlung. Am Vorabend der Schlacht bekämpfen sich zwei große Scharen von Raben am Himmel: lange und in erbit‐ tertem Hin und Her, bis eines dieser Raben-Heere sich zur Flucht wendet. Der 176 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 34 Wilhelm Raabe, Das Odfeld. Hrsg. von Ulrich Dittmann, Stuttgart: Reclam 1977, S. 23. 35 Ebd., S. 31. Magister folgt dem Schauspiel begeistert und mit vielen mythologischen und historischen Kommentaren. Und der Erzähler gibt ihm darin ausdrücklich Recht. So kam es zum Titel meines Vortrags. Denn irgendwelche naturwissenschaftli‐ chen Zweifel oder auch Erklärungen lehnt der Romanerzähler, der sicher auch für den Autor spricht, für dieses „portentum”, „praesagium” und „prodigium” („außerordentliches Vorzeichen“, „Weissagung“, „Wunderzeichen“) ausdrück‐ lich ab: Wir aber halten uns mit dem letzten gelehrten Erben der Zisterzienser von Ame‐ lungsborn einzig an das Prodigium, das Wunderzeichen, und danken für alle fach‐ wissenschaftliche Belehrung: wir lassen uns heute noch gern an den Zeichen in der Welt genügen, wo Besserunterrichtete ganz genau das - Genauere wissen. 34 „Wir lassen uns […] an den Zeichen in der Welt genügen“: Raabe will doch wohl, dass wir den möglichen Bedeutungen dieses phantastischen Wunder-Zeichens so weit wie möglich nachspüren, sie mit aller unserer Phantasie und Vernunft zu lesen versuchen. (Und Semiotik-Skeptiker unter den Realismus-Kennern dürfen sich ruhig zu den „Besserunterrichteten” zählen.) Einer der Raben fällt dem Magister verwundet zu Füßen, der verbindet ihn und nimmt ihn mit auf sein Zimmer. Der „grauenvolle”, wie es heißt, Kämpfer, Leichenfresser und Un‐ glücksbote lässt sich auch wie ein Haustier halten, was düstere Konstellationen ermöglicht. Er kommentiert beispielsweise krächzend die Lektüren und Selbst‐ gespräche des alten Herrn, oder interessiert sich ominös für bestimmte Besu‐ cher, verbreitet bei anderen Angst und Schrecken, begleitet den Romanhelden bis in seine Träume, und natürlich überlebt gerade er völlig wieder hergestellt den nächsten, für alle anderen von Not und Elend und Tod erfüllten Tag. Das Wort „Zeichen” kommt im Roman fast auf jeder Seite vor. Kann, ja muss man nicht auch hier, wie bei den Beispielen aus der „Postmoderne“, in der Tat von einem „Spiel der Zeichen mit der und gegen die Geschichte“ sprechen? Si‐ cher ist der Rabe hier ein mit Bedeutungen überladenes „Hyper-Zeichen“, das chaotisch, aber keinesfalls beliebig, viele verschiedene Bedeutungswege, -ver‐ zweigungen und -zirkel erlaubt, durchaus vergleichbar dem „Rot“ bei Uwe Timm oder den Masken bei Lemaitre. Und alle, gerade auch die gegensätzlichen Deu‐ tungen ergeben für diesen Roman eine Lesart. Der Rabe ist in vielen Mythen, zum Beispiel in Gestalt der „Wotansraben“, ein Göttervogel und Götterbote, so kommt ja jetzt auch, sei es „aus dem christlichen Himmel oder vom Ida oder aus Walhall”, die „Stimme”, die dem kriegerischen Schauspiel „Halt” gebietet. 35 So‐ 177 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 36 Wilhelm Raabe, Hastenbeck. Hrsg. von Karl-Jürgen Ringel, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 76. 37 Wilhelm Raabe, Das Odfeld, in der Reihenfolge der Zitate, S. 31, 23, 230. fern das Zeichen beansprucht, einen umfassenden Gesamt-Sinn zu verkörpern, löst sich dieser, sobald man auch nur nach ihm fragt, sofort auf in Widersprüche. Schon das mehrmalige „oder“ enthält ein postmodernes Argument: Das Wider‐ sprüchlich-Vielfache ist wahrer als die eine „große Erzählung“. So ist ja dann der Rabe in volkstümlicher Sicht auch kein „Götterbote“ mehr, sondern ein Unglücks-, Galgen- und Teufelstier, was im Roman ebenfalls einen Sinn ergibt. Nach keltischer Überlieferung, so habe ich nachgeschlagen, be‐ gleiten und führen so genannte „raven of battles” die Kriegszüge. Aber, und das scheint hier ebenfalls richtig, nach der alten und immer wieder abgewandelten Symbolik des Tierkreises steht der Rabe für Schalt-Monate und Un-Zeiten, Zeiten, die nicht fassbar sind und geordnete Zeitmaße unterbrechen (wie etwa ein „dreizehnter Monat”, der im Sternbild des „Raben“ stünde); aber so können sich auch Zeiten-Wenden vorbereiten. So ließ im Alten Testament (1. Mose 8, Verse 6 ff.) Noah vor der Taube und erfolglos einen Raben fliegen, und Noah ist wohlgemerkt der Vorname des Magisters, dessen Autor ja eben „Raabe“ heißt. Der sprichwörtlichen Weisheit des Raben korrespondiert es andererseits, dass schwarz gekleidete Schüler, Studenten und Professoren oft so (oder süddeutsch „Krappen“) genannt werden; (für die ehemalige Klosterschule, die ich besucht habe, hat sich diese Name bis heute erhalten); und „übergelehrter Rab” erhält der Magister als Schimpfwort an den Kopf geworfen. Andererseits und ganz im Gegensatz dazu wird hier aber immer auch die schiere Bestialität des Tieres betont, Symbol für „der Welt Vieheit”, 36 wie es im Komplementärroman Has‐ tenbeck (1899) heißt. „Das Tier setzte seinen Willen durch”, ist bezeichnender‐ weise der letzte Erzählerkommentar zu diesem Raben. 37 Das wortwörtlich „bru‐ tale“ Anderssein des Tieres, wie das der Aale bei Graham Swift, hat das letzte Wort. Historische Anspielungen, etwa die auf die „Rabenschlacht” (451 n. Chr., wobei „Raben/ Ravenna“ auf den Gotenkönig Theoderich I verweist, also eine bloße Namens-Assoziation darstellt), kommen dem Magister in den Sinn. Und genau diese „unsachliche“, im Grunde chaotische Bedeutung des „Rabe-Zei‐ chens“ wird breit ausgebreitet. Bezüge zu mehreren Märchen lassen sich her‐ stellen. Wer will, kann natürlich auch literarische Anspielungen finden: Edgar A. Poes Gedicht The Raven (1845) etwa beginnt ja auch mit einem „Antiquary”, der an altem Wissen interessiert ist, „ponder(ing) over many a quaint and cu‐ 178 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 38 Edgar Allen Poe, Tales and Poems. Hrsg. von Irvine Smith, London 1974, S. 328. Viel mehr aber gibt diese Gemeinsamkeit beim besten Willen nicht her. rious volume of forgotten lore”, 38 und so fort. Alles richtig, doch den letzten, umfassenden, allein richtigen Schlüssel zu diesem Symbol hat noch niemand gefunden. Man sieht, wie das Spiel dieser „Zeichen in der Welt“ ganz konsequent eben ein „Chaos der Zeichen“ in der Welt einschließt. Und genau das ist doch wohl beabsichtigt: Auf die Pluralität, die Vielfalt als solche, und auf die gesuchte Gegensätzlichkeit der Bedeutungen um ihrer selbst willen scheint es anzu‐ kommen. Nähert sich hier der Rabe in Raabes Roman nicht in der Tat jenen letztlich chaotischen „Hyper-Zeichen“ der Postmoderne, wie der „Rose“ bei Um‐ berto Eco (Il nome della rosa / Der Name der Rose, 1980), die genau wegen ihrer sich jeder Eindeutigkeit entziehenden Bedeutungs-Vielfalt den Romantitel abgab, oder den, wohlgemerkt im Gegensatz zu Ovid, regellosen, chaotisch wu‐ chernden, allenfalls destruktiven „Metamorphosen“ in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1989), oder in Michel Tourniers Le roi des aulnes / Der Erlkönig (1970) dem Symbol der „Phorie” des „Tragens” und „Getragenwerdens”, das immer neu entsteht und sich in seine Gegensätze verliert, ja, sich selbst zerreißt: „euphorisch“ und „dysphorisch“, Christopherus und Erlkönig, Blaubart und „Roß Israels”, von dem „zerrissen“ und „durchbohrt“, was tragen soll, schließlich „tragend versinkend“, und so fort? Und natürlich erinnert die chaotische Sym‐ bolik des Raben auch an die Farbe „Rot” im genannten Roman von Uwe Timm, oder an die erschreckenden und befreienden „Masken“ bei Pierre Lemaitre. Vielleicht lehrt erst die Postmoderne, dieses Chaos der möglichen Bedeutungen, die schiere Vielfalt und Gegensätzlichkeit eines Hyper-Zeichens auch bereits bei Raabe als etwas zu lesen, das bewusst gesucht wird. Welche Bedeutung hat bei alledem der unüberhörbare Gleichklang zwischen dem Tier-Namen „Rabe” und dem Namen des Romanautors? Zweifellos ist er wichtig. Und er hat etwas spielerisch Verstörendes. Denn werden nicht Autor, Erzähler und Romanheld letztlich gerade in der Paradoxie dieses Zeichens so‐ lidarisch? Der Magister wendet sich ja dem Raben nicht nur mitleidig zu und hält ihn wie ein Haustier, er träumt auch das phantastische Geschehen nachts noch einmal nach und fliegt und kämpft dabei selbst als „Ra[a]be” unter Raben mit. Wird hier nicht die exzentrische Subjektivität des „Antiquary” gerade, und in einer erst eben in der jüngeren Literatur bekannten Weise, als Vermittler und Opfer der Geschichte noch einmal potenziert? Und ist das nun nicht bereits eine Parabel für die postmoderne Aufhebung dieser Subjektivität in Zeichen? Aufhebung freilich bedeutet nicht Tilgung. Subjektivität wird nicht durch‐ gestrichen, sondern neu begründet. Raabes Romanheld behauptet sich. Er bleibt 179 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 39 Vgl. das Kapitel: Raabes Resignationen, in: Verf., Der realistische Weg. Formen pragma‐ tischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994, S. 591-655. 40 Verf., Das Odfeld. Zur Zeichensprache der Geschichte. In: Leo A. Lensing und Hans Werner Peter (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Braunschweig 1981, S. 266-279. 41 Stopfkuchen (1891), Im alten Eisen (1887, zur Waffen-Metaphorik), Der Schüdderump (1870), Die Akten des Vogelsangs (1896, ein Don Quijote, der auf die Mensur geht). ein „Held“, und dies ganz im Gegensatz zu seinen späteren Nachkommen: Sein stoisches Selbstbewusstsein, seine produktiv skeptische, aber folgerichtige Ver‐ nunft und seine unbeirrbar freundliche Humanität stellen einen Wert für sich dar. Darin bleibt er in den Konventionen des 19. Jahrhunderts und findet gerade in Raabes Spätwerk viele verwandte, exzentrisch positive Brüder. Und die Soli‐ darität von Autor, Erzähler und Held im Zeichen des Raben führt hier nach dem Ausflug in die Postmoderne auch insofern zurück auf den „realistischen Weg”, 39 als es viele Verbindungen gibt zur Reflexionskontinuität des Spätwerks, seinem vor allem in den drei Entwicklungsromanen prägenden sich Abarbeiten an der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität und der aus dem ganzen Diskurs sich ergebenden Perspektive auf einen humanen, zwangfreien Konsens. Dazu gehört auch eine Deutungsfigur, die ich selbst früher, als ich noch alles besser wusste, als die allein letztgültige behauptet habe, 40 die aber nur eine mögliche unter vielen ist. Das allerdings scheint sie mir immer noch zu sein: die Deutung der Raben-Schlacht als „metapoetische Allegorie“. Denn kann man nicht auch so argumentieren: Der Wilhelm Raabe, der das erzählt, hebt die „Raben“-Zeichen, die ihrerseits die kriegerische Handlung aufgehoben haben, seinerseits auf in die Zeichen seines Roman-Texts, er hebt sie auf in einen sprachlichen, bzw. narrativen „Krieg” - der Krieg ist eine alte Allegorie kont‐ roversen Denkens -, einen „friedlichen Krieg” der Positionen, Meinungen, Tra‐ ditionen und Argumente? Auf diese fröhliche Aggression, den „friedlichen Krieg“ im Erzählen, gibt es in Raabes Spätwerk viele Hinweise: Stopfkuchens „Totschlag”-Sprache der Bedeutungsumkehrungen in Raabes wohl bekannt‐ estem Roman beispielsweise, oder die Waffen-Metaphorik, oder die Don-Quijote-Figurationen 41 und vieles andere mehr. Aber der Schluss des Romans stellt dann doch das Selbstvertrauen des Helden und ebenso das Vertrauen des Autors in die Kontinuität seiner Erzählarbeit auf eine radikale Sinnprobe: Der Magister und seine Schutzbefohlenen haben - bis auf einen, der seinen heldenhaften Illusionen erlegen ist - den Tag auf dem Schlachtfeld überlebt. Haus und Hof sind vom Kriegsvolk verwüstet und leer geplündert. Aber die Turmuhr geht noch immer völlig genau, als sei nichts ge‐ wesen. Die Tür zur ehemaligen Mönchzelle, der Wohnung des Romanhelden, 180 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 42 Wilhelm Raabe, Das Odfeld, in der Reihenfolge der Zitate S. 230 und 227. ist verschlossen geblieben, als sei nichts Besonderes vorgefallen, und er hat auch den Schlüssel dazu noch in der Tasche. Doch drinnen herrscht ein noch viel größeres Chaos als draußen. Der eingesperrte Rabe hat alles umgeworfen, zer‐ rissen und verdreckt, insbesondere eben auch die Bücher und den ganzen Stolz dieses „Antiquary“, das Museum. Und am Ende des Romans, denn für einen Raben gibt es jetzt draußen viel zu tun, lässt der Magister ihn frei: Fliege zu, fliege hin und her und richte ferner aus, wozu du mit uns andern in die Angst der Welt hineingeworfen worden bist. Das Chaos, das der Rabe, das Hyper-Zeichen dieses Romans, angerichtet hat, zerstört zuletzt das „Prodigium”, das „Wunderzeichen”: „Ich weiß nicht, von wannen du gekommen bist, ich weiß nicht, wohin du gehst; aber geh denn […] auch nach dem Odfelde”. Die universale Sinnlosigkeit des Krieges, um die es bis dahin so eindringlich gegangen war, wird zuletzt zeichenhaft noch einmal po‐ tenziert: „Ach Rab, Rab, wohl ist dein Zeichen Wahrheit geworden.” 42 Und die Zeichen der Ordnung: die Uhr, der Schlüssel, auch das Wissen, das Museum und die Bücher, sind dem völlig unterlegen. Dem „Antiquary”, der im Zeichen des Raben mit Erzähler und Autor solidarisch war und ist, wurde sein Geschichts‐ vertrauen anschaulich zerstört: symbolisch und als Spur zugleich vom Raben des (Wilhelm) Raabe, also letztlich und signifikant von ihm selbst. Darin nähert sich diese Konstellation des sich selbst zerstörenden „Antiquary” dann doch wieder auf verblüffend deutliche Weise seinen postmodernen Nachkommen. Bleibt dann also auch hier - nicht in der Kontinuität des Spätwerks, die nach meiner Überzeugung mehr sagt als dieser eine sehr experimentelle Roman -, bleibt bereits hier als letztes Argument gegen die radikale Sinnkrise der Ge‐ schichte lediglich das Spiel der Zeichen, die Offenheit möglicher Alternativen, was ja, das wird doch sehr deutlich, bereits auch ein Spiel mit den Traumatisie‐ rungen der Geschichte ist? Auf alle Fälle, denn solche Zeichen bleiben auch in ihrer Negation bedeutsam, gehören zu den alternativen, möglichen Lesarten des Raben-Symbols in Raabes Geschichts-Zeichen-Spiel auch zwei ihrerseits anti‐ thetische Schlussperspektiven. Zuletzt ist der Rabe hier einfach ein einge‐ sperrtes Tier. Und: „Das Tier setzte seinen Willen durch”, lautet der letzte Kom‐ mentar des Erzählers. Wenn das „Tier” so das letzte Wort hat - auch dazu gibt es bei Raabe seit langem viele Parallelen -, öffnet das nicht auch eine Perspektive auf ein Unbekanntes, Antihistorisches in der Natur, vergleichbar dem Leben der Aale in Graham Swifts Waterland (1983), den Signaturen von Pflanzen, Tieren, Astralnebeln und so fort bei Sebald, oder den vielen Tieren bei Tournier, oder 181 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 43 Uwe Timm, Rot (wie Anm. 16), S. 393f. 44 Ebd., S. 10 dem ewigen Eis bei Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, 1984) und in Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983)? Zur Offenheit des Spiels der Zeichen mit der und gegen die Geschichte gehört in der Postmoderne aber auch, dass dieses Spiel alternative oder utopische oder geradezu heilsgeschichtliche Perspektiven zumindest nicht ausschließt, dass es sie zumindest offen lässt. Ich erinnere an den „Engels-Flug“ bei Lemaitre, in dem die Freiheit der Kunst noch im Tode des Künstlers - ein alter romantisch-sym‐ bolistischer Gedanke - über die Zwänge, die Lügen und das Unrecht der Welt zu triumphieren scheint, oder an den imaginierten Flug des gesprengten Sie‐ gesengels bei Uwe Timm: Erlösung. Wer? Dieser da, schau, der Engel dort. Schwebt er? Ja doch. Dieses kleine Wölkchen unter den Füßen. Der geht auf einer Wolke. Der schwebt ja. Er schwebt, da, er hebt ab, er fliegt, endlich […] Erlösung, endlich, Gegenwart, Sturz, Allgegenwart, Gewölk, sanftes Grau und darüber das Licht. Licht. 43 Das letzte Wort des Romans hieß „Licht”, eines der vorletzten „Erlösung”. Wenn das keine heilsgeschichtlich-utopische Perspektive ist? Und die Ironie kann die Sehnsucht darin, das wussten bereits die Romantiker, nicht durchstreichen. Bei Raabe wird ebenfalls und vergleichbar klar ein bedeutsames heilsgeschichtliches Zeichen gesetzt, das sich im weiteren Spätwerk analog immer wieder findet. Wenn einer mit dem Namen Noah zuletzt einen Raben fliegen lässt, und wenn eben andauernd von „Zeichen“ die Rede gewesen war, dann gehört diese zei‐ chenhafte Handlung ganz einfach zur Jüdisch-Christlichen Heilsgeschichte. Noah muss seinen Nachbarn und Zeitgenossen ja durchaus seinerseits schon als Exzentriker, wenn nicht als schlechterdings verrückt erschienen sein. Aber er ist in der Bibel ein Hoffnungsträger: „Der wird uns trösten […] auf dem Acker, den der Herr verflucht hat” (1. Mose 5, 29), zitiert Raabe die Bibel. 44 Dort steht auch: „Noah (tat) das Fenster auf […] und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und […] her” (1 Mose 8, 6/ 7). Raabes Noah scheint dem Raben genau diesen Auftrag mit zu geben: „Fliege hin und her! “, wörtlich nach dem Text der Lutherbibel. Schon in der Bibel freilich war mit dem Flug des Raben die Rettung der Welt noch nicht so ganz ausgemacht. Erst später kommen, und auch nur nach und nach, die Taube mit dem „Ölblatt“ und das Heilsversprechen und der „Segen“ und der „Bund“ im „Zeichen des Regenbogens“ hinzu (1. Mose 8/ 9). Das sind alles je neue Geschenke Gottes an Noah und die Menschheit. Der Rabe jedoch steht 182 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 45 Ebd., S. 8. 46 Brief vom 9. September 1898 an Marie Jensen, zitiert in Wilhelm Raabe Hastenbeck, Nachwort, S. 213. für das Ungewisse, die Situation, in der alles noch offen ist, ausdrücklich steht er dafür, dass der Mensch sich nicht selbst erlösen kann. Genau darauf scheint es auch Raabe anzukommen. Sein Rabe fliegt ja auch los, um an der „Angst der Welt“ mit zu wirken. Die Ambivalenz des letzten „Raben-Zeichens“, zwischen Erlösung und immer neuem Elend, ist die Engführung des Chaos, dem es den Roman hindurch angehört hatte. Und eben dieser Schluss hat etwas deutlich Postmodernes. Denn verblüffend gleich „fliegt“ der Engel - der Flug ist ein altes Freiheits- und Erlösungssymbol - auf der „Siegessäule“ bei Uwe Timm tatsäch‐ lich befreit, also friedlich, davon. Aber dies ist nur eine Vision, nur ein Traum. Und erst der Tod des Romanhelden hat diese „Erlösung“ gebracht. Und genauso „fliegt“ der wie ein Engel maskierte Protagonist der Antihistorie bei Pierre Le‐ maitre erst in seinem Tod befreit los. Der „Engel“ in Au revoir là-haut setzt das Spiel der Masken fort, das schon immer ästhetisch und anarchisch befreiend geführt worden war. Und der Held in Rot sieht im Sterben die Licht-Ästhetik, die ihn immer neu fasziniert hatte, in eine Vision von „Erlösung“ übergehen. Dazu hin hört er innerlich den Jazz-Trompeter „Charlie Parker spielen, sehr deutlich, den Einsatz seines Solos in Confirmation“. 45 Beide Male endet der antihistorische Diskurs der Zeichen in einer Perspektive ästhetisch-utopischer Freiheit. Derlei letztlich ja doch Plakatives gibt es nicht bei Raabe. Darin ist er viel skeptischer als seine postmodernen Nachfahren. Oder doch nicht ganz? Porzellankunst gegen den Krieg Erlauben Sie einen Nachgedanken! In seinem letzten, von ihm abgeschlossenen Roman Hastenbeck (1902), den Raabe komplementär zu Das Odfeld verstanden wissen wollte - nach der niedersächsischen Ilias nun die „niedersächsische Odyssee” 46 - hat er nicht nur die Idyllen Salomon Geßners antithetisch gegen die auch hier genau und grausam dargestellte Welt des siebenjährigen Krieges gestellt. Ein blutbeflecktes, von einer Kugel gezeichnetes Exemplar dieser Idyllen wird viel gelesen, ausführlich zitiert und geradezu als Anweisung zum Handeln, ja als ein Flucht-Plan, praktisch umgesetzt. Ein weiterer eigener, durchgehaltener Diskurs beschäftigt sich hier auch mit Kunst-Zitaten, nämlich mit der längst musealen Rokoko-Kunst der Fürstenberger Porzellanmanufaktur. Die Hauptfiguren treten wie, nein, sie treten als zum Leben erweckte Porzel‐ lanmotive auf und verkörpern so „der Welt Lieblichkeit”, die gegen „der Welt 183 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 47 Ebd., S. 76. 48 Ebd., S. 42. 49 Ebd., S. 172f. Vieheit” gesetzt wird. 47 Die kleine Statue einer alten Bettlerin wird zu einer grimmig-menschenfreundlichen Picara, die als Marketenderin den Kriegen des achtzehnten Jahrhunderts in fast ganz Europa gefolgt war und nun den anderen lebendig gewordenen Porzellangestalten zu Hilfe kommt. Ein auf Tellern und Statuetten vielfach wiederkehrendes liebliches Gesicht verwandelt sich zurück in sein lebendiges Modell: eine zarte Rokoko-Schäferin, zugleich freilich eine jener „femmes fragiles“ des 19. Jahrhunderts, die eine bemerkenswerte Zähigkeit und Selbstbehauptung entwickeln können. Und der, der so viele schöne Blumen auf das Porzellan gemalt hatte, ein Blumenmaler, dann ein in die Armee ge‐ presster und schließlich desertierter, also jetzt lebensgefährlich gesuchter Soldat, ist ihr Geliebter. Diese drei fliehen durch umkämpftes Gebiet, den herumirrenden Personen auf dem Odfeld vergleichbar, an den Hof des Herzogs Karls I. von Braun‐ schweig-Lüneburg: Vater der literarisch berühmten Anna Amalia von Sachsen-Weimar, Dienstherr des Bibliothekars Lessing, und auch sonst mit der Deutschen Geistesgeschichte vielfach verknüpft, freilich auch einer der Fürsten, die, so Raabe in seiner grimmigen Art, „den Kopf im Lichte hatten, die Stirn hochaufgerichtetet der Sonne zu trugen, aber in ihren Stiefeln oft recht tief in […] Blut standen”, auch ihres „Landes Kinder so teuer als möglich […] an die Engländer [für deren Krieg in Nordamerika] losgeschlagen“ haben, und so fort. 48 Am Hof dieses Fürsten finden die drei Flüchtlinge Schutz und Begnadi‐ gung, was eigentlich ein klassischer Komödienschluss wäre, so wie ja das Motiv der lebendig gewordenen Puppen auch mit der Komödie zusammenhängt. So kann man hier kaum von utopischer Bedeutung sprechen, wohl aber von Kunst und Ästhetik als Antihistorie, von einem Spiel der Antithesen, einem Spiel der Zeichen der Kunst gegen die Geschichte. Das hat dann doch etwas Postmo‐ dernes. Denn die entscheidende Wendung bedeutet es, dass bei der Audienz die kleinen Prinzessinnen die damals schon zur Sammlung verfestigten, für Raabe bereits und heute noch immer mehr musealen Porzellan-Originale in den Roman-Personen, also den im Erzählen lebendigen Puppen wieder erkennen: „Qu avez-vous là, petites? ” fragte dann plötzlich Herzog Karl von Braunschweig; doch sie reichten ihm nur eine Porzellanfigur von der „Etagère” hin, untereinander kichernd […] „Und hier ist das Gesichtchen auf dem Teeservice, so mir Euer Liebden aus Ihrer be‐ rühmten Porcelainefabrik zu meinem letzten Geburtstage präsentiert haben! ” 49 184 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 50 Michel Tournier, le roi des aulnes (1970), Barry Unsworth, Morality Play (1995). Und so weiter. Man spürt schon in der Sprache die Verfremdungen und Brüche und das Spiel mit Zitaten, Artefakten und Fiktionen. Und indem die Kinder den Generierungs-Prozess der Erzählung sichtbar umkehren, indem sie die fiktiven Personen in den historischen Kunstwerken wieder erkennen, tritt letztlich auch der Autor selbst, wie ein Puppenspieler, der über die Rückwand hinaus reicht, als der auf, der dieses Spiel der Kunst gegen den Krieg inszeniert hat, und tritt selbst in dieses Spiel ein. So wenden sich die Dinge zum Guten. Die Porzellan-Puppen sind ihren verfolgten Originalen zu Hilfe gekommen. Das Chaos des Krieges wandelt sich zum „Prodigium” von Frieden und Liebe. Einmal, nur einmal, und ausdrücklich nur in der fiktiven Welt des Romans, dazu hin im Gestus der Komödie und im zerbrechlichen Medium der Porzellan-Kunst, ge‐ winnen die Zeichen ihr Spiel gegen die Geschichte, ihr Spiel gegen die Welt. Des Weiteren bleibt dieses Spiel bestenfalls offen. Aber ist dies so grundsätzlich verschieden von der letzten Verwandlung des „Erlkönig“ in einen Retter bei Tournier, oder der einmal gelingenden Kommu‐ nikation zwischen Theater- und Taubstummen-Zeichen bei Unsworth, 50 oder dem einmaligen Flug der Engel bei Uwe Timm und Pierre Lemaitre, oder eben dem letzten Flug des „heilsgeschichtlichen Raben“ bei Raabe? 185 7. Wilhelm Raabe und die Postmoderne 1 Vgl. ausführlicher Verf., „Morgens im Spielkasino“. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert. In: Günter Butzer und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur V, Tübingen und Basel: Francke 2011, S. 117-139, v. a. S. 128 (Eine „Proto-Moderne“ als Voraussetzung des Realismus), S. 130f. (Die Krise der Bilder - Bilder der Krise) und S. 136f. (Der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts ist fähig, seine eigene Aporie zu erzählen); vgl. auch oben Kap 2. 8. Erzählte Bilder - Aporie der Kunst und ästhetische Moderne „Erzählte Bilder“ - der Titel meines Vortrags könnte genauso gut beginnen, aber nur beginnen, mit: „Zerstörte Bilder“. Denn er bezieht sich auf eine Gruppe von Künstler-Novellen und -Romanen des 19. Jahrhunderts, von E. Th. A. Hoffmann über Honoré de Balzac, Gottfried Keller, Henry James und andere bis zu Émile Zola, die alle genau dies gemeinsam haben: Ein Künstler, ein Maler, gerät mit seinem Bild in eine ausweglose Situation. Und dann wird das Bild zerstört. Dies sind alles Geschichten künstlerischen Scheiterns. Sie erzählen immer wieder eine Aporie der Kunst, einer Kunst im Sinne des Realismus. Aber, und daran hat sich mein Interesse festgemacht, die Ergebnisse dieses Scheiterns, das, was dann schließlich, als irgendwie ja doch wohl durchdachte Fiktion, auf der jeweiligen Leinwand zu sehen ist, diese dann, wie rudimentär immer, doch „neuen Bilder“, oder vielleicht lediglich „Bildimpulse“, könnten von Autor zu Autor unter‐ schiedlicher kaum ausgefallen sein. Aus den „zerstörten Bildern“ entsteht immer wieder etwas bizarr vielfältig Neues, „something rich and strange“. Das ist dann meine heutige Frage: Könnte man diese Gemeinsamkeiten und Differenzen strukturell lesen? Wird hier vielleicht so etwas wie ein mehrfaches Experiment erzählt, das um ein gemeinsames Prinzip kreist? Es geht sicher zu‐ nächst, was nahe liegt und was ich gleich ein wenig belegen werde, um eine kritische Abrechnung mit dem vielfach behaupteten Modell eines Real-Idea‐ lismus für die Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts. Es ist dessen Aporie, die Aporie modellhafter Gegenständlichkeit, die hier erzählt wird. 1 Aber, und das ist die eigentliche Frage dieses Vortrags, werden dabei eventuell, vielleicht mehr oder weniger bewusst, auch Möglichkeiten bildnerischer Ästhetik ent‐ worfen, die weit über die Traditionen des 19. Jahrhunderts hinaus weisen? Führen diese Erzählungen von Aporien der Kunst zu Erprobungen ästhetischer Innovation? Geht es dann doch auf längere Sicht um so etwas wie erzählte „Bild-Impulse“, um Imaginations-Fragmente, die die Entwicklung vorbereiten 2 Honoré de Balzac, La Comédie humaine. Hrsg von Pierre-Georges Castex, Bd. 10, Paris, Édition de la Pléiade, 1979, S. 391-438 ; zur Entstehung vgl. ebd., S. 1401-1409. 3 1610 war König Henri IV ermordet worden, was viele Wirren der Machtverteilung und der Ordnungspolitik nach sich zog. Das Datum ist jedem Franzosen geläufig. 4 Der Begriff geht zurück auf Vladimir Propp; vgl. etwa Matthias Bauer, Romantheorie. Stuttgart/ Weimar 1997, S. 164ff., oder eine andere Einführung in die Erzähltheorie. hin zu einer im weitesten und sicher auch hier noch ganz vagen Sinne „unge‐ genständlichen Kunst“ und - obwohl das ein unglücklicher Name ist - hin zu einer „abstrakten“ Malerei? Und wird dann schließlich vielleicht auch einmal mehr, und sei es nur in ersten Spuren, einer der vielen Wege sichtbar, die aus dem literarischen Realismus heraus weiter in die Zukunft führen; zeichnet sich also zumindest ein „realistischer Pfad zur Moderne“ ab? Zerstörungen Es war Honoré de Balzacs Erzählung Le chef d’oeuvre inconnu / Das unbekannte Meisterwerk (1831-1837) 2 , die mich zuerst auf diese Frage brachte. Da diese Er‐ zählung sich für die hier ins Auge gefasste Tradition von Künstlernovellen als eine Art Multiplikator erwiesen hat, denn sie war selbst beeinflusst von E. Th. A. Hoffmann und wurde ihrerseits produktiv aufgenommen und variiert von Gottfried Keller, Henry James, Émile Zola und anderen, wegen dieser zentralen Bedeutung Balzacs möchte ich damit beginnen, Ihnen sein Unbekanntes Meis‐ terwerk kurz vorzustellen: Der Held, ein genialer und verrückter Maler, natürlich ein Deutscher mit einem nicht nur im Französischen sprechenden Namen: „Frenhofer“ (wie „fré‐ nétique / frenetisch“), ist ein hoch geachteter, erfolgreicher Künstler, auf ag‐ gressive Weise arrogant und von diabolischer Hässlichkeit. Man erkennt sofort den Einfluss E. Th. A. Hoffmanns. Die Novelle spielt im Jahr 1612, also in einer für die französische Geschichte krisenhaften Zeit, 3 was ebenfalls bezeichnend ist. Sie beginnt mit langen Kunstgesprächen und einer von tragischen Vorzei‐ chen umgebenen Liebesgeschichte. Aber uns geht es um den zweiten Teil: Fren‐ hofer arbeitet seit zehn Jahren an einem „Meisterwerk“, das er bisher noch nie‐ mandem gezeigt hat. Endlich dürfen zwei befreundete Maler ihn in seinem Atelier besuchen - zu ihrer totalen Überraschung, die in unermessliche Enttäu‐ schung übergeht. Was bekommen sie zu sehen? Erlauben Sie, dass das, genauso wie das „unbekannte Meisterwerk“ selbst, noch eine Weile verhüllt bleibt. Aber so viel sei schon jetzt preisgegeben: Noch in der folgenden Nacht hat Frenhofer sich und seine Bilder verbrannt. Und das hat, wie gesagt, etwas Exemplarisches: Zwei „Funktionen“, 4 zwei markante Handlungselemente kehren, wie man leicht sehen kann, spätestens 188 8. Erzählte Bilder 5 Vgl. den Stammbaum in: Émile Zola, Une page d’amour [ Ein Blatt Liebe]. Hrsg. von Colette Becker, Paris 1973, S. 364f., wo zu Claude Lantier lapidar die „Prägung“ vorge‐ sehen ist: „Genie“. 6 Die genannten Werke im Einzelnen: E. Th. A. Hoffmann, Der Artushof (1817); Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1849-1855 und 1878-1880); Adalbert Stifter, Nachkommen‐ schaften (1864); Henry James, The Madonna of the Future / Die Madonna der Zukunft (1879); Émile Zola, L’Oeuvre / Das Werk (1886). seit Balzac immer wieder: die lange Arbeit im Verborgenen am Anfang, und am Ende die Enttäuschung bei den Freunden, sowie die Zerstörung des Bildes und der Absturz des Malers. Bei E. Th. A. Hoffmann beschreibt der alte Künstler lebhaft und voll Begeisterung sein Bild - aber vor einer leeren Leinwand. Sein letztes und größtes Werk existierte nur in seiner Phantasie. Bei Keller wird mit der Faust ein Loch in das Bild geschlagen, einer der „Meister“, die alle alternative Doppelgänger des Romanhelden sind, kommt ums Leben, ein anderer hatte be‐ reits unheilbar depressiv im Asyl geendet. Adalbert Stifters Maler hat lange Zeit methodisch und stetig, aber durchaus „frenetisch“ besessen gearbeitet; doch dann vernichtet er alle seine Bilder und hat sein „Meisterwerk“ überhaupt nie jemandem gezeigt. Er selbst allerdings wendet sich von da an einem gediegenen bürgerlichen Leben zu, was freilich auch als eine leise, unspektakuläre, alltäg‐ liche und so vielleicht erst recht „tödliche“ Aporie der Kunst gelesen werden kann. Bei Henry James sitzt das angeblich wunderschöne Modell für die jung‐ fräuliche Madonna schließlich entschieden gealtert, vulgär und grobschlächtig da, statt des „Meisterwerks“ sieht man nur eingetrocknete Farben auf einer ris‐ sigen Leinwand, der „Meister“ stirbt kurz darauf im Fieber-Delirium, und - er‐ neut ein alltäglicher Tod der Kunst - seinen Platz nimmt ein zynischer Produzent billiger Massenware ein. Zolas Maler, für seinen Autor „das Genie“ schlechthin der ganzen großen Familie, 5 erhängt sich von der Leiter, auf der er sein Riesen‐ gemälde gemalt hatte: ein weiteres „unbekanntes Meisterwerk“, das niemand versteht, so wie schon lange niemand mehr etwas von diesem Maler kaufen wollte. Der Kunst-Markt hat sein Leben noch unerbittlicher aufgezehrt als die Kunst selbst. 6 Wenn wir diese Geschichten zusammen sehen, sind das nicht, bei aller Verschiedenheit, letztlich doch jeweils Variationen ein und desselben Handlungs-Kerns: Zerstörung und Selbstzerstörung, also Aporie der Kunst? Experimente Umso bemerkenswerter ist es, dass die Resultate dieser Zerstörungen in immer neue und andere Alternativen sichtbarer Malerei übergehen, auch wenn diese allenfalls als „Bild-Impulse“ gelesen werden können. Erzählt werden Variati‐ onen künstlerischer Aporie, die zu Alternativen ästhetischer Innovation führen. 189 8. Erzählte Bilder 7 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (Opera aperta, 1962). Dt. von Günter Memmert, Frankfurt: Suhrkamp 1973, S. 52f. 8 Umberto Eco, ebd., S. 51. Schon diese Gemeinsamkeit, so scheint mir, ist ein erstes Argument dafür, und es werden sich noch weitere ergeben, diese Erzählungen literatur- und kunst‐ theoretisch ganz einfach ernst zu nehmen. Es geht um narrativ entwickelte und erprobte Theorie, um fiktional durchgespielte Versuche ästhetischer Innovation, und so auf lange Sicht um Erzählexperimente mit Möglichkeiten moderner Kunst. Und was sie zusammen gesehen darstellen, wenn man also die ganze Serie von Erzählungen als einen einzigen Text betrachtet, so wie etwa die Groß‐ schrift auf einer Karte, dieses Gesamtmuster entspricht recht genau bereits selbst einer inzwischen klassischen Theorie moderner Kunst: der Theorie des „offenen Kunstwerks“. Denn sowohl die ganze Serie konfrontiert uns ganz wörtlich der „multiplen Welt einer seriellen Komposition“, einem „éclatement multidirectionel de structures“ (einem Aufbrechen von Strukturen in viele Rich‐ tungen), als auch jedes einzelne dieser „erzählten Bilder“ inszeniert geradezu dramatisch das Umschlagen einer Krise, bzw. eben einer Aporie der Kunst in eine Signatur ästhetischer Innovation: Dem Ding und der Welt ist es […] wesentlich als „offen“ zu erscheinen, uns immer zu versprechen, „etwas anderes zu sehen“. Sehr nahe liegt es hier, diese Flucht vor der sicheren und festen Notwendigkeit und diese Tendenz zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Spiegelung einer Krise […] aufzufassen; ebenso nahe aber [liegt] auch die gegensätzliche Deutung, daß nämlich diese [Formen einer Krise] die positiven Möglichkeiten einer [Welt] ausdrücken, die offen ist für eine ständige Erneuerung ihrer Lebens- und Erkenntnisschemata, die produktiv an der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und der Erweiterung ihrer Horizonte arbeitet. 7 Werden hier nicht diese theoretischen Überlegungen aus Umberto Ecos Buch Opera aperta (Das offene Kunstwerk, 1962), inzwischen ja ein Klassiker ästheti‐ scher Theorie der Moderne, erzählerisch-experimentell vorweggenommen? Kann, ja muss man nicht in der Retrospektive, also von ihrer relativen Zukunft her betrachtet, diese Versuchsanordnung „erzählter Bilder“, deren jedes uns immer „etwas anderes zu sehen“ gibt als wir erwarten, und deren Zusammen‐ hang die strukturelle „Offenheit“ ihres Sujets, eben des „unbekannten Meister‐ werks“ erweist - „soll das Objekt bestimmt werden, so muß man es transzen‐ dieren auf die totale Reihe, deren Glied es als eine der möglichen Erscheinungsformen ist“ 8 -, muss man sie nicht als immer neue Inszenierung 190 8. Erzählte Bilder 9 Der selbst, das kann nicht laut genug betont werden, immer nur ein Programm dieser Literatur war, sie aber keinesfalls einfach charakterisiert. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukács, hrsg. von Friedrich Bassenge, 2 Bde., Frankfurt: Athenäum o. J., Bd. 1, S. 295. 11 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, 3 Bde., München: Hanser, 3. Aufl., 1969, Bd. 1, S. 469f. eines solchen Umschlagens von Krise, ja Aporie, in offene, multiple Innovation lesen? Reflexionen Denn es geht hier ja wieder und wieder nicht bloß um irgendein Bild; es geht, so möchte ich behaupten, immer, und erst recht dann im Ganzen der Serie, um die Krise und Aporie einer Kunst, die, wie Eco sagt, an der „sicheren und festen Notwendigkeit“ des Gegenständlichen orientiert bleibt, also um das Scheitern eines idealisierenden Realismus. 9 Das wird nirgends deutlicher als in der eigen‐ tümlichen Konvergenz der „Kunstgespräche“, die etwa bei Balzac und Keller jeweils der anschaulich erzählten Krise und Aporie dieser Kunst vorhergehen. Und dabei zeigt sich eben, wie ernst und wichtig die Autoren den jeweiligen Ausgangspunkt ihrer Experimente nehmen. Denn immer ja ist es ein verbind‐ liches künstlerisches Ideal, um das diese Kunstgespräche kreisen. Ja, noch auf‐ schlussreicher als die Gemeinsamkeit, zumindest die Überschneidungen solcher Programmatik bei Balzac und Keller ist deren Übereinstimmung mit zentralen Thesen in G.W.F. Hegels Vorlesungen über Ästhetik (gehalten ab 1816, hrsg. 1835- 1838). Hegels Zuspitzungen und Verallgemeinerungen erheben diese „erzählten Bilder“ zu Krisen-Signaturen jenes Ideal-Realismus, der die Diskussion im 19. Jahrhundert so weitgehend beherrscht: Das Ideale aber besteht darin, daß die Idee wirklich ist, und zu dieser Wirklichkeit gehört der Mensch […]. Der Mensch, dieser volle Mittelpunkt des Ideals lebt, er ist wesentlich jetzt und hier, Gegenwart, individuelle Unendlichkeit [: ] mit ihrer Erschei‐ nung identische Idee des Schönen. 10 Das hätten der Sache nach auch Balzacs oder Kellers Maler sagen können. Jedes dieser Stichworte lässt sich, freilich umgänglicher und „urbaner“ und im Ge‐ sprächs-Ton formuliert, bei ihnen wieder finden. Die anschauliche, individuelle, „lebendige“ Gegenwart des schönen Menschen in ihren Gemälden, das ist es, was die erzählten „Meister“ wollen und fordern. Was bei Keller „Kraft und Tiefe in der Empfindung des Lebens und des Menschlichen“ heißt, „Kultus der Per‐ sönlichkeit“ und lebendige „Sinnlichkeit“, 11 das wird bei Balzac, womöglich noch mehr in Hegels Sinn, immer wieder einfach „la vie / das Leben“ genannt: 191 8. Erzählte Bilder 12 Balzac, Oeuvres (Anm. 2), S. 416f. und 426; alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes angemerkt ist, von mir. 13 Hegel, Ästhetik (Anm. 10), Bd. 2, S. 330 und 343. 14 Es wäre abstrus, Hegel die Behauptung eines „Vergangenheitscharakters der Kunst“ schlechthin zu unterstellen. Seine Vorlesungen über Ästhetik enthalten viele Thesen, die aus späterer Sicht gerade auf die „Moderne“ zu passen scheinen. Aber diese, auch nicht ihre romantisch-idealistischen Vorwegnahmen, wäre nicht Hegels Ideal gewesen. 15 Hegel, Ästhetik (Anm. 10), Bd. 1, S. 23. 16 Keller (Anm. 11), S. 470. 17 Balzac (Anm. 2), S. 427. „L’Esprit, l’âme, la physiognomie des choses et des êtres“, „l’homme […] divin“, für Balzac insbesondere „la femme divine“, „la nature divine complète, l’idéal enfin“ / „Geist, Seele und Antlitz der Dinge und Menschen, der göttliche Mensch, die göttliche Frau, die ganze göttliche Natur, das Ideal letztendlich.“ 12 Für beide, wie auch für Hegel, stellt der ganz individuelle und zugleich eben der schöne Mensch die Verkörperung dieses Ideals dar. Balzacs wie Kellers Kunstgespräche orientieren sich ja auch beide, und in bemerkenswerter Übereinstimmung, an der Malerei der Renaissance, die eben auch für Hegel, worin sie zurücksteht nur gegenüber dem nicht mehr erreichbaren Ideal der griechischen Plastik, „die ganze Totalität des Schönen noch einmal“, und überhaupt eine künstlerische „Versöhnung des Wahren und der Realität“ hervor gebracht hat. 13 Und Hegels berühmte These vom „Vergangenheitscharakter“ einer Kunst idealer Sub‐ jekt-Totalität - das meint wohlgemerkt nicht die Überholtheit von Kunst über‐ haupt! -, 14 verkündet die Vergangenheit eines Ideals, das philosophisch „aufge‐ hoben“ ist: Das Kunstschöne [ist] eine Form, die dem Gedanken ausdrücklich gegenübersteht und die er, um sich in seiner Weise zu betätigen, zu zerstören genötigt ist. 15 Auch dies wird nahezu wörtlich wiederholt, wenn Kellers „Meister“ seine eigene Zeit für „Übergangsgeschiebe“ hält, und wenn er letztendlich „zu sehr Philosoph [ist] und zu wenig Maler“. 16 Fast wörtlich analog hat Balzacs Frenhofer „pro‐ fondément médité sur […] la vérité absolue de [son] art […]; mais à force de recherches, il est arrivé à douter de l’objet même de ses recherches / er hat tief nachgedacht über die absolute Wahrheit seiner Kunst, aber je mehr er nach ihr suchte, um so mehr zweifelte er am Gegenstand seiner Suche als solchem“. 17 Und schließlich und vor allem findet sich dieser Gedanke einer „Aufhebung“ des Kunstschönen ja dann auch geradezu strukturell in den Romanen verwirklicht, wenn für Balzac wie für Keller die Kontinuität ihres literarischen Oeuvre selbst, wenn das schiere Gelingen ihres Erzählens als solches befähigt ist, auf die Krise und Aporie der jeweils in ihm erzählten Kunst zu antworten. So wie für Hegel 192 8. Erzählte Bilder 18 Das „offene Kunstwerk […] stellt so mit seinen Mitteln die Kategorien der Kausalität, die zweiwertigen Logiken, die Eindeutigkeitsbeziehungen, das Prinzip des ausgeschlos‐ senen Dritten in Frage“ (Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Anm. 7, S. 160). 19 Vgl. zum Folgenden ausführlich Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Er‐ zählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhun‐ derts. Tübingen 1994, S. 388ff., v. a. S. 388-398. die Philosophie, so ist hier eben ganz folgerichtig die Literatur die Metasprache und das Meta-Medium der Malerei. Sie erzählt ein theoretisches Modell von deren Krise und Innovation. Sie experimentiert ästhetisch weiter, indem sie die Kunst „aufhebt“. Innovationen Anders gesagt: Es ist nicht irgendeine prophetische Begabung, sondern die schiere Konsequenz ihres Erzählens, die diese Autoren ihre „Impulse der Inno‐ vation“ aufzeichnen lässt. Genau hier aber endet dann auch ganz entschieden die Konvergenz dieser drei Stimmen: Hegel, Balzac und Keller. Die ästhetische Innovation, in die hier die Aporie der Kunst immer wieder umschlägt, die sich zumindest abzeichnet, weist ziemlich genau in die Gegenrichtung einer philo‐ sophisch-begrifflichen Synthese konkreter Wirklichkeits-Totalität im Sinne Hegels und seiner vor allem deutschen Schüler: Entworfen wird nicht eine Syn‐ these, sondern offene Divergenz, nicht die Anstrengung des Begriffs, 18 sondern ein Spiel, eine offene Logik von Zeichen, keine Totalität, sondern eine Serie jeweils neu gebündelter Impulse, nicht die Vollendung einer sich verwirklich‐ enden Idee, sondern das Freilegen von Nullpunkten möglicher Entwicklung, ein immer neuer Aufbruch ins Unbekannte. Bevor ich die jeweiligen Entwürfe, oder besser „Impulse ästhetischer Inno‐ vation“ einzeln vorstelle, gilt es vielleicht einem Einwand zu begegnen und eine Frage zu beantworten, die beide die Vergleichbarkeit von Balzac und Keller be‐ treffen. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr Komparatistik und Literaturtheorie aufeinander angewiesen sind. Erst die Abstraktion, die Frage nach den ästheti‐ schen Voraussetzungen von Kunst - wie sie diesmal aussieht, dazu gleich -, erst die theoretische Abstraktion also macht die widersprüchliche Gemeinsamkeit der verschiedenen Impuls-Modelle sichtbar, so wie man, wenn ein methodischer Vergleich erlaubt ist, erst wenn man ihre jeweiligen Kontexte ausblendet, die Großschrift auf einer Karte lesen kann. Wie auch immer, 19 Kellers Romanheld, um dessen unvollendetes und zerstörtes Bild im Vierten Band des Romans Der grüne Heinrich es hier geht (ich habe immer die Erstfassung, 1854/ 1855, für die interessantere gehalten), dieser „grüne“ Heinrich ist alles andere als ein „Meister“. Aber so wie Balzac seine wichtigen Roman-Figuren mit ganzen „Ga‐ 193 8. Erzählte Bilder 20 Vgl. dazu ausführlicher Verf., Honoré de Balzac „La comédie humaine / Die menschliche Komödie“. In: Günter Butzer und Hubert Zapf (Hrsg.),Große Werke der Literatur, Bd. 12, Tübingen 2012, S. 61-87, v. a. S. 71ff., sowie oben Kap. 3. 21 Dort sagt der geniale „Doppelgänger“, er „werde nie mehr malen, weil man die Augen dazu brauche“ (Keller, Anm. 11, S. 910), weil er also sein Ideal nicht wirklich zu sehen vermag. 22 Balzac (Anm. 2), S. 436. lerien“ von „Doppelgängern“ umgeben hat, 20 die deren Lebensentwürfe und Schicksale variieren, vor allem aber, was erst eigentlich spannend ist, diese kon‐ trastierend-komplementär ergänzen: also die „ehrgeizigen jungen Leute“ bei‐ spielsweise, von denen die einen scheitern, andere sich durchsetzen, so gibt es nicht nur in Kellers Oeuvre viele tragische und komische „Grüne Heinriche“, auch die Künstler-Figuren im Zentral-Roman selbst ergänzen und vervollstän‐ digen einander. Heinrichs Maler-Freunde, der reiche, verführerisch schöne und hochbegabte Niederländer und der hünenhafte, lebenstüchtige Däne, beide „Meister“ ihrer Kunst und beliebt bei den Damen, sind so klar Tagtraum-Pro‐ jektionen des armen, zwergenhaft kleinen, bis dahin rundum erfolglosen und sich nach Liebe sehnenden Schweizers, wie der dritte „Meister“, der in den Wahnsinn verfallen war, ein stellvertretend tragisches Schicksal erleidet. Und umgekehrt, so lese zumindest ich den Roman, ist Heinrichs Aporie auch die der andern. Besäße Heinrich ihr Talent und Können, er würde ihre Bilder malen, und so ist sein Abschied von der Malerei auch der ihre, in der Zweitfassung (1878-1880) übrigens und bezeichnenderweise noch deutlicher 21 als in der ersten. Der Ernst der Kunstgespräche und der Kunstaporie bei Keller ist min‐ destens so groß wie bei Balzac. Wie sehen dem gegenüber die „Innovationen“ aus und inwiefern sind sie vergleichbar? Es wird Zeit, die ersten beiden unfreiwilligen „Meisterwerke“ zu enthüllen: Je ne vois là que des couleurs confusément amassées et contenues par une multitude de lignes bizarres qui forment une muraille de peinture [un] chaos de couleurs, de tons et de nuances indécises, espèce de brouillard sans forme. / Ich sehe hier nur wirr gehäufte Farben, die eine Vielzahl bizarrer Linien zusammenhält, eine Wand aus Ma‐ lerei, ein Chaos der Farben, Abtönungen und unbestimmten Nuancen, eine Art Nebel ohne Form. 22 So äußert sich der eine der beiden Freunde, die Frenhofers Bild schließlich zu Gesicht bekommen. Der „Meister“ hatte sein Bild, das man sich nur als großes Gemälde in Öl auf Leinwand vorstellen kann, offensichtlich so lange immer wieder übermalt, bis nichts Gegenständliches mehr zu erkennen ist, nur ein 194 8. Erzählte Bilder 23 Gottfried Keller, Sämtliche Werke (Anm. 11), S. 560f. 24 Bzw. „Patsche“ (ebd.). „Chaos von Nuancen“, ein „Nebel von Farben“ und vor allem eben „eine Wand aus Malerei“, eine „Wand gemalter Farben und Linien“. Kellers Heinrich ist zu arm, sich eine große Leinwand zu leisten, aber auch er will Großes. Er füllt einen großen Karton, „acht Fuß“, also etwa 2,40 Meter lang und „entsprechend hoch“; aber im genauen, und gerade so eminent sprech‐ enden Gegensatz zu Balzacs frenetisch-maßlosem Künstler liefert der „grüne“, also noch unerfahrene Heinrich nicht zu viel, sondern zu wenig Malerei: Unter den großen Schildereien ragte besonders ein wenigstens acht Fuß langer und entsprechend hoher Rahmen hervor, mit grauem Papier bespannt, der auf einer mäch‐ tigen Staffelei im vollen Lichte stand. [Darauf] schien ein ungeheures graues Spin‐ nennetz zu hangen, welches sich aber bei näherer Untersuchung als die sonderbarste Arbeit von der Welt auswies. An eine gedankenlose Kritzelei, welche Heinrich in einer Ecke angebracht, um die Feder zu proben [sic], hatte sich nach und nach ein unend‐ liches Gewebe von Federstrichen angesetzt, [das] nun den größten Teil des Rahmens bedeckte.[Immer wieder] zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit, neue Muster und Motive, oft sehr zart und anmutig, tauchten auf, und wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs ge‐ sammeltem Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen. 23 „So hätte er ein Meisterwerk liefern müssen“: Das scheint mir ein entschei‐ dendes Stichwort. Das Bild des grünen Heinrich wird so ausführlich und mit ebensoviel Interesse beschrieben, wie das des „Meisters“ bei Balzac. Sind wir nicht in der Tat berechtigt, es kontrastierend-komplementär gegen Balzacs „chef d’oeuvre“ zu halten? Es ist, als habe Keller Umberto Ecos und anderer Thesen zur Krisen- und Innovations-Bedeutung des „offenen Kunstwerks“ vorweg durchspielen wollen. Zwar ist für den Roman die näher liegende und wohl auch zunächst wichtigere Lesart sicherlich die, dass Heinrich hier ein riesiges „La‐ byrinth“ gezeichnet hat, „das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war“. Dies ist, genauso wie das „Spinnennetz“, als das man Heinrichs „Meister‐ werk“ auch sehen kann, sicherlich zunächst Ausdruck für die Krise, 24 in der er sich befindet. Weitergedacht tritt es allerdings auch für den Gedanken ein, dass jedes Leben, auch eines, das noch so verworren aussieht, seine Würde hat und - das ist ein wichtiger Gedanke für Keller -, es wert ist, kontinuierlich verfolgt 195 8. Erzählte Bilder 25 In diesem Sinne fordern z. B. die so genannten „Goethe-Reflexionen“ (3. Band, 1. Kapitel) dazu auf, dass man „das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt [erst recht die menschlicher „Dinge“] und den Zusammenhang […] der Welt“ erkennt (ebd., S. 391); und natürlich muss man hier auch an die spätere „Spinnen-Parabel“ denken. 26 Wolfgang Iser, Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen. In: Verf. / Hubert Zapf (Hrsg.) Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 1, Tübingen und Basel 2003, S. 9-28, S. 14. 27 Iser, ebd., S. 39: „In dieser gegenläufigen Modellierungsoperation von Defigurieren und Konfigurieren gewinnt das Ästhetische seine gegenwärtige generative Signatur“ (ebd.). zu werden. 25 Heinrich wendet sich ja bezeichnender Weise genau von da an von der Kunst ab und der Literatur zu; und in der Zweitfassung schreibt er schließlich nichts anderes als seinen eigenen autobiographischen Roman, also genau das Stück Literatur, das von eben dieser Aporie seiner Kunst erzählt. Aber so wie die ersten Betrachter des übermalten Bildes bei Balzac in dem „Chaos“ sogleich mögliche, noch nie gesehen Entwürfe einer noch unbekannten Kunst entdecken, etwa eine „Wand von gemalten Farben“ oder einen „Nebel von Nuancen“, so sieht auch der Erzähler des Grünen Heinrich, wie aus den zufäl‐ ligen, wie es heißt, „probenden“, bloßen Strichen immer wieder eine „neue Ma‐ nier“, „neue Muster und Motive“ und letztlich ein „Mosaik“ von Formen ent‐ stehen. Wenn dies, wie eingangs behauptet, Erzähl-Experimente mit dem Medium Kunst sind, können wir darin „Impulse“ der Innovation erkennen, wohlgemerkt lediglich Impulse, halb bewusste, halb zufällige Entwürfe, also einen, um eine weitere theoretische Stimme zu zitieren, „variantenreichen Wechsel generativer Signaturen“, 26 erste Vorstufen neuer ungegenständlicher, bzw. „abstrakter“ Malerei, ja vielleicht sogar Ansätze malerischer „Modellier‐ ungsoperationen“, 27 die dann freilich erst voll bewusst deren eigentliche „mo‐ derne“ Ästhetik konstituieren? 3.1 2.2 1.3 Natürlich braucht es, um solche Bezüge herzustellen, die Retrospektive, also den methodischen Blick zurück: eben eine Sicht, die sich an damals noch ganz zu‐ künftigen, inzwischen aber vielfach erfolgreichen Formen moderner Kunst selbst orientiert. Vorschläge dazu gleich. Doch auch dann noch wäre der ganze Zusammenhang nicht eigentlich sichtbar - mir jedenfalls erging es so -, ohne den Anstoß ästhetischer Theorie. Die Theorie hilft dabei, Fragen zu stellen, die dann historische Zusammenhänge und Veränderungen sichtbar machen können. Und es war im Falle meiner Frage nach „Aporien der Kunst und ästhe‐ tischen Innovationen“ Max Benses Definition des ästhetischen Zeichens, ge‐ nauer, der spezifisch ästhetischen Zeichen-Funktion - es gibt, das sei gleich festgestellt, kein ästhetisches Sonder-Zeichen -, es war, das wäre nach Eco und 196 8. Erzählte Bilder 28 Erste Erklärungen dieser freilich sehr differenzierten Theorie gibt jede Einführung in die Semiotik, z. B. Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Ge‐ schichte. Frankfurt: Suhrkamp 1977, v. a. S. 57 ff; oder etwa Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler, 2. Aufl., 2003, S. 59ff. und 425 ff.; als knappe, zur Er‐ gänzung dieses Vortrags völlig ausreichende Einführung vgl. Verf., Bedeutung als un‐ endlicher Prozess: Carles S. Peirces Semiotik und ihre literatur- und medienwissenschaft‐ lichen Perspektiven. In: Verf. / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur, Bd. 1 (wie Anm. 26), S. 141-164, v. a. S. 151ff.; derselbe Aufsatz in erweiterter Fassung auch in Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006, S. 9-35. Iser meine dritte theoretische Autorität, die für Bense-Schüler fast mythische Formel: „3.1 2.2 1.3“, die für mich die wesentliche Anregung gab, hier genauer hin zu sehen. Da diese Theorie sich in einer mathematisch geklärten Formulierung prä‐ sentiert - ohne natürlich mathematisch hergeleitet oder begründbar zu sein -, wurde und wird sie oft missverstanden als eine Theorie, die sich selbst bestätige, die in ihrer Systematik immer richtig sei, also nie, die formal eine Ordnung vertäusche, die sie inhaltlich gerade ausschlösse, und so fort. Aber es geht na‐ türlich um eine systematisch geklärte Analyse, nicht um ein System-Postulat für eine Realität der Kunst, die vielmehr gerade so, also systematisch analysiert, nicht irgendwie zum System erklärt, erst recht in ihrer immer neu überrasch‐ enden Vielfalt sichtbar wird. Bense geht aus von der dreistelligen Semiotik, 28 also von der konsequent in Triaden entworfenen Zeichentheorie des Mathematiker-Philosophen Charles S. Peirce, die eine Theorie zeichenhafter Erkenntnis ist. Erkenntnis durch Zeichen: Was könnte das heißen? Es heißt, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt: Wir können unsere Erkenntnis der Welt verbessern, wenn wir (erstens) Zeichen als solche als formbar und kohärent veränderbar sehen, als einen generativen Pro‐ zess („signs grow“, auch in ihren „Defigurierungen“ und Negationen), wenn wir (zweitens) immer ihren Realitätsbezug, ihren Bezug auf etwas anderes als sie selbst (ihr „Objekt“) zu beachten und zu prüfen suchen, und wenn wir (drittens) ihre Bedeutung (ihr „Interpretans“), man kann auch sagen, ihre Wirkung, ins‐ besondere ihre Wirkung auf andere Zeichen (die Bedeutung eines Zeichens ist ein anderes Zeichen) als kritisierbar und verbesserbar betrachten. Zeichen können wahr sein oder falsch oder lügen oder unverstanden bleiben und so fort, aber ihr Gesamtzusammenhang ist grundsätzlich wahrheitsfähig. Wenn ihre Wahrheit für uns nicht zumindest möglich wäre (das berühmte„could be“), könnten wir keine Zeichen gebrauchen. Unter dieser prinzipiell dreistelligen Prämisse hat Peirce - neben vielen an‐ deren Entwürfen - eine Reihe kategorialer Unterscheidungen vorgeschlagen 197 8. Erzählte Bilder 29 Zu finden in wohl jeder Ausgabe seiner Schriften, zu Nachweisen vgl. z. B. Verf., Be‐ deutung als unendlicher Prozess (Anm. 28), S. 151ff. 30 Max Bense, Zeichen und Design. Semiotische Prozesse. Baden-Baden: Agis 1971, S. 56ff., und andere Schriften. Auf Peirce selbst geht diese These nicht zurück. (übrigens sehr oft in der Tradition von Kant; germanistische Berührungsängste sind also nicht zulässig), von denen die bekannteste inzwischen wohl die Un‐ terscheidung von „Icon“, „Index“ und „Symbol“ geworden ist. Die „drei mal drei“ wichtigsten dieser kategorialen Differenzierungen: Quale- (1.1) Sin- (1.2) Legi-Zeichen (1.3) Icon (2.1) Index (2.2) Symbol (2.3) Rhema (3.1) Dicent (3.2) Argument (3.3) hat Peirce 1904 (in einem Briefentwurf und späteren Brief an Lady Welby) 29 als jeweils „geordnete Triaden“ in „Cartesianischer“, bzw. „gleitender“ Potenz ver‐ bunden. Das ergab mathematisch - mathematisch geklärt, für die Analyse, nicht irgendeine Realität zu irgendeiner Formel erhoben - die berühmt-berüchtigten „Zehn Zeichenklassen“. Und in diesem „erweiterten triadischen Zeichenmodell“ schlägt dann Max Bense 30 die Zeichenklasse: „3.1 2.2 1.3“, das heißt ausformu‐ liert: das „Rhematisch-Indexikalische-Legizeichen“, als die spezifisch ästheti‐ sche Zeichenfunktion vor, die natürlich, man kann es nicht oft genug sagen, immer im prozessualen, generativen Zusammenhang aller Zeichenfunktionen gesehen werden muss: eine spielerisch-dynamische Achse in einer unendlichen Spirale zeichenhafter Erkenntnis. Impulse kreativer Signaturen Gerade weil es sich bei alledem um eine systematisch geklärte Hypothese han‐ delt, um eine, so arbeite jedenfalls ich damit, fruchtbar kohärente Heuristik (eine „Kunst des Fragens und Findens“), in diesem Sinne kann das Modell der „Zehn Zeichenklassen“ uns vielleicht helfen, zu verstehen, was da in diesen erzählten, „zerstörten“ und „erneuerten“, den „defigurierten“ und „konfigurierten“ Bildern vorgeht. Denn offensichtlich geht die Zerstörung und insbesondere die Erneu‐ erung der Kunst ja von gegensätzlichen „Polen“ aus, wenn ich so sagen darf, also von gegenläufigen generativ-prozessualen Signaturen. Balzac erzählt von zu viel, Keller von zu wenig Malerei. Entsprechend wird bei Keller, um uns zu‐ nächst auf ihn zu konzentrieren, und für E. Th. A. Hoffmann und Henry James wird das noch radikaler gelten, es wird ja genau genommen nur eine Bild-Er‐ wartung zerstört. Der halb bewusste, halb zufällige künstlerisch kreative Prozess - der Autor hat ihn aber auf alle Fälle für erzählenswert gehalten - geht von ein paar „probenden“ Strichen aus. Das erzählte Bild-Experiment hat im Licht der 198 8. Erzählte Bilder 31 Alle Beispiele (mit Ausnahme von Niki de Saint Phalle und Michelangelo Pistoletto) sind entnommen dem Katalog: The Museum of Modern Art, New York. The History and the Collection. New York o.J. Theorie begonnen mit ersten, ganz „singulären“ zeichnerischen Setzungen („Sin-Zeichen“), die aber, einmal auf dem Karton platziert („Indices“ ihrer selbst, Zeichen, die auf etwas verweisen, in dieser Funktion also auf sich selbst), die in eben dieser ästhetischen Funktion sogleich nicht nur in ihrer Form definiert werden, man kann auch sagen, sie werden „codiert“ („legi-Zeichen“, von „lex“: geregelt). Und in der Tat werden sie ja auch als erkennbare Formen auf dem Karton vervielfältigt. Und noch konsequenter entfalten sie, wie es wörtlich heißt, eine eigene „Gesetzmäßigkeit“. Man sieht, wie das heuristische Modell den Text zu analysieren hilft. Und was diese neuen Zeichen zusammen bedeuten, bleibt ausdrücklich zunächst völlig rätselhaft. Es ist also nur „rhematisch“ (le‐ diglich „gesagt“) zu interpretieren: „offen“ in seiner Bedeutung und weder als wahr noch als falsch zu beurteilen. In Kantischer Begrifflichkeit, dessen Kate‐ gorie der „Modalität“ Peirce hier aufgreift, stellt dies eine „problematische“ Aus‐ sage dar, im Gegensatz zu „assertorischen“, wahren oder falschen Urteilen. (Das wird dann bei Balzac wichtig werden.) Erst in einem weiteren Schritt der Genese von Zeichen, die aus Zeichen entstehen, werden bei Keller dann Aussagen wie „Spinnennetz“ oder „Labyrinth“ vorgeschlagen, die aber immer wieder, wenn neue „Manier[en]“ und „Muster“ auftauchen, korrigiert und in „offene“ Inter‐ pretationen überführt werden. Das freie Spiel der Zeichen setzt sich gegen jede gegenständliche Aussage durch. Haben wir hier nicht in der Tat eine „rhematisch-indexikalische-legi-Se‐ miose“ vor uns, eine ästhetische Funktion in actu? Man muss so abstrakt her‐ angehen, um den Ausblick auf die Kunst des 20. Jahrhunderts plausibel zu finden. Denn es braucht ja von jetzt an, ist der erste „Impuls“ einmal erfolgt, nicht lediglich bei Kompositionen aus Strichen bleiben. Der Impuls der Innova‐ tion, den Keller hier erzählt, führt, sorgfältig betrachtet, zunächst zu fundamen‐ talen künstlerischen Möglichkeits- und Richtungs-Entscheidungen. Und erst von da aus kann man verfolgen, wie solche Impulse ausgearbeitet wurden zu bewusster Kunst. In diesem Sinne, eröffnet sich da nicht doch ein Bezug etwa zu den vielen Formen moderner Malerei, die mit graphisch oder malerisch typisierten Ele‐ menten arbeiten („type“, im Gegensatz zum singularen „token“, war für Peirce ein anderes Wort für „legi-signs“), zu einer Kunst also, die bestimmte einfache bis komplexe „Module“ vervielfältigt und zu größeren „Mustern“ oder Serien oder Rastern oder eben Kompositionen anordnet? Als klassische Beispiele 31 wären vielleicht zu nennen: 199 8. Erzählte Bilder Piet Mondrian, Composition 1 (1914) Ist das nicht tatsächlich ein Bild, in dem die vielen „Striche“ des grünen Heinrich zu einer bewussten malerischen Kompositionen „konfiguriert“ worden sind, 200 8. Erzählte Bilder jetzt natürlich ergänzt durch Farben (grau, weiß, blau, beige, rosa) und geomet‐ rische Muster? Aber die Striche dominieren. Wird nicht auch der für Keller of‐ fensichtlich so bedeutsame „Rahmen“ hier erst oval, dann rechteckig, also gleich doppelt betont ins Bild gebracht? Und kann man nicht von fern auch an einen irgendwie labyrinthischen Plan denken? Sehr klar dem Prinzip einer Komposition aus malerischen „Types” folgt dann etwa: Piet Mondrian, Composition and Color Planes V (1917) Man kann hier ganz anschaulich sehen, wie solche Typisierungen bzw. „legi-signs“ in der Tat nur als abstrakte Formen zu begreifen sind (wie Elemente der „langue“ / der „funktionalen Sprache“ nach de Saussure, oder wie die „strut‐ tura assente“ / die „abwesende Struktur“ nach Eco): Die farbigen Quadrate sind nicht alle gleich groß, es sind auch nicht alles Quadrate, und auch die Abstände variieren. Doch ist die Typisierung groß genug, vor allem die der drei Farben (blau, ocker, rosa) und die der rechten Winkel, dass man sie bemerken muss: So wird die Dialektik zwischen „Legi-“ und „Sin-Zeichen“ (bzw. „Code“ und „Mes‐ 201 8. Erzählte Bilder sage“ nach Jakobsen), die man im Alltag meist übersieht, künstlerisch ins Spiel gebracht; und diese spielte schon bei Kellers „Innovations-Impuls“ eine ent‐ scheidende Rolle. Ein sehr schönes Beispiel für diese Richtung „ungegenständlicher“ Kunst scheint mir das Bild mit dem sprechenden Titel: Theo von Doesburg (C. E. M. Küpper), Rhythm of a Russian Danse (1918) Die „Striche“ des Grünen Heinrich scheinen sich erst jetzt als farbige Balken (blau, schwarz, ocker, rot) künstlerisch zu behaupten und sich erst jetzt in „an‐ mutigen Mustern“ zu einem spielerischen „Mosaik“ zu ordnen. Aber diese Ord‐ nung hat nichts Festes: Die Balken sind zwar typisiert bzw. codiert, und sie bewegen sich zueinender nur parallel oder im rechten Winkel, aber ihre Länge und, wenn man genau hinschaut, auch ihre Breite variieren, natürlich auch die Farben und Abstände und die in der Tat „mosaikartig“ eingegrenzten Zwi‐ schen-Räume. Das Bild setzt viel Geometrie voraus, aber eben gerade als „ab‐ wesende“ Struktur. Alle künstlerischen „Zeichen“ sind an ihrem genauen Platz (indexikalisch) das, was sie bedeuten, und die ganze Komposition kann nur völlig offen interpretiert werden: eine freie Verbindung von System und Spiel (1.3 und 3.1), die sich jeder Norm widersetzt. 202 8. Erzählte Bilder 32 Henry James, The Madonna of the Future, In; Henry James, Complete Stories 1864-1874. Literary Classics of the United States. New York 1999, S. 730-766, S. 745 und 761. 33 Ebd" S. 762; schon früh war ja auch auf „the picture in that tale of Balzac“ hingewiesen worden (ebd., S. 745). Auch James sah offensichtlich den Zusammenhang zwischen zu viel und zu wenig Malerei. Nun zu einem zweiten „zerstörten Bild“. Auch die „Versuchsanordnung“ bei Henry James kann man als innovativen Impuls verstehen. Wenn hier das „un‐ bekannte Meisterwerk“ enthüllt wird, erblickt man, ähnlich wie beim Gemälde des Grünen Heinrich, nicht zu viel, sondern zu wenig, ja eigentlich gar keine Malerei: A jumble of dead paint [on a] large canvas […] cracked and discoloured by time. / Ein Durcheinander vertrockneter Farbe auf einer großen Leinwand, alles vor Alter rissig und verfärbt. 32 Dieses Bild ist über die bloßen Materialien der Malerei nicht hinaus gekommen, aber es hält genau diese auch fest. So können, und erst recht im fiktionalen Experimentier-Raum des Erzählens, auch noch diese bloßen Materialien, ja können ganz einfach „Dinge“ neue zeichenhafte Qualität gewinnen und zu „kreativen Signaturen“ werden: „Material for a hundred masterpieces / Material für hundert Meisterwerke“, wie der „Meister“ selbst anmerkt. 33 Die vertrock‐ neten Farben weisen einerseits zurück auf malerische Paradigmen wie Stärke des Pinsels, Druck und Umfang des Farbauftrags, Dichte und Feinheit der Farb‐ gebung und natürlich auf die Auswahl und Mischung der Farben selbst, bis hin zu deren materieller Textur. Und andererseits handelt es sich ja eben um ma‐ lerische „Setzungen“, die auf einer Leinwand „definiert“ wurden, die sich jeweils von eventuell anderen Spuren des Pinsels und ebenso von Leerstellen ab‐ grenzen, die durch einen Rahmen hervorgehoben und von anderen Dingen di‐ stanziert werden, und so fort. Auch dies sind ganz bestimmte, definierte (1.3.: legi-signs), auf sich selbst verweisende (2.2: indexikalische), immer nur ganz „offen“ zu deutende (3.1: rhematische) Zeichen ihrer selbst. Auch jetzt generiert die „Zerstörung“ des Bildes, so wie dieses dann erzählt wird, aus sich heraus eine ästhetische Funktion, vielleicht nicht in actu, aber sicher ihrer grundsätz‐ lichen Möglichkeit nach. Und lässt sich nicht auch dieser Innovations-Impuls verfolgen hin etwa zu jenen vielfältigen Formen moderner Kunst, die bewusst die Materialität, die Eigenbedeutung oder die Textur ihrer künstlerischen „Mittel“ nutzen, bis hin zu „Dingen“, die zu künstlerischen „Installationen“ ver‐ dichtet werden? 203 8. Erzählte Bilder Niki de Saint Phalle Old Master (1961) Wird hier nicht in der Tat die Erzählung von Henry James produktiv fortgesetzt? Zu einem Werk eines „Old Master / Alten Meisters“ scheint es hier wie dort ja gar nicht gekommen zu sein. Vor unseren Augen entsteht sofort etwas Neues. Der reliefartig sich verwerfende grau-weiße Untergrund betont de Materialität künstlerischer Mittel ebenso, wie das Fließen der schwarz und rot darauf auf‐ getragenen Farben. Sie halten fest und bezeichnen (Indices ihrer selbst), ja, sie sind der Übergang zwischen dem Vorgang des Malens (ein genuines „sin-sign“) 204 8. Erzählte Bilder 34 Dieses und das vorhergehende Beispiel verdanke ich Eva-Maria Mahr. Das Beispiel von Saint Phalle ist einer Rezension zur Ausstellung „Purer Zufall“ auf kultur.typepad.com entnommen; die Statue von Pistoletto dem Internet-Blog Epigraph. und seinem seitdem gültigen Resultat, das auf seine Weise definiert (zum „legi-sign“ codiert), in Museen ausgestellt, in Katalogen abgebildet, teuer ge‐ handelt wird, und so fort. Und der Eindruck, dass die Farben über gleich drei Rahmen hinaus zu fließen scheinen, unterstreicht die Lebendigkeit dieser Kunst aus „defigurienden“ und „konfigurierenden“ Übergängen, und betont nun den Rahmen erst recht. Er grenzt diese ästhetische Funktion in actu ab gegen andere Kontexte und andere Funktionen. Auch das folgende Bild, besser die Installation, 34 wirkt wie ein witziger Kom‐ mentar zur Erzählung von Henry James: Michelangelo Pistoletto Venere degli stacci (1967/ 1974) Dass an die Stelle eines Madonnen-Bildes eine Venus-Statue tritt, macht den Neuansatz der Ästhetik nur noch markanter. Die Kunst-Reflexionen, in denen die Stimmen der „Meister“ bei Balzac und Keller sich mit der Stimme Hegels trafen, orientierten sich ja an der Malerei der Renaissance und der antiken 205 8. Erzählte Bilder 35 E. Th. A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel, hrsg. von Wulf Segebrecht, Darmstadt 1968, S. 145-169, S. 156. 36 Ebd., S. 157. 37 Vgl. Verf., Bedeutung als unendlicher Prozess (Anm. 28), S. 156f. Plastik. Und dieses vergangene Ideal wird hier ironisch - die Ironie ist eine negative Gedanken-Figur, also eine Form der „Zerstörung“ -, die Erinnerung an den „schönen Menschen“ als Ideal der Kunst wird einer Installation von „Dingen“ konfrontiert, deren mögliche ästhetische Funktion - der Haufen von Kleidern ist ja z. B. so bunt, wie die Palette eines Malers - sich prinzipiell bei Henry James bereits abzeichnet. Ein drittes erzähltes Experiment führt zu einem erneut radikal anderen äs‐ thetischen Impuls. Das immer neu „Andere“ ist in der Tat ein Wegmarkierung zur Moderne: „Mein Bild soll nicht bedeuten sondern sein“, sagt der „Meister“, der berühmte Maler, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählung Der Artushof (1817). 35 Das hat etwas Zukunftweisendes. Denn eigentlich ist damit das Experiment der „Zerstörung“ und „Erneuerung“ der Kunst von Anfang an sowohl recht genau angesprochen als auch in eins damit sogleich theoretisch-ästhetisch ganz wört‐ lich „aufgehoben“. Die Negation aller gegenständlichen Bedeutung schlägt hier sofort um in die „Eigenrealität“, also, mit Bense gesprochen, die auf sie selbst bezogene „Indexikalität“ ästhetischer Zeichenfunktion. So wie semiotisch ge‐ sehen die ästhetischen „Zeichen ihrer selbst“ ein nur ganz offen zu interpretie‐ rendes, also ein „freies Spiel der Zeichen“ eröffnen, so soll auch die Situation, dass man den Maler bei Hoffmann, wie es heißt, in exaltiertem Zustand […] vor einer großen aufgespannten grau grundierten Lein‐ wand sitzend 36 antrifft, diese einfarbig leere Leinwand und überhaupt das Schweigen einer jeden tätigen Kunst sollen doch wohl anzeigen, dass die bloße und unbe‐ schränkte Möglichkeit von Kunst zur Sprache kommt, dass die Kunst letztlich und sozusagen ganz „rein“ im freien Spiel der Phantasie lebt. So wie der Zu‐ sammenhang zwischen der idealistisch-romantischen Ästhetik eines „freien Spiels der Einbildungskraft“, bzw. der Phantasie, und der semiotisch-ästheti‐ schen Funktion eines „freien Spiels der Zeichen“ auf der Hand liegt, 37 so kann wohl auch die Spur von diesem fiktionalen Kunst-Experiment E. Th. A. Hoff‐ manns - eine „groß aufgespannte“ einfarbige Leinwand - zur modernen, aller‐ dings jetzt voll bewussten Kunst „monochromer“ Malerei führen, zu der ja ganz wesentlich auch das „große“ Format gehört. Und so gesehen kann auch dieser 206 8. Erzählte Bilder erzählte Impuls ungegenständlicher Kunst relativ leicht weiter verfolgt werden. Nahezu 2x2 Meter groß ist etwa das Bild von Robert Ryman, Twin (1966). Lädt dieser große grau-weiße Farbraum, der ja auch den Eindruck von Tiefe vermittelt, nicht das Auge ein, sich in ihm zu verlieren und die „geschäftige Welt“ draußen zu vergessen? Sind die Maler „monochromer Bilder“ Romantiker? Das auf den ersten Blick am ehesten „romantische“ monochrome Gemälde wäre für mich dann das nahezu 2 auf 1,5 Meter große Bild von Yves Klein Yves Klein, Blue Monochrome, 1961 207 8. Erzählte Bilder 38 Ursprünglich sollte auch Émile Zolas von Balzac beeinflusster Roman L’Oeuvre (1886) hier einbezogen werden. Aber dieser Künstler-Roman, teilweise ein Schlüssel-Roman - Zola war mit vielen Malern seiner Zeit befreundet, nicht zuletzt mit Cézanne, der ihm nach Erscheinen dieses Romans die Freundschaft aufkündigte -, erzählt zwar die Zer‐ störung eines Künstler-Lebens und einer Künstler-Liebe durch die Kunst, aber er erzählt in eins damit zugleich damit auch, wie eine ganz neue Kunstrichtung entsteht und sich durchsetzt: der französische Impressionismus. Dies ist eine fertige Geschichte, nicht ein Experiment ins Unbekannte hinein. Das „Neue“ der Kunst ist für die Erzählung bereits vergangen. 39 Vgl. ausführlicher Verf., Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientie‐ rung. In: Günter Butzer / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. IV, Tübingen 2009, S. 305-337, v. a. S. 307ff. „Mein Bild soll nicht bedeuten, sondern sein“, hatte E. Th. A. Hoffmanns „Meister“ gesagt. Ist es nicht so, dass dieses Bild „Unendlichkeit“ nicht bedeutet, sondern in seine Tiefe hinein auch ist? Nach allem bisher gesagten ist auch der Bezug, also die Spur der Impulse, von Balzacs „unbekanntem Meisterwerk“ zur Kunst des 20. Jahrhunderts nicht mehr schwer zu finden. Damit komme ich zum Schluss meines Vortrags 38 und kehre an den Ausgangspunkt zurück. Das immer wieder übermalte Bild bei Balzac spielt sichtbar eine „narrative“, auf die Kunst des Erzählens bezogene Folgerung ästhetischer Sprach- und Zeichen-Funktion aus. Es spricht aus diesem Bild eine der vielen möglichen Formen ästhetischen Umgangs mit Sprache und Vorstel‐ lung, nämlich die widersprüchliche („kontrafaktische“) Logik („la logique à re‐ bours“ nach Brémond) des Erzählens selbst, dass man hier eben nicht von Vo‐ raussetzungen auf Folgen schließen kann: Alles kann aus allem folgen, jede Voraussetzung kann immer korrigiert werden. 39 Und natürlich spielt das immer neue Übermalen auch ganz direkt mit Balzacs eigenem Arbeitsprinzip, man kann es auch seine Arbeits-Obsession nennen, seine Texte während der Drucklegung und in den verschiedenen Stufen ihrer Entstehung und mehrfachen Publikation, oft auch gleich auf mehreren Druckfahnen, immer wieder neu zu be- und über‐ arbeiten. Balzac „überschrieb“ immer wieder seine Texte, er überschrieb manchmal über zwanzig Druckfahnen, genau so, und die Parallele ist fast un‐ übersehbar, wie sein „Meister“ sein Bild immer wieder übermalt. Aber das fik‐ tionale Experiment des „erzählten Bildes“ verläuft viel radikaler; und genau das macht es theoretisch interessant. Balzac erzählt eine ästhetische Funktion in actu, ausgehend von der intellek‐ tuellen Dimension (ihrer „Drittheit“) dreistellig begriffener Zeichen, fokussiert also auf die Entwicklung und Veränderung der Modalität malerischer „Aus‐ sagen“, sofern man gegenständliche Darstellungen eben als falsifizierbare „As‐ sertionen“, bzw. „dicentische“ Interpretationen, eben als „Aussagen“ lesen kann. 208 8. Erzählte Bilder 40 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (Anm. 7), S. 168. Des heißt in der Radikalität Balzacs: Jede neue Übermalung korrigiert nicht nur den Realitätsbezug der vorhergehenden, es entsteht auch eine Folge von Nega‐ tionen, die fortschreitend jeden überhaupt möglichen Bezug auf irgendeine Ge‐ genständlichkeit tilgen. Auch Balzacs Bild ist letztlich nur ganz „offen“ („proble‐ matisch“, weder wahr noch falsch, als „Rhema“, 3.1) zu interpretieren: Eine „nicht eingeschränkte Vielfalt der möglichen Bedeutungen [ist hier in der Tat] der anzustrebende Wert“. 40 Damit werden alle malerischen Zeichen: Linien, Farben, Nuancen usw., die gleichwohl, und jetzt ja erst recht, auf der Leinwand „definiert“ bleiben (legi-Zeichen), zu (indexikalischen) Zeichen ihrer selbst. Ge‐ rade Balzacs erzähltes Bild, wie das E. Th. A. Hoffmanns, aber auf ganz neue Weise, „bedeutet“ nicht, sondern „ist“. Was für Kunst lässt sich von hier aus ansprechen? Jackson Pollock, Full Fathom Five (1947) 209 8. Erzählte Bilder 41 William Shakespeare, The Tempest / Der Sturm. Englisch/ Deutsch, übersetzt und he‐ rausgegeben von Gerd Stratmann. Stuttgart 1982, S. 38f. „Strange“ sollte freilich als: „seltsam“, „kurios“, „interessant“, „neuartig“ verstanden werden. Dieses Bild, in dem man in der Tat und auf den ersten Blick eine faszinierende, künstlerisch lebendige „Wand von Farbe”, eine „Wand von Malerei“ erkennen kann, ist zugleich fast so etwas wie ein rückblickender Kommentar zu meiner ästhetisch-theoretischen Lektüre der Balzac-Erzählung. Manche sehen hier ein übermaltes Portrait, was der Titel Full Fathom Five ja auch nahe legt. Denn er spielt an auf eine der bekanntesten Stellen der englischen Literatur, Ariel’s Song aus dem I. Akt, 2. Szene von Shakespeares The Tempest / Der Sturm (1611 erstmals aufgeführt, 1623 gedruckt): Full fadom five thy father lies; Of his bones are coral made; Those are pearls that were his eyes; Nothing of him that doth fade, But doth suffer a sea-change Into something rich and strange. Fünf Faden tief dein Vater ruht; Korallen wird nun sein Gebein, Aus seinen Augen wird Perlmutt: Was vergänglich und gemein, Ward gewandelt durch das Meer Zu Kostbarkeiten, reich und schwer. 41 Ein „sea-change“, eine „Verwandlung durch das Meer“, wie Tod und Wiederge‐ burt, Zerstörung und Erneuerung, ist seitdem im Englischen ein Wort für eine totale Metamorphose. Und der Umstand, dass Ariel hier eine Lüge vorträgt, Ferdinands Vater ist ja keineswegs ertrunken, eine Phantasmagorie in der großen Phantasmagorie dieses Stückes, macht die Bedeutung dieses „Gesangs“ allgemein und grundsätzlich: „Nichts vergeht, aus allem entsteht etwas inter‐ essant und wertvoll Neues - strange and rich“. Ein kühnes Programm der Re‐ naissance und ein Bekenntnis zum generativ Neuen und Unbekannten in der Kunst: So könnte zumindest Jackson Pollock seinen Bildtitel Full Fathom Five verstanden haben, und - in aller Bescheidenheit - um die „Zerstörung“ gegen‐ ständlicher Kunst und ihren „seachange“ zu Formen des „offenen Kunstwerks“, um eine „Metamorphose der Ästhetik“ war es mir in meinem Vortrag gegangen. Wie auch immer, nun also mein letzte Beispiel: 210 8. Erzählte Bilder 42 Wolfgang Iser, Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen (Anm. 26), S. 26. 43 Max Imdahl, Die Kunst der Moderne (zitiert nach Iser, Anm. 26), S. 27. Jackson Pollock, One. Number 31 (1950) Dieses Bild lässt vielleicht noch deutlicher an Balzacs Erzählung denken: künst‐ lerisch durchkomponierte „gehäufte Farben“, die „eine Vielzahl bizarrer Linien“ durchzieht. Auf alle Fälle bedeutete seinerzeit die assoziative Verbindung solcher Kunst mit Balzacs Unbekanntem Meisterwerk den entscheidenden „Click“ in meinem Kopf und letztlich den Anstoß zu diesem Projekt. Auch wenn man, wie ich damals, nicht wüsste, dass Jackson Pollocks Bilder tatsächlich aus mehreren technisch variierenden „Übermalungen“ entstanden sind, ein „polyfokales all-over“, 42 ist das nicht jedes Mal wieder aufs Neue eine „antikompositionelle [also offene] Bedeutungsstruktur“, die in der Tat, so ein kompetenter Kunsthis‐ toriker, wie „eine unübersichtliche Wand“ wirkt? 43 Hat Pollock nicht letztlich technisch und im Resultat als voll bewusste Kunst das gemalt, was Balzac ent‐ worfen hat, eine immer wieder neu faszinierende „muraille de peinture / eine Wand gemalter Farbe“? Und so führt Balzacs Erzählung von der „Aporie des Realismus“ anschaulich zur Kunst der Moderne. 211 8. Erzählte Bilder Abbildungsverzeichnis Percy Robert Craft, Tucking A School Of Pilchards (1897) . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Piet Mondrian, Composition 1 (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Piet Mondrian, Composition and Color Planes V (1917) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Theo von Doesburg (C. E. M. Küpper), Rhythm of a Russian Danse (1918) . 202 Niki de Saint Phalle Old Master (1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Michelangelo Pistoletto Venere degli stacci (1967/ 1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Robert Ryman, Twin (1966). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Yves Klein, Blue Monochrome, 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Jackson Pollock, Full Fathom Five (1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Jackson Pollock, One. 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Küpper) 202 Dos Passos, John 35, 78 Dostojewski, Fjodor 35, 103 Dreyser, Theodor 40 Eco, Umberto 179, 190, 191, 195, 196, 201 Eliot, George (Mary Ann Evans) 23, 39, 44, 145 Fassbinder, Rainer Werner 114 Faulkner, William 16, 17, 35, 78, 94, 103, 139, 142, 153, 154, 155, 156, 163, 166, 168, 169 Faulks, Sebastien 104, 105, 106, 109 Feuchtwanger, Lion 79 Flaubert, Gustave 80, 102, 138, 139, 142, 147, 148, 163 Fontane, Theodor 13, 16, 17, 23, 25, 29, 31, 34, 38, 41, 44, 45, 111, 112, 114, 116, 117, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 139, 140, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 163 Gide, André 35, 78 Gissing, George 54, 60, 111, 126 Hardy, Thomas 15, 23, 25, 35, 47, 55, 66, 68, 111, 126 Hauptmann, Gerhart 15, 30, 49, 50, 52, 53, 55, 58, 59, 60, 64, 66, 67, 68, 69, 72, 132 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 96, 191, 192, 193, 205 Hoffmann, Ernst Th. A. 82, 187, 188, 189, 198, 206, 208, 209 Holz, Arno 49, 50, 52, 54, 56, 63, 64, 66, 67, 70, 111, 132 Hulme, T.E. 8, 9, 10 Ibsen, Henrik 49, 50, 52, 55, 58, 70, 111, 145 Iser, Wolfgang 27, 197 James, Henry 39, 103, 145, 187, 188, 189, 198, 203, 204, 205, 206 Johnson, Uwe 135, 136, 139, 142, 153, 154, 155, 156, 157 Joyce, James 9, 10, 16, 34, 35, 78, 80, 103 Kant, Immanuel 45, 133, 198 Keller, Gottfried 7, 8, 9, 15, 16, 17, 26, 31, 32, 34, 36, 37, 67, 80, 187, 188, 189, 191, 192, 193, 194, 195, 198, 199, 202, 205 Klein, Yves 207 Kretzer, Max 60 Lemaitre, Pierre 170, 171, 174, 177, 179, 182, 183, 185 Lukács, Georg 24 Mann, Heinrich 152, 153 Mondrian, Piet 200, 201 Morrison, Toni 171 Nadolny, Stan 182 Nietzsche, Friedrich 102 Peirce, Charles S. 197, 198, 199 Pistoletto, Michelangelo 199, 205 Poe, Edgar Allen 82, 142, 178 Pollock, Jackson 210, 211 Pound, Ezra 9, 74 Proust, Marcel 9, 24, 34, 35, 78, 80, 97, 103 Raabe, Wilhelm 13, 17, 20, 23, 25, 35, 47, 67, 77, 98, 117, 133, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 173, 174, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 216, 219 Ransmayr, Christof 179, 182 Rilke, Rainer Maria 8, 9, 10 Rimbaud, Artur 71 Roth, Josef 150, 153 Ryman, Robert 207 Saar, Ferdinand von 149 Saint Phalle, Niki de 204, 205 Schlink, Bernhard 161 Schnitzler, Artur 149 Scott, Walter 97, 137, 138, 139, 142, 143, 147, 148, 153, 156, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169 Shakespeare, William 210 Stendhal (Henri Beyle) 36, 138, 139, 142, 143, 147, 148, 156 Stifter, Adalbert 189 Strindberg, August 53, 58, 66, 68 Swift, Graham 166, 167, 168, 169, 170, 171, 173, 174, 178, 181 Timm, Uwe 168, 169, 170, 177, 179, 182, 183, 185 Tournier, Michel 160, 179, 181, 185 Tschechow, Anton 53 Unsworth, Barry 159, 161, 164, 168, 169, 185 Verga, Giovanni 15, 30, 40, 55, 64, 69, 111, 127 Whitman Walt 71 Zola, Émile 72, 74, 82, 100, 103, 111, 121, 122, 123, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 187, 189 224 Autorenregister ISBN 978-3-7720-8689-2 Das Buch sammelt in übersichtlichen Thesen Erträge langjähriger vergleichender Forschung zum Europäischen Realismus und Naturalismus. Die beiden Epochen sind, wie viele Beispiele zeigen, ganz unterschiedlich strukturiert und eröffnen immer wieder verschiedene ‚realistische Wege zur Moderne‘. So lassen sich beispielsweise die ‚feinen Erzählfäden‘ finden, die Fontane mit dem Europäischen Naturalismus verbinden. Die Frage nach Vorwegnahmen der Moderne im realistischen Erzählen bildet den zweiten Schwerpunkt der hier gesammelten Aufsätze: Balzacs Comédie humaine erweist sich je nach Blickwinkel zugleich als beispielhaft realistisches und bereits modernes, ‚polyhistorisch‘ offenes Werk. Fontanes Kunst der ‚Leerstellen‘ weist wesentlich auf das Zwanzigste Jahrhundert voraus. Oft finden sich in der Literatur des Europäischen Realismus plötzliche, kurze, etwa symbolistische, impressionistische, ja expressionistische bis hin zu surrealistischen Passagen. Es gibt aber auch umfangreiche und bereits klare Erzählmuster für einen Weg zur Moderne: etwa das Umschlagen naturalistischer ‚Totalisierungen‘ in Abstraktion und ein kreativ ‚Unbekanntes‘, oder das ‚Chaos der Zeichen‘ bei Raabe und dessen verblüffende Ähnlichkeit zu vielen zeitgenössischen Autoren, oder die ‚Impulse der Innovation‘, die sich in den Erzählungen zerstörter Bilder bei Balzac, Keller, Henry James und anderen abzeichnen, und die dann im Bezug zur bildenden Kunst der Moderne überraschend deutliche Konturen gewinnen.