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Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

2020
978-3-7720-5695-6
A. Francke Verlag 
Sarah Bowden
Manfred Eikelmann
Stephen Mossman
Michael Stolz

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine internationale Tagung zurück, die 2017 in Manchester stattgefunden hat. Sie untersuchen die Darstellung von Geschichte in der mittelalterlichen deutschen Literatur auf der Basis von aktuellen erzähltheoretischen Forschungsansätzen. Dabei wird ein breites Spektrum an Texten, Gattungen und Diskursen in den Blick genommen; als Angelpunkt für zahlreiche relevante Fragestellungen erweist sich die im 12. Jahrhundert entstandene >Kaiserchronik<. Geleitet von der Erkenntnis, dass Vergangenheit erst im Erzählen zu Geschichte wird, analysieren die Beiträge einschlägige narrative Strategien.

Geschichte erzählen Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz (Hrsg.) Geschichte erzählen Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter XXV. Anglo-German Colloquium, Manchester 2017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung . © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8695-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5695-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0122-2 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz Einleitung. Geschichte erzählen und Narrativierung von Vergangenheit . . . . . . . . . . 11 Die Kaiserchronik als Paradigma Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Arbeit am Text. Die drei Fassungen der Kaiserchronik in der Überlieferung am Beispiel von Tarquinius und Lucretia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Jan-Dirk Müller Die andere Kaiserchronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Christoph Pretzer Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Elke Brüggen Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner. Zur Konstruktion von Geschichte in der Kaiserchronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Silvia Reuvekamp Wahrheit (er)finden? Zur Bedeutung topischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg . 89 Bettina Bildhauer Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik . . . . . 107 Strategien heilsgeschichtlichen Erzählens in der Volkssprache Christina Lechtermann Am Anfang - der Kuss. Erzählen vom Ereignishaften in der Erlösung . . . . . . . . . . . . 121 Mary Boyle und Annette Volfing Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Rabea Kohnen Lebensgeschichte / Heilsgeschichte. Erzählen von Figuren der Bibel am Beispiel Johannes des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Cora Dietl Traktat, Predigt oder Historia? Der Prosatraktat Vom Antichrist zwischen Konstruktion heilsgeschichtlichen Wissens und Paränese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6 Inhaltsverzeichnis Narrative Organisation und Konzeptualisierung von Geschichte Sandra Linden Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen. Prologaussagen in der volkssprachigen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Mathias Herweg Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom: Heinrich von Veldeke erzählt Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Almut Schneider Bild und Geschichte. Der Wunderbaum in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg . . 229 Nine Miedema Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Henrike Manuwald Pilatus als Richter des Stephanus? Zum Geschichtsbewusstsein in Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Linus Ubl Verschichten von Geschichte(n). Metachronikalisches Erzählen als Narrativierungsstrategie in den Excerpta Chronicarum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Henrike Lähnemann Biblische Geschichte für den Druck. Die Vier Historien (Bamberg 1462) . . . . . . . . . . . 299 Erzählen von Geschichte als Identitätsstiftung Gerhard Wolf Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln . . . . . . . . . . . . 323 Ricarda Bauschke Literarisierung und Komisierung von Geschichte. Le Voyage de Charlemagne . . . . . . 341 Cordula Kropik ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung. Beobachtungen zu einer Form lyrisch-historischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Julia Frick ‚Alternative Fakten‘. Narrativierung von Vergangenheit am Beispiel des Trienter Judenprozesses (1475) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Geschichtsschreibung im historischen Kontext Len Scales The Hohenstaufen and the Shape of History . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Anne Simon Da ward Carolus lachen. Kaiser Karl IV., die Nürnberger Geschichtsschreibung und der Hauptmarkt Nürnbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Inhaltsverzeichnis 7 Stefan Matter Auf dem Turnierplatz der Geschichte. Überlegungen zu Maximilians Freydal . . . . . 435 Almut Suerbaum Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Apocalypsis Johannis-Blockbuch (Ausgabe I, 1. Stand), um 1450-52 (Manchester, John Rylands Library, Blockbook 3103) Vorwort Vom 6. bis 10. September 2017 fand an der Universität Manchester das 25. Anglo-German Colloquium zum Thema ‚Geschichte erzählen: Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters‘ statt. Die Fachtagung, deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden, hatte sich das Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters zu bilanzieren und neu zu erarbeiten. Geschehen ist dies auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder. Gegenüber der weit gediehenen Diskussion zur Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen rückt so wie schon die Tagung nun auch dieser Tagungsband Texte, Gattungen und Diskurse in den Blickpunkt, anhand deren sich die für die volkssprachliche Literatur spezifischen Strategien und Verfahren des Erzählens von Vergangenheit diskutieren lassen. Dabei ist die leitende Annahme, dass auch solche Erzählungen sprachlichliterarisch ‚konstruiert‘ sind, die sich nach dem eigenen Anspruch auf faktuale Ereignisse der Vergangenheit beziehen. Unter diesem Vorzeichen schließen die Beiträge zugleich an aktuelle narratologische Forschungen an, indem sie untersuchen, wie Vergangenheit erst im Erzählen zu Geschichte wird und welche komplexen Formen erzählerischer Organisation - von der Auswahl und Anordnung der erzählten Ereignisse über die Gestaltung der diegetischen Zeit und der Erzählstimme bis zum Stiften kollektiver Identität - von Fall zu Fall geschaffen werden. Bereits 1983 hatte das Anglo-German Colloquium mit einer Tagung zur älteren Debatte über das Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters beigetragen. 1 Und obwohl sich das Konzept von Geschichte vor dem Hintergrund narratologischer Forschungen in der germanistischen Mediävistik stark weiterentwickelt hat, war es den in Manchester versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Anliegen, ihr aktuelles Forschungsthema im Wissen um diesen für die Tradition der Colloquien beispielhaften Vorgängerband zu erörtern. Angesichts des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stand das Colloquium in Manchester zugleich unter wissenschaftspolitischen Vorzeichen. Die intensive Zusammenarbeit auf der Tagung hatte daher nicht zuletzt das Ziel, den in der scientific community unverminderten Willen zur Fortsetzung der internationalen Kooperation wirksam zu signalisieren. Die Herausgeberin und Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung dafür, dass sie sowohl die Tagung in Manchester als auch die Drucklegung des Tagungsbandes großzügig unterstützt hat. Die Bereitschaft, eine Tagung außerhalb des deutschsprachigen Raums zu fördern, ist keineswegs selbstverständlich - dafür fühlen wir uns der Stiftung in besonderem Maße verpflichtet. Das John Rylands Research Institute finanzierte den öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library. Für die zu jeder Zeit konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung des Bandes danken wir gerne dem Francke-Narr-Verlag in Tübingen und namentlich Tillmann Bub, der den Entstehungsprozess stets mit viel Geduld und gutem Rat äußerst kundig begleitet hat. Sarah Bowden Manfred Eikelmann Stephen Mossman Michael Stolz 1 Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Kolloquium 1983, hg. von Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer und Burghart Wachinger, Tübingen 1985. Einleitung 11 Einleitung Geschichte erzählen und Narrativierung von Vergangenheit Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz Mit seiner einflussreichen Monographie Metahistory von 1973 rückte der Historiker Hayden White die Geschichtsschreibung konsequent in den Blick der Erzählforschung. 1 Er löste damit in der modernen Geschichtswissenschaft eine mitunter vehement geführte Debatte zu den grundlegenden sprachlichen Strukturen und dem Wahrheitsanspruch erzählender Historiographie aus, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Bewirkt haben die Überlegungen eine neue Offenheit der Geschichtswissenschaft gegenüber literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (linguistic turn), auch wenn etwa in der Erzählforschung seit einigen Jahren eine differenzierende und in den grundsätzlichen Fragen kritische Diskussion der poststrukturalen Prämissen Whites zu verzeichnen ist. 2 Dieser Band und die ihm vorausgehende Tagung knüpfen an jene Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Geschichte und Literatur an, beziehen sich aber zugleich auf zwei weitere, im Folgenden erläuterte Diskussionsfelder, was es ermöglicht, den Problembezug des Themas sachlich wie methodisch zu konkretisieren. 1. Erzählen mit historischem Wahrheitsanspruch: Für den im Band untersuchten Gegenstand ist der in der germanistischen Mediävistik seit Ende der 1970er Jahre grundlegend erweiterte Literaturbegriff zentral. 3 Er hat das Fach von der Beschäftigung mit einem bewährten Literaturkanon zur Erschließung neuer Texttraditionen und Gattungen geführt. Exemplarisch für diese Erweiterung des in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons dokumentierten Text- und Wissenshorizontes ist die volkssprachliche Geschichtsschreibung des 1 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/ London 1973; deutsche Ausgabe: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1994. 2 Für mittelalterliches Erzählen vgl. Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur“, in: ders., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/ New York 2010, S. 83-108; Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien, Berlin 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), S. 17-22; zum Konzept von Geschichte und Geschichtsschreibung Andreas Kablitz, „Geschichte - Tradition - Erinnerung? Wider die Subjektivierung der Geschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 220-237; Gert Melville, „Durch Fiktionen von der Wirklichkeit zur Wahrheit. Zum mittelalterlichen Umgang mit Widersprüchen zwischen Empirie und kultureller Axiomatik“, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, hg. von Ursula Peters und Rainer Warning, Paderborn 2009, S. 83-104. 3 Kurt Ruh, „Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte“, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. von dems., Tübingen 1985 (TTG 19), S. 262-272. 12 Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz hohen und späten Mittelalters. 4 Denn obwohl das Erzählen von Geschichte lange Zeit ein Randphänomen der Forschung war, liegt inzwischen eine ganze Reihe gründlicher Studien zu den Welt-, Landes-, Städtesowie Ordens- und Hauschroniken des 12. bis 15. Jahrhunderts vor. 5 Für die Erforschung des historischen Erzählens ist dies umso wichtiger, als nun komplementär zur intensiv erforschten volkssprachlichen Heldenepik, die ihrerseits als Vorzeitkunde gilt, eine genuin schriftliterarische Tradition der Geschichtserzählung mit hohem Forschungspotential verfügbar ist. Wie diese beiden Gattungen beispielhaft zeigen, ist historisches Erzählen an dem von Fall zu Fall anders begründeten Anspruch erkennbar, auf eine außertextuelle Wirklichkeit zu referieren, die von Einzelnen, einer Gruppe oder Gemeinschaft als faktuale Vergangenheit betrachtet wird. Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass Texte, die Geschichte erzählen, sprachlich-literarisch gestaltet und durchaus auch ‚Konstrukte‘ sind, ist das für sie wesentliche Kennmerkmal doch der von ihnen erhobene Anspruch, historische Wirklichkeit darzustellen, nicht aber eine fiktionale Welt, für die der Bezug auf eine als ‚wahr‘ angenommene Realität außerhalb des Textes gerade kein notwendiges Kriterium ist. 6 Das aber heißt: Obwohl frühe mittelhochdeutsche Texte wie das Annolied und die Kaiserchronik nach ihrem eigenen Anspruch Geschichte darstellen, also res gestae erzählen und sich als historia rerum gestarum verstehen, sind sie zugleich Dichtung, die in ihrer literarischen Form wahrgenommen sein will. 7 Auch die mittel- und frühneuhochdeutschen Heldenepen und Chroniken „folgen auf Schritt und Tritt Mustern, wie sie in literarischen Fiktionen ausgebildet wurden“, und „dennoch erheben sie den Anspruch, Aussagen über die Vergangenheit zu machen.“ 8 Im Sinne dieser gegenüber den Thesen Whites differenzierenden Position geht es im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht mehr um die Frage, ob Geschichte ‚konstruiert‘ ist, sondern darum, wie die im historischen Erzählen geschaffenen ‚Konstrukte‘ angelegt und gemacht sind und wie das Erzählen von Vergangenheit narrativ organisiert ist. 4 Die deutsche Literatur des Mittelalters - Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Auflage, hg. von Kurt Ruh u. a., 14 Bde, Berlin 1978-2008. 5 Verwiesen sei dafür auf die Überblicksartikel im Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott, Berlin/ Boston 2016; weiterhin Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachlichen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern u. a. 1980 (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 5); Jürgen Wolf, Die sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption, München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 75); Dorothea Klein, Studien zur ‚Weltchronistik‘ Heinrichs von München, 3 Bde, Wiesbaden 1998 (Wissensliteratur im Mittelalter 31); Gerhard Wolf, Von der Chronik zum Weltbuch. Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters, Berlin/ New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 18); Mierke (wie Anm. 2); Johannes Dickhut-Bielsky, Auf der Suche nach der Wahrheit in ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘. Poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtungen, Stuttgart 2015 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beiheft 23); Ina Serif, Geschichte aus der Stadt. Überlieferung und Aneignungsformen der deutschen Chronik Jakob Twingers von Königshofen, Berlin/ Boston 2020 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 11). 6 Vgl. dazu Stephan Jaeger, „Erzählen im historiographischen Diskurs“, in: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. von Christian Klein und Matías Martínez, Stuttgart 2009, S. 110-135. 7 Vgl. etwa die neueren Überlegungen zum exemplarischen Erzählen in der Kaiserchronik: Udo Friedrich, „Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik“, in: Poetica 47 (2016), S. 1-24; Mathias Herweg, „Geschichte erzählen. Die ‚Kaiserchronik‘ im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens)“, in: ZfdA 146 (2017), S. 413-443. 8 Müller (wie Anm. 2), S. 87. Einleitung 13 Aus textheuristischen Gründen ist das Erzählen von Geschichte mit diesem Verständnis zwar auf das breite Spektrum volkssprachlicher Erzählungen mit historiographischem Anspruch bezogen, doch wird es forschungsstrategisch durch die Bevorzugung solcher Gattungen und Einzeltexte spezifiziert, bei denen zu erwarten ist, dass sie im skizzierten Bezugsrahmen eine neue Perspektivierung erfahren können: großepische Gattungstraditionen wie Antikenroman, Artusroman, Bibelepos, Reim- und Prosachronik, Kleinformen wie Exempla und Apophthegmata, nicht zuletzt zentrale Einzelwerke, in denen - wie im Annolied, in Heinrichs von Veldeke Eneasroman oder Konrads von Würzburg Trojanerkrieg - das Erzählen von Geschichte konstitutive Bedeutung erlangt. 2. Anknüpfungspunkte in der Erzählforschung: Prüft man die aktuelle Forschung zur mittelalterlichen deutschsprachigen Erzählliteratur, so fällt auf, dass narratologische Analysen ganz vorwiegend weltlichen Texten, etwa der mittelhochdeutschen Heldenepik, insbesondere jedoch den höfischen Romanen des 12./ 13. Jahrhunderts gewidmet sind. Alternativ dazu verfolgt der Band das Ziel, diese Text- und Beobachtungsbasis auszuweiten und speziell Erzählungen mit weltreferentiellem, d. h. historischem Wahrheitsanspruch narratologisch zu untersuchen. Das Thema ist dabei so angelegt, dass Fragen der Fiktionalität und Faktualität nicht weiter berührt sind, da sie noch in jüngster Zeit Gegenstand mehrerer einschlägiger Studien und Sammelbände waren. 9 Vielmehr werden Fragestellungen der jüngeren Erzählforschung weiterverfolgt, die über die fiktionale Literatur hinausgehen und verstärkt faktuale ‚Wirklichkeitserzählungen‘ in den Blick nehmen. Zentral sind insbesondere zwei bisher erst für im engeren Sinne literarische Texte erprobte Ansätze. Erstens die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzählforschung, die ‚Kulturen‘ als Netze von Narrativen versteht und Erzählmustern grundlegende Bedeutung für die Produktion von Literatur zuschreibt. 10 Zweitens die systematische Beschreibung von Erzählstrategien und Erzählverfahren, wie sie namentlich für den höfischen Roman geleistet wurde. 11 Unter dieser doppelten Perspektive geht es um eine Weichenstellung, wie sie Stephen Jaeger im Schlussargument seiner Besprechung von Albrecht Koschorkes Monographie Wahrheit und Erfindung vorgeschlagen hat, indem es gilt, „statt auf das Allgemeine [den] Schwerpunkt auf das […] Singuläre bzw. Besondere des Erzählens [zu] legen“. 12 Denn während die 9 Vgl. insbesondere Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19); Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von Johannes Laudage, Köln u. a. 2003 (Europäische Geschichtsdarstellungen 1); Zwischen Fakten und Fiktionen. Literatur und Geschichtsschreibung in der Vormoderne, hg. von Merle Marie Schütte, Kristina Rzehak und Daniel Lizius, Würzburg 2014 (Religion und Politik 10); Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Monika Fludernik, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner, Würzburg 2015 (Faktuales und Fiktionales Erzählen 1). 10 Dazu Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 2012, S. 29-38, zum mittelalterlichen Erzählen Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin u. a. 2 2015, S. 159-291. 11 Vgl. dazu die methodischen Überlegungen und Beispielanalysen bei Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ,Iwein‘ und im ,Tristan‘, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44); weiterhin Schulz (wie Anm. 9); Friedrich Michael Dimpel, „Perspektivierung, Fokalisierung, Fokussierung und Sympathiesteuerung zur Einführung. Mit Beispielanalysen zum ‚Erec‘ Hartmanns von Aue“, in: IASLonline [11.05.2012], http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vor gang_id=3623 (letzter Zugriff: 06.04.20); Silvia Reuvekamp, „Hölzerne Bilder - mentale Modelle? Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie“, Diegesis 3 (2014), S. 112-130. 12 Stephen Jaeger, „Rezension zu: Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“, Seminar 50 (2014), S. 233-236, hier S. 236. 14 Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz Diskussion um die Narrativität von Geschichte und die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen weit fortgeschritten ist, stellen konkrete und über Einzelanalysen hinausweisende Untersuchungen von Strategien und Verfahren der Narrativierung von Geschichte in volkssprachigen Erzählungen mit historischem Wahrheitsanspruch nach wie vor ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Zurückgegriffen werden kann und soll auf ein methodisches Instrumentarium, das zwar vorwiegend für die Analyse im engeren Sinne literarischer Texte entwickelt wurde, dessen Anwendbarkeit auf Gattungen nicht primär literarischen Erzählens aber noch erst zu diskutieren und dessen Historisierung zu erproben ist. Nimmt man für historisches Erzählen nicht von vornherein einen geringeren Grad narrativer Komplexität an, stellt sich nämlich die Frage nach den Spezifika, die sich aus einer im Wirklichkeitsanspruch gründenden Erzählweise ergeben, grundsätzlich neu. Nachzuspüren ist in diesem Zusammenhang einer Vielzahl von Aspekten: So der Semantisierung und Funktionalisierung literarischer Muster in wechselnden Kontexten, den Möglichkeiten der Besetzung der Erzählstimme und ihrer Darbietung im Verlauf der Narration, den Verfahren der kognitiven Rezeptionslenkung, der Relevanz perspektivischen und perspektivierenden Erzählens, den Gestaltungsprinzipien diegetischer Zeit, den Techniken kollektiver Identitätsbildung, den im Erzählen verhandelten Formen kulturellen Wissens sowie nicht zuletzt der metaisierenden Selbstthematisierung des Erzählens. Zur Einlösung dieses Forschungsdesiderats will der Band dadurch beitragen, dass er sein Thema zunächst exemplarisch in historischen Fallstudien zur Kaiserchronik und zur Heilsgeschichte angeht und danach systematisch nach den Strategien der Narrativierung von Vergangenheit fragt. Am Anfang steht der Beitrag der Cambridger Mediävisten Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young, die ein mehrjähriges Projekt in britisch-deutscher Zusammenarbeit zur Neuedition der Kaiserchronik durchgeführt haben. 13 In ihrem Beitrag bewerten sie die reiche Überlieferung der vor 1150 verfassten Kaiserchronik auf dem aktuellen Stand der Forschung neu und demonstrieren am Beispiel der Tarquinius- und Lucretia-Viten, dass gegenüber dem ‚alten‘ Text (A, um 1150) die zwei späteren Fassungen der Dichtung (B um 1200, C nach 1250) als Neubearbeitungen und literaturgeschichtlich als eigenständige Werke zu gelten haben. Durch die Konzentration auf die im Vergleich der drei Fassungen unterschiedlichen narrativen Techniken, mit denen die ‚Autoren‘ am Text der Kaiserchronik arbeiten, bietet der Beitrag einen überlieferungs- und textgeschichtlichen Einstieg in den ersten Themenblock, der sich der Kaiserchronik als Paradigma widmet. Die Kaiserchronik ist ein frühes volkssprachliches Beispiel für die Überformung laikalen Geschichtswissens durch Konzepte und Praktiken der lateinisch-gelehrten Historiographie sowie durch biblische Modelle von Weltgeschichte (Weltreichelehre, Typologie). Allerdings sucht die Forschung nach wie vor nach einem einzigen narratologischen und epistemischen Deutungsschlüssel, der es erlaubt, das heterogene Text-, Erzähl- und Wissenskonglomerat der Chronik aufzuschließen. 14 Zwei Beiträge setzen bei diesem grundsätzlichen Problem an 13 https: / / www.mmll.cam.ac.uk/ german/ research/ kaiserchronik (letzter Zugriff: 06.04.20); Kaiserchronik digital: https: / / digi.ub.uni-heidel-berg.de/ de/ kcd/ index.html (letzter Zugriff: 05.05.20). 14 Für die aktuell außergewöhnlich intensive Diskussion zur Kaiserchronik vgl. Christiane Witthöft, Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich-jüdische Disputation in der Silvesterlegende der ›Kaiserchronik‹, in: Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 291-310; Alastair Matthews, The Kaiserchronik. A Medieval Narrative, Oxford 2012; Einleitung 15 und entwickeln neue Lösungen: Jan-Dirk Müller (München) geht von Textpassagen aus, die sich - so wie die Darstellung der Welt vor Caesar und die biblische Daniel-Prophezeiung - dem chronologischen und geschichtstheologischen Gesamtkonzept der Kaiserchronik entziehen. Es gelingt ihm, das Zeitkonzept der Episoden herauszuarbeiten und eine ‚ältere‘ Schicht des Erzählens von Geschichte freizulegen, die Ereignisse der Vergangenheit nicht chronologisch und faktenbeschreibend, sondern - anders als gelehrte Geschichtsschreibung - in ihrer Bedeutsamkeit darstellt. 15 Unter anderen methodisch-theoretischen Prämissen skizziert Christoph Pretzer (Oxford) alternativ eine Interpretation, wonach das Erzählen in der Kaiserchronik ihren Erfolg nicht aus einem in sich kohärenten Erzählplan, sondern aus einer pluralen Vielfalt der Erzählansätze gewinnt. Deren dominanter Gestaltungsfaktor seien die Einzelepisoden und exemplarische Erzählweisen, obwohl auch gelehrte Verfahren eine Rolle spielen. Hier schließen drei Analysen an, die sich speziell mit der narrativen Organisation der Kaiserchronik auseinandersetzen. Elke Brüggen (Bonn) analysiert die Ebene der Figurenzeichnung und fragt in nuancierter Analyse, mit welchen Effekten die Gegner des römischen Reichs in der Caesar-, Tarquinius- und Severus-Vita dargestellt werden. Narrativierung von Geschichte, so ihr Ergebnis, arbeitet mit unterschiedlichen Verfahren, zu denen die Dynamisierung des Erzählplots, die Strukturierung der Figurenbeziehungen, doch auch intra- und intertextuelle Verknüpfungen und das Kombinieren von Erzählmustern gehören. Silvia Reuvekamp (Münster) erörtert die Bedeutung topisch-exemplarischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und in Konrads Trojanerkrieg. In Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungsansätzen zeigt sie am Beispiel der Lucretia-Erzählung zunächst die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Geschichtskonzeption, um dann differenzierend zu klären, inwiefern sich die Figurengestaltung der Lucretia in der Kaiserchronik und des Jason im Trojanerkrieg zu einer Geschichtsdarstellung noch in den Grenzen einer exemplarischen Sinnbildung bewegt, einer Darstellungsweise, die mit seriellen Wiederholungen arbeitet und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Erzählens selbst lenkt. Bettina Bildhauer (St Andrews) behandelt die metanarrativen Passagen in der Kaiserchronik und rückt insbesondere die textile Netz- und Webmetaphorik in den Blick, wie sie in der viel diskutierten Severus- und Adelger-Episode 16 mit der Binnenerzählung vom gegessenen Hirschherzen zu fassen ist. Ihre anregende Interpretation gilt Uta Goerlitz, (Un-)Wahrheit und (Nicht-)Erinnern. Erzählen ‚ze diute‘ in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik, in: Damnatio in memoria. Deformation und Gegenkonstruktionen in der Geschichte, hg. von Sebastian Scholz, Gerald Schwedler und Kai-Michael Sprenger, Köln u. a. 2014, S. 225-242; Mark Chinca/ Christopher J. Young, „Uses of the Past in Twelfth-Century Germany: The Case of the Middle High German Kaiserchronik“, in: Central European History 49 (2016), S. 19-38; Die ,Kaiserchronik‘. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen chrônicâ, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017; Studien zur ,Kaiserchronik‘, in: ZfdA 148/ 2 (2019); Mathias Herweg, ‚Buch der Anfänge‘ - oder was die ,Kaiserchronik‘ der höfischen Literatur in die Wiege legt, in: ZfdA 148 (2019), S. 209-236; Christoph Petersen, Die ‚Kaiserchronik‘ und der deutsche Adel, in: PBB 141 (2019), S. 182-224; Erzählen von Macht und Herrschaft. Die ‚Kaiserchronik‘ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung, hg. von Elke Brüggen, Göttingen 2019 (Macht und Herrschaft 5). 15 Vgl. auch Jan-Dirk Müller, ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), insbes. S. 313-322. 16 Vgl. zuletzt auch Mathias Herweg, „Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), S. 281-302, hier S. 296-302. 16 Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz dem in der Tierfabel angelegten poetologischen Modell für die Rezeption der Erzählung und damit das Verstehen von Geschichte. Nach der Konzentration auf die Kaiserchronik befassen sich zwei Beiträge mit heilsgeschichtlichen Narrativen, indem sie das Erzählen von Geschichte zunächst unter dem Aspekt der Zeitlichkeit betrachten. Christina Lechtermann (Frankfurt am Main) untersucht narrative Inszenierungsformen von Zeit und Ereignis in der Erlösung, einer heilsgeschichtlichen Dichtung aus dem 14. Jahrhundert. Dabei geht es ihr um einen aus einer Bibelstelle in den Psalmen (Ps. 84,11) entwickelten ‚Streit der Töchter Gottes‘ über die (Un-)Erlösbarkeit der Menschheit nach dem Sündenfall, der mit jeweils wechselnden Positionen zwischen der personifizierten Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden ausgetragen wird. Der Versöhnungskuss von Gerechtigkeit und Frieden, der den Streit beendet, steht am Anfang der Erzählung. Von dieser besonderen Konturierung her erhellt der Beitrag die narrative Organisation von Vorher-Nachher-Verhältnissen und Wiederholungen, doch auch das Verhältnis von Allegorie, Offenbarung und Verkündigung. Im Rahmen der Begriffstrias ‚imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte‘ untersuchen Mary Boyle (Oxford) und Annette Volfing (Oxford) anachronistische Verfahren der literarischen Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte. Das zentrale Ergebnis ihrer Analyse ist, dass so unterschiedliche Textsorten wie mystische Prosa, geistliches Spiel und Bibelepik eigene Strategien verfolgen, um die lineare Struktur geschichtlicher Zeit zugunsten der Präsenz religiöser Erfahrung aufzuheben. Die anschließenden Beiträge widmen sich dem biographischen und typologischen Erzählen im biblischen und heilsgeschichtlichen Kontext. Rabea Kohnen (Wien) fragt nach den in der Bibel erzählten Lebensgeschichten, für die es bezeichnend sei, dass sie durch ein übergeordnetes Verständnis von Geschichtlichkeit und Heilsgeschichte verbunden sind. Am Beispiel Johannes des Täufers, einer durch ihre Konkurrenz zu Jesus ambivalente Gestalt, analysiert sie so am Beispiel der volkssprachigen Evangelien-Bearbeitungen im Passional und in der Saelden hort die Doppelheit von biographischem und heilsgeschichtlichem Erzählen. Gerade für das Verständnis von Heilsgeschichte erweist sich der Ansatz als lohnend, da sich zeigt, wie komplex biographisches und geschichtlich-theologisches Erzählen zusammenspielen, um religiöses Heil als überzeitliche Wahrheit zu erzählen. Cora Dietl (Gießen) analysiert den Prosatraktat Vom Antichrist des Österreichischen Bibelübersetzers als hybride Kombination verschiedener Schreibmodi und damit als Konstrukt heilsgeschichtlichen Wissens. Wie sich nämlich beispielhaft für mittelalterliches Erzählen von Geschichte zeigt, vertritt der Text mit seinem narrativen und zuweilen pseudo-historiographischen Darstellungsmodus einen gegen gelehrte Methoden gerichteten Laienstandpunkt, der gerade in den Beglaubigungsstrategien hervortritt. Im Blick auf den Sachverhalt, dass im heilsgeschichtlichen Denken der Christen die von Gott erschaffene Welt einen absoluten Anfang und mit dem Jüngsten Gericht ein vorbestimmtes Ende hat, gehen weiteren Beiträge der Frage nach, welche Narrative und Denkformen sich im Kontext dieses Geschichtsverständnisses, sei es weltlicher, sei es in geistlicher Literatur, aufspüren lassen. Sandra Linden (Tübingen) erkundet die in den Prologen volkssprachlicher Geschichtsdichtung greifbaren Vorstellungen, wie historisches Erzählen gestaltet sein soll. Der Ansatz erweist sich als aufschlussreich, da sowohl große Geschichtswerke wie Jans Enikels Weltchronik und Ottokars Österreichische Reimchronik als auch kleinere Erzählungen wie das Annolied poetologische Erörterungen bieten. Nicht zufällig mündet die Analyse in wichtige Fragen: Operiert historisches Erzählen mit anderen Ver- Einleitung 17 mittlungs- und Wissensmodellen als fiktionales Erzählen? Welche Begründungsstrategien beglaubigen dieses Erzählen? Greift es auf eigene Autor-Werk-Konzepte zurück, um sich von fiktionalem Erzählen abzugrenzen? In gewisser Nähe zu diesem Fragenbündel erörtert Mathias Herweg (Karlsruhe) die These, das epische Œuvre Heinrichs von Veldeke erhalte seine Kohärenz nicht durch den neuen Stil des höfischen Erzählens, sondern dadurch, dass Veldeke Geschichte als narratives Projekt volkssprachlicher Literatur etabliert. Für die Begründung dieser höchst produktiven These vergleicht er den hagiographischen Sente Servas und den höfischen Eneasroman und zeichnet auf narratologischer Ebene schlüssig nach, wie beide Erzählungen ihre durch biblische Narrative geprägten Episoden in die Reichs- und Heilsgeschichte einfügen. Almut Schneider (Göttingen) wirft die Frage auf, in welcher Weise Konrads von Würzburg Trojanerkrieg das Denkmuster der Typologie dem historischen Erzählen als narratives Verfahren unterlegt ist. In einer klug aufgebauten Lektüre, die der Beschreibung des künstlichen Vogelbaums am Hof des Priamos gilt (Trojanerkrieg, v. 17560-17613), kann sie zeigen, wie die Beschreibung antike Deutungsmuster christlich umbesetzt wird. Dabei erweist sich die Typologie als Ordnungsmuster wie Strategie kunstvollen Vergegenwärtigens historischer Ereignisse. Nine Miedema (Saarbrücken) untersucht Verfahren und Strategien der Innenwelt-Darstellung in Rudolfs von Ems Weltchronik und zeigt auf breiter Materialbasis, inwieweit Gedankenreden und Soliloquien nicht nur der Vermittlung faktualen historischen Wissens dienen, sondern eine emotionale Aneignung der erzählten Weltgeschichte ermöglichen. Komplementär bietet Henrike Manuwald (Göttingen) eine subtile Interpretation der geschichtlichen Verortung einer Heiligenvita. Ihr Beispiel ist das Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners, eine Vita, die wegen des spezifischen Umgangs mit der Historizität des Stephanus-Lebens näheres Hinsehen verdient. 17 Die Erzählung verarbeitet historische Ereignisse in enger Vernetzung mit der politischen Geschichte, so dass sich der Fokus des Erzählten auf die Einführung einer christlichen Rechtsordnung verschiebt. Die Narrativierungsstrategien eines in der Forschung bisher kaum wahrgenommenen Werkes aus frühhumanistischen Kreisen, der Excerpta chronicarum des Johannes Platterberger und Dietrich Truchseß, erhellt Linus Ubl (Oxford). Er zeigt, wie der ‚Konstruktcharakter‘ der Geschichte auf mehreren Ebenen konsequent transparent gehalten wird - und schon im Titel des Werkes (Excerpta chronicarum statt etwa Liber chronicon) explizit angelegt ist -, um Geschichte als konstruierte und reflektierte Verknüpfung von Vergangenheitspartikeln zu präsentieren. Auch die Zeitlichkeit wird zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen, wenn Unstimmigkeiten zwischen unterschiedlichen Quellentexten beobachtet und erörtert werden. Ein Beispiel von anderem Zuschnitt stellt Henrike Lähnemann (Oxford) in ihrem Beitrag zur 1462 beim Bamberger Drucker Albrecht Pfister gedruckten Kompilation der alttestamentlichen Joseph-, Daniel-, Judith- und Esther-Bücher vor. Da die in Manchester beheimatete John Rylands Library eine der größten Sammlungen von Pfister-Drucken weltweit beherbergt, hat der Beitrag einen willkommenen Bezug zum Tagungsort. Die Überlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, die für Drucke und ihren Wahrheitsanspruch zentrale Bezeichnung der historia auf das implizite Geschichtskonzept zu befragen. 17 Vgl. auch Henrike Manuwald, Jesus und das Landrecht. Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter, Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica 67), hier S. 352-376. 18 Sarah Bowden, Manfred Eikelmann, Stephen Mossman und Michael Stolz Die erzählerische Formierung der Selbstwahrnehmung und Identität von Gruppen und Gemeinschaften stellen weiterführend gleich mehrere Beiträge zur Diskussion. 18 Gerhard Wolf (Bayreuth) fragt nach Formen und Funktionen narrativer Identitätsstiftung in deutschsprachigen Reimchroniken und zieht in einem weiten zeitlichen Panorama dafür das Annolied, die Kaiserchronik sowie Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln heran. Wie der Beitrag überzeugend herausarbeitet, entwerfen die Chronisten selten nur ein einziges Identitätsangebot - sie gestalten stattdessen zumeist mehrere verschiedene Formen politischer, sozialer, religiöser oder ästhetischer Selbstwahrnehmung. Ricarda Bauschke (Düsseldorf) behandelt einen wenig bekannten französischen Text, Le voyage de Charlemagne à Jerusalem, der mit der Karlsepik allerdings eine in der deutschen Literatur überlieferte Gattungstradition aufgreift. In einer eng am Text durchgeführten Analyse des Werkes beleuchtet sie präzise die Interferenzen zwischen parodistischem Erzählmodus einerseits und historischem Erzählen andrerseits. An die Diskussion zum identitätsstiftenden Geschichte-Erzählen knüpft Cordula Kropik (Basel) an, indem sie am Beispiel spätmittelalterlicher Sängererzählungen die Interferenz von Helden- und Dichtersage verfolgt. Dabei begnügt sie sich mit Recht nicht mit dem herkömmlichen Verständnis, wonach die Dichtungen eine anachronistische Tradition der deutschen Literatur ‚erfinden‘. Stattdessen erweist sich die narrativ hergestellte Konstruktion einer kulturellen Identität volkssprachlicher Dichter als eine Form von ‚ästhetischem Gedächtnis‘. Julia Frick (Zürich) konzentriert sich auf ein aspektreiches Fallbeispiel aus dem späten Mittelalter, den Trienter Judenprozess, der als zeitgenössisches Ereignis im 15. Jahrhundert literarisch verarbeitet und im Druck verbreitet wurde. In eingehenden Vergleichen der lateinischen und volkssprachigen Textzeugnisse arbeitet sie die hochgradig parteiliche Narrativierung des Prozesses heraus und weist so die narrativ-diskursiven Muster nach, die den Umgang mit den historischen Fakten prägen. Grundmuster des historischen Erzählens werden im abschließenden Themenblock aus geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive kritisch hinterfragt. Aus der differenzierten Perspektive des Historikers fragt Len Scales nach Kennzeichen des ‚staufischen Zeitalters‘ und führt - ausgehend von Beobachtungen zur Stuttgarter Ausstellung Die Zeit der Staufer im Jahre 1977 - in souveräner Weise vor, dass mittelalterliche Zeitgenossen eine als ‚staufisch‘ wahrgenommene dynastische, politische, künstlerische oder literarische Tradition nicht kannten. Der Beitrag, der auf einen öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library zurückgeht, verdeutlicht überzeugend, unter welchen speziellen Umständen die Vorstellung eines ‚staufischen Zeitalters‘ überhaupt aufgekommen ist. Abgerundet wird der Band durch zwei Fallstudien zu den römisch-deutschen Herrschern des Spätmittelalters. Anne Simon (London) geht es mit Blick auf die geschichtliche Rolle Karls IV. um die Chronistik und Memorial-Architektur in der Reichsstadt Nürnberg vom späten 14. bis frühen 16. Jahrhundert. In der Stadtchronik Sigmund Meisterlins wie auch der Weltchronik Hartmann Schedels lassen sich exemplarisch an die imperiale Macht angelehnte Strategien reichsstädtischer Selbstlegitimierung - Gründungsnarrative ebenso wie Erzählungen von der Promulgation der Goldenen Bulle (1356) und der Überführung 18 Prozesse der Identitätsbildung im Kontext des Geschichte-Erzählens stehen auch im Zentrum des Bandes Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Bd. 1: Paradigmen personaler Identität, hg. von Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink und Frank Rexroth, Berlin 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 41). Einleitung 19 der Reichskleinodien (1424) - beobachten. Eine Entsprechung finden diese Strategien in der baulichen Inszenierung des Schönen Brunnens als Erinnerungsort von Herrschaft und in dem Ritual des Männleinlaufens, das an die Huldigung Karls IV. durch die deutschen Kurfürsten erinnert. Stefan Matter (Fribourg) erläutert anhand eines aus 203 Zeichnungen bestehenden Konvoluts in Washington DC die Entstehungsumstände von Kaiser Maximilians Freydal; bisher als Nachzeichnungen verkannt, erweisen sich die Washingtoner Illustrationen tatsächlich als Vorarbeiten und gewähren einen Einblick in die literarischkünstlerische Aufarbeitung der Karriere Maximilians als Ritter. Dabei wird der Fokus nicht auf die narrativen Erzählung jener Karriere gerichtet - es fehlen alle Angaben zu den ‚historischen‘ Umständen der Turnierkämpfe -, sondern allein auf die Kleidung des Kaisers und auf den Ausgang der Kämpfe gegen die mit Namen versehenen, jedoch nicht individuell gestalteten Gegner. Die Geschichtskonzeption des Freydal lässt damit historisch verbürgte Vorstellungen der Prachtentfaltung und Majestät Maximilians erkennen. Den wissenschaftlichen Ertrag des Tagungsbandes resümiert Almut Suerbaum (Oxford) in einem prägnanten Fazit. Die zentralen Ergebnisse der Tagung lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens haben die Beiträge zur Kaiserchronik die Faszination des frühen Hochmittelalters in Erinnerung gerufen, doch zugleich auch die Pole markiert, zwischen denen sich das Erzählen von Geschichte erfassen lässt: Auf der einen Seite ist nicht Chronologie, sondern ‚Bedeutsamkeit‘ die zentrale Kategorie für das volkssprachliche Geschichte- Erzählen; auf der anderen Seite hat sich gezeigt, welche Bedeutung gerade Formen von Serialität und Wiederholung haben. Zweitens hat eine Reihe der Beiträge demonstriert, dass Geschichte an Ordnungsstrategien gebunden ist, die es erlauben, aus der unbegrenzten Fülle des Materials auszuwählen und das Ausgewählte zu ordnen, was immer auch die Reflexion über Zeit und Zeitlichkeit in der Geschichte verlangt. Die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter lehrt also, dass unsere heutigen Konzeptionen von Zeit der Historisierung bedürfen. Drittens haben die Beiträge entschieden einem differenzierteren Blick auf den Status der Volkssprache und volkssprachlichen Literatur zugearbeitet. Deutlich wurde, wie man über den oftmals vagen Begriff des Hybriden hinauskommt, indem man das Zusammenspiel unterschiedlicher Erzähltraditionen präzise beobachtet und beschreibt. Volkssprachliches historisches Erzählen versteht sich einerseits als Fortsetzung der gelehrten Tradition, etwa wenn es sich explizit auf lateinische Quellen beruft. Andererseits gibt es nicht wenige Fälle, in den sich Texte als expliziter Neubeginn verstehen, an volkssprachige Traditionen anschließen, ihre Distanz zu anderen Traditionen markieren und sich auf weltliche wie geistliche Gründerfiguren berufen, um die eigene Tradition zu rechtfertigen oder erst selbst zu stiften. Die Tagung in Manchester hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Darstellung von Geschichte in der deutschen Literatur des Mittelalters auf der Basis von Forschungen zur narrativen Modellierung der als wahr geglaubten vergangenen Welt zu bilanzieren und mit dem Blick auf aktuelle wissenschaftliche Aufgabenfelder neu zu erarbeiten. Diese ambitionierte Zielsetzung können naturgemäß auch die Beiträge des Tagungsbandes nicht in jeder Hinsicht einlösen, doch fördern sie, so ist zu hoffen, das Potential des Themas exemplarisch zutage. Daraus dürfte der Impuls resultieren, künftig verstärkt an narratologische Forschungen anzuschließen, wenn es zu verstehen gilt, wie Geschichte aus dem Erzählen von Vergangenheit hervorgeht. Einleitung 21 Die Kaiserchronik als Paradigma Arbeit am Text 23 Arbeit am Text Die drei Fassungen der Kaiserchronik in der Überlieferung am Beispiel von Tarquinius und Lucretia Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Kaum ein anderes Werk des deutschen Mittelalters eignet sich für eine Untersuchung der Narrativierungsstrategien von Erzähltexten so wie die um 1150 vermutlich in Regensburg verfasste Kaiserchronik, die bereits im neunzehnten Jahrhundert als wichtiges Zeugnis der frühmittelhochdeutschen Literatur galt, allerdings zeitweise durch eine Privilegierung der kurz darauffolgenden Blütezeit ins Abseits geriet, und erst im letzten Jahrzehnt wieder intensiver in den Fokus der Forschung gelangt ist. 1 Mit ihren knapp 17.000 Versen, die 1 Bedeutende Beiträge der letzten zehn Jahre: Mark Chinca und Christopher Young, „Uses of the Past in Twelfth-Century Germany. The Case of the Middle High German ‚Kaiserchronik‘“, in: Central European History 49 (2016), S. 19-38; Johannes Dickhut-Bielsky, Auf der Suche nach der Wahrheit in ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘: poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelalterlichen Geschichtsdichtungen, Stuttgart 2015 (ZfdA Beihefte 23); Raymond Graeme Dunphy, „On the Function of the Disputations in the ‚Kaiserchronik‘“, in: The Medieval Chronicle 5, hg. von E. Kooper, Amsterdam/ New York 2008, S. 77-86; Uta Goerlitz, Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem ‚Annolied‘. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.-16. Jh.), Berlin u. a. 2007 (Quellen und Forschungen 45), S. 105-201; Udo Friedrich, „Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Poetica 47 (2016), S. 1-24; Uta Goerlitz, „Karl was ain wârer gotes wîgant. Problems of Interpreting the Figure of Charlemagne in the Early Middle High German Kaiserchronik“, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 70 (2013), S. 195-208; Uta Goerlitz, „Narrative Construction of Origin in the Early Middle High German ‚Kaiserchronik‘“, in: Mythes à la cour, mythes pour le cour (Courtly Mythologies). Actes du XIIe Congrès de la Société internationale de littérature courtoise, 29 juillet - 4 août 2007, hg. von Alain Corbellari u. a., Genf 2010, S. 155-164; Uta Goerlitz, „(Un-)Wahrheit und (Nicht-)Erinnern. Erzählen ‚ze diute‘ in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik“, in: Damnatio in memoria. Deformation und Gegenkonstruktionen in der Geschichte, hg. von Sebastian Scholz u. a., Köln 2014, S. 225-242; Claudia Händl, „Rechtsvorstellungen und Rechtsterminologie in der deutschsprachigen mittelalterlichen Karlsdichtung. Das Beispiel der ‚Karlsvita‘ in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Text Analyses and Interpretations in Memory of Joachim Bumke, hg. von Sibylle Jefferis, Göppingen 2013 (GAG 776), S. 43-84; Barbara Haupt, „Eine Kaiserfamilie und die Arbeit. Zur Faustinian-Erzählung in der Kaiserchronik“, in: Der Wert der Arbeit. Annäherungen an ein kulturelles Paradigma in Mittelalter, Neuzeit und Moderne, hg. von Jürgen Wiener, Düsseldorf 2014 (Studia humaniora 47), S. 137-160; Mathias Herweg, „Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der ‚Kaiserchronik‘“, in: LiLi 166 (2017), S. 281-302; Mathias Herweg, „Geschichte erzählen. Die ‚Kaiserchronik‘ im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens)“, in: ZfdA 146 (2017), S. 413-443; Franz Hundsnurscher, „Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche. Überlegungen am Beispiel der Faustinian-Geschichte in der Kaiserchronik“, in: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik, hg. von Monika Unzeitig, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 17-33; Elke Koch, „Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik)“, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur, hg. von Susanne Köbele und Coralie Rippl, Würzburg 2015, S. 75-100; Alastair 24 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Legende und Sage mit eigener moralischer Pointierung zusammenflechten, schildert sie in einer Abfolge von 55 Herrschern die Geschichte des römisch-deutschen Reichs von Cäsar bis Konrad III. und stellt somit ein außerordentliches Monument der Literaturgeschichte dar. Sie ist die erste volkssprachliche Chronik Europas in Reimpaarversen, das erste Großwerk der frühmittelhochdeutschen Periode überhaupt, und enthält u. a. die erste ausformulierte Lebensgeschichte Karls des Großen in deutscher Sprache. 2 Wer also erschließen möchte, was ein Laienpublikum des 12. Jahrhunderts über die Frühgeschichte des Heiligen Römischen Reiches wusste oder hörte, begegnet in diesem Text einer Vielzahl von Spuren und Belegen. Dem Werk war offenbar ein großer Erfolg beschieden. Binnen hundert Jahren nach seiner Entstehung wurde es bekanntlich zweimal überarbeitet: zunächst um 1200, als der höfische Roman sich entfaltete und auf seinen Höhepunkt zuging; und nochmals 50 Jahre später, zu einer Zeit, als der Weltchronistik eine immer bedeutendere Rolle zukam. Diese jüngeren Fassungen (B und C genannt) wurden wohl in Unkenntnis voneinander unternommen und sind als völlig unabhängige Bearbeitungen zu verstehen. Dass es beiden Bearbeitern in erster Linie um eine formale ‚Modernisierung‘ des alten Textes ging, d. h. um reine Reime und metrischen Ausgleich, die den als altertümlich und nicht mehr zeitgemäß empfundenen frühmhd. Text der inzwischen etablierten poetischen Norm des paargereimten Vierhebers anpassen sollte, gilt längst als Gemeingut der Forschung. Die C-Fassung erhielt außerdem einen neuen Prolog und wurde durch zwei Fortsetzungen ausgeweitet (die sogenannte ‚bairische‘ und die sogenannte ‚schwäbische‘), die jeweils die Ereignisse aus der deutschen Reichsgeschichte bis zum Jahr 1250 erzählen und den Bericht bis zum Jahr 1278 weiterführen. Die Beliebtheit des Werkes lässt sich auch an dem beträchtlichen Umfang seiner Überlieferung ablesen. Alle drei Fassungen wurden nämlich lang, breit und - signifikanterweise - parallel tradiert: Die A-Fassung mit 19 hochdt. Textzeugen vom 12. bis zum späten 15. Jahrhundert, die B-Fassung mit 15 Textzeugen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, und die C-Fassung mit 11 Zeugen vom 13. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert; eine weitere Handschrift überliefert eine Mischfassung von A und C. 3 Von diesen insgesamt 46 Über- Matthews, The Kaiserchronik. A Medieval Narrative, Oxford 2012; Die ‚Kaiserchronik‘. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen crônicâ. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017; Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien, Berlin 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), S. 227-252; Christoph Petersen, „Zeit, Vorzeit und die Narrativierung von Geschichte in der ‚Kaiserchronik‘“, in: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353; Armin Schulz, „Fremde Kohärenz: Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik“, in: Historische Narratologie - mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 339-360; Christian Seebald, „Ein Basler Codex mit Schriften des Johannes Meyer: Zugleich ein Beitrag zur Überlieferungs- und Textgeschichte der ‚Vitas fratrum‘ der ‚Papst-‘ und der ‚Kaiserchronik‘“, in: ZfdA 143 (2014), S. 202-219; Christiane Witthöft, „Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben: Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums, hg. von Marion Gindhart, Berlin 2010, S. 291-310. 2 Grundlegend zum Werk ist noch Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik, Darmstadt 2 1968. 3 Weitere Details sowie Forschungsliteratur sind dem Handschriftencensus. Eine Bestandaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters (www.handschriftencensus.de/ werke/ 189) zu entnehmen. S. außerdem Thomas Klein, „Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik“, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann and Nigel F. Palmer, Tübin- Arbeit am Text 25 lieferungsträgern enthalten drei noch den vollständigen Text von A, zwei den von B in vollem Umfang (ein dritter Zeuge ist defekt), vier den kompletten Text von C (ebenfalls auch mit einem bedeutenden aber defekten Zeugen); der Text der AC-Mischfassung bricht in der Karlsepisode ab. Am Ende des 16. Jahrhunderts kam noch eine frühneuzeitliche Umarbeitung der C-Fassung hinzu. Die nicht-fragmentarischen Überlieferungszeugen deuten auf die Anschlussfähigkeit des Werkes hin: Während C (mit Ausnahme der Mischfassung) nur alleine vorkommt, treten A und B auch in Sammelhandschriften auf, etwa in Verbund mit anderen Texten frühmhd. Literatur oder mit dem höfischen Roman und der Heldenepik. Zum Kontext dieser gewaltigen Tradierung gehören außerdem die lateinische Übersetzung eines kurzen Abschnittes sowie zwei Prosabearbeitungen des 13. Jahrhunderts, die sich in Kombination mit der Sächsischen Weltchronik und dem Schwabenspiegel einer umfangreichen Verbreitung erfreuten, und eine dreimal in Verbindung mit ersterer erhalten gebliebene niederdeutsche Fassung. 4 Alles im allem lässt sich nachdrücklich bestätigen, was Eberhard Nellmann vor mehr als dreißig Jahren behauptete: „[K]ein anderer Text des 12. Jahrhunderts war derart erfolgreich.“ 5 Die Erforschung dieses literarhistorisch sowie überlieferungsgeschichtlich bedeutenden Werkes ist allerdings erschwert durch die 1892 von Edward Schröder vorgelegte kritische Ausgabe, die die Rekonstruktion der A-Fassung in ihrer ursprünglichen Gestalt auf der Grundlage der Vorauer Hs. anstrebte, die spätere Bearbeitungen jedoch stiefmütterlich behandelte und bis auf vereinzelte Angaben im Apparat gänzlich aussparte. 6 Schröders Ausgabe und die damit verbundene Verfestigung der A-Fassung in der Literaturgeschichte haben die Entwicklung der Forschung maßgeblich geprägt und eindeutig beschränkt. Denn wie Kurt Gärtner vor geraumer Zeit feststellte: „Die Bearbeitungen B und C sind […] neue Werke. Auch wenn die Veränderungen des alten Textes nicht immer so weit gehen wie in der Strickerschen Bearbeitung des Rolandsliedes, eines von Form und Stil her der Kaiserchronik verwandten Werkes, so verdienen die Fassungen B und C ebenso wie Strickers Karl eigene Ausgaben, allerdings am besten in einer Synopse zusammen mit der ursprünglichen gen 1988, S. 110-167, hier S. 114-120, 128-130; Jürgen Wolf, „Von der einen zu den vielen Kaiserchroniken“, in: Miedema und Bein (Hgg.) (wie Anm. 1), S. 9-30. 4 Zur Sächsischen Weltchronik: Jürgen Wolf, Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption, München 1997, S. 105-110; Hubert Herkommer, Überlieferungsgeschichte der Sächsischen Weltchronik. Ein Beitrag zur deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters, München 1972; Michael Menzel, Die Sächsische Weltchronik. Quellen und Stoffauswahl, Sigmaringen 1985; Dagmar Neuendorff, „Vom erlösten Heidenkonig zum Christenverfolger. Zur Kaiserchronik und ihrer Integration in die Sächsische Weltchronik“, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050-1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 181-198; zur lateinischen Übersetzung: András Vizkelety, „Eine lateinische Übersetzung der ‚Kaiserchronik‘“, in: Beiträge zur Überlieferung und Beschreibung deutscher Texte des Mittelalters. Referate der 8. Arbeitstagung österreichischer Handschriften-Bearbeiter vom 25.-28.11.1981 in Rief bei Salzburg, hg. von Ingo Reiffenstein, Göppingen 1983 (GAG 402), S. 25-40; András Vizkelety, „Eine lateinische Prosabearbeitung der ‚Kaiserchronik‘“, in: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge zur Bamberger Tagung „Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte“, 26.-29. Juli 1991, hg. von Anton Schwob, Goppingen 1994 (Litterae 117), S. 341-345. 5 Eberhard Nellmann, Art. ‚Kaiserchronik‘. In 2 VL Bd. 4 (1983), Sp. 949. 6 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1829 (MGH, Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters, 1.1), unveränderter Nachdruck, München 2002. 26 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Fassung A. […] Die Fassungen B und C der Kaiserchronik gehören zu den Editionsdesideraten der Versepik des 13. Jahrhunderts.“ 7 Mit der Vorbereitung einer synoptischen Ausgabe aller drei Fassungen als Teil eines durch den britischen Arts and Humanities Research Council geförderten und in Cambridge, Marburg und Heidelberg durchgeführten Großprojektes soll dieser Wunsch jetzt endlich in Erfüllung gehen. 8 Vorausgesehen ist eine Edition der drei mhd. Versfassungen der Chronik mit Einleitung, Stellenkommentar und kritischem Apparat. Als Leithandschriften sollen jeweils die Vorauer Handschrift (A), die Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2779 (B), und eine zweite Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2685 (C) dienen. Ein zweites, eng damit verbundenes Ziel des Projekts - Kaiserchronik digital - ist bereits abgeschlossen 9 und öffnet der Forschungscommunity die gesamte Kaiserchronik-Überlieferung in digitalisierter Form im Rahmen einer Online-Präsentation. Jede Handschrift und jedes Fragment wird von einer recherchierbaren Transkription begleitet in einer Konstellation, die es den Nutzern erlaubt, entweder die Handschriften oder die Transkriptionen aufzurufen und in verschiedenen Kombinationen parallel zu lesen. 10 Diese komplementär konfigurierten Ausgaben haben eigene Stärken und Schwerpunkte. Jene stellt die synoptische Vielfalt des Werkes zum ersten Mal in gut lesbarer Form dar, während diese multiple Vergleiche ermöglicht und feinste Unterschiede der Textvarianz dokumentiert, die in einem traditionellen Apparat sonst verlorengingen. Zusammen dienen beide Editionen dazu, neue Fragestellungen sowie innovative Zugänge zu einem der bedeutendsten Werke des deutschen Mittelalters zu eröffnen. Einige dieser Fragen werden im Folgenden am Beispiel der Tarquinius-Episode erläutert. Der Aufsatz soll konkret und exemplarisch zeigen, wie im deutschen Mittelalter eine Geschichte erzählt, umerzählt und weiter tradiert wurde. In einem ersten Schritt fokussiert er die Varianz der A-Fassung und in einem zweiten den Text der drei Fassungen. Aus Platzgründen kann die Analyse nur diese einzelne Episode behandeln und muss die Frage nach einer möglichen globalen Kohärenzstiftung des Werkes ausklammern, die die Forschung in letzter Zeit beschäftigt hat. 11 7 Kurt Gärtner, „Die Kaiserchronik und ihre Bearbeitungen. Editionsdesiderate der Versepik des 13. Jahrhunderts“, in: bickelwort und wilde mære. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann und Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 366-379, hier S. 369. 8 www.mml.cam.ac.uk/ german/ research/ kaiserchronik. 9 Kaiserchronik. Elektronische Ausgabe, hg. von Mark Chinca, Helen Hunter, Jürgen Wolf und Christopher Young, Heidelberg 2018 (https: / / doi.org/ 10.11588/ edition.kcd). 10 S. hierzu Mark Chinca, Helen Hunter, Jürgen Wolf, Christopher Young, „Kaiserchronik - digital“, ZfdA 148 (2019), S. 285-288. 11 Inzwischen liegt eine vergleichende Analyse mehrerer Episoden aus den drei Fassungen vor: Mark Chinca, Helen Hunter, Christopher Young, „The Kaiserchronik and its Three Recensions“, ZfdA 148 (2019), S. 141-208. Als neuere narratologische Untersuchungen sind zu nennen: Herweg, „Kohärenzstiftung“ (wie Anm. 1); Uta Goerlitz, „hie meget in der luge wol ein ende haben. Zu Erzählstrategie und Makrostruktur der Kaiserchronik“, in: Miedema und Bein (Hgg.) (wie Anm. 1), S. 91-121; Alastair Matthews, „Der Erzähler im Text. Zur Kaiserchronik aus narratologischer Sicht“, in: Miedema und Bein (Hgg.) (wie Anm. 1), S. 123-145; Petersen (wie Anm. 1); Schulz (wie Anm. 1). Vgl. auch die Beiträge von Jan-Dirk Müller und Christoph Pretzer in diesem Band, die in eben dieser Frage unterschiedliche Perspektiven aufmachen. Arbeit am Text 27 I. Varianz von Fassung A Ausführliche Studien zur Varianz der drei Fassungen sind in Vorbereitung und folgen in nächster Zeit, so dass wir uns hier auf die bedeutendsten Aspekte der bekannten A-Fassung beschränken. 12 Bei der Arbeit an beiden Ausgaben hat sich die A-Fassung immer wieder als ein dynamischer, von Beginn an für Retextualisierungsversuche offener Text gezeigt. 13 Text- und überlieferungsgeschichtlich wesentlich ist, dass man an der Überlieferung von A genau dieselben formalen Tendenzen zur Besserung von Reim und Metrum beobachten kann, die für die Fassungen B und C so prägend sind. Wie eingangs erwähnt, wird von der Forschung immer wieder zu Recht behauptet, dass die Redaktionen B und C den alten Text von A modernisieren, und zwar auf eine Weise, die dem durch die höfische Epik bedingten Formwandel Rechnung trägt: Unreine Reime und Assonanzen werden beseitigt; die Toleranz der frühmhd. Dichtkunst gegenüber metrisch langen Versen mit bis zu sieben Hebungen und einer in rhythmischer Hinsicht sehr freien Taktfüllung (Takte - und auch Auftakte - mit drei und sogar mehr Silben sind in der Fassung A keine Seltenheit) wird eingeschränkt: In den Fassungen B und C wird der Vierheber mit geregeltem Wechsel von Hebung und Senkung zur angestrebten - wenn auch nicht immer vollkommen verwirklichten - metrischen Norm. Aus der Überlieferung der A-Fassung geht aber sehr deutlich hervor, dass es offensichtlich möglich war, den in formaler Hinsicht altertümlich wirkenden frühmhd. Text zu aktualisieren, ohne am Versbestand drastische Änderungen vorzunehmen. Dies war Schröder wohl bekannt, wie in folgendem Satz deutlich zum Ausdruck kommt: „Die hss. 2 und 4 [nach unseren Siglen: M und H] haben die gleiche tendenz, den vers von überflüssigem zu entlasten und mit bequemen mitteln einen reinen reim zu schaffen (2 freilich weit mehr als 4); sie treffen daher massenhaft in auslassungen und gelegentlich auch einmal in einer naheliegenden reimbesserung zusammen“. 14 Dem Editor des neunzehnten Jahrhunderts, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Archetypus der A-Fassung möglichst getreu zu rekonstruieren, war diese Tatsache allerdings uninteressant. 15 Seine Gleichgültigkeit hat sie der Forschung auch dauerhaft verschleiert. Als Beispiel für die metrische Modernisierung des A-Textes nehmen wir folgende Zeilen aus der Tarquinius-Episode. 16 Der Kontext ist folgender: Die Römer, die vor Viterbo lagern, 12 Mark Chinca, Helen Hunter, Christopher Young, Kaiserchronik-Studien, Stuttgart (ZfdA Beihefte), in Vorbereitung. 13 Der Begriff der ‚Retextualisierung‘ wurde von Joachim Bumke und Ursula Peters eingeführt und soll ihnen zufolge die „verschiedensten Ebenen und Aspekte vormoderner ‚Arbeit am Text‘ als Interaktion von Prä- und Re-Text“ fokussieren; s. Joachim Bumke und Ursula Peters, „Einleitung“, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. von dens., ZfdPh 124 (2005) Sonderheft, S. 1-5. 14 Die Kaiserchronik (wie Anm. 6), S. 34f. 15 Zu Schröders Editionsprinzipien s. Mark Chinca and Christopher Young, „Responsible Philology. Editing the Kaiserchronik in the Digital Age“, in: Digital Philology. A Journal of Medieval Cultures 6.2 (2017), S. 288-329, hier S. 298-304. 16 Der Lesbarkeit halber werden die Texte folgendermaßen sänftiglich ediert: Superskripte und Nasalstriche werden aufgelöst; Worttrennungen sowie Groß- und Kleinschreibung folgen den lexikographisch akzeptierten Formen; <v> wird konsonantisch, <u> vokalisch benutzt; langes <ſ> wird in kurzes <s> umgesetzt; es wird behutsam interpungiert. Auf folgende Handschriften und Fragmente wird in diesem Abschnitt Bezug genommen: A1 Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276, 4. Viertel 12. Jh., bair.-österr.; M München, BSB, Cgm 37, 2. Viertel 14. Jh., bair.; H Heidelberg, UB, cpg 361, 2. Viertel / Mitte 13. Jh., hess.; a2 Berlin, SBB-PK, Nachlass Grimm 127,2, Mitte 14. Jh., obd.; a11 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22067, 1. Hälfte 13. Jh., alem.; a15 Wien, ÖNB, Cod. 13006, Anfang 13. Jh., bair.österr. 28 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young um sich für die heimtückische Behandlung ihres Freundes Conlatinus zu rächen, unterhalten sich in einer Kampfpause. Bevor Conlatinus voller Selbstbewusstsein behauptet, die beste Frau in Rom zu haben, und mit verhängnisvollen Konsequenzen mit Tarquinius darüber eine Wette schließt, geht es allgemein um verschiedene höfische Themen: V. 4423-25 A1 an den selben stunden redeten si von sconen rossen unde von guoten hunden, si redeten von vederspil, […] H an den selben stunden redeten sie von rossen unt guten hunden, si redeten von vedirspil, […] M an den selben stunden von rossen si reden begunden, von hunden unt von vederspil. a2 an den selben stunden reten si von schœnen rossen unt von guoten hunden. si reten ouch von vederspil. Der zweite Vers (V. 4424) hat sieben Hebungen in A1 (rédeten sí von scónen róssen únde von gúoten húnden; wenn man nach dem Heuslerschen System zählt, und die weibliche Kadenz als zweihebig auffasst, sind es sogar acht Hebungen), aber nur fünf (bzw. sechs) im Text von H, der das Adjektiv schœne getilgt und die Präpositionalphrasen von einem einzigen von abhängig gemacht hat (rédeten sí von róssen unt gúten húnden). Das Fragment a2 weist eine andere Lösung auf. Die Interpunktion und Rechtschreibung - Reimpunkt hinter rossen; die unmittelbar darauffolgende Konjunktion un(t) bzw. un(de) groß geschrieben - legen nahe, dass der Schreiber den metrisch sehr langen V. 4424 als zwei kürzere Verse von je vier (bzw. fünf) und drei (bzw. vier) Hebungen aufgefasst hat, obwohl diese Spaltung des Verses den Reim zerstört: Das Substantiv rossen steht verwaist da. Die Münchener Handschrift kürzt die zweite der beiden Präpositionalphrasen (von guoten hunden) und bringt sie in dem nächsten Vers unter, in dem durch die Tilgung von si redeten Platz geschaffen worden ist; V. 4424 bekommt an die Stelle der guoten hunde ein neues Reimwort begunden. Das metrische Ergebnis ist ein Dreiheber (bzw. Vierheber); die Änderungen erzielen darüber hinaus ein höheres Maß an syntaktischer Integration, da die Präpositionalphrasen in den beiden Versen 4424 und 4425 jetzt einer einzigen Verbalphrase reden begunden unterstellt sind: von róssen si réden begúnden, | von húnden únt von véderspíl. Die Münchener Handschrift verdient besonderes Interesse, weil sie einen Text überliefert, der die für die frühmhd. Dichtung charakteristischen Halb- und unreinen Reime durch reine Reime substituiert. Manchmal wird die Verbesserung durch einfachen Ersatz eines Reimworts herbeigeführt, z. B. in den Versen 4661-62. (Kontext: Die Frau von König Tarquinius erfährt von seiner Wette mit Conlatinus und will, dass der König ihre Ehre wiederherstellt; sonst werde sie nie wieder glücklich sein.) Arbeit am Text 29 V. 4661-62 A1Ha15a11 […] ode si gewunne niemer guot gemute. der kunic ir antworte [antwurte, H]. M […] oder si gewunne nimmer guten mut. der chunich ir antwurt tut. Alle Handschriften außer M haben den unreinen Reim (ge)mute / -muote : (ant)worte / -wurte. M dagegen hat einen reinen Reim, obwohl dieser die Einheitlichkeit der narrativen Zeitdarstellung empfindlich stört: Das periphrastische antwurt tut ist Präsens und rückt den Dialog zwischen Königin und König, über den der Erzähler sonst nur im Präteritum berichtet, für einen Augenblick in die unmittelbare Gegenwart (vgl. V. 4658: Si tet im manichvalt man; V. 4667: Diu chünigin begund wainen). Bei einigen Reimbesserungen von M lässt sich eine ambitioniertere Retextualisierungsstrategie erkennen, die weit über den einfachen Ersatz eines Reimwortes durch ein anderes oder besseres hinausgeht. Als Beispiel dafür sei das Reimpaar V. 4361f. angeführt. Der Handlungskontext ist folgender: Die Herren von Trier wollen ihren Erzfeind Conlatinus ermorden lassen; es gelingt ihm, gerade noch mit seinem Leben zu entfliehen. V. 4361f. A1 […] daz man in da scolte erslahen. wi kume er dannen entran. H […] daz man in da solde habe irslagen. wie kume er dannen intran. M […] daz man in solt han erslagen, da von ist gut zesagen. wi chaum er dan entran. di red sull wir heben an. A1H haben den Halbbzw. unreinen Reim (er)slahen / -slân / -slagen : (ent)ran. Der Text, wie er in M überliefert ist, hat einen völlig neuen Vers (Da von ist gut zu sagen), der sich auf das Partizip erslagen reimt; durch die Hinzufügung dieses Verses wäre die originale Assonanz entran verwaist worden, wenn man nicht einen weiteren Vers hinzugedichtet hätte, der sich darauf reimt: Di red sull wir heben an. Mit anderen Worten, aus einem einzigen Verspaar mit Halbreim hat der Schreiber von M (oder der Vorlage von M) zwei Reimpaare je mit Vollreim gebildet; in narratologischer Hinsicht tragen die Plusverse mit ihren sehr formelhaften - man möchte fast sagen: mit ihren banalen - Aussagen zu einer stärkeren Profilierung der Erzählerrolle bei. 30 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Die hier skizzierten Beispiele veranschaulichen, wie sich innerhalb der Fassungen noch viel im Fluß befand. Dass die mittelalterlichen Schreiber über mehrere Jahrhunderte ihre Vorlage so intensiv bearbeiteten, stellt uns vor die erneute Aufgabe, ihre Arbeit an allen drei Redaktionen zu schätzen und verstehen. Deutlicher als in der geplanten Druckausgabe tritt u. a. diese modernisierende Dynamik der A-Fassung sowie zahlreiche Änderungen der B- und C-Fassungen in der digitalen Präsentation hervor. 17 Mithilfe der leicht handhabbaren Heidelberger Lichtpultfunktion werden zukünftige Forscher nicht nur die drei Hauptfassungen vergleichen, sondern nach Wunsch etwa mehrere Handschriften einer einzelnen Fassung oder gar ein spätes Zeugnis der A-Fassung neben eines der C-Fassung legen und im vollsten metrischen Detail analysieren können. II. Die Fassungen B und C Bekanntlich verändern die B- und C-Fassungen am Inhalt und Zeitgerüst der alten Chronik überraschend wenig. Weder verschwinden Charaktere aus dem Erzählablauf noch treten neue hinzu. Abgesehen von den zwei Fortsetzungen und dem neuen Prolog der C-Fassung werden keine weiteren Herrscher interpoliert oder hinzugefügt, obwohl es an auszufüllenden Lücken in der Herrscherreihe der alten Chronik keineswegs mangelt. Selbst die eklatantesten Abweichungen von der historischen Reihenfolge - der römische König Tarquinius Superbus tritt als Nachfolger Neros auf - werden nicht berichtigt; fiktive Herrscher, wie etwa Narcissus, werden aus dem Bericht nicht beseitigt. Weder der Bnoch der C-Redaktor versuchen, historische Ungenauigkeiten oder Abweichungen der A-Fassung von den im Mittelalter bekannten antiken Quellen zu berichtigen. In der hier zu behandelnden Episode wird z. B. Lucretia nach wie vor von König Tarquinius vergewaltigt, und nicht, wie Livius und Ovid berichten, von seinem Sohn Tarquinius Sextus; der Ehemann von Lucretia bleibt noch ein Verbannter aus Trier, obwohl er den antiken Quellen zufolge aus der mittelitalienischen Stadt Collatia stammte. Der Umstand, dass keiner der beiden Redaktoren diese Fiktionen oder Fehler zu beheben versuchte, hat jedoch nicht unbedingt zu bedeuten, dass man an die faktuale Wahrheit der Geschichte, wie sie vom Verfasser der A-Redaktion erzählt wurde, naiv geglaubt hat: Es ist durchaus möglich, dass die Bearbeiter und ihr Publikum solche und ähnliche Lizenzen für das gehalten hatten, was sie tatsächlich sind, und dass man die Verbindlichkeit eines chronikalischen Berichts an anderen Kriterien gemessen hat als dem der faktischen Wahrheit. Möglicherweise kam es den Bearbeitern und ihrem Publikum in erster Linie auf den moralischen oder exemplarischen Gehalt des Erzählten an, d. h. man beurteilte die ‚Wahrheit der Geschichte‘ vielleicht nicht danach, ob faktengetreu erzählt wird, sondern danach, ob die zum Besten gegebene historia als magistra vitae dient, ob sie also über den Lauf der Welt und über die Folgen menschlichen Handelns auf zuverlässige und verbindliche Weise informiert. 18 Aus dem weitgehenden Fehlen einschneidender inhaltlicher Eingriffe lässt sich aber auf keinen Fall folgern, der hinter den Retextualisierungsversuchen stehende Formulierungs- und Gestaltungswille gehe in Änderungen rein formaler Art auf (den Bearbeitern von B 17 S. Kaiserchronik (wie Anm. 9). 18 Zu diesem breiten Thema s. u. a. Historisches und fiktionales Erzahlen im Mittelalter, hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Berlin 2002; Elisabeth Lienert, Die ‚historische‘ Dietrichepik. Untersuchungen zu ‚Dietrichs Flucht‘, ‚Rabenschlacht‘ und ‚Alpharts Tod‘, Berlin 2010 (Texte und Studien zur mittelalterlichen Heldenepik 5), S. 231-254. Arbeit am Text 31 und C geht es ja keineswegs nur um die Glättung des Metrums und die Vervollkommnung der Reimkunst). Vielmehr zeigt der durch die Vorarbeiten zu der neuen Edition möglich gewordene und durch die Online-Präsentation der kompletten Überlieferung jetzt schon verifizierbare Vergleich aller drei Fassungen, dass beide Bearbeiter eine Reihe von Textänderungen vornehmen, die die Darstellung, Perspektivierung und Semantisierung der Geschichte neu kalibrieren. Es geht hier, wie eben erwähnt, nicht um Änderungen auf der Ebene der sogenannten histoire - d. h. der Ebene der erzählten Ereignisse und Figuren und deren Verknüpfung und Interagieren in einem Plot -, sondern um solche auf der Ebene des discours - d. h. der sprachlichen Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler. 19 Im Folgenden bemühen wir uns anhand der Tarquinius-Episode um ein facettenreicheres und differenzierteres Bild der Bearbeitungstendenzen der B- und C-Fassungen, als man es bisher in den einschlägigen Literaturgeschichten und Handbüchern lesen kann. 20 Bei einem narrativisch komplexen, auf heterogenen Quellen beruhenden Werk wie der Kaiserchronik kann die Analyse einer einzelnen Episode zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da jede Geschichte ihrer eigenen Studie bedarf. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass bei aller späteren Verfeinerung und Relativierung die hier präsentierten Ergebnisse wichtige neue Erkenntnisse für ein Verständnis der Bearbeiter und deren Arbeitstendenzen liefern. Die Fassung B Da der B-Redaktor den Text von A allgemein gekürzt hat, wie wohl bekannt, soll es nicht überraschen, dass seine Version der Tarquinius-Episode dreißig Verse weniger als das Original umfasst. Allerdings fällt beim genaueren Vergleich der Fassungen auf, dass der B-Redaktor seine Vorlage nicht nur gekürzt, sondern auch durch eigene Zusätze erweitert hat. Manchmal sind beide Tendenzen in ein und derselben Passage wirksam. Als Conlatinus, aus Viterbo geflüchtet, sich vor dem Senat beklagt, der den Kriegszug gegen die Stadt beschließt, heißt es z.B: 21 19 Die terminologische Opposition von histoire vs. discours stammt von Tzvetan Todorov, „Les catégories du récit littéraire“, Communications 8 (1966), S. 125-151; zu ihrer Weiterentwicklung in strukturalistischer und poststrukturalistischer Erzähltheorie s. Matias Martinez, Art. ,Plot‘. In RLW 3 (2003), S. 92-94, hier S. 92f. 20 Zu dieser Episode s. Ingrid Bennewitz, „Lukretia, oder: Über die literarischen Projektionen von der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen. Darstellung und Bewertung von Vergewaltigung in der Kaiserchronik und im Putter von Thurn“, in: Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik, hg. von Ingrid Bennewitz, Göppingen 1989 (GAG 517), S. 113-134; Marialuisa Caparrini, „La centralità della figura della regina nella Lucretia della Kaiserchronik: osservazioni linguistico-testuali“, in: Dee, profetesse, regine e altre figure femminile nel Medioevo germanico, hg. von Maria Elena Ruggerini und Veronka Szoke, Cagliari 2015, S. 191-208; Amalie Fößel, „Frauen- und Geschlechterbilder in der Kaiserchronik und die Frage der Ehre“, in: Miedema und Bein (Hgg.) (wie Anm. 1), S. 31-47; Wolfgang Mohr, „Lucretia in der ‚Kaiserchronik‘“, in: DVjs 26 (1952), S. 433-446; Claus Riessner, „Die Stadt Viterbo und die Almenia-Totila-Episode in der Kaiserchronik“, in: Miscellanea di studi in onore di Bonaventura Tecchi, hg. von Paolo Chiarini, Rome 1969, 57-66; Tibor Friedrich Pésza, Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ‚Kaiserchronik‘, Frankfurt/ M. 1993 (EHS Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1378), S. 160-175; Frank Shaw, „Ovid in der Kaiserchronik“, in: ZfdPh 88 (1969), S. 378-389; Teresa Wintgens, „Was geschah mit Lucretia? Ein Irrtum des B-Redaktors der ‚Kaiserchronik‘“, in: ZfdA 142 (2013), S. 34-44. Der Argumentation von Wintgens über die Neuakzente der B-Fassung vermögen wir uns allerdings nicht anzuschließen. 21 Texte von A, B, und C in diesem und nächsten Abschnitt auf der Basis unserer Leithandschriften - Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276 (A), Wien, ÖNB Cod. 2779 (B), ÖNB Cod. 2685 (C); die Auflösung folgt denselben Regeln wie Anm. 16. Zum Vorauer Codex: Kurt Gärtner, „Vorauer Hs. 276“, in: 2 VL, Bd. 7, 32 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young A 4368-76 Duo der helt vil balt floh ze Rome in die stat, duo claget er den altherren, wi iz im ergangen ware. si luten ir scellen: duo samenten sih die snellen. si sprachen alle dar zuo, wi iz Piternære ie getorsten tuon? si redeten daz iz groz laster wære, daz iz ie dehaimme Romære gescæhe. B do der held lussam hin wider ze Rom cham, do begund er sein not sagen den senatorn und chlagen, und sein groz swær, daz er chaum entrunnen wære von den herren ze Bittern: die heten in erslagen gern; daz wær Trierer rat. daz dauht Romer missetat. si leuten di schellen: do samten sich di snellen. hervart si swuoren, ze Bittern si vuoren. An der synoptischen Gegenüberstellung der Passagen in A und B kann man sofort erkennen, dass die Änderungen von B sich alle auf die indirekte Rede beziehen. In der A-Fassung wird der Inhalt von Conlatinus’ Klage äußerst knapp zusammengefasst: do claget er […] wie iz im ergangen ware. Der Grund dafür ist, dass die Tatsachen, über die Conlatinus Bericht erstattet, zwar den Senatoren neu, dem Zuhörer oder Leser der Chronik dagegen bereits bekannt sind: Die dieser Passage unmittelbar vorausgehenden Verse enthalten einen ausführlichen Bericht des Erzählers über den Plan der Trierer, ihren Erzfeind Conlatinus in Viterbo ermorden zu lassen, und auch darüber, wie Conlatinus gerade noch mit seinem Leben davon gekommen war. Aus Rücksicht auf das Publikum verzichtet der Verfasser von A also auf eine Wiederholung der Begebenheiten. Der Bearbeiter von B nimmt dagegen keine Rücksicht auf das Informationsbedürfnis - besser gesagt: auf die Langeweile - seines Publikums, denn in einer beträchtlich erweiterten Wiedergabe von Conlatinus’ Rede lässt er die Verschwörung und die knappe Flucht zum zweiten Mal ausführlich erzählen. Allerdings kürzt er die verbalen Reaktionen der Römer; es heißt nur lapidar: daz dauht Romer missetat (,die Römer hielten es für eine Schandtat‘) und: hervart si swuoren (,sie verpflichteten sich zum Kriegszug‘). Durch diese Kürzung wird ein besonderer Aspekt des A-Textes gedämpft: Die Empörung der Römer über die Provokation, die der Verfasser des A-Textes in indirekter Rede darstellt (,Woher nehmen sich die Viterber die Freiheit? ‘; ,Dass so etwas einem Römer passiert, ist ja unerhört! ‘), ist nunmehr lediglich als Implikat der Behauptung daz dauht Romer missetat vorhanden. Der Verlust dieses Aspekts wird jedoch durch die Einführung einer neuen Perspektive auf die erzählten Ereignisse kompensiert: Conlatinus erscheint jetzt nicht nur als tapferer Krieger, der die Römer durch seine Waffentaten - also: handelnd - für sich zu gewinnen weiß; seine Rede vor dem Senat weist ihn auch als wirksamen Orator aus, der es versteht, die Römer durch die Überzeugungskraft seiner Worte für seine Sache zu gewinnen. Berlin/ New York 1999, Sp. 516-521; zu ÖNB, Cod. 2779: Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Osterreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1, Berlin 1960, S. 287-293; zu ÖNB, Cod. 2685: ebd., S. 112. Arbeit am Text 33 Tatsächlich besteht ein hoher Anteil der Erweiterungen von B in direkten oder indirekten Reden, die Conlatinus und auch seiner Ehefrau Lukretia in den Mund gelegt werden. Als Conlatinus z. B. die Römer im Kampf gegen die Viterber führt, ergreift er die Fahne und hält in B - das ist der Unterschied - eine Ansprache, mit der er die Römer ermutigt (trœsten) und zum Kampf auffordert (manen): A 4403-04 Collatinus nam Romare van, er cherte an den burchgraben. B der Trierer Collatinus, daz puoch sagt uns alsus, nam Romer vanen, er begund si trœsten und manen. Als Conlatinus behauptet, seine Frau sei die beste, drückt er sich in B ausführlicher aus als in A: A 4441-46 Duo sprah der ellende man, der von Triere dar kom: ‘sam mir min lip! ih han daz aller frumigiste wip di der ie dehain man uf romisker erde gewan’. B do sprach der ellende man von Trier: ‘sam mir mein leip! ich hans allr beste weip die mein ougen ie gesach. ich weiz wol daz mir nie geschach von ir reht leide. dez swer ich tausent aide, daz nie weip enwart, si ist von einer reiner art, daz weiz ich wol ane wan’. Diese Ergänzung ist besonders signifikant, weil sie aus einer Prahlerei (,ich habe die allerbeste Frau, die es in Rom je gegeben hat! ‘) eine Liebeserklärung macht (,ich habe die allerbeste Frau, die mein Auge je gesehen hat‘). Conlatinus wird als getreuer Ehemann dargestellt, und seine Frau steht ihm an Vorbildlichkeit in nichts nach, wie aus seiner Rede hervorgeht. In diesem Zusammenhang verdient die Passage, in der Lukretia in die Erzählung eingeführt wird, unser Interesse. Der B-Redaktor tilgt den Hinweis auf Ovid und stellt stattdessen Lukretias von Gott gegebene sinne heraus: A 4337-46 diu hiez Lucretia: si stat in Ovidio gescriben da. do wart im daz wip rehte also der lip. duo minnet ouh in diu frowe mit aller slahte triwen, mit zuhten unde mit guote, mit aller deumuote minnete si den helt palt. si heten grozer wunne gewalt. B deu hiez Lucretia: also stet geschriben da. do er genam daz wip, si ward im liep sam der leip. ouch begunde in die vrowe minnen mit allen irn sinnen. si waz vil deumüet und phlak vil grozzer güet. da mit zierte si ir leben. die sinne het ir got geben. 34 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Mit sinne meint der Erzähler die Demut und die Güte, die Lukretias Charaker bestimmen; diese Tugenden legt sie wie ihr Ehemann nicht nur handelnd, durch vorbildliches Verhalten, sondern auch redend an den Tag. Dies sieht man deutlich an der Ansprache, die Lukretia gegen Ende der Episode vor ihren Verwandten auf dem Festmahl hält: A 4767-68 B si sprach: ‘nu vernemt freund alle wie eu daz gevalle: vil offenlichen sagete si Romæren allen wi iz ir mit dem kunige was ergangen. ich wil eu offenleichen verjehen was mir laides ist geschehen. ein vil groz missetat: der chünich mich behuoret hat. daz schult ir vernemen rehte. vor der naht næhte, do ich mich legen wolte und vil gern slaffen solte, mein leut warnt mir entwichen, der chünich der cham geslichen. dehein mich vervie: des chuniges wille an mir ergie. daz lat eu allen leit sein, freund und lieben mag mein! ’ In narratologischer Hinsicht handelt es sich um eine Situation, die Conlatinus’ Klage vor dem Senat sehr ähnelt: Eine bereits erzählte Ereignisabfolge wird erneut wiederholt, diesmal aber von einem innertextlichen oder intradiegetischen Erzähler vor einer textinternen Zuhörerschaft. In dieser Situation verfahren der jeweilige Autor bzw. Redaktor genauso wie vorher. Der Autor der A-Fassung erspart seinem Publikum die Wiederholung des ganzen Hergangs, indem er den Inhalt von Lukretias Ansprache knapp referiert (die Ähnlichkeit zu Conlatinus reicht bis in die verwendete Formulierung si sagete […] wie iz ir ergangen was); der B-Redaktor lässt dagegen die Ereignisse noch einmal ausführlich erzählen, in diesem Fall mit einer langen fingierten direkten Rede, die Lukretia in den Mund gelegt wird. Diese sermocinatio hat jedoch eine andere Funktion als die indirekte Rede des Conlatinus: Während es dem Bearbeiter dort darum ging, Conlatinus als wirksamen politischen Redner zu charakterisieren, kommt es ihm hier darauf an, das Pathos der Szene zu steigern, in der Lukretia, in ihrer Rolle als Verkörperung ehelicher Tugend und Treue, Selbstmord begeht. Damit sind wir bei der wohl signifikantesten Neuakzentuierung der Erzählung durch den B-Redaktor angelangt, und zwar die Einführung von Tarquinius und Conlatinus: A 4301-09 Daz buch kundet uns sus: daz riche besaz duo Tarquinius. der was der ubermutigest man der ie von muter in dise werlt bekom. B Daz buoch sagt uns alsus: daz reich besaz Tarquinus. er waz der übermüetigest man den ie dehein muoter gewan. des engalt er vil schiere. Arbeit am Text 35 Ain furste was bi den ziten ze Triere, der gewan michel liebe ze Tarquinio dem kunige. iz erginc in baiden ubele. er was ain riter vil gemait, […] ein vürste chom von Triere, der was ein ritter gemait, […] In der A-Fassung fängt die Episode mit beiden männlichen Protagonisten und dem Motiv ihrer Freundschaft an; die Darstellung dieser Ausgangskonstellation geschieht im Zeichen der Prolepsis iz erginc in baiden ubele. Der B-Redaktor ersetzt diese Vorausdeutung durch eine andere: des engalt er vil schiere. Diese Prolepsis bezieht sich bezeichnenderweise nicht auf beide Männer, sondern auf Tarquinius; sie wird außerdem um einige Verse vorgezogen, so dass sie unmittelbar nach dem Hinweis auf den exzessiven übermuot des Königs steht; durch die Hinzufügung der Konjunktion des (,deswegen‘) wird die Prolepsis außerdem mit dem Motiv der königlichen superbia kausal verknüpft: Tarquinius wird ein böses Ende nehmen, weil er so hochmütig ist. Was die A-Fassung als Geschichte einer Männerfreundschaft mit tragischem Ausgang präsentiert, wird in B zu einem Exemplum des vor dem Fall kommenden Hochmuts umstilisiert. Die moralisatio wird zum Schluss der Episode in einem Erzählerkommentar unterstrichen, der keinen Zweifel daran lässt, dass die Umakzentuierung der Geschichte eine vom B-Redaktor bewusst eingesetzte Strategie ist. In der A-Fassung beklagt Conlatinus in einem Selbstgespräch das Leid, das ihm der König angetan hat, bevor er diesen ersticht; der B-Redaktor streicht die Rede, um unmittelbar zur Darstellung der Tat überzugehen; und dort, wo die A-Fassung die Reaktion von den Anhängern des Königs in den Fokus bringt, spricht die B-Fassung das Urteil des Erzählers aus: wie wol sein leip dez wert waz! (,Wie wohl [der König] den Tod verdient hat! ‘) A 4808-24 also des Conlatinus gewar wart, er nam geburlich gewant, er straich nah im in daz lant. also er den kunic rehte ersach, B do leit Collatinus an sich schnœdes gewant und straich im nah untz ern vant. also schier so er in an sach, daz wart er wider sich selbem sprah: ‘owe mir mines liben wibes! owe dir dines libes! swaz min ze rate sule werden, du muost ie dar umbe ersterben’. daz ros nam er mit den sporn, vil harte rach er sinen zorn. mit grimme huop er sih dar. des enwart niemen gewar unz er durh in stach daz er niemer mer wart ersprach. Der kunic viel nider tot, di sine heten alle michel not. den herren er ze tod erstach daz er tot viel an daz graz. wie wol sein leip dez wert waz! 36 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Der Redaktor der Fassung B bemüht sich offensichtlich, das exemplarische Potenzial der Tarquiniusepisode herauszuarbeiten; dabei handelt es sich sowohl um das Herausstreichen der positiven Exemplarität von Conlatinus und Lukretia, die als Beispiele für die Tugend in den verschiedenen Bereichen von Krieg, Politik, und Ehegemeinschaft zu gelten haben, als auch um die Betonung der negativen Vorbildlichkeit des Tarquinius, der als Exemplum eines durch Hochmut zu Fall gebrachten Herrschers präsentiert wird. Dem Redaktor gelingt es zwar nicht immer ganz, diese exemplarische Linie konsequent durchzuhalten - wie unten weiter ausgeführt, gibt es Stellen, in denen der Redaktor Conlatinus Charakterzüge zu unterstellen scheint, die seiner Vorbildlichkeit eher abträglich sind -, aber die Richtung ist deutlich. Eines steht jedoch außer Frage: Der genaue Textvergleich soll die Forschung dazu veranlassen, ihre in Ermangelung einer synoptischen Ausgabe notgedrungen auf sehr kleinen Stichproben basierenden negativen Werturteile über die Kompetenz des B-Redaktors neu zu überdenken. Im Hinblick auf die Tarquiniusepisode scheint z. B. Jürgen Wolfs Charakterisierung der Fassung B als „inhaltlich nur dürftig verknüpfte[r] Flickenteppich“ eher problematisch zu sein; seiner Auffassung von den Prioritäten des B-Redaktors können wir uns auch nicht anschließen: „Augenscheinlich galt ihm der Sinngehalt des Textes und dessen Aussagewert als zweitrangig. Bestimmendes Moment waren reine Reime und die mediale Ästhetik, also das schouwen.“ 22 Unsere Untersuchungen zur Tarquiniusepisode legen nahe, dass der Bearbeiter offenbar ein sehr starkes Interesse an dem Sinngehalt und Aussagewert der Geschichte haben musste. Die Fassung C Die folgenden Textpassagen können exemplarisch zeigen, dass die Fassung C den alten A-Text auf eine ganz andere Weise und mit völlig anderen Konsequenzen als die Fassung B bearbeitet. Conlatinus macht es sich zur Gewohnheit, nach Viterbo zu reiten; seine Feinde erfahren davon: A 4355-58 B C […] Ze aller iungest nam erz im ze ainer emzechait, gnuog und vil gemait. er nam im deu emzichait: daz er dikke ze Biterne rait, daz iz im harte begunde lieben. Collatinus dar vil oft rait durch sein chürtzweil; dar sint wol viertzig meil. daz vercherten dar nah schier diche er ze Biterne rait. es begunde im ser lieben da. daz fraiscten di herren von Triere […] die herren da von Triere […] daz vraischten die von Trier sa […] 22 Jürgen Wolf, „Die Kaiserchronik A, B und C oder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff, hg. von Michael Szurawitzki und Christopher M. Schmidt, Würzburg 2008, S. 91-108, hier S. 95. Arbeit am Text 37 Man sieht, dass die Bearbeiter von B und C unabhängig voneinander den vokalischen Halbreim lieben : Triere beseitigt haben; um dies zu erreichen hat jedoch der B-Redaktor viel radikaler eingegriffen als C. Dieser wendet eine sehr einfache Lösung an, indem er die Adverbien dâ und sâ hinzufügt; dagegen löst der B-Redaktor das vorhergehende Reimpaar auf, und zwar so, dass rait sich nicht mehr auf emzechait reimt (das Substantiv wird getilgt), sondern auf das vorausgehende Adjektiv gemait, das die Damen von Viterbo qualifiziert; der Redaktor fährt dann mit einem neuen Reimpaar fort, das eine zusätzliche Perspektive in die Erzählung einführt. Mit dem Hinweis auf die räumliche Entfernung (wol viertzig meil), die Conlatinus regelmäßig zurücklegt, wird sowohl die Attraktivität von Viterbo als Reiseziel als auch die Stärke von Conlatinus’ Gewohnheit unterstrichen. (Um auf die oben aufgeworfene Frage nach der Konsequenz, mit welcher die B-Fassung das Exemplarische herausstellt, zurückzukommen: An dieser Stelle scheint Conlatinus eine Verhaltensweise unterstellt zu werden, die an das Obsessive grenzt und daher dem sonst so vorbildlichen Protagonisten als charakterliche Schwäche ausgelegt werden kann.) Das darauffolgende Reimpaar mit dem reinen Reim schier : Triere (wohl haben wir mit Apokope von schiere in der mundartlich oberdeutschen Leithandschrift B1 zu rechnen) bringt einen weiteren neuen Aspekt in die Erzählung hinein, und zwar den der narrativen Prolepsis: Der Wechsel des Verbs - anstelle von vereischen (,erfahren‘) hat B verkêren (,ins Entgegengesetzte verkehren, vereiteln‘) - indiziert, dass dem Vergnügen, das Conlatinus an seinen regelmäßigen Aufenthalten in Viterbo findet, sehr bald durch seine Feinde ein Ende bereitet wird. Obwohl die Eingriffe von C in sprachlicher Hinsicht minimal ausfallen und sehr nahe am alten Text von A bleiben, verändern sie die Dynamik der Erzählung in erheblichem Maße. So wie A die Geschichte erzählt, darf der Leser oder Zuhörer annehmen, dass zwischen der Herausbildung von Conlatinus’ Gewohnheit und der Entdeckung derselben durch die Trierer etwas Zeit verflossen ist: V. 4357 (daz ez im harte begunde lieben) schließt den ersten Vorgang mit einer resümierenden Aussage über die Wirkung ab, die die Viterboaufenthalte allmählich auf Conlatinus ausüben; V. 4358 (daz fraiscten di herren von Triere) leitet dann zum nächsten Vorgang über: Es kommt den Trierern zu Ohren, dass ihr Feind Conlatinus gern und regelmäßig in Viterbo ist (daz kann sich auf den Inhalt der vorausgehenden drei Verse beziehen). Wie schnell die Trierer davon erfahren bleibt offen - sofort? nach längerer Zeit? Es entsteht somit eine narrative Leerstelle, die es dem Rezipienten ermöglicht, das Vergehen der Zeit zu imaginieren und zu spüren. Das vom C-Redaktor hinzugefügte Adverb sâ füllt die narrative Leerstelle aus: Die Trierer erfahren sofort von Conlatinus’ Aufenthalten. Das Reimwort dâ bewirkt obendrein, dass der Eindruck eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Gewohnheit und Gefährdung entsteht: Conlatinus ist gern dort, in Viterbo, und so kann es nicht anders kommen, als dass seine Feinde sogleich davon erfahren. Die Reduktion von Unbestimmtheit und die damit einhergehende Lösung der Spannung sind kennzeichnend für die Erzählregie der Fassung C. Dies demonstriert etwa der Dialog zwischen Tarquinius und der Königin, nachdem sie von der Wette zwischen den zwei Männern erfahren hat und die Wiederherstellung ihrer Ehre fordert. Hier nimmt der Bearbeiter erhebliche Kürzungen an seiner Vorlage, dem A-Text, vor: A 4653-61 Der kunic ir rehte sagete also er gewettet habete. diu kuniginne verstuont daz, daz iz ir ze vare getan was. si lac dem kunige an, si tet im manicvalte mane: er gewunne ir wider ir ere - ir gescæhe nie nehain herzelait so grozez mere - ode si gewunne niemer guot gemute. C der chunic ir rechte sagt, des wettes er nicht gedagt. deu chuniginne het daz für war, es wær ir getan ze var. si lag dem chunige an, si tet im manichvalt man. Der C-Bearbeiter verzichtet auf die indirekte Rede der Königin, die den Inhalt ihrer manicvalte mane referiert. In dem unmittelbar darauffolgenden Erzählabschnitt findet sich eine noch radikalere Kürzung. Die A-Fassung stellt die Reaktion von Tarquinius auf die Forderung seiner Frau in direkter Rede dar: Die Königin tue Conlatinus ein großes Unrecht; er sei ein guot kneht, seine Frau ein frumec wip; er (Tarquinius) habe keinen Anlass, sie zugrunde zu richten. Von dieser Rede, in der Tarquinius sich weigert, der Forderung seiner Frau nachzukommen, gibt es in der C-Fassung keine Spur. Stattdessen fährt der Erzähler mit einer Rede der Königin fort: A 4667-70 Diu kuniginne begunde wainen. si sprah: ‘der triwen sin wir iemer mer gescaiden. du hast mih verlorn, ih enwil niemer mer in din bette komen’. C Deu chuniginne wainet ser. si sprach: ‘wir schaiden uns immer mer. mir werde mein laster e benomen, ich wil nimmer an dein bette chomen’. In der A-Fassung sind diese Worte eine Replik auf die Weigerung des Königs, gegen Conlatinus und Lukretia einzuschreiten. Da diese Weigerung in der C-Fassung fehlt, sind dieselben Worte keine Erwiderung mehr, sondern die unmittelbare Fortsetzung der manichvalt man, der zahlreichen Ermahnungen der Königin, die in der Drohung gipfeln, ihrem Ehemann den Geschlechtsverkehr zu verweigern. Die Kürzung zerstört die Dynamik des Gesprächs, wie es von A gestaltet wird. Dort kann man eine fortschreitende Intensivierung der rhetorischen Überzeugungsmittel beobachten, die die Königin einsetzt: Zunächst ermahnt sie ihren Mann; als ihre Worte ohne Wirkung bleiben eskaliert sie die Situation erst mit Tränen und dann mit Drohungen. Der König gibt dann der Forderung seiner Frau nach: A 4671-76 Der kunic sprach ir uber lanc zu: ‘waz ratest du daz ih dar umbe tuo? ’ si sprach: ‘herre, wil du behalten minen list, ih rate dir daz du daz selbe wip erwirvest’. C Der chunic sprach ir aver zuo: ‘waz wil du daz ich dar umb tue? ’ si sprach: ‘lieber herre mein, wil du mir gevolgich sein, ich rate dir sam mir mein leip, daz dir wirt daz selb weip’. ‘entriwen’, sprah der kunic here, ‘des rates volge ih dir gerne’ ‘entreuwen’, sprach er, ‘gern den rat ich von dir lern’. Die signifikante Änderung befindet sich im ersten Vers. In der A-Fassung reagiert Tarquinius auf die Tränen und Drohung seiner Frau uber lanc - nach einer längeren Pause. 38 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young Arbeit am Text 39 Damit gelingt es dem Erzähler, einen Denkprozess zu suggerieren, der beim König zu einer Meinungsänderung führt: Tarquinius lehnt die Forderung seiner Frau zunächst kurzerhand ab und gelangt erst nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss, er sollte ihr doch besser nachgeben. (Wieder ist Unbestimmtheit im Spiel, weil man ja nie genau erfährt, was der König während dieser längeren Gesprächspause alles überlegt.) In der C-Fassung wird das adverbiale uber lanc durch ein aver ersetzt, das - gleich, ob man es mit ,noch einmal‘ oder ,jedoch‘ übersetzt - im Zusammenhang völlig sinnlos ist: Es handelt sich hier um die erste Rede des Königs überhaupt, und es gibt nichts, wozu seine Worte in einem kontrastiven oder gegensätzlichem Verhältnis stünden. Die Dynamik des Gesprächs und das Spannende daran sind aus der Erzählung verschwunden: Den widerwilligen Gesprächspartner, auf den man mit immer drastischeren rhetorischen Mitteln (Forderung, Tränen, Drohung) einreden muss, sowie den spannungsvollen Ablauf des Dialogs - wird der König von seiner anfänglichen Weigerung abrücken oder bleibt er unnachgiebig? - ersetzt die C-Fassung durch ein einfaches Nacheinander von Verlangen und Nachgeben: Die Königin stellt ihre Forderungen mit Tränen und Drohungen, so dass der König einlenkt. Ob die spannungsarme Erzählregie von C ein bewusst verfolgtes Ziel des Bearbeiters war, oder ob sie das Nebenprodukt formaler Änderungen ist, lässt sich schwer bestimmen. Die Auslassung ganzer Reden durch den Redaktor spricht für eine mit Bedacht eingesetzte Erzählstrategie; andererseits muss man auch berücksichtigen, dass die veränderten Zeit- und Gesprächsdynamiken sehr oft mit der Herstellung von reinen Reimen und metrisch einwandfreien Vierhebern einhergehen. So begünstigt der Reim dâ : sâ, der die alte Assonanz lieben : Triere ersetzt, den Eindruck eines automatischen Fortschreitens von einer Situation (Conlatinus hält sich oft und gern in Viterbo auf) zu einer anderen (die Trierer haben es herausbekommen); der Vers Der chúnic sprách ir áver zúo ist ein Vierheber mit regelmäßiger Alternation von Hebung und Senkung, aus dem fünfhebigen Vers von A gebildet: Der kúnic sprách ir úber lánc zú ; vielleicht wurde das Adverbiale uber lanc, das eine längere Denkpause auf der Seite des Königs suggeriert, einfach aus metrischen Gründen und ohne besondere Rücksicht auf die Gesprächsdynamik durch das kürzere aver ersetzt. Die Frage - gewollte Strategie oder beiläufiges Nebenprodukt formaler Änderungen? - lässt sich erst durch weitere Untersuchungen der C-Fassung mit größerer Klarheit beantworten. Eines jedoch kann man bereits mit Bestimmtheit sagen: Die Redaktionen B und C sind eigenständige Bearbeitungen, die ihre Vorlage auf eigene Weise, mit eigenen Prioritäten und eigenen Wirkungen retextualisieren. Das ist ein wichtiges Ergebnis, zumal die Forschung immer wieder dazu geneigt ist, beide Fassungen über einen Leisten zu schlagen, da sie in den B- und C-Redaktionen kaum etwas anderes als die mehr oder weniger gelungene formale Neuerung der frühmhd. Fassung A sehen wollte. 23 Jede Redaktion hat jedoch ihre Eigenart, die zu beschreiben eine künftige Aufgabe der Forschung und Literaturgeschichtsschreibung sein wird und - wie wir hoffen - durch die synoptische Neuedition der Kaiserchronik und die damit verbundenen Studien erst ermöglicht und erleichtert wird. 24 23 Das Urteil gilt seit den ersten Editionen des Werkes im neunzehnten Jahrhundert beinahe ungeändert als Gemeingut der Forschung: Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts, Dritter Theil, hg. von Hans Ferdinand Massmann, Quedlinburg and Leipzig 1854 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 4,3), S. 221f., 231f.; Die Kaiserchronik (wie Anm. 6), S. 7, 19. 24 S. jetzt ausführlicher zu dieser Frage Chinca, Hunter, Young, „The Kaiserchronik and its Three Recensions“ (wie Anm. 11), bes. S. 207f. Die andere Kaiserchronik 41 Die andere Kaiserchronik Jan-Dirk Müller Die Kaiserchronik 1 steht am Anfang der Auseinandersetzung volkssprachiger Geschichtskunde mit gelehrter Geschichtsschreibung. Es sind vor allem zwei Prinzipien, die ihren Stoff organisieren: die Chronologie und die strikte Abfolge der römischen Kaiser. Bekanntlich verstößt sie im Einzelnen gegen beide: Die Angaben der Regierungszeiten sind durchweg falsch, und die Reihe der Herrscher ist sowohl lückenhaft als auch um Namen erweitert, die nicht hineingehören. Trotzdem weisen beide Prinzipien nach allgemeiner Ansicht auf ein Geschichtsverständnis, das dasjenige einer volkssprachigen Laiengesellschaft von Grund auf transformiert. Selten wurde die Gegenrechnung aufgemacht, der Anteil eines ‚anderen‘ Konzepts von Geschichte an der Kaiserchronik. Karl Stackmann hat auf einen Beitrag von Hanna Vollrath aufmerksam gemacht, 2 die vom „Sog“ der mündlichen laikalen Kultur auf die litterate Kultur der Kleriker sprach: Sie sagt, daß es während des jahrhundertelangen Nebeneinanders der zwei Kulturen, der mündlichen und der schriftlichen, im Mittelalter zu Rückwirkungen oraler Geschichtsauffassung auf die Träger der Schriftkultur gekommen ist. Von dieser hat er das auf „literarischer Überlieferung“ gründende mittelalterliche Geschichtsdenken abgesetzt: es ist ein Denken in der Dimension der Heilsgeschichte. Geschichte wird vorgestellt als eine gerichtete Bewegung, die von einem Anfang - der Schöpfung - her über eine geordnete Folge bedeutsamer Ereignisse bis zur Zäsur des Erscheinens Christi und von da über die Gegenwart weiter bis zu einem letzten Ziel - dem Jüngsten Gericht - führt. Für ein solches Denken ist eine klare Unterscheidung der Vergangenheit, des bereits zurückgelegten Weges, von der Gegenwart und der noch bevorstehenden Zukunft eine Selbstverständlichkeit. 3 Die Kaiserchronik wird in der Regel in dieser Perspektive gelesen. 4 Auch wo man einer theologisch-typologischen Deutung reserviert bis skeptisch begegnete und sich der Erzähltechnik, der narrativen Verknüpfung, dem Aufbau und dergleichen widmete, herrscht Konsens, dass die Kaiserchronik von der lateinischen Chronistik des 11. und 12. Jahrhun- 1 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder [1892], Nachdruck München 2002 (Monumenta Germaniae Historica. Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters I,1). 2 Hanna Vollrath, „Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften“, in: HZ 233 (1981), S. 571-594. 3 Karl Stackmann, „Erzählstrategie und Sinnvermittlung“, in: Karl Stackmann, Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I, hg. von Jens Haustein, Göttingen 1997, S. 51-69; hier S. 53. 4 Maßgeblich war besonders die Arbeit von Friedrich Ohly (Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung [1940], 2 Darmstadt 1968). 42 Jan-Dirk Müller derts abhängig ist und in diesem Kontext erforscht werden muss. 5 Mein Beitrag fragt nach Spuren einer anderen Geschichtsauffassung. Das ist eine Sichtweise, die sich u. a. in der Verschiebung des Schwerpunktes der Textanalyse abzeichnet. Zunehmend kommen bisher weniger beachtete Teile der Kaiserchronik in den Blick, wie z. B. die nachkarolingische Geschichte, in der sich deutlicher als in gelehrter Geschichtsschreibung das Selbstverständnis der Laiengesellschaft abzeichnet. 6 Die Kaiserchronik will eine crônicâ sein (V. 17). Eine crônicâ rechnet von einem Gegenwartspunkt zurück und vermisst genau den Abstand zu denen, die vor uns wâren / unt Rômisces rîches phlâgen-/ unze an disen hiutegen tac (V. 21-23). Sie gehört also zum zweiten der von Stackmann skizzierten Typen. Seinen Anspruch sucht der Kaiserchronist durch ein möglichst lückenloses chronologisches Gerüst zu erfüllen, das die Geschichte des römischdeutschen Kaisertums vollständig organisiert. Erst eine schlüssige Chronologie kann Basis einer kausalen Verknüpfung von Geschehnissen sein, die als wahrscheinlich gelten kann und den gelehrten Vorbehalt gegen die volkssprachige Geschichtskunde abweist. In der Tat dominiert die Ausrichtung der Kaiserchronik an der chronologischen Ordnung einen großen Teil des Textes und hat entsprechend die meiste Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden, zumal wo die durch gelehrte Überlieferung gesicherte Geschichtszeit mit Sage kollidiert wie beim Ostgotenkönig Theoderich dem Großen. 7 Doch ist das nur die eine Seite. Mathias Herweg hat auf die eigentümliche narrative Struktur eines Textes hingewiesen, der für ein noch ungeübtes volkssprachiges Publikum bestimmt ist. 8 In vielem bleibt das gelehrte Geschichtskonzept stecken. Bekanntlich nimmt die Kaiserchronik viel Sagenmaterial auf; insbesondere in den Randzonen des Textes bemüht sie sich nicht um eine exakte Chronologie. Es sind vor allem drei Komplexe, die sich dem chronologischen Prinzip entziehen: 1. die vielen Sagen und Legenden, 9 die der Erzähler einschaltet, 2. die Vorgeschichte 5 Vgl. etwa Christian Gellinek, Die deutsche Kaiserchronik. Erzähltechnik und Kritik, Frankfurt a. M. 1971; Annegret Fiebig, „vier tier wilde. Weltdeutung nach Daniel in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Deutsche Literatur und Sprache 1050-1200. Fs. Ursula Hennig, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 27-49; Johannes Dickhut-Bielsky, Auf der Suche nach Wahrheit in ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘. Poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtungen, (= Beihefte zur ZfdA 23), Stuttgart 2015; Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen crônicâ. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017. 6 Vgl, Christoph Petersen, „Zeit, Vorzeit und die Narrativierung von Geschichte in der Kaiserchronik“, in: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353; ders., „Die Kaiserchronik und der deutsche Adel“, in: PBB 141 (2019), S. 182-224. Petersen sieht eine „Emanzipation der Kaisergeschichte von ihrer heilsgeschichtlichen Einbettung“ (S. 198). 7 Ernst Hellgardt, „Dietrich von Bern in der deutschen Kaiserchronik. Zur Begegnung mündlicher und schriftlicher Tradition“, in: Deutsche Literatur und Sprache 1050-1200. Fs. Ursula Hennig, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 93-110. 8 Mathias Herweg, „Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik“, in: Lili 47 (2017), S. 281-302. 9 Diese von Ohly (wie Anm. 4) geprägten Begriffe sind dem Begriff ‚Novelle‘ (Wolfgang Mohr, „Lucretia in der Kaiserchronik“, in: DVjs 26 (1942), S. 443-446) vorzuziehen, denn dieser suggeriert eine geprägte literarische Form. Novellenstoffe enthalten die Einschübe zweifellos, aber sie verselbständigen sich gerade nicht gegenüber ihrer historiographischen Umgebung. Die andere Kaiserchronik 43 des kaiserlichen Rom und 3. der weltgeschichtliche Rahmen der Geschichte des römischen Reichs. 10 Kurz zu eins: Die Ordnung, der der Kaiserchronist sein Material unterwirft, ist immer dann gefährdet, wenn der zu erzählende Stoff eine eigene Faszination entwickelt. Das ist vor allem bei den eingeschobenen Sagen und Legenden der Fall, die mehr oder minder beliebig in den chronologischen Rahmen gezwängt werden, ohne genauer zeitlich fixiert zu sein: ez bechom (V. 690, Veronikalegende); Eines tages (V. 909, ein Verbrechen bei der Eroberung Jerusalems); Duo stuont iz unlange (V. 1235, Faustinianlegende); Aines tages kom iz sô (V. 4415, Beginn der - falsch datierten - Lucretia-Handlung); der cunich siechen began (V. 7813, Einsatz der Silvesterlegende) usw. Solche Zeitangaben sind in frühmittelalterlichen volkssprachigen Erzählungen überall da üblich, wo nicht, wie etwa im Heliand, die heilsgeschichtliche Ordnung der Geschichte genauere Bestimmungen verlangt. 11 Das erzählenswerte Ereignis wird, so gut es geht, in die Herrscherchronologie eingefügt. Zu diesem Zweck muss Tarquinius, der Schänder der Lucretia, römischer Kaiser sein und viereinhalb Jahre und zwei Monate herrschen. Die Einschübe sind Relikte eines anderen Geschichtsverständnisses, das auf Bedeutsamkeit statt chronologische Vollständigkeit setzt. Zu zwei: Der Erzähler nimmt einige Umwege, bevor er in die Chronik der Kaiser und Päpste einlenkt. Der Einsatz der Erzählung mit dem vor-kaiserzeitlichen Rom verliert sich ebenfalls in einem nebelhaften ‚Irgendwann‘, das typisch für frühe volkssprachige Epik ist: 12 Hie bevor bi der haiden zîten (V. 43). Hie bevor ist von dem Zeitpunkt her gedacht, an dem die ‚eigentliche‘ Geschichte einsetzt: Die ‚eigentliche‘ Geschichte ist Geschichte des römischen Kaisertums als Rahmen der Christenheit; der haiden zîten fallen aus der Chronologie heraus. Man fragt nicht nach genauerer zeitlicher Artikulation. ‚Damals‘ stieg Rom durch die Brüder Romulus und Remus zur Weltherrschaft auf (V. 50); das war ‚irgendwann‘; sît (V. 55) - seitdem oder auch später - dienten ihm elliu diu rîche (V. 56). Es ist eine ungemessene Zeit vor der Zeit. Auch in diesem Abschnitt gibt es eine Zeitrechnung, doch ist es der römische Kultkalender, der seine Spuren in der christlichen Zeitrechnung hinterlassen hat und der in der Perspektive seiner christlichen Überwindung dargestellt wird. Zu drei: Der Einsatz der ‚eigentlichen‘ Erzählung erfolgt unvermittelt: Aines tages iz geschach (V. 235), dass eine schelle anzeigt, das Dûtisc volch (V. 246) habe sich gegen Rom erhoben. Damit geraten die Römer mit demjenigen Volk aneinander, das ihre weltgeschichtliche Rolle übernehmen wird. 13 Die Aufgabe, den Aufstand zu befrieden, wird Julius Caesar übertragen. Es beginnen die Auseinandersetzungen Caesars mit den Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken. Damit schweift der Blick wieder in eine chronologisch nicht vermessene Vorgeschichte, in ‚Heldenzeit‘, die - etwa die Thüringer-Sage - auch in einigen kryptischen Anspielungen präsent ist. Diese Wendung zur Sage hat Konsequenzen für die Erzählweise. Deutlich sind noch heldenepische Initialformeln erkennbar: 14 ze Swâben was 10 Jan-Dirk Müller, ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), S. 315-322. 11 Müller (wie Anm. 10), S. 307. 12 Müller (wie Anm. 10), S. 295-327. 13 Dies, die Entsprechung zwischen Caesar, dem römischen Gründer des Reichs, und Karl d. Gr., seinem ‚deutschen‘ Erneuerer - und nicht die heilsgeschichtliche Rolle des römisch-deutschen Weltreichs - scheint das eigentliche Anliegen des Kaiserchronisten (Petersen, „Zeit, Vorzeit“ [wie Anm. 6], S. 350 u. ö.). 14 Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 105f. 44 Jan-Dirk Müller dô gesezzen-/ ain helt vil vermezzen-/ genant was er Prenne (V. 273-275); in Bayern vil manich tegen inne saz (V. 294); Franke gesaz am Rhein (V. 373). Die Alexander-Sage wird in der Genealogie der Sachsen aufgerufen, denn diese stammen von des wunderlîchen Alexanders man ab (V. 328), von dem sagenhaften Heros, nicht dem Herrscher über das dritte Weltreich. Die Franken kommen wie das Geschlecht Caesars aus Troja, was Anlass ist, die Trojanersage einzuspielen, auf die Irrfahrten des Odysseus zu kommen, die Geschichte des Aeneas, die Städtegründungen durch versprengte Trojaner. Dabei bleibt das zeitliche Verhältnis dieser Sagen zueinander unartikuliert. Alles spielt in einer dunklen Gleichzeitigkeit. Caesar besiegt die Stämme der Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken, gründet feste Plätze in Deutschland, erobert Trier, und steht damit an der Spitze dieser heroischen Welt, unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren (V. 453f.). Wenn man ihm die Rückkehr nach Rom versagt, kann er mit Hilfe der Herren in Dûtiscem rîche (V. 464) die Herrschaft in Rom erobern. Jetzt könnte die Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums beginnen, in das der Kaiserchronist die Geschichte der Evangelien und des frühen Christentums einordnet und die er klar chronologisch vermessen muss. Doch wird das chronikalische Prinzip, ohnehin erst nach längerem Anlauf erreicht, noch einmal verwirrt, wenn die geschichtstheologische Lehre von den vier Weltreichen, die aus der Auslegung zweier Träume durch den Propheten Daniel abgeleitet wird, eingespielt werden soll. 15 Sie stammt wieder aus dunkler Vorzeit und erfüllt sich zur Zeit Caesars. In der schon bekannten unbestimmten Weise einer vorchronologischen Zeitbestimmung heißt es: In den zîten iz gescach dannen der wîssage Dâniêl da vor sprach daz der chunic Nabuchodonosor sîne troume sagete die er gesehen habete (V. 526-529) 16 Wie häufig in den Adaptationen des Traums, sind Daniel 2 (der Traum des Nabuchodonosor) und Daniel 7 (Daniels Traum) zusammengelegt. In dem zweiten Traum zeigen vier Tiere, die Daniel sieht, vier künftige Reiche an. Das erste Tier ist eine geflügelte Löwin, das zweite ein Bär mit riesigen Zähnen, das dritte ein geflügelter Leopard; das vierte ist ein besonders furchtbares, jedoch unbezeichnetes Tier mit zehn Hörnern, dem ein elftes wächst. Seit der Spätantike stehen die vier Tiere für die Reiche der Babylonier, der Meder und Perser, der griechischen Makedonier (Alexander) und schließlich der Römer; das elfte Horn, auf das vierte Tier übertragen, kündigt den Antichrist an. 17 Die Weltreichelehre gliedert 15 Vgl. Jan-Dirk Müller, „Eber, Wildschweine überhaupt“, in: Tiere. Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Festschrift Ute von Bloh, hg. von Judith Klinger und Andreas Kraß, Köln u. a. 2017, S. 103-118; hier S. 107-109. 16 In dieser älteren Publikation (wie Anm. 15) entsteht der Eindruck, als datierte ich die Danielsprophezeiung selbst in die Zeit Caesars. Gesagt wird aber, dass sich damals erfüllt, was Daniel prophezeite; zu den Übersetzungsschwierigkeiten Fiebig (wie Anm. 5), S. 40f. 17 Zur Danielsprophezeiung Werner Goetz, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; Edgar Marsch, Biblische Prophetie und chronographische Dichtung. Stoff- und Wirkungsgeschichte der Vision des Propheten Daniel nach Dan. VII, Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 65); Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst, hg. von Katharina Bracht und David S. du Toit, Berlin/ New York 2007 (Beihefte der Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft 371) (spart allerdings die Kaiserchronik aus); vgl. Heinz Thomas, „Translatio imperii“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, Sp. 945. Die andere Kaiserchronik 45 Heilsgeschichte; in dieser ist das Römische Reich ausgezeichnet: An seinem Anfang, in der Fülle der Zeit, wird Christus geboren, und es dauert bis zum Weltende, bis zur Herrschaft des Antichrist. Allerdings ist sein Fortbestand im römisch-deutschen Kaisertum in der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung keineswegs selbstverständlich, doch setzt sich dieses Bild im 11. und vor allem 12. Jahrhundert durch. 18 Die Kaiserchronik kann also nicht auf eine jahrhundertelange Tradition bauen, sondern vertritt mit ihrer Reihe römischer und deutscher Herrscher einen relativ neuen Trend. Sie nimmt die Deutungsvorgabe auf, besetzt sie aber in charakteristischen Einzelheiten um. Der Versuch des Kaiserchronisten, Daniels Prophezeiung seinem Geschichtswerk zu integrieren, zeigt, dass er diese Tradition kennt, doch ändert er ihre Bedeutung. 19 Zum einen verändert er die Reihenfolge der Tiere, von denen Daniel träumt (Löwe, Bär, Leopard, von Daniel unbenanntes Untier), in Leopard, Bär, unbenanntes Untier (= Eber) und Löwin. Damit wird der Bezug auf die seit der Spätantike übliche Zuweisung der beiden ersten Weltreiche auf die vorderasiatischen Großreiche und die translatio imperii von Osten nach Westen zerstört. Am Anfang stehen die Griechen, dann folgt ein Tier, der Bär, der nicht für ein bestimmtes Weltreich steht, vielmehr der bezaichenet driu [! ] kunincrîche / diu wider aim solten grîfen (V. 567f.) - welche das sein sollen, bleibt offen -, dann kommt schon an vorletzter Stelle Rom, an letzter das Reich des Antichrists. Auch ist die Bezeichnungsfunktion gestört: Geht es um Reiche oder um einzelne Herrscher? Der von Edward Schröder herausgegebene Text ist da unentschieden. Seine Lesart - die Übertragung der Prophezeiung über die Reiche auf eine Prophezeiung über einzelne Herrscher - hat sich durchgesetzt, 20 obwohl sie seiner eigenen Ausgabe zufolge keineswegs sicher ist. Zunächst heißt es: […] ûz dem mer giengen vier tier wilde. diu bezeichent vier chunige rîche, die alle dise werlt solten begrîfen. (V. 532-535). 18 Goetz (wie Anm. 17 ), S. 76f., 89 u. ö.; vgl. den Sammelband Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus dem Jahren 1933 bis 1959, hg. von Walter Lammers, Darmstadt 1961 (Wege der Forschung 21). Die karolingische Geschichtsschreibung betont den fränkisch-christlichen Charakter des Kaisertums Karls des Großen. Das weströmische Reich ist untergegangen (Regino von Prüm, Frechulf von Lisieux, Aso von Vienne) (Heinz Löwe, „Karl der Große und das Weltbild der Karolinger“, in: ebd., S. 91-134). Wo die Weltreichelehre Daniels aufgenommen wird, da erscheinen die weltlichen Reiche als böse (Erich Meuthen, „Der Geschichtssymbolismus Gerhohs von Reichersberg“, in ebd., S. 200-246; hier S. 222f.). Erst in der Generation Ottos von Freising, also ungefähr zur Zeit der Abfassung der Kaiserchronik, beginnt sich der Gedanke eines Fortlebens des Römischen Reichs im deutschen Kaisertum und der Franken als Nachfolger der Römer durchzusetzen; die Danielsprophezeiung kündigt den Weg der Weltherrschaft von Osten nach Westen an ( Johannes Spoerl, „Die Civitas dei im Geschichtsdenken Ottos von Freising“ in: ebd., S. 298-320; hier S. 313f.); Anna-Dorothee von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957. 19 Fiebig (wie Anm. 5), S. 31-38: Es lässt sich keineswegs von einer einheitlichen Auslegungstradition bis ins 12. Jahrhundert sprechen. Die Verbindung der deutschen Stämme mit der Weltreichelehre und die Eroberung der Weltreiche durch Cäsar (S. 43-45) sind nicht überzeugend begründet. 20 Schröder (wie Anm. 1), S. 90, nimmt an: „zu der umstellung der tiere kann compilator nur eine von Anno 185 Künincriche abweichende auffassung geführt haben; die tiere bezeichnen die könige, nicht die reiche, und deshalb setzt er statt Babylon den Alexander an erste stellen.“ 46 Jan-Dirk Müller Das könnte auch ‚vier Reiche von Königen‘ bedeuten. 21 Doch die folgenden Ausführungen machen diese Deutung unwahrscheinlich: Beim zweiten, dem Bären, ist gegen Schröders Schreibung driu kunincrîche wohl eher an drei Könige (driu kuninc rîche) zu denken (V. 567); beim ersten, dem Leopard, und dem dritten, dem Eber, ist vollends klar, dass auf einzelne Herrscher verwiesen wird, auf Alexander und den tiurlîchen Juljum (V. 572). Über Alexander heißt es: Daz êrste tier was ein liebarte; der vier arenvetech habete, der bezaichinet den Chrichisken Alexandrum, der mit vier hern vuor after lande unz er der werlt ende rechande. […] vil manic wunder relait der selbe man, ain drittail er der werlte under sih gewan. (V. 536-540; 563f.) Auch das dritte Tier bezeichnet einen einzelnen Herrscher: Daz dritte ain fraislich eber was, den tiurlîchen Juljum bezaichenet daz. der selbe eber zehen horn truoc, dâ mit er sîne vîande alle nider sluoc. Juljus bedwanch elliu lant, si dienten elliu sîner hant. wol bezaichenet uns daz wilde swîn Daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 573-578) Das vierte Tier, eine Löwin, meint dann den Antichrist (V. 585), dessen Herrschaft nicht am Ende des römischen Reichs steht, sondern am Ende der Zeiten kommen wird. Damit verändert sich die Geschichtskonzeption fundamental, denn die Prophezeiung enthält kein Ordnungsmuster der Weltgeschichte insgesamt mehr. Indem die Reihenfolge verändert und der Antichrist sowie das elfte Horn des Ebers vom Repräsentanten Roms abgespalten und auf das vierte Tier übertragen sind, wird zwar, wie die Forschung bemerkt hat, das römische Reich von negativen Konnotationen entlastet. 22 Aber es rückt aus seiner weltgeschichtlichen Position - als Telos von Geschichte überhaupt und als Aufschub des Erscheinens des Antichrist - heraus. Durch die Übertragung des prophetischen Tiers auf Caesar verweist der Eber nicht mehr auf die „christliche Erfüllung“ 23 der Weltgeschichte im römischen Reich, und es ist nicht mehr nötig, in einer Formulierung von Friedrich Ohlys Schüler Klaus Speckenbach, mit einer „unerhörte[n] und kühne[n] Umdeutung des Ebersinnbildes“ durch den volkssprachigen Autor zu rechnen. 24 21 Vgl. Schröders Apparat (wie Anm. 1), S. 90. 22 So Ohly (wie Anm. 4), S. 48. 23 Ohly (wie Anm. 4), S. 48: Caesar sei der Herrscher, „der das römische Reich in der ihm innewohnenden auf christliche Erfüllung gerichteten Anlage, nicht in seiner Verworfenheit, bei seinem Anfang verkörperte.“ 24 Klaus Speckenbach, „Der Eber in der deutschen Literatur des Mittelalters“, in: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, hg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruberg, Bd. 1, München 1975, S. 425-476; hier S. 427. Die andere Kaiserchronik 47 Die Verknüpfung des Ebers mit Caesar verwandelt die Danielsprophezeiung aus einer geschichtstheologischen Aussage in die Rühmung eines Heros. 25 Julius ist ain vermezzen helt (V. 249), en allen wîs was er ein helt guot (V. 256), er wird ain guot kneht genannt (V. 267), der mit offenem strîte (V. 279) seine Gegner niederwirft. Diese sind guote reken / […] wol vertic unt wol wîchaft. / iedoch betwanc Juljus Cêsar alle ir chraft (V. 294-296). Indem der Eber auf ihn verweist, teilt er diese Eigenschaften dem römischen Reich mit: wol bezaichenet uns daz wilde swîn / daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 577f.). Wie der Heros wird es nie einem anderen unterworfen werden. Die Prophezeiung wird mit einem anderen Deutungsmuster überschrieben. 26 Es ist erstaunlich, dass Ohly, der im Allgemeinen die lateinisch-geistliche Tradition als gültigen Interpretationsrahmen volkssprachiger Literatur ansieht, ausgerechnet in diesem Fall der Volkssprache Vorrang einräumt. Begründet ist das darin, dass ein Teil der Umdeutung sich schon im Annolied findet, von der die Kaiserchronik hier abhängig ist. Die Forschung ist trotz ihrer Skepsis gegenüber Ohlys typologischer Deutung der Kaiserchronik ihm in diesem Punkt gefolgt. 27 Ein Werk, das sich derart explizit in die Tradition gelehrter Geschichtsschreibung stellt, scheint an deren geschichtstheologischer Deutung teilhaben und den Eber deshalb als positives Zeichen deuten zu müssen. Das ist angesichts der geistlichen Tradition alles andere als selbstverständlich. Die Deutung des ungenannten vierten Tiers der Danielprophezeiung als wilder Eber geht auf den Kirchenvater Hieronymus zurück, der es mit dem aper de silva identifizierte, der laut Ps. 79,16 den Weingarten Gottes verwüstet. 28 Hieronymus sagt, Daniel verschweige den Namen des Tieres, damit man es sich umso schrecklicher vorstellen könne (ut quidquid ferocius cogitaverimus in bestiis). 29 Alle Tiere, die Daniel sieht, sind schreckliche Tiere; das letzte wird alle Lande vernichten (Dan 7,23). Dies - und nicht nur entgegenstehende zeitgeschichtliche Erfahrungen mit dem spätrömischen Reich -, veranlasste Augustinus, in De 25 Diese Heroisierung gilt auch für den Bären, der fraissam und nicht zu zähmen ist (V. 569 f). Der Formulierung von V. 565-570 in A kann Schröder ebenso wenig wie denen in B und C Sinn abgewinnen (Schröder [wie Anm 1.], Apparat S. 91). 26 Dazu passt auch, dass der dem Geschichtsmodell eingeschriebene Translatio-Gedanke eine geringe Rolle spielt (Petersen, „Zeit, Vorzeit“ [wie Anm. 6], S. 342). Den einzelnen „disjunkten, aneinander gereihten Episoden“ fehlt ein „integrierende[s] Zeitsystem“ (S. 327). Die für die providentielle Rolle Roms konstitutive Christianisierung ist „nicht als geschichtliche Zäsur (Wende) modelliert“ (S. 341); sie ist ad hoc auf viele Episoden verteilt. Das Hin und Her zwischen griechischen und römischen Herrschern bei wachsender „Dissoziation“ ist auch nicht als gerichteter, gottgelenkter Prozess (S. 343f.) erzählt, sondern soll offensichtlich den Konkurrenten in Byzanz diskreditieren. Die Karlsepisode „ist zwar mit dem Modell einer Translatio imperii ad Francos kompatibel. Akzentuiert wird hier allerdings nicht die im Translatio-Modell implizierte geschichtliche Kontinuität, sondern erneut ein mit Karls Herrschaftsübernahme verbundener Kontinuitätsbruch“ (S. 345), der allerdings auf den „absolute[n] Beginn der Reichsgeschichte“ unter Caesar zurückverweist (S. 350). Das entzieht sich dem Modell der vier Weltreiche. Die „Gründung des römischen Kaisertums“ durch Caesar wird nicht in providentieller Perspektive erzählt, sondern beruht auf der „Herkunftsgemeinschaft als Blutsverwandtschaft zwischen Caesar und den Franken, seinen alten mâgen (V. 344)“ (S. 350). 27 Zur Kaiserchronik vgl. Herwegs Stellenkommentar in: Die Kaiserchronik. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Mathias Herweg, Stuttgart 2014 (RUB 19270), S. 432f.; zum Annolied vgl. Haugs Kommentar zum Annolied, in: Frühe deutsche und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 62), S. 1435, 1437. 28 Eusebius Hieronymus, Commentarii in Danielem prophetam Opera omnia 5, Paris 1845 (PL 25), Sp. 464 (=530B); vgl. Ohly (wie Anm. 4), S. 46; Speckenbach (wie Anm. 24), S. 430. 29 Ebd.; vgl. Speckenbach (wie Anm. 24), S. 426. 48 Jan-Dirk Müller civitate Dei die Lehre von den vier Weltreichen nach der Danielprophezeiung zu zitieren, doch sie allesamt, nicht zuletzt das römische Reich, als Erscheinungsformen der civitas diaboli zu bestimmen. 30 Darin stimmt er mit Hieronymus’ Danielinterpretation überein. Von Anfang an besteht also eine Spannung zwischen heilsgeschichtlicher Deutung und furchterregender Erscheinungsform der Tiere. Sie muss in dem Maß Schwierigkeiten bereiten, in dem das christianisierte Reich als Fortsetzung des Römischen Reichs und dieses als Telos der Weltgeschichte vor dem Erscheinen des Antichrist verstanden wird, wie dies in der lateinischen Geschichtsschreibung verstärkt seit dem 11./ 12. Jahrhundert geschieht. Bei der Übertragung in die Volkssprache ist der Charakter der Tiere weit weniger anstößig. In der feudalen Kriegergesellschaft sind Raubtiere und speziell auch der Eber durchaus positiv konnotiert. Seine Bestätigung findet das in der Heraldik. Adler, Löwen, Leoparden, Bären, selbst Wildschweine sind die beliebtesten Wappentiere. Das Annolied, 31 von dem die Kaiserchronik abhängig ist, steht der theologischen Weltreichelehre näher als diese, bringt die Tiere in der ‚richtigen‘ Reihenfolge, spricht aber auch von vreislicher dieri vieri (V. 11,8). Das vierte Tier beschreibt es als unbezwinglichen Eber vreisam mit eisernen Klauen und Zähnen (V. 16,5) und nennt es mit deutlicher Anspielung auf Psalm 79,16 auch waltswin (V. 16,7). Die zehn Hörner bedeuten zehn Könige, ein elftes zeigt den Antichrist an (V. 11,8): iz haviti iserne clawin daz necondi nieman gevan -, iserni zeini vreisam : wie sol diz iemir werdin zam ? wolle beizeichinit uns daz waltswin, daz did riche zi Rome sal vri sin. der ebir zin horn truog mit den ir sini vianti nidirsluog. her was so michil unde vorhtsam : zi Rome wart diu werlt al gehorsam. (V. 16,3-12) Die Identifikation mit dem Römischen Reich war für die Forschung auch hier Anlass, die Beschreibung der Tiere positiv im Sinne der Heilsgeschichte zu deuten. 32 Aber auch hier besteht die Verbindung des Ebers mit Gewalt fort. Der Eber versetzt seine Feinde in Schrecken (11,8; 16,3; 16,10); beim waltswin werden die negativen Konnotationen des Psalmisten zwar nicht ausdrücklich angesprochen - statt den Weingarten des Herrn zu verwüsten, unterwirft er alles der Herrschaft Roms -, dürften aber im Hintergrund stehen. Diese Deutung nimmt die Kaiserchronik auf und vereindeutigt sie, indem sie die Prophezeiung nicht mehr auf das römische Reich, sondern auf den Heros bezieht, der es begründet, auf Julius Caesar, den Eroberer und Weltherrscher. Der Eber bezwingt alle Feinde wie Julius alle Länder: sie dienten elliu sîner hand (V. 576); er allein dient niemandem. Von ihm wird das auf die frîheit des römischen Reichs übertragen, das nie unterworfen werden wird, nicht auf Grund seiner heilsgeschichtlichen Qualität, sondern dank seiner physischen Überlegen- 30 Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, Buch 20, Kap. 23. 31 Annolied, in: Frühe deutsche und lateinische Literatur (wie Anm. 27), S. 596-647. 32 Ohly (wie Anm. 4), S. 47: „Wenn schon im Annolied diese pessimistisch negative Auffassung vom römischen Reich […] mehr ins Positive wandte, so war sie für die Kaiserchronikdichter, der sich anschickte, […] die Geschichte dieses römischen Reichs zu dichten, unannehmbar.“ Die andere Kaiserchronik 49 heit. Frî ist eine Adelsqualität; wer frî ist, ist niemandem unterworfen. Die Prophezeiung wird im Sinne einer feudalen Kriegergesellschaft überschrieben. Das bestätigt sich, wenn man den Eber in der Kaiserchronik weiter verfolgt. Aus dem heilsgeschichtlichen Symbol wird in der Geschichte des Kaisers Titus ein Feldzeichen. Titus erscheint keineswegs als einer „der vorbildlichsten Kaiser des römischen Reichs“, 33 „mit allen vorbildlichen Tugenden ausgezeichnet“, 34 sondern primär als ein erfolgreicher Krieger. Die Vorgeschichte seiner Herrschaft ist von urliuge unt strît geprägt (V. 4838), mit heroischen Taten und riesigen Verlusten. Sein Vater Vespasian wird von den Römern vorübergehend sogar abgesetzt. Er erobert Jerusalem und führt dann mit Titus einen blutigen Krieg gegen einen König von Babylonje. Um Roms Ehre zu bewahren, verfolgt Titus die Babylonjer bis in ihr Land. Dabei führt er eine grüne Fahne, die überdeutlich auf die Danielsprophezeiung anspielt: mit golde was geworht dar an ain eber wilde in wunderlîchem pilde der selbe eber zehen horn truoc, mit dem er sîne vîande nider sluoc. wol bezaichenet uns das eberswîn daz daz rîche ze Rôme sol vor den andern sîn (V. 5264-5270) Vor den andern sîn ist eine Paraphrase von frî. Sie deutet auf physische Überlegenheit, nicht heilsgeschichtliche Auszeichnung. Der Sieg im Zeichen des Ebers ist ein heroischer Kampf von helden um Ehre (V. 5236; 5252; 5271): daz sperwehsel wart alsô grôz, daz bluot allenthalben von in flôz. ir wart alsô vil erslagen: Mit tôten fulten si die graben. dâ wart der swerte ain michel clanc duo Tîtus in daz burgetor dranc, do gefrumte der helt Tîte manige wunden wîte, manigen bluotigen schiltes rant. da belac inne manic wîgant, manic helt guoter betrôret mit dem bluote, die sih doh wol werten die wîle daz si lebeten. (V. 5287-5300) Ohne Zweifel ist zwar gegenüber der exegetischen Tradition das Bild des Titus positiviert. Titus und Vespasian, die die heilige Stadt zerstören, hatte diese Tradition nämlich auf den Psalmvers des aper de silva bezogen, und zwar auf seine ursprüngliche negative Bedeutung: Vespasian und Titus verwüsten Jerusalem, den Garten Gottes. 35 Auch in der Kaiserchronik 33 Ohly (wie Anm. 4), S. 50. 34 Speckenbach (wie Anm. 24), S. 427. 35 Zu dieser Tradition Speckenbach (wie Anm. 24), S. 430 (Cassiodor, Notker, Beda); in ihr wird der aper de silva stets „negativ verstanden“ (S. 431); zur volkssprachigen Tradition S. 439-444; ganz anders der 50 Jan-Dirk Müller zerstört Vespasian Jerusalem; doch ist das nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zum legitimen Kampf gegen Babylonje. Der aper de silva wird aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, indem Titus das Eberzeichen nicht bei der Zerstörung des heiligen Landes, sondern beim Rachekampf gegen den König von Babylonje führt. Dieser Kampf aber ist wieder im Sinne einer feudalen Ethik umgedeutet. Er dient nämlich römischer êre (V. 5168) und „erscheint als Rachefahrt wegen der Erschlagung römischer Männer in Jerusalem“. 36 Der Kampf gegen Babilonje wird begründet: si sluogen uns unser mâge, / duo wir ze Jerusalêm wâren (V. 5243f.). Rache für Verwandte ist ein einleuchtendes Motiv innerhalb der feudalen Kriegergesellschaft. Aufgewertet wird der Kaiser Titus, indem er zum feudalen Heros stilisiert wird. Zwar werden auch hier schon die Babylonjer haiden genannt (V. 5228) wie später die Gegner des christlichen Herrschers Heraclius. Aber Titus wird noch nicht als Anführer in einem Kreuzzug dargestellt , sondern als Heerführer eines heroischen Rachefeldzugs, der die Ehre Roms wiederherstellt. 37 Seine Rede an seine Krieger kommt ohne jede heilsgeschichtliche Perspektive aus: Owol ir Rômære, gedenket an di grôzen êre, die unser vordern uns habent an brâcht, sîn ist nehainer slahte rât, wir nesuochen siu dâ haime, iz wirt in noh ze laide. si sluogen uns unser mâge, duo wir ze Jerusalêm wâren. dar umbe wil ouh ih ersterben, ode si muozen gerochen werden an wîben unde an kinden. wir suln in ze hûs bringen die vil laiden geste. nû weset nôtveste! geêret elliu rômisken lant! (V. 5239-5253) Wer sich dieser Verpflichtung entzieht (swer in dâ entrunne) solle gescaiden sein von allen rômiscen êren (V. 5252-5258). In diesem Sinne tritt Titus den Feldzug unter der Eberfahne an. Der Eber hat noch einen weiteren Auftritt. Auch Pius Antonius kämpft unter dem Zeichen des Ebers (V. 7364; 7392) mit manigem helde edele (V. 7365). Hier aber ist er nur noch Feldzeichen. Da von vorneherein jeder heilsgeschichtliche Zusammenhang fehlt, trägt dieser goldene Eber nicht die Hörner der Danielsprophezeiung. Pius Antonius kämpft gegen den Angriff des Alarîcus in einer unerhört blutigen, aber auch unglücklichen Völkerschlacht: heroische Kontext (S. 449f.; 459-468). 36 Ohly (wie Anm. 4), S. 106. 37 Ohly (wie Anm. 4) deutet schon in der Geschichte des Titus den König Milian von Babylonje als „heidnisch-christlichen ‚Kreuzfahrt-Typus‘“ und den Feldzug ab Vorwegnahme („Antitypus“) des ersten Kreuzzuges (S. 106). Zugleich setzt er Titus in Beziehung zum Kreuzfahrer Heraclius. Beide halten eine aufmunternde Rede an die Soldaten, die den Kampf aber ganz unterschiedlich motiviert, wie Ohly selbst feststellt. Die andere Kaiserchronik 51 ich waene, ê noch sît enwart sturm alsô fraissam (V. 7359f.) Das ist eine formelhafte Hyperbel profaner Heroik: daz man iz iemer ze maere mac sagen. (V. 7380) daz manz ze mære sagen mac unz an den jungisten tac (V. 7418f.) Wieder erreicht der Blutpegel heldenepisches Niveau: mit tôten fulten si di grâben (V. 7381). In den Tiber fließt so viel Blut, dass er schiffbar wird (da maht man mit sceffen hinne varn, V. 7384); es gibt so viele Tote, dass kein Buch sie zählen kann (ir wart alsô vil erslagen, / daz ir daz buoch nehain zal hât, V. 7385f.). Keine heilsgeschichtliche Bedeutung verhindert jedoch, dass entgegen der Prophezeiung Daniels der Eber zuletzt niedergestochen wird (V. 7392) und Alarich Rom erobert. Eine heilsgeschichtliche Überformung profaner Geschichtsüberlieferung ist also nicht einmal dort konsistent, wo die Kaiserchronik auf heilsgeschichtliche Symbolik wie in der Danielsprophetie aufbauen könnte. Sie deutet deren geschichtstheologische Metaphorik nach dem Vorbild volkssprachiger Heldenepik um. 38 Die Tiere der Danielprophezeiung erlauben, in die crônicâ der Kaiser ein heroisches Register einzuspielen, d. h. diejenige Form, in der die laikale Kriegergesellschaft ihre Geschichte erinnert. An entscheidenden Stellen geschichtstheologischer Deutung fällt der weltgeschichtliche Horizont für die chronologische Kaiser-Papst-Geschichte aus. Ohlys einhellig geistliche Deutung kann deshalb nicht ganz aufgehen. Die Veränderungen an der alttestamentlichen Prophezeiung zeigen, dass die Kaiserchronik nur oberflächlich in gelehrte Geschichtsschreibung integriert ist. Sie ist eine Chronik der Gewalt und des Unrechts, nicht christlicher Vollendung und trägt Züge einer laikalen Geschichtsüberlieferung. Annolied und Kaiserchronik zitieren zwar die geschichtstheologische Deutung, überschreiben sie aber mit dem Geschichtsbild des Kriegeradels, in dem es vor allem auf Ehre und überlegene Gewalt ankommt. Eine typologische Deutung der Kaiserchronik kann deshalb nicht gelingen, denn der ,Sog‘ der Laienkultur (Hanna Vollrath) bemächtigt sich der Bildlichkeit der Danielsprophezeiung. Die Spannung kann im Annolied noch unausdrücklich bleiben. Die daran anknüpfende Kaiserchronik geht einen Schritt weiter, um den Preis, dass das geschichtstheologische Deutungsmaterial undeutlich wird. Derartige Interferenzphänomene zumal im frühen Mittelalter müssten systematischer in den Blick genommen werden. Das anfangs noch nahezu unumschränkt geltende Schriftmonopol der Kleriker hat den Blick der Forschung einseitig auf deren Deutungskapazitäten gelenkt. Es wäre an der Zeit, die Gegenrechnung aufzumachen und den Einfluss einer - da unschriftlich - nicht überlieferten Laienkultur und ihrer Deutungsmuster auf die klerikale Überlieferung zu untersuchen. 39 38 Speckenbach (wie Anm. 24), S. 463 spricht von zwei Ebertraditionen, die meist „unberührt nebeneinander bestehen“ (S. 476); dabei dominiere die „germanisch-antike“. 39 Erste Ansätze in: Jan-Dirk Müller, „Wie christlich ist das Mittelalter: oder: Wie ist das Mittelalter christlich? Zum Herzmære Konrads von Würzburg“, in: PBB 137 (2015), S. 396-419. 52 Jan-Dirk Müller Dass die geschichtstheologische und feudale Geschichtsdeutung letztlich unvereinbar sind, belegt noch Jahrhunderte später Sebastian Francks Geschichtbibell (1531/ 1536). 40 Wenn dort die Vorred vom Adler die Wappentiere der verschiedenen Reiche mustert, dann verfallen alle der Kritik, weil in ihnen sich stets ein Moment der Gewalt verkörpert. Dazu gehört auch die saw, ein gar vnnutz ja schedlich thier weil es lebt; als Wappentier weist Franck es den mit Caesar und den Franken verwandten Trojanern zu (Bl. 142r). Sein eigentliches Angriffsziel ist der (Reichs-)Adler, dessen Grausamkeit für eine Satire kaiserlicher Politik genutzt wird, 41 doch verweist Franck generell auf die Herkunft der Tierwappen aus heidnischen Traditionen. Die Tradition der heydnischen vetter so in der finsternus haben gewandelt ist für den Christen unannehmbar (Bl. 142v). Am spätmittelalterlichen Wappenwesen, das eine widerchristliche Gewaltpolitik anzeigt, setzt Francks fundamentale Gesellschaftskritik vom Standpunkt eines spirituellen Christentums an. Auch das angeblich ausgezeichnete Römische Reich, das den Adler im Wappen trägt, wird bei Daniel durch ein schreckliches Tier symbolisiert: ein greülich thier macht Daniel aus der letsten Monarchy / ja vor all anderen das greülichest. (Bl. 143r). Hier ist das Verhältnis der konkurrierenden Metaphoriken geklärt, die in der Kaiserchronik noch undeutlich interferieren. 40 Sebastian Franck, Chronica, Zeytbuoch vnd geschychtbibel von anbegyn biß in diß gegenwertig M.D.xxxj jar, Straßburg 1531 (Neubearbeitung Ulm 1536). 41 Wilhelm Kühlmann, „Staatsgefährdende Allegorese. Die Vorrede vom Adler in Sebastian Francks ‚Geschichtsbibel‘ (1531)“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 24 (1983), S. 51-76. Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 53 Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik Christoph Pretzer Untersuchungen zur Geschichtsschreibung der Kaiserchronik stehen in einer langen Tradition; die seinerzeit Maßstäbe setzende Untersuchung Sage und Legende in der Kaiserchronik von Friedrich Ohly hallt bis heute in der Forschung nach. 1 In diese Diskussion soll mit dem vorliegenden Beitrag ein neues und zugleich altes Begriffspaar eingeführt werden: Distanz und Differenz. Unter Distanz verstehe ich dabei eine quantitative Dimension, die den zeitlichen Abstand zwischen der Erzählzeit des mittelalterlichen Autors der Kaiserchronik und seines Publikums zur erzählten Zeit der Chronik in Zählbares umsetzt: die Anzahl von Jahren, die vergangen ist, die Zahl der Kaiser, die geherrscht haben. Unter Differenz möchte ich im Gegensatz dazu eine qualitative Dimension verstehen, welche Zeiträume und Ereignisse in der Vergangenheit von der Gegenwart des Verfassers der Kaiserchronik unterscheidbar macht. Für den Begriff der Differenz habe ich mich nicht nur wegen der einprägsamen Alliteration - Distanz und Differenz oder ,distance and difference‘ - entschieden, sondern auch, um meine Fragestellung nicht mit der Forschungsdiskussion zum Begriff der Alterität zu überfrachten. 2 Wenn von Vergangenheit und Gegenwart die Rede ist, so bezieht sich Vergangenheit im Kontext der Kaiserchronik meist auf das antike und mittelalterliche Römische Reich als Erzählgegenstand des Textes. Gegenwart hingegen bezieht sich auf die Zeit der Verfassung und frühen Rezeption der Chronik, also die Mitte und zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. 3 Dies führt mich zu meiner letzten begrifflichen Klärung: wenn ich von der Kaiserchronik spreche, so beschränkt sich dies auf die A-Rezension in der Form in der sie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorlag und rezipiert wurde. 4 Dies bedeutet, dass hier vor allem mit Edward Schröders Edition gearbeitet werden wird. 5 Der vorliegende Beitrag fokussiert nun auf den oben umrissenen Distanz-Begriff und zielt darauf ab, ihn als quantitative Dimension von Geschichtlichkeit in der Kaiserchronik zu entwickeln und zur Interpretation des Textes nutzbar zu machen. Hierzu werde ich folgenden Fragen nachgehen: Erstens wie wird Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt, zweitens wie wird diese Distanz mit Bedeutung aufgeladen und drittens welche Funktion erfüllt diese Schaffung von Distanz in der Kaiserchronik. Meine 1 Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik: Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Darmstadt 2 1968. 2 Einführend hierzu: Hans Robert Jauss, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, S. 14-21. 3 Der den meisten Diskussionen des deutschen Teils der Kaiserchronik zu Grunde liegende Umstand, dass im hinteren Teil der Chronik Gegenwart und Zukunft in diesem Sinne sich zunehmend aneinander annähern, soll nicht Gegenstand dieser Überlegungen sein. 4 Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young, „The Kaiserchronik and its three recensions“, in: ZfdA 148 (2019), S. 141-208. 5 „Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen“ in: MGH Scriptores. Deutsche Chroniken 1,1, hg. von Edward Schröder, Hannover 1895. 54 Christoph Pretzer vorläufigen Lösungsansätze zu diesen Fragen möchte ich in drei Teilen präsentieren. Im ersten Teil lege ich die theoretischen Grundlagen meines Zugriffs auf den Text dar. Im zweiten Teil werde ich anhand des Episodengerüstes der Chronik darstellen, wie dieser Zugang für Beobachtungen zu Phänomenen an der Textoberfläche genutzt werden kann. Und in einem dritten Teil werde ich schließlich anhand des Beispiels von personalisierter Exemplarik die oben dargestellten historiographischen Funktionen der Quantifizierung von Geschichtlichkeit erläutern. I. Theoretische Grundlagen Die grundlegende Kompositionsstruktur der Kaiserchronik ist bekanntlich episodisch. In Anlehnung an Sueton, dessen De vita Caesarum das klassische Modell der Einteilung von Geschichte in Herrscherviten darstellt, kann man die Kaiserchronik als serielle Biographie betrachten. Die Chronik besteht aus einer Serie von 53 Episoden, die jeweils mit dem Machtantritt eines Herrschers beginnen und mit dessen Tod enden. Nach dem Prolog und einem prä-episodischen Teil, der von der Gründung Roms durch Romulus und Remus und den heidnischen Wochentagen berichtet, beginnt die Episodenfolge der römischen Herrscher mit Julius Caesar im ersten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung. Sie endet mit Konrad III. und den Vorbereitungen zum Zweiten Kreuzzug circa im Jahre 1147. Inhaltlich stehen die jeweiligen Herrscher nicht immer im Vordergrund und treten oft gänzlich hinter andere Inhalte zurück, aber das durch Antritt und Ableben der Herrscher konstituierte Rahmenwerk wird konsequent beibehalten. Es ist Hayden White zu verdanken, den Blick von Historikern und Philologen für die narrativen Möglichkeiten geschärft zu haben, die auch solchen nicht-narrativen, rahmenden oder organisierenden Formen der Textgestaltung innewohnt. In seiner Abhandlung Content of the Form von 1987 bedient er sich anhand der Annales Sangallenses eines methodisch effizienten Zugriffs: White zeigt dabei auf, wie auch die wenig narrative und kaum kausal verknüpfende Geschichtspräsentation, wie sie sich in Annalen findet, in ihrer katalogartigen Darstellungsweise inhaltliche Aussagen zur Gestaltung von Geschichte vermitteln kann. 6 Prinzipiell unterscheidet White historiographische Texte nach dem Grad ihrer inneren narrativen Verknüpfung und führt neben der Kategorie der Annalen jene der Chroniken und Historien an. Diese verknüpfen ihre Historiographie jeweils im zunehmenden Maße kausal und reflektieren sie inhaltlich stärker. Bei den Kriterien, die diesen zunehmenden Grad von Verknüpfung abstufen, handelt es sich um höhere historische Konzeptualisierung, größeren Umfang, größere narrative Kohärenz, die Organisation des Materials anhand von Themen und schließlich die Fokussierung auf ein zentrales Thema. 7 Die Kaiserchronik wäre nach Hayden Whites Kriterien also der Kategorie der Chroniken zuzurechnen. Das in meinem Beitrag auf die Kaiserchronik angewandte Instrumentarium wurde jedoch hauptsächlich an Annalen entwickelt. Wie meine Ergebnisse aber zeigen werden, erscheint dieser methodologische ‚Querschuss‘ durchaus legitim: Was die rahmenden Elemente, welche die einzelnen Episoden der Kaiserchronik markieren, betrifft, so funktionieren diese ganz nach dem Prinzip der katalogisierenden Synchronisierung von Jahr und Ereignis in Annalen. White setzt als Voraussetzung für Historiographie fest, dass es ein bereits existierendes 6 Hayden White, The Content of the Form, Baltimore/ London 1987, S. 1-25. 7 White (wie Anm. 6), S. 16. Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 55 rechtliches und soziales System geben müsse gegen das oder im Namen dessen die typischen „agents“ 8 eines Narrativs in Position gebracht werden können. In der Kaiserchronik erfüllt die Episodenstruktur das Kriterium dieses vorauszusetzenden Systems, und die „agents“, die sich damit auseinandersetzen, sind die oft disjunktiven, kontingenten und in sich selbst abgeschlossenen Narrative, die vom chronikalen Episodenrahmen eingefasst werden. Nach Hayden White ist nun die Übertragung der Unterschiedlichkeit dieser in sich abgeschlossenen Narrative in Ähnlichkeit die große Leistung eines nicht narrativen Organisationsschemas von Text, wie es etwa bei Annalen der Fall ist. Dafür bedarf es aber eines „Metaphysischen Konzepts“. 9 White charakterisiert dies als ein gemeinsames Thema für alle verschiedenen Gegenstände, die durch die jeweilige Form einer Historiographie als Ereignis registriert werden. 10 In der Kaiserchronik ist dieses übergreifende Thema, unter dem alle historische Ereignishaftigkeit registriert wird, das Römische rîche, repräsentiert durch die serialisierte Herrschaft seiner Kaiser. Der Prozess, in dem nun historische Narrative als ähnliche Ereignisse innerhalb eines nicht-narrativen Rahmens organisiert werden können, lässt sich mit einer von Richard Newald bereits 1960 geprägten Metapher gut beschreiben. Im Bezug auf die Antikenrezeption des Mittelalters spricht er von „Atomisierung“. 11 Dieser Prozess löst Narrative aus ihrem historischen Kontext heraus und überführt sie in ein Gemenge aus frei verfügbaren und neu arrangierbaren „Story-Atomen“. Diese Atome beschreibt Newald als aus zwei Komponenten bestehend: erstens einer autoritativen Komponente - meist dem Namen einer zentralen Figur der antiken Erzähltradition - und zweitens aus einer fluiden Menge von mit dieser Komponente assoziierten Figuren, Konstellationen und Ereigniszusammenhängen. Als Beispiel hierfür kann in der Kaiserchronik die Tarquinius-Episode mit der Lukretia- Erzählung herangezogen werden (Kaiserchronik V. 4301-4834). Sie wird anachronistisch zwischen der Nero- und der Galba-Episode eingespielt. Der Erzähler ist hier nicht an der Entwicklung einer kausal integrierten Darstellung des Jahrs der vier Kaiser (69 n.- Chr.) von Nero bis Vespasian interessiert, sondern möchte die Geschichte von Lukretia erzählen. Dies erfordert die Interpolation von Tarquinius - eigentlich einer der vor-republikanischen legendarischen sieben Könige von Rom - in die Reihe der römischen Kaiser in Folge Julius Caesars. Mit sich bringt der Name ‚Lukretia‘ nicht nur die Einführung der Figur Tarquinius, sondern auch die des Conlatinus, sowie bestimmte Ereigniszusammenhänge, etwa den Wettstreit zwischen den beiden Männern um die Tugendhaftigkeit ihrer Frauen, die Vergewaltigung und den anschließenden Selbstmord Lukretias. Dass es in der Tat Lukretia ist, die vom Erzähler in den Mittelpunkt gestellt wird und die somit als Kern des Story-Atoms angesehen werden sollte, wird durch eine Quellenberufung klar: Denn weder Tarquinius noch Conlatinus werden durch eine solche eingeführt, sondern eben Lukretia, wenn es von ihr heißt: si stât in Ovîdîô gescriben dâ (V. 4337). 12 Von diesem Beispiel ausgehend, möchte ich als nächstes das Episodengerüst der Kaiserchronik näher betrachten, das eine Einbettung atomisierter Inhalte möglich macht. Die- 8 White (wie Anm. 6), S. 13. 9 „metaphysical principle“ vgl. White (wie Anm. 6), S. 16. 10 White (wie Anm. 6), S. 15. 11 Richard Newald, Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus. Eine Überschau, Tübingen 1960, S. 192-93. 12 Hier und im Folgenden alle Kaiserchronikzitate aus „Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen“ (wie Anm. 5). 56 Christoph Pretzer ses Gerüst verstehe ich gemäß meinem Ansatz als wichtigstes Organisationssystem von historischer Distanz in der Kaiserchronik. Die Rahmen der einzelnen Episoden des Textes wurden von Ohly als „sich formelhaft wiederholende […] Eingänge und Schlüsse der einzelnen Kaisergeschichten“ beschrieben, wobei er „deren locker parataktische Hintereinanderordnung [als] typische Chronikform“ ansah. 13 Schon Ohly und in seinem Gefolge Ferdinand Urbanek haben also das Episodengerüst nicht als starre Struktur, sondern als produktives dichterisches Stilelement begriffen. 14 Bei der Beschreibung der Leistung dieses Gerüstes gelangten sie jedoch kaum über Ableitungen aus der Episodenzahl und der Summe der Herrscherjahre hinaus. Während man über die Einzelheiten der angestellten Berechnungen sicherlich streiten kann, ist Ohly und Urbanek doch darin recht zu geben, dass an den zentralen Stellen die wichtigsten Herrschergestalten positioniert sind: in der Mitte der Summe der Herrscherepisoden steht Constantin und in der Mitte der Summe der Herrscherjahre steht Karl der Große. Zwei Kaiser, deren Bedeutung schon inhaltlich von der Kaiserchronik ausführlich und beziehungsreich entwickelt wird, finden sich so auch durch die Episodenform hervorgehoben. II. Das Episodengerüst In einem nächsten Schritt möchte ich nun über diese Betrachtungen hinausgehen und danach fragen, was genau eine Episode in der Kaiserchronik ausmacht. Versteht man diese schon von Ohly beschriebenen Eingangs- und Schlussformeln, die immer nach ähnlichen Mustern gestrickt und mit großer Konsistenz eingesetzt werden, als Marker für die Episoden der Kaiserchronik, ergeben sich interessante Schlüsse. So ist das Einsetzen des Episodenrahmens nicht ohne weiteres zu lokalisieren. Caesar, der im Einklang mit der weiteren mittelalterlichen Tradition als erster römischer Kaiser dargestellt wird, 15 erhält beispielsweise keine entsprechende Einführungsformel, vielmehr wird sein Narrativ nahtlos aus der Einführung des salvatio Romae-Motivs heraus entwickelt. Bei der salvatio Romae handelt es sich um eine Art magisches Frühwarnsystem, das die Römer alarmiert, sobald sich eine der von ihnen eroberten Provinzen gegen sie wenden sollte. Als diese Vorrichtung anzeigt, dass das Dûtisc volch (V. 246) sich gegen das Römische Reich erhoben hat, wird Julius Caesar ausgesandt, um diese Rebellion niederzuschlagen. Erst später mit der Ermordung Caesars treten zum ersten Mal die typischen Elemente des den Abschluss der Episode markierenden Rahmens in Erscheinung: diu rîche er mit michelem gewalte habete die wîle daz er lebete, daz buoch saget uns vur wâr: niewan fiunf jâr. Rômâre in ingetrûwelîche sluogen, sîn gebaine si ûf ein irmensûl begruoben. (V. 597-602) 13 Ohly (wie Anm. 1), S. 16. 14 Ferdinand Urbanek, „Zur Datierung der Kaiserchronik. Entstehung, Auftraggeber, Chronologie“, in: Euphorion 53 (1959), S. 113-152, hier S. 146. 15 Vgl. Franz Brunhölzl, „Caesar im Mittelalter, A. Allgemeines“, in: Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert-Henri Bautier u. a., Bd. 2, München/ Zürich 1983, Sp. 1352-1353. Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 57 Die Berufung auf ein buoch als Quelle, die genaue Zählung der Jahre der Herrschaftszeit und die Darstellung der Todesumstände - oft erweitert um einen kurzen Bericht zum Schicksal der Seele nach dem Tod - geraten in den folgenden Kaiserepisoden zu verlässlich wiederkehrenden Elementen der Schlussformeln. Ähnlich verhält es sich bei der Einführung von neuen Kaisern. Erstmals bei Augustus, Caesars unmittelbarem Nachfolger, und später bei den anderen Kaisern lassen sich hier stereotype Elemente erkennen. Dies ist etwa beim Herrschaftsantritt des Tiberius der Fall, wenn es heißt: Das buoch kundet uns sus, daz rîche besaz dô Tybêrîus, der gewan Rômæren michel êre. (V. 671-673) In der Durchsicht der Antrittsformeln der antiken römischen Kaiser begegnet eine dreiteilige Struktur. In der Regel wird auch hier erstens das buoch als Quellenautorität aufgerufen, ehe - zweitens - der Name des nun die Kaiserwürde übernehmenden Herrschers folgt. Drittens wird abschließend oft noch eine kurze Perspektive auf die Herrschaft des jeweiligen Kaisers gegeben. In fast allen Episoden antiker Kaiser ist die Beziehung zwischen der Person des Herrschers und seinem Reich durch das im Präteritum stehende Verb (er) besaz ausgedrückt. Dabei umfasst die Semantik von mhd. besitzen drei verschiedene Herrschaftsdimensionen. 16 Als erstes die inaugurale: der Herrscher besteigt den Thron. Als zweites die sukzessive: der neue Kaiser beerbt einen ihm vorausgegangenen Herrscher. Und drittens die judikative: er fungiert als oberster Richter, als voget und rihtære, wie die entsprechende Formel in der Kaiserchronik (meist) lautet. 17 In dieser Weise findet das an zentraler Stelle der Eingangsformel lokalisierte Verbalsyntagma (er) besaz jedoch nur für die antiken Kaiserepisoden konsequente Anwendung. Bei den mittelalterlichen tritt sie in der Regel zurück, taucht aber öfter in anderen Kontexten der Episode wieder auf. Dieses Detail kann in aufschlussreicher Weise als Beitrag zu einer der längsten und übergreifendsten Diskussionen in der Kaiserchronik-Forschung gelesen werden: der Frage, warum der römisch-antike und der mittelalterlich-deutsche Teil der Chronik narrativ so auffällig unterschiedlich gestaltet sind. Bereits Scheunemann stellte 1936 den „Wirklichkeitsbericht“ des deutschen Teils der „geformten Wirklichkeit“ des römischen Teils, die vielmehr auf „epische Darstellung“ abziele, gegenüber. 18 Ohly begründete diese Ausdifferenzierung im hinteren Teil der Chronik damit, dass der Verfasser bei den antiken Herrschern mehr Spielraum zur narrativen Ausgestaltung hatte und bei den deutschen Herrschern, in Abwesenheit von größeren Sagen- und Legendentraditionen, eher auf historische Berichte angewiesen war. So rückten die antiken Herrschergestalten in den Fokus des Erzählinteresses. 19 In jüngerer Zeit hat Christoph Petersen einen umgekehrten Ansatz entwickelt. Nach einer hilfreichen Aufschlüsselung 16 Artikel „be-sitzen“, in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, hg. von Matthias Lexer, Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 217-18; Artikel „sitzen“, in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, hg. von Matthias Lexer, Bd. 2, Leipzig 1872, Sp. 944-45. Vgl. weiterhin Artikel „besitzen“ Mittelhochdeutsches Wörterbuch Online, hg. von Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und Akademie der Wissenschaften zu Göttingen <http: / / www.mhdwb-online.de/ wb.php? buchstabe=B&portion=1700&link_ lid=17031000#17031000> [abgerufen am 01.05.2020]. Vor allem Einträge 1.1, 1.2.1 und 1.2.2. 17 Zum Beispiel Titus V. 5370, Karl der Große V. 14358. 18 Ernst Scheunemann, Artikel „Kaiserchronik“, in: Verfasserlexikon, hg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch, Bd. 2, Berlin/ Leipzig 1936, S. 732-746. 19 Ohly (wie Anm. 1), S. 7. 58 Christoph Pretzer der zentralen Unterschiede zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik 20 attestiert er dem römisch-antiken Teil einen negativen Bedeutungsgehalt, bedingt durch einen „Aufschub des im Anfang der Geschichte schon angelegten Zieles“, 21 dem Aufstieg eines deutschen Reiches. Dieses Sinndefizit des römisch-antiken Teils müsse nun durch eine überbordende „Mythopoiesis“ 22 kompensiert werden, derer es im mittelalterlich-deutschen Teil ab Karl dem Großen nicht bedürfe, da dieser ein „konzeptuelles Kontinuum“ 23 mit dem deutschsprachigen Publikum des 12. Jahrhunderts teile. Dieser Ansatz kann schon deswegen nicht befriedigen, weil er über 80-% des Textes eine semantische Defizienz unterstellt, die sich kaum mit der sichtlichen Freude und dem großen Interesse am Auserzählen des römisch-antiken Materials vereinbaren lässt. 24 Beide Erklärungsmodelle fokussieren auf die narrativen Strategien, in welchen sich der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Chronik abbildet. Dies führt zurück zur Phraseologie der Einleitungsformeln der verschiedenen Episoden. Das Wegfallen des inchoativen besaz, das oben festgestellt wurde, fällt mit dem Umschwung vom römisch-antiken zum mittelalterlich-deutschen Teil zusammen. Dafür tritt nun die Ausarbeitung von genealogischen Verbindungen zwischen den aufeinander folgenden Herrschern in den Vordergrund. Im römisch-antiken Teil sind solche Angaben nur selten zu finden: Augustus ist Caesars Neffe (V. 605), Domitian tritt als Titus’ Bruder auf (V. 5558) und Konstantin wird als Sohn und Nachfolger seines Vaters Constantius eingeführt (V. 7610-7613; 7806-7809). Doch erst nach Karl dem Großen werden Verwandtschaftsverhältnisse zum festen Bestandteil der Episodenrahmung. Angefangen von Ludwig dem Frommen werden von nun an fast alle Kaiser als die rechtmäßigen da genealogisch legitimierten Erben eingeführt. So heißt es zum Tod Karls des Großen : Do der mære kaiser versciet, / ain guoten erben er verliez (V.-15092-15093). Auch die anderen auf Ludwig folgenden Karolinger treten als Dynastie, nacheinander patrilinear die Herrschaft voneinander übernehmender Könige und Kaiser klar hervor. 25 Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf hingewiesen, dass auch Ottonen und Salier in dieser Weise deutlich als Dynastien untereinander verbunden und gegeneinander abgegrenzt werden. Zum dynastisch-genealogischen Modell kommt mit Ludwig dem Frommen auch die Wahl durch die Großen des Reiches als konstituierendes Mittel der neuen 20 Christoph Petersen, „Zeit, Vorzeit und Narrativierung von Geschichte in der Kaiserchronik“, in: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353 (S. 323): „Die Traditionsbindung: Vor Karl d. Gr. zeigt der Text Eingriffe in die überlieferte Kaiserfolge (Umstellungen, Auslassungen, Hinzufügungen), die dem Standardwissen mittelalterlicher Chronistik Hohn sprechen, danach nicht. Die Materie: Legenden-, Sagen-, Mirakel- und Mirabilienstoffe werden bis Karl d. Gr. breit entfaltet, danach nicht. Die Quellenheuristik: Im antiken Teil sind höchst heterogene, kaum aber chronikalische Überlieferungen aufwändig kompiliert, danach beruht die Erzählung weitgehend auf der chronikalischen Tradition. Schließlich die Erzählweise: Personale Rede (Gespräche, Dispute, Ansprachen, Berichte) bestimmen im antiken Teil weithin die Erzählung, ist nach Karl d. Gr. aber nur sporadisch eingestreut; Schlachten sind unter Vespasian, Commodus oder Heraclius mit heldenepischer Topik ausgemalt, unter den deutschen Kaisern nur summarisch abgehandelt.“ 21 Petersen (wie Anm. 20), S. 352-353. 22 Petersen (wie Anm. 20), S. 353. 23 Petersen (wie Anm. 20), S. 353. 24 Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Gliederung der Kaiserchronik: Mathias Herweg, „Geschichte erzählen. Die Kaiserchronik im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens)“, in: ZfdA 146 (2017) S. 413-443, vor allem S. 420-436. 25 Lothar (V. 15236-15241); Ludwig II (V. 15304-15315); Karl (V. 15394-15399); Arnulf von Kärnten (V. 15522) und schließlich Ludwig das Kind (V. 15582-15587). Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 59 Episodeneinführung (V. 15239-15241). Durch die zunehmend systematisierte Anwendung dieser beiden Legitimationsmodelle tritt die im römisch-antiken Teil so prominente besaz- Formel fast völlig in den Hintergrund. Mit ihr verschwindet auch die Berufung auf ein anonymes und nicht spezifiziertes buoch als Quelle, die ebenso charakteristisch für die Episodenanfänge der Kaiserchronik bis hin zu Karl dem Großen ist. Das etablierte Muster nach dem Schema daz buoch chundet uns sus / das rîche besaz do […] 26 der römisch-antiken Episoden wird durch ein neues, genealogisch ausgerichtetes Muster ersetzt: alse chaiser […] verschiet / einen guten sun/ erben er liez. 27 Beide Phrasen können erheblich variieren, sind aber deutlich unterscheidbar und bilden eine klare Verschiebung in der Schwerpunktsetzung der Einführungsformeln ab. Wo die Kaiserchronik sich zuvor bei jedem Herrscher aufs Neue auf die Autorität von schriftlich fixierten und tradierten Wissen berief - das buoch chundet uns sus - verbindet nun ein relativ geradliniges genealogisches Nachfolgemodell die einzelnen Herrscherepisoden miteinander. Dies markiert einen konzeptuellen Bruch im episodischen Paradigma der Chronik, aber weniger zwischen römischen und deutschen Herrschern, sondern vielmehr zwischen historiographisch legitimierten antiken auf der einen und genealogisch legitimierten mittelalterlichen Herrschern auf der anderen Seite. Während dies die Frage nach der Ursache für die Unterscheidung zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik nicht beantwortet, profiliert sie doch den Unterschied klarer und auf struktureller Ebene. Eine weitere Besonderheit der Geschichtspräsentation der Kaiserchronik ist es, dass der Inhalt der Episoden oft wenig bis gar nicht von den Kaisern handelt, die als Bezugspersonen für eine jeweilige Episode eingeführt werden. In der Tat scheint die Korrelation zwischen kaiserlicher Rahmung und narrativen Inhalt einer Episode oft durch Faktoren außerhalb der Komposition und Konzeption der Kaiserchronik bedingt zu sein. Beispielsweise findet sich die Schleifung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 nach Christus nicht, wie historiographisch vorgeformt und chronologisch zu erwarten, unter Vespasian, sondern bereits in der Tiberius-Episode. Dies rührt von der Quellentradition der Vindicta Salvatoris her, welche diese Verknüpfung aus heilsgeschichtlich-vergeltender Logik nahelegt: Tiberius konnte hier nur durch Veronikas Schweißtuch geheilt werden, aber nicht durch den Heiler Jesus selbst, weil dieser bereits von den Juden getötet worden war. 28 Daher, so die Vindicta Salvatoris, habe er zur Bestrafung der Juden die Vernichtung Jerusalems durch seinen General Vespasian und dessen Sohn Titus befohlen. 29 Dass der Fall Jerusalems also innerhalb des Episodenrahmens des Tiberius untergebracht wird, liegt in der externen Quellentradition begründet und hat folglich mit der chronologischen Ereignissequenz oder dem seriellen Kompositionsprinzip der Kaiserchronik wenig zu tun. 26 So oder ähnlich zu finden bei Tiberius (V. 671), Gaius (V. 1115), Faustinianus (V. 1219), Nero (V. 4083), Tarquinius (V. 4301), Vitellus (V. 4862), Vespasianus (V. 5099), Domitianus (V. 5557), Nerva (V. 5683), Trajan (V. 5839), Philip (V. 6097), Severus (V. 6622), Helius Pertinax (V. 7136), Achilleus (V. 7426), Gallienus (V. 7452), Constantius (V. 7604), Julianus (V. 10634), Heraclius (V. 11138), Narcissus (V. 11352), Justinianus (V. 12813), Theodosius (V. 13067) und der zweite Constantius (V. 14194). 27 In dieser oder ähnlicher Form zu finden bei Lothar I (V. 15236-15238), Ludwig II (V. 15306-15307), Karl II (V. 15394-15399), Ludwig dem Kind (V. 15582-15584), Otto I (V. 15850-15852), Otto II (V. 15974- 15976), Otto III (V. 16064-16068), und Heinrich III (V. 16376-16378). 28 „Vindicta Salvatoris“, in: Two Old English Apocrypha and Their Manuscript Source: The Gospel of Nichodemus and The Avenging of the Saviour, hg. von James Edwin Cross, Cambridge 1996 (Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 19). 29 „Vindicta Salvatoris“ (wie Anm. 28), S. 266-268. 60 Christoph Pretzer Es gibt zahlreiche weitere Beispiele dafür wie traditionelle Narrative durch ihre Einfügung in den Episodenrahmen der Chronik atomisiert werden. Ist das Narrativ erst einmal aus dem klassischen Kontext herausgelöst, spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Caesar die Gallier oder die Germanen erobert, solange er der mit seinem Namen verbundenen Erwartungshaltung als Eroberer und erster Kaiser des Reiches gerecht wird (V. 257-525). Ähnlich verhält es sich mit Alarich: Es ist unerheblich, unter welchem Kaiser er Rom erobert und plündert, solange er diese traditionelle Handlungsvorgabe erfüllt (V. 7404-7411; 7417-7419). In diesem Fall führt die kontingente Kombination von Rahmen und Inhalten in der Kaiserchronik sogar zu einer anachronistischen Erzählpraxis, die der Text an anderer Stelle explizit verurteilt. So trifft Alarich bei der Plünderung Roms auf Kaiser Lucius Accommodus und erschlägt ihn (V. 7420-7425). Wenn man annimmt, dass Lucius Accommodus dem historischen Commodus entspricht, waren Commodus und Alarich realiter durch über 200 Jahre voneinander getrennt. Gegen genau diese Kollision nicht zeitgenössischer Protagonisten polemisiert die Kaiserchronik aber in der Zeno-Episode, wenn der Erzähler darauf hinweist, dass Dietrich und Etzel einander nicht begegnet sein konnten, da ihre Lebenszeiten 43 Jahre auseinander lagen (V. 14176-14187). Es zeigt sich, dass der Verfasser der Kaiserchronik bei Bedarf polemische Strategien anwenden kann, die auf chronologische Fehler abzielen, ohne sich dadurch in seiner eigenen chronologischen Gestaltungsfreiheit einschränken zu müssen. Ein weiteres charakteristisches Merkmal, neben der inhaltlichen Kontingenz, ist die innerliche Abgeschlossenheit der einzelnen Episoden. So wird beispielsweise der heidnische Kosmos, der vor Beginn der Episodenstruktur bei der Darstellung der römischen Wochentage beschrieben wird, später zu keinem Zeitpunkt als Referenzpunkt herangezogen. Vielmehr wird in der Gaius-Episode, als der Jupitertempel eine Rolle spielt, dieser erneut eingeführt und prominent in Szene gesetzt, ganz so als sei der Jupitertempel im Kontext des römischen Kalenders der Wochentage nie erwähnt worden. Die innere Abgeschlossenheit und klare Abgrenzung der Episoden werden besonders da sichtbar, wo es über einzelne Episoden hinausgehende Bezüge aufzugreifen gibt. So wird Rom in der Lucius Accommodus-Episode durch Alarich und sein Heer zerstört, nur um dann, zu Beginn der direkt nachfolgenden Episode unter Kaiser Achilleus, wieder aufgebaut zu werden (V.-7426-7435). Dieser Wiederaufbau hat einerseits keinerlei Relevanz für die folgende Handlung der Achilleus-Episode, ergibt also nur Sinn im Bezug auf die Zerstörung der Stadt im vorangegangenen Abschnitt. Andrerseits wird diese Bezugnahme aber freilich zu keiner Zeit explizit hergestellt, sondern bleibt allein der Auffassungsgabe des Publikums überlassen. So zeigt dieser Zusammenhang den klaren konzeptionellen Einschnitt hinter jeder Episode: Ereignisse, die eigentlich Bestandteile einer kausalen historischen Sequenz wären, wie etwa Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt Rom, werden nicht als solche präsentiert, wenn sie über die Grenze einer Episode hinauslaufen. Dies bestätigt, dass nicht inhaltliche Verknüpfungen, sondern die Episoden mit ihren Rahmen selbst als organisierende Elemente von Geschichtlichkeit im Vordergrund stehen. Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die Episodenstruktur der Kaiserchronik die Geschichte des Römischen Reiches als linear und progressiv organisiertes Paradigma entwirft und somit ein quantifizierendes Kontinuum des Zählbaren kreiert. Durch die immer gleiche, sich wiederholende Eingliederung von narrativen Atomen aus verschiedensten Traditionen und Kontexten in die markierten Rahmen der Kaiserepisoden, die ihrerseits in sich zählbar sind und die an ihren Enden jeweils die exakte Dauer der Herrscherjahre Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 61 anführen, wird die historische qualitative Differenz zwischen den Ereignissen reduziert. Die Herrschaften der Kaiser sind selbst dabei Manifestationen der regulären und linearen Existenz des Reiches. Hayden White zufolge kann nur Ähnliches im Rahmen eines immer identisch applizierten Organisationsmusters sortiert werden. 30 Oder anders ausgedrückt: die Organisation in einem einheitlichen Rahmensystem erzeugt Ähnlichkeit. Es entsteht so ein quantitatives Kontinuum des rîches, in dem sich Geschichtlichkeit vor allem in Zählbaren und weniger in Unterscheidbaren ausdrückt. Durch die Atomisierung ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, erfolgt die Semantisierung historischer Ereignisse allein durch ihre Einordnung in die Herrschaftszeit eines Kaisers. Historische Begebenheit ist dadurch weder einfach Ereignis, das zufällig in die Herrschaft eines Kaisers fällt, noch wird sie beispielsweise kausal durch das politische Wirken eines Kaisers bedingt. Vielmehr wird historische Ereignishaftigkeit zu einer Funktion imperialer Herrschaftszeit allein bedingt durch die lineare Entfaltung eines imperialen Herrschaftskontinuums. Angelegt findet sich dieses Kontinuum im Grunde schon im Prolog, wenn es heißt: Ein buoch ist ze diute getihtet, daz uns Rômisces rîches wol berihtet, gehaizzen ist iz crônicâ iz chundet uns dâ von den bâbesen unt von den chunigen, baidiu guoten unt ubelen, die vor uns wâren unt Rômisces rîches phlâgen unze an dîsen hiutegen tac. (V. 15-23) Die quantitative Achse des römischen Reiches ermöglicht die retrospektive Projektion der Gruppenidentität, die Autor und Publikum der Kaiserchronik - das uns des Prologes - miteinander teilen, in die römische Vergangenheit. 31 Die Aufgabe, das Römische Reich zu phlegen, ist dabei das vereinende Merkmal, in dem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen. In derselben Weise, wie Identität zurückprojiziert werden kann, funktioniert die Achse auch in die andere Richtung, wenn die historische Verantwortung, das Römische Reich zu phlegen, bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, unze an dîsen hiutegen tac, verlängert wird. Die Vergangenheit der Kaiserchronik ist der Gegenwart ihres Publikums qualitativ ähnlich genug, um mentale Projektionen entlang dieser Achse in beiden zeitlichen Richtungen zu ermöglichen. III. Personalisierte Exemplarik In der Kaiserchronik lassen sich nun verschiedene Funktionen dieses quantitativen Kontinuums identifizieren, welche die römische Vergangenheit für ihr deutschsprachiges, mittelalterliches Publikum als Auseinandersetzungsort mit seiner historischen Identität und gegenwärtigen Rolle modellieren: So werden historische Exempla gestiftet, aetiologische Erklärmodelle gesponnen und Kontinuitäten konstruiert. Die wichtigste dieser Funktionen, 30 White (wie Anm. 5), S. 15. 31 Hanna Vollrath, „Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften“, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 571-594. 62 Christoph Pretzer die Entwicklung historischer Exempel, möchte ich nun im letzten Abschnitt meines Beitrages kurz vorstellen und wiederum anhand eines Beispiels illustrieren: Dass Geschichte durch Exemplarik zu didaktischem Nutzen gebracht werden kann, ist als Konzept so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Ciceros berühmtes Diktum von historia als magistra vitae 32 spiegelt sich in zahlreichen historiographischen Prologen von der Antike bis ins zwölfte Jahrhundert und darüber hinaus. 33 Doch schon lange vor Cicero entwickelte Aristoteles in seiner Rhetorik eine Methodologie der historischen Exemplarität. Ohne eine direkte Linie von Aristoteles zur Kaiserchronik ziehen zu wollen, sei diese kurz vorgestellt: Aristoteles schrieb Exempeln, die auf πράγματα προγενομένα, „tatsächlichen vergangenen Fakten“ 34 beruhen, eine besondere Autorität zu, da diese sich aus den unveränderlichen Mustern von Ereignis und Motivation speisen. Diese seien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets dieselben. Um dies zu illustrieren, bietet Aristoteles selbst ein Beispiel an: Wann immer in der Vergangenheit die Könige von Persien Griechenland attackierten, eroberten sie zuvor zunächst Ägypten. Daraus ließe sich ableiten, dass auch in Aristoteles’ Gegenwart, sollte der König von Persien Ägypten angreifen, Griechenland sich auf Krieg vorbereiten müsse. Historische Distanz wird nur quantitativ registriert: Wenn zuerst Darius und später Xerxes zunächst nach Ägypten zogen, bevor sie sich gegen Griechenland wandten, so wird auch der nächste Perserkönig diesem Muster folgen und dasselbe tun. Das historische Schema bleibt unverändert, so dass ein darauf aufbauendes rhetorisches Exempel Überzeugungskraft aus der Autorität der Tatsächlichkeit der Vergangenheit beziehen kann. Aristoteles formuliert es folgendermaßen: Leichter zu beschaffen sind nun zwar die Argumentationen die aus Fabeln, nützlicher bei Beratungen sind aber solche, die aus Tatsachen gewonnen werden, denn im allgemeinen ist das Bevorstehende dem Vergangenen ähnlich [ὅμοιος]. 35 32 Marcus Tullius Cicero, „De Oratore“, in: Cicero Rhetorica, hg. von A. S. Wilkins, Bd. 2, Oxford 1963, lib. 2, cap. 36: Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia, nisi oratoris, immortalitati commendatur? (‚Durch welche Rede aber, wenn nicht die des Redners, wird Geschichte - die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der Erinnerung, die Lehrmeisterin des Lebens, die Botin der Altehrwürdigkeit - der Unsterblichkeit anempfohlen? ‘). 33 Dazu für die lateinische Historiographie des 12. Jahrhunderts unter anderem: Nancy Partner, Serious Entertainments: The Writing of History in Twelfth-century England, Chicago/ London 1977, S. 3. 34 Aristotelis opera omnia. Volumen alterum, hg. von Immanuel Bekker und Georg Reimer, Berlin 1831, S. 1393a-93b. Altgriechisch bezogen von: Perseus Digital Library, hg. von Gregory Crane: <http: / / www.perseus.tufts.edu/ hopper/ text? doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0059%3Abook%3D2 %3Achapter%3D20> [13.07.2017]. Aristoteles elaboriert die theoretischen Grundlagen im vorausgehenden Kapitel, in dem er über die Möglichkeit und Unmöglichkeit zukünftiger Fakten nachdenkt. Aristoteles, Rhetorik. Griechisch/ Deutsch, hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 2016 (Reclams Universal- Bibliothek 19397), S. 118-119: „Ob etwas geschehen wird, geht ebenfalls aus dem Gesagten hervor. Das wozu Vermögen und Willen vorhanden sind, wird geschehen. Auch all das wird geschehen, worauf Begierde, Zorn und Überlegung verbunden mit der Möglichkeit, es auszuführen gerichtet sind, wie der Drang oder Wunsch, etwas durchzuführen, denn gewöhnlich geschieht eher das, was kurz bevor steht, als das, was noch lange aussteht. Weiters (ist etwas geschehen), wenn ihm etwas vorangegangen ist, was ihm der Natur entsprechend vorherzugehen pflegt: Wenn es z. B. bewölkt ist, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach regnen. Ferner ist, wenn das, was um etwas anderen willen geschieht, geschehen ist, zu erwarten, daß dieses auch geschieht: Wenn z. B. das Fundament (gelegt ist), (wird) auch das Haus (gebaut).“ 35 Aristoteles, Rhetorik (wie Anm. 34), S. 123. Altgriechisch bezogen von: Perseus (wie Anm. 34). Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 63 Um diese Art von Exemplarität entwickeln zu können, bedarf es also einer quantitativen Achse entlang derer zeitlich abgeschlossene und eigenständige, aber qualitativ ähnliche Stufen von Geschichte organisiert werden können. Für Aristoteles’ Beispiel ist dies die politische und militärische Situation zwischen Griechenland und Persien vom späten sechsten bis ins frühe vierte Jahrhundert vor Christus. Im Falle der Kaiserchronik stellt das Rahmenwerk der Kaiserepisoden diese quantitative Achse bereit. Damit das historische Beispiel greifen kann, muss die Konstanz der historischen Identitäten der angesprochenen oder vom Beispiel betroffenen Gruppen angenommen werden. An ihr können - wie oben dargestellt - gegenwärtige Identitäten in die Vergangenheit zurückgespiegelt und historische Exempel in die Gegenwart projiziert werden. In der Kaiserchronik werden in dieser Weise verschiedene Kaiser zu historischen Exempla entwickelt. Zeitnah zur Verfassung der Kaiserchronik pries Johann von Salisbury den hohen normativen Wert von personalisierter historischer Exemplarik, den er nur hinter dem Gesetz und der Gnade Gottes zurückstehen sah. 36 In der wissenschaftlichen Diskussion zur Kaiserchronik wurde die moralisch-exemplarische Dimension ihrer Geschichtsschreibung zunächst von den frühen Opponenten von Ohlys typologischer Lesart betont. 37 In rezenteren Beiträgen finden sich Untersuchungen zur Exemplarität der Chronik freilich nicht mehr klar geschieden, sondern vielmehr verknüpft mit den auf Ohly zurückzuführenden Ansätzen zum „Kombinationssinn“ der Kaiserchronik wieder. So etwa bei Markus Stock, nach dessen Auffassung „Äquivalenzrelationen“ zwischen den paradigmatischen Spiegelungen von Figuren und Ereignissen zwischen bestimmten Episoden zur Konzentrierung und Konkretisierung der exemplarischen Botschaft der jeweiligen Episoden führen. 38 Als beispielhafte imperiale Handlungsträger fallen in der Kaiserchronik vor allem Titus, Trajan und Heraclius auf. An den Taten dieser Kaiser kann ein gegenwärtiges Publikum praktische Entscheidungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund historischer Analogien befragen, unterstützten oder zurückweisen. 39 Am ausdrücklichsten geschieht dies sicherlich bei Heraclius, in dessen Episode - im Gegensatz zu den anderen - das einschlägige Vokabular von bîspel (V. 11209), bilde (V. 11211) und exemplum (V. 11339) die Vorbildfunktion des überlieferten historischen Narrativs besonders hervorhebt. Es sollte betont werden, dass eine konkrete Ausweisung von Exemplarität in dieser Form nicht die Regel in der Kaiserchronik ist und die hier versammelten Signalwörter ansonsten kaum in dieser Deutlichkeit genutzt werden. Vor der Schlacht gegen Kosdras und seine heiden wendet sich Heraclius an sein Heer: 36 Johann von Salisbury, Historia Pontificalis, hg. von Reginald Poole, Oxford 1927, S. 4: nichilque post gratiam et legem Dei uiuentes rectius et ualidius instruit quam si gesta cognouerint decessorum (‚Nach der Gnade und dem Gesetz Gottes unterweist nichts die Lebenden so angemessen und würdig wie wenn sie sich der Taten der Vorfahren erinnern‘). 37 Beispielsweise Heinz Gerhard Jantsch, Studien zum Symbolischen in Frühmittelhochdeutscher Literatur, Tübingen 1959, S. 210-211. 38 Markus Stock, Kombinationssinn: Narrative Strukturexperimente im ,Straßburger Alexander‘, im ,Herzog Ernst B‘ und im ,König Rother‘, Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalter 123), S. 37. 39 Peter von Moos, Geschichte als Topik: Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ,Policraticus‘ Johanns von Salisbury, Hildesheim u. a. 1988, S. 3-4. Aktuell und spezifisch zur Kaiserchronik: Udo Friedrich, „Topik und Narration: Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik“, in: Poetica 47 (2016), S. 1-24. owol ir helde snelle, ich sage iu ze aim bîspelle: ain liut haizet Hebrêî, dâ sult ir nemen pilde bî; (V. 11208-11211) Das hier von Heraclius explizit seinem Heer als Publikum anempfohlene Beispiel greift nun zurück in die tiefere Vergangenheit der Bibel. Im vierten Buch Mose, Numeri 13-14, stehen die Hebräer vor den Mauern Jerichos, doch viele wagen aufgrund der Gerüchte, die sie über die furchterregenden Bewohner Kanaans gehört haben, nicht gegen sie zu kämpfen. Als Strafe wird ihnen der Zugang ins gelobte Land verwehrt werden. Diese biblische Konstellation nutzt Heraclius in der Kaiserchronik als historische Analogie, um seine Truppen anzuspornen. Diejenigen, die Heraclius nicht in die Schlacht gegen die heiden folgen, werden zu jenen Hebräern, denen der Zugang ins gelobte Land verwehrt wurde. Heraclius’ Ansprache wird sofort verstanden und bestätigt, wie aus der Reaktion seiner Soldaten ersichtlich ist: Rômære racten ûf ir hant unt gelobeten, daz er daz lant niemer mêr mit in gewunne, swer sô dannen entrunne, oder geswiche an ir nôt. (V. 11252-11256) Die von Heraclius als helede Rômære (V. 11247) angesprochenen Soldaten werden zu diesem Zeitpunkt bereits völlig äquivalent als cristen (V. 11258) bezeichnet. Das biblische Beispiel kann also sowohl die christlichen Römer in Heraclius’ Heer, als auch das christliche Publikum der Kaiserchronik im 12. Jahrhundert ansprechen. In der zweiten Hälfte der Heraclius-Episode kehrt der Kaiser siegreich von seinem als Kreuzzug stilisierten Feldzug gegen den heiden Kosdras zurück. Mit dem zurückeroberten Wahren Kreuz im Gefolge will er im Triumphzug in Jerusalem Einzug halten, doch ein Engel hält ihn auf und ermahnt ihn die Stadt - in Nachahmung Christi, der auf einem Esel einritt - bescheidener zu betreten. Daraufhin macht sich Heraclius prompt barfuß und in wollenen Kleidern auf den Weg (V. 11310-11345). Um die Exemplarität dieser zweiten Passage von Heraclius zunächst auf ein historisches intradiegetisches Kollektiv - die christlichen Römer - und dann auf ein gegenwärtiges extradiegetisches ausdehnen zu können, wird Heraclius’ Vergehen --ubermuot (V. 11344) - kollektiviert. 40 Bevor das römische Heer Jerusalem erreicht, wird bereits vorausgedeutet, dass es wegen seiner grôze[n] ubermuote (V. 11312) in micheln nôten (V. 11313) geraten wird. Faktoren, welche Heraclius und seine Truppen als dem deutschsprachigen Publikum der Chronik fremd markieren könnten - wie etwa Heraclius’ byzantinischer Hintergrund - werden unterdrückt. Durch die Stilisierung seines Feldzuges als Kreuzzug wird zusätzliche Vertrautheit für eine Zuhörerschaft aus der Mitte des 12. Jahrhunderts geschaffen. Die Ausdehnung der historischen Analogie durch die römische Vergangenheit hindurch bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts wird am Ende der Episode noch einmal durch 40 Kathryn Smits, „Zweimal Heraclius: Zu Sprache und Erzählstil der Heraclius-Episode in der Kaiserchronik und im Buoch der künige niuwer ê“, in: Deutsche Sprache: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag, hg. von Hugo Moser und Heinz Rupp, Bern/ München 1978, S. 159. 64 Christoph Pretzer Geschichtliche Distanz im Episodengerüst der Kaiserchronik 65 den Erzähler explizit gemacht. Nachdem Heraclius und sein Heer in Jerusalem eingezogen sind, heißt es: daz ist uns armen gesaget ad exemplum: von diu suln wir unsern hêrren vurhten und flêgen mit zuhten unt mit guote, mit grôzer deumuote. (V. 11339-11343) Mit uns armen fasst der Erzähler sich und sein Publikum als Rezeptionsgemeinschaft zusammen, die von der historischen Exemplarität dieser Episode profitieren sollen. Diese Exemplarität erstreckt sich in der Heraclius-Episode also über drei Zeitebenen - eine biblische, eine antike und eine gegenwärtig-mittelalterliche. Um auf solche Weise funktionieren zu können, müssen die qualitativen Unterschiede zwischen diesen Ebenen so weit wie möglich nivelliert werden. Die Mobilisierung, Atomisierung und Neuverknüpfung des Heraclius-Materials und die Angleichung an zeitgenössische Diskurse, welche innerhalb des Episodenrahmens möglich werden, leisten genau dies. Je weiter die Narration der Kaiserchronik in der geschichtlichen Zeit des römischen Reiches voranschreitet, umso mehr verringert sich die Distanz zwischen der erzählten Vergangenheit und der erlebten Gegenwart von Autor und Publikum. In diesem Progress illustriert die Chronik ihr eigenes axiales Paradigma, welches darauf abzielt, Vergangenheit und Gegenwart bedeutungsvoll aufeinander zu beziehen. So überführt sie innerhalb ihres quantifizierenden Episodengerüstes historische Differenz in Distanz. Indem qualitative Unterschiedlichkeit in Ähnlichkeit übersetzt wird, werden die Narrative, welche in der Kaiserchronik die Vergangenheit repräsentieren, mobilisiert und in dynamischer Weise auf die Gegenwart des 12. Jahrhunderts beziehbar. Historische Distanz wird entwickelt als eine quantitativ fassbare Dimension des Zählbaren, des durch Ähnlichkeit Vergleichbaren und aufeinander Beziehbaren. Diese Dimension entsteht durch die Konstruktion eines durch Repetition und Kontinuität bestimmten, quantitativ organisierten Gerüsts, innerhalb dessen die historische und politische Konsistenz des Römischen Reiches verankert wird. Oben wurde dies am Beispiel der Heraclius-Episode vorgeführt. In ihr wird durch das spezifische Zusammenwirken von Inhalt der Episode und Einbettung der Episode ins Episodengerüst die imperiale Vergangenheit für ein gegenwärtiges Publikum nutzbar gemacht. Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 67 Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner Zur Konstruktion von Geschichte in der Kaiserchronik Elke Brüggen Hans-Joachim Ziegeler zum 28. November 2019 I. Einleitung Den Auftakt zum XXV. Anglo-German Colloquium ‚Geschichte erzählen: Strategien der Narrativierung von Vergangenheit in der deutschen Literatur des Mittelalters‘ wird man als markant bezeichnen dürfen. Mit sechs Vorträgen, die ganz oder teilweise der Kaiserchronik 1 gewidmet waren, galten diesem Text mehr als ein Viertel der gesamten Präsentationen. Der Befund ist signifikant, verweist er doch auf die gesteigerte Aufmerksamkeit, welche die Kaiserchronik in der aktuellen Forschung erfährt. Ihre neuerliche Präsenz im mediävistischgermanistischen Diskurs wird zum einen in dem von Mark Chinca und Christopher Young (Universität Cambridge) in Kooperation mit Jürg Fleischer und Jürgen Wolf (Universität Marburg) und der Universitätsbibliothek Heidelberg betriebenen Editionsprojekt greifbar, 2 1 Zitierte Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, München 1984 (MGH. Deutsche Chroniken [Scriptores qui vernacula lingua usi sunt] 1,1). Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage Hannover 1892. Hinzugezogen wurden überdies: Kaiserchronik digital, hg. von Mark Chinca, Helen Hunter, Jürgen Wolf und Christopher Young: https: / / digi.ub.uni-heidelberg. de/ kcd/ (08.10.2018); Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Mathias Herweg, Stuttgart 2014 (RUB 19270). Die folgenden Artikel orientieren über den Text: Christa Bertelsmeier-Kierst, „Kaiserchronik“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2009, Sp. 1516-1520; Ernst Hellgardt, „Kaiserchronik“, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 6, 2., völlig überarbeitete Auflage, Berlin/ New York 2009, S. 255- 257; Gesine Mierke, „Kaiserchronik“, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 3, Berlin/ Boston 2012, Sp. 145-153; Eberhard Nellmann, „‚Kaiserchronik‘“, in: 2 VL, Bd. 4, Berlin/ New York 1983, Sp. 949-964; Frank Shaw, „Kaiserchronik“, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle, Bd. 2, Leiden 2010, S. 956. 2 Angestrebt ist eine synoptische Edition der drei Versfassungen A, B und C. Vgl. dazu den Beitrag von Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young im vorliegenden Band und des Weiteren: http: / / www.ub.uni-heidelberg.de/ wir/ projekt_kaiserchronik.html (08.10.2018); Mark Chinca und Christopher Young, „Uses of the Past in Twelfth-Century Germany: The Case of the Middle High German Kaiserchronik“, in: Central European History 49 (2016), S. 19-38, hier S. 19-24; dies., „Responsible Philology: Editing the Kaiserchronik in the Digital Age“, in: Digital Philology 6 (2017), S. 288-329; Jürgen Wolf, „Von der einen zu den vielen Kaiserchroniken“, in: Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen crônicâ. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017, S. 9-30. 68 Elke Brüggen mit dem die Bearbeitung eines schon seit längerem formulierten Forschungsdesiderats 3 in Angriff genommen wurde, zum anderen in der von Mathias Herweg 2014 vorgelegten zweisprachigen Auswahlausgabe der A-Fassung, die dem Text den Weg in den akademischen Unterricht an deutschen Universitäten geebnet hat. 4 In den letzten zehn Jahren ist zudem eine ganze Reihe von Publikationen in unterschiedlichen Formaten erschienen; 5 allein 2016 und 2017 kamen neben einem neuen Sammelband mit zehn Beiträgen 6 vier substantielle Artikel von Mark Chinca und Christopher Young, Mathias Herweg und Claudia Wittig heraus, 7 die bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (‚Uses of the Past‘, ‚Political Didacticism‘, Formen der Kohärenzstiftung) immer auch die Frage nach der Art des Erzählens im Blick haben. Damit wird ein Zugriff auf den Text weiterverfolgt, der insgesamt als charakteristisch bezeichnet werden kann für die Neubelebung der literaturwissenschaftlichen Diskussion über einen Text, der, mittlerweile mit einer Fülle auszeichnender Qualifizierungen bedacht, 8 als Experiment historischen Erzählens derzeit intensiv gewürdigt wird und somit als eine ebenso seltsame (wenn auch erklärliche) wie bemerkenswerte Ausnahme zu einer 3 Kurt Gärtner, „Die Kaiserchronik und ihre Bearbeitungen. Editionsdesiderate der Versepik des 13. Jahrhunderts“, in: ‚bickelwort‘ und ‚wildiu mære‘. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann und Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 366-379; vgl. Die Kaiserchronik. Eine Auswahl (wie Anm. 1), S. 473-477; Jürgen Wolf, „Die Kaiserchronikfassungen A, B und C oder Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff zum 60. Geburtstag, hg. von Michael Szurawitzki und Christopher M. Schmidt, Würzburg 2008, S. 91-108; Wolf (wie Anm. 2). 4 Die Kaiserchronik. Eine Auswahl (wie Anm. 1). 5 Wichtige Forschungsliteratur ist ebd. auf den Seiten 501-509 zusammengestellt. Eine auf größtmögliche Vollständigkeit zielende Bibliographie findet sich in Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien (wie Anm. 2), S. 231-256. Ich verweise hier nur auf ausgewählte neuere oder bei Herweg sowie Miedema und Rein nicht erfasste Beiträge: Chinca/ Young, „Uses of the Past“ (wie Anm. 2); Mathias Herweg, „Nachwort“, in: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl (wie Anm. 1); ders., „Geschichte erzählen. Die Kaiserchronik im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens)“, in: ZfdA 146 (2017), S. 413-443; Mary E. Hodgins, The ‚Kaiserchronik’ and the Arthurian romances of Hartmann von Aue, Diss. Austin (Texas) 2016: http: / / doi.org/ 10.15781/ T2D50FX3F (08.10.2018); Claudia Wittig, „Political Didacticism in the Twelfth Century: the Middle High German Kaiserchronik“, in: Universal Chronicles in the High Middle Ages, hg. von Michele Campopiano und Henry Bainton, Woodbridge 2017 (Writing History in the Middle Ages 4), S. 95-119. Vgl. jetzt auch Erzählen von Macht und Herrschaft. Die ‚Kaischerchronik‘ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung, hg. von Elke Brüggen, Göttingen 2019 (Macht und Herrschaft 5). Der Band ist im Rahmen des Bonner Sonderforschungsbereichs 1167 ‚Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ entstanden. Informationen zum Forschungsprogramm des SFB unter: https: / / www. sfb1167.uni-bonn.de/ forschungsprogramm (08.10.2018). Zum Zuschnitt des Teilprojekts vgl. Elke Brüggen, „Politische Rede in der Kaiserchronik“, in: Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Malena Ratzke, Christian Schmidt und Britta Wittchow, Berlin 2019 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 60), S. 167-186. Zum Stand der ‚Kaiserchronik‘-Forschung vgl. auch die Einleitung in den vorliegenden Band. 6 Vgl. Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien (wie Anm. 2). 7 Chinca/ Young, „Uses of the Past“ (wie Anm. 2); Mathias Herweg, „Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen. Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), S. 281-302; ders., „Geschichte erzählen“ (wie Anm. 5); Wittig (wie Anm. 5). 8 Vgl. Chinca/ Young, „Uses of the Past“ (wie Anm. 2): „a seminal work“ (S. 19) mit „several claims to uniqueness“ (S. 20), „[m]onumental in scale“ (S. 19), „the first verse chronicle in any European language“ (S. 19); Herweg, „Kohärenzstiftung“ (wie Anm. 7): „erste nicht-biblische […] Reimchronik“ (S. 282), „erste zyklische Sammlung von Antiken- und Legendstoffen im Deutschen“ (ebd.), „der erste deutsche Erzählzyklus überhaupt“ (S. 286), „Pioniertext volkssprachigen Erzählens“ (S. 283); Wittig (wie Anm. 5): „the first extensive verse chronicle in the Middle Ages in any European language, including Latin“ (S. 95), „imperial history written in a vernacular language“ (S. 96). Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 69 jüngst von Heike Sahm mit Recht beklagten Vernachlässigung des Frühmittelalters und der für seine Erforschung notwendigen Kompetenzen gelten darf. 9 In meinem Beitrag „Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner“ gehe ich der Frage nach, mit welchen Effekten und aufgrund welcher Konzeption(en) in verschiedenen Teilen der Kaiserchronik ‚Deutsche‘ als Gegner der römischen Herrscher dargestellt und zueinander in Beziehung gesetzt werden; der Begriff der ‚Deutschen‘ fungiert in diesem Zusammenhang als ein heuristisches Verständigungsinstrument, dessen Beibehaltung mit Blick auf die zuletzt von Uta Goerlitz entfaltete Problematisierung der Verabredung bedarf; 10 er wird daher in substantivischer wie in adjektivischer Verwendung im Folgenden durchgängig in einfache Anführungszeichen gesetzt. Im Kontext der vorliegenden Fragestellung ist zunächst der Caesar-Abschnitt mit seiner Erzählung von den ‚deutschen‘ gentes von Belang, die Caesar zunächst unterwirft, um sie dann in einem Zug gegen Rom zu vereinigen. Die Analyse wendet sich sodann dem Tarquinius-Abschnitt und damit der Figur des Trierers und Wahlrömers Conlatinus zu, der in eine Konkurrenz zum römischen Herrscher Tarquinius tritt und der dessen Willkürherrschaft schließlich mit einem persönlich wie politisch moti- 9 Heike Sahm, „»Die ich rief, die Geister …« - Kurzes Plädoyer für eine interdisziplinär integrierte Frühmittelaltergermanistik“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), S. 155-165. 10 Uta Goerlitz, Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem Annolied. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.-16. Jahrhundert), Berlin 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 45 [279]); dies., „Narrative Construction of Origin in the Early Middle High German Kaiserchronik (‚Chronicle of Emperors‘)“, in: Mythes à la cour, mythes pour la cour (Courtly Mythologies). Actes du XII e Congrès de la Société internationale de littérature courtoise. 29 juillet-4 août 2007 (Universités de Lausanne et de Genève), hg. von Alain Corbellari, Yasmina Foehr-Janssens, Jean-Claude Mühlethaler u. a., Genf 2010 (Publications romanes et françaises 248), S. 155-164; dies., „Sprache und Identität - Text und Interpretation: Ambivalenzen narrativer Identitätskonstruktion in der frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtung“, in: Sprache und Identität im frühen Mittelalter, hg. von Walter Pohl und Bernhard Zeller, Wien 2012 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 426; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 20), S. 239-250; dies., „Perspektivierung - Differenzierung. Voraussetzungen und Spezifika der frühen Verwendung von diut(i)sch in der deutschen Literatur des Mittelalters: Forschungsimpulse der Germanistischen Mediävistik“, in: Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter, hg. von Frank Hentschel und Marie Winkelmüller, Berlin/ Boston 2014, S. 147-171; dies., „(Un-)Wahrheit und (Nicht-)Erinnern. Erzählen ze diute in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik“, in: Damnatio in memoria. Deformation und Gegenkonstruktion in der Geschichte, hg. von Sebastian Scholz, Gerald Schwedler und Kai-Michael Sprenger, Köln/ Weimar/ Wien 2014 (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 4), S. 225-242; dies., „Juljus Cêsar und die dûtisken lant. Zum Wandel narrativer Identitätskonstruktion zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit aus Sicht der Sprach- und Literaturwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung der «Kaiserchronik» und «Prosakaiserchronik»)“, in: Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit, hg. von Udo Friedrich, Ludger Grenzmann und Frank Rexroth, Bd.-2, Berlin/ Boston 2018 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N. F. 41,2), S. 216-239. Zu beachten ist Goerlitz’ Ansatzpunkt, eine Rezeption der neueren historisch-mediävistischen Nationenforschung, deren Ergebnisse in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingebracht werden - mit erheblichen Konsequenzen für den Umgang mit dem Begriff ‚deutsch‘ und für die Frage nach kollektiven und nationalen Identitätskonstruktionen. Für den vorliegenden Zusammenhang vgl. beispielsweise Goerlitz, Literarische Konstruktion, S. 110: „Nicht ein erwachtes Nationalbewußtsein entdeckt die Römische Reichsgeschichte für sich, sondern der supragentile politische Herrschaftsrahmen fränkisch-karolingischer Tradition und römisch-imperialer Orientierung läßt durch den gemeinsam verfochtenen Anspruch eines der Fürsten im noch jungen regnum Teutonicum auf die imperiale Herrschaft das Bewußtsein ‚deutschen‘ Zusammenhalts allererst entstehen. Auf dieser Basis bildet sich der deutsche Volksbegriff.“ Ferner: Akira Shimizu, „Die ‚Nation‘ vor der Neuzeit. Ihre Mythologisierung in historiographischen und literarischen Werken über Karl den Großen“, in: Hitotsubashi Journal of Arts and Sciences 53 (2012), S.-9-28. 70 Elke Brüggen vierten Mord ein Ende setzt. 11 Ich rücke damit ein Verfahren in den Blick, das in dem von Mathias Herweg vorgestellten Ebenenmodell zur Beschreibung von Strategien erzählerischer Kohärenzstiftung in der Kaiserchronik auf der mittleren Ebene der Abschnitte angesiedelt ist, auf der „Rekurrenzen von Schemata, Begriffen (und Eigennamen) sowie Motiven, dazu wiederkehrende Erzählkerne“ den Zyklus zusammenhalten. 12 Das verbindende Moment stellt im Falle der ausgewählten Erzählungen die Opposition, ja die Konfrontation zwischen einem römischen Herrscher und einer Einzelperson respektive einem Kollektiv mit ‚deutscher‘ Herkunft dar, eine Konfrontation, welche die Gestalt einer Rebellion (‚Erhebung‘) annimmt; diese kann indes im Laufe der Erzählung wiederum in ein gemeinschaftliches Handeln im Interesse des rîches transformiert werden, sie kann sich aber auch auf der Grundlage eines zunächst störungsfreien, ja harmonischen Miteinanders entwickeln, um sich am Ende zwar gegen einen konkreten Machthaber zu richten, sich dabei aber dem Römischen Reich als dem ausschlaggebenden transpersonalen Faktor als dienlich zu erweisen. Die Analyse hebt somit auf die Dynamiken der geschilderten Ereignisse und die Komplexität der dargestellten Relationen ab, welche eine einsinnige Bewertung sowohl der ‚Deutschen‘ als auch der römischen Herrscher und damit auch die im Prolog der Kaiserchronik sowie in den rahmenden Eingangs- und Schlusspassagen der einzelnen ‚Viten‘ forciert vorgetragene Unterscheidung in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ unterlaufen. 13 II. Die Erzählung über Caesar Die Kaiserchronik eröffnet die Reihe ihrer ‚Viten‘ (respektive Gesten) 14 mit Gaius Julius Caesar. 15 Wenn man den entsprechenden Abschnitt mit Vers 209 beginnen 11 Ausgespart habe ich aus Platzgründen den Severus-Abschnitt, der von dem bairischen Fürsten Adelger erzählt, welcher eine Demütigung des römischen Kaisers abzuwehren versteht, aufgrund eines politisch klugen Verhaltens seine Haut rettet und durch ein militärisch effizientes Vorgehen das römische Heer schließlich vernichtend schlagen kann. Zur Severus-Adelger-Erzählung vgl. den Beitrag von Bettina Bildhauer im vorliegenden Band sowie Brüggen (wie Anm. 10). 12 Herweg, „Kohärenzstiftung“ (wie Anm. 7), bes. S. 286-302, Zitat auf S. 288. Der Verfasser unterscheidet drei verschiedene Ebenen: die Ebene des Zyklus als Ganzes und seine Makrostruktur, die Ebene der Abschnitte (‚Viten‘) und die Ebene der mikrostrukturell relevanten Einzelepisoden. 13 Vgl. Herweg, „Kohärenzstiftung“ (wie Anm. 7), S. 284 mit Fußnote 6 und S. 287f. 14 Zum Wortgebrauch vgl. ebd., S. 293. 15 Zum Caesar-Abschnitt der Kaiserchronik vgl. an neueren Publikationen: Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 12), bes. S. 130-147; dies., „Narrative Construction of Origin“ (wie Anm. 12); dies., „Sprache und Identität“ (wie Anm. 12), S. 242-244 und S. 247-250; dies., „Juljus Cêsar und die dûtisken lant“ (wie Anm. 12); Mathias Herweg, Ludwigslied, De Heinrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002 (Imagines Medii Aevi 13), S. 428-429; ders., „Er kam, sah - und fand Verwandte: Julius Caesar, die trojanischen Franken und die ‚römischen Deutschen‘“, in: Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikenrezeption, hg. von Dorothea Klein und Lutz Käppel, Frankfurt a. M. 2008 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit 2), S. 306-326, bes. S. 323f.; Irina Kloskowski, Caesar, Konstantin, Karl und Friedrich - Zur Darstellung und Funktionalität von Herrschergeschichten in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik, Diss. Berlin 2009: http: / / doi.org/ 10.18452/ 16274 (28.10.2018), S. 39-87; Stephan Müller, Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik, Heidelberg 1999 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 268- 283 und passim; Otto Neudeck, „Karl der Große - der beste aller werltkunige. Zur Verbindung von exegetischen Deutungsmustern und heldenepischem Erzählen in der Kaiserchronik“, in: Germanisch- Romanische Monatsschrift N.F. 53 (2003), S. 273-294; Alexander Rubel, „Caesar und Karl der Große Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 71 lässt 16 -und so die Aussagen über die einzigartige Größe und Macht Roms, den Rekurs auf die ‚Salvatio Romae-Sage‘ sowie die knappe Erzählung vom Ertönen der goldenen schelle über dem Abbild der ‚deutschen Lande‘ und ihrer Bewohner einbezieht, 17 umfasst er knapp 400 Verse. Caesar kommt an dem Punkt ins Spiel, an dem die Römer mit Verwunderung realisieren müssen, dass daz Dûtisc volch wider si ûf gestanden was (V. 246); die Aufgabe, daz er in das lant twunge / und in daz wider gewunne (V. 233f.), überträgt man dem als helt jungen (V. 252) eingeführten Caesar. Die Kaiserchronik profiliert die Figur im Folgenden als Feldherrn, den sie zunächst im Kampf gegen die ‚Deutschen‘ mit den gentes der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken zeigt und danach, als Reaktion auf die verwehrte Anerkennung der Siege Caesars durch die Römer, in einem Kampf, in dem er, Seite an Seite mit den ‚Deutschen‘, gegen Rom vorgeht und in dessen Folge er schließlich in eine Position einrückt, in der er für die Dauer von fünf Jahren diu rîche […] mit michelem gewalte habete (V. 597), bis er von den Römern ungetrûwelîche erschlagen wird (V. 601). Die Kaiserchronik präsentiert Julius Caesar demnach als Begründer der kaiserlichen Amtsgewalt im Römischen Reich und setzt ihn so an die Spitze der Reihe von Kaiser- ‚Viten‘. 18 In den Grundlinien wie auch in etlichen Formulierungen mit dem Caesar-Passus des Annoliedes 19 übereinstimmend, 20 bietet die Caesargeschichte der Kaiserchronik eine in der Kaiserchronik. Typologische Struktur und die translatio imperii ad Francos“, in: Antike und Abendland 47 (2001), S. 146-163; Armin Schulz, „Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik“, in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/ New York 2010, S. 339-360, bes. S. 354-358; Almut Suerbaum, „The Middle Ages“, in: A Companion to Julius Caesar, hg. von Miriam Griffin, Oxford 2009, S. 317-334, hier S. 323-325; Wittig (wie Anm. 5), bes. S. 104-107. Die ältere Literatur zum Caesar- Abschnitt ist bei Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 12), S. 114-117, erfasst und besprochen. 16 Vgl. den Gliederungsvorschlag des Caesar-Abschnitts im Anhang des vorliegenden Beitrags. 17 Zu der „Roms unbegreifliche Macht magisch erklärende[n]“ Sage der salvatio Romae vgl. Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Darmstadt 1968 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10). Reprografischer Nachdruck der 1. Auflage Münster 1940, S. 40-42; Zitat aus: Fedor Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter, München 1926, S. 165. Zur Vorgeschichte des Reiches (Gründung durch Romulus und Remus, römische Tagesgötter, christliche Umweihung des Pantheons) vgl. Johannes Dickhut-Bielsky, Auf der Suche nach der Wahrheit in ‚Annolied‘ und ‚Kaiserchronik‘. Poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtungen, Stuttgart 2015 (ZfdA Beihefte 23), S. 78-80. 18 Vgl. Rubel (wie Anm. 15), S. 146-163. Zu den semantischen Feldern, die im Mittelalter mit dem Namen Gaius Julius Caesar aufgerufen werden konnten, vgl., im Rekurs auf das kulturelle Konzept des ‚Erinnerungsortes‘, Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), S. 306-310. Zum historischen Caesar und seiner Rezeption vgl. Karl Christ, Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994; ders., „Caesar. 100-44 v. Chr.“, in: Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, hg. von Manfred Clauss, 4., aktualisierte Auflage, München 2015, S. 13-25; Matthias Gelzer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, 6., bearbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden 1960; Wolfgang Will, Julius Caesar. Eine Bilanz, Stuttgart 1992; Eduard Norden, „Der Germanenexkurs in Caesars Bellum Gallicum. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Suebi und Germani“, in: Caesar, hg. von Detlef Rasmussen, Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 43), S. 116-137. 19 Das Annolied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Eberhard Nellmann, Stuttgart 5 1999 (RUB 1416), V. 263-480. Eine eingehende Analyse des „historisch-narrativen Konstrukt[s]“ ‚Caesar‘ bietet, ausgehend vom und mit Schwerpunkt auf dem Annolied, Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), mit einem (weiter ausgreifenden) Inhaltsresümee auf S. 312-314; ebd., S. 307 Anm. 7, Literatur zur mittelalterlichen Caesar-Rezeption. 20 Zu den Parallelen vgl. Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18,578 Reimzeilen, hg. von Hans F. Massmann, Bd. 3, Quedlinburg/ Leipzig 1854 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 72 Elke Brüggen Reihe zusätzlicher Details, lässt anderes weg oder setzt mitunter abweichende Akzente, sodass trotz vieler Parallelen in der Darstellung beider Texte nach einer konzeptuellen Eigenständigkeit der Kaiserchronik gefragt werden soll. 21 In dem späteren Text bekundet sich eine Sonderstellung des Abschnitts nicht nur in seiner exponierten Positionierung am Auftakt einer umfangreichen ‚Viten‘-Reihe, sondern auch in seiner Form, bei der die bereits von Friedrich Ohly herausgearbeitete, für viele Kaisergeschichten des Textes typische Rahmung durch eine Kombination aus „sich formelhaft wiederholenden Eingänge[n] und Schlüsse[n]“ 22 nur partiell und zudem in untypischer Weise realisiert ist. Eine Eingangsformel, für die eine Nennung des Namens und eine knappe Charakterisierung des jeweiligen Kaisers üblich ist, gibt es hier nicht. Der Akzent liegt am Anfang vielmehr auf der êre (V. 212) der Römer, 23 einem Ansehen, das sich darauf stützt, dass weder ûf der erde noch ûf dem mere / nemahte sich ir niemen erweren (V. 213f.). Rom repräsentiert eine unbezwingbare Militärmacht, der andere Länder sich unterwerfen; sie werden den Römern […] gehôrsam / unde ze Rôme undertân (V. 215f.). Der mythopoetischen Überhöhung dieser im Rahmen der Vorgeschichte des römischen Weltreichs wichtigen Führungsrolle dient die Integration der ‚Salvatio Romae-Sage‘, der zufolge goldene Glocken über den Abbildern der unterworfenen Länder selbsttätig eine Auflehnung gegen die römische Herrschaft anzeigen. Betont wird zudem das entschiedene Handeln der Römer im Falle einer Bedrohung, das sich auf ein klar geregeltes Procedere stützen kann: Mit Hilfe eines Losentscheids wird ein Herr von Adel bestimmt, der die ehrenvolle Aufgabe erhält, das abtrünnige Land zurückzugewinnen. Markiert durch die Formel Aines tages iz gescach (V. 235), handelt der Text sodann von einem konkreten Alarm während einer Sitzung des römischen Senats; die Inschrift unter dem Abbild der läutenden Glocke tut kund, dass es daz Dûtisc volch (V. 246) ist, das sich erhoben hat. Erst hier erfolgt die Überleitung zur Figur Caesars, die freilich fürs erste noch namenlos bleibt, 24 heißt es doch lediglich, dass man ainen hêrren (V. 248) bestimmt, der sich der Sache annehmen soll. Caesars Krieg gegen die ‚Deutschen‘ erfährt in der Kaiserchronik 4,3), S. 263-278; Wilhelm Wilmanns, Über das Annolied. Quellen - Kaiserchronik - Vita Annonis - De origine Francorum, Bonn 1886 (Beiträge zur Geschichte der älteren deutschen Litteratur 2); Das Annolied, hg. von Max Roedinger, Hannover 1895 (MGH. Deutsche Chroniken [Scriptores qui vernacula lingua usi sunt] 1,2), S. 63-132, hier S. 80-88; Ohly (wie Anm. 17), S. 43-45; Hans-Friedrich Reske, „Das Annolied. Aufbau, Überlieferung, Gestaltung“, in: ‚Getempert und gemischet‘: für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern, hg. von Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller, Göppingen 1972 (GAG 65), S. 27-69, hier S. 48-50; Müller (wie Anm. 15), S. 264-281. Während die ältere Forschung im Annolied eine direkte Vorlage der Kaiserchronik sah, erklärt Müller die Parallelen, indem er eine aus dem 11. Jahrhundert stammende „ältere Reimchronik“ ansetzt, die sich nicht erhalten hat; wie das Annolied soll auch sie im Rheinland entstanden sein und dann, vermittelt über Abt Kuno von Siegburg und späteren Bischof von Regensburg (ab 1126), in die bedeutende Stadt an der Donau gelangt sein. Zum Caesar-Abschnitt im Annolied und in der Kaiserchronik vgl. zudem die in Anm. 15 genannten Beiträge von Goerlitz. 21 So auch Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 131-137. 22 Ohly (wie Anm. 17), S. 16-23. 23 Zu vergleichbaren Tendenzen im Annolied vgl. Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), S. 314: „Nicht Caesar oder Augustus, sondern der republikanische Senat steht am Anfang des vierten Weltreichs. Er ist es, der Roms Aufstieg zur Weltherrschaft ebenso wie Caesars Karriere initiiert, der damit die Handlungssequenz anstößt, in deren Verlauf der geschickte Feldherr zum Herrscher, zur ›Postfiguration‹ Alexanders und zum - neben Anno - zweiten Protagonisten der Preisdichtung wird.“ 24 Der Text verwendet für diese Figur in der Folge neben dem Gentilnamen ‚Julius‘ die Bezeichnungen ‚Juljus Cêsar‘ und ‚Cêsar‘. Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 73 also eine Begründung im Rekurs auf die ‚Salvatio Romae-Sage‘, und sein Handeln im Auftrag und als Repräsentant Roms wird so eigens hergeleitet und motiviert. Die Schlussformel der Kaisergeschichten wiederum bietet in der Regel Angaben zur Regierungszeit und zur Todesart des betreffenden Herrschers. 25 Es ist schon früh gesehen worden, dass der Tod in der Kaiserchronik eine „paradigmatische[] Bedeutsamkeit als Bestandteil[] einer typischen Herrscherrolle“ besitzt und insofern dazu angetan ist, den positiven und vorbildlichen Herrscher vom Tyrannen als Negativexempel zu unterscheiden. 26 Der Schluss der Caesar-‚Vita‘ weist beide Bestandteile (Angabe der Regierungszeit wie der Todesart) auf und kann insoweit als ‚regelkonform‘ bezeichnet werden. Die mit fünf Jahren bezifferte und als solche sehr kurze Regierungszeit lässt der Text mit Caesars triumphaler Rückkehr nach Rom nach seinem siegreichen Feldzug gegen Cato, Pompeius und den gesamten römischen Senat beginnen, bei der die Einführung des Majestätsplurals seine unvergleichliche, da bis dato auf viele verteilte, Macht zum Ausdruck bringt. Die Mitteilung über das gewaltsame Ende des Alleinherrschers, der von den Römern erschlagen wird, greift die historischen Vorgänge an den Iden des März im Jahre 44 v.- Chr. auf, kann jedoch nicht als eine Qualifizierung Caesars als Tyrann gelesen werden: Zum einen wird die Handlungsweise der Römer mit Hilfe des Adverbs ungetrûwelîche (V. 601) klar verurteilt, zum anderen klingt die Geschichte Caesars nicht mit den Umständen seines Todes aus, sondern mit dem Hinweis auf die ehrenvolle Bestattung seiner Gebeine auf einer irmensûl (V. 602), einem Obelisken. 27 Die spezielle Ausgestaltung von Anfang und Ende der Geschichte Caesars resultiert demnach aus einem Erzählen, das die kaiserliche Gründungsfigur des römischen Imperiums auf ihrem Weg in diese Position zeigt und dabei die Ambivalenz des historischen Caesar 28 zugunsten einer eindeutig positiven Wertung des ersten Kaisers zurückdrängt. In einer zweiphasigen Handlung stellt die Kaiserchronik Caesar als Feldherrn vor. Beginn und Ende der ersten Phase, also des Zuges in die Dûtiscen lande[] (V. 253), 29 markieren dabei zusammenhängende Charakterisierungen des Erzählers im Umfang von jeweils zehn (vgl. V. 247-256) respektive fünfzehn (vgl. V. 437-451) Versen. Die erste Stelle streicht vor dem Militäreinsatz und im Horizont einer verbürgten und in Preisliedern fasslichen Vortrefflichkeit die Jugend, den Wagemut und die Entschlossenheit 30 eines Kriegerhelden heraus, dem die Römer zu Recht den Oberbefehl über ihre Truppen anvertrauen. Der Kontext der zweiten Stelle ist dagegen die Einnahme von Trier, bei der Caesar im Umgang mit den besiegten Gegnern Milde zeigt, die Stadt nicht zerstört, das Ansehen der adligen Bevölkerung nicht antastet, die Führungselite überdies mit bedeutenden Lehen versieht, die kühnsten Kämpfer mit Gold belohnt und auch die Ärmsten mit Gaben bedenkt - das lehrte ihn, so heißt es, sîn diemuot (V. 449). Das Wort lässt aufhorchen, attestiert der Verfasser damit doch dem antiken Feldherrn eine christliche Tugend, „die unter den in der Kaiserchronik er- 25 Auch der Blick auf das Leben der Seele nach dem Tode ist häufig anzutreffen, vgl. Ohly (wie Anm. 17), S. 16f. 26 Ebd., S. 18f., das Zitat auf S. 19. 27 Vgl. Der keiser und der künige buoch (wie Anm. 20), Bd. 3, S. 536-539. 28 Vgl. etwa Christ, „Caesar. 100-44 v. Chr.“ (wie Anm. 18). 29 Zum Wechsel zwischen Singular- und Pluralbezeichnung und ihren Semantiken vgl. pointiert Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 133-135 und S. 142. 30 Caesars Entschlossenheit kommt u. a. in seinem unverzüglichen Aufbruch in die Lande der Aufständischen zum Ausdruck, was der Erzähler mit einem weiteren positiven Werturteil versieht: Juljus was ain guot kneht (V. 267). 74 Elke Brüggen wähnten Heidenherrschern nur Caesar allein besitzt.“ 31 Der Passus mündet in eine Eloge auf eine Persönlichkeit, die bei herausragendem militärischen Einsatz und einem ebensolchen strategischen Geschick auch die Größe besitzt, die Besiegten zu schonen: Cêsar was milt unde guot, / vil michel was sîn sin (V. 450f.). Die zweite Phase konzentriert sich auf Caesars Aktionen nach seiner Zurückweisung in Rom, wo man die hohen Verluste anprangert, mit denen der Sieg erkauft wurde, und sein Vorgehen als Ausdruck von Machtstreben und Eigenmächtigkeit verurteilt (vgl. V. 455-460). Die Emotion des Zorns (vgl. V. 461) wird von Caesar unmittelbar in ein Handeln umgesetzt, das auf eine Rückkehr zu den […] hêrren / di in Dûtiscem rîche wâren (V. 463f.) und eine erfolgreiche Rekrutierung von erstklassig gerüsteten Truppen ûzer Gallîa unt ûzer Germanje (V. 471) 32 einen Feldzug gegen Rom und den römischen Senat mit Cato und Pompeius als herausragenden Vertretern folgen lässt. Im eigenhändigen Einsatz seines Schwertes als Anführer einer kleinen schlagkräftigen Schar von ‚deutschen‘ Kämpfern manifestiert sich ein in Texten des 12. Jahrhunderts mehrfach thematisierter Kampfzorn, 33 der im Verbund mit entschiedener Gegenwehr in einer überaus verlustreichen Schlacht eine nie dagewesene Zahl von Toten bedingt. Caesar bleibt dabei in der Sicht des Erzählers der junge man (V. 515), der schließlich diu rîche elliu under sih gewan (V. 516) und so triumphierend und mit großer Macht nach Rom zurückkehrt. Der Übertragung der Heeresführung an Caesar im Kampf gegen die aufständischen ‚Deutschen‘ unterlegt der Text nicht nur mit dem Hinweis auf die besonderen Qualitäten des jungen Römers eine eigene Rationalität. Hinzu kommt der Umstand, dass der Julier mit den Dûtiscen landen (V. 263) vertraut ist und den Mut und die Kampfkraft (ellen, V. 264) der dortigen Krieger kennt - want er in ir haimilîche was (V. 265), also: in ihrer Heimat gewesen war. Er betritt das Terrain der ‚Deutschen‘ also bereits zum wiederholten Male, 34 und so ist es seine Erfahrung, die ihn die Zahl der ihm vom Senat bereitgestellten Kämpfer aus eigener Kraft auf 60.000 verdoppeln lässt, wohlwissend, dass auch diese Zahl ihm nicht zwangsläufig zum Vorteil gereicht (vgl. V. 257-266). Die solchermaßen begründete Nähe des Römers zu seinen transalpinen Gegnern erfährt mit Blick auf die vil edelen Franken (V. 345) eine Steigerung durch den Verweis auf eine gemeinsame Abstammung der Römer und der Franken von den Trojanern mit Aeneas und Franko als ihren jeweiligen Gründungsheroen. In dieser auch bereits im Annolied eingenommenen Perspektive erscheinen die Franken als die alten mâgen Caesars (V. 344), 35 wobei die gemeinsame Abstammung von biderben vorderen (V. 346) eine prinzipielle Gleichwertigkeit impliziert, die eine Unterwerfung der Franken zu einer riskanten, weil potenziell instabilen militärisch-politischen Unternehmung macht, die größter Wachsamkeit auf Seiten des Römers bedarf (vgl. V. 377f.). 31 Rubel (wie Anm. 15), S. 150. 32 Zur Bedeutung dieser aus der Antike tradierten Formel, die „in der ‚Kaiserchronik‘ zur Beschreibung der Ausdehnung des dûtisken rîches“ auf linkswie rechtsrheinische Gebiete dient, vgl. Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 136: „[…] auf terminologischer Ebene [wird] eine unmittelbare Verbindung zwischen der römischen Vergangenheit und der mittelalterlichen Gegenwart hergestellt, in denen sich das dûtiske rîche gleichermaßen auf die rechtsrheinische Germania und die linksrheinische Gallia Belgica erstreckt, mit der zugleich der Kern des Franken landes aufgerufen ist (Lothringen). Dementsprechend werden die Bewohner der Gallia unt Germania einheitlich als Dûtisce (KChr. 497/ 16,6) bezeichnet. Bezeichnenderweise unterbleibt dabei eine weitergehende Differenzierung der Dûtisken analog zu der des dûtisken rîches in rechts- und linksrheinische Reichsbewohner.“ 33 Vgl. Evamaria Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts, Berlin/ Boston 2016 (Trends in Medieval Philology 32). 34 Vgl. Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 138. 35 Vgl. Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15). Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 75 Bei der Schilderung der Konfrontation Caesars mit seinen - aus der Perspektive Roms - transalpinen Opponenten wechselt der Text von einer „universalen Makro-“ zu einer „gentilen Mikrogeschichte“ (so Mathias Herweg mit Bezug auf das Annolied). 36 War am Anfang der ‚Vita‘ noch vom Dûtisc volch die Rede, rücken nun die gentilen Verbände der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken in den Blick. Zwar vermag Caesar alle vier Verbände zu bezwingen, doch sind die Konfrontationen durchaus unterschiedlich gestaltet. Beim Zusammenstoß mit den Schwaben wird die Härte betont, mit der Caesar vorgeht (michel ungenâde, V. 272), eine Härte, die in der entschiedenen Verteidigungsbereitschaft und Wehrkraft der Schwaben und insbesondere ihres Anführers Prenne ihr Pendant findet, wodurch viel Blut fließt. Zum Erfolg verhilft letztlich ein teidinge (V. 284), zu dem Caesar die Schwaben mit minnen (V. 283) bittet. Caesar strebt also eine vertragliche Lösung an, und es ist sein Verhandlungsgeschick, das ihm schließlich die Übergabe des Landes einbringt und es ihm erlaubt, seine Zelte auf dem für die gens vorgeblich namengebenden Berg Suevo respektive Swêrô (V. 288) aufzuschlagen. Die hervorragenden bairischen Kämpfer, zu denen Caesar auf Anraten der Schwaben gelangt (vgl. V. 297-299), 37 leisten einen solchen Widerstand, dass der Römer sie nur mit größter Mühe überwinden kann; den Sieg muss er mit pluote sêre geltan (V. 324). Ganz vage bleibt die Kaiserchronik im Falle der Sachsen; hier heißt es zwar: Ihr […] grimmigez muot / tet im dô laides genuoc (V. 325f.), doch bleibt der Verlauf der Begegnung ebenso ausgespart wie die Umstände, die schlussendlich zur Unterwerfung der Sachsen führen. Ähnlich verhält es sich zunächst im Falle der Franken, von denen es heißt, dass ihre Landnahme niden bî dem Rîne erfolgte (V. 374). Hier wird lediglich konstatiert, dass sie Cêsari undertân wurden, dieser sich jedoch weiterhin vorsah (V. 377f.). Ein anderer Aspekt kommt erst zum Tragen, wenn der Text auf die Eroberung der stolzen Stadt Trier eingeht, die er […] an einem ende / in Franken lande, / in Bellicâ Gallîâ (V. 397-399) lokalisiert. Die Kühnheit ihrer Bewohner verhindert zunächst einen Sieg. Diesen kann Caesar nur auf dem Wege einer überlegten Taktik erreichen, mit der er sich nach einer mehr als vierjährigen Belagerung die Zwietracht der mächtigen Herren unter den Trierern zunutze macht. Die Kaiserchronik beleuchtet in diesen Passagen somit nicht nur das militärische Ingenium und die Durchschlagskraft des römischen Feldherrn, sondern zudem seine Fähigkeit zu umsichtiger Verhandlung und die rücksichtslose Klarsichtigkeit, mit der er die Schwäche der Gegner in den eigenen Vorteil umzumünzen versteht. Eine weitere dem Frankenabschnitt inserierte Passage (vgl. V. 379-394) bereichert das Caesar- Portrait um eine zusätzliche Facette, indem sie den Römer als Städtegründer zeigt, der am Rhein eine ganze Reihe von Herrschaftssitzen errichten lässt. Unterstützt wird das über den Tatenbericht generierte positive Caesarbild der Kaiserchronik auf symbolischer Ebene durch eine eigenwillige Umdeutung des Danieltraums (vgl. 36 Ebd., S. 314. 37 Hier wird demnach der Antagonismus zwischen den beiden gentes herausgestellt; so auch Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 139, mit weitergehender Deutung: „Der in der Sequenz zu den Bayern herausgestellte Antagonismus zu den Schwaben, das im Modus der Überbietung gezeichnete kämpferische Profil der Bayern lassen beide Völker an dieser Stelle demnach mitnichten als integrative Bestandteile einer Einheit erscheinen, die etwa unter dem Charakteristikum ‚dûtisc‘ zu subsumieren wäre. Dasselbe gilt analog für die Sachsen und Franken und damit für den gesamten Abschnitt über die kriegerischen Auseinandersetzungen der gegen Rom opponierenden Völker mit dem römischen Imperator.“ 76 Elke Brüggen V.-526-590). Die komplexe Materie ist gut aufgearbeitet, 38 sodass ich hier nur einige zentrale Punkte anspreche, welche die Funktion der Passage erhellen. Zu den Spezifika der in der Kaiserchronik anzutreffenden Version zählen die Einordnung der Passage in den Erzählzusammenhang, die Reihenfolge, in der über die vier wilden Tiere gehandelt wird, welche der Tradition gemäß die zur Gliederung der Geschichte herangezogenen Weltreiche vorstellen, sodann die Ausdeutung der einzelnen Tiere. Die Kaiserchronik inseriert den Danieltraum in die Caesar-‚Vita‘. Genauer gesagt: Sie bietet ihn im Anschluss an den Bericht über das Ende des römischen Bürgerkriegs und die erfolgreiche Etablierung von Caesars Alleinherrschaft und verfährt so signifikant anders als das Annolied, in dem die Danielvision auf den Bericht über das babylonische Reich folgt und dem Bericht über Caesar vorausgeht, der so unmittelbar und folgerichtig an die ‚bildliche‘ Repräsentanz des römischen Weltreichs anschließt. 39 Damit weist die Version der Kaiserchronik so eklatante Unterschiede zur biblisch-hieronymianischen Tradition auf, dass an einer Umdeutung in programmatischer Absicht nicht zu zweifeln ist. 40 Hatten hier Löwin, Bär, Leopard (Panther) und Eber die vier Weltreiche der Babylonier, der Meder und Perser, der Griechen sowie der Römer bezeichnet, begegnet in der Kaiserchronik die Abfolge Leopard (Panther), Bär, Eber und Löwin; die Weltreiche erscheinen in drei von vier Fällen durch mächtige Könige personifiziert. An die Spitze rückt unter dem Zeichen des Leopards mit Adlerflügeln der Grieche Alexander der Große. Der Bär mit drei Zahnreihen versinnbildlicht drei Königreiche, die sich bekriegten; eine weitergehende Konkretisierung erfolgt hier nicht. 41 Der furchterregende Eber mit zehn Hörnern bezeichnet den tiurlîchen Juljum (V. 572), der alle seine Feinde niederwarf und unter seine Herrschaft brachte; das wilde swîn (V. 577) bringt so zum Ausdruck, daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn (V. 578). Die Löwin schließlich, mit menschlichem Verstand, menschlichen Augen und menschlichem Mund, ein nie dagewesenes Mischwesen, ausgestattet mit einem himmelwärts wachsenden Horn, steht für den Antichrist, der noh in die werlt kunftich ist, / den got mit sîner gewelte / hin ze der helle sol senden (V. 586-588). Entscheidend ist die Umordnung der römischen Weltherrschaft von der letzten an die vorletzte Position und damit eine Entkoppelung vom Kommen des Antichrist, 42 welche eine ‚Entlastung‘ des römischen 38 Zu den Traditionslinien der Weltdeutung nach Daniel, die als Folie für die spezifische Ausgestaltung des Themas in der Kaiserchronik dienen können, vgl. bes. Annegret Fiebig, „vier tier wilde. Weltdeutung nach Daniel in der ›Kaiserchronik‹“, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050-1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von ders. und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 27-49. Zur Version des Danieltraums in der Kaiserchronik vgl. zuletzt Wittig (wie Anm. 5), S. 104-107. 39 Wie insbesondere Annegret Fiebig gezeigt hat, kann für die Danielvision keineswegs von einer „einsträngigen Traditionslinie“ ausgegangen werden, der sich der Verfasser der Kaiserchronik in Anlage und Deutung hätte anschließen können; vgl. Fiebig (wie Anm. 38), bes. S. 27-38, Zitat auf S. 38. 40 So schon Ohly (wie Anm. 17), S. 50: „Die kühne […] Ansicht der vier Weltreiche fordert uns die Vorstellung von einem selbstbewußten und planmäßig das Bild der Geschichte umformenden und gestaltenden Dichters ab, der mit größerer Freiheit als die sachlichere Zwecke verfolgenden Geschichtsschreiber des Mittelalters seinem Bilde von der Reichsgeschichte einen ideell gegründeten dichterischen Ausdruck verleiht.“ 41 Im Annolied (V. 197-206) symbolisiert der „wilde, vernichtende Bär mit dreifachem Gebiss […] die durch Kyros und Dareios vereinigten Reiche (der Meder, Perser und Babylonier)“; s. Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), S. 312f. 42 Nach Fiebig (wie Anm. 38), S. 39, „[…] verfolgen die Umstellungen und Umdeutungen vor allem den Plan, das römische Reich vom endzeitlichen Fluch zu entlasten. Denn indem die Löwin an die vierte Stelle rückt, ist das Antichristzeichen mit keinem weltlichen Reich mehr unmittelbar verbunden“; vgl. Die Kaiserchronik. Eine Auswahl (wie Anm. 1), S. 399 und S. 432, Stellenkommentar zu V. 530-535. Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 77 Reiches bewirkt. 43 Dieser entspricht die eindeutig positive Wertung seines Begründers, des Feldherrn Julius Caesar, der in all seiner die Freiheit der Römer sichernden Kraft und Macht im Bild des Ebers 44 beschworen wird. Die Neuinterpretation von Dan 7 (mit punktueller Bezugnahme auf Dan 2) akzentuiert demnach die auf Caesars Alleinherrschaft ruhende Etablierung römischer Weltherrschaft; zugleich öffnet sich „[ü]ber das heroisch-epische Bürgerkriegsszenario hinweg […] der Blick auf die heilsgeschichtliche Rolle des rîche im göttlichen Weltplan.“ 45 Das in der Kaiserchronik entworfene Bild der ‚Deutschen‘ wird maßgeblich durch die enge Verbindung Caesars mit ihnen bestimmt. Ihr Verhältnis zueinander wandelt sich von einem zwischen Gegnern hin zu einem zwischen Verbündeten und ‚Freunden‘, wobei die Möglichkeit zu dieser Entwicklung durch die oben bereits angesprochene Konstruktion einer Vertrautheit, ja ‚Verwandtschaft‘ zwischen dem Römer und den ‚Deutschen‘ von Anfang an gegeben scheint. Allerdings wird diese Möglichkeit narrativ erst enthüllt, nachdem das Dûtisc volch (V. 246) zunächst in die Reihe derjenigen eingegliedert worden ist, die in der Vergangenheit den Römern […] gehôrsam / unde ze Rôme undertân (V. 215f.) wurden, sich dann jedoch wieder gegen sie erhoben. Die ‚Deutschen‘ müssen somit ein zweites Mal bekriegt und unterworfen werden. Nachdem Caesar das gelungen ist und er sie überdies zur Unterstützung im Kampf gegen Rom gewinnen und mit ihrer Hilfe die Alleinherrschaft 46 erringen kann, sind sie zu seinen holden (V. 593) geworden, die für ihren überragenden Kriegseinsatz großzügig entlohnt werden. Dieser Umstand sichert, so der Erzähler, Dûtiske[n] man (V. 595) auf alle Zeit eine privilegierte Position in Rom: Sie waren von da an ze Rôme ie liep unt lobesam (V. 596). Die in der ersten Kaisergeschichte der Chronik vorgeführte ‚Karriere‘ der ‚Deutschen‘ an der Seite Caesars postuliert somit gleich zu Beginn des Textes ihre enge „Bindung an das römische Reich“ 47 und weist ihnen so von Anfang an und vor jedem Rekurs auf die Vorstellung einer Herrschaftsübertragung ihre bedeutende Position in der Geschichte zu. Die von cisalpinem Gebiet aus eingenommene, Einheit suggerierende respektive präsentierende Perspektive auf die ‚Deutschen‘, die zu Beginn und zum Ende der Erzählung über Caesar eingenommen wird, erfährt eine ethnographische Differenzierung in dem Moment, in dem von der auf transalpinem Boden stattfindenden militärischen Auseinandersetzung des Römers mit den dortigen Bewohnern erzählt wird. 48 Dabei wird das Anliegen erkennbar, für die verschiedenen Ethnien auf der Grundlage der Attribuierung eines alle verbindenden, herausragenden kämpferischen Könnens und Einsatzes Unterschiede geltend zu machen. Die Mittel dazu sind die folgenden: erstens ein Rekurs auf die verschiedenen Herkunfts- und Landnahmefabeln der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken, zweitens die ‚Individualisierung‘ der gentes durch eine namentliche Nennung und eine 43 Vgl. dazu den Beitrag von Jan-Dirk Müller im vorliegenden Band. 44 Vgl. Fiebig (wie Anm. 38), S. 46: „Der Eber in der ‚Kaiserchronik‘ ist ein Bild für Juljus Caesar, wohingegen im ‚Annolied‘ noch alle Römer damit bezeichnet wurden.“ 45 Die Kaiserchronik. Eine Auswahl (wie Anm. 1), S. 432, Stellenkommentar zu V. 530-535. 46 Die deutschen Gefolgsleute erkennen Caesars Alleinherrschaft in der Übernahme des Majestätsplurals an (vgl. V. 524f.). 47 Rubel (wie Anm. 15), S. 151. 48 Vgl. Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), die auf S. 139f. davon spricht, dass „die von Caesar aufgesuchte, transalpine Provinz der Erhebung in dem Moment in ihre einzelnen lant und liut [zerfällt], in dem sich der Fokus mit Caesar in diese und unmittelbar zu diesen hin verlagert.“ 78 Elke Brüggen Charakterisierung der verschiedenen Anführer oder Großen, 49 drittens die Thematisierung spezifischer Vorzüge oder auch Schwächen der einzelnen gentes. Zum ersten Punkt: Bei den Baiern, den Sachsen und den Franken wird das für die origines gentium häufig verwendete Element der (Ein-)Wanderung 50 genutzt und mit der Nennung eines Spitzenahns (des wunderlîchen Alexanders man, / der ze Babilonje sîn ende genam, im Falle der Sachsen, V. 328f., und des Trojaners Franko im Falle der Franken, vgl. V. 373-376) oder mit einer Anbindung an die biblische Geschichte (so bei der Herkunft aus Armenien, dâ Nôê ûz der arke gie, im Falle der Baiern, V. 319) verbunden. Im Falle der Schwaben ist hingegen von einer Herkunft von jenseits des Meeres, anders als im entsprechenden Passus des Annoliedes (vgl. V. 281-294), nicht die Rede, sodass bei ihnen die im Rahmen der origines gentium relativ selten genutzte Vorstellung einer autochthonen Herkunft zumindest nahegelegt wird. Als primäres identifizierendes Moment erscheint bei ihnen die Namensgebung nach einer topographischen Auffälligkeit ihres Siedlungsgebiets, dem Berg Suevo respektive Swêrô (V. 289f.). 51 Zu Punkt 2: Eine identifizierende Funktion erfüllen des Weiteren die (im Annolied nicht vorhandenen) Namen der jeweiligen Anführer oder Großen: Prenne bei den Schwaben, Boimunt und Ingram bei den Baiern, Lâbîân, Dulzmâr und Signâtôr bei den Franken. Zum dritten Punkt: Die Zuschreibung besonderer Eigenschaften dient der Abgrenzung einer gens von anderen gentes und sichert so Identität. Bei den Schwaben handelt es sich dabei um den Drang, sich immer wieder als guote reken (V. 294) hervorzutun, und um eine ausgeprägte Redegewandtheit, die sie für den Rat besonders geeignet erscheinen lässt (vgl. V. 291f.). Als hervorstechende Qualität der Baiern wird ihre Tapferkeit genannt, die sich auf die besondere Güte ihrer Schwerter stützen kann. Im Falle der an der Elbe siedelnden Sachsen artikuliert sich die Identifikation der gens mit den von ihr genutzten Waffen in einer Namensgebung, die sich etymologisch von ihren sahs genannten Messern herleitet. Gegen die ansässigen und zu überwindenden Thüringer wurden diese Messer, so der Erzähler in Übereinstimmung mit der Version des Annoliedes, im Anschluss an eine Unterredung zum Einsatz gebracht, die eine Bereitschaft zum Friedensschluss lediglich vorgetäuscht hatte; 49 Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), S. 323, macht darauf aufmerksam, dass die Benennung der verschiedenen Anführer zudem die Funktion hat, Caesars Gegnern „bereits eine von Caesars Wirken unabhängige politische Struktur“ zuzubilligen. Vgl. auch ebd., Fußnote 42: „Im Gegenteil existiert das dûtisc volch in der ›Kaiserchronik‹ bereits vor Caesar, und es steht offenbar schon vor ihm auch in Kontakt mit Rom, denn Caesars Feldzug reagiert auf einen Aufstand der (demnach schon unterjochten) Deutschen, v. 235-246.“ 50 Zur legitimitätssteigernden Funktion des Wanderungsmotivs vgl. Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7), hier S. 360: „Abgesehen davon, daß die Tatsache einer Wanderung in vielen Fällen, wie etwa dem der Angelsachsen, historisch belegt ist, scheint sie eine bessere Erklärung für die neue Ordnung zu bieten als eine autochthone Herkunft. Eine Einwanderung und eine Überlegenheit der Einwanderer, ihre Übernahme der Herrschaft in dem neuen Land machen die Legitimitätsgrundlage wesentlich plausibler.“ Zu den Herkunftsmythen der ‚deutschen‘ gentes vgl. auch Goerlitz, „Narrative Construction of Origin“ (wie Anm. 10), S. 160-162; Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15); Hartmut Kugler, „Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern“, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von dems., Berlin/ New York 1995, S. 175-193; Alheydis Plassmann, „Zur Origo-Problematik unter besonderer Berücksichtigung der Baiern“, in: Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hg. von Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier, St. Ottilien 2012 (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1), S. 163-182. 51 Dass die „Darstellung über Ursprung und Eigenarten der Schwaben stärker in den Hintergrund [tritt] als im ‚Annolied‘“, hat Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 139, bereits betont. Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 79 aus dieser Handlungsweise resultiert der den Sachsen entgegengebrachte Vorwurf der untriwe (V. 339), der sie als wenig verlässlich und als wortbrüchig kennzeichnet. Die Franken schließlich stechen durch ihren besonderen Adel hervor (vgl. V. 345), der sich aus ihrer Anbindung an das antike Troja ergibt. In den gegenüber dem Annolied neuen Erzählungen über Mainz und Trier kommen indes auch problematische bzw. negative Züge zur Sprache. So erklärt der Erzähler, dass eine von Caesar errichtete Brücke bei Mainz 52 später im Rhein versank und daher in der Gegenwart nicht mehr vorhanden sei, mit dem Hinweis auf eine der Sündhaftigkeit der Mainzer entspringende Weigerung, ihrem jeweiligen Herrn treu ergeben zu sein (vgl. V. 387-394). Bei den Trierern benennt er eine mangelnde Bereitschaft zur Eintracht und eine Neigung zur politischen Intrige, die sie angreifbar und überwindbar macht (vgl. V. 405-434). Wenn am Ende dieser gut einhundertachtzig Verse langen Erzählung über Caesar und die Schwaben, die Baiern, die Sachsen und die Franken die Perspektive erneut wechselt und bei der Formierung eines Heeres für Caesars Zug gegen Rom wieder von alle[n] Dûtiske[n] hêrren die Rede ist (V. 453), die sich ihm willig unterstellen und seine Autorität anerkennen, wird, wie gesagt, der Sprachgebrauch vom Anfang des Textes wieder aufgegriffen; bei ihm bleibt es dann für den Rest der Caesargeschichte. Von nun an agieren nicht mehr, wie bei den transalpinen Kämpfen gegen Caesar, einzelne gentes; im cisalpinen Kampf mit Caesar tritt gentile Identität zugunsten einer auf die einigende Leistung Caesars zurückgeführten kollektiven ‚deutschen‘ Identität Tûtiscer rîterscephte (V. 480) zurück, die schließlich sogar eine Verwendung des substantivierten Volksnamens Dûtisce[] (V. 497) zur Bezeichnung einer pluralen Einheit erlaubt 53 - Mathias Herweg hat Ähnliches, wenn auch in zugespitzter Form, bereits mit Blick auf das Annolied formuliert, 54 und Uta Goerlitz hat diese Bewegung des Textes für die Kaiserchronik wie folgt zusammengefasst: „[…] der vorübergehende Antagonismus zwischen Caesar und den Römern [ist] endgültig aufgehoben, und die ‚Deutschen‘ sind von einer randständigen opponierenden Provinzbevölkerung zu einem zur Herrschaftssicherung unverzichtbaren Bestandteil des universalen und heilsgeschichtlich legitimierten römischen Machtanspruchs geworden.“ 55 III. Der Tarquinius-Abschnitt Die an die siebte Position gerückte Tarquinius-‚Vita‘ 56 ist als Reflex auf die in das sechste vorchristliche Jahrhundert datierte Herrschaft des Lucius Tarquinius Superbus, des letz- 52 Dickhut-Bielsky (wie Anm. 17), S. 201: „Die KC macht hier aus dem [laut Auskunft des Annoliedes, E. B.] befestigten Mainz eine auf dem anderen Rheinufer liegende Befestigungsanlage, welche mit Mainz über eine Brücke verbunden ist.“ 53 Vgl. Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 141. 54 Vgl. Herweg, „Er kam, sah - und fand Verwandte“ (wie Anm. 15), S. 315f. 55 Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 145; vgl. auch die Zusammenfassung des Caesar- Kapitels auf S. 145-147. 56 Die Forschungsliteratur zum Tarquinius-Abschnitt befasst sich überwiegend mit der Figur der Lucretia. Vgl. Ingrid Bennewitz, „Lukretia, oder: Über die literarischen Projektionen von der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen. Darstellung und Bewertung von Vergewaltigung in der ‚Kaiserchronik‘ und im ‚Ritter von Thurn‘“, in: der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik, hg. von ders., Göppingen 1989 (GAG 517), S. 113-134; Marialuisa Caparrini, „La centralità della figura della regina nella Lucretia della Kaiserchronik: osservazioni linguistico-testuali“, in: Dee, profetesse, regine e altre figure femminili nel Medioevo germanico. Atti del XL Convegno dell’Associazione Italiana di Filologia Germanica. Cagliari 29-31 maggio 2013, hg. von Maria Elena Ruggerini 80 Elke Brüggen ten Etruskerkönigs 57 , zu sehen; in der Kaiserchronik folgt er - entgegen der historischen Chronologie - auf Nero (1. Jh. n. Chr.). 58 Einleitung (vgl. V. 4301-4304) und Schluss (vgl. V. 4831-4834) der 533 Verse langen Passage kennzeichnen Tarquinius als Gewaltherrscher. Als Aufgabe des Hauptteils erscheint die erzählerische Konkretisierung des in der lateinischen Tradition namengebenden Lasters der superbia. Sie erfolgt mit Hilfe von zwei Gegenfiguren: des aus Trier stammenden Fürsten Conlatinus, dem als Exulant aufgrund von Kriegsdienst und ruhmreichen Waffentaten ein gesellschaftlicher Aufstieg in Rom gelingt, und der Römerin Lucretia, mit der sich dieser, gestützt durch den Senat, vermählt. Als Conlatinus in Viterbo nur knapp einem Mordanschlag seiner Trierer Feinde entkommt, beschließt der römische Senat die Belagerung Viterbos mit dem Ziel einer Unterwerfung der Stadt. Zu einer Konfrontation mit dem König, der Conlatinus zunächst wohlgesonnen und Veronka Szöke, Cagliari 2015, S. 191-207; Amalie Fößel, „Frauen- und Geschlechterbilder in der Kaiserchronik und die Frage der Ehre“, in: Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien (wie Anm. 2), S. 31-47, bes. S. 35-41; Udo Friedrich, „Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik“, in: Poetica 47 (2015), S. 1-24, bes. S. 16-21; Hans Galinsky, Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur, Breslau 1932 (Sprache und Kultur der Germanischromanischen Völker. B. Germanistische Reihe 3), bes. S. 22-31; Christian Gellinek, Die Deutsche Kaiserchronik. Erzähltechnik und Kritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 63f.; Christine Jäger, „Lucretia - der Tod einer Tugendheldin? Zu den Selbstmorddarstellungen in der Sächsischen Weltchronik“, in: Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, hg. von Gabriela Signori, Tübingen 1994 (Forum Psychohistorie 3), S. 91-112, hier S. 104-107; Peter Jentzmik, Zu Möglichkeiten und Grenzen typologischer Exegese in mittelalterlicher Predigt und Dichtung, Göppingen 1973 (GAG 112), S. 242-245; Manfred Kern und Silvia Krämer-Seifert, „Tarquinius“, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer, unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/ New York 2003, S. 598f.; Fritz P. Knapp, Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg 1979, S. 124-135; Wolfgang Mohr, „Lucretia in der Kaiserchronik“, in: DVjs 26 (1952), S. 433-446; Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien, Berlin 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), bes. S. 234-241; Ohly (wie Anm. 17), S. 88-99 und S. 195-198; Tibor F. Pézsa, Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ‚Kaiserchronik‘, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, 1378), S. 160-175; Kenneth J. Northcott, „Love in the ‚Kaiserchronik‘“, in: Colloquia Germanica 5 (1971), S. 237-244; Claus Riessner, „Die Stadt Viterbo und die Almenia-Totila-Episode in der Kaiserchronik“, in: Miscellanea di studi in onore di Bonaventura Tecchi, hg. von Paolo Chiarini, Bd. 1, Rom 1969, S. 57-66; Frank Shaw, Die Darstellung des Gefühls in der Kaiserchronik, Diss. Bonn 1967, bes. S. 146-149, 193, 197-199, 219-221 und 235f.; ders., „Ovid in der Kaiserchronik“, in: ZfdPh 88 (1969), S. 378-389; Karl Stackmann, „Erzählstrategie und Sinnvermittlung in der deutschen Kaiserchronik“, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse. Jahrbuch 1988 des Sonderforschungsbereichs “Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit”, hg. von Wolfgang Raible, Tübingen 1990 (ScriptOralia 13), S. 63-82, bes. S. 70-72; Elfriede Stutz, Frühe deutsche Novellenkunst, Göppingen 1991 (GAG 560), bes. S. 24-43; Almut Suerbaum, „Erzählte Geschichte. Dialog und Dialogizität in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998, hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 2000 (Wolfram- Studien 16), S. 235-255, bes. S. 246-249; Julia Weitbrecht, „Vergegenwärtigung der Antike. Lucretia in der Kaiserchronik und in den Römerdramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer“, in: Antikes erzählen. Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Anna Heinze, Albert Schirrmeister und Julia Weitbrecht, Berlin/ Boston 2013 (Transformationen der Antike 27), S. 243-261; Teresa Wintgens, „Was geschah mit Lucretia? Ein Irrtum des B-Redaktors der ‚Kaiserchronik‘“, in: ZfdA 142 (2013), S.-34-44. Vgl. auch Elke Brüggen, „Geschlecht, Herrschaft, Macht. Lucretia in der Tarquinius-Erzählung der Kaiserchronik ”, in: Heroinnen und Heldinnen in Geschichte, Kunst und Literatur, hg. von Uwe Baumann, Marc Laureys und Konrad Vössing [im Druck]. 57 Zur historischen Gestalt vgl. Jörg Fündling, „Tarquinius“, in: Der Neue Pauly, Bd. 12/ 1, Stuttgart/ Weimar 2002, Sp. 31-34. 58 Ein Gliederungsvorschlag zum Tarquinius-Abschnitt findet sich im Anhang des vorliegenden Beitrags. Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 81 ist, kommt es im Rahmen einer Wette. Ein in einer Kampfpause aus einer Laune geborener Frauenvergleich zeitigt fatale Konsequenzen, als König und Fürst darum konkurrieren, daz […] frumigiste wîp zu haben, die der ie dehain man / ûf rômisker erde gewan (V. 4444-4446). Im direkten Vergleich obsiegt Lucretia über die Gemahlin des Königs, welche in der Folge indes ihren Ehrverlust realisiert und Tarquinius zu einer Schändung ihrer Konkurrentin drängt. Nach kurzem Zögern willigt der König in den von seiner Frau erdachten Plan einer Vergewaltigung ein, die er in Abwesenheit des Conlatinus in dessen Haus vollzieht. Im Rahmen eines von ihr initiierten Gastmahls macht Lucretia die Schandtat des Tarquinius öffentlich, um sich dann selbst zu töten. Der Senat reagiert mit einer Absetzung des Königs, der daraufhin aus Rom flieht. Conlatinus jedoch verfolgt ihn heimlich und tötet ihn um Lucretia willen, wohlwissend, dass diese Handlungsweise für ihn eine Rückkehr in ein Leben als ellender man nach sich zieht. Daz buoch kundet uns sus: / daz rîche besaz duo Tarquînîus (V. 4301f.) - anders als dieser Auftakt es erwarten ließe, ist von dem Herrscher in den ersten fast einhundertfünfzig Versen des Abschnitts so gut wie nicht die Rede. Erst im Kontext der Viterbo-Episode, nach einem mit der Formel Aines tages kom iz sô (V. 4415) markierten Neueinsatz des Erzählens und als Reaktion auf das superlativische Lob des Conlatinus auf Lucretia, wird die Stimme des Königs vernehmbar (vgl. V. 4447-4454); als Leser*in erfährt man erst an dieser Stelle, dass Tarquinius bei der vom römischen Senat angeordneten Belagerung Viterbos als anwesend gedacht werden muss. Der Text vergegenwärtigt die entstehende Opposition zwischen König und Fürst durch einen kurzen Wortwechsel. Den König kennzeichnet dabei das Adjektiv hêre (V. 4447, V. 4462), das zwei Mal in den Inquit-Formeln zu seinen Redebeiträgen verwendet wird, jedes Mal in Verbindung mit einem Hinweis auf die königliche Position. Das positive semantische Spektrum des Wortes (‚erhaben‘, ‚vornehm‘, ‚gewaltig‘, ‚herrlich‘) 59 wird durch die für Conlatinus gewählte Bezeichnungspraxis noch unterstrichen: Dieser firmiert nun wieder als […] der ellende man, / der von Triere dar kom (V. 4441f.); der Text akzentuiert also wieder dessen bereits zu Beginn der ‚Vita‘ thematisierte nicht-römische Herkunft aus der Fremde 60 und verzichtet zudem auf eine Bezeichnung seines Status als Fürst. Diese Bezeichnungspraxis steht in einem direkten Zusammenhang mit der im Wortwechsel verhandelten Materie: Der König weist sein Gegenüber in die Schranken, indem er dessen Aussage als ein sich vermezzen und ein ubersprechen kategorisiert (vgl. V. 4448f.) und die Überordnung Lucretias über seine Gemahlin nicht nur generell zurückweist, sondern zudem mit dem Verweis auf eine im Vergleich höhere Abstammung der Königin begründet, die, ästhetisch wie ethisch verbürgt, mit Hilfe vieler tüchtiger Männer bezeugt werden könne. Doch auch durch diese Engführung von geburtsständischer Qualität und auf äußere wie innere Vollkommenheit gründenden Vorzügen vermag der König seine Deutungshoheit nicht zu sichern, da sein Gegenüber sich im nächsten Schritt mit der bemerkenswerten Aussage vernehmen lässt, er beuge sich lediglich aus politischer Klugheit dem königlichen Urteil (vgl. V. 4456-4458); damit ist dessen Wahrheitsgehalt in Frage gestellt. Die verbale Auflehnung gipfelt in dem Satz: wærestû aver niht alles rîches hêrre, / so beredet 59 Siehe Mittelhochdeutsches Wörterbuch, mit Benutzung des Nachlasses von Georg Benecke, ausgearbeitet von Wilhelm Müller, Bd. 1, Hildesheim 1963. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854, Sp. 663a-664a. 60 Als von dem Beschluss des römischen Senats berichtet wird, Viterbo zu belagern, um auf diese Weise eine den Römern zugefügte Schmach zu ahnden, wird dagegen ein Conlatinus inkludierender Sprachgebrauch genutzt: si redeten, daz iz grôz laster wære, / daz iz ie dehaimme Rômære gescæhe (V. 4375f.). 82 Elke Brüggen ih iz noh vil verre (V. 4459f.). Damit werden die personalen und die transpersonalen Aspekte von Königsherrschaft auseinanderdividiert: Conlatinus erklärt öffentlich, dem König nur deshalb und insoweit folgen zu wollen, als er das rîche verkörpert; die auf persönliche Idoneität gegründete Herrschaft hingegen stellt er infrage. Die daraufhin von Tarquinius offerierte Wette auf die Vorzüglichkeit der beiden Frauen zeigt, dass er die Aussagen des Conlatinus als eine Herausforderung begreift, die nicht unbeantwortet bleiben kann. Nimmt man die in dieser Episode praktizierte Sympathielenkung unter die Lupe, ist zum einen hervorzuheben, dass Tarquinius als Herrscher sich Zweifeln an seiner Autorität und Legitimität ausgesetzt sieht, die von seinem - nicht ursprünglich zur römischen Gesellschaft zählenden, sondern von außen, aus der Fremde gekommenen - Fürsten in einer Situation vorgebracht werden, in der er als König nicht nur die Anerkennung römischer Superiorität durchsetzen will, sondern zudem die Interessen ebendieses Fürsten vertritt; der Vorwurf mangelnder Dankbarkeit und triuwe wird zwar nicht direkt ausgesprochen, steht aber im Raum. Allerdings fehlt es keineswegs an einem Gegengewicht auf Seiten Conlatinus’ - nur dass dieses Gegengewicht seine Überzeugungskraft aus einem anderen als dem politischen Diskurs bezieht. Das Erzählen ist nämlich so angelegt, dass das schon in der auf die Einleitung folgenden Episode erwähnte Glück, das Conlatinus in der als Liebesbindung gezeichneten Ehe mit Lucretia erfährt, sein für das weitere Geschehen fatales Lob für seine Frau präludiert (vgl. V. 4339-4346). Indem der Text die Aussagen der Opponenten in unterschiedlichen Werthorizonten verhandelt, stellt er ein Gleichgewicht zwischen beiden her. Diese Konstruktion blockiert zunächst die Möglichkeit, in Tarquinius den von superbia beherrschten Tyrannen zu sehen, als welcher er in der Einleitung der ‚Vita‘ eingeführt und angekündigt wurde. Als einwandfrei erscheint das Verhalten des Königs auch bei der Rückkehr aus Rom, nachdem er dort gemeinsam mit dem Trierer die Lebensweise und das Verhalten der beiden Ehefrauen in Augenschein genommen hat. Obwohl das Ergebnis des Vergleichs der beiden Frauen für die Königin und mithin für ihn selbst negativ ist, löst Tarquinius sein beim Abschluss der Wette gegebenes Versprechen ein, die wârhait (V. 4467) ohne jegliches Zürnen anzuerkennen; vor seinen Fürsten erklärt er Conlatinus zum ehrenvollen Sieger und findet überdies glorifizierende Worte für Lucretia (vgl. V. 4553-4562). Der kunic rîche, wie der Erzähler ihn noch in V. 4522 nennt, steht also zu seinem Wort. Gleichzeitig zeigt der Text einen König, der die erfahrene Schmach als Kränkung empfindet und den die Erinnerung an sîn altez wette (V. 4646) auch nach einer ganzen Weile nachts nicht zur Ruhe kommen lässt; die entsprechende Passage (vgl. V. 4645-4649) konterkariert Tarquinius’ bei Abschluss der Wette formulierte Behauptung, einer Zurücksetzung mit Gleichmut begegnen zu wollen (vgl. V. 4467f.), und entlarvt sie als Selbsttäuschung. Allerdings richtet der König seinen Zorn nicht gegen Conlatinus, sondern gegen die Königin, der er den ungastlichen nächtlichen Empfang vorhält. Als diese, über die Frauenwette nachträglich in Kenntnis gesetzt, auf eine Wiederherstellung ihres Ansehens drängt, stellt der König sich sogar explizit vor seinen Fürsten und dessen Ehefrau und erscheint so als Wahrer des Rechts: Der kunic ir antwurte: ‚dû tuost im zewâre unreht: er ist des lîbes ain guot kneht; diu frowe ist ain frumec wîp, zewiu solt ih ir verderben den lîp? ‘ (V. 4662-4666). Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 83 Zum rex iniustus wird Tarquinius erst in dem Moment, in dem er sich zum willigen Erfüllungsgehilfen seiner Frau machen lässt und die ihm zugedachte Rolle in ihrem perfiden Plan zur Schändung Lucretias übernimmt. Dass die Idee und auch die Einzelheiten dieses Plans der Königin als einer im Vergleich zu den Stoffgestaltungen bei Livius und bei Ovid neu eingeführten Figur zugewiesen werden, 61 mag mit Blick auf das Bild des Königs wie eine Entlastungsstrategie wirken. Andererseits will bedacht sein, dass in der Kaiserchronik, anders als bei Livius und bei Ovid, nicht mehr der Königssohn Sextus Tarquinius agiert, sondern - in Übereinstimmung mit der Gesamtanlage des Textes - der König selbst. Was ihn korrumpierbar macht, was zu seiner Absetzung durch den römischen Senat und schließlich zu seiner Ermordung führt, wird dabei klar benannt: Es ist sein geschlechtliches Verlangen, sein Bedürfnis nach dem Verkehr mit der eigenen Ehefrau und sein Begehren nach Lucretia, der Frau seines wichtigsten Fürsten. Innerhalb des durch Einleitungs- und Schlusspassagen auf den König fokussierten Rahmens folgt der erzählerische Bogen der Figur des Fürsten Conlatinus. Mit einem Rückblick auf sein früheres Leben in Trier hebt die Erzählung an, und mit einem unbestimmten Ausblick auf sein weiteres Dasein als Flüchtling klingt sie aus. Eingeführt wird Conlatinus als [a]in furste (V. 4305). Noch bevor sein Name fällt, hebt die Erzählung Trier als denjenigen Ort hervor, an dem der als rîter vil gemait (V. 4309) charakterisierte Fürst einst gelebt hat. Erscheint die Prolepse auf seine spätere, für beide im Unglück endende Verbundenheit zu König Tarquinius noch als Bemühen, die Figur des Königs im Interesse narrativer Kohärenz präsent zu halten (vgl. V. 4306-4308), verschiebt sich das Erzählinteresse bereits nach wenigen Versen ganz eindeutig zu Conlatinus hin, hin zu seinem Totschlag an einem anderen Trierer Fürsten, der für seine Flucht aus der Stadt ursächlich war. Hintergründe des Vorfalls bleiben ausgespart. Umso auffälliger erscheint der Umstand, dass der Erzähler Conlatinus’ Tat als Folge eines verfehlten Handelns eines ebenfalls nicht weiter konkretisierten Trierer Kollektivs einstuft (vgl. V. 4310-4313, besonders V. 4310: Trierære tâten im sô grôziu lait). Im Urteil des Erzählers ist der tötende Conlatinus der helt vil guot (V. 4311) - die Übeltäter sind die anderen. Es wird sodann von dem Wirken des Fürsten an seinem Zufluchtsort Rom berichtet, an dem er freundlich und zuvorkommend aufgenommen wird, von einem auf persönliche Tapferkeit und ruhmreichen Waffendienst gründenden Aufstieg, welcher schließlich in eine Integration des Nicht-Römers in die römische Gesellschaft durch eine vom Senat befürwortete Vermählung mit der Römerin Lucretia mündet. Die politische Dimension dieser Heirat (Bindung des Exulanten an das römische Gemeinwesen; Konsolidierung von Conlatinus’ zunächst prekärer Position) kleidet der Text in die Rede von den grôzen êren, die die Römer dem ellenthaften entgegenbringen möchten (vgl. V. 4323f.), sowie in die Mitteilung, dass […] die snellen / erwelten in selben ze gesellen (V. 4325f.). Zur Seite gestellt wird dem politischen Aspekt der Verbindung zwischen Conlatinus und Lucretia indes noch eine andere Betrachtungsweise, die auf das Lebensglück abhebt, das beide in ihrer Ehe finden. Auf dieser Doppelperspektivierung beruht die weitere Konstruktion der Handlung ganz erheblich; sie ist es, die dem nachfolgenden Erzählen Kohärenz verleiht. Die darauf folgenden Viterbo-Passagen 62 nuancieren das bis dahin gezeichnete Bild der Figur. Die erste installiert Conlatinus als Ereignisträger, dem die Erzählung folgt. Sie modelliert ihn als jemanden, der die Anziehungskraft von Ritterspielen und von einem 61 Vgl. Caparrini (wie Anm. 56); Fößel (wie Anm. 56), bes. S. 35-38. 62 Vgl. Riessner (wie Anm. 56). 84 Elke Brüggen kultivierten Umgang mit höfischen Damen verspürt - beides Momente, die Viterbo ein Profil verleihen - und infolgedessen in der Stadt haimlîch wird (V. 4359). Dabei wahrt der Passus den Zusammenhang mit dem zuvor Erzählten, indem er Conlatinus um ein Haar zum Opfer eines von den hêrren von Triere (V. 4358) eingefädelten Mordanschlags werden lässt. Von einem kurzen in Rom lokalisierten Zwischenspiel unterbrochen, entfaltet die Passage sodann das Szenario der für beide Seiten verlustreichen Belagerung Viterbos durch die Römer. Das zunächst in Verbindung mit Viterbo erwähnte Element höfisch-kultivierter Geselligkeit weicht jetzt einer Vergegenwärtigung kriegerischer Kampfhandlungen, bei der sich die Möglichkeit bietet, Conlatinus als Fahnenträger der Römer in Szene zu setzen. Die Forschung hat das Widerspiel von friedvoll-festlicher Existenz und Kriegsgeschehen aufmerksam registriert, da es sich wie ein Präludium der kontrastiv-komplementären Sphären von Minne und Kampf ausnimmt, deren Narrativierung über weite Strecken die höfische Epik des späteren 12. und des 13. Jahrhunderts prägt. Ohne einen Wechsel des Schauplatzes zu vollziehen, setzt das Erzählen mit der Formel Aines tages kom iz sô in V. 4415 neu an. Die nun folgende zweite Viterbo-Episode entwickelt aus der Situation einer Kampfpause die bereits skizzierte Konfrontation zwischen Fürst und König und holt so den Namensgeber des Abschnitts überhaupt erst in das erzählte Geschehen hinein. Ausgelöst wird diese Konfrontation durch Conlatinus’ superlativisches Lob auf Lucretia. Ein solches findet sich auch bei Livius, während Ovids Version der Geschichte es nicht kennt. 63 Dass dieses Verbalverhalten in der Kaiserchronik einen Makel, eine maßlose Zungensünde anzeigt, die alle anderen - Männer wie Frauen - zurücksetzt, verdeutlicht auf komplexe Weise die als dritte Viterbo-Episode inserierte Schilderung der Begegnung zwischen dem Römer Totila und der aus Viterbo stammenden Dame Almenia; sie muss hier ausgeklammert bleiben. Wichtiger ist mir etwas anderes: Über einen allgemeinen Tugend-/ Lasterdiskurs hinaus verfolgt die Kaiserchronik eine eminent politische Linie - anders als bei Livius, wo Collatinus’ Behauptung der Superiorität Lucretias als einzelne Stimme aus einem Kollektiv herausgehoben erscheint, ohne jedoch einen individuellen Widerpart zu finden, erwächst Conlatinus in der Kaiserchronik aus der Verletzung einer rhetorischen Regel eine Frontstellung zum König; die sprachliche Maßlosigkeit mutiert in diesem Kontext zur Majestätsbeleidigung. Die Episoden, die danach folgen (die Schilderung des Besuchs von König und Fürst in ihren jeweiligen Häusern in Rom, die Szene des ‚Schlafkammergesprächs‘ 64 zwischen dem Königspaar, Lucretias Vergewaltigung durch Tarquinius, die Veröffentlichung der Schandtat des Königs während eines Gastmahls), lenken die Aufmerksamkeit auf Tarquinius und auf Lucretia, während die Figur des Conlatinus in den Hintergrund tritt. Erst nach Lucretias Selbsttötung nimmt der Text ihn noch einmal deutlicher in den Blick und zeigt ihn als verzweifelten Ehemann und Liebenden (vgl. V. 4776-4792; 4801-4805), dem in Rom ein 63 Titus Livius, Ab urbe condita. Liber I. Römische Geschichte. 1. Buch. Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und hg. von Robert Feger, Stuttgart 1981 (RUB 2031), 57,6f.: (6) Forte potantibus his apud Sex. Tarquinium, ubi et Collatinus cenabat Tarquinius, Egeri filius, incidit de uxoribus mentio. Suam quisque laudare miris modis; (7) inde certamine accenso Collatinus negat uerbis opus esse: paucis id quidem horis posse sciri quantum ceteris praestet Lucretia sua. „(6) Als sie einmal bei Sextus Tarquinius zechten, wo auch der Collatiner Tarquinius speiste, des Egerius Sohn, kommt die Rede auch auf die Frauen. Jeder lobt die seine über die Maßen; (7) als sich darüber ein Streit erhebt, sagt der Collatiner, es bedürfe da keiner Worte: In wenigen Stunden könne man in Erfahrung bringen, wie sehr seine Lucretia die übrigen übertreffe.“ 64 Zu den ‚Schlafkammergesprächen‘ vgl. Suerbaum (Anm. 56), bes. S. 246-249, zudem Bennewitz (wie Anm. 56). Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 85 familiärer Rückhalt für die Bewältigung seiner Trauer fehlt, und schließlich als Königsmörder (vgl. V. 4806-4822), als reke[n] (V. 4827), der aus der Stadt flieht und dessen Spur sich verliert. IV. Fazit Der Caesar-Abschnitt handelt von der Begründung des Kaisertums in Rom und fungiert damit als fundierender Mythos für die in einer Serie von - überwiegend in sich abgeschlossenen - Einzel-‚Viten‘ der jeweiligen Herrschaftsträger entfaltete Geschichte des Römischen Reiches vom Anbeginn bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, wie der Prolog der A-Fassung sie ankündigt (vgl. V. 15-23). Als Fluchtpunkt des Abschnitts lässt sich die Akkumulation von Macht durch Caesar benennen: […] er aine habete den gewalt / der ê was getailet sô manicvalt (V. 522f.), die als Erklärung für die Einführung der als Majestätsplural aufgefassten Ihr-Anrede angeboten wird (vgl. V. 520-525). Das Prozesshafte des Vorgangs entfaltet der Text mittels einer bi-polaren Raumstruktur, bei der sich Gebiete gegenüberstehen, die sich, von Rom aus betrachtet, diesseits und jenseits der Alpen befinden und dementsprechend als ‚römisch‘ und als dûtisc bezeichnet werden. Für die Etablierung des Römischen Reiches sind der Darstellung zufolge Aktionen und Vorgänge erforderlich, die die Gewichte und das Verhältnis zwischen den mit Handlungsmacht ausgestatteten Akteuren - den Römern respektive dem Senat als der Führungselite Roms, dem jungen Krieger aus dem Geschlecht der Julier und den Bewohnern der transalpinen Gebiete - verschieben. Fokussiert man, wie die Erzählung es vorgibt, die Figur des Juliers, erscheint die politische Veränderung als ein von ihm vollzogener Seitenwechsel: Sein kriegerisches Handeln gegen transalpine Feinde im Auftrag des Senats schlägt in ein militärisches Handeln gegen den Senat im Verbund mit den einstigen Gegnern um; beides erfolgt indes letztlich, so die vom Text lancierte Perspektive, im Interesse Roms und der römischen Weltmacht. Entscheidend für die (positiv gewertete) Veränderung der Machtverhältnisse ist dabei, dass ein Bündnis zwischen dem Julier und den zuvor mit äußerster Härte bekämpften Einwohnern der transalpinen Gebiete zustande kommt - nur mit deren Unterstützung lässt sich der Weg zur Alleinherrschaft Caesars überhaupt beschreiten. Diese von dem römischen Feldherrn und Politiker begründete kooperative Ordnung präludiert in gewisser Weise die nachfolgend von Caesar unter maßgeblicher Beteiligung der Dûtisken geleistete Errichtung einer Weltordnung unter der Führung Roms. In diesem Kontext erscheint das Vorhandensein von zwei Bezeichnungsweisen für die Einwohner des transalpinen Gebiets mehr als eine Frage der Perspektive in dem Sinne, dass erst und nur für die Nahsicht Eigenarten und Unterschiede innerhalb einer multiplen Einheit erkennbar würden. Dass die einzelnen gentes der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken in dem Moment in der Erzählung hervortreten, in dem der römische Feldherr die Alpen überquert hat und dass sie einzeln von ihm im Kampf besiegt und/ oder mit anderen Mitteln gewonnen werden müssen, unterstreicht die von ihm vollbrachte einigende Leistung. Solange bleibt er […] under in, / unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren, vermerkt der Erzähler in Vers 452-454. Die für den Sturm auf Rom rekrutierten Truppen, die als scar manige (V. 472) zusammenkommen, ziehen schließlich als ain fluot […] ze Rôme in daz lant (V. 476). Der Vorgang ist freilich nicht voraussetzungslos, sondern er ist in der durch die verschiedenen origo-Erzählungen attestierten (kämpferischen) Vorzüglichkeit der einzelnen gentes und über die Behauptung eines gemeinsamen Ahnherrn der Römer und der Franken grundgelegt. 86 Elke Brüggen Was das Gegenüber von römischen Herrschern und ‚deutschen‘ Gegnern angeht, liegt dem Tarquinius-Abschnitt eine andere Konfiguration zugrunde. Ein Fürst aus Trier, „einer, der aus einem anderen lande, einer anderen patria stammt als die Bewohner Roms“ 65 und als solcher zumindest in zweiter Linie auch den ‚deutschen Landen‘ zugeordnet wird, gelangt als politischer Flüchtling nach Rom, wird zur Stütze des römischen Gemeinwesens und macht Karriere in Nähe zum Herrscher. Das Erzählinteresse liegt hier indes auf der durchaus mit gewissen Ambivalenzen gezeichneten Entstehung einer Störung im Verhältnis zwischen dem römischen König aus dem Geschlecht der Tarquinier und seinem nichtrömischen Fürsten, die im Falle der Herrscherfigur mit einer Negativierung einhergeht; ihre Komponenten sind: Empfänglichkeit für falschen Rat, mangelnde Selbstbeherrschung, Loyalitätsbruch, Missbrauch der Gastfreundschaft, Erpressung und Ausübung mentaler wie körperlicher Gewalt. Die Vergewaltigung Lucretias und die Selbsttötung, die sie heraufbeschwört, markieren eine Grenzüberschreitung, die, sobald sie öffentlich gemacht wird, den König für das römische Gemeinwesen nicht mehr tragbar macht; der Senat fasst den Beschluss, daz Tarquinjus niemer mêre newurde ir kunic noh ir rihtære. er wære von grôzen sculden ûz genomen, daz er niemer mêr zir râte solte komen (V. 4797-4800). Tarquinius bleibt nur die Flucht aus der Stadt. Seine Entfernung aus dem Königsamt und sein Ausschluss aus der politischen Führungselite Roms werden als Reaktionen eben dieser Führungselite auf das spektakuläre Selbstopfer Lucretias im Dienste der gesellschaftlichen Ordnung profiliert. Greifbar wird hier ein Verständnis des Politischen, bei dem die Spielräume herrscherlicher Macht durch die Notwendigkeit einer moralischen Legitimation des Herrschers begrenzt werden. Beim Aufweis des Funktionierens dieser Ordnung hätte man es belassen können. Stattdessen verschiebt der Text die Aufmerksamkeit am Ende des Abschnitts ein weiteres Mal hin zu Conlatinus und nun zu dem von ihm verübten Königsmord. Dass auch er eine anmaßende, sich gegen geltendes Recht stellende Grenzüberschreitung darstellt, welche das Gemeinwesen nicht hinnehmen kann, kommt im Ausklang des Abschnitts im Fluchtmotiv zum Ausdruck, in dem der Auftakt des Erzählens, das abbreviaturhafte Hereinzitieren von politischen Vorgängen in Trier, noch einmal nachhallt, sodass die Erzählung zu einer Kreisstruktur findet. Eine Verurteilung von Conlatinus’ Handlungsweise gibt es freilich nicht - der Text akzentuiert, im Gegenteil, dessen übermächtiges Leid angesichts der Zerstörung seines persönlichen Glücks und bringt auf diese Weise eine zusätzliche Motivationsebene zur Geltung. Dass ‚Privates‘ und ‚Politisches‘ dabei trotz der im Text zumindest angedeuteten Problematik des fürstlichen Handelns nicht in Widerspruch geraten, sondern weitgehend parallel geführt werden können, dafür sorgt nicht zuletzt die in der Kaiserchronik praktizierte Engführung von Herrschaftspraxis und Todesart: Tyran- 65 Goerlitz, Literarische Konstruktion (wie Anm. 10), S. 161. Goerlitz streicht heraus, dass die Kaiserchronik „in keiner Weise das ‚Deutschtum‘ des Tyrannenmörders Conlatinus“ betone, sondern dessen Trierer Herkunft; Trier erhalte dabei jedoch nicht den Status einer spezifisch ‚deutschen‘ Stadt (vgl. ebd., S. 160). Differenzierter (und zutreffender) argumentiert sie dann auf S. 163: „Conlatinus ist in der ‚Kaiserchronik‘ demnach primär Trierer Herkunft und nur in zweiter Linie kann man ihn auch den ‚deutschen Landen‘ zuweisen.“ Römische Herrscher - ‚Deutsche‘ Gegner 87 nen sterben (in der Regel) auf gewaltsame Weise. 66 In dieser Erzähllogik fungiert Conlatinus, der Fürst und ellende man aus Trier, nicht nur als Katalysator von Vorgängen, die eine Fehlbesetzung im Königsamt hervortreiben und die ‚Selbstreinigungskräfte‘ des römischen Gemeinwesens aktivieren - mit seinem Königsmord fällt er darüber hinaus ein Urteil, das der im Prolog ausgestellten Programmatik einer Unterscheidung ‚guter‘ wie ‚böser‘, edler wie verwerflicher Machthaber zuarbeitet. Anhang I. Die Caesar-‚Vita‘ (Kaiserchronik, V. 209-602): Gliederung 1. Roms einzigartige Größe und Macht (V. 209-216) 2. Die ‚Salvatio Romae-Sage‘ (V. 217-234) und der Aufstand der ‚Deutschen‘ (V. 235-246) 3. Caesars Kampf gegen die ‚Deutschen‘ (V. 247-454) - Die Römer entscheiden sich für Caesar als Feldherrn (V. 247-256) - Caesars Heeresmacht (V. 257-266) - Aufbruch; Kampf gegen die Schwaben (V. 267-296) - Kampf gegen die Baiern (V. 297-324) - Kampf gegen die Sachsen (V. 325-342) - Kampf gegen die Franken (V. 343-454) 4. Caesars Kampf gegen Rom mit Hilfe der ‚Deutschen‘ (V. 455-525) - Der siegreiche Caesar wird in Rom abgewiesen, kehrt ze Dûtisken landen zurück, zieht dort ein Heer zusammen, zieht damit nach Rom und setzt sich in einer Schlacht mit Erfolg gegen seine Gegner zur Wehr (V. 455-514) - Empfang für Caesar in Rom; das ‚Ihrzen‘ als Ehrbezeugung (V. 515-525) 5. Die Danielvision (V. 526-590) 6. Dûtiske man in Rom; Caesars restliche Amtszeit und sein Ende (V. 591-602) II. Die Tarquinius-‚Vita‘ (Kaiserchronik, V. 4301-4834): Gliederung 1. Einleitung: Die Herrschaft des Tarquinius (V. 4301-4304) 2. Conlatinus, der Trierer: Herkunft, römisches Exil, Aufstieg, Heirat mit der Römerin Lucretia (V. 4305-4346) 3. Viterbo I: Geselligkeit und Krieg (V. 4347-4414) 4. Viterbo II: Conlatinus’ Lobpreis auf Lucretia und die ‚Frauenwette‘ zwischen König und Fürst (V. 4415-4470) 5. Rom: Die ‚Bewährungsprobe‘ für die Königin und für Lucretia; öffentlicher Lobpreis Lucretias durch den König (V. 4471-4562) 6. Viterbo III: Das Gespräch zwischen Almenia und Totila und die Beendung der Belagerung Viterbos durch die Römer (V. 4563-4644) 66 Vgl. Herweg, „Kohärenzstiftung“ (wie Anm. 7), S. 287: „So wird schon nach Lektüre weniger Viten klar, dass mit wiederkehrenden Mikronarrativen wie dem Tod und der Bestattung eines Kaisers nicht einfach chronistischem Usus Genüge getan ist, sondern ein Urteil gefällt wird, das wiederum auf den Rahmen zurückverweist. Was also wie der rekurrente biographische Zielpunkt einer jeden Vita erscheint, liefert tatsächlich einen auktorialen Kommentar im Zeichen des Ganzen […].“ 88 Elke Brüggen 7. Die Folgen der verlorenen Wette: Tarquinius’ Verärgerung, ‚Schlafkammergespräch‘ des Königspaares, die Forderung der Königin nach Wiederherstellung ihrer Ehre durch die Schändung Lucretias (V. 4645-4694) 8. Lucretias Vergewaltigung durch Tarquinius (V. 4695-4726) 9. Lucretias Veröffentlichung der Schandtat des Königs und ihr Selbstmord (V. 4727-4792) 10. Die Absetzung des Königs, seine Ermordung durch Conlatinus; Conlatinus als ellender man (V. 4793-4830) 11. Schluss: Die Regierungszeit des Tarquinius und die gewaltsame Art seines Todes (V. 4831-4834) 67 67 Niclas Deutsch, Matthias Franz, Camilla Görgen, Johannes Mies und Sebastian Winkelsträter danke ich herzlich für die Durchsicht der Druckfahnen. Wahrheit (er)finden? 89 Wahrheit (er)finden? Zur Bedeutung topischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg Silvia Reuvekamp I. Poetik exemplarischen Erzählens in volkssprachiger Geschichtsdichtung - Perspektiven der Forschung In mehreren aktuellen Beiträgen insbesondere zur Kaiserchronik 1 und zum Trojanerkrieg 2 begegnen Udo Friedrich und Gert Hübner der für das Thema des vorliegenden Bandes zentralen Frage nach dem spezifischen Wahrheitskonzept, Geltungsanspruch und Sinnpotential eines dezidiert poetischen Erzählens von Vergangenheit in einer providentiellen Wissensordnung unabhängig voneinander mit einem theoretisch geschärften Konzept exemplarischen Erzählens. 3 Beiden geht es darum, die poetische Qualität der Texte im 1 Die ‚Kaiserchronik‘ eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters I,1) (ND Berlin/ Zürich 1964). 2 Konrad von Würzburg, ‚Trojanerkrieg‘ und die anonym überlieferte Fortsetzung, hg. von Heinz Thoelen und Bianca Häberlein, Wiesbaden 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter 51). 3 Udo Friedrich, „Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik“, in: Poetica 47 (2015), S. 1-24; Ders., „Wilde Aventiure. Beobachtungen zur Organisation und Desorganisation des Erzählens in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg“, in: wildekeit. Spielräume literarischer obscuritas im Mittelalter. Züricher Kolloquium 2016, in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Franz-Josef Holznagel hg. von Susanne Köbele und Julia Frick, Berlin 2018 (Wolfram-Studien XXV), S. 281-295; Gert Hübner, „Der künstliche Baum. Höfischer Roman und poetisches Erzählen“, in: PBB 163 (2014), S. 415-471. Beide Autoren arbeiten zentrale Aspekte des Ansatzes in weiterführenden Beiträgen aus. Vgl. u. a. Udo Friedrich, „Wahrnehmung - Experiment - Erinnerung. Erfahrung und Topik in Prosaromanen der Frühen Neuzeit“, in: Das Mittelalter 17 (2012), S. 75-94; Ders., „Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter“, in: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption, hg. von Oliver Auge und Christiane Witthöft, Berlin/ Boston 2016 (Trends in Medieval Pholology 30), S. 83-112; Ders., „Geschichte und kulturelle Topik. Außenseiter, Infame und Menschenwürde in der Vormoderne“, in: Würdelos. Ehrkonflikte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Achim Geisenhanslüke, Regensburg 2016 (Regensburger Klassik Studien 1), S. 87-119; Gert Hübner, „Tugend und Habitus. Handlungswissen in exemplarischen Erzählungen“, in: Artium Conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeitforschung. Aufsätze für Dieter Wuttke, hg. von Petra Schöner und Gert Hübner, Baden-Baden 2013, S. 131-159; Ders., „Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 11-54. Vgl. außerdem die an Friedrich und Hübner anschließende Konzeptualisierung exemplarischen Erzählens bei Michael Schwarzbach-Dobson, Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation, Berlin/ New York 2018 (Literatur - Theorie - Geschichte 13), S. 14-76. 90 Silvia Reuvekamp Anschluss an die Rhetorik als entscheidende zeitgenössisch verfügbare Reflexionstradition für Prozesse der Textgenese zu beschreiben und nicht im Rekurs auf anderen epistemologischen Bedingungen aufruhende Kategorien der Ästhetik. Und von hier aus lenken beide den Blick auf topische Organisationsformen des volkssprachigen Erzählens von Geschichte, die beispielhafte Einzelszenen und Handlungskonstellationen je neu aus dem breit gefächerten Fundus des eigenen kulturellen Wissens heraus modellieren und jenseits logischer Schlussverfahren verknüpfen. Die in der Forschung immer wieder identifizierten Brüche, Inkonsistenzen und Spannungen im Sinngefüge der Texte erklären sich in einem solchen Verständnisrahmen weder als inkonsequente höfisch-christliche Überformungen kulturell entfernter Stofftraditionen noch als Kulminationspunkte von Antagonismen im kollektiven Imaginären der adeligen Trägerschicht volkssprachiger Literatur, sondern aus der generischen A-Systematik topischen Wissens und der situationsspezifischen Aktualisierung dieses Wissens in exemplarischen Wirklichkeitskonstruktionen. Für die Kaiserchronik arbeitet Friedrich gegenüber den in der Forschung immer wieder beschriebenen typologisch-heilsgeschichtlichen Sinnlinien 4 die Virulenz eines dazu in Spannung stehenden situativ-exemplarischen Erzählens heraus. Zentrale, aber nicht diskursiv behandelte Problemzusammenhänge des Textes würden narrativ an konkreten historischen oder als historisch konstruierten Situationen so entfaltet, dass sie auf kulturspezifische Grundüberzeugungen der eigenen Zeit beziehbar würden. Komplexität gewinne dieses Erzählen demnach, weil das Exempel als grundsätzlich polyvalente Erkenntnisform 5 jenseits logischer Schlussverfahren keine eindimensionalen ‚Regel-Fall-Mechanismen‘ 6 entwerfe, sondern vielschichtige Bezüge zwischen den erzählten Situationen und einem breit gefächerten Archiv kollektiv geteilten Erfahrungswissens nahelege. Im vervielfältigten paradigmatischen Bezug der Einzelgeschichten modelliere die Kaiserchronik neben der heilsgeschichtlichen Zielgerichtetheit historischer Ereignisse gleichzeitig „die Vielfalt und Variabilität von Erfahrung“ 7 , ohne dabei die gegenläufigen Sinndimensionen gegeneinander abzugrenzen. Greifbar würde in solchen Spezifika des Erzählens die poetische Überschreitung rhetorischer Funktionen des Exempels 8 in der volkssprachigen Geschichtsdich- 4 Zur von Ernst Friedrich Ohly (Sage und Legende in der ‚Kaiserchronik‘. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940, Unveränderter Nachdruck: Darmstadt 1968) angestoßenen breiten Diskussion um die paradigmatisch-korrelative Organisation der Kaiserchronik, vgl. u. a. Wolfgang Mohr, „Lucretia in der Kaiserchronik“, in: DVjs 26 (1952), S. 433-446; Karl Stackmann, „Erzählstrategie und Sinnvermittlung in der deutschen Kaiserchronik“, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse. Jahrbuch 1988 des Sonderforschungsbereichs ‚Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘, hg. von Wolfgang Raible, Tübingen 1990, S. 63-82; Tibor Friedrich Pézsa, Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ‚Kaiserchronik‘, Frankfurt am Main 1993 (Europäische Hochschulschriften I, 1378); Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst B‘ und im ‚König Rother‘, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 34-72; Armin Schulz, „Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik“, in: Historische Narratologie - Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 339-360; Alastair Matthews, The ‚Kaiserchronik‘. A Medieval Narrative, Oxford 2012; Uta Görlitz, „hie meget ir der luge wol ain ende haben. Zu Erzählstrategie und Makrostruktur der Kaiserchronik“, in: Die ‚Kaiserchronik‘. Interdisziplinäre Studien zu einem ‚buoch gehaizzen chrônicâ‘. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017, S. 91-121. 5 Friedrich, „Topik und Narration“ (wie Anm. 3), S. 17. 6 Ebd., S. 12 u. ö. 7 Ebd., S. 23f. 8 Ebd., S. 12. Wahrheit (er)finden? 91 tung. Was der Forschung bislang als Störungen oder Brüchigkeit übergreifender Sinnlinien und Deutungsmuster erscheinen musste, fasst Friedrich so als eigenständige Ebene der Sinnstiftung, die auf je selbstgewählten Lektürewegen erfahrbar werden lasse, dass Wirklichkeit nicht in Wahrheit aufgehe, Geltungsansprüche immer nur kontextbezogen und relativ sein könnten und die Frage nach Kausalitäten stets eine uneindeutige bleibe. 9 Vergleichbare Organisationsformen und Dynamiken beobachtet Friedrich im Trojanerkrieg; auch Konrad systematisiere sein heterogenes Material nicht in einer kohärenten Erzähllogik oder übergreifenden Morallehre, sondern integriere es „über flexible rhetorische Techniken.“ 10 Dabei inseriere er dem historischen Stoff eine Axiologie von Werten, die ganz nach topischen Prinzipien Koexistenzen und Interferenzen ohne übergeordnete Hierarchien nicht nur zulasse sondern gleichsam hervortreibe. 11 Die Komplexität, die sich im Erzählen durch die paradigmatische Vervielfältigung der ohnehin schon polyvalenten oder semantisch ambivalenten rhetorischen Formen ergebe, unterscheide sich allerdings insofern vom modernen Erzählen, als poetische Desorganisation nicht programmatisch ausgestellt die Kontingenz einer nicht mehr geordneten Welt demonstriere, sondern „in einer reflektierten Methode“ 12 die gleichwohl unüberschaubare Bandbreite von Erfahrung innerhalb einer providentiellen Ordnung modelliere. Einige Zeit vor Friedrich hatte bereits Hübner für Konrads Trojanerkrieg in durchaus vergleichbarerer Weise die erkenntnisstiftende Funktion einer Vielfalt nach zeitgenössischen Maßstäben topischer Wahrscheinlichkeit präparierter konkreter situativer Umstände des Scheiterns und ihrer paradigmatischen Verknüpfungen gegenüber der übergreifenden providentiellen Begründung des Untergangs betont. 13 Wie Friedrich lenkt damit auch Hübner den Blick von den in der Forschung als problematisch empfundenen Makrokohärenzen, auf situationsspezifische Mikrokohärenzen, die in paradigmatischen Netzen organisiert seien. Und auch Hübner markiert in diesem Zusammenhang den Punkt, an dem das volkssprachige Erzählen seines Erachtens die funktionalen Implikationen der rhetorischen argumentum-Lehre überschreite, den Punkt also, an dem Rhetorik in Poetik umschlage. Diesen sieht er allerdings nicht schon allein in einer Komplexitätssteigerung durch Vervielfältigung und Ambiguisierung ohnehin schon polyphoner exemplarischer Relationen, wie Friedrich sie beschreibt, sondern darüber hinaus in der programmatischen Künstlichkeit, mit der als poetisch markiertes Erzählen Handlungskonstellationen konfiguriere. 14 Im poetischen Text stehe das erfundene Wahrscheinliche nicht mehr wie in rhetorischen Funktionskontexten im Dienst der Verdeutlichung und Plausibilisierung des als faktisch wahr behaupteten und erlange insofern ein eigenes Potential. Weil artifizielles Erzählen nämlich keine Rekonstruktion des Natürlichen biete, sondern eine idealtypische, alles natürlich-tatsächliche übersteigende Konstruktion, mache es das topische Wissen, das dieser Konstruktion zugrunde liege, in einer erkenntnisoptimierenden Weise 15 der Reflexion zugänglich. Da es sich bei diesem Wissen zum größeren Teil um ein vorbewusstes, habitualisiertes, also ansonsten nicht diskursiv-begrifflich verfügbares, kulturelles Handlungswissen handle, 9 Ebd., S. 23f. 10 Friedrich, „Wilde Aventiure“ (wie Anm. 3), S. 295. 11 Ebd., S. 287f. 12 Ebd., S. 295. 13 Hübner, „Der künstliche Baum“ (wie Anm. 3), S. 452. 14 Ebd., S. 421-440. 15 Ebd., S. 430 sowie 436f. 92 Silvia Reuvekamp kommt dem poetischen Erzählen damit eine ebenso zentrale wie singuläre Funktion im Bereich kultureller Selbstvergewisserung zu. 16 Im Folgenden möchte ich die Möglichkeiten und Grenzen des von Friedrich und Hübner aus der Rhetorik abgeleiteten Konzepts poetischen Erzählens von Geschichte in Analysen ausgewählter Figurenhandlungen der Kaiserchronik und des Trojanerkriegs ausloten. Im Zentrum der Analysen sollen mit Lucretia und Jason zwei Figuren stehen, bei denen die stofflichen Herausforderungen an eine höfisch-christliche Erneuerung besonders groß sind. Entsprechend intensiv hat sich die Forschung in beiden Fällen mit den Antagonismen beschäftigt, die die mittelalterlichen Adaptationen beinahe zwangsläufig hervortreiben und diese gerade in jüngerer Zeit auf die Antagonismen der höfischen Kultur selbst bezogen. 17 Diskutieren möchte ich vor diesem Hintergrund, ob sich die in beiden Fällen beobachteten Inkonsistenzen der Handlungsführung und daraus resultierende Probleme der Sinnstiftung tatsächlich als Ergebnis eines situativ-exemplarischen Erzählens ohne übergreifende Kohärenzansprüche erklären lassen. Im Rahmen eines solchen Erzählens könnten Figuren ihrer Konzeption nach ja nur schwach als Identitäten profilierte Ankerpunkte oder Rahmen für die Modellierung heterogener Handlungskonstellationen und die Integration situationsspezifischen kulturellen Wissens bieten. Demgegenüber möchte ich fragen, ob es im poetischen Erzählen nicht doch situationsübergreifende Techniken und Verfahren der Figurendarstellung gibt, die eigene Formen der Sinnkonstitution ausprägen. Damit ist auch die Frage verbunden, ob die volkssprachige Geschichtsdichtung rhetorische Argumentationsformen tatsächlich - wie von Hübner und Friedrich angenommen - nur in den Grenzen einer „Epistemologie des Exemplarischen“ 18 überschreiten. II. Lucretia - Marginalisierung im Zeichen historisch-politischer Programmatik Die Lucretia-Geschichte, wie sie die deutsche Kaiserchronik erzählt, ist nach Friedrich ein Paradebeispiel für „die mehrdimensionale Paradigmatik des Exempels“ 19 und sein Konzept eines situativ-exemplarischen Erzählens. 20 An verschiedenen Stellen der Handlung würden ganz heterogene topische Vorstellungen aus den Bereichen Herrschaft, Politik, Moral und Minne narrativ aktualisiert, ohne dass diese in ihren jeweiligen Implikationen konsequent gegeneinander abgewogen würden. So gerate das Erzählen zur kasuistischen Form, die 16 Ebd., S. 449-454. 17 Vgl. insbesondere Jan-Dirk Müller, „schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik)“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink, Berlin/ New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287-307; Ders., Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 452-460; Ders., „Häutungen und neue Kleider. Zum ‚wilden‘ Subtext der Medea-Episode in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg“, in: wildekeit (wie Anm. 3), S. 296-322; Ders., „Überwundern - überwilden. Zur Ästhetik Konrads von Würzburg“, in: PBB 140 (2018), S. 172-193; Beate Kellner, „Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter“, in: Poetica 42 (2010), S. 81-116. 18 Friedrich, „Topik und Narration“ (wie Anm. 3), S. 3; Ders., „Wilde Aventiure“ (wie Anm. 3), S. 292. 19 Friedrich, „Topik und Narration“ (wie Anm. 3), S. 20. 20 Wenn etwa Pésza (wie Anm. 4, S. 175) der Lucretia-Erzählung demgegenüber jede Exemplarizität abspricht, liegt das vor allem an den unterschiedlichen Konzepten exemplarischen Erzählens. Wahrheit (er)finden? 93 nicht an „Kohärenzforderungen der Logik“ 21 gebunden in allen genannten Bereichen Paradoxien hervortreibe. 22 Schaut man vor diesem Hintergrund auf die Konzeption der Lucretia-Figur, fällt auf, dass sie gegenüber den antiken Prätexten tatsächlich nur schwach profiliert ist. 23 Weder die dramatische Racheforderung, die der öffentlichen Selbsttötung bei Livius unmittelbar vorgeschaltet ist, 24 noch die anrührende Innensicht Lucretias unter der Vergewaltigung, die ein Zentrum der Bearbeitung Ovids darstellt, aktualisiert der deutsche Text. 25 Die Lucretia der Kaiserchronik spricht kaum, eine Innensicht fehlt vollständig, und auch symbolisch verdichtete Handlungsmomente, die in der Erzähltradition fest mit der Figur verbunden sind, wie das nächtliche Spinnen einfacher Wolle in Gemeinschaft mit ihren Mägden spart der deutsche Text aus. Die Selbsttötung schließlich wird nur lakonisch resümierend konstatiert und nicht szenisch inszeniert. 26 Jede politische Relevanz ist der 21 Ebd. 22 Friedrich, „Topik und Narration“ (wie Anm. 3), S. 22. 23 Pézsa (wie Anm. 4, S. 168) spricht von Lucretia als „Nebenfigur“ in ihrer eigenen Geschichte. 24 Titus Livius, Ab urbe condita. Liber I. Römische Geschichte. 1. Buch. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und hg. von Robert Feger, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2015 (RUB 2031), 1,58,7-11: Aduentu suorum lacrimae obortae, quaerentique uiro „Satin salue? “ „Minime“ inquit; „quid enim salui est mulieri amissa pudicitia? Vestigia uiri alieni, Collatine, in lecto sunt tuo; ceterum corpus est tantum uiolatum, animus insons; mors testis erit. Sed date dexteras fidemque haud impune adultero fore. Sex. est Tarquinius qui hostis pro hospite priore nocte ui armatus mihi sibique, si uos uiri estis, pestiferum hinc abstulit gaudium.“ Dant ordine omnes fidem; consolantur aegram animi auertendo noxam ab coacta in auctorem delicti: mentem peccare, non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse. „Vos“ inquit „uideritis quid illi debeatur: ego me etsi peccato absoluo, supplicio non libero; nec ulla deinde impudicia Lucretiae exemplo uiuet.“ Cultrum, quem sub ueste abditum habebat, eum in corde defigit, prolapsaque in uolnus moribunda cecidit. (,Bei der Ankunft der Ihren bricht sie in Tränen aus und auf die Frage ihres Mannes „Steht alles gut? “ antwortet sie: „Keineswegs. Wie könnte es auch gut stehen um eine Frau, die ihre Ehrbarkeit verloren hat! Die Spuren eines fremden Manns sind in deinem Bett, Collatiner; doch ist mir nur der Leib entehrt, das Herz ist schuldlos; mein Tod wird dafür Zeugnis ablegen! Doch gebt mir Hand und Wort, daß der Schänder nicht straflos ausgehen wird! Sextus Tarquinius ist es, der sich als Feind und nicht als Gast letzte Nacht mit Gewalt und bewaffnet hier eine mir und - wenn ihr Männer seid - auch ihm Verderben bringende Freude genommen hat.“ Sie alle geben ihr der Reihe nach ihr Wort; sie trösten sie in ihrem Herzeleid und wälzen die Schuld von der Genötigten auf den Urheber des Verbrechens ab: Der Geist sündige, nicht der Leib, und wo die Absicht gefehlt habe, sei auch keine Schuld. „Ihr“, sagt sie, „mögt darauf sehen, was jenem gebührt; ich aber befreie mich, auch wenn ich mich von Schuld freispreche, nicht von der Strafe; es soll künftig keine Schamlose unter Berufung auf Lucretia leben dürfen! “ Und sie stößt sich das Messer, das sie unter dem Gewand verborgen gehabt, ins Herz, fällt nach vorn auf die Wunde hin und sank sterbend nieder.‘) 25 Publius Ovidius Naso, Fasti. Festkalender, lateinisch-deutsch, auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach neu übersetzt und hg. von Niklas Holzberg, 4. überarbeitete Auflage, Berlin 2012, II,797-810: illa nihil, neque enim vocem viresque loquendi / aut aliquid toto pectore mentis habet; / sed tremit, ut quondam stabulis deprensa relictis / parva sub infesto cum iacet agna lupo. / quid faciat? pugnet? vincetur femina pugnans. / clamet? at in dextra, qui vetet, enis erat. / effugiat? positis urgentur pectora palmis, / tum primum externa pectora tacta manu. […] succubuit famae victa puella metu. (,Sie sagt gar nichts; die Worte, die Kraft zum Sprechen, ja jeder / Rest von Denkfähigkeit - leer ist ihr Hirn von alldem! / Zittern nur kann sie, wie wenn das Lämmlein fern von der Hürde / Unter dem grimmigen Wolf, der’s grad ergriffen hat, liegt. / Was soll sie tun? Etwa kämpfen? Im Kampf muß die Frau unterliegen! / Schreien? Das Schwert, das die Hand festhält, verbietet es ihr! / Fliehn? Mit den Handflächen quetscht er die Brüste ihr - niemals zuvor hat / Eines fremden Manns Hand ihr an die Brüste gefaßt! / […] Weil nun die Angst vor der Schmach siegte, ergab sie sich ihm.‘) 26 vil offenlîche sagete si Rômæren allen, / wie iz ir mit dem kunige was ergangen. / Alsô si daz jungiste wort volsprach, / mit dem mezzer si durh sich selben stach, / diu frowe viel nider tôt (Kaiserchronik, wie Anm. 1, V. 4767-4771). 94 Silvia Reuvekamp Figur schließlich durch die anachronistische Einbindung in den Handlungsverlauf der Chronik genommen: Das Opfer der Lucretia führt keinen revolutionären Umsturz und keine politische Neuordnung herbei, sondern verhallt ohne jede Nachwirkung im staatlichen Gefüge. 27 Die Forschung hat in dieser Rücknahme der starken Handlungsrolle eine Anpassung an das mittelalterliche Herrscher- und Ehe-Ideal gesehen, eine Anpassung, die erzählerisch „nicht immer glatt aufgehe“ und bei der ein reflektiertes Verhältnis zur Antike eine sehr nachgeordnete Rolle spiele. 28 Sieht man nun noch einmal genauer hin, kann man erkennen, dass die Reduktion der Figur allerdings nicht, wie immer wieder konstatiert, zu ihrer Hybridisierung führt, sondern einem sehr klaren Konstruktionsprinzip folgt, das offensichtlich gezielt bei der gemeinsamen Tektonik der antiken Realisationen des Stoffes ansetzt. Alle antiken Versionen der Lucretia-Geschichte leben von der Parallelisierung des sexuellen Angriffs auf eine keusche römische Bürgerin mit dem Angriff auf die res publica. 29 Das „Verbrechen des Sextus Tarquinus“ wird „zum Sinnbild für die Sitten- und 27 Entsprechend erscheint es nur konsequent, wenn die für die sozial-politische Sinnbildung bei Livius und Ovid zentrale Brutus-Figur in der Kaiserchronik gar nicht erst auftritt und damit die Teile der Rahmenhandlung getilgt werden, die das private Drama der Vergewaltigung und Selbsttötung Lucretias mit dem Diskurs über rechtmäßige Herrschaft verbinden. Die Forschung hat in der Tilgung dieser Handlungsteile eine Entpolitisierung des Lucretia-Exempels zugunsten einer moraldidaktischen Färbung gesehen: „Der antike politische Referenzrahmen der Lukretiageschichte wird zugunsten eines moralphilosophischen umakzentuiert, der Kleriker modelliert seine Geschichte auf der Grenze zweier Diskurse“ (Friedrich, „Topik und Narration“, wie Anm. 3, S. 19). 28 Julia Weitbrecht, „Vergegenwärtigung der Antike. Lucretia in der Kaiserchronik und in den Römerdramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer“, in: Antikes erzählen: Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Anna Heinze, Albert Schirrmeister und Julia Weitbrecht, Berlin 2013 (Transformationen der Antike 27), S. 243-262, hier S. 248f. 29 Für Livius entwickelt diesen Zusammenhang Susanne Lüdemann in: Albrecht Koschorke u. a., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, S. 36-46. Ovid wird demgegenüber in der Forschung gemeinhin zugeschrieben, er habe den Stoff erotisiert und damit weitgehend entpolitisiert. Vgl. u. a. Reinhard Klesczewski, „Wandlungen des Lucretia- Bildes im lateinischen Mittelalter und in der italienischen Literatur der Renaissance“, in: Livius. Werk und Rezeption. Festschrift für Erich Burck zum 80. Geburtstag, hg. von Eckard Lefèvre und Eckart Olshausen, München 1983, S. 316-318; Weitbrecht (wie Anm. 28), S. 244, Anm. 6, im Anschluss an Hans Galinsky, Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur, Breslau 1932, S. 14-16. Auch wenn die Liebeshandlung bei Ovid ganz offensichtlich ein größeres Eigengewicht erhält, scheint mir die Emotionalisierung des Geschehens durchaus im Dienste einer politischen Sinnbildung zu stehen, die wie schon bei Livius über die Analogie von Frauenkörper und Staatskörper funktioniert. Im Festkalender erzählt Ovid wie sein Vorgänger vom Freitod Lucretias als Gründungsmythos der römischen Republik eingebettet in eine Rahmenhandlung, die nicht nur die selbstermächtigenden Übergriffe der Königsfamilie auf die res publica erzählt, sondern diese auch noch mit einem Diskurs über das richtige Selbstverständnis des Herrschers als demütiger Sachwalter des ihm Anvertrauten verbindet. Während nämlich die Söhne des Königs nicht in der Lage sind, einen Orakelspruch richtig zu deuten, der demjenigen das Recht auf Herrschaft zuspricht, der zuerst die Mutter küsst, fällt der insgeheim regimekritische Brutus - der nach dem Tod Lucretias gemeinsam mit Collatinus der neuen demokratischen Ordnung vorstehen wird - sogleich auf die Knie und küsst Mutter Erde. Im Gegensatz zu den Königssöhnen demonstriert er damit sein Verständnis der Herrscherrolle als einer von den Bedürfnissen und Interessen des individuellen Körpers gelösten Instanz, die nunmehr allein den Bedürfnissen des Staates verpflichtet ist. Obwohl nun Ovid die Rahmenhandlung insgesamt erheblich knapper fasst als Livius, fügt er noch vor der Brutus-Handlung eine weitere Erzählung ein, die den Herrschaftsdiskurs über Motivanalogien noch stärker mit dem Lucretia-Exempel verknüpft, als es bei Livius der Fall ist. In dieser Geschichte erschleicht sich Tarquinius mit einer List nächtlichen Zugang zum Heer der von seinem Vater belagerten Stadt Gabii und das Vertrauen der Gegner, nur um aus dieser Position heraus die Führungselite der Stadt zu beseitigen und die führungslose Stadt erbarmungslos zu unterwerfen. Vor dem Hintergrund Wahrheit (er)finden? 95 Rechtlosigkeit des Königtums als solchen, während der geschändete Körper der keuschen Lucretia als Sinnbild für die geschändete Körperschaft des römischen Volkes erscheint.“ 30 Diese metaphorische Relation steuert den Übergang eines privaten Ereignisses in einen politischen Umsturz. Und erst durch diese Relation wird aus der Selbsttötung Lucretias zur Wahrung der eigenen, persönlichen Integrität ein Opfer für die Integrität des Staates. Lucretia animiert - sei es durch den Aufruf zur Rache wie bei Livius oder durch anrührende Hilflosigkeit bei Ovid - die Männer, die sie zu schützen nicht in der Lage waren, eine Ordnung zu schaffen, die fortan Schutz gewährt. Deswegen wird auch Collatinus, geprägt von der Erfahrung als Schutzherr versagt zu haben, neben Brutus zum Schöpfer und Garant dieser neuen Ordnung. Ein solcher Umsturz benötigt auf der Handlungsebene eine affektive Dynamik, die nur der tragische Einzelfall aktivieren kann. Im antiken Erzählen wird der Rezipient durch immersive Darstellungstechniken wie Innensichten, innere Monologe, direkte Rede oder Emotionsdarstellungen an eben dieser Dynamik beteiligt. Genau an diesem Punkt setzt die Umkonzeptualisierung der Kaiserchronik an. Statt von immersiver Dynamik ist Lucretias Handeln von einer auffälligen Statik geprägt. Redundante, fast identische Formulierungen markieren ihr gleichbleibendes Agieren in unterschiedlichen Handlungskonstellationen. Als Conlatinus sie in Begleitung des Königs nachts aus dem Bett ruft, um sich von ihr bewirten zu lassen, heißt es: Si hiez ir tiske rihten, si diente dâ mit michelen zuhten: si scancte in diu goltfaz den wîn, si bat den gast frô sîn. (Kaiserchronik, V. 4497-4500) Als er ihr daraufhin ohne jeden äußeren Anlass ein Glas Wein ins Gesicht schüttet, erträgt sie diese Demütigung offensichtlich unbewegt, ohne ihr Verhalten dem Mann und dem Gast gegenüber zu verändern: si schancte dem wirte den wîn, si bat den gast frô sîn, dieser zusätzlichen Verknüpfung von Rahmenhandlung und Lucretia-Exempel erscheinen auch die inhaltlichen und erzählerischen Umgestaltungen innerhalb des Exempels weniger entpolitisierend, als es auf den ersten Blick scheint. Indem Ovid beispielsweise die beiden jungen Männer bei ihrem unangekündigten nächtlichen Besuch in Rom im Hause des Collatinus zunächst unbemerkt ein Gespräch mitanhören, indem Lucretia ihren Mägden von ihrer unmäßigen Angst berichtet, ihren geliebten Mann im Krieg zu verlieren (Fasti (wie Anm. 25), II, 750-756), rückt Ovid gegenüber Livius die Hilflosigkeit der liebenden Frau ins Zentrum der Darstellung und zeigt den Mann in seiner Rolle als Schutzherr, der sich den Nöten der Frau in mitleidigem und fürsorgenden Verständnis zuwendet (ebd. 759f.). In Kontrast dazu tritt die Reaktion, die die gleiche Szenerie beim Königssohn auslöst. Auch ihn affiziert der Anblick der spinnenden Lucretia und die Klage, die er aus ihrem Mund vernimmt. Allerdings ist es keine fürsorgende Liebe, die sich der inneren Not der Frau annimmt, sondern ein auf Äußerlichkeiten gerichtetes Machtstreben, das gerade durch die Hilflosigkeit und Reinheit der Frau ausgelöst wird (ebd., 761-766). Der je unterschiedliche Affekt, den die Reinheit und die Hilflosigkeit Lucretias hervorrufen, die je eigenen Antriebe für Liebe und Begehren prädestinieren Collatinus als zukünftigen Herrscher und entlarven den Königssohn als zukünftigen Tyrannen. Die viel beschriebene Emotionalisierung der Handlung bei Ovid beteiligt den Rezipienten stärker als Livius auch persönlich am Schicksal der hilflosen Frau. Damit erhält die Analogie von Frauen- und Staatskörper aber letztlich nur eine neue literarische Form. 30 Lüdemann (wie Anm. 29), S. 41. 96 Silvia Reuvekamp si enphie im das goltfaz; daz tet diu frowe umbe daz, daz der wirt frô wære (Kaiserchronik, V. 4511-4515) Selbst als sie nach der Vergewaltigung durch den König ihrem Leben ein Ende setzt, bewirtet sie noch unmittelbar zuvor die geladenen Gäste in exakt der gleichen Weise: diu frowe nam ir goltvaz, si scancte alumbe, si bat die fursten alle bisunder, daz si frô wæren (Kaiserchronik, V. 4752-4755) Diese merkwürdige Unbewegtheit der Figur wird gemeinhin in Zusammenhang mit der besonderen Bedeutung vorbildlicher Haushalts- und Hofführung für ein mittelalterliches Publikum gebracht. 31 Indem Lucretia in wirklich jeder Lebenslage die Fähigkeit zur gelungenen höfischen Interaktion zeige, biete sie ein Exempel weiblicher Duldsamkeit und vorbildlicher Lebenspraxis, das die problematischen Implikationen der Selbsttötung zumindest teilweise zu überdecken in der Lage sei. 32 Dabei wird jedoch übersehen, dass die drei aufeinander folgenden Handlungskonstellationen, in denen Lucretia ihre Duldsamkeit beweist, nicht einfach ganz unterschiedliche Lebenslagen durchspielen, in der eine mittelalterliche Hausfrau in ihrer Dienstbereitschaft gefordert ist, sondern die klimatische Variation letztlich ein- und derselben Demütigungshandlung darstellen. Eine absolute Neuerung des deutschen Textes gegenüber der lateinischen Erzähltradition ist dabei, dass zwei dieser Demütigungshandlungen nicht vom späteren Vergewaltiger ausgehen, sondern vom Ehemann selbst. Dass Conlatinus seiner Frau in Anwesenheit des Königs ohne jeden Anlass Wein ins Gesicht schüttet, nimmt ganz offensichtlich die spätere Vergewaltigung vorweg. So wie Lucretia ihre Integrität in dieser Situation wiederherstellt, indem sie still das beschmutzte Kleid gegen ein neues abermals reinweißes tauscht, 33 tut sie es nach der Vergewaltigung, indem sie sich des geschändeten Körpers entledigt. Die bis auf die Wortebene identische Beschreibung ihrer Bewirtungstätigkeit stellt diese Parallele neben anderen wörtlichen Wiederholungen aus. 34 So äußert Lucretia im gleichen Handlungszusammenhang ihre demütige Dienstbeflissenheit gegenüber dem Ehemann in der gleichen Pose wie in der Interaktion mit dem König. 35 Blickt man von hier aus auf die gesamte Handlung des Lucretia-Exempels, zeigt sich, dass König und Ehemann immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen parallelisiert werden. 36 Der metaphorischen Grundstruktur des antiken Exempels folgend, ist Conlatinus 31 Vgl. zuerst Ohly (wie Anm. 4), S. 89f., und Mohr (wie Anm. 4), S. 436f. 32 Vgl. Weitbrecht (wie Anm. 28), S. 248. 33 Diu frowe îlte drâte / wider in ir kemenâten, / si zierte sih mit micheln flîze / in ander wât wîze (Kaiserchronik (wie Anm. 1), V. 4507-4510). 34 Zu den redundanten Handlungsbeschreibungen vgl. mit Hinweisen zur älteren Forschung auch Pésza (wie Anm. 4), S. 162. Armin Schulz (wie Anm. 4) versteht solche Wiederholungen als Technik, die es ermöglicht, heterogenes Erzählmaterial z.T. aus unterschiedlichen Quellen zu integrieren und an der Textoberfläche eine Kohärenz im Sinne einer „kontiguitären Logik“ (S. 356) zu stiften. 35 si stuont, naic im gezogenlîche (Kaiserchronik (wie Anm. 1), V. 4505); si stuont, neic im gezogenlîche (ebd., V. 4521). 36 Gegen Ohly (wie Anm. 4), der Conlatinus als „Widerpart des Tarquinius“ (S. 99) beschreibt, weist auch Pézsa (wie Anm. 4), S. 160-175, auf die Analogien in der Darstellung von Ehemann und Peiniger hin. Seiner Auffassung nach besteht die Funktion dieser Analogien allerdings in einer grundsätzlichen Pro- Wahrheit (er)finden? 97 nicht nur an der Verletzung der Integrität seiner Frau beteiligt, sondern, anders als in der Stofftradition, auch für die kriegerische Auseinandersetzung verantwortlich, die den Rahmen der Lucretia-Handlung bildet und die bei Livius die anhaltende Versehrung der res publica symbolisiert. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Conlatinus in der Kaiserchronik nicht zum Begründer und zum politischen Führer einer neuen demokratischen Ordnung werden kann und am Ende gemeinsam mit dem von ihm getöteten Tarquinius folgenlos aus der Handlung verschwindet. 37 So bleibt die Rache in der Kaiserchronik eine private Tat, ohne politische Auswirkungen, wie auch Lucretias Selbsttötung nicht zu einer politisch motivierten Opferhandlung werden kann. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die irritierende und viel diskutierte anachronistische Einordnung des Lucretia-Exempels in die Kaiserfolge des volkssprachigen Textes. 38 Die Lucretia-Geschichte steht nicht an einem politischen Wendepunkt, sondern neben den Geschichten Neros, Galbas und Pisos, also inmitten eines Zyklus immer wiederkehrender Übergriffe auf den Staatskörper und bürgerkriegerischer Auseinandersetzung. Während bei Livius und Ovid an der Lucretia-Geschichte die Voraussetzungen und Bedingungen politischer Umbrüche reflektiert und insbesondere die Reorganisationsfähigkeit des römischen Staatskörpers pointiert werden, zeigt die Kaiserchronik in unmittelbarer Reaktion darauf, welche Umstände eine solche Reorganisation verhindern, und nimmt damit eine reflektiert kritische Distanz zur bei Livius etablierten Geschichtsteleologie und Staatskonzeption ein. Von entscheidender Bedeutung ist dabei ein weiteres Detail, nämlich, dass Conlatinus in der Kaiserchronik nicht der römischen Führungselite entstammt, sondern Trierer ist. Hier geht es nicht wie immer wieder angenommen darum, dass ein ‚Deutscher‘ in die Handlung integriert wird, um die spätere Translatio des römischen Reichs auf die Deutschen vorausdeutend präsent zu halten. Indem der Trierer zum Mittäter bei der Schändung von Frau und Staat wird und folgerichtig nicht zum Anführer der politischen Neuordnung aufsteigen kann, wird gezeigt, dass zu diesem Zeitpunkt der Geschichte - also vor der Christianisierung - auch die deutschen Fürsten noch nicht über die Kompetenzen verfügen, die gute Herrschaft ermöglichen. Die Tugenden, die gute Herrschaft ausmachen und die entlang der Lucretia-Geschichte entfaltet werden, unterscheiden sich zwischen den antiblematisierung des Höfischen insgesamt und des Interesses an Frauen im Besonderen, welches durch beide männlichen Protagonisten verkörpert werde. Ansätze zu einer Problematisierung des Collatinus (in Abgrenzung zu Brutus) sieht Werner Schubert bereits bei Livius und Ovid. Vgl. „Herodot, Livius und die Gestalt des Collatinus in der Lucretia-Geschichte“, in: Rheinisches Museum 134 (1991), S. 80-96. 37 Der kunic viel nider tôt, / […] / der reke flôh in daz lant, / ze Rôme man nefraiscte noh envant / war er iemer mêr bekôme: / ze lîbe oder ze tôde (Kaiserchronik (wie Anm. 1), V. 4823-4830). 38 Zuletzt erkennt Müller in der Beliebigkeit, mit der gerade die Sagen und Legenden in das ohnehin „schwache schriftsprachlich-chronologische Gerüst“ der Kaiserchronik gezwängt würden, unbewältigte Spannungen klerikal-schriftlicher und laikal-mündlicher Zeit- und Geschichtskonzepte, welche letztlich die Schwelle zwischen konkurrierenden Kulturen markiere. Vgl. Jan-Dirk Müller, ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), S. 106-110 und S. 313-322. Zum Zeit- und Geschichtskonzept der Kaiserchronik vgl. außerdem Christoph Petersen, „Zeit, Vorzeit und die Narrativierung von Geschichte in der Kaiserchronik“, in: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353; Elke Koch, „Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik)“, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Susanne Köbele und Coralie Rippl, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14), S. 75-99. 98 Silvia Reuvekamp ken und mittelalterlichen Realisationen erstaunlich wenig. In allen Fällen geht es um die Beschützerrolle des Herrschers, die Empathie gegenüber den Nöten der Schutzbefohlenen und uneigennützig sorgende Liebe zum Gemeinwesen voraussetzt. Diese Sorge setzt die Bereitschaft zum Verzicht auf den eigenen Vorteil, die eigenen Interessen und Bedürfnisse voraus. 39 Wo die Fähigkeit zur liebenden Fürsorge für das Gemeinwohl insgesamt fehlt, so die entgegengesetzte Diagnose, die der deutsche Text dem römischen Reich ausstellt, bleibt Gesellschaft stets vom Zerfall bedroht. Die antiken Fassungen der Lucretia-Geschichte und die deutsche unterscheiden sich allem voran darin, ab welchem Zeitpunkt der Geschichte sie den Herrschern im römischen Reich eine solche Einsicht und die damit verbundenen Tugenden zugestehen. Die Kaiserchronik tut es erst, mit der tiefen Durchdringung von Herrschaft durch die Grundsätze des christlichen Glaubens. Dem antiken Konzept der Kraft zur Selbstheilung, die den Römern immer schon gegeben ist, wird programmatisch ein Bewusstsein der beständigen Abhängigkeit von göttlicher Gnade und christlicher Lehre entgegengesetzt. Das sinnlose Selbstopfer Lucretias fällt folgerichtig in die vor-constantinische Zeit, in die Zeit vor den ersten Ansätzen zur Christianisierung. Aber auch dort, wo das Christentum bereits Staatsreligion ist, die Herrscher aber zumindest teilweise in alten Denktraditionen verharren, erzählt die Kaiserchronik noch von unschuldig verfolgten Frauen, deren Geschichte mit der Lucretias korrespondiert - ganz ähnlich, wie auch Livius es zum Beispiel mit der Geschichte Virginias tut. Während Livius allerdings an unterschiedlichen Frauengeschichten in unterschiedlichen politischen Krisensituationen stets die gleiche von Frauenopfern aktivierte Kraft zur Selbstheilung und Reorganisation herausstellt, entwirft die Kaiserchronik eine geschichtliche Sukzession. Anders als das Lucretia-Exempel übernimmt der deutsche Autor die Virginia-Geschichte nämlich nicht, um sie im Sinne seines Geschichtsverständnisses umzudeuten, sondern er ersetzt sie durch die Crescentia-Legende ohne lateinische Stofftradition. Und anders als Lucretia und Virginia übersteht Crescentia im tiefen Vertrauen auf die göttliche Gnade die doppelte Schändung ihres Körpers und kann deswegen von Gott im Wortsinn zum Medium der Heilung der Herrschenden und der gesamten Gesellschaft gemacht werden. Ihre Leiden verhallen nicht ohne Konsequenzen, sondern treiben am Ende den langwierigen Prozess der Christianisierung entscheidend voran. Der im Zeichen christlicher Zuversicht, Demut und Leidensbereitschaft stehende Verzicht auf Selbsttötung ermöglicht erst politische Wirksamkeit. Spannend ist auch hier die Figurenkonstellation, in der Herrscher und Peiniger auf zwei Handlungsrollen aufgeteilt sind. In beiden Handlungsteilen ist der Herrscher durchaus positiv gezeichnet. Dietrich liebt seine Frau aufrichtig und versucht sie zu beschützen, versagt aber an den entscheidenden Stellen, weil er die falschen Prioritäten setzt und seine Beschützerrolle nicht konsequent genug verfolgt - vor allem aber, weil er trotz seiner Liebe zu seiner Frau ihr Wesen nicht wirklich erkennt. Wieder versagt der Herrscher als Beschützer, weil seine Liebe am Ende doch zu oberflächlich bleibt. Und wieder spiegelt dieses Defizit des Liebenden das Defizit des Herrschenden. Dietrich ist ein guter Kaiser, aber es reicht nicht, um die sich selbst perpetuierende Verkettung von Krisen im römischen Reich, die am sinn- und folgenlosen Selbstopfer Lucretias exemplifiziert worden war, zu durchbrechen. Zum Katalysator einer politischen und gesellschaftlichen Re-Organisation wird 39 Bei Livius tötet Brutus in einem symbolischen Akt die eigenen Söhne, im Zeichen eines radikalen Bekenntnisses zur nicht auf Erbe basierenden republikanischen Herrschaftsform. Wahrheit (er)finden? 99 erst Crescentias unerschütterliches Vertrauen in die göttliche Gnade und die Sinnhaftigkeit göttlicher Bestimmung. Insgesamt erweist sich mit all dem die narrative Faktur des Lucretia-Exempels als deutlich weniger inhomogen und die Sinnstiftung als weniger situativ als gemeinhin angenommen. Veränderungen der Figurendarstellung, die Verschiebung der Figurenkonstellation und die kontextuelle Einbindung begründen ein übergreifendes Darstellungskonzept, das die Sinnbildung innerhalb des Exempels und - das konnte hier im Ausblick auf die Crescentia- Legende lediglich angedeutet werden - auch darüber hinaus entscheidend mitbestimmt. Bedeutung generiert in diesem Zusammenhang nicht nur die erzählte Handlung, sondern auch die Art der Darstellung. Die Marginalisierung der Lucretia-Figur etwa oder die Analogien zwischen den männlichen Handlungsträgern bilden eine eigenständige Ebene der historisch-politischen Auseinandersetzung mit der antiken Geschichtsteleologie und begründen deren logisch-systematischen Geltungsanspruch entschieden mit. Die Polyvalenz des Exempels wird dadurch ein Stück weit eingedämmt und es steht zu erwarten, dass auch die vielfältigen paradigmatischen Bezüge zu anderen Ehe-, Rache-, Opfer- und Liebesgeschichten im Erzählkontinuum der Kaiserchronik eine weniger lose Pluralisierung von Sinn hervorbringen, als von Friedrich angenommen. Greifbar wird damit aber noch deutlich mehr als ein Kohärenzprinzip. Mir scheint die beobachtete Semantisierung der narrativen Faktur eine kategoriale Überschreitung rhetorischer Argumentationsformen und in diesem Sinne ein Indikator für eine spezifisch poetische Qualität vormodernen Erzählens von Vergangenheit. Dabei gilt es aber zu sehen, dass es sich zwar um eine ausgesprochen artifizielle Konfiguration handelt, aber gerade nicht um eine, die eine im ästhetischen Sinne eigenständige Wertqualität beanspruchen und insofern eine veränderte Wissensordnung oder Episteme voraussetzen würde. Entsprechend ließen sich Phänomene der Semantisierung narrativer Techniken, wie sie schon in der Kaiserchronik zu beobachten sind, durchaus in eine aus der Rhetorik abgeleitete Poetik komplexen exemplarischen Erzählens von Geschichte, wie Friedrich und Hübner sie entwickeln, integrieren. Zu überlegen wäre dabei allerdings, ob ein Erzählen, das neben den Inhalten der Handlung auch die Form der Darstellung semantisiert und auf diesem Weg eigenständig Wissen generiert, zumindest im Ansatz ein Konzept von der Konstruktivität historischen Erzählens, also davon, dass erst die Darstellung ‚Geschichte‘ macht, voraussetzt. Spätestens an dieser Stelle hätte man es allerdings mit einem Erzählen auf der Grenze einer Epistemologie des Exemplarischen zu tun. III. Jason - habitualisierte Schwäche als narrativer Effekt Noch ein Stück weitergeführt werden sollen diese Überlegungen aber nicht für die Kaiserchronik, sondern für Konrads Trojanerkrieg, der mit seiner konsequenten metapoetischen Perspektivierung des Erzählens einen besonders günstigen Ausgangspunkt dafür bietet. Im Rahmen dieser metapoetischen Perspektivierung erscheinen Figuren bei Konrad als Artefakte, denen im Erzählen in ganz ähnlicher Weise Präsenz verliehen wird wie den diversen Kunstgegenständen, die im Verlauf der Handlung beschrieben werden, etwa dem Apfel der Discordia, dem künstlichen Vogelbaum im Zentrum des neu erbauten Troja sowie verschiedensten Kleidungs-, Rüstungs- und Ausrüstungsgegenständen. 40 Figuren und Artefakte 40 Einen Überblick bietet Elisabeth Lienert, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 271-288. 100 Silvia Reuvekamp teilen im Trojanerkrieg allem voran ihren opalisierenden Glanz, aber auch Begrifflichkeiten (wie kleinôte oder bilde), mit denen sie bezeichnet werden. Nicht zuletzt werden Figuren wie Kunstwerke immer wieder zum Gegenstand bewundernder Betrachtung und brennenden Begehrens, aber ebenso zum Gegenstand gelingender oder misslingender Interpretation. Diese Analogien werden in der Forschung vor allem auf ihre Konsequenzen für die axiologische Besetzung der Figurenhandlung und deren kulturelle Implikationen befragt. 41 Noch im Vorfeld solcher Überlegungen scheint mir die Analogie von Figuren und Artefakten den Blick zunächst einmal auf die Gemachtheit von Figuren zu lenken und hier speziell auf das Verhältnis von artifizieller Faktur und der Wirkung, die diese evoziert. Dieses Verhältnis spielt in nahezu jeder Ekphrase des Trojanerkriegs eine zentrale Rolle. Schon in der Beschreibung des Apfels der discordia kann der Betrachter erst in der Sicht nâhe zuo den ougen (V. 1427) erkennen, dass seine Wahrnehmung bei einer Sicht ferre hin von der gesiht (V. 1431) auf einer Illusion beruht und wie diese durch eine spezielle Herstellungstechnik gesteuert ist. 42 Überträgt man eine solche ‚Leseanweisung‘ auf Figuren als Artefakte, würde das bedeuten, dass ein Verständnis darauf angewiesen ist, nicht nur zu sehen, was über eine Figur gesagt wird, sondern wie genau eine Information im Text zustande kommt. In einem solchen Zusammenhang scheint Jason sich zunächst nicht unbedingt als Untersuchungsgegenstand aufzudrängen, da er im Vergleich zu diversen anderen Figuren des Trojanerkriegs eher über eine geringe Strahlkraft verfügt. Gerade deswegen soll aber gezeigt werden, dass und wie sogar ein solcher Eindruck Effekt einer strategischen Kompositionstechnik wird. In der antiken Stofftradition ist Jason eine Figur mit einem prekären gesellschaftlichen Status. Der Herrschaftsverlust seines Vaters und die damit verbundenen Feindschaften schränken sein Aktionspotential ganz erheblich ein; dies setzt sich in der asymmetrischen Beziehung zur zauberkundigen Medea fort, die allein ihm überhaupt die Hoffnung eröffnet, seine Position stabilisieren und seine Herrschaft restituieren zu können. Der erzählerische Reiz der Geschichte liegt hier im tragischen - weil von vornherein zum Scheitern verurteilten - Aufbegehren Jasons gegen sein Schicksal. 43 Indem Konrad den handlungsinitiieren- 41 Vgl. insbesondere Hartmut Bleumer, „Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im Trojanischen Krieg Konrads von Würzburg (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte)“, in: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter, hg. von dems. u. a., Köln u. a. 2010, S. 109-156; Kellner (wie Anm. 17), S. 108-113; außerdem: Burkhard Hasebrink, „Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg“, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2001, S. 209-229; Müller, „schîn und Verwandtes“ (wie Anm. 17); Christina Lechtermann, „Figuren der Abhebung. Schillerndes Erzählen im Trojanischen Krieg“, in: Deixis und Evidenz, hg. von Ludwig Jäger und Horst Wenzel, Freiburg im Breisgau 2008 (Rombach- Wissenschaften, Scenae 8), S. 43-64; Bent Gebert, Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg, Berlin/ Boston 2013 (spectrum Literaturwissenschaft - Komparatistische Studien 35), hier insbes. S. 217-224 und S. 270-274; Müller, „Häutungen“ (wie Anm. 17); Ders., Überwundern - überwilden (wie Anm. 17). 42 Vgl. die eingehenden Analysen bei Bleumer (wie Anm. 41), S. 119-123; Gebert (wie Anm. 41), 176-189; Christoph Huber, „Der Apfel der Discordia. Funktion und Dinglichkeit in der Mythographie und im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg“, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin/ Boston 2016 (Literatur - Theorie - Geschichte 9), S. 110-126; Antje Wittstock, „Apfel der Discordia“, in: Abecedarium. Erzählte Dinge im Mittelalter, hg. von Peter Glasner, Sebastian Winkelsträter und Birgit Zacke, Berlin 2019, S. 27-35. 43 Zur Stofftradition vgl. u. a. Adolf Köhnken, „Der Status Jasons: Besonderheiten der Darstellungstechnik in den Argonautica des Apollonius Rhodios“, in: Ders., Darstellungsziele und Erzählstrategien in Wahrheit (er)finden? 101 den Statusverlust, der in den antiken Erzählungen die Grundlage der Handlungsmotivation des gesamten Erzählkomplexes bildet, tilgt, nimmt er der Figur im Grunde genau das Profil, das ihr Ereignishaftigkeit und tellability garantiert. 44 Im Erzählen entspricht dem eine erstaunlich konsequente Reduktion narrativer Präsenz. Schon bei seiner Einführung in die Handlung steht nicht Jason im Fokus des Erzählens, sondern sein Cousin Achill, und nur in Relation zu ihm gewinnt er überhaupt ein Profil. Vorgestellt wird der junge Grieche nämlich am Ende der Schyron-Episode, im Zusammenhang mit der sich unaufhaltsam verbreitenden Fama Achills: Achillen dâ ze lande nieman irte an sînem lobe, sîn prîs der fluoc den besten obe maniges rîches umberinc, wan daz ein frecher jungelinc dennoch dâ ze Kriechen was, der ouch mit reiner tugent las vil hôher werdekeit an sich. […] Jâson der selbe ritter hiez und lebte in ganzer wirde alsus. (Trojanerkrieg, V. 6494-6507) Jason kommt in dieser Relation, das stellt der Erzähler gleich mehrfach heraus, bestenfalls die Position des Zweitbesten zu. Über konjunktivische Formulierungen und konzessive Konstruktionen wird insinuiert, dass Jason nur dann ein exzeptioneller Status zukommen könnte, wenn es Achill nicht gäbe: geblüemet stuont sîn reiner sin mit hôhen êren ûzerlesen, und waere Achilles niht gewesen sô gar ein ûzerwelter knabe, sô haete im niht gegangen abe des besten lobes ûf erden: […] hert als ein fester adamas an triuwen schein sîn wille, doch brach sîn nefe Achille an hôher werdekeit vür in, wan er der êren spiegel hin ob im gewalteclîche truoc. (Trojanerkrieg, V. 6552-6571) Aber selbst diese Position wird Jason nicht direkt vom Erzähler zugeschrieben und auktorial begründet, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung als Konstruktion seines antiken Texten, hg. von Anja Bettenworth, Berlin/ New York 2006, S. 90-101. 44 Mit ‚tellability‘ wird in der Nachfolge William Labovs („The Transformation of Experience in Narrative Syntax“, in: Ders., Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular, Philadelphia 1972, S. 354-396) die Erzählwürdigkeit oder Relevanz, die einem erzählten Geschehen in einem bestimmten kommunikativen Rahmen zukommt. Zur sperrigen Einordnung der Jason-Episode in den Handlungsverlauf des Trojanerkriegs vgl. zuletzt Müller, „Häutungen“ (wie Anm. 17), S. 297f. 102 Silvia Reuvekamp neidischen und missgünstigen Onkels. Achills Vater Peleus beobachtet das Heranwachsen seines Neffen mit der Sorge, sein Ruhm könnte eines Tages den seines eigenen Sohnes übersteigen. Konkrete Taten oder Verdienste des jungen Griechen, die eine solche Befürchtung einsichtig werden ließen, werden allerdings nicht angeführt, geschweige denn narrativ entfaltet. Während in der gerade abgeschlossenen Passage über Achills Kindheit und Erziehung in eingehenden Darstellungen zu beobachten war, wie der Junge von einer Löwin gesäugt und mit dem Mark aus Tierknochen und wilden Pflanzen ernährt wird, wie er zur körperlichen Abhärtung nur mit Tierfellen bekleidet auf dem nackten Boden einer Höhle schläft und zur emotionalen Abhärtung nicht nur gegen Drachen, Löwen, Bären und Greifen antritt, sondern auch deren Junge raubt und tötet, wie er Körperkraft und Körperkoordination trainiert, indem er zum Beispiel über hauchdünne brechende Eisdecken läuft, abgeschossenen Pfeilen nachjagt und in reißenden Flüssen balanciert und wie er im Verbund mit verschiedenen wilden Völkern kämpft, um sich unterschiedliche Kampftechniken anzueignen, 45 werden Jasons Qualitäten und das aus ihnen resultierende lop eher summarisch konstatiert. Noch in dieser summarischen Würdigung bleibt der Blick auf die Figur allerdings verstellt, da die Darstellung des Erzählers immer wieder nahtlos in Innensichten des missgünstigen Peleus oder in dessen affektverhaftete Beobachtung Jasons übergehen. 46 Indem so die Stimme des Erzählers mit dem in seiner Affektivität als problematisch markierten Figurenbewusstsein des Peleus synthetisiert wird, erscheint Jasons Exzeptionalität und Ruhm allem voran als eine Projektion seines Onkels. Über Jason erfährt der Rezipient ausschließlich das, was Peleus’ Neid auslöst, oder vielleicht auch nur das, was dieser in seinem Neid imaginiert - diese Alternative ist kaum sicher zu entscheiden. Protagonist der Handlung und Zielpunkt axiologischer Besetzung ist entsprechend nicht Jason, sondern Peleus, und dies ändert sich ebenfalls nicht, nachdem Jason wenig später auch als handelnde Figur in das Erzählen eintritt. Die sich anschließende Intrige-Handlung bleibt nämlich von ausführlichen Innensichten und Redebeiträgen des Peleus dominiert, die das Auseinandertreten von außen und innen dokumentieren. Demgegenüber agiert Jason weniger als er reagiert, er antwortet eher als er spricht und was sein Inneres betrifft, bleibt dem Erzähler lediglich zu konstatieren, dass der Vorschlag des Peleus, sich auf die gefährliche Fahrt nach dem goldenen Vlies zu begeben, bei Jason keinerlei Misstrauen weckt. Jason reflektiert weder die Gefahren der Reise, noch die Absichten seines Onkels, und die bevorstehende Fahrt erfüllt ihn weder mit Schrecken noch mit besonderer Freude über eine Möglichkeit, sich zu beweisen und seinen Ruhm zu vervollkommnen. 47 Entsprechend erstaunt es nicht weiter, dass Peleus und nicht Jason Antrieb des baldigen Aufbruchs ist. 48 In der sprachlichen Inszenierung dieser Konstellation gerät ganz konsequent Peleus und nicht Jason zum grammatikalischen Subjekt der Aufbruchshandlung: 45 Vgl. Trojanerkrieg (wie Anm. 2), V. 5914-6364. 46 Vgl. ebd., V. 6520-6535: diz waere dô sîn wille / gesîn und al sîn girde, / daz nieman keine wirde / bejaget haete mê denn er, / an im lac sînes herzen ger / und sîner wunne zuoversicht, / dar umbe engunde er im des niht, / daz ieman anders waere / prîs und lop gebaere / denn der hôchgeborne knabe. / swaer unde bitter ungehabe, / diu beidiu tâten im gedon, / dô sînes bruoder sun Jason / nâch lobe sô flîzeclîche ranc. / an keiner stat nie misselanc / dem selben ritter ûzerwelt […]. 47 Für die späteren Handlungsteile weist auch Gebert (wie Anm. 41, S. 359f.) auf „Jasons Verknappung von Kommunikation“ und das Fehlen selbstreflexiver Passagen hin, wodurch im Erzählen eine Asymmetrie zwischen Jason und Medea entstehe. 48 Vgl. auch Müller, „Häutungen“ (wie Anm. 17), S. 299. Wahrheit (er)finden? 103 der künic Pêleus, sîn veter, liez in niht langer beiten, wan er in dô bereiten begunde zuo der ferte sîn, er tete an im dô balde schîn, daz er sîn âne gerne wart: swes er bedorfte zuo der fart, vil drâte er im daz werden liez. (Trojanerkrieg, V. 6832-6839) Selbst an den wenigen Stellen, an denen Jason anders als hier zumindest zum grammatikalischen Subjekt der Handlung wird, bleibt das Erzählen auf Peleus fokussiert: Jâson fuor sîne strâze alsus. des wart sîn veter Pêleus vil hôhes muotes bî der zît, daz er niht wider kaeme sît, des wart von im gewünschet vil. (Trojanerkrieg, V. 6891-6895) Mit all dem wird in der Handlungsexposition zur Argonautenfahrt ein Modus der Figurendarstellung etabliert, der in der Folge das gesamte weitere Erzählen von Jason prägt. 49 Obwohl die Darstellung über weite Teile seiner Bewegung in der erzählten Welt folgt, wird Jason in den verschiedensten aufeinanderfolgenden räumlichen und sozialen Konstellationen, in die ihn sein Weg führt, jedes Mal erneut zum Objekt der Wahrnehmung, Deutung und der Handlungsaktivität anderer Figuren und zwar in weitaus stärkerem Maße, als er selbst handelnd auf seine Umwelt einwirkt. Bei der Zusammenstellung der Besatzung für die Argo etwa wählt nicht Jason Hercules als Begleiter aus, sondern dieser wirft sich seiner heldischen Identität gemäß Jason gleichsam in den Weg; 50 bei der Landung vor Troja wird Jason mit den Argonauten zum Opfer der vom Alter bestimmten Mentalität Lamedons; 51 im Gegensatz dazu profitiert er bei seiner Aufnahme in Kolkos von der dort herrschenden elaborierten höfischen Kultur, die den Status des gastgebenden Herrschers an den Glanz des Gastes bindet; 52 49 Und so erstaunt es nicht weiter, dass sich die Forschung insgesamt in sehr viel stärkerem Maße mit den problematischen Aspekten der Medea-Figur auseinandergesetzt hat. Vgl. u.a.: Hasebrink (wie Anm. 41); Andrea Sieber, Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters, Köln u. a. 2008 (Literatur - Kultur - Geschlecht 46), S. 13-149; Regina Toepfer, Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen, Berlin/ Boston 2013 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 144), S. 400-437; Müller, „Häutungen“ (wie Anm. 17); Ders., „Überwundern - überwilden“ (wie Anm. 17). 50 Trojanerkrieg (wie Anm. 2), V. 6868-6885: ein ritter, Hercules genannt, / fuor mit im ûf den wilden wâc / der was von sippeschaft sîn mâc / und hete wunders vil getân. / als ich von im gelesen hân, / sô was der selbe küene degen / vil starken risen obe gelegen / mit hôher mannes krefte, / er hete an ritterschefte / rîlichiu dinc begangen, / merwunder unde slangen / von im gefellet wâren. / man zalte in bî den jâren / für einen ritter ûzerwelt, / der alles dinges was ein helt, / des man ze frumekeite darf. / der selbe sich ze dienste warf / Jâsône durch gesellekeit. 51 In der gesamten Passage liegt der Fokus auf Lamedons Wahrnehmung der Argonauten, seiner Reflektion der Situation und der daraus abgeleiteten Handlungen. Dabei fällt auf, dass Jason als Anführer des heldischen Kollektivs in Lamedons Wahrnehmung keine herausgehobene Position zukommt, und er auch im Zusammenhang mit der Vertreibung weder im Auftrag an den Boten noch in dessen Interaktion mit den Griechen je als Anführer adressiert wird. 52 Wie bereits in der Handlungsexposition erscheinen die Aktivitäten Jasons in passivischen Konstruktionen allem voran als Reaktionen auf die Steuerung durch seinen Gastgeber. 104 Silvia Reuvekamp ihre Liebe und damit die dringend benötigte Unterstützung bei der Gewinnung des Goldenen Vlieses trägt Medea Jason an, ohne dass er außer der Erwiderung verliebter Blicke etwas dafür getan hätte. Medea überhaupt eingehend zu betrachten, selbst dazu braucht es nicht nur eine aufwändige Inszenierung ihres Auftritts, sondern Jason muss von Lamedon zusätzlich noch einmal explizit dazu aufgefordert werden, genau hinzusehen. 53 Bezeichnend ist, dass der Rezipient ganz anders als etwa bei Paris’ erster Begegnung mit Helena, gerade nicht die Wahrnehmung des Protagonisten teilt, sondern einen anderen, ganz eigenständigen Blick auf Medea gewährt bekommt, 54 vielleicht den, den Jason haben sollte. So sind es letztlich der höfisch-merkantile Habitus des Oetas sowie die Liebesbereitsschaft und -fähigkeit Medeas, die Jasons weiteren Erfolg konstituieren. Insgesamt lässt sich zeigen, dass die Frage, ob Jason zum emporkommenden Rivalen, zum prädestinierten Anführer eines heldischen Kollektivs, zum landfremden Aggressor ohne politische Umsicht, zum ruhmumwobenen Gast oder zum Gegenstand weiblichen Begehrens wird, kaum je aus seinem eigenen Verhalten, seinen Absichten und Motiven resultiert, sondern maßgeblich von den je verschiedenen prästabilen politischen, sozialen und mentalen Bedingungen, unter denen die anderen Figuren der Handlung ihm begegnen, abhängt. Diesen Bedingungen kommt im Erzählen weitaus größere Aufmerksamkeit zu als Jason selbst, der so in jeder einzelnen Episode seiner Geschichte von anderen Figuren überdeckt wird, bevor er mit dem Eintritt Medeas in die Handlung sukzessive auch endgültig als Raumfilter und damit als Protagonist abgelöst wird. Noch sein Treuebruch gegenüber Medea wird nicht etwa über die Attraktivität Greusas motiviert oder, wie in der Erzähltradition, über Jasons Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg begründet, sondern allem voran durch Medeas Abwesenheit erklärt. Nachdem diese eigenmächtig Peleus’ Verrat an Jason gerächt hat, überkommt sie die Lust, durch kurzwîle (V. 11195) die Orte ihrer früheren Ausbildung zu besuchen, statt unverzüglich zu Jason zurückzukehren. In einem vierfachen temporalen Anschluss wird diese Verzögerung zur Ursache seines fatalen Betrugs erklärt. 55 Wie gesehen variieren zwar die Rollen, in denen Jason im Verlauf der Handlung erscheint, doch ist das Erzählen wie schon in der Kaiserchronik deswegen nicht situativ, sondern ganz im Gegenteil von einem übergreifenden Darstellungskonzept getragen. Wie bereits der Autor der Kaiserchronik setzt dabei auch Konrad am Kernpunkt der antiken Fi- 53 Trojanerkrieg (wie Anm. 2), V. 7572-7577: ‚seht‘, sprach er zuo Jâsône, / ‚diz ist der beste prîsant, / den ich in mînem hûse fant, / und haete ich liebers krâmes iht, / friunt guoter, des enhaele ich niht / vor iu ze keiner stunde.‘ 54 Noch bevor Medea die Szenerie als handelnde Figur betritt (und damit von Jason gesehen werden kann), wird sie gleichsam exklusiv für den Rezipienten ausführlich vorgestellt (ebd. V. 7416-7457). Und auch die anschließende eigentliche Schönheitsbeschreibung wird im Gegensatz zu der Helenas nicht über den Blick Jasons inszeniert, sondern bleibt ganz im Gegenteil durchweg auf ein wahrnehmendes leeres Zentrum bezogen. Dass die weibliche „Erscheinung“ geradezu zu einem „Phantasma“ des Mannes und seines Begehrens wird, wie Bleumer (wie Anm. 41, S. 132) es für die Beschreibung Helenas demonstriert hat, kann für Medea in diesem Sinne bestimmt nicht in Anspruch genommen werden. 55 Trojanerkrieg (wie Anm. 2), V. 11184-11205: nû daz Mêdêâ bî der stunt / im hete alsus den lîp benomen, / dennoch enwolte si niht komen / zu Jâsône wider hein, / diu schoene diu kam über ein / und wart ze râte des zehant, / daz si wolte fremdiu lant / beschouwen und der stete vil, / dâ man si lêrte zouberspil / dâ vor in blüender kintheit. / si fuor des mâles unde reit / durch kurzwîle in manige stift, / dâ man ir edele handgift / gap und rîchen prîsant. / dar under wart Jâson gepfant / an triuwen und an êren: / dô si niht widerkêren / wolt in vil kurzen stunden, / dô wart sîn muot gebunden / mit niuwer liebe minne, / wan er dô sîne sinne, / leit ûf ein ander wîp zehant. gurenkonzeption an. Die Schwäche Jasons, die dort eine Folge äußerer Umstände ist, wird aber zu einem Effekt der Darstellung. Radikal künstlich und als solches markiert, sind nicht nur - wie Gert Hübner gezeigt hat - einzelne Handlungskonstellationen, sondern die Figur insgesamt. Die Wirkung, die durch die Verlagerung der Schwäche von außen gleichsam ins (konzeptionelle) Innere der Figur erzielt wird, ist die einer habituellen Schwäche. Das hat Konsequenzen für die Axiologie des Geschehens. Wenn Jason für seinen Treuebruch am Ende nicht nur von Medea grausam hingerichtet wird, sondern der Erzähler sich weigert, die Trauer um ihn und die darin ausgedrückte Anerkennung wiederzugeben, 56 dürfte das den Rezipienten wenig rühren. Doch treten hier erzählerische Gerechtigkeit und Moral weit auseinander. Greifbar wird das spätestens im paradigmatischen Vergleich mit anderen Rachehandlungen, die den Opfern - anders als es bei Jason der Fall ist - eine Stimme und ein Inneres geben. Ein wichtiges Beispiel wäre die sich im Handlungsverlauf des Trojanerkriegs unmittelbar an die Jason-Geschichte anschließende erste Zerstörung Trojas, bei der der Schrecken der heimtückisch überfallenen Bewohner umliegender Dörfer und der von Vergewaltigung bedrohten Frauen in der Stadt großen Raum im Erzählen einnimmt. Beide Rachehandlungen zeichnen sich durch die gleiche Unverhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe aus, Darstellung und Rezeptionsteuerung dagegen unterscheiden sich gravierend voneinander. All dies lenkt den Blick des aufmerksamen Rezipienten auf die zum Teil trügerische Wirkung, in jedem Fall aber strategische Konstruktion von Geschichte. IV. Fazit In beiden betrachteten Beispielen volkssprachiger Geschichtsdichtung erweist sich Bedeutung nicht nur als Dimension erzählter Handlung, sondern auch als Effekt elaborierter Darstellungsverfahren. So wird in beiden Fällen die konzeptionelle erzählerische Marginalisierung einer zentralen Figur in je eigener Weise zum Medium der kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte und ihrer poetischen Kommunikation. Indem Lucretia in der Kaiserchronik genau die immersive Dynamik genommen wird, die im antiken Erzählen überhaupt erst ihr Potential begründet, einen politischen Umbruch auslösen zu können, widerspricht der Text Grundüberzeugungen der lateinischen Geschichtsteleologie. Indem Medeas unverhältnismäßige Rache an Jason durch die Habitualisierung seiner eigentlich politisch begründeten Schwäche vordergründig entproblematisiert erscheint, wird der Blick letztlich auf die Perspektivität der Darstellung und Bewertung von Geschichte gerichtet. In diesem Sinne geht der Trojanerkrieg insofern über den Entwurf der Kaiserchronik hinaus, als die schon hier beobachtbare Semantisierung narrativer Verfahren nun in der metapoetischen Spiegelung an die Grenze des Diskursiven getrieben wird. Figuren strahlen nicht nur wie Artefakte, ihre (zum Teil trügerische) Wirkung beruht auch auf strategischer Konzeption. Dennoch erscheint das Arrangement der Kaiserchronik kaum weniger radikal. Schon der programmatische Gegenentwurf des Kaiserchronisten zur antiken Geschichtsteleologie setzt nämlich gleichsam das Bewusstsein voraus, dass Geschichte bereits im antiken Erzählen strategisch konzipiert und literarisch ausgeformt kommuniziert wird. Erst daraus ergibt 56 Trojanerkrieg (wie Anm. 2), V. 11346-11363: daz er sô jaemerlîchen hin / gezücket von dem tôde wart, / daz klage ich durch die reinen art, / der an im lac sô rehte vil. / von schulden muoz ich unde wil / hie lân belîben underwegen, / wie der vil hôchgeborne degen / beweinet würde bî der zît […] des heldes klage lâz ich ligen, / die man durch in des mâles truoc, / wan ich hân anders wol sô genuoc / ze künden und ze sagene, / daz mir niht touc ze klagene / Jâsônes grimmeclicher tôt. Wahrheit (er)finden? 105 106 Silvia Reuvekamp sich die Möglichkeit, in der Retextualisierung ein Gegenmodell zu entwickeln. Doch auch mit einem Konzept, nach dem Geschichte Ergebnis einer literarischen Modellbildung ist, in der auch das Wie der Darstellung Bedeutung stiftet und Wissen generiert, bleiben der Kaiserchronist und Konrad letztlich einer exemplarischen Wirklichkeitskommunikation verpflichtet. Allerdings überschreitet ein solches poetisches Erzählen von Vergangenheit die Rhetorik des Exempels nicht nur quantitativ in der Vervielfältigung von topischen Referenzen und qualitativ in einer künstlichen Zuspitzung topischer Regularitäten. Es erweitert Exemplarik um eine zusätzliche Ebene der Sinnstiftung, die nicht an Handlungsinhalte gebunden ist und die nicht zuletzt die Paradigmatik des Exempels im Zeichen der Syntagmatik kontrolliert. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik Bettina Bildhauer Die Kaiserchronik, verfasst vermutlich in Regensburg um 1150 und eine der frühesten Geschichtserzählungen in deutscher Sprache, thematisiert explizit, wie Erzählen über die Vergangenheit funktionieren sollte --und wie nicht. Dies geschieht, ganz im Sinne eines interaktiven Literatur- und Geschichtsverständnisses, nicht so sehr durch metanarrative Erzählerkommentare im knappen Prolog, sondern performativ in einer einzelnen Episode in der langen Geschichte römischer Kaiser, die diese Chronik aufzeichnet. Es handelt sich, wie schon Ludger Lieb und Stefan Müller zeigten, um die Severus-und-Adelger-Episode mit ihrer vierfach eingebetteten Erzählung vom gegessenen Hirschherzen. 1 Diese im Mittelalter in vielen Varianten weit verbreitete Geschichte berichtet hier von einem Gärtner, der einen Hirschen in seinem Gemüsegarten erwischt, und ihm ein Ohr und den halben Schwanz abschneidet, bevor das Tier fliehen kann. Der Gärtner glaubt, den Hirschen endgültig verjagt zu haben. Als der Hirsch trotzdem wiederkommt, sobald seine Wunden verheilt sind, umstellt der Gärtner seinen Garten geistesgegenwärtig mit Netzen: mit vil guoten sinnen / îlt er mit nezzen / den garten allumbe sezzen. 2 Er fängt den Hirsch, sticht ihn durch den Bauch und weidet ihn aus. Eine Füchsin stiehlt währenddessen unbemerkt vom Gärtner das entnommene Herz des Hirschen. Der verblüffte Gärtner berichtet seiner Frau das grôze maere, er habe einen Hirschen ohne Herz erlegt, aber diese ist nicht überrascht: hätte der Hirsch ein Herz gehabt, so ihre Pointe, wäre er nach seiner ersten Verletzung erst gar nicht in den Garten zurückgekehrt. Die Gärtnersfrau setzt mit ihrer Interpretation der von ihrem Mann berichteten Ereignisse beim fehlenden Hirschherzen ein, und findet dafür eine faktisch falsche, aber dennoch lehrreiche Erklärung. Diese beruht auf einer Konzeption des materiellen Herzens als Sitz der weder sichtbaren noch greifbaren Fähigkeiten von Gedächtnis, Lernvermögen oder Vernunft (heute würden wir diese im Gehirn lokalisieren). Wichtig in unserem Zusammenhang der Modellbildung für Erzählen über die Vergangenheit ist, dass die Geschichte noch ein weiteres Mal eingebettet ist, nämlich in die Rahmenerzählung über den römischen Kaiser Severus, der in einen Machtkampf mit dem bayerischen Fürsten Adelger verwickelt ist. Severus demütigt seinen Gast Adelger bei einem Rombesuch, indem er dessen Haare und Kleidung abschneiden lässt. Adelgers Berater rettet die Situation, indem er erfolgreich anregt, dass alle Bayern in Solidarität mit ihrem Herrscher ebenfalls ihre Ponys und Ge- 1 Ludger Lieb und Stephan Müller, „Situationen literarischen Erzählens: Systematische Skizzen am Beispiel von Kaiserchronik und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur“, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. von Wolfgang Haubrichs, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 33-57. 2 Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1895 (Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken 1/ 1), Z. 6887-6889. 108 Bettina Bildhauer wänder kurz schneiden. Severus ist von diesem geschickten Berater so beeindruckt, dass er ihn zwingt, in Rom zu bleiben und von nun an den Kaiser selbst zu beraten. Als Severus später eine weitere hinterhältige Einladung an den bayerischen Fürsten nach Rom ausspricht, schickt Adelger einen Boten nach Rom, der herausfinden soll, was der dort gebliebene Ratgeber von dieser Einladung hält. Weil der Ratgeber inzwischen dem römischen Kaiser Treue schuldet, kann er Adelger nur indirekt warnen. Er inszeniert eine Situation, in der der Bote mithören kann, wie der Ratgeber dem Kaiser eben die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen erzählt, die sich, wie er von seinem Vater gehört habe, in der Vergangenheit zugetragen habe. Der Bote kehrt wütend nach Bayern zurück, weil er glaubt, der Ratgeber habe ihn mit einer nutzlosen Erzählung abgespeist. Als aber Adelger die Geschichte hört, versteht er sofort, was gemeint ist. Er ruft seine Gefolgsleute zusammen und erklärt: ‚ich wil iu besceiden diz spel: / Romaere wellent mit nezzen / mir mînen lîp versezzen‘. 3 Aber anders als der Hirsch, so sagt Adelger seinen Getreuen weiter, besitze er ein Herz. Statt wie der Hirsch denselben Fehler zweimal zu machen, verweigert Adelger die Einladung, und droht, dass stattdessen die Römer bei einem Angriff mit durchlöchertem Bauch enden würden. Tatsächlich greift Severus an und wird vernichtend geschlagen und getötet. Adelgers Interpretation setzt hier beim Netz an, das er als Metapher für die Falle der Römer stehen lässt und das für ihn lebensgefährlich ist. Seine Interpretationsstrategie, im Gegensatz zu der des Boten, ist durch die Merkmale (a) Situationsgebundenheit, (b) Lückenhaftigkeit und (c) Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation geprägt, wie wir im Folgenden sehen werden. Genau genommen gibt es hier vier verschiedene konzentrische Erzählebenen, die erfolgreiche und mangelhafte Interpretationsstrategien illustrieren. (1) Die Gärtnersfrau interpretiert die Geschichte ihres Mannes vom Hirschen ohne Herz; (2) der Bote interpretiert die Geschichte des Ratgebers über den Gärtner und seine Frau inklusive der des Hirschen; (3) Adelger interpretiert die Geschichte des Boten über das Verhalten des Ratgebers in Rom inklusive der eingebetteten Geschichte des Gärtnerpaars und der doppelt eingebetteten Geschichte des Hirschen; und (4) schließlich müssen die impliziten Rezipierenden die gesamte Erzählung der heterodiegetischen Erzählinstanz der Kaiserchronik verstehen. 4 Auf der ersten und dritten Erzählebene sind die Interpretationen der Gärtnersfrau und Adelgers erfolgreich, weil sie (a) die eingebettete Erzählung jeweils situationsspezifisch verstehen: die Frau erklärt das fehlende Herz im Zusammenhang mit der Wiederholungstat des Hirschen als fehlendes Gedächtnis; und Adelger das Netz im Zusammenhang mit der hinterhältigen Einladung der Römer als Falle. Der Bote hingegen scheitert bei der Interpretation, weil er die Geschichte vom Hirschen nicht auf die Erzählsituation in Rom bezieht. Die Rezipierenden, in erster Instanz wohl selber am bayrischen Hof angesiedelt, sollen offenbar dem Modell Adelgers und der Frau folgen und die Geschichte auf ihre jeweilige Situation hin individuell auslegen und zum Beispiel bayerisches Selbstbewusstsein 3 ‚„Ich will euch diese Inszenierung erklären: Römer wollen mir mit Netzen das Leben nehmen“‘, Kaiserchronik (wie Anm. 2), Z. 6943-6945. Bei mehrdeutigen und umstrittenen Zitaten habe ich meine eigenen Übersetzungen angegeben. 4 Die Erzählung wird auch noch ein weiteres Mal erzählt, nämlich dem Ratgeber von seinem Vater in der Vorvergangenheit der Severus-und-Adelger-Begegnungen, aber hier erfahren wir nichts über dessen Interpretation. Wir können nur aus seiner Wiederverwendung schließen, dass er das Modell der flexiblen Deutbarkeit verstanden hat. Vgl. Mathias Herweg, „Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik“, in: LiLi 47 (2017), S. 281-302, hier S. 299. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 109 daraus beziehen oder ideales Herrscherverhalten lernen. Dem Erfolg, dem Unterhaltungs- und Lehrwert der Interpretation der Gärtnersfrau und der weitergehenden Übertragung Adelgers tut es hingegen keinen Abbruch, dass sie fiktional im Sinne von kontrafaktisch sind, insofern der Hirsch sehr wohl ein Herz hatte und Adelger und die Rezipierenden das auch wissen. Diese Situationsspezifizität des Erzählens in dieser Episode der Kaiserchronik wurde bereits von Lieb und Müller beobachtet. 5 Die beiden übrigen genannten Merkmale der vorgeführten Interpretationsstrategie --Lückenhaftigkeit und Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation -sind hingegen in der Forschung bisher unkommentiert geblieben. Dies liegt unter anderem daran, dass die gesamte Forschung seit Friedrich Ohlys bahnbrechendem Band Sage und Legende in der Kaiserchronik (1940) diese Episode ausschließlich im Kontext der lateinischen Chronistik betrachtet hat, in der die Geschichte von gegessenen Hirschherzen seit dem siebten Jahrhundert mit einem frühmittelalterlichen bayrischen Herrscher verbunden ist. Eine breitere Perspektive ergibt sich, wenn man die Geschichte von gegessenen Hirschherzen im Kontext der antiken und nicht-europäischen Tierfabelsammlungen sieht, in denen sie ebenfalls weit verbreitet ist. In seiner großen History of the Graeco-Latin Fable postuliert Francisco Adrados, dass die Erzählung auf mesopotamische Quellen zurückgehe und sich in der Antike sowohl eine griechisch-römische als auch eine indische Tradition herausgebildet habe. 6 Dokumentiert ist die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen als eine der eingebetteten Tierfabeln in der mehrfach gerahmten Erzählsammlung Panschatantra, verfasst im dritten oder vierten Jahrhundert auf Sanskrit. Das Panschatantra wurde im achten Jahrhundert unter dem Titel Kalila wa Dimna ins Arabische übersetzt, von dort im dreizehnten Jahrhundert als Directorium vitae humanae ins Lateinische und aus dem Lateinischen im fünfzehnten Jahrhundert unter anderem als Buch der Beispiele ins Deutsche. Aber sowohl die indische als auch die griechisch-römische Tradition müssen laut Adrados das ganze Mittelalter hindurch die verschiedenen europäischen Versionen immer wieder neu beeinflusst haben, wie sich durch das Auftauchen neuer Details aus der indischen Tradition in späteren europäischen Fassungen ergibt. 7 Die altgermanistische Forschung hat diesem postulierten wiederholten Austausch mit der indischen Literatur sowohl im Hinblick auf die Kaiserchronik als auch allgemein wenig Beachtung geschenkt. Heute geschieht dies wohl aus einer engen Definition von Germanistik oder aus Vorsicht bei fehlenden Sprachkenntnissen heraus, ursprünglich aber aus explizit nationalistischen Gründen. Schon Ernst Ludwig Rochholz bemüht sich 1869 in der ersten Ausgabe der erhabenen Zeitschrift für deutsche Philologie mit klar nationalistischer Motivation, die westliche Tradition der Fabel vom gegessenen Hirschherzen als überlegen darzustellen, und kritisiert Jacob Grimm dafür, durch das Anerkennen des indischen Einflusses auf „unser germanisches thiermärchen“ „uns gerade denjenigen theil der nationalen tradition, den wir den ursprünglichsten zu halten bereits so gute Gründe hatten, am meis- 5 Lieb und Müller (wie Anm. 1); ähnlich auch Gesine Mierke, Riskante Ordnungen: Von der ,Kaiserchronik‘ zu Jans von Wien, Berlin 2014 (Deutsche Literatur: Studien und Quellen 18), S. 227-229; Friedrich Ohly, Sage und Legende in der ,Kaiserchronik‘: Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940, 2 1968, S. 144-156. 6 Francisco Rodríguez Adrados, History of the Graeco-Latin Fable, übers. aus dem Spanischen von Leslie A. Ray, 3 Bde, Leiden 1999-2003, bespricht die Erzählung unter dem Titel „The Stag and the Lion“ oder „Leo, cervus et vulpes“: Bd. 1, S. 325 und Bd. 2, S. 598-599. 7 Adrados (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 598-599. 110 Bettina Bildhauer ten [zu] bestreiten“ und „den altgesicherten einheimischen besitz und wohlstand in fremde hände zu spielen“. 8 Transnationales Erzählmaterial wird hier als Eigentum einer Nation reklamiert, das einen bestimmbaren nationalen Ursprung habe, der den rechtmäßigen Besitzer identifiziere. Ohly holt die Adelgerepisode in seiner fundamentalen Studie ganz in diesen „einheimischen Besitz“ zurück, indem er seinen Horizont komplett auf lateinische Versionen aus dem heute als europäisch verstandenen Raum beschränkt. Darüber hinaus erklärt er die „Adelgersage“ in völkischem Ton zu „einem strahlenden Ausdruck bairischen Stolzes und kräftigen Selbstgefühls“, in der „das Bewußtsein stammlicher Eigenart und in Freiheit gewachsener Größe erhöht [wird] durch die Synthese mit der übervolklichen Idee der Verwirklichung des wahren Reiches gegen seinen kaiserlichen Verfälscher […] in einer Situation, wo deutsches Eingreifen für Idee und Bestand des Reiches von entscheidender Bedeutung ist“. 9 Ohly beschreibt die Episode hier als Ausdruck einer primären nationalen deutschen Identität, die außerdem über den deutschen Sprachraum hinaus das „wahre“ Römische Reich sichere. Der historische Kontext des Zweiten Weltkriegs, währenddessen die Studie veröffentlicht wurde, zeigt die nationalistische Motivation noch deutlicher, die die Menschenverachtung der Nicht-Deutschen im Nationalsozialismus legitimiert. Uta Goerlitz hat die haltlose Fehlinterpretation dieser Passage - die sich mit Bayern und nicht mit dem anachronistischen Konzept einer deutschen Nation beschäftigt - in der Forschung des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wie hier bei Ohly bereits 2007 treffend analysiert, aber geändert hat dies an der Forschungsorientierung auf den ‚westlichen‘ Kontext wenig. 10 Für Rochholz war der Unterschied zwischen den von ihm so genannten ‚germanischen‘ und ‚orientalischen‘ Versionen gerade der zwischen allegorischer Interpretation und dem sogenannten Apolog (Erzählung ohne angehängte Auslegung), der verschiedene Interpretationspotentiale offen lässt, wobei er natürlich die ‚germanische‘ Allegorie höher bewertet: „das orientalische [thiermärchen] begnügt sich ein apolog zu werden […] Das abendländische, d. h. germanische, macht jedoch seine apologische Form nur zum dienenden gleichnisse und beiwerke einer daran gebauten epischen erzählung.“ 11 Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass (b) die Kaiserchronik doch dem hier als ‚orientalisch‘ charakterisierten Modell folgt, und nämlich keine Allegorie anbietet, die 1: 1 gleichnishaft übersetzt werden kann, sondern einen offeneren Apolog. Sabine Obermaier hat für die globale Buch der Beispiele-Tradition von Fabelsammlungen eine Erzählweise beobachtet, die nicht nur situationsbezogen ist, sondern auch bewusst Lücken lässt: „Doch sind die Fabeln so angelegt, daß-sie in der Deutung durch den jeweiligen Erzähler nicht immer ganz 8 E[rnst] L[udwig] Rochholz, ‚Das Thiermaerchen vom gegessnen Herzen‘, in: ZfdPh 1 (1869), S. 181- 198, hier S. 181. Jacob Grimm, Reinhart Fuchs, Berlin 1834, hatte die Beziehung zwischen deutschen und ‚fremden‘ Tierfabeln im allgemeinen ebenfalls beobachtet (S. CCLIX-CCLXXXIII), und im Besonderen die Ähnlichkeit zwischen Panschatantra und Kalila wa Dimna und den deutschen Versionen der Erzählung vom Hirschen (S. CCLXXVI, vgl. S. CCLXI-II), aber gerade keinen direkten Einfluss der altindischen oder arabischen Fassung auf die deutsche postuliert, sondern behauptet, dass beide aus einer gemeinsamen griechischen Tradition hervorgehen (S. CCLXXXI). Rochholz’ Kritik richtet sich auf Grimms spätere Revisionen seiner eigenen Thesen. 9 Ohly (wie Anm. 5), S. 156. 10 Uta Goerlitz, Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem ,Annolied‘: Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.-16. Jahrhundert), Berlin 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 45). 11 Rochholz (wie Anm. 8), S. 181. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 111 aufgehen, die Moral, die der jeweilige Erzähler der Fabel gibt, ist nicht die einzige Moral, die die Fabel […] enthält“. 12 In der dominanten ‚westlichen‘ Tradition hingegen geht es bei Fabeln laut Walter Haug gerade um eine Reduktion von Erzählinhalt, der sich dann in seiner Ganzheit auf eine Moral hin interpretieren lassen könne: „Bei der Fabel kann man so gut wie jeden narrativen Überschuß vermeiden. Fügt man gar noch ein Epimythion dazu, wird auch ein Schwanken aus Unverstand ausgeschlossen.“ 13 Dabei müsse man „freilich den Boden der historischen und pseudo-historischen Wirklichkeit verlassen und sich in den Bereich der Fiktion begeben“, in der „Figuren zu bloßen Trägern einsinniger Eigenschaften und Verhaltensformen“ werden könnten. 14 Erst Boccaccios Dekameron mache nach Haug die bewusste Lückenhaftigkeit der Interpretation und den gewollten Erzählüberschuss im Panschatantra-Stil für die ‚europäische‘ Literatur wirklich fruchtbar. Allerdings zeigt durchaus auch schon die Severus-und-Adelger-Episode eine frühe Adaption der nicht auf vollständige Interpretation zielenden Anlage der Panschatantra-Tradition. Dies wird klargemacht dadurch, dass auffallend viele Elemente der Geschichte ohne Auslegung bleiben - in der Interpretation Adelgers zum Beispiel die Rolle des Fuchses oder der Gärtnersfrau selbst -, während eine ideale Fabel 1: 1 in ihrer Interpretation aufginge. Vor allem aber zeigt der Kontrast zwischen den beiden Interpretationen der Gärtnersfrau und der Adelgers, dass dasselbe Geschehen ganz verschiedenen, aber gleich erfolgreich ausgelegt werden kann. Als eng verwandtes drittes Merkmal des Erzählstils der Fabelsammlung neben situationsspezifischen und offenen Interpretationsoptionen beobachtet Obermaier, dass (c) die Interpretation hier teilweise allegorisch, teilweise wörtlich vorgehen sollte: „Falsch lesen […] heißt also nicht einfach nur das Geschriebene wörtlich zu nehmen, sondern auch: nicht zu erkennen, wann ein Text wörtlich und wann ein Text im übertragenen Sinne zu verstehen ist.“ 15 Obwohl Obermaier sich auf ganze Episoden bezieht, gilt dies auch für einzelne Elemente in der Severus-und-Adelger-Episode der Kaiserchronik, besonders für das Netz und das fehlende Herz, an denen in die Auslegungen ansetzen und an denen sich das Problem der Bedeutungsherstellung und -übertragung kristallisiert. In der Interpretation der Gärtnersfrau steht das fehlende Herz implizit abstrahierend für fehlendes Lernvermögen, aber alle anderen Elemente der Erzählung - Hirsch, Gärtner, Garten, Netze - bleiben wörtlich unübertragen. Adelger benutzt hingegen eine primär figurative Lesart: er bezieht explizit den Hirschen auf sich, den Gärtner auf Severus, den Garten mit seinen Stiegen auf Rom mit seinen Toren, und implizit den abgeschnittenen Schwanz und die Ohren des Hirschs auf seine eigenen von Severus abgeschnittenen Kleider und Haare. Das Netz und das fehlende Herz bleiben jedoch in seiner Interpretation unaufgelöste, aber leicht verständliche tote Metaphern für eine Falle bzw. für fehlendes Lernvermögen; man könnte sogar von Metonymien sprechen, vom Materiellen als pars-pro-toto für das Abstrakte: vom Herzen als pars-pro-toto für das Erinnerungsvermögen, und vom Netz als pars-pro-toto für 12 Sabine Obermaier, „Verborgener und offenbarer Sinn: Das Buch der Beispiele und die mittelalterliche Hermeneutik“, in: Vox sermo res: Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit: Festschrift Uwe Ruberg, hg. von Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber und Rudolf Voß, Stuttgart 2001, S. 45-60, hier S. 55; siehe auch ähnlich Sabine Obermaier, Das Fabelbuch als Rahmenerzählung: Intertextualität und Intratextualität als Wege zur Interpretation des ,Buchs der Beispiele der alten Weisen Antons von Pforr‘, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 48). 13 Walter Haug, „Vom Panchatantra zum Decameron“, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 264-287, hier S. 267. 14 Haug (wie Anm. 13), S. 267. 15 Obermaier, „Verborgener und offenbarer Sinn“ (wie Anm. 12), S. 52. 112 Bettina Bildhauer Fallen. Im Falle des durchlöcherten Bauchs des Hirschs werden ebenfalls unaufgelöste und übertragene Interpretation kombiniert: der durchlöcherte Bauch bleibt eine nicht weiter erklärte tote Metapher oder Metonymie für den Tod; der Hirsch selber aber wird figurativ gelesen, diesmal nicht für Adelger, sondern für die Römer stehend. Der Bote kann mit der Geschichte hingegen nichts anfangen, da er alles nur wörtlich nimmt. Diese Erzählstrategie - situationsspezifisch; Leerstellen lassend, teilweise wörtlich, teilweise metaphorisch interpretierbar - ist zusammengefasst mit Obermaier „eine Erziehung zum kritischen, situationsbezogenen Denken, eine ‚Einübung in Flexibilität‘“. 16 Dabei zitiert Obermaier wieder Haug, der diese „Einübung in Flexibilität“ Exempelsammlungen wie dem Panschatantra zuschreibt und mit der Funktionsweise der im Mittelhochdeutschen verbreiteten Fabeln kontrastiert. 17 Der Widerspruch, dem sich exemplarisches Erzählen laut Haug zu stellen hat, ist, dass eine Erzählung nur dann exemplarischen Charakter beanspruchen kann, wenn sie uneindeutig auf eine Lehre reduzierbar ist, dass sie aber dadurch ihren Charakter als historisch-faktischen Einzelfall aufgeben muss und damit die „Autorität des Historisch-Faktischen“ verliert. Die Geschichte vom Hirschherzen in der Severus-und-Adelger-Episode besteht aber gerade darauf, sowohl historisches Geschehen wiederzugeben als auch exemplarisch verwendbar zu sein, und sich somit eben nicht auf ein eindeutiges Exemplum reduzieren zu lassen. Dieses narrative Modell funktioniert wohl nicht für die gesamte Kaiserchronik, mit ihrer von Mathias Herweg überzeugend beschriebenen Experimentierfreudigkeit mit verschiedenen Gattungs- und Erzählvorbildern. 18 Dennoch könnte man alle anderen Erzählstrategien wie Typologie (Ohly), Topologie (Udo Friedrich) oder Struktur als Bedeutungsträger (Markus Stock, Karl Stackmann, Tibor Pésza) letztlich als Teil dieser Offenheit des Panschatantra-Modells interpretieren, der verschiedene Erzähl- und Interpretationsstrategien nebeneinander vorführt. 19 Es ist wohl kein Zufall, dass die lückenhaften Interpretationen sowohl Adelgers als auch der Gärtnersfrau beim Netz mit seinen vielen leeren Maschen beziehungsweise der Leerstelle des fehlenden Herzens ansetzen (der durchlöcherte Bauch mag auch zu diesen Leerstellen gehören). Netze werden in der mittelhochdeutschen Literatur, wie Christina Lechtermann gezeigt hat, überraschend oft als unsichtbar oder durchsichtig dargestellt, was ihren Maschencharakter betont, obschon sie gleichzeitig für den Tastsinn überdimensional präsent sein können, zumal für die in ihnen gefangenen Tiere oder Menschen. 20 Hartmut Böhme hat diese Kombination von festen Strängen, die die Beute halten können, und von 16 Obermaier‚ „Verborgener und offenbarer Sinn“ (wie Anm. 12), S. 58. 17 Haug (wie Anm. 13), hier S. 273. 18 Herweg (wie Anm. 4). 19 Ohly (wie Anm. 5); Udo Friedrich, „Topik und Narration: zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik“, in: Poetica 47 (2015), S. 1-24; Markus Stock, Kombinationssinn: narrative Strukturexperimente im ,Straßburger Alexander‘, im ,Herzog Ernst B‘ und im ,König Rother‘, Tübingen 2002 (MTU 123); Karl Stackmann, „Erzählstrategie und Sinnvermittlung in der deutschen Kaiserchronik“, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse, hg. von Wolfgang Raible, Tübingen 1990 (ScriptOralia 13), S. 63-82, wieder in dems., Kleine Schriften, Göttingen 1997, Bd. 1, S. 51-69; Tibor F. Pézsa, Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ,Kaiserchronik‘, Frankfurt a. M. 1993 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1378). 20 Christina Lechtermann, ‚Vulkans Waffe‘, in: Netzstrukturen: Zur Kulturgeschichte sprachlicher, visueller und technischer Netze, Online-Veröffentlichung 2006 in: Perspicuitas: Internet-Periodicum für mediävistische Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft, http: / / www.perspicuitas.uni-essen.de/ sammelbd/ netzstrukt/ lechtermann_vulkan.pdf; 14 S., keine Seitenzahlen. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 113 als weniger materiell verstandenen Zwischenräumen zwischen den Stegen, die das Netz für die Beute unsichtbar machen, als wesentlich für das Funktionieren von Jagd- und Fangnetzen beschrieben. 21 Die lückenhafte, nicht alles erklärende Interpretation wird somit hier durch als lückenhaft verstandene Gegenstände angeregt. Netze erscheinen in der Panschatantra-Tradition noch öfter in Passagen, die sich für eine ähnlich situationsspezifische, lückenhafte und teilweise wörtliche, teilweise übertragene Lesart anbieten. 22 In einigen Versionen von Kalila und Dimna wird der Interpretationsprozess sogar explizit mit dem Auswerfen von Netzen verglichen. In einem dem arabischen Übersetzer aus dem Sanskrit, Ibn Al-Moqafa, zugeschriebenem Vorwort der Sammlung heißt es: Ein ähnliches Maß an nüchterner Reflektion ist für den Leser dieses Buches unerlässlich, wenn er es nicht dem Fischer gleichtun möchte, der eines Tages beim Fischfang in einem Fluss eine Muschel auf dem Grund erblickte und sein Netz ins Wasser warf, um sie herauszuholen, darin aber scheiterte und statt dessen einen Fisch fing. Obwohl der Fisch groß genug war, um ihn an diesem Tag zu ernähren, hielt er ihn nicht für bewahrenswert, und sprang in den Fluss, um die Muschel zu erlangen, und als er sie herausgeholt hatte, fand er sie leer und bedauerte, dass er durch seine Gier einen sicheren Vorteil verloren hatte. Am nächsten Tag kehrte er zum selben Fluss zurück, warf sein Netz hinein und fing einen kleinen Fisch. Gleichzeitig bemerkte er eine andere Muschel, beachtete sie aber nicht, da er fürchtete, genauso enttäuscht zu werden wie am vorhergehenden Tag. Aber ein Fischer kam zufällig vorbei und holte die Muschel, von ihrer Schönheit beeindruckt, aus dem Wasser und fand darin eine Perle von großem Wert. Genauso belohnt ein ebenso großer Schatz die Bemühungen desjenigen, deren Erkenntnis tiefer geht als die des Lesers, der sich mit der oberflächlichen Durchsicht dieses Buches begnügt. 23 21 Vgl. Hartmut Böhme, „Einführung: Netzwerke: Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in Netzwerke: Eine Kulturtechnik der Moderne, hg. von Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme and Jeanne Riou, Köln 2004 (Literatur - Kultur --Geschlecht Große Reihe 29), S. 17-36, hier S. 22. 22 Netze kommen in der Kaiserchronik noch einmal vor, in der Crescentia-Episode im Zusammenhang sowohl mit Petrus als auch mit dem Fischen eines ertrinkenden Menschen mit Hilfe eines Netzes, wobei die eindeutige etablierte allegorische Interpretation von Petrus als Menschenfischer gerade wieder verweigert wird. In anderen Versionen der Geschichte vom gegessenen Hirschherzen ist die Assoziation von Netz und Narrativ noch weiter in den Hintergrund gerückt, insofern die meisten Varianten in Fabelsammlungen ohne die Netze des Gärtners auskommen, aber teilweise andere netzartige Strukturen einflechten, zum Beispiel Käfige oder in einen Fluss getauchte Gewebe. Für eine ausführliche Besprechung von Netzen in der mittelhochdeutschen Literatur, siehe Bettina Bildhauer, Medieval Things: Materiality, Agency and Narratives of Objects in Medieval German Literature and Beyond, Columbus, Oh. 2020 (Interventions: New Studies in Medieval Culture). 23 Diese Passage findet sich nicht in der allgemein als die beste Übersetzung in eine europäische Sprache geltenden französischen Übersetzung von André Miquel, daher habe ich die englische Übersetzung in The Fables of Bidpa’i (the Indian Aesop): A New and Modern Translation, trans. M. A. Mostafa, Cairo 1948, S. 46, die keine genaue arabische Quelle angibt, ins Deutsche übersetzt: „Now a similar degree of sober reflection is essential for the reader of this book, if he would avoid the fate of the fisherman, who while trying to catch fish one day in a river, saw a shell at the bottom of the water and threw in his net to draw it out, but failed in his attempt and caught a fish instead. Although the fish was sufficiently large to serve him for food during that day, he did not think that it was worth keeping, so he jumped into the river to obtain the shell; and having brought it out, he found that it was empty, and regretted that by his own greed [he] had lost a certain benefit. on [sic] the following day he came back to the same river and throwing in his net, be [sic] took a small fish. At the same time he noticed another shell, but paid no attention to it, fearing that he should be disappointed as on the preceding day. Bnt [sic] a fisherman happened to pass by and being attracted by the beauty of the shell, took it out of the water and found in it a pearl of great value. In the same manner as great a treasure awaits the endeavours of the person whose insight penetrates deeper than the reader who is merely satisfied 114 Bettina Bildhauer Trotz der Ansage, dass hier ein Vergleich zum Leseprozess geboten werden soll, wird nur ein Element dieser vielteiligen Geschichte tatsächlich in dieser Weise ausgelegt, nämlich die Tatsache, dass am zweiten Tag der erste Fischer eine perlenhaltige Muschel ignoriert. Dies wird so gelesen, dass man sich mit den Erzählungen intensiv beschäftigen und nicht nach einem einzigen vergeblichen Interpretationsversuch aufgeben soll. Die Lehre des ersten Tages, an dem der Fischer den kleinen Fisch wegen einer leeren Muschel verliert, wird hingegen formuliert als Verlust eines sicheren Vorteils durch Gier, das heißt, „lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“. Wenn man das auf die Rezeption bezöge, im Sinne eines Sich-Begnügens mit einer geringen Erkenntnis, widerspräche dies aber gerade der soeben explizit ausgesprochenen Anregung zum intensiven Auseinandersetzen mit dem Text. Auch die nicht weiter ausgelegte Erfahrung des zweiten Fischers am zweiten Tag, der sofort eine Perle findet, widerspräche der Auslegung, dass immer viel Mühe beim Fischen oder Lesen nötig sei. Es bleibt also viel Raum für kontrastierende individuelle Lesarten, wie es der situationsspezifischen und bewusst lückenhaften Interpretationsmethode dieser Tradition entspricht. Wieder wird dies wie beim fehlenden Herzen und dem Netz mit dem Bild einer doppelten Leerstelle ausgedrückt: mit der leeren Muschel und dem Netz mit seinen leeren Maschen. Ohne dass dies der Forschung bisher aufgefallen wäre, verknüpfen neben der Kaiserchronik und Kalila und Dimna eine ganze Reihe von mittelalterlichen Erzählungen das Auslegen von Netzen mit dem Auslegen von Geschichten, oder aber das Herstellen von Netzen mit dem Erzählen von Geschichten, und verbinden dies teilweise mit der antiken lateinischen Text-als-Textil-Metaphorik. Meist geschieht dies wie in der Kaiserchronik implizit, zum Beispiel durch Verbinden des Netzmotivs mit Erzählerkommentaren und/ oder auf der Handlungsebene mit Erzähl- und Schreibprozessen. Im Mittelhochdeutschen bietet der Jüngere Titurel ein explizites Beispiel für solch einen Vergleich zwischen Narrativ und Netz. In einem metanarrativen Kommentar vergleicht die Autorfigur sowohl die Interpretation seiner Dichtung als auch die glänzenden Rüstungen und Waffen eines Turniers mit Netzen: Der niwen schilte blicke und der zimier wunder waehe, netze, kloben, stricke, ich wen, ie man uf erde so vil gesehe, da mit diu herzen vreude kunnen vahen. swer da niht vreuden ruochte, der wolt ouch vreude nimmer me genahen. Seil, reifen, borten, riemen, strick, netz, ich wilz verburgen, die maht darumbe niemen, daz di liut sich selben dran erwurgen, noch sper, noch swert. niht wan der werlt ze guote mit lieden Titurelles ich, Wolfram, niht wan ouch des selben muote. 24 (‚Der Anblick der neuen Schilde und des wunderbar glänzenden Helmschmucks: Netze, Fesseln, Stricke. Ich glaube, wenn man auf Erden soviel davon sieht, können die Herzen damit Freude fangen. Wer da nicht an Freude dachte, der kam der Freude auch später nicht näher. with the superficial perusal of this book.“ Mostafas Übersetzung entspricht weitgehend Wyndham Knatchbulls englischer Übersetzung Kalila and Dimna or the Fables of Bidpai, Oxford 1819, S. 62-63, die auf der arabischen Ausgabe von Silvestre de Sacy, Calila e Dimna, ou Fables de Bidpai, en arabe, Paris 1816, beruht. 24 Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel, hg. von Werner Wolf und Kurt Nyholm, 6 Bde, Berlin 1955-1995 (Deutsche Texte des Mittelalters 45/ 55/ 61/ 73/ 77/ 79), Bd. 2, St. 1988-1988 A. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 115 Seile, Stricke, Bänder, Riemen, Fesseln, Netze - ich bezeuge es: die stellt niemand her, damit sich die Leute selber damit erwürgen - auch Speer und Schwert nicht. Nichts als zum Wohl der Welt auch ich Wolfram, mit dem Lied Titurels, nichts als in derselben Absicht.‘) Netze fungieren hier als Fangwerkzeuge, die dreifach metaphorisch übertragen werden, ohne dabei eindeutig festgelegt zu werden: zunächst auf die visuelle Faszination der Schilde und Helme als Blick-fang (der Anblick und Glanz der Schilde und Helme ist ein Netz, vermutlich für die Augen oder für Blicke), dann auf das „Einfangen“ von Freude, d. h. das Genießen der Hochstimmung beim Turnier (Herzen könnten mit den Netzen der glanzvollen Ausstattung Freude einfangen), dann auf die Attraktivität von Fiktion (das Lied ist genau wie ein Netz dazu gemacht, die Rezipierenden einzufangen, aber sie nicht zu erwürgen). Hier wird nicht so sehr die Lückenhaftigkeit des Netzes betont (obschon Sichtbarkeit eine Rolle spielt), sondern seine Gefährlichkeit. Wie viele Netze in der mittelhochdeutschen Literatur sind die Netze im Jüngeren Titurel Fallen, die für das eingefangene Tier, den eingefangenen Menschen oder Gott oft lebensgefährlich oder gar tödlich sind, und die Machtkämpfe eindeutig entscheiden, wobei unsere Sympathien auf Seite des Fängers oder des Gefangenen liegen können. Dies wirft ein interessantes Zwielicht auf den Erzähl- und Rezeptionsprozess, der hier als extrem machtvoll und potentiell gefährlich erscheint. Auch die Beschreibung des Netzes als löchriges Maschenwerk, als Kombination von Öffnung und Steg, von Loch und Seil, von unsichtbarem und nicht-greifbarem Zwischenraum, und sicht- und greifbarer Faser, die in der Kaiserchronik anklingt, wird als Metaphern für den Erzählprozess fruchtbar gemacht. Vulkanus’ aus Silber und Stahl geschmiedetes Netz, in dem er seine Frau Venus zusammen mit ihrem Geliebten Mars im Bett fängt, ist zum Beispiel in Heinrichs von Veldecke Eneasroman fast unsichtbar: Dô meisterde Volcân ein netze sô getân, als ich û sagen mach, daz manz kûme gesach, sô cleine wârn die drâte. 25 Gleichzeitig wird die Festigkeit und Materialität seiner metallenen Stege dadurch betont, dass sich selbst die Götter Mars und Venus bei aller Anstrengung nicht daraus befreien können. Der Einschub des Erzählerkommentars „wie ich euch sagen kann“ an genau der Stelle, an der die Gemachtheit des Netzes erwähnt wird, weist vielleicht darauf hin, dass dieses Netz letztlich aus Worten hergestellt ist. In Strickers Daniel von dem blühenden Tal werden die Merkmale eingeschränkte Sichtbarkeit und übertriebene Greifbarkeit in einem Zaubernetz ins Extrem getrieben, in dem Sandinose Daniel beim Eintreten in das Bergreich von der Grünen Aue fängt, was in der Forschung als Metapher für den Erzählprozess verstanden wurde: Dâ stuont ein kleinez netze vor, daz was mit listen sô gemacht, ez waere tac oder naht, daz ez nieman ensach. […] 25 Heinrich von Veldeke, Eneasroman: Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg. von Ludwig Ettmüller, übers. von Dieter Kartschoke, Stuttgart 2014 (RUB 8303), Z. 5635-5639. Daniel quam an die stat: dô er in daz netze getrat, owê! Wie sere er dô erschrac! er viel nider unde lac und was in kurzen stunden sô sêre mite gebunden daz er niht triuwete genesen. er wolde vil gewis wesen daz in der tîfel hebete. mit der hant er strebete, und wolde sich gesegnet hân. daz muoste er under wegen lân. er mochte einen vinger nicht geregen, er mohte niht mê gewegen wan diu ougen und die zungen, dô er sô wart betwungen. 26 Dieses Netz ist vollständig unsichtbar, während seine materielle Greifbarkeit durch Daniels totale Verwickelung und Lähmung überbetont wird. Beides ist nicht nur rhetorische Übertreibung, sondern magisch erzeugte Wirklichkeit. Nachdem Daniel Sandinose seine Hilfe zugesichert hat, befreit sie ihn aus dem Netz und erzählt ihm die Vorgeschichte des Netzes, das jedes Tier fangen und von keinem Schwert zerschnitten werden kann: Eine Meerjungfrau schenkte es ihrem Vater, dem König von der Grünen Aue, zusammen mit einer Salbe, mit deren Hilfe man im Dunkeln sehen und neben feinsten Haaren auch das unsichtbare Netz sehen kann. Das scheinbar unsichtbare Netz stellt sich somit zumindest in der eingebetteten Erzählung doch wieder als tragbarer, schenkbarer und für Sandinose sichtbarer Gegenstand heraus. Die Betonung zunächst von Unsichtbarkeit, dann Widerstand gegen Entkommensversuche von innen und schließlich von Trag- und Tauschbarkeit des Netzes wiederholt sich im weiteren Handlungsverlauf noch einmal, als der Zwerg, der Artus und Parzival entführt hat, im Netz gefangen wird und wieder dessen Unsichtbarkeit und das Einschnüren des Gefangenen, der wie ein Fisch zappelt, eindrücklich dargestellt wird, bevor Sandinose und Daniel den Zwerg befreien und ihm das Netz im Tausch gegen Artus und Parzival übergeben. Sowohl Matthias Meyer als auch Hartmut Bleumer interpretieren das Netz im Daniel --in Zusammenhang mit Strickers Namen und der Tatsache, dass Daniel dem gefangenen Zwerg eine neue Version der vorhergehenden Ereignisse erzählt --als ein Modell für Erzählung. 27 Das Netz, das Daniel gefangen nimmt, stehe dabei metaphorisch für den einnehmenden Text. Bleumer bringt darüber hinaus die Unsichtbarkeit des Netzes mit der des Textes zu- 26 Der Stricker, Daniel von dem blühenden Tal, hg. von Michael Resler, Tübingen 2 1995 (Altdeutsche Textbibliothek 92), Z. 4128-4160. 27 Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion: Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Germanisch- Romanische Monatsschrift. Beiheft 12), hier S. 55-56; Hartmut Bleumer, „Im Netz des- Strickers: Immersion und Narration im Daniel von dem Blühenden Tal“, in: Wie gebannt: Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, hg. von Martin Baisch, Andreas Degen und Jana Ludtke, Freiburg 2013 (Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae 191), S. 179-210, hier S. 203-205. 116 Bettina Bildhauer Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 117 sammen, der gehört statt gesehen werden sollte, um die Einbildungskraft anzuregen. 28 In diesem Zusammenhang könnte die Stille, die Daniels an den im Netz gefangenen Zwerg gerichtete Wiedererzählung der vorhergehenden Ereignisse vorhergeht, und die Bleumer als notwendigen „Freiraum“ betont, mit den freien Stellen im Netz in Verbindung gebracht werden. 29 Wie das Netz feste Stricke und Lücken benötigt, so benötigt gesprochene Sprache Stille zwischen den Lauten, um zu funktionieren. Damit greift Bleumer zwei verschiedene Merkmale des Netzes auf, um sie auf den Erzählprozess zu beziehen: seine fesselnde, bannende Natur und seine Unsichtbarkeit. Wie die anderen leeren Dinge in der Severusund-Adelger-Episode und in Kalila und Dimna könnte Daniels Netz darüber hinaus auch allgemein für den Mut zur Lücke in der Interpretation stehen. Ganz im Sinne des offenen Erzähl- und Interpretationsmodells der Panschatantra-Tradition ist das Netz also auch im Daniel ein fruchtbares und vielschichtiges Bild für den Erzählprozess. Weitere Aufmerksamkeit für Netze in der mittelalterlichen Literatur aller Sprachen würde sicher noch viele andere Verwendungsmöglichkeiten aufdecken. 28 Bleumer (wie Anm. 27), S. 204-205. 29 Bleumer (wie Anm. 27), S. 203. Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik 119 Strategien heilsgeschichtlichen Erzählens in der Volkssprache Am Anfang - der Kuss 121 Am Anfang - der Kuss Erzählen vom Ereignishaften in der Erlösung Christina Lechtermann Geschichte wird, bevor sie in Strukturen beschrieben wird, in Ereignissen erzählt. Auch auf vormoderne volkssprachige Geschichtserzählungen trifft dies, wo sie nicht reine Sukzessionslisten sind, in einem sehr grundsätzlichen Sinne zu. Solche Geschichtserzählungen berichten dabei auch von Geschehnissen, deren Bedeutung, Effekt und Reichweite sie als exzeptionell abhebt. Auf einen entsprechenden Begriff bringen können sie dies jedoch nicht, denn lexikalisch ist das ‚Ereignis‘ als Abstraktum im mittelhochdeutschen Erzählen nicht greifbar: In den einschlägigen Wörterbüchern ist zwar das Verb erougen/ eröugen (,vor Augen stellen‘, ,zeigen‘) belegt, ein zugehöriges Substantiv scheint jedoch, anders als im Althochdeutschen (ar-/ ir-ougnessi) nicht existiert zu haben. Ein emphatischer Ereignis-Begriff, mit seiner spezifischen Verschränkung von Vorfall, Zäsur, Unerwartbarkeit und Plötzlichkeit, ist nach Ausweis etymologischer Wörterbücher ein Produkt des 18. Jahrhunderts. 1 Differenzieren mittelhochdeutsche Texte zwischen dem ‚Gewicht‘ von Geschehensformen, ihrer Reichweite, Geltung, Wirkung, Erwartbarkeit und Plötzlichkeit, finden sie dafür in unterschiedlichen Zusammenhängen und Textsorten je eigene, aber auch gattungsübergreifend verwendete Begriffe (z. B. aventiure, dinc, geschiht, sache, wunder), verbinden diese mit adjektivischen Fügungen oder akzentuieren ihre zeitliche Logik, etwa - wie Klaus Grubmüller gezeigt hat - das dynamische Moment des erzählten Augenblicks durch die in der Volkssprache gegebene etymologische Nähe zum ‚Blitz‘. 2 Ich möchte im Folgenden am Beispiel der Erlösung zeigen, wie ein vormoderner Text die Exzeptionalität heilsgeschicht- 1 arougnessi/ irougnessi (,Auftreten‘, ,Erscheinung‘, ,öffentliches Auftreten‘); vgl. Gerhard Köbler, Althochdeutsches Wörterbuch, Paderborn 1993, S. 620; Eberhard Gottlieb Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache, 7 Bde., Berlin 1834-1843, Bd. 1, 1834, S. 126; Beleg: ther kneht uuvohs Inti uuard gistrengisot geiste. Inti uuas In uuvostinnu unzan then tag sinero arougnessi zi israhel, […]. (Achim Masser (Hg.), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56 (Studien zum Althochdeutschen 25), Göttingen 1994, S. 79). Vgl. zur Wortgeschichte Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 24 2002, S. 253, sowie Trübners Deutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Wortforschung hg. von Alfred Götze, Berlin 1940, Bd. 2, S. 217f.: „Das Subst. Ereignis N. war schon ahd. als araucnissa, arougnessi F. ‚das Sichzeigen‘ vorhanden […] (lat. ostensionis). Mhd. ist es aber nicht mehr bezeugt, und als sich in neuerer Zeit das Bedürfnis nach einem Subst. einstellte bildete man in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Ereignung (Eräugenung, Ereugenung).“ ‚Ereignis‘ wird 1774 von Klopstock neu geschaffen, vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 3, Sp. 785. 2 Klaus Grubmüller, „Augenblick. Zur Zeitlichkeit von Sehen und Erkennen“, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 35-46; vgl. für die aventiure: Klaus- Peter Wegera, „mich enhabe diu âventiure betrogen. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von 122 Christina Lechtermann lichen Geschehens thematisiert, wie Ereignisse erzählt werden, bevor ein begrifflich abstrahierbares Konzept das Ereignis konstituiert. I Erzählen und Ereignis Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entsteht, vermutlich im rheinfränkischen Raum, ein verspaariger Text, der seit seiner ersten Ausgabe durch Karl Bartsch im Jahr 1858 den Titel Die Erlösung trägt. 3 Auf dem alten Einband einer seiner Handschriften ist er als Geschichte der Welt ausgewiesen: Von der beschaffung diser werlt bis auf das jungst gericht gereymt. 4 Der Text erzählt nach einem strophischen Prolog sehr knapp von der Erschaffung des Menschen und dem Sündenfall, ehe sich mit dem sogenannten ‚Streit der Töchter Gottes‘ eine ausführlichere allegorische Gerichtsszene über die Erlösungsfähigkeit des gefallenen Menschen anschließt. Dem Urteilsspruch folgt eine Prophetenreihe, die einzelne Prophezeiungen, z. T. unter Einbezug kurzer lateinischer Zitate, präsentiert. Mit der Verkündigung an Zacharias und Elisabeth beginnt der dritte und längste Abschnitt. Er bietet ein Leben-Jesu/ Marienleben, das sich über ausgewählte Stationen bis zur Himmelfahrt Marias erstreckt. Im letzten Abschnitt wird - wieder deutlich gerafft - von der Geburt des Antichrists, von Enoch und Elias, den Prophetien und Vorzeichen sowie dem Vollzug des Weltgerichts berichtet. Sünden- und Gnadenkataloge sowie ein Gebet schließen den Text ab. Die Erlösung wird von der Forschung wie folgt charakterisiert: Ursula Henning spricht von einem „(h)eilsgeschichtliche(n) Epos“ und liest den Text als Überschau von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht. 5 Ferdinand Urbanek bezeichnet ihn als heilsgeschichtliches „Bibelepos“. 6 Elke Ukena-Best beschreibt ihn in Synthese vorausgehender Zuordnungsversuche als „Heilsgeschichte und Christus-‚Biographie‘ in der Tradition höfischer Bibelepik“ und liest ihn als dreigeteilt, wobei einer ‚Epoche der Vorausdeutung‘, die ‚Epoche der Erfüllung‘ und die ‚Epoche der Zukunft‘ folge. 7 Jens Haustein betont die „theologische âventiure im Mittelhochdeutschen“, in: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag, hg. von Vilmos Ágel u. a., Tübingen 2002, S. 229-244. 3 Die Erlösung mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen, hg. von Karl Bartsch, Quedlinburg/ Leipzig: 1858 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur, Abt. 1, 37) [Nachdruck Amsterdam 1966]. Der Herausgeber verweist dabei auf die heilsgeschichtliche Dimension des Textes und betont: „genauer wäre ‚sündenfall und erlösung‘“ (S. II). Friedrich Maurer, der die bis heute verwendete Ausgabe besorgt hat, sieht das Werk angemessener mit ‚Christus der Erlöser‘ betitelt: Die Erlösung. Eine geistliche Dichtung des 14. Jahrhunderts. Auf Grund der sämtlichen Handschriften zum erstenmal kritisch hg. von Friedrich Maurer, Leipzig 1934 [Nachdruck Darmstadt 1964], S. 7. 4 Es handelt sich um die Handschrift N (Nürnberg, Stadtbibliothek, Solg. Ms. 15.2°, um 1465). Ihrem alten Einband ist ein heute beschädigtes Pergamentblättchen aufgeklebt, das den Inhalt entsprechend skizziert. Vgl. Karin Schneider, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Beschreibung des Buchschmucks: Heinz Zirnbauer, Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg 1), S. 471-475, und Abb. 19-22, S. 471. 5 Vgl. Ursula Hennig, „‚Erlösung‘“, in: 2 VL, Bd. 2, Berlin/ New York 1980, Sp. 599-602 (Zitat Sp. 599), sowie 2 VL, Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 416f., und Helmut de Boor, Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3/ 1: Das späte Mittelalter, Zerfall und Neubeginn, 5. Auflage. Neubearbeitet von Johannes Janota, München 1997, S. 330-333. 6 Ferdinand Urbanek, „Die Tribunalszene in der Erlösung als Beispiel rhetorischer Textsublimierung“, in: Euphorion 71 (1980), S. 287-311, hier S. 290f.: „Heilsgeschichte wird hier als spannendes Epos chronologisch genau im ordo naturalis entfaltet und in kunstvoll einfacher Berichtsform gegenwartsnah erzählt.“ 7 Elke Ukena-Best, „Die Erlösung. Heilsgeschichte und Christus-‚Biographie‘ in der Tradition höfischer Bibelepik“, in: Vergessene Texte des Mittelalters, hg. von Nathanael Busch und Björn Reich, Stuttgart Am Anfang - der Kuss 123 Denkform“ der Typologie. Diese sei vom Verfasser der Erlösung literarisch gestaltet worden und der Text sei insgesamt konstituiert „als Abfolge von Ereignissen, die mit anderen, vor- oder zurückliegenden, im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen“, wobei das Geschehen immer wieder „nur in seiner Prophezeiung“ präsent gehalten wird, ohne als solches auch erzählt zu werden. 8 Aleksandra Prica untersucht die Erlösung vor allem mit Blick auf den „Konflikt zwischen Anpassung und Verselbständigung, der angesichts jeder Thematisierung der Heilsgeschichte“ in (abgrenzender) Bezugnahme auf höfische Dichtung und als „Konflikt zwischen Poetik und Exegese“ zu beobachten sei. 9 Dieser sei hier derart komplex inszeniert, „dass sich in ihm die Dialektik poetischer und exegetischer Dynamiken ebenso ausdrückt wie ein neuartiges dichterisches Selbstbewusstsein“. 10 Ausgangspunkte dieser Lektüre sind einerseits der Prolog (V. 1-104), andererseits der erzählerische Exkurs (V. 853-951), der am Ende der allegorischen Gerichtsszene inseriert wird. 11 Beide Stellen werden dazu nicht primär auf das erzählte Heilsereignis, sondern auf das Erzählen selbst hin gedeutet: „Das eigentliche Wunder, dem in der Vorrede buchstäblich das Wort geredet wird, wären dann nicht etwa die von Maurer nachdrücklich als Hauptinteressen des Dichters hervorgehobenen Ereignisse um Inkarnation und Erlösung, sondern vielmehr das Ereignis der Werkgenese.“ 12 Diese Lektüre stellt sich - wenngleich aus anderem Blickwinkel - ebenso wie Hausteins Beitrag dem Diktum Haugs entgegen, die Erlösung rekurriere lediglich formal auf den höfischen Roman, ginge dabei jedoch hinter seine Errungenschaften zurück, indem sie „die Verbindlichkeit des epischen Geschehens […] letztlich jenseits der ästhetischen Sphäre und ihres spezifischen Risikos“ im Rückgang auf eine „Objektivität der Heilsgeschichte“ suche. 13 Angeschlossen wird dazu an ein Konzept von Ereignis, das sich auf die Erscheinungsform des Mediums bezieht und es erlaubt, Ereignis „in Kategorien der Verwiesenheit und des Medialisiertseins zu begreifen“, um so den Ereignisbegriff für die Analyse von heilsgeschichtlichem Erzählen „von der Fixierung auf die Inkarnation“ und damit auf eine unerreichbare Einzigartigkeit zu entlasten. 14 Die so ermöglichte Lektüre trägt 2014, S. 61-77, S. 64; vgl. ebd., S. 63: „Der Dichter erfasst die heilgeschichtliche Totalität, perspektiviert aber alles Dargestellte auf Christus […], der in der Heilsgeschichte durchgehend präsent ist.“ 8 Jens Haustein, „Die Höllenfahrtsszene in der Erlösung. Zur Umsetzung typologischer Geschichtsauffassung in literarische Struktur“, in: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Christa Baufeld, Göppingen 1994 (GAG 603), S. 77-90, hier S. 85f. 9 Aleksandra Prica, Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 8), S. 241f. 10 Ebd., S. 243. 11 Dem Prolog komme dabei im Sinne einer „Rezeptionsanleitung“ eine besondere Bedeutung zu, insofern er als „Ort der Ereignishaftigkeit“ zu gelten habe, „welche sich in der Erlösung über den Entwurf des poetologischen Programms konstituiert und das Ereignis dichterischer Selbstermächtigung auf den Weg“ bringe (ebd.). Darüber hinaus würde der Exkurs das Ringen um Textgeltung im Sinne fortgesetzter aber letztlich nicht für die Heilsgeschichte insgesamt einlösbarer Zeugenschaft in einer Weise perspektivieren, die gerade dort, wo sich eine Kontinuitätsbehauptung nicht plausibilisieren lässt, das Potenzial der Dichtung aufscheinen lasse (ebd., S. 269-271). 12 Ebd., S. 243. 13 Walter Haug, „Die Sybille und Vergil in der Erlösung. Zum heilsgeschichtlichen Programm der Erlösung und zu ihrer Position in der literarhistorischen Wende vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter“, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. von Hans U. Gumbrecht, Heidelberg 1980 (Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Begleitreihe 1), S. 71-94, hier S. 89; vgl. auch Haustein (wie Anm. 8), S. 83-85. 14 Prica (wie Anm. 9), S. 41, vgl. auch ebd., S. 40: „Ereignis trägt dann nicht mehr das gesamte Gewicht der uneinholbaren Einzigartigkeit eines Geschehens, dessen Wirkung sich höchstens in Effekten er- 124 Christina Lechtermann den Text selbst als Zeugnis einer Wahrheit in die Heilsgeschichte ein, das den abwesenden Inkarnierten überdauert und „an seine Stelle“ tritt. Sie verschiebt damit das Moment der Ereignishaftigkeit auf den Text bzw. auf seine Überlieferung. 15 Vor dem Hintergrund des hier abgesteckten Themas (Erzählen von Geschichte) soll jedoch komplementär dazu nach Inszenierungen des exzeptionellen Geschehens, nach der Verhandlung von Ereignishaftigkeit im Blick auf das Erzählte gefragt werden. Es wird zu zeigen sein, inwiefern die drei Großabschnitte der Erzählung je eigene Modi finden, um das besondere Ereignis der Erlösung zu thematisieren und dabei unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in den Vordergrund zu rücken. In einem ersten Schritt werden dazu die Prophetenreihe und das Leben-Jesu/ Marienleben in den Blick genommen (II), abschließend ist auf den diese beiden Teile einleitenden sog. ‚Streit der Töchter Gottes‘ einzugehen (III). II Voraussagbares Erzählen Die Erlösung liegt uns heute in acht Textzeugen (Handschriften bzw. Exzerpten und Fragmenten) vor. 16 Diese variieren in Versbestand, Reihung und Ausstattung teilweise so stark, dass Fassungen von verschiedener Länge unterscheidbar sind. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Erlösung in dem um 1465 und von einer Hand geschriebenen Manuskript der Stadtbibliothek Nürnberg (N). 17 Die Papierhandschrift beginnt mit einer deutschen Adaptation von salomonischen Weisheitsbüchern des Alten Testaments (Bl. 1r-77v), dann hält, sondern Ereignis ist überhaupt erst, insofern es verweist und insofern wiederum auf es verwiesen wird.“ 15 Vgl. ebd., S. 270f. und 276. 16 Die Ausgabe Maurers (wie Anm. 3, S. 20-22) ist um die Herstellung eines Textes „in der Richtung des von Frings geforderten ‚Idealtextes‘“ bemüht, setzt den normalisierenden Eingriffen jedoch eigene Grenzen. Sie ist in (erschlossener) Annäherung der Maurer bekannten Handschriften, B 2 N P T, an B 1 entstanden, was teilweise auch die Entscheidung für eine Neuordnung der Verse erfordert hat (vgl. ebd., S. 298-303, und die Handschriftenbeschreibungen S. 303-317). Entsprechend der dort gewählten Editionsmethode werden dabei die Eigenarten der Handschriften wenig beachtet und mögliche Fassungsunterschiede (vgl. Anm. 17) nivelliert. Eine Neuedition der Erlösung wird im Zusammenhang mit der Textgruppe des ‚Töchterstreits‘ von Markus Stock und mir vorbereitet (vgl. www.handschriften census.de/ editionsbericht/ ? n=E_Lechtermann2, letzter Zugriff: 5.12.2018). 17 Die Handschriften B 2 (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. quart. 266, vor 1421) beginnt mit Vers 148 (nach Maurers Zählung), die heute nur noch 22 Blätter umfassende Handschrift P (benannt nach ihrem ehemaligen Aufbewahrungsort [Prag, Fürstl. Lobkowitzsche Bibl., Cod. 519], heute: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8440, Anfang 14. Jh.) überliefert die Erlösung ab V. 3232 (nach Maurer, Herodes-Episode) bis V. 5361 (nach Maurer, allerdings unvollständig gegenüber dem dort edierten Versbestand). Die Fragmente B 1 (Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgq 1412 und Laubach, Graf zu Solms-Laubach’sche Bibl., Fragm. T, 1337), Büd (Fragment, Büdingen, Fürstl. Ysenburg- und Büdingensches Archiv, ohne Sign. (1), 1. Hälfte 14. Jh.) und die Kasseler Gebetbuchfragmente, von denen ein Doppelblatt (Kassel, Universitätsbibliothek, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, 2° Ms. poet. et roman. 35, Mitte/ 2. Hälfte 14. Jh.) einige Verse der Erlösung überliefert, bieten beide Textstellen nicht. Eine Basler Sammelhandschrift (Universitätsbibliothek, Cod. A X 137, 14./ 15. Jahrhundert) überliefert lediglich die Verse 1143-1201 (nach Maurer, wie Anm. 3). Die Handschrift T (Trier, Stadtbibliothek, Hs. 1935/ 1432 4°, der vom Redaktor der Handschrift [Bruder Johann von Paderborn] geschriebene vierte Teil, der die Erlösung enthält, datiert auf 1494-1500), die erst bei Vers 59 einsetzt, bietet m. E. eine Kurzfassung von eigener Gestalt. Sie wird von Maurer lediglich als ‚ungünstiges‘ Überlieferungszeugnis behandelt (wie Anm. 3, S. 316f.). Die Kürzungen und Ergänzungen weisen jedoch auf eine Bearbeitung hin. Die vorliegenden Analysen lassen sich angesichts dieser Überlieferungslage meistenteils nur auf N beziehen, da allein hier Prolog und Exkurs gemeinsam greifbar sind. Allerdings verzichtet N gerade auf die Auszeichnung des Akrostichons und die es erläuternden Verse Am Anfang - der Kuss 125 folgt eine Übertragung von Martins von Braga (Martinus Dumiensis) Formula honestae vitae, einer Abhandlung über die vier Haupttugenden, die zu großen Teilen aus Seneca- Auszügen (teilweise verlorener Schriften) besteht und die hier Seneca selbst zugeschrieben wird (Bl. 79r-96v). Der Erlösung, die als einzig bebilderter und einzig zweispaltiger Text der Handschrift auf Bl. 97v-148v eingetragen ist, schließen sich eine lateinisch-deutsche Aufzählung von Sünden (Bl. 150r-156v) und eine heilsam ertzeny widder weltlich vnd tufelisch anfechtung (Bl. 157r-159v) an. 18 Der Text fügt sich so in vor allem didaktisch-katechetisches Material, das seine Inhalte teilweise sogar verdoppelt, tritt jedoch durch seine Gestaltung zugleich daraus hervor. Durch das Bildprogramm der Handschrift, 53 kolorierte und gerahmte Federzeichnungen, setzen sich in der Erlösung selbst allegorischer Disput, Prophetenreihe und heilsgeschichtlicher Bericht sichtbar gegeneinander ab: Während der ‚Töchterstreit‘ gar nicht bebildert ist, begleiten die Geschichtserzählung rund 30 szenische Darstellungen, wie etwa zum Sündenfall (Bl. 100ra), dem Kindermord (Bl. 126ra), der Kreuzigung (Bl. 135ra) oder der Geburt des Antichrists (Bl. 143ra). Der rund 1200 Verse und 24 Stationen langen Prophetenreihe sind 22 Figuren beigestellt, die mit ihren „lebhaften Gesten und tänzerischen Bewegung[en]“ an Morisken erinnern und die geschwungene Spruchbänder tragen. 19 Dieser Abschnitt unterscheidet sich nicht nur durch den Bildtyp, sondern auch durch die Dichte der Bebilderung, sodass auf Bl. 106-116 fast jede Seite ein oder zwei Bilder aufweist. 20 Der zugehörige Text betont das Moment göttlicher Planung, Vorsehung und Verheißung, wobei nicht Realsondern fast immer Wortprophetien präsentiert werden, die oft über eine deutsche Version der lateinischen Zitate der Spruchbänder eingeleitet sind. Selten wird in der Prophetenreihe, die die Verse 1143-2272 (N 106ra-115vb) 21 umfasst, von den zugehörigen 1837-1846, die etwa in Pricas Argumentation einen wichtigen Schritt bilden (wie Anm. 9, S. 257-264) und auch den Ausgangspunkt von Haugs Überlegungen (wie Anm. 13) darstellen. 18 Die Bilder sind in den Schriftspiegel integriert und erstrecken sich mit einer Höhe von bis zu 13 Zeilen über eine oder beide Spalten. Der Handschrift N sind vermutlich drei Blätter verloren gegangen, die neben den Versen 257-2707, 2856-2985, 4697-4830 auch drei Illustrationen enthalten haben könnten. Vgl. Karin Schneider (wie Anm. 4), S. 471-475 und Abb. 19-22; sowie die Beschreibung von Christine Stöllinger-Löser im Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften-des Mittelalters, begonnen von Hella Frühmorgen-Voss, fortgeführt von Norbert H. Ott zusammen mit Ulrike Bodemann, Bd. 4/ 1, München 2008, S. 119f. (Nr. 34.0.2) und Tafel VIIIa, Abb. 60. 19 Vgl. Schneider (wie Anm. 4), S. 472; Stöllinger-Löser (wie Anm. 18), S. 120. Als 23. Figur könnte auch Zacharias hinzugezählt werden, der einerseits durch die Begleitung des Engels bereits zum szenischen Bildprogramm gehört, andererseits durch die Gestaltung der Figur und das Spruchband noch Teil an der Prophetenreihe hat. 20 Diese Figurenbilder heben das reihenhafte hervor, was - neben sprachlichen Überschneidungen - diese Passage mit dem Ordo prophetarum des lateinischen Spiels assoziierbar macht. Vgl. Gabriele Kaps, Zweisprachigkeit im paraliturgischen Text des Mittelalters, Frankfurt a. M. 2005, bes. S. 195, 213, 216, 22f. Das Verhältnis der ‚Erlösung‘ zum geistlichen Spiel, bes. zur Frankfurter Dirigierrolle, diskutieren Ursula Hennig, „Die Ereignisse des Ostermorgens in der Erlösung. Ein Beitrag zu den Beziehungen zwischen geistlichem Spiel und erzählender Dichtung im Mittelalter“, in: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor, hg. von ders. und Herbert Kolb, München 1971, S. 507-529; Rolf Bergmann, Studien zu Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts, München 1972, S. 124-170. 21 Hier und im Folgenden bezieht sich die Versangabe auf die Ausgabe von Maurer (wie Anm. 3). Sie wird jeweils ergänzt durch den Verweis auf die Handschrift N, die ich auch zitiere. Die Transkriptionen lösen Überschreibungen und Kürzel auf und zeigen sie durch eckige Klammern an. Bei den Zeilenanfängen überwiegt deutlich die Großschreibung, daher habe ich auch die Zweifelsfälle und die relativ wenigen eindeutigen Kleinschreibungen in diese Richtung normalisiert. 126 Christina Lechtermann Offenbarungsereignissen selbst berichtet. Lediglich bei Abraham (N 106va/ b, V. 1238-1215), Moses (N 107ra/ b, V. 1261-1303), Jonas (N 109vb-110ra, V. 1543-1594), Nebukadnezar (N 112rb-112va, V. 1847-1902) und Simeon (N 115va/ b, V. 2235-2272) werden wenige Aspekte ihrer (Offenbarungs-)Geschichten erzählt. Meistens werden die Prophetien jedoch formelhaft mit der Bemerkung eingeleitet: die biblischen Propheten wüssten, hätten lange vorher erkannt, vernommen, geiſteliche gesehen (N 111ra, V. 1699) oder Geprediget vnd vor geſeÿt / Vnd gar mit truwen vßgeleÿt (N 107vb, V. 1330f.), sprächen und schrieben Als vß des vatters munde (N 106vb, V. 1224). Auch die heidnischen Propheten, Sibylla, Nebukadnezar und Vergil, werden vom Erzähler für ihr umfassendes Wissen nicht nur um die Menschwerdung, sondern auch bezüglich des Jüngsten Gerichts gepriesen. Die weiteren alttestamentlichen Propheten, die sich ihnen anschließen ( Jesaias, Jeremias, Daniel, Ezechiel), sind besonders ausführlich teilweise in lateinischen Versen zitiert. Sie alle jedoch gelten in der Erlösung als von Gott selbst eingesetzte Boten, die den Menschen den Erlösungsplan, der im vorausgehenden ‚Töchterstreit‘ verhandelt wurde, bis zum Weltende bekannt machen: Botten ſant er i[nn] die lant Vnd hieß dem volck thun bekant Hoffenliche mere Das ein erloſere Schier ko[mm]en ſolde Der vns erloſen wolde (N, Bl. 106ra/ b, V. 1147-1152) 22 Die Prophetenreihe inszeniert somit, wie zahlreiche andere vormoderne Geschichtserzählungen, 23 die Finalität der Welt-Geschichte als gesichertes und verkündetes Wissen. Doch wird dieser Aspekt hier in besonderer Weise akzentuiert, denn auch die auf sie folgende Erzählung über Menschwerdung und Passion weist beständig auf dieses verkündete Wissen zurück: Reht als die p[rop]hetten / Hant in den decreten / Der heilig[en] ſchrifft vor geſaget (N 118vb, V. 2833-2835) geschieht die Empfängnis und gerade so, wie her[re] Ysaÿas / Hie vor i[nn] ſiner ſchrifft laß (N 120rb, V. 3189f.), beten die Stall-Tiere den Heiland an. Gemäß den alttestamentlichen Vorhersagen von Balaam, Yesaia, Michêas und Jeremias vollziehen sich die Anbetung der Könige und Hirten und die Verfolgung durch Herodes; entsprechend Hoseas Prophetie erfolgt die Rückkehr aus Ägypten, entsprechend Davids Voraussage die Befragung im Tempel. Die Propheten des Neuen Testaments setzen diese Logik fort: Si- 22 Prica zeigt in einem auf die Propheten fokussierten Beitrag (Dies., „Non verum quod variat. Zeugnis und Zeugenschaft in der Erlösung“, in: Zeugnis und Zeugenschaft. Perspektiven aus der Vormoderne, hg. von Wolfram Drews und Heike Schlie, München 2011, S. 137-148) inwiefern „das Epos die Spannung, die sich aus der schwierigen Vermittlung der drei Dimensionen [Heilsplan, Ereignis und Erzählung, Vielheit der Überlieferungen, ChrL] von Geschichte und dem stets gefährdeten Erhalt des verum ergibt, problematisiert und mittels einer komplizierten Konzeption von Zeugenschaft auf mehreren Ebenen der Erzählung zu lösen versucht“ (S. 139; vgl. auch ebd., S. 140). Das leuchtet ein, es erscheint mir allerdings verkürzt, die Propheten allein auf das kommunikative Modell der Zeugenschaft festlegen zu wollen, insofern ihnen explizit auch das Botenamt, anderen die Stellung eines Predigenden, Auslegenden, Bittenden oder Preisenden zugewiesen werden. 23 Vgl. etwa: Gert Melville, „Die Wege der Zeit zum Heil. Beobachtungen zu mittelalterlichen Deutungen der Menschheitsgeschichte anhand der Weltchronik des Rudolf von Ems“, in: Dresdner Hefte für Philosophie 3 (2001), S. 159-179, bes. S. 160f.; Hans Werner Goetz, „Vergangenheit und Gegenwart. Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie“, in: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter, hg. von Hartmut Bleumer u. a., Köln u. a. 2010, S. 157-202, bes. S. 162-165. Am Anfang - der Kuss 127 meon kündet vom kommenden Leid Marias, der tote Johannes vermeldet die baldige Ankunft des Erlösers in der Hölle, 24 die Kinder Jerusalems preisen Christus bereits als Heiland und weisen dabei zugleich zurück auf Zacharias, der dies auch schon wusste (N 131vb, V. 4678-4682) und mit gleicher Sicherheit weisen Prophetien auf das Jüngste Gericht voraus. Weltgeschichte wird in der Erlösung als Aktualisierung des immer schon Geplanten, Verkündeten, Gewussten und Erwarteten erzählt. 25 Entsprechend lautet etwa der Kommentar anlässlich der Verkündigung: Rehte als die p[rop]hetten Hant in den decreten Der heilig[en] ſchrifft vor geſaget Dieß iſt daz kint daz iſt die maget Von dem uch iſt kunt getha[nn] Ob irs verno[mm]en wollent ha[nn] (N 118vb, V. 2836-2838) Das Zugesicherte, Erwartbare wird in diesem Erzählen ausgestellt und gerade dies erscheint damit als das Wunder, auf das der Prolog verweist. 26 Die Wunderketten, die andere Leben-Jesu-Erzählungen oder Marienleben immer wieder einflechten, sind demgegenüber hier auffällig reduziert, und dies gilt nicht nur für die astronomischen und meteorologischen Wunder bei Christi Geburt und Tod, sondern sogar für die von ihm selbst gewirkten Wunder. Immer wieder bricht der Erzähler die Geschichtserzählung ab (Was ſolte langer rede mer, N 117rb, V. 2484) 27 und betont diese Brevitas noch, indem er sich ausdrücklich dafür entschuldigt, dass er dieß keyſerlich kint […] / Alſo kurtzlich alſo bar/ Zu geburtt […] geschriben habe (N 122 rb, V. 3417-3423). 28 Es bleibt im Folgenden bei dieser Darstellungsform - in rascher Folge werden kleinere Einzelepisoden hintereinander gefügt. Lediglich den Herodes-Episoden sowie den neutestamentlichen Prophetien (des Zacharias, Johannes, Simeon, Jesus), den Cantica (Benedictus, Magnificat, Nunc dimittis, Sanctus) und der Bergpredigt wird etwas mehr Erzählzeit überlassen. Selbst Marias Klagen unter dem Kreuz sind abgebrochen: 24 Haustein (wie Anm. 8) weist der Erzählung der Höllenfahrt, als Moment der Begegnung von Propheten und Prophezeitem, eine besondere Funktion zu: „Dieser Augenblick, in dem die Verheißungen der Propheten Realität werden, wird durch kein Textelement gestört, das nicht in heilsgeschichtlich-typologischem Kontext steht. […] Das typologisch ausgerichtete Bauprinzip des ganzen Werkes ist also in dieser Szene - so wird man zusammenfassen dürfen - in besonders konsequenter, den Umgang mit der Quelle [i.e. hier dem Evangelium Nicodemi, ChrL] bestimmender Weise realisiert worden“ (S. 87f.). 25 Vgl. Haug (wie Anm. 13): „Die Doppelprophetien in der Erlösung dagegen visieren die Heilsgeschichte als einen Prozeß an, der nach einem vorgegebenen Plan in bestimmten Phasen abläuft. Der Plan ergibt sich aus jener Lösung, die Christus im Streit der Töchter Gottes vorschlägt“ (S. 86). 26 Sint wunders alſo viel da iſt / So horent den wunderlichen liſt / Wie got vnſer her[re] Criſt / Geborne warde jn zyttes friſt (N 98rb-98va, V. 63-68). 27 Vgl. Was ſoltu der rede nu mee (N 119vb, V. 3117); N 122va, V. 3435; N 126va, V. 3997 (mit Bezug auf die kaum erzählte Kindheit Christi); N 136ra, V. 5325 (mit Verweis auf die dispositio). 28 Stellt man dieses Zitat in die Reihe der anderen Brevitas-Apologien, so relativiert sich die Perspektive, die ‚dichterisches Selbstbewusstsein‘ (Prica, vgl. Anm. 10) impliziert. Dies gilt, zumal auch die folgenden Verse das Moment der Kürze mit dem der Unfähigkeit verbinden (Dar zu ich leider vnbereit / Vnd vn[uer]richtet bin geweſen / Das ich darnach kunde leſen / Als es wole zitlic[en] were / Das iſt myn clage swere; N 122rb-va, V. 3426-3420). Vgl. auch den Unsagbarkeitstopos N 135rb, V. 5235f. sowie die Bitte um Beistand für eine angemessene Rede über Maria (N 117rb-vb, V. 2486-2597), die wegen des Verlusts eines Blattes in N nur bis V. 2574 verfolgbar ist. Zu den verschiedenen Gesten des Erzählers vgl. Ukena-Best (wie Anm. 7), S. 66-69. 128 Christina Lechtermann Alhie die rede blibe Doch weſte iz wol Her[re] ſymeon Da er geſprachen hat hie von […] Hie wart die rede zu der dat (N 135rb-va, V. 5238-5250) Dieses kurzliche der Erzählung, das das Geschehen immer wieder als Aktualisierung des Prophezeiten ausweist, inszeniert einen spezifischen Ereignischarakter in demjenigen Teil des Textes, der gerade das erzählen soll, was doch im Prolog selbst als größtes Wunder neben der Schöpfung selbst angekündigt ist. 29 In anderen Kindheitserzählungen, etwa in der von Bruno Quast untersuchten Kindheit Jesu, ist die wunderbare Geburt als inkommensurables und letztlich undarstellbares Ereignis inszeniert, das lediglich als Leerstelle, durch das Fehlen jeder Spur am jungfräulichen Körper, bezeugt werden kann, 30 und das entsprechend vom ganzen Wunderreihen umstellt ist. 31 In der Erlösung hingegen erscheint sie reduziert und zum erwartbaren Geschehen nivelliert, auf das es lediglich noch zu verweisen gilt: Dieß iſt daz kint daz iſt die maget. 32 Quasts Untersuchung zur jungfräulichen Geburt in der Kindheit Jesu geht von einem Ereignis-Konzept aus, für das „eine Gegenwärtigkeit und eine Einzigartigkeit des Auftretens in Anschlag gebracht werden muss“, hinter der das Erzählen zurückbleibt. 33 Abgegrenzt wird es einerseits gegenüber einem „funktional-analytische[n] Verständnis“, entsprechend dem etwa Karlheinz Stierle „das Ereignis als zwingende Voraussetzung für jedwedes Erzählen“ konzeptualisiert hat und das so Grundlage für einen narratologischen Ereignisbegriff ist, 34 andererseits gegenüber einem Konzept medial konstituierter Ereignishaftigkeit. 35 Für die Kindheit Jesu setzt Quast ein emphatisches, radikales Konzept von Ereignis an: das „als Bekundung erfahrene Einbrechen eines ganz Anderen, eines dissimile, der Augenblick, 29 Vgl. Anm. 26. Der Prolog spielt in seinen ersten 72 Versen mit allen möglichen Ableitungen von ‚Wunder‘. Vgl. zur Thematik auch Haug (wie Anm. 13): „Im Wunderbar‐Unbegreiflichen manifestiert sich die Präsenz des Göttlichen in der Welt. […] In den Naturwundern erscheint auf der einen Seite noch das Paradiesische der ersten Schöpfung, in der prophetischen Vision ist auf der andern die Wiederversöhnung, die Rückkehr in den Gnadenstand vorweggenommen. Im wunder wird also das Göttliche als Anfang und Ende und als der vermittelnde Erlösungsplan sichtbar. Das wunderliche eröffnet den Zugang zur Heilsgeschichte“ (S. 87). 30 Bruno Quast, „Ereignis und Erzählung. Narrative Strategien der Darstellung des Nichtdarstellbaren im Mittelalter am Beispiel der virginitas in partu“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 29-46. 31 So etwa in den Wunderkatalogen der Marienleben, die die Vita beatae virginis Mariae et Salvatoris rhythmica adaptieren. Vgl. z. B. Das Marienleben des Schweizers Wernher. Aus der Heidelberger Handschrift hg. von Max Päpke und Arthur Hübner, Berlin 1920 (DTM 27) [Nachdruck Dublin/ Zürich 1967], V. 2931-3244. 32 Vgl. Haustein (wie Anm. 8): „Man-wird sogar sagen können, daß vom biblisch‐neutestamentlichen Geschehen nur dasjenige aufgenommen ist, für das die Tradition alttestamentliche Prophezeiungen ausgemacht hat. Darin liegt auch der Grund, warum die Jesus-Wunder kaum, Geburt und Tod hingegen breit entfaltet werden“ (S. 85). 33 Quast (wie Anm. 30), S. 30. 34 Ebd. mit Verweis auf Karlheinz Stierle, „Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte“, in: Geschichte. Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 347-375. Vgl. für eine entsprechende narratologische Position etwa Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 6 2005, S. 108-111; für eine spezifischere Definition des narratologischen Ereignisses Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 2. verbesserte Auflage, Berlin/ New York 2008, S. 12-18. 35 Quast (wie Anm. 30), S. 30 mit Verweis auf: Jacques Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291-314. Am Anfang - der Kuss 129 in dem die horizontale Zeit von einer vertikalen getroffen wird.“ 36 Dieses an Positionen des Poststrukturalismus orientierte Konzept von Ereignis ist unter anderem „am theologischen Modell der messianischen Ankunft orientiert“, am Augenblickhaften, am Kairos der Parusie (nicht am Kronos). 37 Hierbei ist das Ereignis weder durch Sprache noch durch andere Medien zu erreichen, da das Sprechen von ihm notwendig „zu spät kommt“ und sich das Moment der „Singularität in der Generalität“ und Konventionalität sprachlicher Zeichen verliert. 38 - In der Erlösung hingegen kündigen die Propheten-Boten die Ankunft (und Wiederkehr) immer schon an und entwerfen damit das Ereignis als Zu-kunft, die ihre Exzeptionalität gerade aus einem zeitkritischen Moment, aus einer Fristsetzung gewinnt. Als der Erzähler mit der Verkündigung an Zacharias die Geschichte der Menschwerdung tatsächlich zu erzählen beginnt, erörtert er in einem Exkurs, dass diese Zeitspanne von genau 5199 Jahren ganz und gar keine beliebige Fristsetzung sei. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, warum denn Christus die Menschen nicht bereits deutlich früher (lange ê) erlöst habe, zumal doch Eva, Noa, Abel, Adam, Hiob, Jacob, Isaak, Abraham, David, Salomon, Moses, Aaron, Symeon, Ysâias, Johannes, Zacharias und manig ander Edelma[nn] immer wieder um Erlösung gebeten hätten. Die Begründung ist gleichsam psychologischer Natur: Es was alles vmb das Das die lute deſte baß Zu Got ſetzten jre begire Wann es iſt wißelich daz wir Die dinge wir mit lichtigkeit hant Daz nit gar schone empfahent Mit ſo gantzer wirdigkeit Als obe ein ma[nn] mit arbeit Daz ding erwunnen muſt hann Durch das die friſt wart gethan (N 116ra/ b, V. 2329-2338) Der Begriff der Arbeit (als Not in waſſer unde fuer [N 116rb, V. 2340] ebenso wie als Mühe auf dem Feld umschrieben) wird erneut aufgegriffen und mit dem beständigen Flehen der Propheten, die so nicht nur als Boten, sondern auch als Bittende ausgewiesen sind, äqui- 36 Quast (wie Anm. 30), S. 30. Beschrieben und gegenüber anderen Konzepten diskutiert wird dieses Konzept unter anderem bei Christoph Deupman, Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001, Göttingen 2013 (Formen der Erinnerung 48): „Versteht man Ereignisse als instantane Einbrüche in die geschichtliche Zeit, so durchkreuzen sie vertikal eine von Erwartungen geprägte Horizontale, von der her man Ereignisse ‚nicht kommen sehen kann‘.“ (S. 38) Hier im Anschluss an Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 60. Vgl. Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hg. von Marc Rölli, München 2004: „In der französischen Philosophie der Gegenwart besitzt das ‚Ereignis‘ (frz. événement) einen hervorgehobenen begrifflichen Stellenwert: es markiert die kategorial unfassbare Erfahrung, das genetische Paradox des Strukturdenkens, die auf Differenz und Singularität pochende Auflösung der Ontologie, eine andere Phänomenologie der Zeit“ (S. 7); dazu auch den theoriegeschichtlichen Überblick bei Ilai Rowner, The Event. Literature and Theory, Lincoln, Nebraska 2015, S. 65-155. 37 Deupman (wie Anm. 36), S. 39. Zum ‚messianischen‘ Moment dieses Konzepts: Gianluca Solla, „‚Alles was der Fall ist‘. Der Messias als Ereignis überhaupt‟, in: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, hg. von Nikolaus Müller-Schöll, Bielefeld 2003, S. 48-59. 38 Deupman (wie Anm. 36), S. 40; vgl. etwa Derrida (wie Anm. 35): „Es ist vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass ein Ereignis Überraschung, Unvorhersehbarkeit und Exponiertheit bedeutet“ (S. 7, ähnlich S. 8, 21). 130 Christina Lechtermann valent gesetzt. Der Bericht über drängendes Begehren, die versprochene Erlösung doch noch in der Lebenszeit des jeweils bittenden Propheten zu senden, führt zur Umkehrung der Frage und es wird ergründet, warum es angesichts dieser Steigerungs-Logik nicht noch viel länger gedauert habe. Auch dies wird von der menschlichen Seele und ihren Anfeindungen her begründet: Das wir von der vberdroß / Iht wurden hoffn[un]g bloß (N 116va, V. 2385f.). Hoffnungslose Verzweiflung als (dann unumkehrbare) Wiederholung des Sündenfalls (So wern wir aber da[nn] verlorn / Were got noch eins durch vns geborn, ebd., V. 2387f.) wird durch die sorgfältige Wahl genau dieser Wartezeit also ebenso vermieden wie die Geringschätzung der Gabe, deren Exzeptionalität gerade durch das Moment der Erwartung konstituiert ist. 39 Die Erlösung inszeniert das Ereignis der Menschwerdung damit zunächst weniger als ‚Einbrechen eines ganz Anderen‘, sondern als Ankunft des Ersehnten, dem im Zeitverlauf ein fester, nämlich genau der richtige Moment bereits zugewiesen worden ist. Dies schließt jedoch nicht notwendig aus, dass auch eine emphatische Dimension des Ereignishaften thematisiert wird. Vielmehr entwirft das Erzählen hier, so meine ich, unterschiedliche Ereigniskonzepte, die in den drei Hauptabschnitten des Textes - allegorischem Streitgespräch, Prophetenreihe und Geschichtserzählung - nebeneinander gestellt werden können, ohne eindeutig relationiert sein zu sein müssen. Kann man - mit Quast - an Leben-Jesu- und Marienleben-Erzählungen die grundsätzliche Frage stellen, wie unter der unhintergehbaren Voraussetzung der Unmöglichkeit, ein (emphatisch konzeptualisiertes) Ereignis medial zu fassen, Texte dennoch von der Ereignishaftigkeit der Menschwerdung zu erzählen versuchen, so lässt sich diese Frage auch im Hinblick auf die Erlösung stellen. Doch wäre sie hier zu erweitern: Es wäre zu fragen, wie Erzählungen, die Welt- und Erlösungsgeschichte als Realisierung eines der Vorsehung unterliegenden und damit narrativ voraussagbaren Plans inszenieren, zugleich noch die emphatischen Aspekte des Ereignishaften der Menschwerdung vermitteln können (also die Selbstopferung Gottes als Gabe, die mögliche Unmöglichkeit der Erlösung): Wie kann es erzähllogisch gelingen, gleichzeitig Erwartetheit und Unerwartbarkeit, vorhersehbare Horizontalität und vertikalen Einschlag zu kommunizieren? Im Rahmen vormoderner Geschichtsentwürfe wäre damit nach der Inszenierung von Ereignis nicht nur sehr grundsätzlich im Hinblick auf dessen mediale (Un-)Anschreibbarkeit zu fragen, sondern ebenso nach einer paradoxen Verschränkung unterschiedlicher Aspekte des Ereignishaften, die mitkommuniziert, überlagert oder gegeneinander abgeblendet werden. Die Erlösung zeigt geradezu exemplarisch, dass die Frage nach einsinnigen Zeitkonzeptionen - und damit eng verbunden auch diejenige noch einsinnigen Ereigniskonzeptionen - für den Bereich vormodernen Erzählens wenig zielführend ist, dass es vielmehr gilt, „heterogene Zeitkonzeptionen zu beleuchten, die Zeitschichtungen, Gleichzeitigkeit der Zeitdimensionen, Zeitfaltungen, parallelisierende und konkurrierende Zeitqualitäten, kollabierende, konzentrische, auslaufende sowie disruptive Zeitenverläufe“ zuzulassen. 40 Ebenso überschichten sich in 39 Vgl. dagegen Derrida (wie Anm. 35), der im Blick auf die Gabe das Moment der Überraschung betont, das den ökonomischen Zirkel des Tausches erst durchbricht: „Damit eine Gabe möglich ist, damit das Ereignis der Gabe möglich ist, muss es sich in gewisser Weise als unmöglich ankündigen“ (S. 27). 40 Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz, „ZeitenWelten - auf der Suche nach den Vorstellungen von Zeit im Mittelalter. Eine Einleitung“, in: ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750-1350, hg. von dens., Köln u. a. 2016, S. 9-26, hier S. 9. Die unterschiedlichen Zeitkonzepte spiegeln sich in den verschiedenen Lektüren der Forschung (vgl. auch Anm. 7): Ausgehend von der doppelten Zielrichtung der Prophetien Sibylles und Vergils sieht Haug (wie Anm. 13) eine zweiteilige Struktur realisiert, die „im wesentlichen Geburt und Erdenleben Christi sowie die Endzeit Am Anfang - der Kuss 131 diesem Text verschiedene Aspekte des Ereignishaften: 41 Die Reihe der Propheten inszeniert das Ereignishafte der Gottesgeburt aus dem Gestus der Erwartung, als Aufschub und Verzögerung. 42 Hier allerdings geschieht dies im Sinne eines Aufschubs, auf den tatsächlich die Aktualisierung des Erwarteten folgt. 43 Die Erzählabschnitte über die Lebenszeit Marias und Jesu akzentuieren dabei durchaus eine Ereignishaftigkeit, die als ‚Unterbrechung‘ struktureller Ordnungen verstanden wird insofern sie nicht vollständig aus diesen ableitbar ist. Ihr ‚Überschuss‘ und ‚Neuigkeitsgehalt‘ bleibt jedoch diesen Strukturen verbunden und darin eben auch anschreibbar (Dieß iſt). 44 Die spezifische Fügung der beiden Erzählabschnitte - Prophetenreihe und Leben-Jesu bzw. Marienleben - ermöglicht es damit, dass je unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in der Erlösung sukzessive entfaltet und gleichzeitig ihre enge Verflochtenheit hervorgehoben werden. Das Erlösungsereignis wird jedoch in der Erlösung nicht nur in einer historisch-chronologisch Erzählung thematisiert, die ihrerseits durch die Prophetenreihe als voraussagbare Anordnung ausgewiesen und dabei durch die Exponierung des Heilsgeschehens als Erwartung einer Ankunft perspektiviert ist. Vielmehr erscheint das Ereignis der Erlösung zugleich durch die allegorische Gerichtsszene dramatisiert, die es in wiederum eigener Weise inszeniert und ins Überzeitliche doppelt. mit seiner Wiederkehr und dem Jüngsten Gericht“ akzentuiere, während die Zeit des Alten Testaments nur insofern interessiere, als sie dazu diene „die Planung des Heilsgeschehens transparent werden zu lassen“ (S. 85f.). Haustein (wie Anm. 8) hebt dagegen eine stringente chronologische Ordnung des Textes, im Sinne einer für den Menschen wahrnehmbare Zeitordnung hervor: „Heilsgeschichte ist für ihn [den Autor, ChrL] ganz deutlich Geschichte in der Zeit, in einer Zeit, die für den Menschen erfahrbar ist“ (S. 84). Prica (wie Anm. 22, S. 143; dies., wie Anm. 9, S. 244, 253f., 270f.) verweist vor allem auf die paradoxen Momente in der Zeitstruktur der Erlösung, die sich nicht zuletzt aus dem Ineinander von überzeitlichem Plan und historischem Zeitverlauf ergeben und die etwa dort besonders greifbar werden, wo im ‚Streit der Töchter Gottes‘, also unmittelbar nach dem Sündenfall, die erst noch kommenden Propheten bereits zitiert werden. 41 Komplementär zu den Beschreibungsmöglichkeiten der vielfältigen aktuellen Ereigniskonzepte, die im Rahmen dieses Aufsatzes für die Erlösung nicht evaluiert werden können und, insofern es mir zunächst sehr grundsätzlich um die Pluralität der Entwürfe des Ereignishaften geht, auch nicht diskutiert werden sollen, wäre nach den Implikationen des Begriffs zu fragen, mit denen das Ereignis umschrieben wird (s. o.) - hier also vor allem der des wunders. 42 Dieser Aspekt erscheint in der Moderne vor allem mit einem immanenten Ereigniskonzept verbunden zu sein, vgl. Rowner (wie Anm. 36), S. 124-155; Joseph Vogl, „Was ist ein Ereignis“, in: Deleuze und die Künste, hg. von Peter Gente und Peter Weibel, Frankfurt a. M. 2007, S. 67-83, hier S. 74: „Das Ereignis ist […] reine Virtualität oder Potenzialität, eine Ent-Schöpfung der Welt, es ereignet sich im Zögern der Welt vor ihrem Eintritt, vor ihrer Aktualisierung in Raum und Zeit. Das Ereignis ist Ereigniserwartung.“ 43 Vgl. dagegen Vogl (wie Anm. 42, S. 78f.), der für das Ereigniskonzept bei Deleuze betont, inwiefern sich die beiden „Seiten des Ereignisses - die virtuelle und die aktuelle - “ gerade nicht in einem Verhältnis von „Möglichkeit und Verwirklichung“ beschreiben lassen. 44 Eine solche ‚dialektische‘ Bestimmung von Ereignis und Struktur findet sich etwa im Umfeld der strukturalistischen Geschichtstheorie, vgl. Deupman (wie Anm. 36, bes. S. 36f.). Sie kann dabei auf eine Begriffsgeschichte zurückgreifen, die Ereignis und Prozess miteinander vermittelt (ebd., S. 33f.): Ereignis (i. S. von eröugen) „benennt dasjenige, was sich ebenso unmittelbar wie unerwartet den Sinnen darbietet“, während der lateinische eventus „auf den ‚Ausgang‘ oder das ‚Ergebnis‘ von Prozessen […], die im Ereignis gipfeln“ hinweist, also auf das zielt „worin der geschichtliche Prozess sein Werden überschreitet und sich markant manifestiert. Im Ereignis kommt zum Ausdruck, worauf es (auf unabsehbare Weise) hinausläuft. Etymologisch sind Ereignis und Struktur also prinzipiell vermittelt.“ 132 Christina Lechtermann III Unerwartbares Erzählen Der ‚Streit der vier Töchter Gottes‘ oder die sog. ‚Tribunalszene‘ 45 schließt unmittelbar an die Vertreibung aus dem Paradies an, genauer: an einen Erzählerkommentar, der den Sündenfall und den bösen Rat des Teufels beklagt. Nach einer kurzen Exposition, die das Gottesgericht mit seinem Gefolge aus 24 Ratgeber (Ratma[nn] N 100vb, V. 385) und dem Ring der Cherubin und Seraphin einführt, wird zunächst der Thron Gottes beschrieben. Diese einzige mit rund 80 Versen einlässlichere descriptio der Erlösung verschränkt Elemente, die den Löwenthron Salomons oder das himmlische Jerusalem aufrufen, mit einer aufwändigen Maßwerkbeschreibung, die ein dichtes Fachvokabular aufweist. Entworfen wird ein eminent räumlicher Ort, der die Bühne bietet für die ungeschiedene Trinität (ebd., V. 375) und die mit ihr verbundenen Tugenden. An ihm herrscht ein eigenes Zeitregime, das, während es sich selbst narrativ in der Zeit entfaltet, über der erzählten Zeit der Welt steht - ein Ort, an dem Alles immerschon gesagt ist (vgl. etwa N 102ra, V. 539f.). Gott selbst eröffnet danach mit der Anklage des Menschen eine Gerichtsszene, die - wie Urbanek zeigen konnte - an konventionellen juridischen Redeformen orientiert und streng symmetrisch gebaut ist. 46 Die Reden der Schwestern, es handelt sich um die Allegorien von Barmherzigkeit, Recht, Wahrheit und Frieden, sind dabei nicht nur parallel strukturiert, sondern demonstrieren die Äquivalenz ihrer Geltungsansprüche auch durch die Verwendung des immer wieder gleichen Wortlauts (z. B. N 101vb, V. 530f.): Gedenke her[re] das ich din / Dochter heiſſen vnd bin und (z. B. N 102ra, V. 539f.): Gedencke was der wÿſſage / Von Dir prediget alle tage. Die Plädoyers für die Begnadigung des Menschen und diejenigen für seine Bestrafung sind jeweils in derselben Weise begründet und lassen so das Dilemma augenscheinlich werden, das der Sündenfall produziert hat. Wo Barmherzigkeit und Wahrheit, Friede und Gerechtigkeit alle gleichermaßen sagen können (z. B. N 101vb-102ra, V. 45 Für diesen Abschnitt weist bereits Bartsch (wie Anm. 3, S. VIII f. und XXI f.) auf einige Parallelen mit anderen Gedichten hin, an erster Stelle auf das vermutlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Gedicht, das mit dem Vers: Sich hub vor gotes trone / ein gespreche schöne den Streit der vier Töchter Gottes präsentiert. Wenngleich er keine direkte Abhängigkeit der beiden Texte rekonstruieren kann, vermutet er zumindest eine gemeinsame Quelle. Vgl. zu diesem Motiv Eduard Johann Mäder, Der Streit der ‚Töchter Gottes‘. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs, Frankfurt a. M. 1971, zur Erlösung S. 55- 58, Zitate S. 13; zu Bernhard von Clairvaux als Quelle dieser besonders verbreiteten Erzählvariante: Waltraud Timmermann, Studien zur allegorischen Bildlichkeit in den Parabolae Bernhards v. Clairvaux. Mit der Erstredaktion einer mittelniederdeutschen Übersetzung der Parabolae Vom geistlichen Streit und Vom Streit der vier Töchter Gottes, Frankfurt a. M. 1982, S. 138-152, Edition einer mittelniederdeutschen Fassung, S. 252-268. Die Realisation des Motivs in verschiedenen europäischen Literaturen untersucht Hope Traver, The Four Daughters of God. A Study of the Versions of this Allegory. With Special Reference to those in Latin, French, and English, Bryn Mawr, Penn. 1907. Einen ergänzenden Überblick über die Forschung bietet Friedrich Ohly, „Die Trinität berät über die Erschaffung des Menschen und seine Erlösung‟, in: PBB 116 (1994), S. 242-284, bes. S. 260-262. 46 Urbanek (wie Anm. 6), bes. S. 291-296; vgl. Maria Sherwood-Smith, „Selbstgespräch zu dritt. Innertrinitarische Gespräche im Anegenge und in der Erlösung“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel u. a., Tübingen 2003, S. 213-224, bes. S. 219-222. Soeben erschien ein Beitrag von Bruno Quast („Die Erfindung der Erlösung. Die theologische Mythe vom Streit der Töchter Gottes in der ‚Erlösung‘ aus entscheidungstheoretischer Sicht“, in: Mythen und Narrative des Entscheidens, hg. von Helene Basu, Bruno Quast und Martina Wagner-Egelhaaf, Göttingen 2020 [Kulturen des Entscheidens 3], S. 46-59), der den ‚Töchterstreit‘ aus entscheidungstheoretischer Perspektive beschreibt und dabei seine „spezifische Mythizität“ in den Blick nimmt, um zu diskutieren inwiefern man, im Blick auf dieses Beispiel und darüber hinaus „von einer spezifischen Mythosaffinität der Entscheidungsthematik reden könnte“ (ebd., S. 49). Am Anfang - der Kuss 133 535-537): Wann ich vnd du vns ſcheiden / So iſt ny[mm]e an vns beiden / Wann ich bin du vnd Du biſt ich, konstituiert das Wesen Gottes selbst die Frage der Erlösbarkeit des Menschen als Aporie (ebd., V. 533f.). Als verwirrten Knoten, den es zu enquicken und entstricken gilt (N 103rb, V. 721-723), beschreibt entsprechend der trinitarische Sohn, der den Streit schließlich schlichten wird, das Problem, dessen Lösung in der Menschwerdung und in der Passion Gottes gefunden wird: Haſtu nit barmhertzigkeit [oder Recht, Frieden, Wahrheit; ChrL] / So iſt ein nichte din gotheit (hier: N 102ra, V. 533f.). Die Soteriologie des Textes changiert dabei zwischen verschiedenen (konventionellen) Begründungen dafür, warum eine solche Lösung erfolgreich sein kann. 47 Die allegorische Konstellation vermag mit dem ,Töchter Gottes‘-Motiv die Unmöglichkeit bzw. Ausgeschlossenheit sowohl der Nichterlösung als auch der Erlösung des Menschen zu artikulieren. Der Erzähler kommentiert folgerichtig: Sagt an was mocht got da jehen (N 102vb, V. 6558). Vor der Folie des nahen, dramatischen Modus der allegorischen Gerichtsszene präsentiert der Text die Lösung der Aporie als Ereignis eigener Art. 48 Dies gelingt, indem der entscheidenden Rede des Gottessohns an kritischer Stelle, nämlich genau am Umschlagpunkt zwischen argumentativer Begründung von Verdammnis und argumentativer Begründung der Rettungsmöglichkeit des Menschen durch einen Exkurs des Erzählers eine prägnante Zäsur gegeben wird. Urbanek fasst diesen Einschub als Mittel auf, die antithetische Struktur der Rede zu akzentuieren, versteht ihn jedoch vor allem als Inserat „einer sprach-solistischen Kadenz“ des Erzählers. 49 Mit dieser Zäsur einher geht jedoch zugleich eine im Überzeitlichen der himmlischen Gerichtssituation situierte Evokation von Zeitverhältnissen, die Dauer, präsentisches Jetzt und zeitliche Zerdehnung ineinander verschränken und die dort, wo es - am Ort des Ununterscheidbaren und immer schon gesagten - mangels linearer Temporalität rechtbesehen kein Ereignis geben kann, über das Erzählen Ereignishaftigkeit implementieren. Denn was nach der vorläufigen Versicherung des Sohnes gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit, dass der Mensch durch Ungehorsam den Tod verdient habe, eingefügt ist, gilt gleichermaßen für die Leidens-Frist wie den momentanen, in der Rede des Erzählers beinahe schon geschehenen Tod des Menschen, der nur durch die konjunktivisch erhoffte, nicht aber vollzogene Hilfe von Barmherzigkeit und Frieden noch abgewendet werden kann: 47 Zur Soteriologie des Textes vgl. bereits Jean Rivière, Le dogme de la rédemption au début du Moyen Age, Paris 1934 (Bibliothèque Thomiste 19), Appendice 2: Le conflit des ‚filles de Dieu‘, S. 309-349, bes. S. 310-312. Zum Verhältnis der Erlösung zu zeitgenössischen Dogmen vergleiche auch Quast (wie Anm. 46), S. 55f. 48 Sherwood-Smith (wie Anm. 46, S. 224) verweist hinsichtlich der Gerichtsszene der Erlösung auf eine gesteigerte Dramatik und Erhöhung des Unterhaltungswertes. Sie sieht darin jedoch gerade keine Überschichtung, sondern eine Nivellierung der Ereignishaftigkeit der Heilsgeschichte: „Eine zusätzliche Motivation für den Gebrauch der Gerichtssituation […] könnte man in Anlehnung an Walter Haug darin sehen, daß die fundamentalen Umbrüche der Heilsgeschichte auf diese Weise in einen objektiv-gesetzlichen Prozeß eingeschrieben werden und damit abgemildert erscheinen.“ 49 Urbanek (wie Anm. 6, S. 298-300) bringt dabei als eine Funktion des zweiteiligen Exkurses bereits ein Moment des Ereignishaften in Anschlag insofern er seinen ersten Teil als „Ausnutzung des Topos vom Innehalten des Erzählvorganges bei einem niederschmetternden Ereignis“ liest, doch für ihn überwiegt die Frage nach der rhetorischen Sublimierung des Textes durch solche ‚Zierstücke‘ (S. 288f.) und durch „erhöhtes auktoriales Sprechen“ (S. 304f.). Pricas Lektüre (wie Anm. 9, S. 267-271) deutet, wenngleich sie nicht explizit auf Urbanek verweist, in eine ähnliche Richtung, da sie gerade diesen Exkurs als Schlüsselstelle dichterischer Selbstermächtigung liest. 134 Christina Lechtermann Owee der langen zale O wee der bermelichen zÿt Eÿa wie es nu gefangen lÿt Inn der helle pÿne Es en ſÿ daz jme erſchyne Vw[er] hilff vnd uw[er] troſt (N 104rb, V. 860-865) Der Erzähler spitzt das präsentische nu im Bild einer Waagschale noch einmal zu, deren Sinken aktuell, gerade jetzt, beobachtet werden kann - die sich nu ſencket hin zu tale (ebd., V. 877). Außerhalb der geschichtlichen Welt-Zeit der Erzählung doch im Jetzt des Erzählens soll sie von Frieden und Barmherzigkeit, die der erste Abschnitt des Exkurses adressiert, wieder ausgeglichen werden: 50 Nu weſent getruwelich [bereit] Wie jre die wagen richtet widder Die die warheit hat geweg[en] nÿder (N 104rb-va, V. 890-892) An dieses Bild des Erzählers schließt sich ein selbstreflexiver Exkurs an; darin wird die Erzählung als Schiff beschrieben, das am Strand geankert und die Segel aus Trauer für einen Moment niedergelassen hat. 51 Nach der Einladung an diejenigen, die nach Wahrheit streben, mit an Bord zu kommen, soll jetzt das Segel aufgezogen und wieder Fahrt aufgenommen werden. Mit einem erneuten Nu, das N sogar verdoppelt, 52 wird der zweite Teil der Entscheidungs-Rede eingeleitet, in der Christus die argumentative Position von Friede und Barmherzigkeit übernimmt, den Plan der Menschwerdung als Lösung für das Dilemma konkretisiert und dabei das Bild der umschlagenden Waage vom Erzähler aufgreift: Alſo will ich ſelbs an lybe Weſen das gewychte Das die wage richte 50 ‚bereit‘ ist eine Konjektur Maurers aus der Parallelüberlieferung zu dieser Stelle, das Wort fehlt N. 51 Die Handschrift N hat Synt ich was an lant gefaren / Vnd ich den ſegel wolt ſparn / Den ich durch durch rüe nyeder ließ (N 104va, V. 895); B 2 schreibt durch ruwe; Maurer (wie Anm. 3), normalisiert zu rûwe. Eine Übersetzung scheint damit grundsätzlich in zwei Richtungen möglich und also das Niederlassen der Segel ‚um der Ruhe willen‘, ebenso wie ‚aus Traurigkeit‘ begründbar. Während erstere Übersetzung - entsprechend Pricas Lektüreansatz (wie Anm. 9, S. 268) - das Moment der disponierenden Entscheidung des Dichters betont, schließt die zweite Variante besser an das Moment der affektiven Klagerede an, die den ersten Teil des Exkurses bestimmt, vgl. Urbanek (wie Anm. 6, S. 300). Quast (wie Anm. 46, S. 57) liest das Bild der Schifffahrt als Hinweis auf die „Unwägbarkeit und Risikobehaftetheit des Erzählens“ und setzt es dem Entscheiden analog: „Erzählen wie Entscheiden unterliegen einem spezifischen Zeitregime. So wie es den günstigen Augenblick gibt, den Erzählfaden wiederaufzunehmen, so gibt es den günstigen Zeitpunkt für die Entscheidung. Wenn der Erzähler hier vom Erzählen spricht, dann handelt er zugleich auch vom Entscheiden.“ Ich akzentuiere hier - mit Urbanek - den Umschlag von Trauer in Freude, der vielleicht auch in B 2 Anlass zu einer besonders ausgestellten Überschrift gegeben haben könnte, die den Exkurs insgesamt einleitet: Auf Bl. 13r ist zusätzlich zur bereits auf 12v stehenden Überschrift (Diz iſt v[on] der barmhertzekeit vnd V[on] deme Fridde gotes) oben in rotem Band-Rahmen eingetragen: der mey iſt hie die roſen gen offe. Mit der selben Tinte ist eine Blütenranke (vermutlich Rosen) gemalt, die sich bis zum unteren Ende des Schriftspiegels zieht. Damit ist, so meine ich, der Umschlag von Verdammnis und Erlösung hier zusätzlich durch das recht konventionelle Bild des Jahreszeitenwechsels markiert. 52 N 104vb: Nu weſent tugentlich fro / Nu horent wie daz ding zurging, vgl. V. 942f. Am Anfang - der Kuss 135 Vſſer duffen in den lufft Inn den hy[mm]el vſſer crufft (N 105rb, V. 1016-1020) Durch die allegorische Narrativierung und Dramatisierung des Entscheidungsmomentes, d. h. des Urteils, das sich in der Menschwerdung vollzieht, kann das Ereignishafte der Erlösung angesprochen werden, wenngleich es auch hier nicht ausgesprochen wird: Denn anders als das Sinken der Waage, das der Erzählerkommentar mit Nu markiert, und anders als die entsprechende Bitte um Ausgleich, die mit Nu eingeleitet ist, steht der Zuwurf des Gewichts noch aus. Der Wendepunkt des Heils, das Umschlagen der Waage, das im Bild des ankernden Schiffes zugleich als besonderer Erzählmoment ausgestellt wird, als Stocken, in dem die Erzählung zum Erliegen kommt, für einen Augenblick anlandet, ist so deutlich markiert. Dass dennoch das Unerwartbare, die unmögliche Möglichkeit, die Lösung der Aporie, die der Sündenfall provozierte, das Ereignis, das weltgeschichtlich noch aussteht, durch die doppelte Zeitlogik bereits erfolgt und auch vollzogen ist, verdeutlicht der Text durch das Motiv des Kusses zwischen Gerechtigkeit und Frieden, das die Erlösung auch wörtlich dem Psalm Davids entnimmt: Miſericordia et veritas Frauwe Barmhertzigkeit Vnd auch ire ſweſter warheit Gegeneinander gingen Mit groſſer freude empfingen Sie ſich an den ſtunden Nit lenger friſt konden Wa[nn] mit gutten ſÿtten Kuſte ire ſweſter frieden Frauwe die gerechtigkeit (N 105va, V. 1066-1075) Scheint in dieser Geste, im Kuß von Frieden und Gerechtigkeit, zunächst lediglich die Beilegung des gerichtlichen Streits besiegelt, so verdeutlicht der Lobgesang der zuvor völlig ratlosen Himmelschöre zugleich den Vollzug der - außerhalb chronologischer Zeitregime und außerhalb der Zeispanne sehnlichen Wartens - erfolgten Erlösung des Menschen: Syt du es empfang[en] haſt / Zu gnaden nach dem falle (N 105 vb, V. 1102f.). Die Propheten werden hier folgerichtig nicht zu Vorläufern, sondern zu Figuren des Nachträglichen - zu Boten, die von der Lösung des Streits, dem Ereignis, das alles Folgende bedingen wird, und dem damit verbundenen Erlösungsplan berichten sollen, dessen Eintreten sie dennoch selbst erbitten und herbeisehnen. Das Erzählen von Erlösung scheint damit in diesem Text gedoppelt: Es steht am Anfang der gereimten Erzählung Von der Beschaffung diser werlt bis auf das jungst gericht 53 - und so vermutlich nicht zufällig in dem Abschnitt, der in besonderem Maße rhetorisch überformt ist. Es steht aber zweifelsohne auch dort, wo es für die Rezipienten wie für die diegetische Welt zu erwarten ist: in der Erzählung von der Menschwerdung und Passion Christi. Wo die Menschwerdung Gottes längst beschlossene und verkündete Sache ist, verdoppelt sich das Moment des Ereignishaften, das der Menschwerdung inhärent ist, in der Entscheidung zur Menschwerdung. Wendepunkt des Heils ist nicht mehr alleine - vielleicht nicht ein- 53 Siehe oben Anm. 4. 136 Christina Lechtermann mal primär - die geschichtliche ‚Mitte der Zeit‘, sondern zugleich auch ihr Anfang (in manchen Erzählungen sogar ein Moment ‚vor der Zeit‘). 54 Als nachgehende Boten und als ersehnende Vorläufer vermitteln die Propheten zwischen beiden Momenten. Die drei in ihrem erzählerischen Gestus deutlich voneinander geschiedenen Abschnitte der Erlösung, die jeweils ein eigenes Figurenrepertoire mit einem eigenen narrativen Modus verbinden, erzählen auf je eigene Weise von der Exzeptionalität des Heilsgeschehens. So gelingt es dem Text unterschiedliche Dimensionen des Ereignishaften der Erlösung zu artikulieren: diejenige, über die alle Propheten immer schon gesprochen haben, diejenige, die als erwartbares Wunder exponiert werden kann und diejenige, vor deren Unerwartbarkeit das Erzählen für einen Moment zum Erliegen kommen muss. 54 Vgl. Christian Kiening, „Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi“, in: Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, hg. von dems., Aleksandra Prica und Benno Wirz, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 16), S. 121-137. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 137 Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte Mary Boyle und Annette Volfing Für die mittelalterliche religiöse Andacht - und die damit verbundenen Literaturformen - stehen Geburt und Passion Christi in einer grundsätzlichen Spannung. Einerseits teilen sie als einmalige historische Ereignisse die Zeit in ein absolutes Vorher und Nachher, und sind damit dem unmittelbaren Zugriff der Gläubigen entzogen. Andererseits durchkreuzt das zyklische Schema des Kirchenjahres die unnachgiebige Linearität dieses zeitlichen Modells ebenso wie die Vorstellung, die Zeit sei immer in der Ewigkeit enthalten und werde nach dem Jüngsten Gericht ihre Relevanz verlieren. Um es mit Hildegard Keller zu formulieren: „Der Christ lebt in einer Spannung zwischen einem ‚Schon‘ und einem ‚Noch-Nicht‘, was eine Art ‚Zeitstreß‘ impliziert.“ 1 Spannungen dieser Art spiegeln sich typischerweise in Strategien des performativen Gedenkens und der imaginierten Vergegenwärtigung wider, die es den Gläubigen ermöglichen, die wichtigsten biblischen Ereignisse in ihr eigenes Leben oder ihren persönlichen Chronotopos zu assimilieren: 2 Das Sich-Vertiefen in eine Passionsszene mittels der imaginatio wird oft auch mit dem Ausdruck ante oculos cordis ponere (vor das innere Auge des Herzens stellen) bezeichnet […]. Zunächst soll sich der Meditierende nach der Lesung des Textes (lectio) die Szene mittels seiner Einbildungskraft (imaginatio) ins Gedächtnis rufen, indem er sich die Geschehnisse mitsamt den beteiligten Personen und dem jeweiligen Ort intensiv vorstellt und verlebendigt. 3 In diesem Aufsatz bezieht sich der Begriff ‚Anachronismus‘auf die literarische Gestaltung solcher Vergegenwärtigungsansätze - und nicht etwa auf narrativen Anachronien im Allgemeinen. Das Bedürfnis, sich die biblischen Szenen ins Gedächtnis zu rufen und mittels 1 Hildegard Keller, „losendt obenthür. Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. Am Beispiel des ‚Berner Weltgerichtsspiels‘ und des ‚Churer Weltgerichtsspiels‘“, in: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 49-70, hier S. 54. Ähnlich Bruno Quast, Von Ritus zum Spiel, Öffnungen des rituellen Texts in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen/ Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48), S. 110: „Die Duplizität des rituellen Textes, die Reprise in der Volkssprache, bekundet eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: das Noch und Nichtmehr einer rituellen Repräsentationsform des geistlichen Spiels.“ Vgl. auch Cornelia Herberichs, „Zur Zeit des Jüngsten Gerichts. Das Berliner Weltgerichtsspiel als Medium von Gleichzeitigkeit“, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Susanne Köbele und Coralie Rippl, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14), S. 321-350. 2 Zum Begriff des Chronotopos vgl. Mikhail Bakhtin, Forms of Time and of the Chronotope in the Novel, Austin 1981, besonders S. 84-85. 3 Fritz Oskar Schuppisser, „Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern“, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 169-210, hier S. 176. 138 Mary Boyle und Annette Volfing der imaginatio an ihnen teilzunehmen, kommt in mehreren literarischen Gattungen zum Ausdruck. Henrike Lähnemann hat die Rolle des inneren Auges bei imaginären Pilgerreisen betont. 4 Die imaginatio spielt auch bei realen Reisen ins Heilige Land eine entscheidende Rolle. Solche Reisen bieten reichlich Gelegenheit, die Grenzen zwischen biblischer Vergangenheit und mittelalterlicher Gegenwart auszuloten, indem der Reisende einen Zeit-Raum einnimmt, der weder ganz zur einen noch ganz zur anderen gehört. Die Illustrationen zum Reisebericht Arnolds von Harff, dessen Pilgerfahrt zwischen 1496 und 1499 stattgefunden hat, sind zum Teil Darstellungen der Tiere und Menschen der zeitgenössischen Welt und teilweise der heiligen Orte, die auf der Pilgerfahrt besucht worden sind. 5 Sieben von den Bildern aus der letzteren Gruppe zeigen Harff selbst in dem historischen Augenblick dargestellt, der dem jeweiligen Ort seine ursprüngliche Bedeutung gab. 6 Wenn z. B. Harff und seine Begleiter die Kirche des Heiligen Grabes besuchen, zeigt das Bild, wie er - in der Kleidung des 15. Jahrhunderts - mit den zwei Dieben, die zu beiden Seiten Jesu gekreuzigt worden sind, am Fuße des Kreuzes Christi kniet (Abb. 1). Harff fügt also sein zeitgenössisches Selbst in den Augenblick der Kreuzigung ein und zeigt dadurch, dass er nicht nur die tatsächliche Reise durch den Raum, sondern auch eine imaginäre Reise durch die Zeit gemacht hat. Eine solche Entscheidung, die Passion in der mittelalterlichen Gegenwart darzustellen, bietet auch eine implizite Einladung an den zeitgenössischen Leser oder Betrachter, sich selbst aktiv in diese Szene einzuleben. 4 Henrike Lähnemann, „Eine imaginäre Reise nach Jerusalem. Der Geographische Traktat des Erhart Groß“, in: Sehen und Sichtbarkeit in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin Jones, Berlin 2011, S. 408- 424. 5 Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff, hg. von E. von Groote, Köln 1860. Die Illustrationen bilden einen festen Bestandteil der Handschriftenüberlieferung. Vgl. Mary Boyle, To Be a Pilgrim: A Comparative Study of Late Medieval Accounts of Pilgrimage from Germany and England to the Holy Land, Diss. Oxford 2016, S. 152-205. Zur bildlichen Darstellung von Jerusalem im späten Mittelalter vgl. auch Elizabeth Ross, Picturing Experience in the Early Printed Book: Breydenbach’s Peregrinatio from Venice to Jerusalem, University Park, Pa 2014. 6 Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 972 überliefert alle Standardbilder (mit Ausnahme der Abbildung einer Hinrichtung in Spanien). Die hier relevanten Andachtsbilder sind: Harff und die Heiligen Drei Könige (Köln), Bl. 6v; Harff und St. Peter (Rom), Bl. 13v; Harff und St. Katharina (Sinai), Bl. 83v; Harff und St. Thomas (Kollam), Bl. 94v; Harff bei der Kreuzigung (Kirche vom Heiligen Grab: Golgatha), Bl. 111v; Harff und St. Jakobus (Compostela), Bl. 148r; Harff und St. Michael besiegen den Teufel (Mont St. Michel), Bl. 153r. Es ist unklar, wie viele Harff-Handschriften noch erhalten bleiben. Fünfzehn sind im Handschriftencensus aufgeführt: ‚Arnold von Harff: Reisebericht‘, in: Handschriftencensus www.hand schriftencensus.de/ werke/ 2461 [Letzter Zugriff 14.02.20]. Volker Honemann hat 1978 acht erhaltene Harff-Handschriften untersucht und von sechs weiteren festgestellt, dass sie als verschollen gelten müssen: Volker Honemann, ‚Zur Überlieferung der Reisebeschreibung Arnolds von Harff‘, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978), 165-178. Vier der im Handschriftencensus aufgeführten Handschriften waren ihm unbekannt; keine davon entspricht denjenigen Handschriften, die Eberhard von Groote in seiner Ausgabe der Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff als A, B und C bezeichnet hat. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 139 Abb. 1: Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 972, Bl. 111v: Arnold von Harff bei der Kreuzigung Mystische Offenbarungstexte lassen ebenfalls das religiöse Subjekt als anachronistischen Mitspieler bei den Ereignissen der Evangelien hervortreten. Die Offenbarungen der Christine Ebner beginnen damit, dass sie zu Ostern im raptus nach Jerusalem gebracht wird, wo sie die drei Marien unterwegs zum Grab sieht - und sich ihnen alz ir eine anschließt. 7 Auf einer zweiten Reise nach Jerusalem, wieder an einem Ostersonntag, besucht sie mit zahlreichen Mitgliedern ihres Klosters das Haus, in dem gerade das Abendmahl stattfindet. 8 Keller behauptet, die religiöse visio biete „eine Art Guckloch in eine andere Zeitperspektive“ an; 9 Christines aktive Teilnahme an den Ereignissen geht aber weit über das reine Beobachten der Vergangenheit hinaus. Die visio wird zu einem Mittel, die Vergangenheit zu beein- 7 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. V, App. 99, Bl. ir-v. 8 Ebd., Bl. iir. 9 Keller (wie Anm. 1), S. 54. 140 Mary Boyle und Annette Volfing flussen und neu zu gestalten. Dies wird durch die Logik des liturgischen Zyklus unterstrichen, die implizit die Auffassung unterstüzt, biblische Ereignisse seien nicht nur unendlich wiederholbar, sondern auch bis zu einem gewissen Grad verhandelbar oder veränderlich. Beim Einsatz der mit der imaginatio verbundenen Meditationstechniken kommt man fast so weit wie im eigentlichen raptus. In einer Predigt fordert Tauler seine Zuhörer dazu auf, nach Jerusalem zu ‚reisen‘, um das Leiden Christi zu bezeugen. 10 Solche anachronistischen Phantasien werden auch bildlich reflektiert: Beispielsweise zeigt eine Initiale aus einem Antiphonar aus dem Dominikanerinnenkonvent Paradies bei Soest (Anfang 14. Jh.) 11 wie eine Dominikanerin der realen Hebamme bei der Geburt des Evangelisten Johannes zur Hand geht. Auch diese Nonne leistet ihren eigenen Beitrag zur Heilsgeschichte. Mittelalterliche Erzähltexte, die die Ereignisse der Heilsgeschichte weitervermitteln, sind auch komplex in ihrem Umgang mit Zeitlichkeit. 12 Im ersten Teil dieses Aufsatzes soll die Frage gestellt werden, inwieweit die Bibelepik die eben skizzierten Strategien nutzt, um das Interesse und die affektive Teilnahme des Publikums zu fördern. Analysiert werden vier biblische Erzählungen aus dem 14. Jahrhundert: Die Erlösung, die das gesamte zeitliche Spektrum zwischen der Schöpfung und dem Jüngsten Gericht abdeckt; 13 Der Saelden Hort, der mit der Schöpfung beginnt, sich dann aber auf das Leben Christi, Johannes’ des Täufers und der Maria Magdalena konzentriert; 14 Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft, ein Text, der die Zeit von der Inkarnation bis zum Jüngsten Gericht abdeckt 15 und das Marienleben des Priesters Wernher, welches das Leben der Jungfrau zum Inhalt hat. 16 Diese Texte, wie auch andere aus diesem Bereich 17 erzeugen ein Gefühl von Jederzeitlichkeit in der Art und 10 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (DTM 11), Predigt 21, S. 85: Unser herre sprach zů sinen jungern: ›ir súllent min gezúg sin in Judeam, in Jherusalem und zů Samarien bitze an daz ende der welte‹. Jherusalem was eine stat des friden und ouch eine stat des unfriden, wan Cristus do so unmessekliche leit und bitterlichen starp. Kinder, in diser stat súllent wir sin gezúg sin, und nút mit den worten, sunder in der worheit, mit lebende und mit nochvolgende noch unserre maht. 11 Düsseldorf, Universitätsbibliothek, MS. D 9, Bl. 256r. 12 Vgl. Christian Kiening, „Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi“, in: Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, hg. von Christian Kiening, Aleksandra Prica und Benno Wirz, Zürich 2011 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 16), S. 121-137, hier S. 125: „Es entsteht eine wachsende Verzahnung verschiedener Zeitmomente: zwischen Historizität und Ahistorizität, zwischen Urzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Jederzeitlichkeit der Passion, zwischen der Erfüllung eines in der Geschichte Angelegten und dem Ausstand einer offenen Zukunft […].“ Vgl. auch Christian Kiening, „Göttlich-menschliche Anfänge. Zeitparadoxien im Fließenden Licht der Gottheit“ in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft, Berlin 2014 (Literatur - Theorie - Geschichte 3), S. 143-156, bes. S. 146-147; Henrike Manuwald, „In der selben wîle dar-… Gleichzeitigkeit in verbalen und piktoralen Erzählungen vom Christusereignis“, in: Gleichzeitigkeit (wie Anm. 1), S. 351-386. 13 Die Erlösung mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen, hg. von Karl Bartsch, Quedlinburg/ Leipzig 1858; Nachdr. Amsterdam 1966 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur, Abt. 1, 37). 14 Der Saelden Hort. Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena, hg. von Heinrich Adrian, Berlin 1927 (DTM 26). 15 Heinrich von Neustadt, ‚Apollonius von Tyrland‘ nach der Gothaer Handschrift, ‚Gottes Zukunft‘ und ‚Visio Philiberti‘ nach der Heidelberger Handschrift, hg. von Samuel Singer, Berlin 1906 (DTM 7), S. 331- 464. 16 Priester Wernher, Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hg. von Carl Wesle, zweite Auflage besorgt durch Hans Fromm, Tübingen 1969 (Altdeutsche Textbibliothek 26). 17 Vgl. Manuwald (wie Anm. 12, S. 385), die nach einer Analyse der Synchronisierungstechniken im Evangelium Nicodemi und im Marienleben Bruder Philipps zu der Schlussfolgerung kommt, „dass die Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 141 Weise, wie sie die affektive Vorstellungskraft der Rezipienten in den Erzählerkommentaren und kurzen Exkursen ansprechen. Es soll weiter gezeigt werden, dass es hier um gattungsüberkreuzende Strategien der Vergegenwärtigung geht: Trotz der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Erzählung und Drama lassen sich Ähnlichkeiten zwischen dem imaginierten Engagement des Lesers oder Zuhörers der Bibelepik und der Beteiligung des Publikums beim geistlichen Spiel beobachten. Im zweiten Teil soll die andachtsbezogene Annäherung bzw. Überschneidung der zwei literarischen modi (Erzählung und Drama) mit einem Fallbeispiel aus einer englischen Kartäuserhandschrift weiter erprobt werden: Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 enthält zwei geistliche Spiele, die ansatzweise als Erzähltexte umgeschrieben worden sind. 18 I. Anachronistische Züge in der deutschsprachigen Bibelepik Die vier bereits erwähnten bibelepischen Texte sind alle rhetorisch anspruchsvoll. Timothy Jackson veranschaulicht das darin begegnende Phänomen der „generischen Interferenz im Mittelalter“ unter besonderer Berücksichtigung von lyrischen Segmenten, die in historische Erzählungen (vor allem in Die Erlösung und in Der Saelden Hort) eingebettet sind. 19 Die Hybridität dieser Texte geht jedoch sehr viel weiter und manifestiert sich in der Einbeziehung von Gebet, didaktischer Ermahnung, erweiterter poetologischer Metapher und in einigen Fällen von allegorischer Erzählung: Die Erlösung beinhaltet den Streit der vier Töchter Gottes (V. 475-768) und Gottes Zukunft beruht in weiten Teilen auf dem Compendium Anticlaudiani, einer Prosazusammenfassung (und Umdeutung) des Anticlaudianus von Alanus ab Insulis. 20 Diese Texte sind auch von intertextuellen Bezügen geprägt. In Die Erlösung finden sich Anklänge an Vergils vierte Ekloge, wenn Christus als zweiter Achill dargestellt wird (V. 1942; 6097). 21 Der Saelden Hort vergleicht Salome mit Kriemhild (V. 3095) und verspricht, der Bericht über die Hochzeit in Kana werde genau jene Menschen begeis- Memoration von Handlungsabläufen die Grundlage für eine Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens bieten kann, also für die Verbindung eines narrativen mit einem meditativen Zugang zur Heilsgeschichte.“ 18 Zum Verhältnis der beiden modi zueinander vgl. Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur, Berlin 2003 (Allgemeine Literaturwissenschaft 6). 19 Timothy R. Jackson, „Generische Interferenz im Mittelalter. Lyrisches in der geistlichen Epik“, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf 2009, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Berlin/ Boston 2015, S. 227-246. Vgl. auch Timothy R. Jackson, „Der Saelden Hort: ich und du, Wort und Bild“, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von Walter Haug, Timothy R. Jackson und Johannes Janota, Heidelberg 1983 (Reihe Siegen 45), S. 141-154; Susanne Köbele, „Registerwechsel. Wiedererzählen, bibelepisch (Der Saelden Hort, Die Erlösung, Lutwins Adam und Eva)“, in: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier unter Mitarbeit von Fridtjof Bigalke, Berlin/ Boston 2017 (Literatur - Theorie - Geschichte 12), S. 167-202. 20 Vgl. Peter Ochsenbein, „Das Compendium Anticlaudiani. Eine neu entdeckte Vorlage Heinrichs von Neustadt“, in: ZfdA 98 (1969), S. 81-108; Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen: Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich/ München 1988 (MTU 89), S. 200-236. 21 Vgl. Walther Haug, „Die Sibylle und Vergil in der Erlösung. Zum heilsgeschichtlichen Programm der Erlösung und zu ihrer Position in der literarhistorischen Wende vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter“, in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 617-639. 142 Mary Boyle und Annette Volfing tern, die gerne Geschichten von den prächtigen Höfen des Artus, Alexanders und anderer Könige und Kaiser hören. 22 Sogar die angebliche Ablehnung höfischer Romane im Prolog zu Die Erlösung ist so formuliert, dass sie die Vertrautheit des Autors mit den Inhalten und Stilmitteln der weltlichen Literatur unter Beweis stellt: geblûmet rede seit der Grâl, hêr Iwein und hêr Parzifâl, und wie gewarp zu Cornuâl Brangêne Isôt Tristan Rewâl, und wie die clâre Blanziflûr, bestricket in der minne snûr, mit Tristande durch amûr heim ze Parmenîe fûr. solher rede ich niht enger. (Die Erlösung, V. 89-97) 23 Die Bezüge zu den geistlichen Spielen sind nicht derart explizit, sondern liegen in einem gemeinsamen Zugang zu Zeitlichkeit und Performativität: Sowohl die Spiele als auch die bibelepischen Erzählungen ermöglichen es den Rezipienten, Ereignisse aus der biblischen Vergangenheit zu ‚sehen‘ und zu vergegenwärtigen. Die liturgische Grundlage der Spiele, deren deiktische Logik darauf besteht, dass Christus ‚heute‘ geboren oder auferstanden ist, unterstüzt diesen anachronistischen Zugriff. Die deutschsprachigen Osterspiele sind besonders vielschichtig in ihrer Konstruktion von Zeit und Raum. Im Innsbrucker Osterspiel bewegen sich beispielsweise die Marien frei und nahtlos zwischen dem von Pilatus regierten Jerusalem und einer erkennbar mittelalterlichen deutschen Marktstadt. 24 Darüber hinaus verwandeln die Osterspiele auch die Zuschauer in aktive Teilnehmer am Erlösungswerk. Walter Haug behauptet, dass der Einzelne „als Mitspieler in einen Konflikt“ eintrete, 25 und Bruno Quast betont, dass die „Aufführungsgemeinde“ durch die Teilnahme am exorzistischen „Lachritual“ des „Seelenfangspiels“ zur Heilsgeschichte beitrage: „nur indem sie teilnimmt, stellt sie Erlösung her“. 26 Bei realen Aufführungen zeigen die Darsteller auf der Bühne zumindest ein Element von mimetischer repraesentatio, das die biblischen Ereignisse in die unmittelbare Erfahrungs- 22 Der Saelden Hort, V. 5413-5420: wie der kúnig Artus / hohfierte státe in sim hus, / waz wunders Allexander / begieng und maͤnig ander / kayser, kúnig bi siner zit / in sinem kunigriche wit, / wie er lept und hohfierte, / sin hof schon zierte / mit herren, stoltzen frowen […]. Vgl. Aleksandra Prica, „Ostentation. Zum Verhältnis von Phänomenen und Semantiken des Zeigens bei Thomas von Aquin und in Der Saelden Hort“, in: Das Mittelalter 15 (2010), S. 80-95. 23 Zu dieser Stelle vgl. Aleksandra Prica, Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 8), S. 240-242. Zur topischen Unvereinbarkeit geistlicher und weltlicher Literaur vgl. auch Mary Garrison, „Quid Hinieldus cum Christo“, in: Latin Learning and English Lore. Studies in Anglo-Saxon Literature for Michael Lapidge, 2 Bde, hg. von Katherine O’Brien O’Keeffe und Andrew Orchard, Toronto 2005, Bd. 1, S. 237-259. 24 Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri, hg. und übersetzt von Rudolf Meier, Stuttgart 1962 (RUB 8660/ 61). 25 Walter Haug, „Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters“, in: Ritual und Inszenierung (wie Anm. 1), S. 361-374, hier S. 369. 26 Bruno Quast, „Endzeit des geistlichen Spiels. Das Münchener Osterspiel cgm 147“, in: Ritual und Inszenierung (wie Anm. 1), S. 313-324, hier S. 318. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 143 welt des Publikums hebt. 27 Dennoch sind bei weitem nicht alle Spiele aufgeführt worden oder zur Aufführung bestimmt gewesen: Der Unterschied zwischen Lesetexten und Aufführungstexten ist öfters hinterfragt worden. Robert L.A. Clark und Pamela Sheingorn haben den Begriff des ‚performative reading‘ in Bezug auf französische illustrierte Spielhandschriften entworfen: „The written word does not remain inert on the page; rather, the act of reading transforms it into enacted text, and it is this process that we term performative reading.“ 28 Jessica Brantley betont ebenfalls für England, dass Privatandacht und Spielaufführung in imaginärer Performativität vernetzt werden. 29 Auch im deutschen Kontext ist der private Gebrauch einzelner Spiel- oder Dialogtexte als eine innere Inszenierung gedeutet worden. 30 Und kürzlich hat Cornelia Herberichs in ihrer noch unveröffentlichten Habilitationsschrift die Kategorie des geistlichen Lesespiels stark in den Vordergrund gerückt. 31 Der Begriff des ‚performative reading‘ lässt sich nicht nur in Bezug auf die im zweiten Teil zu besprechende Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 anwenden, 32 sondern auch auf die Visualisierungsstrategien der Bibelepik übertragen - so besonders bei Texten, die konkrete Aufforderungen an die imaginatio der Rezipientenschaft stellen. Der Erzähler in Der Saelden Hort ruft seine Leser häufig dazu auf, sich den biblischen Figuren in ihren Tätigkeiten anzuschließen. Manchmal ist der Kontext nur einer der moralischen imitatio, die auf der allegorischen Interpretation bestimmter Details beruht. So schlägt der Erzähler, nachdem er beschreibt, wie Johannes der Täufer in die Wüste aufbricht, ein allegorisches Äquivalent vor: dez gang hin in die wúeste, sælic frow, guͦ ter man! 27 Vgl. Rainer Warning, „Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels“, in: Ritual und Inszenierung (wie Anm. 1), S. 343-359, hier S. 347: „Die Marien und der mercator, Maria Magdalena und der hortulanus, schließlich die Jünger - ihnen allen eignet eine uns nur schwer nachvollziehbare situative Zwieschlächtigkeit, eine hybride Präsenz zwischen Ritual und mimetischer repraesentatio.“ 28 Robert L.A. Clark und Pamela Sheingorn, „Performative Reading: The Illustrated Manuscripts of Arnoul Gréban’s Mystere de la Passion“, in: European Medieval Drama 6 (2002), S. 129-172, hier S. 136. 29 Vgl. Jessica Brantley, Reading in the Wilderness. Private Devotion and Public Performance in Late Medieval England, Chicago/ London 2007. 30 Werner Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung. Zur Gattung Spiel im Mittelalter. Mit einer Edition von Sündenfall und Erlösung aus der Berliner Handschrift mgq 496, Tübingen 1980 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 28); Carla Dauven-van Knippenberg, „Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des Wienhäuser Osterspielfragments“, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik, Festschrift für Helmut Birkhan, hg. von Christa Tuczay, Ulrike Hirhager und Karin Lichtblau, Bern 1998, S. 778-787; Andrea Hofmeister-Winter, „Das Soliloquium des Andreas Kurzmann (um 1400) als Inszenierung eines ‚inneren Schauspiels‘“, in: Das Geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters, hg. von Wernfried Hofmeister und Cora Dietl unter redaktioneller Mitarbeit von Astrid Böhm, Wiesbaden 2015 ( Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20), S. 294-311. 31 Cornelia Herberichs, Schrift und Spiel. Untersuchungen zu ‚Geistlichen Lesespielen‘ des Mittelalters. Habilitationsschrift Zürich 2016. Vgl. auch ihre Aufsätze zur Medialität der geistlichen Spiele, vor allem des Berliner Weltgerichtsspiels: Dies., „Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters“, in: Transformationen des Religiösen, hg. von Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte und Elke Koch, Berlin 2002, S. 169-185; „Zur Zeit“ (wie Anm. 1); Dies., „Das Jungst Gericht půch. Zur Medialität des Berliner Weltgerichtsspiels“, in: Das Geistliche Spiel (wie Anm. 30), S. 280-293. Zusammenfassend zu den Ansätzen von Clarke und Sheingorn, Brantley und Herberichs vgl. auch Glenn Ehrstine, „Passion Spectatorship Between Public and Private Devotion“, in: Thresholds of Medieval Visual Culture: Liminal Spaces. Festschrift for Pamela Sheingorn, hg. von Elina Gertsman und Jill Stevenson, Woodbridge 2012, S. 302-320, bes. S. 317-318. 32 Brantley (wie Anm. 29), S. 293-300. 144 Mary Boyle und Annette Volfing du leg och sin wafen an: den halsperg der gerehtikeit! (Der Saelden Hort, V. 4614-4617) Marias Reise in das Hügelland Judäa (Lc 1: 39) wird ebenfalls mit der Möglichkeit verbunden, die Berge der Tugenden zu besteigen: wiltu nun gnaden werden rich, so soltu nach Marien dich von den sunden vrien, und gang uf hoher tugenden berg, heb an, vollbring állú werk! (Der Saelden Hort, V. 1014-1018) Das Kind, die Krippe und das Wickeltuch werden einer ähnlichen moralisatio unterworfen, die die Historizität der Inkarnation gewissermaßen beeinträchtigt ( V 1317-1325). Die vorgeschlagene imitatio Mariae ist aber nicht nur allegorisch. Der Erzähler ermutigt die Leser, Maria in einer mentalen Rekonstruktion der Heiligen Orte zu folgen: Gang mit der magt wider us, / ze Bethlehem, des brotes hus! (V. 1103-1104). Vor allem sollen sich die Leser die biblischen Episoden visuell vergegenwärtigen. Sie sollen Maria ‚sehen‘, wenn sie ihre Reise zu Elisabeth geistig wiederholen. Diese visuelle Vergegenwärtigung hat auch eine liturgische Verankerung, indem die Leser dazu ermutigt werden, zusammen mit Maria das Magnificat zu singen: Nu sich die maget swanger! gang mit ir dur den anger hin uf den berg ze ir muͦ men, so dir der gnaden bluͦ men, smaken die din hertze enphat, sing mit der magt magnificat, si grúetz mit Elsabeth und frów dich, so Johannes tet! (Der Saelden Hort, V. 929-936) Auch die Worte von Zacharias und Elisabeth eignen sich zur individuellen Sinngebung: Bevindestu genaden sus, so soltu benedictus in súesser melodye singen mit Zacharie. ingnaden ouch demúeteclich mit sant Elsbethun sprich in demuͦ tiges hertzen gir: ‘wannan ist daz komen mir, vil lieber herre guͦ tir, daz mich mines herren muͦ ter besehen hat in miner not? [’] (Der Saelden Hort, V. 1089-1099) Die imaginierte Reise nach Bethlehem nimmt alle inneren Sinne in Anspruch: Bistu nit mit den hirten komen ze Bethelhem und hast vernomen red und och der engel schal, Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 145 gang inden erlúhten stal, daz vih under die krippe stoss und sich daz wunder wunder gross […] (Der Saelden Hort, V. 1529-1534) Die Leser werden sogar angewiesen, das Kind auf dem eigenen Schoß zu wiegen: nit leg es in die krippe wider; / in ruͦ we setz mit im nider, / trút ez in diner schoss! (V. 1551-1553). Während die visuelle Wahrnehmung weiterhin von großer Wichtigkeit ist (du solt an es ergaffen / mit dinen ogen bede [V. 1562-1563]), werden die Leser auch dazu angehalten, sich körperlich mit Jesus zu befassen (du heb es uf und leg es nider, / dur kúss im a e llú sinú glider! [V. 1571-1572]) und bei der Kinderbetreuung mitzuhelfen, sei es beim Singen von „ninna, ninna, wægelin! “ (V. 1605) oder beim Wickeln des Kindes in seine windelin (V. 1691-1693), ehe es schließlich seiner Mutter zurückgegeben wird (V. 1702). 33 Die Leser erhalten sogar die Möglichkeit, Marias Verhalten ihrem Kind gegenüber zu beeinflussen: in dirre zartun schowe soltu die maget bitten daz si mit irem titen es wa und wa besprenge. (Der Saelden Hort, 1590-1593) 34 Der Saelden Hort mag außergewöhnlich sein, wenn er die Leserschaft auf solche Weise an der Krippenszene teilhaben lässt, aber die Idee, dass biblische Ereignisse visuell wahrgenommen werden können, ist weit verbreitet. In Gottes Zukunft beteuert der Erzähler, die Passion so zu beschreiben, wie er sie gesehen habe (V. 3097-3100), und die Leser werden aufgefordert, den gemarterten Körper des Erlösers zu betrachten (V 3003-3017; 3059-3062). Die Prophezeiung stellt eine besondere Art von anachronistischem Diskurs dar, der mit großer Wirksamkeit in biblischen Erzählungen sowie in mittelalterlichen Weltgerichtspielen eingesetzt wird. Herberichs spricht von „heterogenen Zeitinterferenzen“ im Berliner Weltgerichtsspiel und betont, wie sehr „die visionäre Rede zwischen der Form eines Augenzeugenberichts und dem Gestus einer Zukunftprognose [changiert]“. 35 Eine ähnliche chronologische Instabilität ist im Benediktbeurer Weihnachtsspiel zu beobachten, indem ein Streitgespräch über die Wahrscheinlichkeit der Jungfrauengeburt als zeitlich unbestimmt dargestellt wird. 36 In diesem Streitgespräch wird eine Seite vom Synagogenvorsteher mit Unterstützung seiner jüdischen Gemeinde vertreten; die andere von Augustinus, unterstützt von Jesaja, Daniel, der Sibylle von Cumae, Aaron und Bileam. Die Mitgliedschaft dieses letzteren Gremiums ist offensichtlich anachronistisch und hebt die Figuren aus ihrem jeweiligen historischen Zeitrahmen heraus. Grundsätzlich ist nicht eindeutig zu klären, ob die Disputanten über ein vermeintlich vergangenes Ereignis streiten oder eines, das erst noch eintreten wird. Zahlreiche Aussagen werden direkt aus Prophezeiungen des Alten Testaments übernommen; aber Augustinus spricht auch mehrfach von der Geburt Christi 33 Ehrstine (wie Anm. 31), S. 308-316, betont die kinästhetischen Aspekte der imaginatio in der mittelalterlichen Andachtspraxis. 34 In Gottes Zukunft spricht der Erzähler auch Maria mit einem Imperativ an: Maria zart, nu weine! (Gottes Zukunft, V. 3792). 35 Herberichs, „Zur Zeit“ (wie Anm. 1), S. 329. 36 Das Benediktbeurer Weihnachtsspiel, in: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt Konrad Vollmann, Berlin 2011 (Deutscher Klassiker Verlag TB 49), Nr. 227, S. 704-744. 146 Mary Boyle und Annette Volfing als zukünftiges Ereignis. 37 Erst gegen Ende des Streits geht er in die Vergangenheit über und hält die Zuhörer dazu an, das neugeborene Kind zu betrachten. 38 In einer stark visuell angelegten Textstelle im Marienleben Priester Wernhers werden die Propheten mit einer dem geistlichen Spiel ähnelnden überzeitlichen Körperlichkeit ausgestattet: Mitten in der Verkündigungsszene eröffnet der Erzähler die Perspektive auf Maria als Himmelskönigin und beschreibt, wie die Propheten ihre Textrollen (briefe) in Händen halten, sich um sie scharen und auf sie verweisen: wi si alle zuo dringent, die lange briefe si [bringent] di si selbe tihten; nv ist chomen zvo der slihten daz si hie bevore schriben; nv sint si beliben an englischer schare vnde vingerzaigent dare. (Marienleben, Bearbeitung A, Z. 2257-2264) Gideon hält sein Vlies als Zeugnis ihrer Jungfräulichkeit in die Höhe (Z. 2255-2256), Aaron lobt sie mit seiner Gerte (Z. 2249-2250), und David freut sich, so er an ir fůzzen leit (Z. 2246). Der Zeitrahmen, in welchem die Prophezeiungen stattgefunden haben sollen, ist diffus. Im Fall Jesses kommt es zur einer völligen Verschmelzung vergangener und gegenwärtiger Aussagen: Nv giht der kvnik Jesse / der maget waiz alsam der sne […] (Bearbeitung A, Z. 2251-2254). Bei Jesaja dagegen scheint es eine Unterscheidung zu geben zwischen seiner ‚jetzigen‘ Freude im Himmel und seiner früheren, alttestamentlichen Prophezeiung: Nv frevt sich Esayas / daz er weilen chvundinde waz / der maget vnbesprochen (Bearbeitung A, Z. 2239-2241). Es bleibt aber unklar, ob das Nv sich auf den Zeitpunkt der Verkündigung bezieht, auf die mittelalterliche Gegenwart der Leser oder auf die Ebene der himmlischen Ewigkeit. In Die Erlösung spielen die Propheten ebenfalls eine zentrale Rolle. 39 Die Zeitspanne zwischen dem Sündenfall und der Menschwerdung wird gänzlich durch ihre Aussagen abgedeckt, was zu einer bidirektionalen Erzählperspektive führt: Der mittelalterliche Leser blickt zurück auf diejenigen, die vorwärts blicken. Die Propheten treten dann wieder während des Descensus in die Unterwelt auf, und beim Jüngsten Gericht werden ihnen nochmals Sprecherrollen zuteil. Im ganzen Text ist es zuweilen schwierig zu differenzieren, ob sie in alttestamentlichen Zeiten, im Moment der Auferstehung oder einfach nur zeitlos sprechen. Wenn David Christus in der Hölle erkennt, deutet der Gebrauch des Praeteritums (sanc / erclanc / sprach) darauf hin, dass er auf die Höllenfahrt in Echtzeit reagiert: 37 Z.B. Das Benediktbeurer Weihnachtsspiel (wie Anm. 36), Z. 66-68: rex regum ueniet ueste sub altera, / Qui matris uirginis dum sugit ubera, / Dei et hominis coniunget federa. [,Der König der Könige wird kommen in einem anderen Kleid. Wenn er an der Brust seiner jungfräulichen Mutter trinkt, wird er das Bündnis zwischen Gott und Mensch schließen.‘] Der Synagogenvorsteher greift die selbe Zeitform auf (Z. 69-71): O Augustine, / de profundo maxime portans hec ingenio / dum futurum predicas id, quod negat ratio! [,O Augustinus, aus unergründlichen Geistestiefen förderst du dies empor, wenn du behauptest, es werde etwas geschehen, was der Vernunft widerspricht‘]. 38 Das Benediktbeurer Weihnachtsspiel (wie Anm. 36), Z. 134-136: Natum considera / quem docet littera: / ipsum genuit puerpera. [,Betrachte den Knaben, den die Schrift verkündet: Ihn hat die Mutter geboren.‘] 39 Vgl. Prica (wie Anm. 23), S. 235-276. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 147 hêr Dâvît in den frouden sanc, sîn harpfe sûze dâ erclanc. er sprach ‘diz ist der herre, der wâren sonnen sterre, der sînen heimlîchen rât sô dicke mir verkundet hât.[’] (Die Erlösung, Z. 5072-5077) Davids Schlüsselaussagen zur Auferstehung scheinen aber nicht während der Höllenfahrt gemacht zu werden, sondern schon in alttestamentlicher Zeit (sprach / jach): der lobelîche Dâvît von der ûferstende zît uns ûzer mâzen wol beschît. er sprach ‘terra tremuit.’ alsô leget er ûz den rât ‘daz ertgeruste erbidemet hât: gerûet hât ez sâ zuhant, dô got der herre heilant ûf in dem gerihte erstûnt.’ jâ der werde gottes frûnt in dem psalter aber sprach jubilierende unde jach ‘surge mea cithera’. (Die Erlösung, Z. 5192-5204) Durch den Gebrauch des Präsens (beschît / leget ûz) verleiht der Erzähler den Aussagen eine überzeitliche Dimension: Der längst verstorbene David spricht den Leser in der Gegenwart an. II. Zwischen Drama und Erzählung Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, eine Sammlung religiöser Texte in der Volkssprache, ist wahrscheinlich das persönliche Andachtsprojekt eines einzelnen englischen Kartäusermönches. Die Handschrift wird auf etwa 1520 datiert, wobei offensichtlich ein langwieriger Herstellungsprozess zu berücksichtigen ist. Die Schreibsprache und mehrere Hinweise auf Lokalheilige lassen vermuten, dass sie in Yorkshire entstand. 40 Die Auswahl der Texte zeugt von einem starken Interesse für historisches Erzählen, vorwiegend aber nicht ausschließlich in heilsgeschichtlichem Zusammenhang. Der erste Teil der Handschrift besteht aus einer Verschronik, die die Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart des Schreibers, mit Fokus auf heilige Männer und Frauen, erzählt. 41 Es 40 Da es in Yorkshire mehrere Kartäusen gab, sind verschiedene Herstellungsorte vorgeschlagen worden. Zu Beauvale, vgl. C. B. Rowntree, A Carthusian World View: Bodleian MS. e Museo 160, Salzburg, 1990, S. 13 und James Hogg, „Carthusian Drama in Bodleian MS. e Museo 160“, in: Langland, the Mystics and the Medieval English Religious Tradition. Essays in Honour of S. S. Hussey, hg. von Helen Phillips, Cambridge 1990, S. 259-270, hier S. 262; zu Kingston-upon-Hull vgl. Donald C. Baker, John L. Murphy und Louis B. Hall, The Late Medieval Religious Plays of Bodleian MSS. Digby 133 and e Museo 160, Oxford 1982 (Original Series. Early English Text Society 283), S. lxxxii. 41 Die wichtigste Quelle der Chronik ist der Fasciculus temporum des deutschen Kartäusermönches Werner Rolevinck; diese englische Fassung ist aber deutlich von der Quelle entfernt. Vgl. Hogg (wie Anm. 148 Mary Boyle und Annette Volfing folgt ein Teil eines Gedichts über das Treffen auf dem Feld des Güldenen Tuches (der Gipfelkonferenz von 1520 zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und König Franz I. von Frankreich). Dieser Teil der Handschrift ist jedoch unstrukturiert und wird durch eine Nacherzählung in Versform einer Episode aus Mandevilles Reisebericht unterbrochen, der selbst wiederum durch den Schlussteil des Feld des Güldenen Tuches unterbrochen wird. Dieser Text kann als eine Fortsetzung der Chronik gelesen werden, die er auf den neuesten Stand bringt. Nach dem Mandeville-Roman kommt eine englische Übersetzung der lateinischen Hundert Betrachtungen Heinrich Seuses. Es folgen drei Blätter mit den Fifteen Articles of the Passion. Die Handschrift wird durch zwei geistliche Spiele bzw. ein geistliches Spiel in zwei Teilen vervollständigt: Christ’s Burial und Resurrection. Mit Ausnahme der Fifteen Articles of the Passion sind alle Texte von der selben Hand geschrieben. Sowohl die Spiele wie auch die Versmeditationen heben sich von der narrativen Linearität der zusammengewürfelten Weltgeschichte (Verschronik, Güldenes Tuch, Mandeville) ab. Dennoch zeigt die Handschrift schon von Anfang an einen Hang zum Anachronismus und zu nicht-linearen Zeitmodellierungen. Die Verschronik zielt eindeutig darauf ab, die gesamte Menschheitsgeschichte zu christianisieren. Biblische Figuren, die Christus vorausgingen, werden anachronistisch als Heilige dargestellt, z. B. Sanctus Judas machabeus (Bl. 25r) und Sanctus Noe (Bl. 3r). Illustrationen und Versgebete, die an diese Figuren gerichtet sind, bewirken ebenfalls eine Zeitverschiebung, die sie in die meditative Gegenwart bringt. Im vorchristlichen Teil der Chronik wird fast die Hälfte jeder Seite von einem schwarz umrandeten, für eine Illustration vorgesehenen Feld eingenommen, obwohl diese Felder nur auf den ersten beiden Seiten mit Bildern von ‚Heiligen‘ ausgefüllt sind: Adam und Eva (Bl. 1v; Abb. 2) und Kain und Abel (Bl. 2r). 42 In der ersten Illustration werden mehrere Zeitpunkte vergegenwärtigt: Adam und Eva sitzen nackt im Garten und - trotz ihrer strategisch platzierten Hände - unterstreicht die Abwesenheit von Feigenblättern die Tatsache, dass sie noch keine Scham kennen. Dennoch wartet links vom Rahmen ein Engel mit einem Schwert in der Hand. Hierauf folgt ein Versgebet, das sich sprunghaft von Paradies und Sündenfall zum Kalvarienberg bewegt, weiter zu oure dethe, unserem Tod, und dann zurück zu Adams Buße vor der Kreuzigung und Auferstehung: Adame prince of <all> mankind First indwellerre of paradise God gave the lordshipe ose we finde Of erthly creatures in euery wise By evis worde & the fendes vice Thou lost that lif & fande our dethe Unto Ihesu the prince of price Bought the & us on Calueryes hethe Holy Fader Adame when oure brethe Sall passe vs fro thou help vs thane Os thou was first finder of our dethe 40), S. 259. 42 Im nachbiblischen Teil der Chronik kommen zu viele Heilige, als dass jeder eine eigene oder auch nur eine halbe Seite hätte, und es sind keine Illustrationen mehr vorgesehen. Gegen Ende finden wir Raum für Nachträge mit dem Vermerk This space is left for other saints in this tym whos names ar not her [,Dieser Platz wird für andere Heilige in dieser Zeit freigelassen, deren Namen nicht hier sind‘] (Bl. 48r). Die dafür vorgesehenen Seiten wurden jedoch in der Zwischenzeit herausgeschnitten. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 149 Wiss us to lyfe os thow well can Becawse thy fall was losse of man Holy fader thou did fell pennance To giff all man<kind> ensampill than- To suffer payn for ther grevance (Bl. 1v) ,Adam, Fürst aller Menschheit, erster Bewohner des Paradieses, Gott hat dir die Herrschaft gegeben, so finden wir, über jede Art von irdischem Geschöpf. Durch Evas Wort und des Teufels Bosheit hast du dieses Leben verloren und unseren Tod gefunden, bis Jesus, der lobenswerte Fürst, dich und uns auf dem Feld des Kalvarienbergs [frei]kaufte. Heiliger Vater Adam, wenn unser Atem uns verlässt, dann hilf uns. Da du als erster unseren Tod gefunden hast, führe uns zum Leben, wie du es wohl kannst. Weil dein Fall der Verlust der Menschheit war, Heiliger Vater, du hast schreckliche 43 Buße getan, um der Menschheit dann ein Beispiel zu geben, Strafe für ihr Vergehen zu erleiden.‘ Abb. 2: Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, Bl. 1v: Adam und Eva Auch wenn man diese meditativen Ansätze im narrativen Teil der Handschrift mit in Betracht zieht, bleibt die Aufnahme der Spiele in die Sammlung auf den ersten Blick überra- 43 fel, Adjektiv, erste Bedeutung: ‚verräterisch, schrecklich, grausam, geschickt‘; könnte auch als Verb verstanden werden: fillen, erste und siebte Bedeutungen: ‚auffüllen, vollziehen, durchführen‘; fẹ̄ len, erste Bedeutung: ‚fühlen, spüren‘; filen, dritte Bedeutung: ‚schänden‘: vgl. Middle English Dictionary, hg. von Hans Kurath und Sherman M. Kuhn (Ann Arbor, Mich. 1952; Nachdr. 1963) 150 Mary Boyle und Annette Volfing schend. Die dem Schweigegebot verpflichtete kartäusische Spriritualität ist normalerweise nicht mit der Abfassung oder Aufführung geistlicher Spiele vereinbar. Entsprechend selten kommen Spiele in Kartäuserhandschriften vor. 44 Obwohl die zwei hier untersuchten Spiele nur in dieser einen Fassung überliefert worden sind, herrscht Konsens darüber, dass der Schreiber nicht mit dem Autor identisch ist. 45 Die Handschrift enthält eine Notiz, die die Spiele liturgisch verankert, jedoch scheint es äußerst unwahrscheinlich, dass sie für eine tatsächliche Aufführung verwendet worden sind: This is a play to be played on part on gud frid[ay] afternone and þe other part opon Ester day after the resurrection (Bl. 140v). ,Dies ist ein Schauspiel, dessen einer Teil Karfreitag Nachmittag aufgeführt werden soll und der andere Teil Ostersonntag, nach der Auferstehung.‘ Einen Anhaltspunkt zur Funktion der Spiele liefern die Korrekturen in der Handschrift. Hier finden sich Hinweise dafür, dass der Schreiber begonnen hat, ein Spiel zu revidieren, mit dem Ziel, es in die Form einer Meditation zu bringen. Die später durchgestrichenen Korrekturen (z. B. Abb. 3), müssen Ergänzungen sein, denn sie führen zu unregelmäßigen Strophen. Nach Bl. 147r scheint der Schreiber seine experimentelle Revision abgebrochen zu haben: er hat die verbleibenden Teile in ihrem ursprünglichen Format kopiert und die anfänglichen Revisionen (wenn auch nicht konsequent) gestrichen. Im Großen und Ganzen sind die Korrekturen des Schreibers der Art, dass Zeilen, oder Teile von Zeilen, in Rot ausgestrichen worden sind. Es handelt sich hier um Formulierungen, die in einem Schauspiel weniger typisch, in einer Erzählung aber eher zu erwarten wären, meistens in der Form von ‚X sagte Y‘. Gelegentlich werden diese versehentlich stehen gelassen, wie auf Bl. 141r: O gud mawdleyn said Joseph [‚‚O gute [Maria] Magdalena‘, sagte Joseph‘]. Sobald der Schreiber sich dafür entschieden hat, den Text in seiner ursprünglichen Form als Drama zu kopieren, ist er zum Anfang zurückgekehrt und hat versucht Platz für die Rubriken zu finden (oft durch den Eintrag des Sprechernamens in roter Farbe an freien Stellen). Im Kommentar zu Bl. 140v bezüglich geeigneter Tage für die Aufführung heißt es weiter, a[t the] begynnynge ar certen lynes whic[h shuld] not be said if it be plaied [,zu Beginn sind einige Zeilen, die nicht gesprochen werden sollten, wenn es aufgeführt wird‘]. Dies macht deutlich, dass der Schreiber seine früheren Ergänzungen als unvereinbar mit dem dramatischen Modus betrachtet hat. Laut Daniel Wakelin ist dies auch ein Indiz dafür, dass das Spiel nicht aufgeführt worden ist und einen anderen Zweck hatte. 46 44 Rowntree (wie Anm. 40), S. 11. Brantley (wie Anm. 29), S. 293-294 weist auf eine „morality play“ in einer früheren Kartäuserhandschrift (London, British Library, MS. Additional 37049) hin und stellt die Frage: „Can we imagine that Carthusian monks were enacting plays, or even reading them? […] Bodleian MS e Museo [sic] confirms the Carthusian complication of meditative and dramatic genres in ways that can specifically illuminate the practice of performative reading in Additional 37049, and can provide directions for future research.“ 45 Dieser Konsens beruht darauf, dass sich die Spiele vom Rest der Handschrift dialektal unterscheiden und literarisch als qualitativ wertvoller angesehen werden. 46 Daniel Wakelin, Designing English: Early Literature on the Page, Oxford 2018, S. 152. Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte 151 Abb. 3: Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, Bl. 141r: Beispiel der Ausradierung eines narrativen Textstückes Donald Baker, John Murphy und Louis Hall sind der Auffassung, die Spiele seien ursprünglich in der Form erweiterter Meditationen konzipiert worden, der Schreiber habe dann die Idee gehabt, sie in Spiele zu verwandeln. 47 Rosemary Woolf und James Hogg meinen dagegen, dass die Texte ursprünglich als Spiele kopiert wurden; 48 und Jessica Brantley lässt die Frage offen. 49 Obwohl der meditative Zweck dieser Texte sicherlich außer Frage steht, ist der Ansatz von Woolf und Hogg überzeugender als der von Baker, Murphy und Hall: Der Schreiber scheint anfangs die Spieltexte in eine erzählende Meditation umschreiben zu wollen - vielleicht auch um die narrative Einheitlichkeit der ganzen Handschrift zu verstärken. Kurz nach Beginn seiner Arbeit hat er sich dann aber wohl entschieden, dass die ursprungliche, dramatische Form sich doch besser zur Meditation eigne. Diese Entscheidung mag damit zusammenhängen, dass der anfängliche Versuch, die Spiele zu narrativieren, zu einem Tempuswechsel geführt hat, wobei die Vergangenheit (z. B. saide) auf Kosten der Gegenwart privilegiert worden ist. Zwar finden wir gelegentliche Kompromissformulierungen, die das Präsens verwenden, aber dennoch einen historischen Ereignisverlauf zum Ausdruck bringen, zum Beispiel Bl. 147v: Joseph redy to tak crist down sais […] [,Joseph, der bereit ist, Christus herunterzutragen, sagt‘]. Darauf folgen jedoch keine weitere Beschreibungen. Der Schreiber scheint endgültig zu der Schlussfolgerung gelangt zu sein, dass die 47 Baker, Murphy und Hall, Late Medieval Religious Plays (wie Anm. 40), S. lxxix. 48 Rosemary Woolf, The English Mystery Plays, London 1972, S. 331-335; Hogg (wie Anm. 40), S. 259. 49 Brantley (wie Anm. 29), S. 298: „Whichever way we read the conversion, it reveals the generic fluidity between a drama […] and a meditation […].“ 152 Mary Boyle und Annette Volfing in einer Meditation erzielte Vergegenwärtigung im dramatischen Modus (mit den damit verbundenen Visualisierungsstrategien) doch am besten zu erreichen sei. Die Gebete und Illustrationen in der Verschronik legen bereits einige kleine meditative Pausen in der Erzählung der Weltgeschichte ein. Dennoch scheint der Schreiber sich einen größeren Umfang an solchem Material gewünscht zu haben - wie etwa die vielen kurzen Exkurse anzeigen, die kunstvoll in die deutsche Bibelepik eingebaut sind. Sie leiten den Leser zu einem ‚performative reading‘ an, indem sie ihm Anweisungen geben, wie er die Höhepunkte der Heilsgeschichte mittels aktiven Einsetzens der imaginatio vergegenwärtigen und sinnlich erleben mag. Der Kartäusermönch, der diese Handschrift verfertigt hat, ist als Schreiber bzw. Kompilator und nicht als Autor zu betrachten. Wie sich erkennen lässt, neigt er offensichtlich nicht dazu, die narrativen Texte, die er sich ausgesucht hat, so zu bearbeiten, dass meditative ‚Pausen‘ nahtlos in die Narrativierung eingesetzt werden; wie bereits erwähnt ist die Handschrift schon in der Kombination von Textblöcken nicht konsequent. Der Mönch scheint aber einen Sinn für das Vergegenwärtigungspotenzial von geistlichen Spielen gehabt zu haben. Während die Autoren der im ersten Teil besprochenen Texte analoge Strategien entwickelt und diese an ihre narrativen Texte angepasst haben, hat dieser Schreiber sich mit dem Anheften nicht-narrativer Texte außerhalb der Reihe, also nach dem eigentlichen Ende der Weltgeschichte, begnügt. Seine Korrekturen zeugen von einem anfänglichen Unbehagen beim Wechsel der modi und von der Annahme, der Gebrauch von der grammatischen Vergangenheit passe besser zum übergreifend historischen Unternehmen. Schließlich scheint er aber akzeptiert zu haben, dass das Spiel als Spiel seinen meditativen Bedürfnissen durchaus entsprochen und die vorausgehenden Textblöcken auf produktive Weise ergänzt hat. III. Fazit Der vorliegende Beitrag hat die Bedeutung von Anachronismen in Texten herausgearbeitet, welche die biblische Vergangenheit in die meditative Gegenwart des mittelalterlichen Lesers bringen wollen. Schilderungen von Pilgerreisen, seien diese imaginiert oder real, stellen für das Individuum eine Möglichkeit dar, sich die biblische Vergangenheit anzueignen und die absolute Linearität der Zeit zu überwinden. In der Bibelepik wird die Berichterstattung von Ereignissen typischerweise durch Gebete oder Exkurse unterbrochen, die die Möglichkeit einer imaginären Teilnahme an biblischen Szenen eröffnen. Ähnlich werden Prophezeiungen oft als Kunstgriff verwendet, um zeitliche Unschärfe einzuführen. Die weit verbreitete Verwendung von Anachronismen ist in vieler Hinsicht analog zur Engführung von Zeit und Raum, die man im religiösen Drama antrifft. In MS e Musaeo 160 begegnen wir schließlich einem ungewöhnlichen Schreiber bzw. Kompilator, dessen experimentelle Korrekturen sowohl sein Bewusstsein für die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Spiel und Erzählung unterstreichen wie auch seinen Wunsch, die Vorteile des Spielmodus (vor allem das Vergegenwärtigungs- und Meditationspotenzial) für seine Weltgeschichtskompilation zu nutzen. Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 153 Lebensgeschichte / Heilsgeschichte Erzählen von Figuren der Bibel am Beispiel Johannes des Täufers Rabea Kohnen Die Bibel ist für mittelalterliche Christen beides: Grundlage ihres Glaubens und Quelle historischen Wissens. In der Verbindung beider Bereiche liegt die Vorstellung einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen, die sich in der Zeit entfaltet und auf Wiedervereinigung und Erlösung zielt. Dieses im 19. Jahrhundert auf den Begriff ‚Heilsgeschichte‘ gebrachte Konzept war und ist in der Theologie umstritten, 1 hat für die Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen aber weiterhin große Bedeutung. In geistlichen und weltlichen Erzählungen des Mittelalters wurden seitens der Literaturwissenschaft durchaus unterschiedliche Konzepte und Denkmodelle unter dem Begriff der Heilsgeschichte subsumiert, wie die Vorstellung von Zeitaltern der Weltgeschichte, typologische Verfahren der Bedeutungsgenerierung, allgemeiner Denkmuster von Prüfung und Erlösung und die Vorstellung einer generellen Entwicklung der Welt zum endgültigen Heil. 2 Das Konzept Heilsgeschichte wird jedoch kaum diskutiert, sondern zumeist als Konsens vorausgesetzt, was insbesondere bei der Arbeit mit weltlichen Texttypen nicht immer unproblematisch ist. 3 1 Zur Diskussion des Konzeptes in der Theologie vgl. Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, hg. von Jörg Frey, Stefan Krauter und Hermann Lichtenberger, Tübingen 2009 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 248); Günter Lanczkowski u. a., „Geschichte/ Geschichtsschreibung/ Geschichtsphilosophie“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, Berlin 1984, S. 565-698; Alfons Weiser u. a., „Heilsgeschichte“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4. Sonderausgabe, Freiburg i. Br. 2009, Sp. 1336-1343. 2 Beispielhaft sei hier nur auf wenige Titel der letzten Jahre verwiesen: Stefanie Schmitt, „Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur. Erzählen von der Kindheit Jesu beim Priester Wernher und bei Konrad von Fußesbrunnen“, in: -Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. von Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel und Sebastian Coxon, Berlin/ New York 2012, S. 421-435; Aleksandra Prica, Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese, Zürich 2010 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 8); Marzena Górecka, „Poetische Transponierung der Heilsgeschichte in der deutschen Bibelepik des Frühmittelalters“, in: -Der Heiligen Schrift auf der Spur. Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur, hg. von Maria Klanska, Dresden 2009. Für die Beobachtung heilsgeschichtlicher Strukturen in weltlicher Literatur siehe beispielhaft Christoph Huber, „Galaad als Erlöser. Zur heilsgeschichtlichen Struktur im Prosalancelot“, in: DVjs 82 (2008), S. 205-219; Harald Haferland, „Parzivals Pfingsten. Heilsgeschichte im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in: Euphorion 88 (1994), S. 263-301. 3 Zu den Problemen der Übertragung insbesondere typologischen Denkens auf weltliche Literatur vgl. Robert Hollander, „Typology and Secular Literature. Some Medieval Problems and Examples“, in: Literary Uses of Typology from the Late Middle Ages to the Present, hg. von Earl Miner, Princeton, NJ 1977, S. 3-19; Werner Schröder, „Zum Typologie-Begriff und Typologie-Verständnis in der mediävistischen Literatur“, in: The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values, hg. von Harald Scholler, Tübin- 154 Rabea Kohnen Das sich in der Vielzahl der Beiträge zeigende Interesse deutet jedoch insgesamt darauf hin, dass es lohnenswert sein könnte, die Frage, was heilsgeschichtliches Denken eigentlich ist und wie es in narrativen Zusammenhängen funktioniert, deutlich zu stellen und an einer methodischen Schärfung zu arbeiten. In diesem Sinne werde mich in Folgenden dem chronologischen Zentrum der christlichen Heilsgeschichte, der Lebenszeit Jesu, zuwenden und am Beispiel Johannes des Täufers der Frage nachgehen, wie sich ein heilsgeschichtliches Interesse in der mittelhochdeutschen Dichtung entfalten kann und wie es zu dem für Dichtung insgesamt typischen Interesse an Lebensgeschichten, am biographischen Erzählen von Figuren, 4 in Beziehung tritt. 5 Gleichermaßen ist zu fragen, wie die narrative Arbeit an Lebens- und Weltgeschichte in Bezug zu theologischen Interessen an der jeweiligen Figur in einer systematischen Perspektive treten. Aus der Beobachtung des Zusammenspiels von biographischen, historiographischen und theologischen Interessen an der Figur des Johannes und seiner Geschichte erhoffe ich mir Erkenntnisse über die Möglichkeiten heilsgeschichtlichen Erzählens in der deutschsprachigen Bibeldichtung des Mittelalters und vielleicht auch darüber hinaus. I. Johannes der Täufer in den Evangelien Die Evangelien berichten drei Abschnitte aus dem Leben des Täufers: Kindheit, Wirken und Tod. 6 Nur Lukas erzählt, wie Zacharias und Elisabeth nach der Verkündigung des Engels Gabriel in hohem Alter doch noch einen Sohn bekommen. Noch im Mutterleib hüpft Johannes vor Freude, als die ebenfalls schwangere Maria seine Mutter besucht. Sein Vater Zacharias verliert durch sein Zweifeln am Gotteswort zunächst seine Stimme, wird nach der Geburt seines Sohnes jedoch zum Propheten. Als Mann lebt Johannes asketisch in der gen 1977, S. 64-85; Friedrich Ohly, „Halbbiblische und ausserbiblische Typologie“, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1983, S. 361-400; ders., „Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung“, in: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe Ruberg, Stuttgart u. a. 1995, S. 445-472. 4 Zum Umgang mit Figuren in mittelalterlicher Literatur insgesamt vgl. Silvia Reuvekamp, „Hölzerne Bilder - mentale Modelle? Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie“, in: Diegesis 3 (2014), S. 112-130; dies., Hölzerne Bilder? Narratologie und Anthropologie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Figurendarstellung, Habilitationsschrift Düsseldorf 2015; Markus Stock, „Figur. Zu einem Kernproblem historischer Narratologie“, in: Historische Narratologie - mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer und Carmen Stange, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 187-203. 5 In der Geschichtswissenschaft hat Walter Berschin in einer umfangreichen Schau die Breite und Vielfalt biographischen Erzählens im Mittelalter aufgezeigt (Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 5 Bde, Stuttgart 1986-2004). Auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft zeigt sich ein zunehmendes Interesse an (auto-)biographischen Werken. Vgl. z. B. Anthony Colin Spearing, Medieval Autographies. The ‘I’ of the text, Notre Dame, Ind. 2012; Christel Meier-Staubach, „Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters“, in: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21-44. Der Großteil der aktuellen Biographieforschung interessiert sich jedoch für Biographie als Gattung der Moderne, wobei der Bestimmung des Texttyps sowie der Frage nach der Darstellbarkeit innerer Wahrheit besondere Aufmerksamkeit zukommen. Vgl. dazu den Forschungsbericht („Positionen der literaturwissenschaftlichen Autobiographie- und Biographieforschung“) in Helga Schwalm, Das eigene und das fremde Leben. Biographische Identitätsentwürfe in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2007 (Text & Theorie 7), S. 43-106. 6 Im Folgenden zitiert nach: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. von Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart 2007; Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, hg. von Alfons Deissler, neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe, Freiburg u. a. 2007. Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 155 Wüste, predigt das Herannahen des Weltenendes und ruft zu Reue und Umkehr auf. Er tauft seine Anhänger, zu denen zumindest für eine Zeit auch Jesus gehört, im Jordan. Bei der Taufe Jesu offenbart sich die Göttlichkeit des Täuflings durch eine Erscheinung. Mit seinem Finger weist Johannes auf Jesus und nennt ihn das Lamm Gottes. Als Johannes die Ehe von König Herodes mit dessen Schwägerin Herodias kritisiert, lässt ihn das Königspaar ins Gefängnis werfen. Von dort aus sendet er seine Jünger zu Jesus, um sich dessen Identität als Messias zu versichern. Bei einem Hoffest des Herodes ringt die schöne Tochter der Herodias ihrem Stiefvater durch einen Tanz ein Blankoversprechen ab und fordert in Absprache mit ihrer Mutter den Kopf des Täufers. Johannes wird hingerichtet und von seinen Jüngern bestattet. Jesus lobt Johannes als den größten unter den von Frauen Geborenen. Ohne hier auf die vielfältigen Unterschiede in den Darstellungen der vier Evangelien eingehen zu können, 7 zeichnen sich mehrere Interessen an der Figur des Täufers ab. Zum einen wird Johannes in historischer Perspektive als Vorläufer Jesu gezeichnet, als Wegbereiter und als Brücke von der Zeit der Propheten hin zur Zeit der Erlösung durch Christus. Zum anderen zeigt sich ein Interesse an christlichen Glaubensinhalten, also ein dogmatisches, daran, dass die Bedeutung der Figur in ihrer Zeugenschaft für die Göttlichkeit Jesu und in der Stiftung des Taufsakraments begründet ist. 8 Damit sind zwei Dimensionen heilsgeschichtlichen Denkens angesprochen, die mir auch für die Bearbeitungen des Mittelalters prägnant erscheinen: Heilsgeschichte kann zum einen verstanden werden als eine geschichtliche Entwicklung des Heils, die beschrieben werden kann und gerade in dieser Prozessualität von Interesse ist. Sie kann aber auch verstanden werden als historische Fundierung der überzeitlichen Heilsgewissheit, die in wiederkehrenden Prozessen des Kirchenjahres oder in den Sakramenten im Leben des einzelnen Gläubigen aufgerufen wird. 9 Diese beiden heilsgeschichtlichen Perspektiven sind für die einzelnen Evangelisten unterschiedlich wichtig. Mit dem Ausbau der Kindheitsgeschichte legt Lukas das Gewicht eher auf die historische Bedeutung des Täufers als Vorläufer Jesu, wohingegen das vierte Evangelium fast ganz auf eine solche Entfaltung in der Zeit verzichtet und die theologische Bedeutung als Christuszeuge deutlich in den Vordergrund stellt. Allen Evangelien ist jedoch die Tendenz gemeinsam, Johannes in seinen Funktionen für Jesus zu beleuchten und das Leben des Täufers in seinen Eigengesetzlichkeiten und Hintergründen zurücktreten zu lassen. Dennoch vermitteln sie, auch mit dem, was sie nicht erzählen, eine Geschichte des Täufers, die der christlichen Funktionalisierung durchaus Widerständiges entgegenstellt. Denn auch in der Darstellung der Evangelien ist Johannes ein erfolgreicher Bußprediger vor und unabhängig von Jesus, das Volk hält ihn für den wiedergeborenen Elias und 7 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Josef Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation, Geschichte, Wirkungsgeschichte, Berlin/ New York 1989. 8 Besonders prononciert dazu die Ausführungen bei Cyrill von Jerusalem (4. Jh. n. Chr.): Des heiligen Cyrillus Bischofs von Jerusalem Katechesen. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Philipp Haeuser, Kempten/ München 1922 (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe 41), Katechese III,6. Das griechische Original mit lateinischer Übersetzung ist ediert in PG, Bd. 33, Sp. 433-436. 9 In diese Richtung gehen zum Beispiel die Überlegungen von Susanne Köbele, „Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende“, in: PBB 134 (2012), S. 365-404. Für Johannes den Täufer hebt Theodor Innitzer eine besondere Bedeutung dieses Heiligen hervor, dessen Fest nicht nur in der gesamten Kirche gefeiert werde, sondern zu einem eigenen kleinen Festzyklus ausgebaut worden sei, der seine Empfängnis, Geburt und Enthauptung einbeziehe, was seine Verehrung in die Nähe derjenigen Marias und Jesu rücke: Theodor Innitzer, Johannes der Täufer nach der Heiligen Schrift und in der Tradition, Wien 1908, hier S. 406. 156 Rabea Kohnen den verheißenen Messias. Sein asketisches Leben fernab jeder Zivilisation zieht zahlreiche Anhänger an. Jesus kommt noch als Unbekannter zu ihm und schließt sich - zumindest kurzzeitig - der Bewegung des Täufers an. 10 König Herodes fühlt sich von ihm so sehr bedroht, dass er ihn einkerkern und schließlich töten lässt. Auch nach Johannes’ Tod bleiben ihm seine Jünger treu, bestatten seinen Leichnam und fechten ihre Differenzen mit den Anhängern Jesu aus. 11 Zwischen den Zeilen erscheint Johannes als der schärfste Konkurrent Jesu in einer politisch und religiös höchst instabilen Zeit großer Unruhe und Umwälzungen. 12 Religionsgeschichtlich zeigt sich diese Konkurrenz in der devianten Interpretation der Mandäer, die Johannes den Täufer als wichtigsten Propheten verehren und Jesus als falschen Propheten ablehnen. 13 Die Darstellungen der Bibel bieten also vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für eine narrative Auseinandersetzung mit Johannes dem Täufer, die von den Autoren späterer Jahrhunderte sehr unterschiedlich genutzt werden. Im Mit- und Gegeneinander von biographischem, historiographischem und theologischem Interesse entsteht im christlichen Mittelalter eine Vielzahl von Johanneserzählungen. Deren Schwerpunktsetzungen und Techniken ließen sich vom Evangelienbuch Otfrids und dem Heliand über die Werke Avas, den Baumgartenberger Johannes, den Johannes des Priesters Adelbrecht, die Legendare des 13. und 14. Jahrhunderts bis hin zu den Johannesdramen des 16. Jahrhunderts zeigen. 14 Im Folgenden werde ich mich auf zwei Werke konzentrieren, die etwa zur gleichen Zeit verfasst wurden, aber beinahe paradigmatisch unterschiedlichen Wegen folgen, mit dem Leben des Täufers umzugehen. Das Passional und Der Saelden Hort sind beide um 1300 entstanden und erzählen umfangreich von Johannes dem Täufer. 10 Zur Frage, ob und wie Johannes der Lehrer Jesu gewesen sei, vgl. Ernst (wie Anm. 7). 11 Act 19,1-7. 12 Joseph Ernst beginnt seine umfangreiche Studie (wie Anm. 7, S. V) zu Johannes mit dem Satz: „Johannes der Täufer war und ist im Urteil der Theologie ein umstrittener Mann“; er sei nicht nur der „beste Mann“ Jesu gewesen, sondern eben auch sein schärfster Konkurrent. Zum historischen Umfeld vgl. auch Reza Aslan, Zealot. The Life and Times of Jesus of Nazareth, New York 2013, zu Johannes insbesondere S. 80-89. 13 Jorunn J. Buckley, The Mandaeans. Ancient Texts and Modern People, New York 2002; Caroline N. Nafs, Die Mandäer Irans. Kulturelle und religiöse Identität einer Minderheit im Wandel, Dissertation Bamberg 2010, http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 473-opus4-5115, bes. S. 37-38. 14 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, hg. von Oskar Erdmann, Tübingen 6 1973; ders., Evangelienbuch, aus dem Althochdeutschen übertragen und mit einer Einführung, Anmerkungen und einer Auswahlbibliographie versehen von Heiko Hartmann, (bislang) 2 Bde, Herne 2005 und 2014; Heliand und Genesis, 10. überarb. Auflage hg. von Otto Behaghel und Burkhard Taeger, Tübingen 1996 (ATB 4), besonders die Fitten 2, 3, 12 und 33; Heliand. Die Verdener altsächsische Evangelium-Dichtung von 830 übertragen ins 21. Jahrhundert, hg. von Clemens Burchhardt, Verden a. d. Aller 2007; Ava, Johannes, in: dies., Geistliche Dichtungen, hg. von Maike Claußnitzer und Kassandra Sperl, Stuttgart 2014 (Relectiones 3); Baumgartenberger Johannes, in: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. 2, hg. von Friedrich Maurer, Tübingen 1965, S. 134-139; Priester Adelbrecht, Johannes, in: ebd., S. 328-341. Zu den Johannesspielen vgl. Regina Töpfer, „Biblische Tragödie. Die Enthauptung Johannes des Täufers in den Dramen Johannes Aals, Hans Sachs’ und Simon Gerengels“, in: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen - Literatur - Mythos, hg. von Manfred Eikelmann und Udo Friedrich, Berlin 2013, S. 161-184; dies.: „Herodes und sein Narr. Karnevaleske Elemente in den Johannesspielen von Johannes Aal (1545), Daniel Walther (1558) und Johannes Sanders (1588)“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20 (2014/ 2015), S. 421-436. Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 157 II. Das Passional Das Passional 15 ist eine Bearbeitung der lateinischen Legenda aurea des Jacobus de Voragine. 16 Dieser gliedert die Legenden der Heiligen nach dem Kirchenjahr, hält die Erzählungen knapp und ergänzt sie mit Auslegungen und Erläuterungen. 17 Er bedient damit ein auf liturgische Verwendung zielendes theologisches oder genauer dogmatisches Interesse, das den Heilswert der Erzählungen in ihrer Aktualisierung findet. 18 Aus der Lebensgeschichte des Täufers erzählt Jacobus anlässlich von dessen beiden Festtagen (der Geburt und der Enthauptung). 19 Sowohl im Kirchenjahr als auch innerhalb der Legenda aurea liegen beide Legenden weit voneinander entfernt und können nur mit Mühe als zwei Teile einer Biographie gelesen werden - zumal das eigentliche Leben des Täufers zwischen seiner Geburt und den weiteren Umständen seines Todes nicht erzählt wird. 20 Ein besonderes Gewicht liegt auf der außerordentlichen Heiligkeit des Täufers und seinen diese begründenden heilsgeschichtlichen Funktionen. 21 Der Autor des Passionals geht einen völlig anderen Weg. Er verfolgt an Johannes - und das mag durchaus überraschen - biographische und historiographische Interessen. Im Passional findet sich die Lebensbeschreibung des Täufers am Ende des zweiten Buchs, das die biblischen Heiligen (also hauptsächlich die Apostel) behandelt. 22 Der Erzähler reflektiert diese ungewöhnliche Positionierung und begründet sie mit der eigenen willekur, den knoten der Apostel in einem Buch dichten zu wollen (V. 36409f.), sich danach den Engeln (V. 36421) und anschließend Johannes zuzuwenden, und zu erzählen, wi der gotes gewere / geborn und 15 Das Passional wird zum Teil im Deutschen Orden verortet und gilt als das bedeutendste Verslegendar des 13. Jahrhunderts. Es gibt neue Impulse und setzt Standards für das Erzählen von Heiligen. Die ersten beiden Bücher sind zugänglich in der Neuedition Passional, 2 Bde (Buch I: Marienleben, Buch II: Apostellegenden), hg. von Annegret Haase, Martin J. Schubert und Jürgen Wolf, Berlin 2013 (DTM 91). Vgl. zur Vielfalt der literarischen Formen des Passionals Andreas Hammer, Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional, Berlin 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 10). 16 Jacobus de Voragine, Legenda Aurea. Goldene Legende. Jacopo da Varazze, Legendae Sanctorum. Legenden der Heiligen, Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli, Freiburg u. a. 2014 (Fontes Christiani Sonderbände). 17 Als Einstieg zur Gattung der Vita vgl. aus historischer Perspektive Dieter von der Nahmer, Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie, Darmstadt 1994. 18 Diese Anlage machte keinen geringen Teil des Werkerfolges aus, war es doch materialreich und handlich zugleich, als Vorlage für Predigten ausgezeichnet nutzbar und offen für Ergänzungen. Vgl. dazu Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 217-219. 19 De nativitate Sancti Iohannis Baptistae (86. Legende, S. 1096-1117) und De decollatione Sancti Iohannis Baptistae (125. Legende, S. 1676-1701). 20 De nativitate Sancti Iohannis Baptistae, Abschnitt 4.3 und 5 (S. 1110-1113). 21 Diesem theologischen Darstellungsinteresse ist es angemessen, dass die Legende zur Geburt des Täufers mit der Erklärung der Bedeutung seines Namens beginnt, wodurch die heilsgeschichtlichen Funktionen des Täufers den Ausgang des Erzählens bilden. De etymologia nominis. Iohannes baptista multipliciter nominatur. Dicitur enim propheta, amicus sponsi, lucerna, angelus, vox, Elias, baptista salvatoris, praecox iudicis et praecursor regis; ‚Bedeutung des Namens. Johannes der Täufer hat viele Namen: Prophet, Freund des Bräutigams, Leuchter, Engel, Stimme, Elias, Täufer des Erlösers, Herold des Richters und Vorläufer des Königs‘ (S. 1096f.). Diese Liste, inklusive einer ersten Auslegung, setzt einen Deutungsrahmen, der durch Teile der Biographie, besonders aber durch die Auslegung und Deutung der Kirchenväter gefüllt wird. 22 Vor Johannes findet sich über die übliche Reihe der Apostel hinausgehend ein Abschnitt Von sente Michele und den andern engeln und nach der Erzählung von Johannes (durch einen gesonderten Prolog abgegrenzt) Von sente Marien Magdalenen. 158 Rabea Kohnen erslagen wart (V. 36430f.), obwohl dem Erzähler klar ist, dass ez solde billich vor geschart / den boten mit getichte wesen (V. 36432f.). Damit gerät Johannes aus der Mitte des Geschehens an die Peripherie. Aus dem ersten Buch, das die Leben Jesu und Mariae erzählt, hat der Autor des Passionals die Figur des Johannes konsequent getilgt. 23 In der entscheidenden Szene, der Taufe Jesu, wird der hier eigentlich handelnde Täufer in der wiederholten passivischen Formulierung Jesus entphie den touf (V. 5150) bestenfalls mitgedacht. Johannes wird also aus dem Zusammenhang des Jesuslebens weitgehend gelöscht, in seinen Funktionen als Vorläufer und Begründer des Taufsakraments im ersten Buch weder in heilsgeschichtlicher noch theologischer Hinsicht relevant. Dafür stiftet der Autor aber an der Peripherie gegen seine direkte Vorlage einen biographischen Zusammenhang und ein neues Deutungsfeld. In der Johanneserzählung des Passionals werden biographische Lücken gefüllt, das Geschehen prozessual entfaltet und motiviert, Chronologie und Kausalität von Johannes her gedacht. Diese Tendenzen sind auch in früheren Werken - dem Heliand, Avas Johannes und dem Johannes des Priesters Adelbrecht - deutlich, der Autor des Passionals treibt sie aber besonders weit. Das Leben von Zacharias und Elisabeth vor der Verkündigung im Tempel wird zu einer Elternvorgeschichte ausgebaut und ihr gemeinsamer Kinderwunsch mit einer emotionalen Ebene versehen. 24 Das Aufwachsen des Johannes wird als ein Geschehen in der Zeit erfahrbar, er wuchs uf von siner jugende / mit harte grozer tugende / von aller unvlat unverschart. / do er ein jungelinc gewart / und ubel unde gut verstunt, / do tet er als die seligen tunt (V. 37861-37866). 25 Auch sein Auszug in die Wüste wird als Entschluss und Handlung vorgeführt (V. 37873-37877). Die Predigttätigkeit ist als Handlung stärker narrativ entwickelt als in den Evangelien oder bei Jacobus de Voragine: Johannes’ vorbildlich-asketisches Leben lockt Zuhörer an, die von ihm wissen wollen, wie sie sich verhalten sollen. Seine Botschaft ist dafür auf das absolut 23 Er findet kurz als ungeborenes Kind im Zusammenhang des Besuches Marias bei Elisabeth Erwähnung als daz kint daz si truc / - Johannes Cristes toufer / in botschaft sin vorlaufer - (V. 1350-1352) und Maria dient Elisabeth biz geborn wart / Johannes Cristes toufer / sin heiliger vorlaufer (V. 1388-1390). An zwei weiteren Stellen (V. 6280-6286 und 9073-9095) wird der Fingerzeig Johannes’ auf das Lamm Gottes in Verbindung mit dessen Vorläuferschaft aufgerufen. Andererseits stellt der Erzähler aus der Johannesgeschichte heraus explizit Bezüge zum vorher Erzählten her. Den Besuch Marias bei Elisabeth leitet er mit den Worten ein nach der zit vugetez sich, / als ich da vor han gesaget (V. 37725f.) und verweist einige Verse später nochmal darauf, wenn er sagt: mit rede ich e wol versluc / di geschicht dar undere, wie mit grozem wundere / eine die andern entpfienc (V. 37746-37750). Der Formulierung di geschicht mit rede verslahen müsste in ihren poetologischen Konsequenzen genauer nachgegangen werden, für meinen Zusammenhang wichtig ist nur, dass hier ein Erzähler souverän über die Disposition seines Stoffes verfügt. Eine ähnliche Technik lässt sich bereits für die Johannesdichtung Avas im 12. Jahrhundert beobachten, die ihren heilsgeschichtlichen Zyklus mit einem Johannes beginnen lässt, auf den das Leben Jesu folgt. Intertextuelle Bezüge, gezielte Doppellungen und Auslassungen (im Johannes wird die Taufe Jesu nicht erzählt, die Verkündigung an Maria findet sich in beiden Texten mit unterschiedlichen Akzentsetzungen) machen die Lebenswege von Johannes und Jesus trotz ihrer Entkoppelung vielfach aufeinander beziehbar. 24 Der Text beginnt mit der Marias Mutter Anna und deren Schwester Hysmeria, die ihrerseits Elyzabethen gewan, / di wart gegeben einem man / in ir geslechte, der was / genennent Zacharias (V. 37587-V. 37590). Der Verlauf der Zeit bis zum Beginn der Handlung wird markiert (do sich der zit vil vertruc / mit ir loufenden jaren, / betrubet sere waren / Elyzabeth und Zacharias, V. 37596-37599). 25 Diese Tendenz, die biographische Lücke zwischen Geburt und Predigttätigkeit zu schließen, findet sich unter anderem auch bei Ava (V. 195-220) und dem Priester Adelbrecht (Str. 13, V. 1-6), beide wie in Anm. 14. Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 159 Wesentlichste gekürzt, er sagt nur knapp bezzert […] di sunde (V. 37906). Es scheint also mehr auf seine Tätigkeit als Prediger, denn auf die genaue Botschaft anzukommen. 26 Die stärkere Verfolgung der Eigengesetzlichkeit des Johanneslebens zeigt sich dann auch darin, dass es ohne temporale Brüche erzählt wird und der Text einen logischen Übergang von der Taufe Jesu hin zum Konflikt mit Herodes schafft. 27 Dieser Teil der Handlung wird deutlich ausgebaut und man könnte vielleicht sagen, dass Johannes, in dem Maße wie er aus der Geschichte Jesu getilgt wird, in die Familiengeschichte des Herodes verwoben wird. Dadurch entsteht eine eigene Erzähllogik: Der tugendhafte Johannes tritt dem verdorbenen Herodes gegenüber und wird so zum Helden seiner eigenen Geschichte. 28 Die Frage, warum Herodes Johannes eigentlich festnehmen ließ, wird in den drei Evangelien, die davon berichten, äußerst knapp beantwortet. 29 Trotz wichtiger Unterschiede in der Darstellung teilen sie alle die Einschätzung, die Kritik des Täufers an der Ehe zwischen Herodes und Herodias habe zu seiner Gefangensetzung geführt. Die Motivierung ist relativ schwach, selbst wenn man die politischen Implikationen dieser Kritik ernst nimmt. Das Passional rekurriert an dieser Stelle auf die Darstellung durch Flavius Josephus in seinen Antiquitates Iudaicae und es ist kaum überraschend, dass der Einfluss dieser nicht-christlichen Quelle zu neuen Perspektiven führt. 30 Flavius Josephus erklärt die Gefangennahme des Täufers damit, dass Herodes eine Rebellion verhindern wollte, denn das Volk würde alles tun, was Johannes verlange. In den Antiquitates Iudaicae ist Johannes Prediger, Prophet und politischer Unruhestifter zugleich. 31 Die Evangelien deuten diese Macht des Johannes über das Volk ebenfalls an, 32 aber es liegt nicht in ihrem Erzählinteresse, den Täufer als politischen und religiösen Führer zu etab- 26 Die Verse 37900-37905 erläutern, wie Johannes Junge und Alte, Ritter und Knechte wol als die vrunde unterrichtet. Ob mit diesen ‚Freunden‘ die Johannesjünger im engeren Sinn gemeint sind, oder daraus eher die Qualität der Lehre geschlossen werden soll, lässt sich nicht konkretisieren. 27 Eine Beseitigung der chronologischen Störung findet sich auch im Heliand (Fitte 33, V. 2698-2705) und in Avas Johannes (V. 277-312), beide wie in Anm. 14. 28 Dazu gehört neben der Elaboration der Vorgeschichte auch die ausführlichen Erzählungen von Herodes, Herodias und Salome nach dem Tod des Johannes und dem ‚Triumph‘ seiner Reliquien über ihre Verschwörung. 29 Mt 13,3-6; Mc 6,17-20; Lc 3,19-20. 30 Flavii Iosephi opera, hrsg. von Benedikt Niese, Bd. 4, Berlin 1892, Buch 18, Kap. 5.2, S. 161-162; Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Bd 2/ 2, Halle a. d. S. 1899, S. 425-429. Im Mittelalter waren die Antiquitates Judaicae durch Übertragungen ins Lateinische verfügbar und über die Rezeption in der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea bekannt (s. dazu das Kapitel „Transmission and Reception History“ in A Companion to Josephus, ed. by Honora Howell Chapman and Zuleika Rodgers, Chichester 2016, S. 305-381). 31 „Den letzteren [Johannes den Täufer] nämlich hatte Herodes hinrichten lassen, obwohl er ein edler Mann war, der die Juden anhielt nach Vollkommenheit zu streben, indem er sie ermahnte Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegen Gott zu üben und so zur Taufe zu kommen. […] Da nun infolge der wunderbaren Anziehungskraft solcher Reden eine gewaltige Menschenmenge zu Johannes strömte, fürchtete Herodes, das Ansehen des Mannes, dessen Rat allgemein befolgt zu werden schien, möchte das Volk zum Aufruhr treiben, und hielt es daher für besser, ihn rechtzeitig aus dem Wege zu räumen, als beim Eintritt einer Wendung der Dinge in Gefahr zu geraten und dann, wenn es zu spät sei, Reue empfinden zu müssen. Auf diesen Verdacht hin liess also Herodes den Johannes in Ketten legen, nach der Festung Machaerus bringen, die ich oben erwähnte, und dort hinrichten.“ (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer [wie Anm. 30], S. 425-426). 32 „Der König wollte ihn deswegen töten lassen, fürchtete sich aber vor dem Volk; denn man hielt Johannes für einen Propheten“ (Mc 14,5). 160 Rabea Kohnen lieren. Diese Darstellung steht im Konflikt zur christlichen Einhegung der Johannesfigur, erlaubt aber eine viel plausiblere Motivierung seines Lebensweges bzw. der Entscheidung seines Antagonisten. Das Passional verschärft den Konflikt zwischen Johannes und Herodes noch. 33 Der Täufer äußert seine Kritik nicht nur allgemein und in unbekannten Zusammenhängen: Seine Bußrede an Herodes wird in wörtlicher Rede wiedergegeben und als direkte Ansprache des Königs under siner ougen blicke (V. 38050) inszeniert. Diese Kritik bringt Herodes dazu zu überlegen, wi er in / von den erden brechte hin, / wand in mute sere / die predigat und die lere, / die von Johanne geschach (V. 38063-38067). 34 Im Folgenden wird klar, dass Herodes Johannes als religiösen und politischen Führer fürchtet, denn die Lehre des Johannes bedrückt ihn so sehr, sit er ouch offenlich sach, daz sich der lute vil genuc mit toufe in sinen gelouben sluc. diz merte sich von tage zu tage. Herodis leitliche clage, brach do offenlich her vur, wand er nach siner willekur liez sine knechte gahen und Johannem vahen. man vienc in erclich genuc und da mite man in sluc in eines kerkeres haft, wand Herodis vientschaft torste in nicht toden umb daz, daz er die guten lute entsaz, die Johannem heten lieb. (V. 38068-38083) Die politische Dimension des Geschehens zeigt sich in der starken Betonung der Öffentlichkeit (offenlich sach, brach do offenlich her vur). Interessant ist, dass Johannes mit einer eigenen Religion (in sinen gelouben) und eigener Anhängerschäft (die guten lute […], die Johannem heten lieb) unabhängig von Jesus erscheint. Die Figur des Johannes und sein Konflikt mit Herodes entwickeln sich hier völlig folgerichtig zwischen dem herrschenden König und einem religiösen und politischen Anführer des Volkes, biographische und historiogra- 33 Auch die Legenda aurea nimmt hier - vielleicht vermittelt über die Historia scholastica (In evangelia Kap. 73, in: PL, Bd. 198, Sp. 1575) - auf die Antiquitates Iudaicae Bezug, jedoch in deutlich geringerem Maße. Videns Herodes, quia Iohannes eum tam dure super hoc redargueret et quia ob praedicationem et baptismum secundum Iosephum magnum populum congregaret, ipsum in carcere vinculavit uxori placere cupiens et populi subsequentis Iohannem dispendium pertimescens. Ipsum autem occidere voluit, sed populum timuit; ‚Als Herodes sah, daß Johannes ihm deswegen dauernd Vorwürfe machte, und weil er mit seiner Predigt und seiner Taufe laut Josephus viel Volk um sich sammelte, ließ er ihn in den Kerker werfen, weil er seiner Frau einen Gefallen erweisen wollte und befürchtete, es mit dem Volk, das Johannes nachfolgte, zu verderben. Eigentlich wollte er ihn umbringen, hatte aber Angst vor dem Volk‘ (S. 1678f.). 34 Da Johannes’ Rede an Herodes einer Bußpredigt im Kleinen ähnelt, kann der Leser diese Aussage sowohl auf die allgemeine Predigttätigkeit des Täufers beziehen als auch auf die direkte Kritik an Herodes. Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 161 phische Interessen fördern sich gegenseitig. Im Passional wird also weniger von Johannes in seiner Bezogenheit auf Jesus erzählt, als vielmehr der tugendhafte Held Johannes in seinem Konflikt mit dem verdorbenen Antagonisten Herodes präsentiert. Diese implizite Konkurrenz zu Jesus als Messias wird aber gerade deshalb für den Text dogmatisch nicht zum Problem, weil beide Lebenswege narrativ entkoppelt sind. So kann Johannes in den folgenden Versen auch völlig bruchlos als gotes knecht (V. 38085) und gotes trut (V. 38087) beschrieben werden. Der in diesen Versen gemeinte Aspekt der Trinität ist Gott als Sohn und somit Johannes der Diener und geliebte Freund Jesu. Die Johannes-Erzählung des Passionals ist also fern davon, eine heterodoxe Sichtweise auf den Täufer zu etablieren und doch entsteht in der narrativen Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik der isolierten Biographie in ihrem historischen Setting ein Sinnzusammenhang, der die Funktion des Heiligen im Glaubenssystem zumindest nicht aktualisiert. Die biographischen und historiographischen Interessen stärken sich also gegenseitig und gehen zugleich mit einem Schwund des theologischen Interesses im Vergleich mit der lateinischen Vorlage der Legenda aurea einher, was im Rahmen des Texttyps der Legendensammlung, der so eng mit der zeitgenössischen Frömmigkeitspraxis verbunden ist und der ein ausgeprägtes Interesse an einem überzeitlichen Heil in seiner geschichtlichen Fundierung bekundet, doch überraschen mag. III. Der Saelden Hort Der Saelden Hort 35 formuliert in seinem Prolog das Programm, die Leben von Jesus, Johannes und Maria Magdalena zu erzählen: In Jesu Cristi Gottes namen / lesen, hœren alsamen / von Got und Gottes tofer: / der lebens úber lofer / wil ich sin und der frowen min, / Magdalenun der súnderin (V. 127-136). Der Text besteht aus zwei sehr ungleich langen Teilen, von denen der erste - deutlich kürzere - von Johannes und der zweite von Maria Magdelena erzählt. 36 So stark Maria Magdalena im Vordergrund des zweiten Teils steht, der weit über den Tod Jesu hinausreicht und dem Leben der bekehrten Sünderin folgt, so klar dominiert im ersten Teil über weite Strecken die Darstellung des Jesusleben, so dass Johannes nur sporadisch 35 Der Saelden Hort. Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena. Aus der Wiener und Karlsruher Handschrift hg. von Heinrich Adrian, Berlin 1927 (DTM 26). Das fragmentarische Werk umfasst 11304 Verse und ist in zwei Handschriften überliefert. Aufgrund von textinternen Anspielungen wird es bald nach 1298 datiert und im Baseler Raum lokalisiert. Vgl. dazu Peter Ochsenbein, „Der Saelden Hort“, in: 2 VL, Bd. 8, Berlin/ New York 1992, Sp. 506-509. Laut Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 4 2000, S. 389-390, hier S. 389, ist Der Saelden Hort die „umfangreichste und auch die interessanteste und eigenwilligste Bibeldichtung“ dieser Zeit. Zuletzt hat Susanne Köbele den produktiven Wechsel verschiedener ‚Register‘ in der Bibeldichtung des 13. und 14. Jahrhunderts u. a. am Beispiel von Der Saelden Hort aufgezeigt: Susanne Köbele, „Registerwechsel. Wiedererzählen, bibelepisch (Der Saelden Hort, Die Erlösung, Lutwins Adam und Eva)“, in: - Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier, Berlin/ Boston 2017, S. 167-202. 36 Dass das Leben Jesu beide Teile verbindet, hat in der Forschung zu unterschiedlichen Einschätzungen der Textfaktur geführt, die zwischen der Verwendung des Jesuslebens als Ermöglichungsrahmen für das Erzählen von Johannes und Maria Magdalena und einem Erzählen vom Leben Jesu mit inhaltlichen Schwerpunkten auf den Geschichten der beiden anderen Figuren liegen. Vgl. Ochsenbein (wie Anm. 35), Sp. 508; Bumke (wie Anm. 35), S. 389; Henrike Manuwald, „Where to Place the Images? The Scribe as ‚Concepteur‘ in Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2841 (Der Sælden Hort and Legend of St. Catherine)“, in: Manuscripta 53 (2009), S. 179-211, hier S. 182. 162 Rabea Kohnen behandelt wird. 37 Erst im letzten Drittel des ersten Teiles wendet sich das Werk überhaupt ernsthaft dem Täufer zu und bekräftigt das bereits im Prolog angesprochene biographische Programm. Hier wiederholt der Erzähler, er wolle von Johannes leptagen urhab, mittel, ende sagen (V. 2361f.). In kurzen Zügen rekapituliert er die Kindheitsgeschichte und berichtet ebenso knapp von Johannes’ Jugend und seinem asketischen Lebenswandel. Im weiteren Verlauf wendet sich der Erzähler dem Leben des Täufers detaillierter zu, unterläuft das angekündigte biographisches Programm jedoch weiter durch zahlreiche Störungen der Chronologie, die an entscheidenden Stellen die Bedeutung von Johannes für Jesus deutlich machen, den Lebensweg des Täufers aber auch fragmentieren. Dessen Nobilitierung in seiner Rolle für das Christentum geht weit über die Strategien der Evangelien hinaus. 38 Schon in die Namensgebungsszene ist ein an Mt 11,9-11 angelehntes Jesuswort über Johannes in die Erzählerrede eingebunden, das eine den Evangelientext erweiternde Systematisierung der Vorläuferrolle enthält: ‚under wibes sunen merer nie uf gestůnt noch herrer den Johannes der toufer in vier wis min vorloufer: mentsche ward er e den ich; er brediot und toufet mich; er lait dur mich, die warhait, vor mir dez todes bitterkait.‘ (V. 1005-1012). Der Zug zur Systematisierung der Johannesfigur, der sich hier in der Ausfaltung seiner Vorläuferrolle und noch mehr in der Rationalisierung seines Märtyrerstatus als Tod für die Wahrheit zeigt, zieht sich durch den gesamten Text. Diese chronologischen Störungen lenken jedoch auch immer wieder vom Lebensweg des Täufers als einem Prozess in der Zeit ab. 39 So hört Jesus von der Gefangennahme und 37 Bis zu diesem Zeitpunkt handelt nur ein Bruchteil der Verse (etwa 5-%) von Johannes. Lediglich der Aufenthalt Marias bei Elisabeth, die Geburt und Namensgebungsszene werden ausführlicher erzählt, ansonsten steht die Familiengeschichte von Maria, Joseph und Jesus ganz im Vordergrund. Dabei legt es der Text jedoch darauf an, den Faden des Lebensweges des Johannes nicht ganz aus dem Blick zu verlieren und inseriert zum Beispiel über den Bericht bei Lukas hinausgehend, wie sich Elisabeth, Zacharias und Johannes aufgrund einer Warnung von Maria ebenfalls vor dem Kindermord des Herodes retten konnten, indem sie in die Waldwildnis flohen (V. 1950-1985). 38 Bei seiner Geburt ist Maria die erste, die den Säugling auf den Arm nimmt: Maria was dú herst, / da von was sú dú erste / dú das kindelin enpfie / und mit im zů dem fúre gie. / do sus du jung maget clůg / daz kint an ir arm trůg, / hie von do sprich ain warez wort: / so grosen, richen, werden hort, / hailigen, eldeln, clůgen / , inhimel, erden trůgen / benamen zwen fúess nie / so Marien tatent hie (V. 959-970). In den Evangelien sind es zu allererst die Worte Jesu über Johannes, die ihn als den höchsten unter den von Frauen geborenen auszeichnen (Mt 11,7-19; Lc 7, 24-30). 39 Deutlich zeigt sich dies in der Wiederaufnahme der Geburtsgeschichte im letzten Drittel des ersten Buches (V. 2364-2379) mit dem expliziten Rückgriff auf das bereits Erzählte so da vor geschriben ist (V. 2379). Weitere Beispiele wären die bereits erwähnten Jesusworte über Johannes bei dessen Geburt (V. 1003-1012) oder der Verweis auf das Benedictus des Zacharias und die direkte Rede der Elisabeth zum Empfang Marias bei ihrem Besuch, die der Erzähler nach die Geburt des Johannes platziert und als Übergang des Erzählens zu Maria benutzt (V. 1089-1102). Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 163 dem Tod des Johannes, noch bevor diese Ereignisse im Text erzählt worden sind. 40 Damit folgt der Erzähler der Anordnung der Informationen in den synoptischen Evangelien und privilegiert deren funktionalisierende Lesart des Täufers gegenüber einem biographischen Interesse an Johannes. 41 Besonders klar tritt Johannes dann auch in der Szene hervor, die seine theologische Bedeutung begründet: Die Taufszene ist ganz aus seiner Perspektive erzählt. Er sieht nicht nur den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube, sondern er ist es auch, der die Stimme des Vaters hört. 42 Dass die dreifache Wahrnehmung Gottes eine besondere Auszeichnung für den Täufer ist, wird im folgenden Erzählerkommentar hervorgehoben: Got, sin personen drie sus h o e ren, grifen, sehen hie, nu merkent, wa beschah daz ie? er hort daz der vatter sprach, den sun er růrt, den gaist er sach. des sol und můs der herre min der hailigen hailigoster sin. (V. 2526-2532) Ein von dieser Funktion als der hailigen hailigoster losgelöstes biographisches Interesse zeigt sich am ehesten im letzten Abschnitt von Johannes’ Leben, denn Der Saelden Hort baut die Enthauptung beim Hoffest des Herodes markant aus und gestaltet die Episode als Intrige der Herodias voller Sex und Gewalt (V. 2548-3384). 43 Der Täufer selbst aber tritt in diesem Teil stark zurück. Zwar hält er eine längere Bußrede an Herodes, doch lässt der Autor andere Gelegenheiten, Johannes sprechen oder agieren zu lassen, ungenutzt. Selbst als Herodias den gefangenen Täufer im Kerker verhöhnt, bleibt dieser stumm. Auch die Todesszene ist kurz und wortlos. 44 Johannes stirbt still, dann wird sein Kopf zum Spielball der immer irrsinniger tanzenden Salome, die ihn durch den Saal tritt. Die sündigen Frauen stehen im Fokus des Darstellungsinteresses, ihre Handlungsrollen werden auf Kosten des eigentlichen Protagonisten stark ausgebaut. Blickt man aber von hier aus nochmals zurück auf die Präsenz des Johannes im ersten Buch des Werkes, muss man feststellen, dass Johannes zuerst hinter Maria und Jesus und dann hinter Herodias und Salome zurücktritt. Obwohl der Text auch kleinste Szenen narra- 40 Die Verse Do Jesus sach daz hin gegeben / was Johannes uf daz leben / und sin Herodes varte, / als er da nach bewarte / von Nazaret er kerte sa / hin gegen Galilea (V. 2467-2472) stehen zwischen dem Zeugnis des Johannes für Jesu (der Fingerzeig des vierten Evangeliums) und der Taufe Jesu. 41 Vgl. dazu Mt. 14,1-2 und 4,12-13; Mc 1; 14 und 6,14-16; Lc 3,19-20 und 9,7-9. 42 Johannes sach daz dar us kan / Gottes gaist von himelrich / ainer tuben gar gelich / und im uf das hobet sas. / hey, wie wunneclich si was, / wis alsam ein gimme! / gehort des vatters stimme / do sus von san Johansen wart: / ‘dis ist min lieber sun, min zart, / in dem ich wol gevallen / mir bin an dingen allen.‘ (V. 2512-2522). 43 Zum Bezug des Werkes zur höfischen Dichtung vgl. unter der Perspektive der Fiktionalität Bruno Quast, „von den ewangelien wil ich tihten. Spielräume des Narrativen in Gundackers von Judenburg Christi Hort und in Der Saelden Hort“, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, hg. von Ursula Peters und Rainer Warning, Paderborn 2009, S.-387-405. Besonders zum Tanz der Salome vgl. Julia Zimmermann, Teufelsreigen - Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen, Frankfurt a. M. 2007 (Mikrokosmos 76), S. 227-288. 44 Dass die Todesszene durchaus Gestaltungsspielraum gewährt hätte, zeigt Avas Inszenierung des Märtyrertodes (Johannes [wie Anm. 14], V. 427-432). 164 Rabea Kohnen tiv zu entfalten weiß, scheint er kaum ein Interesse am Erzählen von Johannes oder seines Lebensweges zu haben. Die bereits beobachtete Nobilitierung des Täufers setzt sich jedoch am Ende des ersten Buches in einer 300 Verse langen Passage fort (V. 3385-3693), in welcher der Erzähler Johannes mit den Erzengeln und Engelchören vergleicht und als einen Engel auf Erden preist. Der Zug zur Systematik wird nicht nur darin deutlich, dass die verschiedenen Eigenschaften des Täufers, die ihn für die zeitgenössische Verehrung qualifizieren, an bestimmte Engel gebunden werden, sondern vor allem darin, dass an dieser Stelle seine Lehre - die an der narrativ erwartbaren Stelle der Bußpredigt ausgespart worden ist - nachgeholt wird. Im Vergleich mit Raphael, der irzenie Gottes (V. 3505), wird Johannes’ Lehre anhand dreier Personengruppen aufgespalten, denen er seinerseits unterschiedliche Stärkung gibt. Den verůhten bóse wihten (V. 3515) begegnet Johannes mit den bekannten Motiven aus der Bußpredigt (Mt 3,1-12). Den Reinen verspricht er das Himmelreich und ruft sie zur Freude auf. Besonders wichtig aber ist die dritte Gruppe der mitelut (V. 3530), denen er sagt: ir mugent lihteclichen gan / uf des himelrichs weg (V. 3532f.). Diese Botschaft, dass Umkehr immer möglich ist, dass Reue, Buße und ein gutes weiteres Leben für jeden noch ins Himmelreich führen können, wird hier besonders explizit, 45 zieht sich aber insgesamt wie ein roter Faden durch die Etappen der Johanneserzählung. 46 Die Botschaft des Johannes - und auf diese kommt es dem Erzähler offensichtlich sehr viel mehr an als auf seinen Lebensweg - ist die perfekte Vorlage für das Erzählen von Maria Magdalena im zweiten Teil des Werkes. Das Versprechen, dass Umkehr zu jedem Zeitpunkt möglich ist und keine Sünde so groß, dass der Sünder nicht noch zu einem Heiligen werden könnte, wird von Maria eingelöst. 47 Johannes der Täufer ist weder in biographischer noch in narrativer, sehr wohl aber in theologischer Hinsicht und in seiner in diesem Sinne verstandenen heilsgeschichtlichen Bedeutung die Bedingung und Vorlage für die Gestaltung des Lebens Maria Magdalenas. Die Biographie des Täufers ist hier trotz der gegenteiligen Behauptung des Erzählers kaum von Interesse, sie wird eher aufgerufen als erzählt. Ähnlich wie in Otfrids Evangelienbuch im 9. Jahrhundert steht auch hier Johannes in erster Linie als Bußprediger und als Organ bestimmter Inhalte im Mittelpunkt. 48 Als heiligoster der Heiligen, dessen Rang nur Maria und Jesus übertreffen, ist er zugleich derjenige, der den gläubigen Lesern des Textes 45 ir mitelút, sehen an, / ir mugent lihteclichen gan / uf des himelrichs weg: / ir niht dem lip b o e sleg / verhenget der unkúsche! / mit unrehtem gedúsche / sin gůt ir nieman nement ab! / ir sont began úch úwer hab! / den luten tůnt spat und frů / reht als ir went daz man ú tů! ” (V. 3531-3540). 46 In der Deutung der Johannesgnade in seiner Geburtsszene verfolgt der Erzähler dieses Thema (V. 1013-1089) und in der Bußrede des Johannes an Herodes dominiert die Möglichkeit ebenfalls. Der Johannes des Saelden Hort hält keine Strafpredigten, sondern zeigt immer wieder die Alternative zum sündigen Leben auf. 47 Der Lebensweg der Maria Magdalena ist es dann auch, der beginnend mit der Vorgeschichte ihrer Eltern und bis zum Abbruch des Werkes die Erzählung trägt. Auch tritt sie narrativ an keiner Stelle so stark hinter Jesus zurück, wie dies mit Blick auf Johannes im ersten Buch der Fall ist. 48 Otfrid erzählt eindringlich und ausführlich von der Bußpredigt Johannes des Täufers. Er macht aus ihr zwei Textteile, die er für seine Leser auslegt und an ihr Leben anbindet (Buch 1, Kapitel 23, 27 und 28). Wenig später jedoch verschwindet Johannes aus dem Geschehen des Evangelienbuchs, seine Inhaftierung und Hinrichtung werden nicht erwähnt. Mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten, aber systematisch ähnlicher Tendenz steht der Täufer im Baumgartenberger Johannes ebenfalls in erster Linie für bestimmte Funktionen ein, ohne dass sich ein Interesse an chronologischen oder kausalen Zusammenhängen seines Lebenswegs artikuliert (beide wie Anm. 14). Lebensgeschichte / Heilsgeschichte 165 das Versprechen gibt, Umkehr, Orientierung zu Gott und der Eingang ins Himmelreich seien jederzeit möglich. Das persönliche Heil der Reuigen wird in der Figur des Täufers historisch verankert und fundiert. Zugleich aber wird die Botschaft des Täufers auch intratextuell fruchtbar und lässt sich damit als Beitrag zur Motivierung des Lebens der Maria Magdalena lesen, das vor dieser Folie zusätzliche Konsistenz erhält und ein sehr deutliches biographisches Interesse zeigt. Auch in Der Saelden Hort treten biographische, historiographische und theologischen Interessen in ein spannungsvolles Miteinander, das jedoch völlig andere Gewichtungen als die Darstellung des Passionals zeigt. IV. Perspektiven Biblische Figuren in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters sind für uns methodisch schwer zu fassen. Zwischen den Büchern der Bibel, die in spezifischen kulturellen und literarischen Zusammenhängen entstanden sind und dementsprechende Interessen verfolgen, der Jahrhunderte andauernden intensiven exegetischen Arbeit an diesem Material und seiner frömmigkeitspraktischen Bedeutsamkeit und bis hin zu den volkssprachlichen Dichtungen, die einerseits geglaubte Fakten präsentieren, andererseits aber anscheinend enorme Lizenzen in ihrer narrativen, literarischen und fiktionalen Gestaltung genießen, fällt es mitunter schwer, mit den historischen Personen, fiktionalen Figuren und heilsgeschichtlichen Funktionsträgern als Literaturwissenschaftler adäquat umzugehen. 49 Die gattungstypologisch gezogenen Grenzen zwischen den verschiedenen Formen der Bearbeitung der biblischen ‚Materie‘ - wie zum Beispiel Legende, Bibeldichtung oder Weltchronistik - verstellt in dieser Hinsicht möglicherweise die Beobachtung systematischer Parallelen und Zusammenhänge. Die Perspektive der Biographik könnte daher ein literaturtheoretisch zunächst niederschwelliges Angebot sein, sich den Zusammenhängen zu nähern, die sich zwischen den poetischen Verfahren antiker und mittelalterlicher Literatur, weltlichen und geistlichen Erzählens beobachten lassen. Dafür müsste man der Forderung Walter Berschins, die mittelalterliche Biographie in ihrem weitesten Wortsinn als ‚Lebensbeschreibung‘ aufzufassen und sie für alle Formen und Inhalte offen zu halten, die das Mittelalter dafür gefunden hat, 50 so entschieden folgen, dass man Biographik nicht, oder zumindest nicht nur, als Bezeichnung eines Texttyps versteht, sondern als eine Verknüpfung eines sich auf einen Menschen richtendes Erzählinteresses mit einem zumindest in Grundzügen am Konzept eines Menschenlebens gewonnenen Erzählmodell. Bezeichnend dafür erscheinen mir eine 49 Das literarische Feld der volkssprachlichen Bibeldichtung ist bislang nur unzureichend als Texttyp beschrieben. Vgl. einführend den Beitrag von Max Wehrli, „Sacra Poesis, Bibelepik als europäische Tradition [1969]“, in: ders., Gegenwart und Erinnerung. Gesammelte Aufsätze, hg. von Fritz Wagner und Wolfgang Maaz, Hildesheim/ Zürich 1998 (Spolia Berolinensia 12), S. 126-146. Aus dem wachsenden Forschungsfeld seien als Horizont exemplarisch für verschiedene Perspektiven der Betrachtung hier nur herausgegriffen: Henrike Lähnemann, Hystoria Judith: Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Berlin 2006; Krieg im Visier. Bibelepik und Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung, hg. von Edith Feistner, Michael Neecke und Gisela Vollmann-Profe, Tübingen 2007; Christian Kiening, Literarische Schöpfungen im Mittelalter, Göttingen 2015; Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier (wie Anm. 35); Henrike Manuwald, Jesus und das Landrecht. Zur Realitätsreferenz in der Bibelepik, Tübingen/ Basel 2018 (Bibliotheca Germanica 67). 50 So beinahe wörtlich Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 21. 166 Rabea Kohnen am Lebensweg einer Figur orientierte Organisation des Erzählens, die Suggestion der Vollständigkeit aller für diese Figur wichtigen Stationen und Ereignisse sowie das Stiften oder Sichtbarmachen von chronologischen und/ oder kausalen Kontiguitäten mit Bezug auf den dargestellten Lebensweg. Dass diese Charakteristika auch nur auf Teile literarischer Werke oder auf mehrere Figuren zutreffen können, ist sicher geeignet, die Komplexität biographischen Erzählens außerhalb des Texttyps der Biographie in besonderer Weise zu erhöhen. In der Betrachtung des biographischen Erzählens von biblischen Figuren zeigt sich auch, dass wir unsere literaturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs ‚Heilsgeschichte‘ differenzieren müssen, wenn wir den Verfahren der Werke näherkommen wollen. Das Beispiel des Täufers hat gezeigt, dass die gleichen heilsgeschichtlich relevanten Ereignisse mit stärker historiographischem oder stärker theologischem Interesse sehr unterschiedlich zueinander gefügt und erzählt werden können. Dabei kann ein Verständnis von Heilsgeschichte als geschichtlicher Entwicklung des Heils in einem fortschreitenden und narrativ abzubildenden Prozess von einem Verständnis als überzeitlichem Heil, das durch konkrete Bürgen in der Vergangenheit begründet und in zyklischen, rituellen Formen aufgerufen werden kann und soll, unterschieden werden. Diese Interessen an und Möglichkeiten des Begreifens von Heilsgeschichte müssten ihrerseits von Verfahren heilsgeschichtlichen Erzählens in einem weiteren Sinn, wie etwa der Typologie, abgegrenzt werden. Den Blick für die Vielfalt heilsgeschichtlichen Erzählens an den im engeren Sinn heilsgeschichtlich relevanten Stoffen der Bibel zu schärfen, erscheint mir hilfreich. So könnte das Konzept vielleicht reflektierter, als dies bislang geschehen ist, auch für weltliche Gegenstände fruchtbar gemacht werden. Traktat, Predigt oder Historia? 167 Traktat, Predigt oder Historia? Der Prosatraktat Vom Antichrist zwischen Konstruktion heilsgeschichtlichen Wissens und Paränese Cora Dietl Prolegomena: Historiographie der Zukunft? Isidors von Sevilla Definition der historia als narratio rei gestae, per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dignoscuntur (Etymologiae I,41.1: ‚Erzählung von Geschehenem, durch welche das, was in der Vergangenheit getan worden ist, wahrgenommen wird‘) 1 wirkt bis in die Neuzeit nach. 2 Geradezu als selbstverständlich gilt es, dass Historiographie ein Schreiben über Vergangenes bedeute, das mit einem gewissen Anspruch auf Wahrheit oder zumindest ohne ‚Lüge‘ (sine mendacio, I,41.2) dargeboten werde, und zwar aus der Perspektive einer Gegenwart, die das Vergangene als erinnerungswürdig (dignum memoria, ebd.) betrachtet. Diese ‚Kontinuität‘ darf nicht über deutliche Brüche im Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung seit Isidor hinwegtäuschen. Dass dem Mittelalter etwa ein moderner Begriff von Geschichte als einer „philosophisch reflektierte[n] Kategorie […], mit der ein allumfassendes Raum-Zeit-Kontinuum irdischer Geschehnisabläufe als Denkfigur bezeichnet wird“, fremd war, hat Joachim Knape mehrfach betont. 3 Dem Mittelalter fehle eine „moderne Universalkategorie“ 4 der Geschichte; dafür bilde die „alles bewegende Kraft Gottes“ den Hintergrund mittelalterlicher Geschichtsdarstellung. 5 Die mit dieser Vorstellung verbundene Weitung des Blicks über das Irdische hinaus gehört zu den entscheidenden Charakteristika der mittelalterliche Art, von ‚Geschichte‘ zu erzählen. Ein mittelalterliches Geschichts- und Zeitverständnis ist nicht denkbar ohne den Bezug auf die Ewigkeit Gottes, des Schöpfers eben jener Zeit, in der die Menschen stehen. 6 Spä- 1 Isidor von Sevilla, Etymologiarum libri XX, hg. von J.-P. Migne, in: PL, Bd.-82, Paris 1830, Sp.-9-728, hier Sp.-122B. 2 Vgl. dazu (mit Tippfehler im Isidor-Zitat): Gert Melville, Art. „Historie“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der dt. Literaturgeschichte, hg. von Georg Braungart u. a., Berlin 2007, Bd.-3, S.-49-52, hier S.-49. 3 Joachim Knape, „Die Problematik unseres Geschichtsbegriffs fürs Mittelalter“, in: Germanisch-Romanische-Monatsschrift 38 (1988), S.-15-34, hier S.-15. Vgl. auch: Joachim Knape, „Melanchthon und die Historien“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 91 (2000), S.- 111-126, hier S.- 111; Joachim Knape, ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984, S. 91 u. ö. 4 Knape, „Problematik“ (wie Anm. 3), S.-16. 5 Knape, „Problematik“ (wie Anm.-3), S.-25. 6 Vgl. Fabian Schwarzbauer, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising, Berlin 2005 (Orbis mediaevalis 6), S.-57 168 Cora Dietl testens mit dem Aufkommen des Geschichtssymbolismus im 12. Jahrhundert, als dessen herausragender Vertreter in Deutschland Otto von Freising gelten darf, 7 richtet die mittelalterliche Geschichtsschreibung ihren Blick auf den göttlichen Heilsplan, in den nicht nur das dem Menschen zugängliche Vergangene, sondern auch das nur Gott bekannte Künftige integriert ist. 8 Die von der Historiographie beschriebenen res gestae können auch Taten sein, die erst in Zukunft geschehen sein werden; so beschreibt Otto im achten Buch seiner Historia de duabus civitatibus 9 die Letzten Tage. Mit einer gewissen Sicherheit kann über sie aber nur insofern geredet werden, als sie von Christus oder den Propheten vorhergesagt sind oder sie aufgrund der typologischen Struktur der Geschichte erschlossen werden können. Nicht nur im weit gesteckten Rahmen der Weltchronistik wird historiographisch von der Zukunft erzählt; kleinere Texte erzählen auch von den Letzten Dingen allein. Einen solchen Text möchte ich im Folgenden untersuchen: Vom Antichrist. Von der Forschung als ‚Traktat‘ bezeichnet, ist er doch zumindest in einer Handschrift mit hystory überschrieben. 10 Mein besonderes Interesse gilt der (wohl durch den Laienstand des Verfassers begünstigten) Kombination verschiedener Schreibmodi im Text: des wissenschaftlichen Schreibens, des historiographischen Erzählens und der lehrhaften, predigthaften Rede. Mit diesen Schreibmodi gehen unterschiedliche Beglaubigungsstrategien für die res facta bzw. res factura einher. Gerade durch sein Hybridität kann dieser Text damit zeigen, was historiographisches Erzählen im Mittelalter zu leisten vermag und wo seine Grenzen liegen. I. Der Österreichische Bibelübersetzer Hie hebt sich an die hystory von der gepurde des antikristi vnd von seinem leben, 11 heißt es in der auf 1459 datierten Münchener Handschrift (M1) eines Textes, der in zwei anderen Handschriften, nämlich der ebenfalls auf die Mitte des 15.-Jahrhunderts datierten ehemals Donaueschinger Handschrift (D) und der auf 1478 datierten Wiener Handschrift (W) mit Tractatus de anticristo et discipulis eius 12 überschrieben ist. Eine vierte Handschrift desselben Textes aus dem Jahr 1457 (M2) vermeidet jede Gattungszuweisung: Hie hebt sich an von dem enterkryst. 13 Auch wenn die mittelalterliche volkssprachliche Literatur in der Regel und 68. 7 Vgl. Odilo Engels, Art. „Geschichte/ Geschichtsschreibung/ Geschichtsphilosophie VI: Von Augustin bis zum Humanismus“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Horst Robert Balz u. a., Bd.-12, Berlin/ New York 1987, S.-608-630, hier S.-618. 8 Vgl. Schwarzbauer, Geschichtszeit (wie Anm. 6), S.-280. 9 Otto von Freising, Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, übers. v. Adolf Schmidt, Darmstadt 5 1990, S.-582-680. 10 Zum breiten Bedeutungsspektrum von historia im Mittelalter vgl. Melville, „Historie“ (wie Anm.- 2), S.-50. 11 München, BSB, Cgm 273, Bll. 158 va -191 rb , hier Bl. 158 va . Vgl. Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201-350, Wiesbaden 1970 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,2), S.-211-216, hier S. 215. 12 Wien, ÖNB, Cod. 2846, Bll. 1 ra -29 va , hier- Bl. 1 ra (http: / / data.onb.ac.at/ rec/ AL00177988); Karlsruhe, BLB, Cod. Donaueschingen 189, Bll. 42 r -95 r , auf leerem Blatt 40 r nachgetragener Titel (urn: nbn: de: bsz: 31-37251). 13 München, BSB, Cgm 514, Bll.-118 r -135 r , hier Bl. 118 r . Vgl. Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 501-690, Wiesbaden 1978 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,4), S.-39-42, hier S. 41. Traktat, Predigt oder Historia? 169 recht frei mit Gattungsbezeichnungen umgeht und gerade auch der Begriff tractatus selbst im lateinischen Schrifttum keineswegs eindeutig bestimmt ist, 14 fällt hier doch eine gewisse Unsicherheit in der Bezeichnung auf. Die Forschung hat sich für die Bezeichnung ‚Traktat‘ entschieden: 15 Die Rede ist vom Antichrist-Traktat des sog. Österreichischen Bibelübersetzers, 16 dessen Übersetzung von großen Teilen der Bibel 17 heute vor allem durch das Akademie-Projekt von Freimut Löser große Aufmerksamkeit gefunden hat. 18 Die Schaffenszeit des im Herzogtum Österreich tätigen Anonymus wird auf die Zeit bald nach 1300 bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert; 19 der Traktat Vom Antichrist zählt zu den frühen Werken des Bibelübersetzers. 20 Die überlieferten Handschriften sind also rund 150 Jahre nach dem Text entstanden; ihre unklare Gattungszuweisung, mal in deutscher, mal in lateinischer Sprache, ist damit ein Zeugnis der Rezeption des Textes als Hybrid, der auch zwischen volkssprachlicher Prosa und der lateinischer Fachliteratur steht. Zur Unsicherheit darüber, wie das Werk einzuordnen sei, trägt sicherlich auch die Haltung des Verfassers bei, der sich als gebildeter Laie inszeniert - nicht unähnlich Wolfram 21 14 Lonni Bahmer, „Traktat“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd.-9, Tübingen 2009, Sp.-767-773, hier Sp. 767-768. 15 Elke Koch, „Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären“, in: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, hg. von Ingrid Kasten und Laura Anteri, Berlin 2017, S.-85-100, hier S. 96, spricht von einer Darstellung „in der Art eines Handbuchs“. 16 Freimut Löser hat diesen „Notnamen“, wie er ihn selbst nennt (Freimut Löser, „Neues vom Österreichischen Bibelübersetzer. Proverbia, Ecclesiastes und die Verteidigung der Laienbibel in der Vorrede I“, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag, hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin/ Boston 2011, S.-177-199, hier S. 179), durchgesetzt, nachdem die ältere These, es handle sich bei diesem Autor um Heinrich von Mügeln (Alfred Bergeler, Das deutsche Bibelwerk Heinrichs von Mügeln, Diss. Berlin 1937), nach mehrfach geäußerten Bedenken (Hans Vollmer, Bibel und deutsche Kultur VIII, Leipzig 1938, S.-159; Frederick W. Ratcliffe, „Die Psalmenübersetzung Heinrichs von Mügeln. Die Vorrede, der schlichte Psalmentext und Probleme einer Herausgabe“, in: ZfdPh 84 (1965), S.- 46-76, hier: 71; Paul-Gerhard Völker (Hg.), Vom Antichrist. Eine mittelhochdeutsche Bearbeitung des Passauer Anonymus, München 1970, S.-10-13 und dazu die kritische Rezension von Alexander Patschovsky, in: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 29 (1973), S.-268f.; Andreas Wang, „Vom Antichrist“, in: 2 VL, Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp.-397-399, hier S. 397; Kurt Gärtner, „Klosterneuburger Evangelienwerk“, in: 2 VL, Bd.-4, Berlin/ New York 1983, Sp.-1248-58, hier Sp.-1256-57), schließlich widerlegt worden war (Freimut Löser, „Heinrich von Mügeln und der Psalmenkommentar des ‚Österreichischen Bibelübersetzers‘“, in: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag, hg. von Václav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S.-689-708). 17 Genesis, Exodus, Tobit, Daniel, Job, Psalmen, Proverbia, Ecclesiastes, Evangelien. Vielleicht war auch eine vollständige Bibelübersetzung geplant. 18 https: / / bibeluebersetzer.badw.de/ das-projekt.html [15.02.2020]. 19 Gisela Kornrumpf, „Österreichischer Bibelübersetzer“, in: 2 VL, Bd.-11, Berlin/ New York 2004, Sp.-1097- 1110, hier Sp. 1098. 20 Manuela Niesner, ‚wer mit juden well disputiren‘. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14.- Jahrhunderts, Tübingen 2005, S.- 52; Jörg Hennig, Chronologie der Werke Heinrichs von Mügeln, Hamburg 1972, S.-290. 21 Auf eine Wolfram-Rezeption weist die Vorstellung vom Dreigestirn heidnischer Gottheiten in Vom Antichrist (hg. v. Völker, wie Anm.-16) hin: vnd wird sich höhend uber den lebendigen gott vnd dar zuo uber alle götter, Machmet, Appollo vnd Teruigant vnd wie sy gehaissen sind (§-8, Z.-743-746), vgl. Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg. von Werner Schröder, übers. von Dieter Kartschoke, Berlin 3 2003: nu wert êre unde lant,-/ daz Apolle und Tervigant-/ und der trügehafte Mahmete-/ uns den touf iht under trete (17,19-22). Ich danke Herrn Kollegen Kurt Gärtner für den Hinweis, dass sich der Österreichische Bibelübersetzer auch in seinem Bibelwerk direkt mit Wolfram identifiziert. 170 Cora Dietl und mit Argumentationsstrukturen, die zum Teil an Berthold von Regensburg erinnern. 22 So schreibt er in der von Löser als ‚Vorrede I‘ bezeichneten Verteidigungsschrift, 23 viele sprächen ihm neidisch und hoffärtig die Fähigkeit ab, ein solches Werk zu verfassen, weil er nicht studiert habe. Dass dem so sei, gibt er offen zu, aber was ihm fehle, das könne doch mit der Hilfe des Heiligen Geistes vnd mit wol gelertter lewt hilff vnd rat (I,-238) ausgeglichen werden. Schließlich sei er schon so manch einem begegnet, der in hochen schuelen gestannden ist vnd ist in der ainualt herwider koͤ men vnd er aus fuer (I,-239-240), weil die Studenten sich den Artes liberales widmen und nicht die Heilige Schrift lesen. Ein Universitätsstudium garantiere nicht von sich aus Bibelkenntnisse und Bibelverständnis, wann ettleich einuoltig layn sind, die die heiligen ewangely, vnd halt ander heilig schrifft, vollichleicher vnd aigenleicher an allen orten verstent, dann ettleich, die des wenten, sy chunnen das, das sy doch nye gehoͤ rtten. (I,-245-248). Der Österreichische Bibelübersetzter übersetzt nicht nur, 24 sondern er kommentiert auch die von ihm übersetzten Bibelpassagen; dabei warnt er insbesondere vor Irrlehren der Ketzer, der Juden und der falschen Philosophen. 25 Eben diese Warnung steht auch im Zentrum des Traktats Vom Antichrist. Der Traktat 26 fußt auf dem lateinischen Sammelwerk des Passauer Anonymus über Ketzer, Juden und den Antichrist, das seinerseits zuweilen mit liber, 27 zuweilen mit tractatus, 28 zuweilen mit collectio scriptorum 29 überschrieben ist. Dieses, wohl das Werk eines Dominikaners, der unmittelbar in die Inquisition eingebunden war, war im Kontext der 22 Vgl. Berthold von Regensburg, Predigt zu Eph 5,15: „Ihr sollt weise sein, damit es euch nicht ergeht wie den Toren.“ Weisheit setzt nach Bertholds Ausführungen (bzw. denen des Redaktors seiner Predigten) keine Bildung voraus, denn die höchste Weisheit sei es, sich vor den Todsünden zu schützen, diese Weisheit, die mag iu lieber sîn danne alle die wîsheit die alle meister kunnent … Sô mac sie iu lieber sîn danne alle die wîsheit die alle sternenseher künnent oder alle die von wurzen oder von sternen künnent. Si ist iu ouch nützer danne aller der meister kunst die ze Pârîs sint oder ze Orlense oder ze Montpaselier oder ze Salerne oder ze Padowe oder ze Bonônie, si enkünnen danne die drîe wîsheit, die ich iuch hie lêren wil (Predigt 1). Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch, hg. von Franz Pfeiffer, Wien 1862, Nachdr. Berlin 1965, Bd.-1, S.-5, Z.-24-31. 23 Freimut Löser und Christine Stöllinger-Löser, „Verteidigung der Laienbibel. Zwei programmatische Vorreden des österreichischen Bibelübersetzers der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von Konrad Kunze u. a., Tübingen 1989 (Texte und Textgeschichte 31), S.-245-313, hier S. 280-292. 24 Schon allein wegen seines klaren und flüssigen sprachlichen Ausdrucks ist sein Übersetzungsprojekt in eine Linie mit späteren Übersetzungsprojekten wie dem Luthers gestellt worden: Kurt Gärtner, „Die erste deutsche Bibel? Zum Bibelwerk des Österreichischen Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Mit zwei neuen Handschriftenfunden zum Klosterneuburger Evangelienwerk und zum Psalmenkommentar“, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, hg. von Horst Brunner und Norbert R. Wolf, Wiesbaden 1993, S.-173-295, hier S. 289; Fritz Peter Knapp, „Der Österreichische Bibelübersetzer“, in: ders., Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, 1.-Hbd, Graz 1999, S.-215-233, hier S. 215. 25 Kornrumpf, „Österreichischer Bibelübersetzer“ (wie Anm.-19), Sp.-1099. 26 Völker, Vom Antichrist (wie Anm.-16). 27 München, BSB, Clm 2714. Vgl. Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, hg. von Karl Halm u. a., Bd.-I,2, München 2 1894, S.-31. 28 München, BSB, Clm 9558. Vgl. Halm, Catalogus (wie Anm.-27), Bd.-II,1 (1874), S.-103. 29 München, BSB, Clm 311. Vgl. Halm, Catalogus (wie Anm.-27), Bd.-I,1 (1892), S.-78. Traktat, Predigt oder Historia? 171 Verfolgung der österreichischen Waldenser um 1260 entstanden. 30 Um 1311-1315 aber kam es in Steyer, St. Pölten, Wien und Krems zu neuen Waldenserverfolgungen. Damit konnte das Werk des Passauer Anonymus wieder aktuell werden. 31 Zudem war zu Beginn des 14.- Jahrhunderts das Thema ‚Antichrist‘ dadurch besonders aktuell geworden, dass Arnaldus de Villanova in seinem Tractatus de tempore adventus Antichristi das Kommen des Antichrist für die Zeit zwischen 1335 und 1376 vorhergesagt hatte. 32 Seine Prophezeiungen lösten an der Universität Paris ab 1300 eine heftige Debatte über die Berechenbarkeit der Ankunft des Antichrist aus. II. Der ‚Traktat‘ eines Laien: Weichenstellungen im Prolog Nicht nur in seinem Bibelwerk, sondern auch im Prolog des Antichrist-Traktats bekennt sich der Österreichische Bibelübersetzer mit klaren Worten zu seinem Laienstand; so beginnt der Text mit den Worten: [W]an manig in diser welte sind, die laider die saligen lere der brediger nit achtend vnd auch die hailigen geschrift selb nit wellend lesen noch lernen, vnd darumb daz sy der hayden bůch ettlichen tail gehört habend, so wenend sy maister vnd phylosophy ze sin, daz in doch vnkúnd ist vnd kunnend also weder die hailigen geschrift noch ir kunst ze recht. Daruon widerredent sy die hailigen geschrift von ir vnkunst vnd von irem tummen wǎne, als kúnig Salomon spricht: der ist auch tumm vnd vnweiß, der vngelert ist (I, 1-12). Diese Argumentation ist letztlich die gleiche wie in der Verteidigungsschrift. Dabei wertet der Prolog sehr deutlich und schlägt damit einen Ton an, der charakteristisch ist für die restliche Schrift: Der saligen Lehre der Prediger und der hailigen Schrift werden der hayden Bücher und ihre Leser gegenübergestellt, die die Hl. Schrift laider nicht wahrnehmen, die nur wenend, Meister zu sein, aber doch vnkúnd sowohl der Hl. Schrift als auch der Philosophie sind. Sie widersprechen der Hl. Schrift aus vnkunst und tummen wǎne. Der entschieden Position beziehende, 33 lehrhafte und paränetische Ton ist für einen mittelalterlichen Traktat, der zuweilen einer schriftliterarischen Spielart der Predigt gleicht, charakteristisch. 34 Bereits für die Spätantike und das frühe Mittelalter sieht Uta Störmer-Caysa Schwierigkeiten einer Abgrenzung zwischen Predigt und Traktat, 35 bildet doch auch die tractatio (dilatatio) nach scholastischer Predigtlehre den Kern einer Predigt. 36 Den Haupt- 30 Vgl. grundlegend dazu: Alexander Patschovsky, Der Passauer Anonymus. Ein Sammelwerk über Ketzer, Juden, Antichrist aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1968, S.-157-168 (mit Inhaltsparaphrase); ders., „Passauer Anonymus“, in: 2 VL, Bd.-7, Berlin/ New York 1989, Sp.-320-324. Der Text selbst ist nicht ediert. 31 Vgl. Kornrumpf, „Österreichischer Bibelübersetzer“ (wie Anm.-19), Sp. 1099. 32 Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen: Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S.-282; Raoul Manselli, „Arnaldus von Villanova“, in: LexMA, Bd.-1, München 2002, Sp.-994-995, hier Sp. 995; Bernard McGinn, Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994, S.-166. 33 Vgl. Gerhard Haas, Essay, Stuttgart 1969, S.-62: „Im Traktat gibt es nur eine Sicht des Gegenstandes.“ 34 Vgl. Bahmer, „Traktat“ (wie Anm.-14), Sp.-770. 35 Uta Störmer-Caysa, „Traktat“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Georg Braungart u. a., Berlin 2009, Bd.-3, S.-674-676, hier S. 675. 36 Albrecht Beutel, „Predigt. Definition“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd.-7, Tübingen 2005, Sp.-45-51, hier Sp. 48; Heinz-Günther Schöttler und Albert Biesinger, „Predigt. Geschichte: Mittelalter“, ebd., Sp.-59-64, hier Sp. 61. 172 Cora Dietl unterschied zwischen den Gattungen darf man wohl in ihrer Medialität sehen - und in der Autorisierung von Predigten durch das Amt, 37 daneben natürlich auch in der Verpflichtung der Predigt auf Bibelexegese 38 gegenüber der thematischen Freiheit des Traktats. Bemerkenswert ist, wie der Österreichische Bibelübersetzer im Prolog seines ‚Traktats‘ Bibelzitate einsetzt. Die Behauptung, mangelnde biblische Bildung führe zu einem Widerspruch zur Bibel aus tummen wǎne, d. h. aus Verblendung und falscher Einbildung, belegt er mit der Salomon in den Mund gelegten Aussage: der ist auch tumm vnd vnweiß der ungelert ist (I, 12). Gemeint ist Prov 21,24: superbus et arrogans vocatur indoctus. Für den Gebildeten, der das Zitat kennt, wird durch dessen Verwendung verdeutlicht, wie der Bibelübersetzer den indoctus versteht: Er ist nicht nur, wie es der deutsche Wortlaut vermittelt, tumm, d. h. blind für die Weisheit, sondern er ist es aus eigenem Verschulden, da er superbus et arrogans ist und auf seine eigene Geisteskraft vertraut. Er verschließt Auge und Ohr vor der göttlichen Wahrheit - und hier heißt das speziell: was die hailig geschrift von dem anticrist sait, daz ist in vnkund vnd jechend, es sey nur ein spyl. (I, 12-14). Der indoctus ist damit das ideale Opfer einer Verführung durch den Antichrist, weil er die Wahrheit der Heilsgeschichte nicht erkennt. Vielleicht ist auch der syntaktisch ungewöhnliche Anfang des Textes als frei variiertes Bibelzitat zu verstehen, 39 nämlich als Anspielung auf Ps 3,1: Domine quid multiplicati sunt qui tribulant me (Septuaginta) bzw. Domine quare multiplicati sunt hostes mei (Hebr.). 40 Damit wären von Anfang an diejenigen, die meinen, Meister der Philosophie zu sein, sich aber der Lehre der Prediger und der Hl. Schrift verweigern, als hostes des Sprechers markiert, der sich mit seinem ‚Klagepsalm‘ auf die Seite Davids und der Gerechten stellt. Beide Quasi-Zitate im Prolog aber erkennt bzw. durchschaut nur der ‚Gebildete‘ im Sinne des Bibelübersetzers, nämlich der, der die Bibel gründlich studiert hat. Der ‚Traktat‘ stellt sich gegen eine auf hayden bůch gestützte Philosophie und damit gegen genau jene Art von Wissenschaft, die der Gattung ‚Traktat‘ ihr im Spätmittelalter maßgebliches Gepräge gegeben hat: nämlich das des scholastischen Traktats. 41 Er zielt darauf, den tummen die Augen zu öffnen und ihnen zu demonstrieren, dass das, was die Bibel und was die anderen heiligen Schriften 42 vom Antichrist sagen, wahr ist; sie sollen erkennen, dass dieser eine ernste Bedrohung und eine heilsgeschichtliche Wahrheit darstellt, die eine rein philosophische Weltbetrachtung nicht erfassen kann. Zusammenfassend formuliert der Österreichische Bibelübersetzer, dass er denen, die nicht daran glauben, dass der Antichrist kommen werde, widersprechen wolle: den selben wider ze reden ze bessrung 37 Vgl. Burkhard Hasebrink und Hans-Jochen Schiewer, „Predigt“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Georg Braungart u. a., Berlin 2009, Bd.-3, S.-151-156, hier S.-151-152. 38 Vgl. das Dekret Circa modum praedicandi des 5. Laterankonzils, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. von Josef Wolmuth, Bd.-2, Paderborn 2000, S.-636,23-35, zit. in: Schöttler/ Biesinger, „Predigt“ (wie Anm.-36), Sp.-63. 39 Der Anfang folgt nicht der Vorlage. Diese, d. h. der Passauer Anonymus, beginnt mit einer Divisio des folgenden Teils seines Traktats (In hac quarta parte huius opusculi agitur: primo de antichristo), vgl. Patschovsky, Passauer Anomymus (wie Anm.- 30), S.- 157. Im Folgenden zitiere ich den Passauer Anonymus aus der Handschrift: Collectio scriptorum de haereticis, imprimis de Waldensibus anno 1260 composita, München, BSB, Clm 311 (urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00039848-8 [15.03.2020]), Bll.-72 r -79 r , hier Bl. 72 rb . 40 Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, hg. von Roger Gryson, Stuttgart 4 1994. 41 Vgl. Störmer-Caysa, „Traktat“ (wie Anm.-35), S.-675. 42 Im Folgenden führt der Österreichische Bibelübersetzer aus, was er damit meint: Schriften, welche die Worte der Propheten, der Heiligen und Christi festhalten. Traktat, Predigt oder Historia? 173 oder ze scham wil ich all hie zu tútsch bringen mit urkúnde der hailigen geschrift, daz der böß anticrist kúnftig ist (I, 18-21). Er beansprucht damit Wahrheit für seine paränetische Darstellung künftiger historia, die ja bereits feststehe. Indem er sich bei seinem Streit gegen die indocti für die Waffen der Bibel, aber für die deutsche Sprache entscheidet, öffnet der Verfasser seinen Adressatenkreis. Mit seinem verbalen ‚Schaukampf‘ wendet er sich an all diejenigen, die dem Wort Gottes zuhören können und wollen. Damit stellt er sich letztlich auf eine Ebene mit den von den tummen ignorierten Predigern - als Laie, und das in einer Zeit, in der im Kontext der Waldenserbekämpfung die Frage des Laienpriestertums von höchster Brisanz ist. Im Schlussgebet des Prologs, fester Bestandteil des Eingangsteils einer Predigt, 43 bittet er schließlich um die Eingebung des Heiligen Geistes. Das Buch - ein Begriff, der freilich der grundsätzlich mündlichen Gattung ‚Predigt‘ wider- und der schriftlichen Gattung ‚Traktat‘ entspricht - möge mit göttlicher Inspiration so geschrieben werden, dass nicht nur der Verfasser dafür ewigen Lohn erhalte, sondern vor allem daz die vngelaubhaften dar mit gebessert werdind (I,-31-32). Der an der Ankunft des Antichrist zweifelnde indoctus ist damit endgültig mit dem Ungläubigen identifiziert, während der Verfasser für sich einen ‚Missions-Auftrag‘ reklamiert. Mit diesem Prolog positioniert der Österreichische Bibelübersetzer seinen ‚Traktat‘ zwischen den Textsorten Traktat und Predigt; von einer hystory, wie ihn der Schreiber der Münchener Handschrift M1 betitelt, scheint der Text weiter entfernt zu sein. Zwar erhebt die Historia ebenso wie der Traktat und die Predigt Wahrheitsanspruch, sie gehört aber zu den narrativen Darstellungsformen. 44 Nach Definition der Rhetorica ad Herennium beschreibt die Historia eine gesta res, sed ab aetatis nostrae-/ memoria remota (I,13), ‚ein wirklich geschehenes Ereignis, das aber von unserer Zeit weit entfernt liegt‘, 45 und beruht dabei auf einer ‚kurzen, deutlichen und wahrscheinlichen‘ Darstellung: ut brevis,-/ ut dilucida, ut veri similis sit (I,14). Von der Vorstellungswelt des Rezipienten zunächst ‚leider‘ weit entfernt, wahr und wahrscheinlich ist die ‚Geschichte‘, die der Österreichische Bibelübersetzer erzählt, allerdings ist sie keine bereits geschehene, sondern eine zukünftige Geschichte, die aber als Heilsgeschichte schon festgelegt ist. Damit hat die Bezeichnung hystory inhaltlich durchaus ihre Berechtigung. Zu untersuchen ist im Folgenden, ob der ‚Traktat vom Antichrist‘ auch in seiner Darstellungs- und Kommunikationsform Elemente der Historia übernimmt und inwiefern ein Wechsel der Darstellungsform vom Traktathaften oder Predigthaften zum Narrativ-Historiographischen die Wirkung und Überzeugungskraft des Textes zu verstärken vermag. 43 Beutel, „Predigt“ (wie Anm.-36), Sp.-51; Schöttler/ Biesinger, „Predigt“ (wie Anm.-36), Sp.-61. 44 Melville (wie Anm.-2), S. 49-50; Joachim Knape, „Historia“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd.-3, Tübingen 1996, Sp.-1406-10, hier Sp. 1406. 45 Rhetorica ad Herennium, lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Theodor Nüsslein, Düsseldorf/ Zürich 2 1998. Ich folge hier der Übersetzung von Nüsslein, wobei allerdings ‚Ereignis‘ nicht terminologisch verstanden werden darf, sondern eher im Sinne von ‚Sache‘. 174 Cora Dietl III. Beglaubigung durch die Struktur Im Rahmen seiner Einteilung der modi eines Redners nennt Dante als eine Form der Sicherung der Überzeugungskraft einer Rede den modus divisus, 46 d. h. letztlich die Imitation der in der Scholastik etablierten Methode, zu Beginn einer quaestio die Frage zunächst in Unterfragen zu unterteilen und damit die Struktur der folgenden Abhandlung vorzugeben (distinctio). Als partitio oder dispositio, d. h. als Erläuterung der folgenden Gliederung, ist sie auch in Predigten üblich, nämlich im Anschluss an das Exordium. 47 Ebenso erklärt der Österreichische Bibelübersetzer in seinem Prolog die Gliederung seines Textes. Er wolle: all hie zu tútsch bringen mit urkúnde der hailigen geschrift, d - a - z der böß anticrist kúnftig ist v - n - d wa er geboren wirdt vnd gezogen v - n - d wie er die welt betriegen vnd verlaitend wird v - n - d wie lang er die lút nötiget vnd martret v - n - d wie er ain end nimpt v - n - d was er wunder uf dieser welte tůt, daz ist doch alles nun mit des túfels wegnuß, der in völleklichen besitzen wirt. (I,- 18-27; Hervorhebungen C.D.) Dieses Zitat steht unmittelbar vor dem den Prolog abschließenden Gebet, also an angemessener Stelle für eine dispositio. Die Aufteilung des zu behandelnden Stoffs folgt dabei allerdings weniger einer logischen als einer historisch-chronologischen Systematik. Die beiden Gliederungsprinzipien überkreuzen sich noch deutlicher in den Kapitelüberschriften. Diese übernimmt der Österreichische Bibelübersetzer weitgehend aus seiner Vorlage, zum Teil in lateinischer Sprache, womit er seine gelehrte Quelle und deren Traktatcharakter zitiert: 48 I. Tractatus de antichristo et discipulis eius [Exordium] II. Ysidorus in libro de summo bono capitulo xxvj o III. Von wem er geporen wird IV. Wann er kumt V. Quod antichristus venturus sit VI. Vbi antichristus nascetur VII. De potestate antichristi VIII. De apostolis antichristi IX. Das ee geschicht, ee das antikrist geporen wirt X. De Gog et Magog XI. Von des antichristes vbel boshait XII. Qualiter antichristus homines decipiet XIII. De praedicacione antichristi XIV. De diviciis antichristi XV. De tormentis, que iussit anticristus XVI. Quod multi credent anticristo XVII. Quod maxima tunc erit tribulacio 46 Dante Alighieri, Brief an Can Grande, X,9, in: Dantis Alagherii opera omnia, Einl. von Benedetto Croce, Leipzig 1921, Bd.-2, S.-485. 47 Beutel, „Predigt“ (wie Anm.-36), Sp.-48; Schöttler/ Biesinger, „Predigt“ (wie Anm.-36), Sp.-61. 48 Die Aufstellung folgt der Ausgabe Völkers, Vom Antichrist (wie Anm.-16), welche der Wiener Handschrift folgt. In der ehemals Donaueschinger Handschrift sind die Überschriften ausgespart, während sie in den beiden Münchener Handschriften weitgehend auf Deutsch formuliert sind. Traktat, Predigt oder Historia? 175 XVIII. Quod tribulacio breviabitur XIX. Quod anticristus sit luxuriosus XX. De superbia anticristi XXI. Quod anticristus sit plasphemus XXII. De ymagine et karatteri anticristi XXIII. De adventu Helye et Enoch XXIV. De ascensu anticristi in Oliveti XXV. De ficta morte anticristi XXVI. De spiritu maligno quem mittet anticristus XXVII. Quod anticristus praesumet ascendere in celum XXVIII. De punicione anticristi Nach der zunächst eher systematisch gegliederten Klärung dessen, ob, wann und wo der Antichrist erscheinen wird, werden chronologisch die einzelnen Stationen seines Lebens abgehandelt: Geburt, Auftreten und öffentliches Leben, Tod (in Anlehnung an die Vita Christi); die Darstellung des öffentlichen Lebens aber folgt wieder weitgehend systematischen Kategorien. Diese Überlagerung zweier Gliederungsprinzipien ist in der Tradition der Antichrist-Literatur nichts Ungewöhnliches, da es darum geht, argumentativ, also mit ‚wissenschaftlichen‘ Methoden, eine heilsgeschichtliche Wahrheit beanspruchende narratio zu konstruieren. Paul-Gerhard Völker betont zwar zu Recht, dass es sich bei Vom Antichrist nicht um eine „Übertragung im strengen Sinn“ 49 handelt, da gegenüber dem Passauer Anonymus einige Umstellungen, Kürzungen und Ergänzungen (zum Teil unter Einbeziehung des Antichrist- Traktats des Adso von Montier-en-Der 50 ) vorgenommen worden sind; die Struktur der Vorlage ist trotzdem weitgehend erhalten. Der Österreichische Bibelübersetzer fasst zuweilen mehrere Kapitel des Passauer Anonymus zu einem einzigen zusammen, doch nimmt er nur an einer Stelle eine deutliche Umstellung gegenüber seiner Vorlage vor: Er zieht den Epilog des Passauer Anonymus, in dem Aussagen des Johannes Damascenus und des Isidor von Sevilla zum Antichrist versammelt sind, nach vorne, und so bilden die Aussagen dieser Autoritäten zusammen mit den biblischen Hinweisen auf den Antichrist einen dichten Block der Wahrheitsbeteuerung in den ersten drei Kapiteln nach dem Prolog. Damit dient die Abweichung von der gelehrten Vorlage, die freilich die historiographischen Anteile der Struktur nicht berührt, einer zusätzlichen Betonung der Glaubwürdigkeit. IV. Überzeugungskraft durch Autoritäten Wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechend, stützt sich der Österreichische Bibelübersetzer, nicht unähnlich dem Passauer Anonymus, auf Autoritätenzitate, um seine Aussagen zu beglaubigen. Anders aber als seine Vorlage benennt oder zitiert er nicht nur an entsprechenden Stellen kommentarlos die Autoritäten, sondern er schaltet sich konsequent als Erzähler ein und setzt die Autoritätenzitate als wörtliche Rede mit narrativer Rednereinführung um, wie im folgenden Beispiel: 49 Völker, Vom Antichrist (wie Anm.-16), S.-18. 50 Ps.-Augustinus, De Antichristo, hg. von J.-P. Migne, in: PL, Bd.-40, Paris 1865, Sp.-1131-1134. 176 Cora Dietl Certissime sciendum quod tempore antichristi permaxima tribulacio in ecclesia erit sicut ipsa veritas testatur. mt. xxiiij. c. et mc xiii. c. erit enim tunc tribulacio magna qualis nunquam fuit ab inicio mundi usque modo neque fiet (Passauer Anonymus, Bl.-77 ra ). Es ist mit Sicherheit zu wissen, dass zur Zeit des Antichrist die allergrößte Not in der Kirche herrschen wird, so wie dies die Wahrheit [d. h. Gott] selbst bezeugt. Mt 24 und Mk 13: „Es wird nämlich eine so große Not kommen, wie es noch keine gegeben hat seit Beginn der Welt und wie es auch nie wieder eine geben wird.“ Der Österreichische Bibelübersetzer macht daraus: So wirdt denne ervollet, daz vnser hailand Ihesus Christus seinen jungern vor seit vnd sprach: „es wirt denne die not, die nie ward, sid daz die welt beschaffen ward“ (II,-43-46). Anstelle des abstrakten Verweises auf die Bezeugung durch ipsa veritas in der Vorlage wird dabei sehr deutlich, wer der Sprecher ist, welche Bedeutung er für ,uns‘ hat, in welchem Kontext und mit welchem Adressatenkreis die Aussage getätigt worden ist. Auf diese Weise kontextualisiert, ist das Autoritätenzitat mehr als nur ein wissenschaftlicher Nachweis, es wird Teil einer teils narrativen, teils dialogischen Textstruktur, aus der Christus selbst heraus in direkter Rede spricht, und ist damit in seinem Wahrheitsgehalt nicht zu hinterfragen. Die Reden anderer Autoritäten, die außerhalb des biblischen Narrativs der Vita Christi oder auch des Narrativs der Traumvision des Johannes stehen, führt der Bibelübersetzer in der Regel präsentisch ein, nach dem Modell Das bewärt Daniel vnd sprichet also (XIX, 1234), Spricht sant Paulus (XX,-1265), sprichet aber der salter (XXI,-1342), seltener im Perfekt: vnd daz haut auch sant Johannes an der taugen bůch gekundet und spricht also (XXVI,-1742-43). Das heißt, dass die Rednereinführung zwar in jedem Fall ein narratives Element ist und anzeigt, dass sich der Text tendenziell an ein nichtfachliches Publikum richtet, dass die Autoritätenzitate aber nicht in gleicher Weise in ein (historisches) Narrativ eingebettet sind wie die Worte Christi. Sie alle aber konstituieren ein Reden von der Heilsgeschichte. V. Verständlichkeit durch Erklärungen Wenngleich der Erzähler alle namentlich zitierbaren Autoritäten mit Redeeinführung gleichsam dialogisch präsentiert, verzichtet er doch bei Zitaten aus der Glossa ordinaria 51 auf Redeeinführungen und gibt sich hier eher als Lehrer oder Prediger. Häufig zitiert er so wie seine Vorlage nur mit dem knappen Verweis: Glosa (Bsp.: V,-225). 52 Die Glosse fällt damit aus der narrativ überformten Gestaltung des Textes heraus. Gelegentlich aber verzichtet der Verfasser auch auf die Glossen-Zitate, wie im Beispiel von Kapitel IX zur Zeit des Erscheinens des Antichrist. Hier schreibt der Passauer Anonymus: Tempore antichristi dyabolus seducet gog: et Magog, et adducet eos in prelium contra sanctos, scilicet legitur apoc. xx.a. Et consummati fuerint mille anni, solvetur Satanas de carcere suo expone ut supra et exiet et seducet gentes quæ sunt super quatuor angulos terre, gog, et magog. glossa. has duas gentes prius seducet et per eas ad alias procedet et congregabit eos in prelium contra sanctos. quorum numerus 51 Biblia latina cum glossa ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps (Adolph Rusch, Strassburg 1480/ 81), Turnhout 2 1998. Vgl. https: / / gloss-e.irht.cnrs.fr/ php/ editions.php? livre=../ sources/ editions/ GLOSS-liber83.xml (15.03.2020). 52 In der ehemals Donaueschinger Handschrift sollten diese Hinweise vom Rubrikator eingesetzt und dadurch hervorgehoben werden und fehlen aufgrund der nicht vollständigen Ausarbeitung der Handschrift (Beispiel: Bl.-47 v ). Traktat, Predigt oder Historia? 177 est sicut harena maris, id est, innumerabiles et ascendunt super latitudinem terre, id est, ascendunt et circuierunt trans castra sanctorum et ciuitatem dilectam, id est ierusalem. (Passauer Anonymus, Bl.-73 vb ) Zur Zeit des Antichrist wird der Teufel Gog und Magog verführen und sie in den Krieg gegen die Heiligen führen, wie man im 20. Kapitel der Apokalypse liest: „Und wenn 1000 Jahre verstrichen sind, dann wird Satan aus seinem Kerker befreit (wie oben erklärt) und er wird hinausgehen und die Völker verführen, die sich an den vier Ecken der Erde befinden, Gog und Magog“ [Offb 20,7]. Glosse: Diese zwei Völker wird er zuerst verführen und von ihnen zu anderen fortschreiten „und er wird sie in einen Krieg gegen die Heiligen verwickeln. Ihre Zahl ist wie der Sand im Meer“ [Offb 20,7], d. h. sie sind unzählig, „und sie verbreiten sich über die Weite der Erde“, d. h. sie erheben sich, „und sie umringen die Lager der Heiligen und die geliebte Stadt“ [Offb 20,8], d. h. Jerusalem. Der Österreichische Bibelübersetzer scheint seiner Vorlage sehr getreu zu folgen, wenn er schreibt: All hie söllend ir mercken was e geschicht, ee das der anticrist geborn werde. Es sprichet sant Johannes an der taugen bůch daz der engel zů im sprach wenne tausent jar verendet werdent, so wirt sathanas auß seinem kerker ledig vnd wirt auß varend vnd wirt die diet verlaitend, die da sind in den vier winkeln des ertrichs, das sind Gog vnd Maggog, die wirt er samnend ze stritt. Der selben zal ist als des mers grieß vnd varend auf die höhi des ertrichs vnd werdent vmbe die stett der hailigen gänd vnd vmb die lieben statt. (IX,-818-827) Der Passauer Anonymus fasst kurz zusammen, was geschehen wird, verweist dann auf die dies bezeugende Autorität (die Offenbarung des Johannes), und zitiert die entsprechende Stelle bei Johannes, mit jeweils eingefügten Kommentaren der Glossa ordinaria. Der Österreichische Bibelübersetzer hingegen wendet sich zuerst an sein Publikum und erklärt ihm, was es aus dem Folgenden lernen soll. Die Zusammenfassung der Handlung lässt er aus und verweist sofort auf Johannes als Autorität, mit der üblichen Rednereinführung im Präsens; Johannes aber lässt er seinerseits den Engels in direkter Rede referieren. Auf die Erläuterungen der Glosse verzichtet er, vielleicht in der Meinung, dass sie in der Übersetzung nicht mehr nötig seien. Die von der Autorität übermittelten, als wörtliche Rede dargebotenen Worte des Engels lassen keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Rede zu. Auffällig ist dabei auch die Wahl des Tempus. Johannes erzählt im Präteritum von seiner Begegnung mit dem Engel, der Engel aber verwendet ein zusammengesetztes Futur mit Partizip Präsens; im lateinischen Text steht ein einfaches Futur. Latinität kann die eher seltene Futurform kaum andeuten wollen, eher eine Sicherheit und Unmittelbarkeit des Vorhergesagten, die mit einem Futur mit wil/ sol und Infinitiv so deutlich nicht zum Ausdruck kommt. Der Hinweis, dass es viele Völker Gog und Magog gebe, steht schließlich (wie in der Vulgata) im Präsens. Damit schlägt der Verfasser einen Bogen zur Gegenwart der Rezipienten, die sich hier von den mahnenden Worten des Engels direkt angesprochen fühlen dürfen. Im unmittelbaren Anschluss an die hier zitierte Stelle lässt sich ein andersartiger Umgang des Österreichischen Bibelübersetzers mit der Glossa ordinaria beobachten. Der Passauer Anonymus fährt an der oben zitierten Stelle fort: et descendit ignis a deo de celo et devoravit eos glossa. id est repentinus interitus et diabolus qui seducebat eos missus est in stagnum ignis et sulphuris vbi bestia et pseudoprophete cruciabuntur die ac 178 Cora Dietl nocte in secula seculorum. Ezechiel .xxxviij. a. Fili hominis pone faciem tuam contra gog et terram. Magog. (Passauer Anonymus, Bl.-73 vb ) „Und es kam Feuer von Gott im Himmel herab und verzehrte sie“ [Offb 20, 9]. Glosse: das ist ein plötzlicher Untergang, „und der Teufel, der sie verführt hatte, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und die falschen Propheten Tag und Nacht in alle Ewigkeit gequält werden“ [Offb 20,10]. Ezechiel 28,2: „Menschensohn, richte dein Angesicht auf Gog und das Land Magog.“ Im Folgenden sammelt der Passauer Anonymus in aller Ausführlichkeit Hinweise und Erläuterungen zu Gog und Magog. Ganz anders lautet hier die Ausführung des Österreichischen Bibelübersetzers: Glosa. Sehend vnd merckent, es ist der hailigen geschift gewonhait, wenne sy von ainer grossen sache redet, daz sy das mer denne ainest kundet! Da uon sprach aber der hailig engel zů sant Johannes […] (IX,-833-837). Er wiederholt noch einmal die zuvor zitierten Worte des Engels, dass sich Gog und Magog, die sehr zahlreich sind, erheben und die heiligen Stätten umzingeln, d. h. die Christen mit Marter quälen werden. Dann erst setzt er bei Offb 20,9 ein, und zwar unmittelbar bei der Deutung, die er aber nicht als eine Deutung der Glosse markiert: By dem fúre, das vom hymel kam vnd sy frauß, ist bezaichnet gottes zorn, der sy verschändent wirt, also das in die cristen mit strit angesigend, das ainer nit belibent vnd darnach werdent sy mit sambt dem túfel in den fúrinen see, das ist in die helle geworffen, da sy mit sambt dem tyer, daz ist mit sambt dem anticriste vnd mit seinen valschen predigern eweklich in swebel vnd in bech prinnen müssend (IX,-848-855). Was hier als Glosa bezeichnet wird, scheint, wenn es nicht eine Sonderlesart der Vorlage des Österreichischen Bibelübersetzers war, eigene Zutat zu sein: eine bemerkenswerte Reflexion nicht nur über die Struktur des Neuen Testaments, das die zentralen Ereignisse der Vita Christi in den vier Evangelien mehrfach erzählt, sondern vor allem über die Struktur der Heilsgeschichte, die ein lineares mit einem zyklischen Zeitverständnis überblendet, indem das für den Fortgang der Heilsgeschichte besonders Bedeutsame durch Prophezeiung, Typologie und Wiederholungen hervorgehoben wird. Insofern dürfte dieser Einwurf durch den Rückbezug des Passauer Anonymus (der hier der Glossa ordinaria folgt) auf Hesekiel inspiriert sein, und d. h. durch den Hinweis, dass schon anderenorts in der Bibel von Gog und Magog die Rede war. Der Österreichische Bibelübersetzer entscheidet sich aber, lieber die Prophezeiung des Engels gegenüber Johannes zu wiederholen, da die Autorität des Engels nicht durch die des Propheten unterstrichen werden muss, während die Wiederholung den Effekt hat, die himmlische Nachricht als besonders dringlich erscheinen zu lassen. Bei der Beschreibung der Strafe für die vergeblich so dringlich Gewarnten kann der Bibelübersetzer nicht auf die Erläuterungen der Glosse verzichten, da sie die Drohung noch unterstreichen; er markiert sie als Erläuterungen (ist bezaichent - das ist - daz ist), aber ohne Verweis auf die Glossa ordinaria. Hier inszeniert er sich im Gegensatz dazu selbst als Deuter des künftigen Geschehens. Die Tendenz, die Glosse zumindest teilweise als seine eigene Leistung darzustellen und mit der Erzählerrede zu verschmelzen, lässt sich mehrfach im Text beobachten, wie etwa im folgenden Beispiel: Traktat, Predigt oder Historia? 179 Missurus est etiam antichristus malignum spiritum in discipulos suos in specie ignis. videlicet apoc. xiii. “et fecit signa magna, ut etiam faceret magnum ignem de celo descendere in terram in conspectu hominum.” glossa: ignem id est malignum spiritum super suos faciet descendere ut loquantur variis linguis. item alia glossa: vt apostolis christi datus spiritus sanctus in specie ignis. sic et apostoli antichristi dabuntur spiritus malignum in specie ignis. (Passauer Anonymus, Bl. 78 ra ) Der Antichrist wird einen bösen Geist in Form eines Feuers auf seine Jünger herab senden, wie in Offb 13 steht: „Und er machte große Zeichen und ließ ein großes Feuer vom Himmel auf die Erde kommen, im Angesicht der Menschen.“ Glosse: Er ließ Feuer, d. h. den bösen Geist auf seine Jünger herabkommen, damit sie in verschiedenen Sprachen redeten. Und die andere Glosse: Wie den Aposteln Christi der Heilige Geist in Gestalt von Feuer gesandt wurde, so wird den Aposteln des Antichrist der böse Geist in Gestalt von Feuer gesandt. Die Stelle lautet in Vom Antichrist: so wirt er fur von hymel auf seine zwelfbotten haissend komen, samb ob es der hailig geist sye, vnd daz haut auch sant Johannes an der taugen bůch gekundet vnd spricht also: „daz tyer machet grossu zaichen vnd joch also, das es fúr von hymel zetal komen hieß auf das erdtrich ze der lúten gesichte vnd wirt verlaitend die lút auf dem erdtrich durch die zaichen, die im gegeben seind ze tůnd vor den luten“. Glosa: Sehend wie gar bedútiklich der rain herre sant Johannes die sachen alle gesehen haut vnd auch mit geschrift gekúndet haut, als es noch kúnftig ist vnd auch ergan sol vnd můß. Das sol dehain gelaubhaft Christen nit wider reden! Wann als vnser herre Ihesus Christus den hailigen gaist auf sein zwelfbotten in fúrinen zungen sante, vnd allzehand wurden sy erfullet des hailigen gaistes vnd kundenn alle sprach reden. (XXVI,-1740-55) Hier fasst der Passauer Anonymus wiederum die Handlung in einem Satz zusammen, um dann Zitate aus Bibel und Glossa ordinaria dazu zu stellen, welche die Handlung doppeln und dabei ihre zugleich ihre Wahrheit absichern. Erst die zweite Glosse erläutert das Geschehen. Der Österreichische Bibelübersetzer reduziert die Doppelung der Darstellung, indem er die erste Glosse streicht und nur die zweite Glosse nennt, diese aber als direkte Anrede an ein Publikum formuliert, das die Bedeutung der Vision des Johannes erkennen soll, wodurch die Glosse letztlich mit der Erzählerrede verschmilzt. VI. Relevanz durch Publikumsnähe Nicht nur durch Erläuterungen, die wie eigene wirken, nimmt der Österreichische Bibelübersetzer den Dialog mit dem Rezipienten auf, sondern vor allem durch eine vermittelnde Position, die zwar die Autoritäten selbst reden lässt und daher den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen unberührt lässt, die aber gleichsam moderierend die Aufmerksamkeit des Publikums steuert. Sehr häufig finden sich im Text nicht nur reine Rednereinführungen, sondern Formeln wie: das werdend ir völlenklich hernach vernemend mit gezúgnuß der hailigen geschrift (III,- 103-105); Sehend vnd merckent, wie betút es die hailig geschrift alles vor hin gekúndet hǎt (VIII,- 503-504); Sehent, das geschicht als Cristus selb gekúndet hǎt (XVII,-1177-78); Das aber disß sach war sy, des haut man aber ain vrkúnde an der hailigen geschrift (XXII,-1375-76). Damit werden das Publikum direkt angesprochen und die ‚offensichtliche‘ Wahrheit des dargestellten Inhalts versichert. 180 Cora Dietl Dass diese Wahrheit eine für den Rezipienten unmittelbar relevante und gerade nicht ab aetatis nostrae-/ memoria remota 53 ist, macht der Österreichische Bibelübersetzer in deiktischen Verweisen, die er gegen die Vorlage einfügt, deutlich, so etwa in seiner Bearbeitung des Isidor-Zitats, das beim Passauer Anonymus folgendermaßen lautet: Isidorus in libro de summo bono .xxvj. 54 Omnis secundum professionis normam aut non uiuit aut aliter docet antichriste est. plerique autem antichristi tempora non uisuri sunt. (Passauer Anonymus, Bl.-78 vb ) Isidor im Buch De summo bono, Kapitel 26 [25,1-2]: Wer nicht entsprechend der Regel seiner Berufung lebt oder lehrt, ist ein Antichrist. 55 Die meisten aber werden die Zeit des Antichrist nicht erkennen. Der Österreichische Bibelübersetzer übernimmt die falsche Kapitelangabe xxvj und übersetzt: Isydorus der sprichet: „ain ieglicher der wider cristenlichen gelauben redt oder leret oder lebet, der ist des anticristes genoß“. Dar bey ist ze verstand, daz nun laider vil anticrist seind auf gestanden. (II,-36-39) Die unklare Formulierung des Passauer Anonymus antichriste est gegenüber Isidors Formulierung Antichristus est (25,1) gibt der Bibelübersetzer zwar als Genitiv wieder; den Grundgedanken Isidors aber, dass alle, die wider Gott sind, ,Antichristen‘ sind, bringt er dann im nächsten Satz zum Ausdruck, der weit von der Vorlage abweicht. Allein eine andere Auflösung der Abbreviatur n̄ non als nunc dürfte nicht als Erklärung für die Abweichung des Österreichischen Bibelübersetzers genügen. Offensichtlich geht es ihm darum, einen Gegenwartsbezug herzustellen und nicht nur über die zu reden, die den Antichrist nicht erkennen werden, sondern vor allem über die, die ihm schon aktuell anhängen, weil sie seine bereits eingetroffene Gegenwart nicht erkennen. Immer wieder betont der Verfasser, Das aber wir nun syend inn dem lesten alter gegen der welte ende (IV,- 185-186), und verknüpft dabei mittels des Pronomens ,wir‘ nicht nur die erzählte Welt mit der seines Publikums, sondern stellt auch einen Bezug zu seinen Rezipienten her. Verbindendes Element ist primär der gemeinsame Glaube und der gemeinsame Gott, den der Erzähler ab Kapitel 3 konsequent als ‚unseren Herrn‘ bezeichnet (X,-913 u. ö.). Nicht nur durch unmittelbare Anreden, durch die Rede in der ersten Person Plural und durch Verweise auf das Hier und Jetzt des Geschehens wird der Rezipient in die Darstellung integriert, sondern auch durch Dialoge des Erzählers mit dem fiktiven Zuhörer, die (gegen die Vorlage) in die Erörterung eingestreut sind, wie zum Beispiel im direkten Anschluss an das oben genannte Zitat: Syd dem nun zů dieser frist also ist, was geschicht denne, wenn der anticrist selb kumt vnd vil zaichen tůt vnd die lút martert vnd töttet vnd manig grosß gaub git? (II,-39-43) An dieser Stelle reagiert der Befragte, indem er mit den nächsten Autoritätenzitaten (zunächst Christus nach Mk 13,19, dann Isidor) die Antwort liefert; er moderiert quasi das Gespräch, um dem Rezipienten gleichsam unmittelbar das für ihn relevante Wissen zu vermitteln. Nur gelegentlich macht er deutlich, dass letztlich 53 Vgl. oben, Anm.-45. 54 Isidorus Hispalensis, Sententiarum sive de summo bono libri III, Buch I (Incipit: Summum bonum deus est), hg. von J.-P. Migne, in: PL, Bd.-83, Paris 1850, Sp.-538-600, Kap. 25 (! ): De Antichristo et ejus signis, Sp.-592-594. 55 Bei Isidor steht an dieser Stelle Antichristus; die Formulierung antichriste des Passauer Anonymus scheint der Österreichische Bibelübersetzer (oder die ihm vorliegende Handschrift des Passauer Anonymus) als Genitiv gedeutet zu haben, was auch der Bedeutung von ‚ein Antichrist‘ am ehesten entspricht. Traktat, Predigt oder Historia? 181 er für die Auswahl des Gesprochenen verantwortlich ist: Ich wil geschwigen der zaichen vnd der wunder vnd der marter (II, 87). Ab Kapitel III bevorzugt der Österreichische Bibelübersetzer mehr und mehr die Sicht einer einzigen Autorität und konstruiert aus deren Worten eine zusammenhängende Erzählung. Für diese entwirft er das Bild eines lesenden, zuschauenden und zuhörenden, mit allen Sinnen lernenden Publikums, dessen Präsenz er sich konsequent versichert: [da]von […] vindet ir vil mer hernauch geschriben (VII,-439-440); Sehend, disú red bedarf nit vil auslegung […] Doch ist ze wissend, daz (VIII,-618-620); Allhie söllend ir mercken (IX, 818), Sehend vnd merckent (IX, 833); Sehend, also ist denne daz (X,-875-876); das ist gůt ze wissen (X, 881); Sehend, so nahet das zil (X, 940); daz hörend (XII, 973); des habend ir vor vil vernomen (XIII, Z.-1010-11). Noch zahlreiche weitere Male verwendet er die Aufforderung Sehent. So entsteht nicht nur der Eindruck eines unmittelbaren Dialogs, sondern auch eines sichtbaren Vorführens der aktuell präsenten Apokalypse. VII. Bewegung durch Emotionen Anfangs nur sehr vorsichtig bindet der Österreichische Bibelübersetzer emotionale Ausdrücke in seinen Traktat ein - am häufigsten durch das Adverb laider. So erklärt er, dass nun laider (II,-39) viele Antichristen sich erhoben hätten und dass man laider derzeit viele finde, die nicht auf das Wort Gottes hörten (I,- 1). Durch das laider drückt er ein Bedauern aus, distanziert sich aber zugleich auch von den beschriebenen Missständen: Er steht klar auf der Seite Christi, zeigt aber Erbarmen mit denjenigen, die vom rechten Pfad abgekommen sind. Es sind nicht die direkt von ihm angesprochenen, sondern Dritte, die zu bedauern und das heißt letztlich sich ebenfalls von ihnen zu distanzieren er seinen Rezipienten gleichsam empfiehlt. So kommentiert er das Vorzeichen von Unglauben, Ungerechtigkeit und Eigenliebe mit den Worten: vnd werdend die lút nun sich selb lieb habend vnd daz machet ze vordrest die grosß gitikait, die die welt ietzo laider vast uber komen haut an aller hande leuten (IV, 120-123). Später erklärt er noch einmal, dass das von Paulus genannte Vorzeichen, das die leut werdent gittig, vbermütig vnd hoffertig, schon eingetroffen sei: Des ist laider nun gar ze vil vnder den leuten (IV,-203-205). Ein anderes Zeichen für die Präsenz des Antichrist sieht er im Ungehorsam des Reichs gegenüber dem König und der Kirche gegenüber dem Papst: O we danne der zeit! Sehend, so nahet das zil, da sant Paulus vnd ander hailig geschrifft von gekundet haut. Der anticrist der kumpt nit, vntz das die missehellung kumt, das ist, das alle reich römischen kaysertům vngehorsam werdent vnd alle pfaffen des bapstes gebott nit achtend. Sehend, wer dieser sache recht war nimpt, so haut es sich bey vnsern zeiten laider vast an gehaben vnd nachet auch nun vaste gegen der welte ende. (X,-939-947) Wie dringlich aber die Lage durch die Verirrung so vieler ist, macht er mit Fortschreiten des Traktats immer deutlicher. Alle Welt steht auf der Seite des Antichrist: Die Übermacht ist geradezu erdrückend. Durch solche Klagen versucht der Verfasser, seinen Rezipienten emotional zu bewegen. Damit verlässt er den ruhig berichtenden Ton der hystoria und nähert sich deutlich dem der Oralität verpflichteten Genre der Predigt - mit seelsorgerischer Intention. VIII. Die Stoßrichtung des Texts im historischen Kontext Auffällig oft klagt der Österreichische Bibelübersetzer auch über das Streben der ganzen Welt nach materiellen Gütern: Man fund ir auch laider ze disen zeiten manigen, die an in kerten nur allain durch seiner gaube willen. Ich wil geschwigen der zeichen vnd der wunder vnd der marter, die er begend wirt, daz sie dem allmechtigen gott geklagt, daz alle die welt so geittig ist. (II, 85-90) Gitigkait, gepaart mit Hoffart und Wollust, zählt für ihn zu den größten Anfechtungen des Menschen und zu den klaren Vorzeichen des Antichrist: drey vnrain túfel, die in der bösen lút hertzen die drei grossen súnde vbend bey des anticristus zeiten, das ist vnkúsche, gitigkait vnd hoffart (VIII,-584-587). Wenn eine dieser drei Untugenden, so erklärt er, das Herz eines Menschen besetzten, dann könne die Gnade des Heiligen Geistes nicht in dieses Herz eindringen (VIII,-602-605) 56 , der Mensch werde dann vom Antichrist angezogen und mit ihm in die Hölle fahren. Die Frage des Besitzes oder der Armut hat in den 1320er Jahren einen aktuellen Hintergrund. Im Jahr 1321 hatte der dominikanische Inquisitor Johannes de Belna einen Streit um die Frage kirchlichen und klösterlichen Eigenbesitzes (und damit des franziskanischen Armutsideals), genauer um die Frage, ob Christus und die Apostel einen persönlichen Besitz hatten, angefacht, den sog. ‚Theoretischen Armutsstreit‘. 57 Zu dessen zentralen Schriften gehören die im November 1323 von Papst Johannes XXII. verfasste Bulle Cum inter nonnullos, 58 in welcher die Armutslehre der Franziskanerspiritualen als häretisch verurteilt wird, und die nach Eskalation des Streits und nach der Exkommunikation Kaiser Ludwigs des Bayern, der auf Seiten der Franziskaner stand, verfasste Bulle Quia quorundam vom 10.11.1324, in welcher der Papst klare Worte findet: Quia quorundam mentes sic pater mendacii dicitur excaecasse, quod nostris constitutionibus, quarum una incipit: „Ad conditorem canonum,“ alio vero: „Quum inter nonnullos,“ […] detrahere, et nituntur veritatem, quam continent, per falsas insanias obfuscare. (§-1) 59 Da es heißt, dass der Vater der Lügen einige in ihrem Verstand so geblendet habe, dass sie unsere Bullen, von denen die eine mit den Worten Ad conditorem canonum, die andere aber mit den Worten Quum inter nonnullos beginnt, […] zu vernichten versuchen und die Wahrheit, die sie enthalten, durch falschen Irrsinn zu verdunkeln. Eine teuflische Verblendung (des pater mendacii) sei es, die päpstlichen Sendschreiben nicht anzuerkennen. Er wolle diejenigen, die ihm widersprechen, als Feinde der Wahrheit bestrafen, erklärt der Papst. Zudem stellt er klar, dass er als Nachfolger Petri den doppelten Schlüssel in der Hand halte, den der Macht und den der Weisheit, die nicht, wie das seine Gegner behaupten, zu trennen seien. Wissen, so stellt er klar, werde mit dem Priesteramt 56 Diese Passage ist im Passauer Anonymus nicht vorhanden. 57 Zum ‚Theoretischen Armutsstreit‘ als Schreibanlass und Initiator neuer literarischer Formen vgl. Susanne Conrad, „Der ‚Theoretische Armutsstreit‘ als Medienereignis. Neue Beobachtungen in kommunikationstheoretischer Absicht“, in: Studia monastica. Beiträge zum klösterlichen Leben im Mittelalter, hg. von Reinhardt Butz und Jörg Oberste, Münster 2004, S.-171-190. 58 Online-Edition unter: www.franciscan-archive.org/ bullarium/ qinn-l.html(23.09.2017), nach: Extravagantes Ioannis XXII, hg. von Emil Richter u. a., Leipzig 1879, Repr. Graz 1959. 59 Online-Edition unter: https: / / franciscan-archive.org/ bullarium/ qquor-l.html (23.09.2017), ebd. 182 Cora Dietl nicht verliehen: constat autem, quod ordinatio in sacerdotem scientia communiter non confertur (§-7). Wollte man eine Spätdatierung von Vom Antichrist wagen, so könnte man sowohl die Verurteilung derer, die dem git folgen und allein auf Macht und Reichtum setzen, als auch die Betonung dessen, dass der Antichrist dann kommt, wenn der Römische Kaiser nicht mehr anerkannt wird und die Priesterschaft die Gebote des Papstes nicht mehr achtet, und vor allem auch den Prolog des Österreichischen Bibelübersetzers geradezu als eine Replik auf die Bulle lesen: Die Aussage, dass allein die päpstliche Autorität Weisheit verleihe und nicht das Priesteramt, konfrontiert der Bibelübersetzer mit der Aussage, dass allein die Bibellektüre Weisheit verleihe, nicht die superbia. Als hystoria freilich, die allein beschreibt, wie nach unumstößlichen Quellen die Heilsgeschichte verläuft, könnte sich ein Traktat mit einer so brisanten Aussage besser schützen. Die Anlehnung an einen Traktat gegen Häretiker, die nicht zuletzt wegen ihres Armutskonzepts und ihres Amtsverständnisses verfolgt wurden, konnte gleichfalls als Schutz dienen. Unabhängig aber von solchen möglichen Kontexten gilt es festzuhalten, dass der ‚Traktat‘ Vom Antichrist die Freiheit eines von einem Laien verfassten und daher nicht an schulmäßige (lateinische) Gattungsregeln gebundenen Textes nutzt, um die Wahrheit und die Dringlichkeit seiner Worte in gleicher Weise zu unterstreichen. Er nutzt eine Struktur, die streckenweise durch ihre Systematik Fachlichkeit suggeriert und so die teils in der Zukunft, teils in der Gegenwart angesiedelte ‚Geschichte‘ des Antichrist als wissenschaftlich erwiesen darzustellen scheint. Die narrativen Elemente des Textes konstruieren eine geschichtsdeutende hystoria, deren Wahrheit durch die Verwendung von gleichsam dialogisch eingesetzten Autoritätenzitaten verbürgt zu sein scheint. Zugleich wird der Rezipient aber in einer quasi mündlichen Vermittlungsform, die predigthaft erscheint, in direkter Anrede und durch Verweise auf das Hier und Jetzt von der Dringlichkeit der Sache überzeugt und durch deutliche Wertungen und das Pathos des vermittelnden Ich zur rechten Haltung ermahnt. Das Erzählen von der zukünftigen Geschichte ist damit außerhalb des Rahmens einer Weltchronik durchaus möglich; die Wirkung eines solchen ‚historiographischen‘ Textes aber kann durch Gattungsmischung deutlich verstärkt werden. Traktat, Predigt oder Historia? 183 Narrative Organisation und Konzeptualisierung von Geschichte Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen. 187 Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen. Prologaussagen in der volkssprachigen Historiographie Sandra Linden I. Fragestellung Zur Analyse historiographischer Texte des Mittelalters braucht man keine Geschichtstheorie, sondern eine Erzähltheorie. Diese Forderung ist virulent, seit Hayden White in seiner Publikation Metahistory gezeigt hat, wie sehr jede Geschichtsdarstellung nicht ausschließlich einer Faktenlage, sondern vielmehr narrativen und argumentativen Modellierungen verpflichtet ist. 1 Eine entsprechende Erzähltheorie der Geschichtsschreibung, die Hans- Werner Goetz auch als mittelalterlichen theoretischen Zugang zur historia identifiziert, 2 kann man auf zweierlei Weisen generieren, nämlich zum einen durch eine narratologische Analyse der konkreten Erzählformen oder zum anderen indem man metapoetische Äußerungen der Erzählinstanz untersucht, d. h. eher das Idealkonzept historiographischen Schreibens als die konkrete praktische Ausformung in den Blick nimmt; auf diesen zweiten Weg ist der vorliegende Beitrag fokussiert. Die lateinische Geschichtsschreibung des Mittelalters bietet eine differenzierte Reflexion über die Prinzipien ihrer Darstellung und zeigt nicht nur in den Vorreden Ottos von Freising oder in den theoretischen Ausführungen zur Geschichte in Hugos von St. Viktor Didascalicon ein deutliches Bewusstsein von dem Vorhandensein einer Poetik der Geschichtsschreibung, einer verbindlichen Norm, wie das Vergangene an die Gegenwart vermittelt werden kann. 3 Eine vergleichbare explizite Poetik sucht man in der volkssprachigen Historiographie, die mit der Reimchronistik eine vom 12. bis zum 15. Jahrhundert äußerst erfolgreiche Gattung ausbildet, 4 vergeblich. Trotzdem verfahren diese oftmals 1 Vgl. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, 8. Aufl., Baltimore 1993, sowie ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986 (Sprache und Geschichte 10). Hier wären noch weitere Positionen zu ergänzen (z. B. Arthur C. Danto oder Johannes Fried), vgl. dazu die konzise Zusammenfassung der Diskussion bei Gerhard Wolf, „Einleitung“, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott, Berlin/ Boston 2016, S. 1-44, vor allem S. 22-25. 2 Vgl. Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, 2., erg. Aufl., Berlin 2008, S. 100: „Eine mittelalterliche Theorie der historia konnte nach solchem Verständnis gar keine ‚Geschichtstheorie‘ im heutigen Sinn, sondern nur eine Erzähltheorie sein. Das erklärt ihre Nähe zur Rhetorik.“ 3 Vgl. Goetz (wie Anm. 2). 4 Vgl. Dorothea Klein, „Durchbruch einer neuen Gattung: Volkssprachige Weltchroniken bis 1300“, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 73-90. 188 Sandra Linden sehr umfangreichen Werke nicht völlig willkürlich in ihrer Darstellung, sondern zeigen spezifische Vorstellungen über ein gutes und richtiges historiographisches Erzählen. Diese Vorstellungen finden ihren Niederschlag primär im Erzählen, treten manchmal aber auch in die explizite Reflexion. Allerdings bilden die metapoetischen Äußerungen kein eigenständiges System, kein verbindliches Regelwerk, vielmehr formulieren die Autoren sie je werkspezifisch, indem sie die Metanarration anwendungsbezogen artikulieren. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Prologaussagen der volkssprachigen Historiographie. Er stellt die Frage, ob die metapoetische Reflexion in den großen Kompendien wie der Weltchronik Rudolfs von Ems oder Ottokars Österreichischer Reimchronik oder auch in kleineren Formen wie dem Annolied oder dem Trierer Silvester auf andere Wissensmodelle und Formen narrativer Vermittlung zurückgreift als das Erzählen von einem literarischen Stoff. Zugleich soll geprüft werden, ob sich auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Erzählformen ausmachen lassen. Können für das historiographische Erzählen spezifische Prologtopoi identifiziert werden oder geht das Nachdenken über die richtige Art der Darstellung in einem umfassenden Wissensfundus über ein höfisches Erzählen auf, das sich mal einem historischen Stoff und mal einem stärker fiktional geprägten Inhalt zuwendet? Der Blick der Analyse zielt damit ausdrücklich auf das theoretisch anvisierte Ideal und nicht auf das, was später im Erzählen tatsächlich eingelöst wird. Es soll gefragt werden, was die Historiographen überhaupt als Norm für sich ausweisen und welche Vorstellungen von idealen Darstellungsformen sie entwerfen. II. Erwartbares: Poetologische Topoi der Geschichtsschreibung Die Prologe behandeln eine Reihe von Themen, die man typischerweise für einen historisch berichtenden Text erwartet, die aber nicht spezifisch auf die mittelhochdeutsche Historiographie, sondern auf alle Formen von Geschichtsschreibung zutreffen. Drei Themen treten in diesem allgemeinen Fundus poetologischer Topoi der Historiographie besonders hervor, nämlich das Stichwort von der Lehrmeisterin Geschichte, die Stilfrage und der Umgang mit den Quellen. a) Historia magistra vitae: Dass die Historia eine Lehrmeisterin für das Leben sei, ist ein Diktum, das bereits Cicero in seiner Schrift De oratore geprägt hat. 5 Es beschreibt das Bemühen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um in der Wiederholung die Fehler der Vorgänger zu vermeiden. Es geht um das Verfügbarhalten des Vergangenen mittels der memoria und zuvor überhaupt auch erst einmal um ein Verfügbarmachen des Vergangenen über die Darstellung als Exempel, aus dem man Nutzen für die eigene Lebensführung ziehen kann. In dieser Vergegenwärtigung der Vergangenheit kann man aus den entfernter zurückliegenden Zeiten genauso gut etwas lernen wie aus der näheren Vergangenheit, weil das Exemplarische deutlich hervortritt - hier steht auch das Lernen am Exemplum als beliebtes Verfahren didaktischer Vermittlung im Hintergrund. 5 Vgl. Cicero, Marcus Tullius, De oratore. Über den Redner. Lateinisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Harald Merklin, 3., bibl. erg. Aufl., Stuttgart 1997 (RUB 6884), II,36, S. 288: Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur? Übersetzung nach Merklin, S. 229: ‚Und die Geschichte vollends, die vom Gang der Zeiten Zeugnis gibt, das Licht der Wahrheit, die lebendige Erinnerung, Lehrmeisterin des Lebens, Künderin von alten Zeiten, durch welche Stimmen, wenn nicht die des Redners, gelangt sie zur Unsterblichkeit? ‘. Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 189 Otto von Freising greift in seiner Chronik anlässlich der Widmung an Kaiser Friedrich das Legitimationsmuster der historia magistra vitae auf und führt aus, dass seine Darstellung der historia dem Herrscher diene, weil dieser sich innenwie außenpolitisch am dargestellten Exempel orientieren könne. 6 Der Autor der Österreichischen Chronik der 95 Herrschaften aus dem späten 14. Jahrhundert beruft sich auf Seneca, wenn er in der Vorrede ausführt, dass die Reflexion über vergangene Geschehnisse vor Fehlern in der Zukunft bewahren kann. Im Zentrum steht die memoria, d. h. das ged a e chtnüss der vergangen sach, wan s a e lig ist der, den frömd sch a e den machent sicher und sein leben pessert nach den beiczaichen der s a e ligen und der guten. 7 Verglichen mit anderen unseriöseren Möglichkeiten der Handlungsorientierung wie dem auf die Zukunft gerichteten Sternsehen sei das Lernen an der Geschichte auf jeden Fall die bessere Wahl und dem Gemeinwohl zuträglicher. 8 Die ethische Verpflichtung des Geschichtsschreibers tritt deutlich hervor, denn das richtige Erzählen ist wie ein Heilmittel, das bei richtiger Handhabung zum Lebensglück des Rezipienten beiträgt. b) Stil: Rechtfertigende Bemerkungen über den gewählten Stil bilden einen Topos, den die meisten historiographischen Vorreden bedienen, und in der Frage, welcher Stil dem Gegenstand und der Vermittlungsaufgabe angemessen sei, herrscht breite Einigkeit: Die Historiographen bekennen sich zu einem betont einfachen Stil, der mit geringem ästhetischen Aufwand auf Verständlichkeit und Wissensvermittlung konzentriert ist. 9 Das poetologische Ideal läuft nicht über schweren rhetorischen ornatus, sondern Einfalt gilt als zentrales Qualitätskriterium, wobei die einfache Darstellungsart gerne mit der Verpflichtung zur Wahrheit gekoppelt wird. Otto von Freising rechtfertigt den einfachen Stil einerseits dadurch, dass er der Wahrheit entspricht, aber auch durch eine Orientierung an seinen Vorgängern, den Aposteln, die er als Historiographen der biblischen Geschichte versteht: Non enim propter hoc eos, si quidam ex ipsis apostolicam in scribendo simplicitatem servavere, contempnendos iudicaverim, dum, sicut nonnunquam erroris fomes arguta sit subtilitas, sic semper veritatis amica sancta sit rusticitas. 6 Vgl. Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus. Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, lat. Text hg. von Adolf Hofmeister, übersetzt von Adolf Schmidt, dt. Text hg. von Walther Lammers, Darmstadt 1961 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 16), S. 2: Parui ergo libens et lubens vestro imperio tanto devotius, quanto regiae excellentiae convenientius esse considero ob rei publicae non solum armis tutandae, sed et legibus et iudiciis informandae incrementum antiqua regum seu imperatorum gesta vos velle cognoscere. Übersetzung nach Schmidt, S. 3: ‚Ich gehorche Eurem Befehl gern und freudig, um so bereitwilliger, je angemessener es meiner Meinung nach für die königliche Majestät ist, daß Ihr die Taten der König und Kaiser der Vergangenheit kennenlernen wollt, um daraus Nutzen zu ziehen nicht nur für den Schutz des Staates durch Waffengewalt, sondern auch für die Gestaltung seiner inneren Form durch Gesetze und Gerichte.‘ Zur Geschichtstheorie Ottos immer noch grundlegend ist Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts, Köln/ Wien 1984. 7 Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hg. von Joseph Seemüller, Hannover/ Leipzig 1909 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 6), S. 2,26-28. 8 Vgl. Österreichische Chronik (wie Anm. 7), S. 1,10f.: und ist pesser zu dem gemain nucz die lere auz den vergangen hystorien und croniken, wenn die lere der kümftigen dingen auz sternsehen oder andren sachen. 9 So folgt beispielsweise die Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften (wie Anm. 7) einem einfachen Stil, betont aber zugleich, dass auch dieser nicht ohne Anstrengung zu haben sei: und wie wol dise kroniken an dem getichte ist ainvoltig, doch hab ich mir darumb offt ain süssen slaf ab geprochen (S. 4,18f.). 190 Sandra Linden (‚Wenn einige von ihnen in ihrer Darstellung apostolische Schlichtheit gewahrt haben, so habe ich doch nicht geglaubt, sie deshalb beiseite lassen zu sollen; denn während überspitzte Künstlichkeit bisweilen des Irrtums Brutstätte ist, bleibt die heilige Einfalt immer der Wahrheit Freundin.‘) 10 Selbst Rudolf von Ems, der als höfischer Erzähler sonst großzügig mit rhetorischem Schmuck umgeht, 11 verpflichtet sich für die Weltchronik explizit auf einen Stil der slihte und zur brevitas, wie er im Binnenprolog zum dritten Weltzeitalter erläutert: An disin meren der ih han Begunnen unde hergetan Rehte in rehtir richte An umbekreiz mit slihte, Han ich kúrzecliche her geseit Ane valsch die warheit Mit kurzin wortin uz gesniten und al die umberede virmittin, davon dú mere lengent sich. 12 Auch hier vermittelt die slihte als angemessener Stil zugleich einen Wahrheitsanspruch, wird das, was kurz und ohne Schnörkel gesagt wird, als Rede âne valsch akzeptiert. c) Der Umgang mit den Quellen: Natürlich ist für die Historiographen das Material, das sie verarbeiten, von besonderer Wichtigkeit. Entsprechend häufig äußern sie sich in den Prologen über ihre Quellen. Otto von Freising berichtet über das Privileg, dass ihm die Notare des Kaisers zuverlässig das nötige Quellenmaterial beschafft haben, so dass die Voraussetzungen für das Auftragswerk denkbar günstig sind. 13 Helmold von Bosau, der um 1165 die auf Lübeck und die Lübecker Bucht konzentrierte lateinische Slawenchronik verfasst, setzt auch auf mündliche Quellen und berichtet über die Befragung von Alten und Augenzeugen. 14 Genau wie die lateinischen Historiographen geben auch die volkssprachigen Autoren meist eine legitimierende Auskunft über ihre Quellen. So beschreibt der Autor der Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften, auch wenn er dann die meisten Herrscher einfach 10 Otto von Freising, Chronica (wie Anm. 6), S. 16, Übersetzung nach Schmidt, S. 17. 11 Dass Rudolf in der Weltchronik den stilus humilis bewusst als Kontrast zum geblümten Stil in seiner höfisch romanhaften Dichtung wählt, betont Mathias Herweg, „Erzählen unter Wahrheitsgarantie - Deutsche Weltchroniken des 13. Jahrhunderts“, in: Handbuch Chroniken (wie Anm. 1), S. 145-179, hier S. 152. Ob Rudolf sich dann tatsächlich durchgängig an die Stilwahl hält, wäre an prägnanten Stellen wie dem Binnenprolog des fünften Buchs, der eine hohe ästhetische Durchformung zeigt, nochmals zu diskutieren. 12 Rudolf von Ems, Weltchronik, aus der Wernigeroder Handschrift hg. von Gustav Ehrismann, 2., unveränderte Auflage, Dublin 1967 (Deutsche Texte des Mittelalters 20), V. 3794-3802. 13 Vgl. Otto von Freising, Chronica (wie Anm. 6), S. 4. 14 Vgl. Helmoldi Presbyteri Bozoviensis Chronica Slavorum / Helmold von Bosau, Slawenchronik, lat. Text hg. von Bernhard Schmeidler, neu übertragen und erläutert von Heinz Stoob, Darmstadt 1963 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 19), S. 28: Porro aliis omissis quae nostra etate gesta sunt, quae aut longevis viris referentibus percepi aut oculata cognitione didici, statui Domino propicio cum fide perscribere […]. Übersetzung nach Stoob, S. 29: ‚Ferner habe ich beschlossen, andere Ereignisse wegzulassen und mit Gottes Hilfe die Taten unserer Zeit getreulich zu beschreiben, soweit ich sie aus Erzählungen hochbetagter Männer weiß oder aus eigenem Augenschein kenne […].‘ Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 191 frei erfindet, 15 wie er seine Quellen recherchiert und nur das aus seinem Fundus übernimmt, was dem Publikum nützt. 16 Ottokar referiert zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Prolog der Österreichischen Reimchronik, wie er mündliche Quellen einbezieht, einiges auch nur auf der Basis von Hörensagen übernimmt. 17 Wichtig im Umgang mit den Quellen ist stets die Sorgfalt bei der Recherche, was die Braunschweigische Reimchronik, die im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts im Umkreis der Welfenherzöge entstanden ist, 18 in ein ungewöhnliches Bild fasst, das die Mühsal der Quellenbeschaffung verdeutlicht: hi han ich vil ab ghehort und began iz vragen unte su o chen her und dhar an mengen bu o chen, daz iz mir wurthe khunt. ich rant sam eyn leytehunt, dher dha volghet uph dhem spore. bi wilen quem ich dhe redhe vore, daz ich nicht wol ne wiste, wa ich dhes vo v zes miste. so vo v r ich hi unte dhar, daz ich aber wart ghewar dhes vuozes und dhes spores. 19 Wie ein Leithund bei der Jagd, der eifrig auch über Hindernisse hinweg einer Spur folgt, bemüht sich der Chronist um Informationsbeschaffung. Die historischen Quellen sind das gejagte Wild - wer der Jäger hinter dem Leithund ist, bleibt in dieser metaphorischen Konstruktion undeutlich, denn es geht vor allem darum, die Mühen des Hundes herauszustellen, mit dem sich der Chronist gleichsetzt. Zwar geben fast alle volkssprachigen Historiographen in den Prologen Rechenschaft über ihre Quellen, allerdings werden diese primär als notwendiger Stoff, als Informations- und Wissensgrundlage für das vorliegende Projekt gesehen, und es wird nicht explizit als Ziel formuliert, auch an die Darstellungsart und den Stil der Quellen anzuknüpfen. Wie es scheint, haben die verwendeten Quellen weniger mit den literarisch-poetologischen Traditionen zu tun, in die sich das Werk dann einordnet, sondern sind eher das Material, das eine neue Aufbereitung erfährt. 15 Zur literaturgeschichtlichen Einordnung dieses Sonderfalls vgl. Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, 2. Halbbd.: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358-1439), Graz 2004 (Geschichte der Literatur in Österreich, 2/ 2), S. 285-299. 16 Vgl. Österreichische Chronik (wie Anm. 7), S. 2,33-35. 17 [Ottokar von der Geul] Ottokars Österreichische Reimchronik, hg. von der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Hannover 1890 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 5), V. 33-76. 18 Zum Vorstellungsbild des Stammbaums, das im Prolog der Chronik entworfen wird, vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 374- 391. 19 Braunschweigische Reimchronik, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1877 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 2), S. 459-574, hier V. 62-73. Zum quellenkritischen Vorgehen in der Braunschweiger Reimchronik vgl. Gesine Mierke, „Norddeutsche Reimchroniken. Braunschweigische und Mecklenburgische Reimchronik“, in: Handbuch Chroniken (wie Anm. 1), S. 197-224, vor allem S. 200f. 192 Sandra Linden III. Die Gemengelage höfischer Erzähltradition Die Frage, welche Vorbilder genannt werden und in welche Traditionen sich die volkssprachigen Historiographen im Hinblick auf gestalterische Fragen stellen, beantwortet sich also nicht über die jeweils vorgängigen historiographischen Quellen. Diese werden zwar genannt, doch über deren Erzählweise reflektieren die Vorreden nicht, höchstens einmal in Form einer Absetzung, wenn der Erzähler in der Braunschweigischen Reimchronik angibt, dass er den Stoff besser einrichten will. 20 Das gefundene Material wird in günstige Stücke aufgeteilt und wieder neu zusammengefügt, um die Verständlichkeit zu erhöhen. Für die Art der Darstellung bietet stattdessen die volkssprachige höfische Literatur einen wichtigen Orientierungspunkt, und so reflektieren die Historiographen immer wieder über ihre Beziehung zum höfischen und heldenepischen Erzählen. Dieser Bezug kann durchaus auch ablehnend formuliert sein, etwa wenn in der Kaiserchronik gegen die Lügendichtung polemisiert wird: Nu ist leider in disen zîten ein gewoneheit wîten: manege erdenchent in lugene unt vuogent si zesamene mit scophelîchen worten. 21 Was neben der Kritik zugleich durchscheint, ist eine gewisse Anerkennung für die Wirkkraft dieser Lügen, denn sie sind ja nicht aus sich heraus rezeptionswirksam, sondern erst dann, wenn sie eine ästhetische Gestaltung erfahren, wenn sie mit scophelîchen worten gefügt werden - der Aspekt schöpferischer Kreativität ist in dem Adjektiv durchaus mit Bedacht gesetzt. Und auch das um 1080 entstandene Annolied, das einen knappen Durchgang durch die vier Weltreiche mit der panegyrischen Erzählung vom wundertätigen Kölner Erzbischof Anno kombiniert, setzt sich zwar von den Stoffen der mündlichen Heldendichtung ab, indem diese einer früheren, nicht mehr aktuellen Zeit und Literatursituation zugeordnet werden: Wir horten ie dikke singen / von alten dingen. 22 Doch schon allein der Einbezug des Sprechers im kollektiven „wir“ macht eine radikale Ablehnung unwahrscheinlich. Auch die folgende anaphorische Reihe, in der die alten spannenden Inhalte noch einmal in Er- 20 Vgl. Braunschweigische Reimchronik (wie Anm. 19), V. 76f.: ich wil iz teylen unte sn o v ren, / daz men iz baz vorstê. 21 Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1895 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1), V. 27-31. Vgl. zur Kritik des Kaiserchronisten Jürgen Wolf, „Narrative Historisierungsstrategien in Heldenepos und Chronik - vorgestellt am Beispiel von ‚Kaiserchronik‘ und ‚Klage‘“, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 323-346, vor allem S. 334-336. 22 „Das Annolied“, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 596-647, V. 1f. Vgl. auch Mathias Herweg, Ludwigslied, De Heinrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002 (Imagines medii aevi 13), S. 274f., der für den Prolog das zeitliche Gegeneinander von Vergangenheit und Zukunft herausarbeitet. Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 193 innerung gerufen werden, lässt eine gewisse Faszination für diese Literatur erahnen, in der besungen wird, wi snelle helide vuhten, wi si veste burge bræchen, wi sich liebin winischefte schieden, wi riche kunige al zegiengen. 23 Zwar folgt die Ermahnung, dass man beizeiten an das eigene Seelenheil denken und sich von der rein unterhaltenden Literatur einem besseren Sujet, nämlich den Heilstaten Annos, 24 zuwenden soll, aber die Attraktivität des alten Gesangs wird durchaus anerkannt. Der Ratschlag, die eigene Literaturrezeption zu ändern, bezieht sich auf die inhaltliche Ebene. Was die Art der Darstellung angeht, so trifft den alten Gesang keinerlei Kritik - und wenn man an die spektakulären Wundertaten Annos denkt, lässt sich ein gewisses Bemühen um spannungsvolles und effektreiches Erzählen beim Autor des Annolieds wohl nicht leugnen. Es zeigt sich keine strikte Ablehnung heldenepischer oder höfischer Erzählformen, vielmehr will man auch im Umgang mit einem anderen Quellenbereich an das in der volkssprachigen Literatur Gängige und vom Publikum im Literaturbetrieb Goutierte anknüpfen. Und es ist ja auch ganz naheliegend, dass die Historiographen viele in der Volkssprache etablierte literarische Verfahren nicht einfach für ungeeignet halten, sondern sie - eventuell in Varianz - für sich nutzen. Schon rein formal ist eine grundlegende stilistische Orientierung in vielen Chroniken durch die Wahl des Reimpaarverses gegeben; einige Historiographen benennen auch ganz offen ihre literarischen Vorbilder: Jans von Wien 25 formuliert in seiner um 1280 entstandenen Weltchronik einen Inspirationsanruf an die deutschsprachigen Dichter: ir tihter über tiutschiu lant oder swâ die tihter sîn bekant von dem mer hinz an den Rîn, die lâzen mich irn diener sîn, wan ich in den gedenken bin, daz ich die gefuog wil von in lernen unde tihten; der gefuog wolt ich mich rihten. 26 Der emphatische Anruf zielt nicht auf die Faktentreue des Historiographen, sondern auf eine dezidiert literarische Kompetenz: Der Sprecher will von den Vorbildern gefuog lernen. Als das schöne passliche Zusammenfügen ist die vuoge, wie Gerok-Reiter gezeigt hat, 27 ein 23 Annolied (wie Anm. 22), V. 3-6. 24 Vgl. Annolied (wie Anm. 22), V. 7f.: nu ist zit daz wir dencken / wi wir selve sulin enden. 25 In der zweiten Auflage des Verfasserlexikons findet sich noch der Namenseintrag „Enikel, Jans“ (²VL, Bd. 2, Berlin/ New York 1980, Sp. 565), vgl. zur Namensform Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien, Berlin 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), S. 30-32. 26 [Jans von Wien,] „Weltchronik“, in: Jansen Enikels Werke, hg. von Philipp Strauch, Hannover 1891 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 3), S.- 1-596, hier V. 101- 108. 27 Annette Gerok-Reiter, „Die ‚Kunst der vuoge‘: Stil als relationale Kategorie. Überlegungen zum Minnesang“, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo- 194 Sandra Linden zentrales ästhetisches Kriterium höfischen Erzählens. Der Erzähler sucht nach Mustern, an denen er sich ausrichten kann, und das sind eben nicht die anderen Historiographen, sondern im Begriff vuoge zeigt sich ein erhöhter ästhetischer Anspruch, für den er sich eher an den höfischen Dichtern schulen will. 28 Im Spektrum von gemäßigter Ablehnung, die sich aus einem differenten Nutzenkalkül ergibt, bis zu einer dezidierten Bewunderung und Imitation darstellerischer Qualitäten des höfisch-heldenepischen Erzählens ergeben sich also zahlreiche Verbindungslinien. Ohnehin entsteht der Eindruck, dass die darstellerischen Anforderungen gar nicht so unterschiedlich sind, zumal die zentrale historiographische Ausgangsfrage, wie man einem gegenwärtigen Publikum Vergangenheit zugänglich macht, auch dem höfischen Erzählen nicht fremd ist: Schließlich handelt es sich dabei um das zentrale Thema in Hartmanns Iwein-Prolog, wo reflektiert wird, wie man in der Rezipientengegenwart an die vergangene Artusidealität anknüpfen kann, wie das Erzählen von Vergangenheit in Form des maere mit der realen vergangenen Existenz, dem werc, vermittelt werden kann, so dass eine Nutzenabwägung zwischen erzähltem und realem Sein erfolgt. 29 Wenn man zudem bedenkt, dass die Inhalte höfischer Romane von den Autoren ganz selbstverständlich als historische Wahrheit angekündigt und meist mit deutlich markierter zeitlicher Distanz in eine Vergangenheit verlegt werden, 30 ist die kritische Frage, ob in einer Chronik tatsächlich anders erzählt wird als in einem Roman, durchaus berechtigt. Auch im Detail zeigen die historiographischen Prologe häufig Formulierungen, die man ebenso im höfischen Roman lesen kann. So ist etwa die gängige Praxis, einen Roman mit einer Sentenz zu beginnen, auch bei den Historiographen recht beliebt. 31 Und die bei den höfischen Dichtern häufig zu beobachtende vorsorgliche Absetzung von missgünstigen Kritikern zu Beginn des Werks, wie sie Gottfried und Wolfram kultivieren, 32 findet sich ebenfalls in der Historiographie. Während Ottokar in der Österreichischen Reimchronik noch im Bescheidenheitsgestus das spotlîche schelten fürchtet und an seiner Erzählung German Colloquium Düsseldorf, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Berlin/ Boston 2015, S. 97-118. 28 Auch Ottokar formuliert in seiner Österreichischen Reimchronik (wie Anm. 17) einen deutlichen Unterhaltungsanspruch, wenn er Dinge erzählen will, die lustsam und redebære (V. 62) sind. Und in dem Wunsch, Gunst und Gruß der Rezipienten zu erlangen, spricht er sein Publikum ganz ähnlich an, wie es auch die höfischen Dichter tun (V. 11-13). 29 Vgl. Hartmann von Aue, Iwein, hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6), die zentralen Begriffe finden sich in V. 56-58. Zur Analyse des Prologs vgl. Sandra Linden, Exkurse im höfischen Roman, Wiesbaden 2017 (MTU 147), S. 127-131 mit weiterer Literatur. 30 Vgl. z. B. Hartmann, Iwein (wie Anm. 29), V. 8-13 in Bezug auf König Artus, oder Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Walter Haug und Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10/ 11), V. 149-159, der die Tristangeschichte in seiner Quellenkritik durch die Bevorzugung der Version des Thomas von England deutlich an eine als historiographisch bewertete Überlieferung anbindet. 31 Vgl. z. B. den Prolog der Österreichischen Reimchronik (wie Anm. 17), V. 1-4, wo der Sprecher darüber reflektiert, dass derjenige, der nie den Wünschen anderer folgt, letztlich deren Gunst verliert: Swer selten gewert, / des man an in gert, / der verliust umb die schulde / dicke guoter liute hulde. 32 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan (wie Anm. 30), V. 9f. und V. 29-36, sowie Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8), 1,26-2,4. Vgl. ähnlich auch Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. von Karl Bartsch, Wien 1871, Nachdruck Berlin 1970, V. 24-41 und im bekannten Vergleich zwischen Dichter und Nachtigall V. 97-149, sowie Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hg. aus dem Wasserburger Codex der fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, Berlin 1905 (Deutsche Texte des Mittelalters 2), V. 17-36. Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 195 jeglichen zadel (= Fehler, Mangel) vermeiden will, 33 ergeht sich Jans von Wien in einer selbstbewussten und aggressiven Kritikerverfluchung: sî ieman der nû spotte mîn, daz ich daz buoch getihtet hân, der sî des tievels kappelân und müez sîn der helle kint. an den ougen werd er blint. 34 Das Ziel einer solchen Kritikerschelte ist bei höfischen wie historiographischen Beispielen identisch, nämlich dass man durch die Abgrenzung von Übelwollenden eine exklusive Gemeinschaft der Verständigen ausbildet, zu der sich die aktuellen Rezipienten und der Erzähler zählen können. Methodische Zwischenbemerkung Schon die wenigen Beispiele zeigen, dass sich Autoren höfischer Romane und Historiographen aus einem gemeinsamen Fundus metapoetischer Äußerungen und Verfahrensweisen bedienen. Der Befund einer prologtopischen Gemengelage im Kontinuum höfischer Darstellungsmöglichkeiten macht eine kurze methodische Reflexion nötig: Auch wenn die Autorfiguren in den Prologen suggerieren, dass sie aktuell über das vorliegende Unterfangen und die darstellerische Aufgabe reflektieren, darf man den Aussagewert der Prologe für die konkrete Konzeption des jeweiligen Werks nicht überschätzen. Vieles, was in Prologen der höfischen Dichtung gängig und erfolgreich ist, schreibt sich auch bei den Historiographen einfach fort und erlangt den Status eines Topos, der in ganz unterschiedlichen Kontexten verfangen kann. Die beliebige Montierbarkeit von Prologaussagen bestätigt ein vergleichender Blick auf die Kaiserchronik und den Trierer Silvester: Während die Kaiserchronik als universal ausgerichtetes Kompendium einen historisch-heilsgeschichtlichen Zusammenhang darstellen will, ist der Trierer Silvester als kurze, fragmentarisch überlieferte Legende auf die Person des Heiligen fokussiert und zeigt lediglich einen knappen historischen Ausschnitt zur Zeit Kaiser Konstantins. Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung zögert der Autor des Trierer Silvester nicht, weite Passagen aus dem Prolog der Kaiserchronik wörtlich zu übernehmen und auch für sein Vorhaben richtig und passend zu finden. V. 5-32 des Trierer Silvester hat der Autor vermutlich aus V. 3-14 und sicher aus V. 27-42 der Kaiserchronik in seinen Prolog übernommen. 35 Im ersten Abschnitt geht es darum, dass nur ein geeignetes Publikum den positiven Nutzen des Werks anerkennt, der zweite Abschnitt benennt es als besondere Gefahr der Lüge, dass sie sich so schnell fortsetzt. Freilich behandeln beide Passagen The- 33 Vgl. Österreichische Reimchronik (wie Anm. 17), V. 65-69: durch der selben tadel / sô muoz ich den zadel / an diesen mærn vermîden, / ob ich niht wil lîden / spotlichez schelten. 34 „Weltchronik“ (wie Anm. 26), V. 110-114. Die Verfluchungen werden noch acht Verse lang fortgeführt, bis sich der Erzähler selbst ermahnt: den fluoch wil ich lâzen stân / und wil daz buoch heben an (V. 123f.). 35 Vgl. Kaiserchronik (wie Anm. 21) und Der Trierer Silvester, hg. von Carl von Kraus, Hannover 1895 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1.2, S. 1-61); die Übereinstimmungen mit der Kaiserchronik sind in der Edition am rechten Rand notiert. Die oben formulierte Einschränkung ergibt sich aus dem Fragmentstatus der Legende. 196 Sandra Linden men, die breit anwendbar sind, aber dennoch ist die exakte Übernahme dieser engagierten Erzählerrede erstaunlich. Einerseits lässt sich also ein unbekümmertes Weiterschreiben des Verfügbaren feststellen, andererseits gibt es aber auch Historiographen, die abseits von bestehenden Prologkonventionen operieren und wohl kaum in die Netzwerke poetologischer Reflexion integriert sind. In solchen Texten entwickeln sich poetologische Überlegungen noch ganz konkret am Fallbeispiel und, wie es scheint, ohne größeren Abgleich mit einer literarischen Tradition. So beginnt die 1216-1218 entstandene Gandersheimer Reimchronik, eine Klosterchronik, die zugleich eine Geschichte der Ottonen bietet, recht überraschend mit einer ausführlichen Reflexion über die Wirkungen eines prächtigen Kirchengebäudes auf den Gläubigen und den Aufstieg der Seele zu Gott. 36 Weit entfernt von St. Denis, wo Abt Suger das Kirchengebäude als neuen Tempel Salomons konzipiert, wird hier darüber reflektiert, wie das Gotteshaus die menschlichen Sinne affiziert und zu Gott emporführt. Erst nach 50 Versen ausführlicher Architektur- und Einrichtungsbeschreibung meldet sich der Erzähler zu Wort, um sich für den ungewöhnlichen Anfang zu rechtfertigen: Dusse rede hebbe ek vorgeves nicht gedan, wenne darumme, dat gi darbi vorstan, wu vele loves de jene entpheit, de darna mit allem vlite deit, dat he de kristenheit hoge unde mere, so dat he in godes unde der hilgen ere beide kerken unde closter make. 37 Jetzt offenbart sich, worum es eigentlich geht, nämlich um geschickte Werbung, denn der Text ist darauf ausgerichtet, den Rezipienten zu großzügigen Stiftungen für das Kloster zu motivieren. Erst im Nachhinein offenbart sich also, dass die eindrückliche Beschreibung zu Beginn auf eine sehr konkrete Zielsetzung zuläuft. Die beiden erwähnten Beispiele, das Fortschreiben des Kaiserchronik-Prologs im Trierer Silvester und die selbständige Prologgestaltung in der Gandersheimer Reimchronik, zeigen zwei Extreme auf: An dem einen Ende der Skala entstammen Prologaussagen fast ganz unabhängig vom Einzelwerk aus einem Fundus historiographisch gängiger Darstellungsmodelle und am anderen Ende der Skala sind die Prologaussagen ganz verbindlich mit dem konkreten Werk verknüpft und allein für dieses gültig. Nicht nur die Extreme, sondern vor allem die daraus resultierenden Übergangsformen gilt es bei einer poetologischen Prologlektüre der historiographischen Texte zu bedenken. Neben den beobachteten Gemeinsamkeiten zwischen den Prologen der höfischen Epik und der Historiographie zeigen sich zwei thematische Problemfelder, die für die volkssprachige mittelalterliche Historiographie spezifisch sind und die im höfischen romanhaften Erzählen nicht in derselben Dichte und Reflexionsintensität begegnen. 36 Vgl. [Gandersheimer Reimchronik] Eberhards Reimchronik von Gandersheim, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1877 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 2), S. 397- 429, hier V. 5-50. 37 Gandersheimer Reimchronik (wie Anm. 36), V. 51-57. Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 197 IV. Problemfelder volkssprachiger historiographischer Reflexion IV.1. Wahrheit und Lüge Dass ein Geschichtsschreiber in seiner Vorrede die Lüge verurteilt und sich in seiner Darstellung auf die Wahrheit festlegt, ist eine erwartbare Geste, und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass sich fast in jeder historiographischen Vorrede ein solches Bekenntnis zur Wahrheit findet. Dass alle die Wahrheit berichten wollen, ist eine zentrale Prämisse der Gattung, interessant ist jedoch, dass diese vermeintlich selbstverständliche Entscheidung häufig aufwendig begründet wird und einen hohen Reflexionsaufwand über das Thema Wahrheit und Lüge auslöst. Die Forschung hat bereits ausführlich gezeigt, dass nach anfänglichen Wahrheitsbeteuerungen im weiteren Werkverlauf allerlei Fiktives folgen kann, ohne dass dadurch der Status guter Historiographie beschädigt würde. 38 Entsprechend hat man eine historiographische Erzähltheorie häufig von der Spannung zwischen Fiktion und Wahrheit her zu fassen versucht. 39 Die produktive Diskrepanz zwischen Wahrheitsbeteuerung in den Vorreden und Fabulierkunst im Haupttext ist allgemeiner Forschungskonsens, und dass umgekehrt auch eindeutig fiktive Texte das Erzählte wortreich als wahr ausweisen, ebenso. 40 Im Folgenden ist nun vor allem zu analysieren, wie das Argument der Wahrheitstreue in den Prologen mit erstaunlich ausführlichen Reflexionen versehen und so einer Komplexitätssteigerung unterzogen wird. 38 Mathias Herweg, Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25) spricht von „fiktionalisierenden Phänomene[n] im Bereich der Historiographie“ (S. 72) und hält z. B. für die Kaiserchronik die Rezeptionsmöglichkeit als Fiktion „in pseudochronistischem Gewand“ (S. 78) offen. Die Diskussion wird für die Kaiserchronik besonders rege geführt, vgl. Udo Friedrich, „Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der ‚Kaiserchronik‘“, in: Poetica 47 (2015), S. 1-24, oder Almut Suerbaum, „Erzählte Geschichte. Dialog und Dialogizität in der Kaiserchronik“, in: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998, hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 2000 (Wolfram-Studien 16), S. 235-255. 39 Vgl. die zentralen Beiträge von Herweg (wie Anm. 11) und Mierke (wie Anm. 25), die der volkssprachigen Chronistik einen novellistischen Stil attestiert (S. 272) und herausarbeitet, dass viele Historiographen die Fiktionalität als probates Hilfsmittel schätzen, um die Wahrheit auf angemessene Weise darzustellen (vgl. S. 24f. und S. 270-276). In einer allgemeineren Perspektive weist beispielsweise Andreas Kablitz, „Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion“, in: Poetica 35 (2003), S. 251-273, darauf hin, dass man sich im Bemühen um Erkenntnis immer schon Fiktionales als pragmatische Lösung schafft, weil sich die Wirklichkeit dem erkennenden Zugriff entzieht. 40 Fritz Peter Knapp hat in mehreren Beiträgen gezeigt, dass sich Epiker in ihrem Wahrheitsanspruch durchaus den Historiographen annähern, vgl. beispielsweise Fritz Peter Knapp, „Theorie und Praxis der Fiktionalität im nachklassischen deutschen Artusroman“, in: Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15. Februar 1992, hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel unter Mitarbeit von Matthias Meyer und Hans- Jochen Schiewer, Tübingen 1993, S. 160-170, oder in einer resümierenden Perspektive: ders., „Historizität und Fiktionalität in narrativen Texten des Mittelalters - eine historische Standortbestimmung der Intention der Autoren“, in: Zwischen Fakten und Fiktionen. Literatur und Geschichtsschreibung in der Vormoderne, hg. von Merle Marie Schütte u. a., Würzburg 2014 (Religion und Politik 10), S. 183- 195, vor allem S. 192. Mathias Herweg (wie Anm. 38), vor allem S. 17-28, zeigt dann angesichts einer stärkeren Stützung historiographischen Schreibens im Literaturbetrieb für den Roman nach 1300 eine Hinwendung zu deutlicher historisch und geographisch anbindbaren Themen. 198 Sandra Linden Bereits in der Kaiserchronik wird die Gefahr thematisiert, dass sich die Lüge durch ihr penetrantes Weiterleben über Generationen hinweg im Laufe der Zeit zur Wahrheit verfestigt und so die Weitergabe des Wissens gefährdet: sô lêret man die luge diu chint: die nâch uns chunftich sint, die wellent si alsô behaben unt wellent si iemer fur wâr sagen. lugene unde ubermuot ist niemen guot. 41 Es spricht für die allgemeine Akzeptanz dieser Überlegung, dass diese Passage in den Trierer Silvester übernommen wird. Das Vertrauen darauf, dass die vergangene Generation die Wahrheit sicher an die nachfolgende weitergibt, ist ein zentrales Kriterium historischer Überlieferung und garantiert deren Verlässlichkeit. Im Positiven reflektiert dies die Gandersheimer Reimchronik, wenn hier von der Autorfigur genau das als wahr akzeptiert wird, was die Vorfahren auch schon als wahr angesetzt haben: so wil ek ok sunder vorchten sagen, dat mine vorvaren vor war willen haven, so se hebben hort von slechte to slechte. 42 Dieses Vertrauen wird mit Verweis auf Psalm 43 gerechtfertigt: darto so sprikt ok de scrift harte rechte, der ek bin van godes gnaden wis: ‚patres nostri annunciaverunt nobis.‘ dat sprikt: ‚von unsern vorvaren hebben we vornomen, wu mannich sage si an de warheit gekomen.‘ 43 Die Lüge ist natürlich nicht nur wegen der Verfälschung der historischen Wahrheit zu meiden, sondern sie ist auch ein beliebtes Thema christlicher Moraldidaxe: Häufig wird das Publikum eindringlich beschworen, sich zum Wohl des eigenen Seelenheils von den Lügenerzählungen ab- und der Wahrheit zuzuwenden, wie es bereits für das Annolied gezeigt werden konnte. Das Argument begegnet dann auch in gewisser Variation als prologtopische insinuatio, wenn die Sächsische Weltchronik davon überzeugt ist, dass nur die Dummen die Lüge wählen, die Verständigen jedoch die Wahrheit. 44 Hier wird zudem ein Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Lüge gesetzt und die These entwickelt, dass die verschriftlichte Lüge dem Schreiber als Sünde nicht von Gott vergeben werden kann: logene gesproken missetat, gescreven tot siu groten val 41 Kaiserchronik (wie Anm. 21), V. 35-40. 42 Gandersheimer Reimchronik (wie Anm. 36), V. 93-95. 43 Gandersheimer Reimchronik (wie Anm. 36), V. 96-100. 44 Sächsische Weltchronik, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1877 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 2), S. 5-258, hier V. 64-69: ouh n’ist iz so niwet bleven, / logene ne si vil geschreven ouh. / die horet gerner ein gouch, / dan her to die warheit. / darnach des mannis wille steit, / da horit er gerne reden van […]. Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 199 der sele; des sit gewarnet al, swer so logene scrivet, unvergeven blivet diu logelike sunde. 45 Das besondere Sündenpotential der schriftlichen Lüge wird ganz logisch begründet, denn sie setzt sich unabhängig vom Schreiber und dessen möglicher Reue fort. So kann es durch unkontrollierte Lektüreprozesse zu einem gefährlichen Automatismus kommen, den Gott in seiner Allwissenheit beobachtet: die wile ir got urkunde hat an den, die sie da lesen, so muoz er unvergezzen wesen. 46 Auch Rudolf von Ems geht in Erzählerbemerkungen der Weltchronik auf das Thema Wahrheit ein. 47 Im Binnenprolog zur Darstellung des vierten Weltalters gibt der als Autor gestaltete Erzähler an, dass er, wenn er nicht die Wahrheit schreibt, Kritik riskiert und dann alle Mühe, seine umm u e zekeit, umsonst gewesen wäre. 48 Er beschwört nicht so sehr eine ethische Festlegung auf die Wahrheit, sondern vertritt eine eher pragmatische Sicht: Als Kontrollinstanz werden die gelerten wisen lúte (V. 8810) benannt, die mit ihrem profunden Wissen jede Abweichung von der Wahrheit sofort bemerken würden. 49 Folglich entscheidet sich der Erzähler in rehter slihte (V. 8800) für eine Darstellungsart, die die Aussagen der Bibel ohne inhaltliche Veränderung weiterschreibt. Er begründet die Wahrheitstreue nicht nur moralisch als Vermeidung von Sünde, sondern sieht auch, dass ihm als Autor ein Abweichen von der Wahrheit nur unnötige Kritik einbringt (itewiz, V. 8816, 8825) und somit nicht erstrebenswert ist. Und damit sich die unbedingte Verpflichtung auf die Wahrheit beim Publikum auch gut einprägt, wird dann in einer kurzen Passage von zwanzig Versen fünf Mal warheit auf geseit gereimt. 50 Für das kommende Weltalter nimmt er sich in Vertrauen auf die Führung Gottes und wiederum mit signifikantem Reim vor, dass er dú mere fúrbas tihte und tihtinne berihte 45 Sächsische Weltchronik (wie Anm. 44), V. 90-95. 46 Sächsische Weltchronik (wie Anm. 44), V. 96-98. 47 Vgl. z. B. Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 175-188 (Prolog) und V. 3794-3816 (Binnenprolog zur dritten Welt). 48 Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 8798-8825, Zitat V. 8806. Der Begriff der umm u e ze begegnet bereits im Prolog (V. 148), dort in Verbindung mit dem für den historiographischen Diskurs ungewöhnlichen Begriff der willekúr (V. 147). Vgl. dazu Moritz Wedell, „Poetische willekür. Historiographie zwischen Inspiration und rhetorischer Produktion in Rudolfs von Ems ‚Weltchronik‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 132 (2013), S. 1-28, vor allem S. 8-15, der eine Verbindung zur identischen Wortkombination im Prolog von Gottfrieds Tristan (wie Anm. 30), V. 167-172, herausarbeitet. 49 Zu diesem Autoritätenbezug vgl. den Beitrag von Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young im vorliegenden Band. 50 Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 8798-8807: Min zunge hat mit warheit / Ortfrúmmechliche her geseit / In rehter slihte mit warheit / Swas dú scrift úns hat geseit / Endehafter warheit. / Seit ich iht wan die warheit / von in, von dén ich han geseit, / in zwivillichir warheit, / so wrde minir ummuͤzekeit / undang mit strafenne geseit (Hervorhebung von mir - S.L.); die beiden übrigen Belegen finden sich in V. 8812f. und 8820f. 200 Sandra Linden mit tútschem getichte in der gewaren richte […]. 51 Ziel ist die geordnete und sorgfältige Darstellung, die als tihtinne berihten zwar einen ästhetischen Anspruch erkennen lässt, aber vor allem darauf zielt, nicht vom Weg der Wahrheit abzuweichen und den Autor unangreifbar für Kritik zu machen. Die kurze Reihe zeigt, dass das Thema Wahrheit und Lüge in historiographischen Vorreden ein hohes Reflexionspotential auslöst und somit einen neuralgischen Punkt der Darstellung zu treffen scheint. Dass die Historiographen sich auf die Wahrheit verpflichten, ist nicht weiter verwunderlich, wohl aber, wie viel Reflexionsaufwand an diesen eigentlich unstrittigen Punkt angelagert wird. Der Grund für diese ausführlichen Reflexionen über den Wert der Wahrheit und die Gefahr der Lüge liegt vielleicht darin, dass die Historiographen in stärkerem Maße als die Autoren fiktiver Texte mit dem Problem der Überprüfbarkeit konfrontiert sind, da ihre Entscheidung, welche Quellen und Informationen vertrauenswürdig sind und welche nicht, zentral die Qualität ihrer Arbeit bestimmt. Hier wird also ein Problemfeld, ein Unsicherheitsfaktor in der Informationskette markiert und mit entsprechend aufwendiger Reflexion zugleich auch wieder entschärft. So manche in ihrem Wahrheitsgehalt unsichere, aber narrativ attraktive Quelle lässt sich vielleicht leichter integrieren, wenn der Erzähler zuvor sorgfältig seine unbedingte Wahrheitstreue inszeniert hat. IV.2. Die Fülle des Materials Ebenso wie Gott mit der Schöpfung einen Anfang - den ersten Anfang überhaupt - setzt, muss auch der Chronist wiederum anfangen, von der Schöpfung Gottes zu erzählen. Weil in einer heilsgeschichtlichen Perspektive für die meisten historiographischen Werke die Schöpfung den Beginn ihres Berichtszeitraums darstellt, fällt der Anfang der Welt für den Erzähler in eins mit dem Anfang seines Erzählens. Zwischen dem Anfang der Schöpfung als Darstellungsinhalt und dem Anfang der Darstellung als poetologischer Aufgabe entsteht somit eine interessante Korrelation. Rudolf bringt diesen Zusammenhang in seiner Weltchronik zum Ausdruck, indem er im Prolog ausführlich über den Anfang reflektiert. Der Begriff anegenge wird wortspielerisch umkreist und ist in der Anrufung Gottes auf die Schöpfung bezogen, aber zugleich andeutungsreich offen auf den Anfang des historiographischen Werks. 52 Durch die identische Tätigkeit des Anfangens ergibt sich für die Autoren eine interessante Parallelisierung, ein gemeinsames Handeln mit Gott, das Rudolfs Autorerzähler in seiner Inspirationsbitte auch ganz offen benennt. Wenn Rudolf zu Beginn der Chronik Gottes Schöpfungstätigkeit mit der Verbtrias tihten, schaffen und berihten beschreibt 53 und diese Verben dann in leichter Variation auch für sein eigenes poetisches Handeln verwendet, wird auch begrifflich markiert, dass der Autor die göttliche Schöpfung noch einmal nachformt: und schoffe ein anegenge mir, wan ih beginnen wil mit dir 51 Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 8832-8835. 52 Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 9-18 und V. 61-66. 53 Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 25-28, wo es in Anrede an Gott heißt: als ez dú witzebernde kraft / dinir gotlichin meistirschaft / alrest von nihte tihte / geschu o f und gar berihte (Hervorhebungen von mir - S.L.). Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 201 ze sprechinne und ze tihtinne, ze bescheidenne und ze berihtinne. 54 Das intensive Nachdenken über die göttliche Schöpfung am Anfang des historiographischen Berichts evoziert in poetologischer Perspektive Reflexionen über den Aspekt der Fülle: Da es in der göttlichen Schöpfung nichts Nebensächliches gibt und jedes Detail seine Berechtigung im göttlichen ordo findet, ist die übliche narrative Auswahl aus der Weltfülle erschwert, fällt der Bericht über die Schöpfung entweder unendlich detailliert oder unvollständig aus. Im Binnenprolog zum vierten Weltalter der Weltchronik formuliert Rudolfs Erzähler, dass die anstehende Darstellungsaufgabe selbst für fünf Dichter mit höherem Können noch zu viel wäre. 55 Als einzige Zuversicht bleibt, dass Gott ihm hilfreich zur Seite steht. Viel bescheidener, aber in der Sache identisch, bringt Jans von Wien dasselbe Argument: wie sol ich mich des nemen an, / daz ich ze end niht bringen kann? 56 Selbst wenn alle Sandkörner und Laubblätter Zungen wären, so fährt er in hyperbolischer Übersteigerung fort, könnten sie auch in 1000 Jahren die göttlichen Wunder nicht angemessen schildern 57 - der Unsagbarkeitstopos wird hier deutlich über die Quantität gespielt. Der Autorerzähler als tumber man (V. 23) vertraut auf göttliche Hilfe und bescheidet sich im Folgenden damit, ein teil (V. 25) der göttlichen Schöpfung zu beschreiben. Er löst das Darstellungsdilemma der Fülle durch die Beschränkung auf einen Ausschnitt. Andere wiederum suchen die Zuflucht vor der Weltfülle eher im Episodischen, indem sie einzelne Teilbereiche besonders detailliert ausgestalten, andere dagegen nur summarisch behandeln. Das Argument der Fülle und der schwierigen Eingrenzung des Darstellungsbereichs in einem heilsgeschichtlichen Modell, das bei der Schöpfung beginnt und zumindest prospektiv bis zum Ende der Welt führt, begegnet in den Prologen mit auffälliger Häufigkeit. Ein wesentlicher Teil der historiographischen Darstellung scheint darin zu liegen, die Fülle der göttlichen Schöpfung und des Weltgeschehens durch sinnvolle Reduktion in eine darstellbare Ordnung zu bringen; entsprechend beschreibt Jans sein Vorgehen auch als slihten und rihten. 58 Wie die Auswahl erfolgt, ist flexibel und kann sowohl bei zu starker Reduktion als auch bei zu großer Ausführlichkeit zu Kritik führen. So ermahnt schon Hugo von St. Viktor in seinem Studienbuch Didascalicon den etwas unwilligen Schüler der historia, dass er alle Details studieren müsse, da auch das, was zunächst unnütz scheine, zum System gehöre. 59 54 Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 12), V. 71-74. 55 Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik (wie Anm. 14), V. 8853-8866. 56 Jans von Wien, „Weltchronik“ (wie Anm. 26), V. 9f. 57 Vgl. Jans von Wien, „Weltchronik“ (wie Anm. 26), V. 14-25: dâ von ich ez sagen sol, / daz aller griez und alliu loup / und swaz ie geflouc oder stoup, / wærn daz allez zungen gar, / die möhten niht in tûsent jâr / gar gesagen diu wunder, / diu got alliu besunder / mit sîner kraft beschaffen hât / an einer ieslîchen stat. / da von bin ich ein tumber man, / daz ich mich des wil nemen an / und ein teil wil dâ von sagen. 58 In betonter Stellung im Reim finden sich beide Begriffe in V. 41f. der Weltchronik (wie Anm. 26). 59 Vgl. [Hugo von St. Viktor,] Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, lateinisch-deutsch hg. von Thilo Offergeld, Freiburg i.Br. 1997 (Fontes Christiani 27), VI,3 (S. 364), wo in direkter Rede die Beschwerde des Schülers formuliert wird: „Multa invenio in historiis, quae nullius videntur esse utilitatis, quare in huiusmodi occupabor? “ (Übersetzung nach Offergeld: ‚„In den Geschichtswerken finde ich vieles, das ganz ohne Nutzen zu sein scheint; warum soll ich mich mit so etwas beschäftigen? “‘). Der Lehrer verweist in seiner Antwort darauf, dass in einem System alle einzelnen Elemente ihren Sinn ergeben, der sich erst mit der Kenntnis des Gesamten erschließt, und endet mit dem Ratschlag: Omnia disce, videbis postea nihil esse superfluum. Coartata scientia iucunda non est. (Übersetzung nach Offergeld: ‚Lerne Vielleicht als ein Versuch, das Problem der Stofffülle zu bewältigen, greifen viele Historiographen auf ein strenges Strukturgerüst zurück, verteilen ihren Stoff wahlweise auf vier Weltreiche oder sechs Weltzeitalter. Die Häufigkeit, mit der diese Großstrukturen bereits in den Prologen heranzitiert werden, ist immerhin auffällig. Die Struktur scheint nicht nur durch die Traditionen eines heilsgeschichtlich final zulaufenden Geschichtsmodells vorgegeben, sondern kann in ihrer Strenge und der vermeintlich exakten Abgrenzung einzelner Teilbereiche eine Hilfe bei der narrativen Ordnungsaufgabe bieten. Freilich kann auch die massive Strukturierung das Problem der Weltfülle und der Quellendichte nicht wirklich lösen, was dann in der darstellerischen Praxis häufig zur Folge hat, dass die letzte Weltzeit eine besondere narrative Ausweitung erfährt oder das letzte Weltreich durch Translationsprozesse verlängert wird. Aus der beobachteten Zeitlinie, die bis zum Weltende weiterläuft, und dem Bemühen um Vollständigkeit der Darstellung ergibt sich auch der Wunsch bzw. die Freigabe einiger Autoren, dass andere ihr Werk fortsetzen mögen: Die Sächsische Weltchronik konstatiert sehr deutlich: diz b u o ch ne wirt nimmer vollenbracht, / de wile diu werlt stat. 60 Es folgt die Perspektive auf die eigene Beschränkung: ich ne kan nicht scriven / daz noch gescen sol (V. 82f.), schließlich die logische Folgerung: swer so leve vorebaz, / swaz dan gesche, der scrive daz (V. 85f.). 61 Dass man solche Bitten ernst nimmt, zeigt die Überlieferung, denn für die Sächsische Weltchronik sind drei Redaktionen mit unterschiedlichem Berichtszeitraum vorhanden. 62 In Reaktion auf die Materialfülle und den Fortbestand der Welt entwerfen die Historiographen Möglichkeiten des Um- und Weiterschreibens, die das höfische Erzählen in diesem Ausmaß nicht kennt, 63 und machen den Umgang mit der Quantität zu einem relevanten Thema ihrer metapoetischen Reflexion. V. Spuren einer historiographischen Poetik Die Reihe der Beispiele sollte zeigen, dass die Historiographen in den Prologen genaue Vorstellungen davon formulieren, welchen Ansprüchen und Normen ihr Erzählen folgen sollte, auch wenn das, was im Prolog als Ideal formuliert wird, im Haupttext mitunter aus dem Blick gerät, theoretisches Konzept und praktische Umsetzung nicht konform gehen. Es gibt ein ausgeprägtes theoretisches Wissen darüber, wie eine angemessene Geschichtsdarstellung auszusehen hat, doch wird dieses Wissen nicht in einer gesonderten Theorie der Geschichtsschreibung aufbewahrt, sondern lässt sich nur über eine Spurensuche der Prologaussagen erschließen. Das Wissen um eine historiographische Poetik wird von den alles, du wirst später sehen, dass nichts überflüssig ist. Verkürztes Wissen ist jedenfalls nicht erfreulich.‘). 60 Sächsische Weltchronik (wie Anm. 44), V. 78f. 61 Vgl. auch mit expliziter Aufforderung nicht nur zur Ergänzung/ Weiterführung, sondern auch zur Korrektur die Braunschweigische Reimchronik (wie Anm. 19), V. 96-101: is ouch hi eman dher is ghehort / me habe, wan ich, odher baz, / dher sol gar ân minen haz / richten min getichte, / daz riche und daz stichte; / dhem wil ich is imber sagen danch. 62 Redaktion A reicht bis 1225, B bis 1235 bzw. 1248, C berichtet bis 1260. Die Redaktionen AB vertreten eine Kurzform, die im gesamten deutschsprachigen Gebiet verbreitet ist, während die Langform C nur im Norden bezeugt ist. Vgl. Michael Menzel, Die Sächsische Weltchronik. Quellen und Stoffauswahl, Sigmaringen 1985 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 34), S. 153-176. 63 Eine Ausnahme mag Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst darstellen. Allerdings ist hier die Aufforderung zum Weiterschreiben durch die Sonderkonstruktion der Sammlung und das Streben nach möglichst vollständiger Bewahrung des eigenen Minnesängerœuvres bedingt. 202 Sandra Linden Wir hôrten ie dikke singen von alten dingen 203 Autoren eher in der konkreten Reflexion über die jeweils anstehende Darstellungsaufgabe entwickelt, als dass es in Form von normativen Aussagen einer allgemeinen Poetik abgelegt wäre und den Anspruch eines geschlossenen Systems erheben würde. Im Abgleich mit den Prologen eines stärker als ästhetisch-fiktional ausgewiesenen höfischen Erzählens fällt auf, dass viele Themen identisch verhandelt werden und sich Übergangszonen ergeben. In diesem Feld des Gemeinsamen kristallisieren sich Kernthemen heraus, die vor allem für das historiographische Schreiben relevant sind und daher in den Vorreden der Historiographen mit besonderer Verve und jenseits einer allgemeinen höfischen Prologrhetorik reflektiert werden. Exemplarisch wurden hier zwei Kernthemen identifiziert, nämlich die unbedingte Verpflichtung auf die Wahrheit des Berichts und der Umgang mit der Fülle des zu verarbeitenden Materials. Aus der Analyse der historiographischen Prologe ergibt sich auch eine veränderte Perspektive auf das höfische Erzählen. Es zeigt sich, dass historiographisches und romanhaftes Erzählen in der zeitgenössischen poetologischen Reflexion viel stärker ein diskursives Kontinuum bilden, als es die Gattungseinteilungen der Literaturwissenschaft nahelegen. Es handelt sich um ein Feld der Reflexion, in dem zwar Unterschiede des Inhalts deutlich markiert werden, aber nicht so sehr Unterschiede der Darstellungsart. Die Historiographen, die in einem Erzählen mit Wirklichkeitsanspruch inhaltlich nicht oder nur im Detail von den Quellen abweichen können, sind zwar anders als die Romanautoren auf eine gegebene historische Ereignisfolge verpflichtet. Im Bemühen um eine angemessene Darstellung schöpfen beide Gruppen aber aus einem gemeinsamen Fundus von Formen des richtigen und guten Erzählens. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom: Heinrich von Veldeke erzählt Geschichte Mathias Herweg [He] was van onser Vrouwen geslechte gheboren. Uut der lynien rechte was hij neve ons lieven Heren, als ons die boecke leeren, ende sijnre moeder Sinte Marien. Inden lande van Ermenyen was wonachtich die vader sijn. 1 Ich hân gesaget rehte des hêren Enêê geslehte und daz kunne lobesam, daz sint von ime quam, gewaldech unde rîche. Si lebeten hêrlîche beidiu junk unde alt und heten grôzen gewalt in der werlde wîten. 2 I. Heinric und Heinrich. Œuvrekontinuitäten Heinric van Veldeken oder Heinrich von Veldeke: Die Nennung beider Namensformen soll nicht an anachronistische Gefechte erinnern, welcher ‚Nation‘ der Dichter ‚gehöre‘, sondern auf eine literarhistorische Besonderheit aufmerksam machen. Es gibt nämlich zwei Autorprofile Veldekes, und zwischen ihnen liegt eine Kluft. Da ist einmal der Ausläufer frühmittelhochdeutscher, vom höfischen Standpunkt her alter (und alteritärer) Stoff- und Stiltraditionen, 3 dann der allseits gewürdigte Pionier einer volkssprachigen Form- und Erzählkunst, die alsbald zur Norm wird und die die großepische Landschaft bis um 1300 prägen wird. Die leicht zugespitzte Diagnose kann sich auf literarhistorische Usancen, 4 auf weithin fehlende Gesamtwerkzugriffe (von Lexika abgesehen) und auf eine nahezu zweigeteilte Forschung stützen, in der das Frühwerk wenig, 5 das Hauptwerk dagegen dauerhaft hohes, thematisch wie methodisch breitgefächertes Interesse fand und findet. Und das nicht erst infolge gewandelter Kunstauffassungen heute: Schon um 1200 galt der Eneas als kano- 1 Heinric van Veldeken: Sente Servas, hg. und übersetzt von Jan Goossens, Rita Schlusemann und Norbert Voorwinden, Münster 2008, V. 251-257 (zit. Ausgabe; Kürzel GSV, Werkkürzel Servas). 2 Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mhd./ nhd., mit Stellenkomm. und Nachwort hg. von Dieter Kartschoke, Stuttgart ²1997, V. 13491-13499 (zit. Ausgabe; Werkkürzel Eneasroman). 3 Sei es für Sente Servas gegenüber dem epochal Neuen, das schon die Zeitgenossen rühmen, sei es für die Lieder in Distanz zu den donauländisch-oberrheinischen Hauptströmungen des zeitgenössischen Minnesangs. 4 Sie reichen von Ehrismann (1927) über de Boor (1969) bis zu Wehrli (1980); erstmals (fast) auf Augenhöhe, doch räumlich geschieden behandelt Veldekes episches Werk Leslie P. Johnson, Die höfische Literatur der Blütezeit, Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 2/ 1): Eneas S. 231-240, Servas S. 395-400. 5 Die eigentliche Erforschung (primär unter Quellen- und Sprachaspekten) beschränkt sich auf rund zwei Dutzend zeitlich und sprachlich weitgestreute Titel. Eine Monographie gibt es nicht, und erst seit 2008 eine gut aufbereitete Neuedition (vgl. GSV [wie Anm. 1]). 206 Mathias Herweg nisch und blieb es (im Unterschied zum Troja- oder Alexanderstoff sogar konkurrenzlos) über seine gesamte Überlieferungsgeschichte bis an die Schwelle der Neuzeit, 6 während der Servas ein regionales Ereignis ohne nachhaltige Wirkung blieb. 7 Und wenn Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach oder Rudolf von Ems Veldeke rühmten, dann meinten sie - was immer je konkret sie auch meinten: Vers- oder Reimtechnik, Sprache oder Darstellungskunst - den Eneas-Dichter und mitunter den Minnesänger, nicht aber den Autor des Servas. 8 Das Lob erkennt an, dass der Eneas der deutschen Volkssprache Anschluss an die Kultur der Romania verschaffte. Die Œuvrezäsur korreliert dabei aufs Passendste, so will es scheinen, mit einer biographischen Wende, denn um oder nach 1180 wechselte Heinric aus Niederlothringen an den Landgrafenhof Hermanns von Thüringen, fortan auch seinetwegen ein Zentrum des höfischen Literaturbetriebs. 9 Doch Heinric verließ auch ein literarisches Zentrum, und zwar in doppelter Hinsicht: ein Zentrum lateinischer Historio- und Hagiographie zum einen 10 , und ein Zentrum früher und intensiver Literaturbeziehungen im Schnittfeld dreier Sprach- und Kulturräume zum anderen. 11 Dazu passt das nur scheinbare Paradoxon, dass Veldekes Ruhm als literarische Gründerfigur zwar seinen Wechsel nach Thüringen voraussetzt, der Dichter am neuen Ort aber nichts wirklich neu schuf, sondern ‚nur‘ längst (wohl in direkter Folge des Servas 12 ) Begonnenes zu Ende brachte. Gräfin Agnes von Loon, die um 1170 die Vita des spätantiken Heiligen erbat, die Heinric dann wohl mit Unterstützung des Maastrichter Stiftsküsters Hessel verfasste, dürfte auch Anregerin der Romanvita des antiken Helden gewesen sein, und nach ihrem Tod (vor 1180) wird sich der Autor mit der 6 Zur Überlieferung vgl. http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ 164 (03.08.2017), sowie Peter J. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, hier S. 19-29. 7 Nur zwei Handschriften sind überliefert, beide aus dem limburgischen Sprachraum (Fragmente um 1220; Vollhandschrift: Leiden, UB, BPL 1215, um 1470), vgl. http: / / www.handschriftencensus.de/ wer ke/ 1396 (03.08.2017). 8 Vgl. die Belegsammlung in: Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur, hg. von Günther Schweikle, Tübingen 1970, S. 74-107 und Tab. 132f., jeweils passim. 9 Vgl. Ursula Peters, Fürstenhof und höfische Dichtung. Der Hof Hermanns von Thüringen als literarisches Zentrum, Konstanz 1981 (Konstanzer Universitätsreden 113). 10 Hierzu facettenreich Doris Knab, Das Annolied. Probleme seiner literarischen Einordnung, Tübingen 1962 (Hermaea NF 11), S. 38-49 und 75-111. 11 Als Kreuzungs- und Kontaktraum der drei Ritterkulturen (anglonorm., frz., dt.) sah schon Karl Bertau die Region: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1: 800-1197, München 1972, S. 484f., und von „allgemeine[r] Faszination von [sic] französischer Epik“ in der Region spricht Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 (Hermaea 113), S. 26; im Kontext vgl. Helmut Tervooren, Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas, Berlin 2006 (bes. S. 20-26, 42f. und 95-101), und Germania Litteraria Mediaevalis Francigena, hg. von Geert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp und Hartmut Kugler, bes. Band 4: Historische und religiöse Erzählungen, Berlin/ Boston 2014, und Band 5: Höfischer Roman in Vers und Prosa, Berlin/ Boston 2010, jeweils passim. Von Relevanz sind auch analoge Befunde zu Veldekes Lyrik: Bernd Bastert, „Möglichkeiten der Minnelyrik. Das Beispiel Heinrich von Veldeke“, in: ZfdPh 123 (1994), S. 321-344. 12 Ludwig Wolff, „Der Servatius Heinrichs von Veldeke und der Oberdeutsche Servatius“, in: Sagen mit sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag, Göppingen 1976 (GAG 180), S. 52, rechnet (Willy Sanders folgend) sogar damit, dass der zweite Teil des Servas erst in der erzwungenen Arbeitspause nach dem Manuskriptdiebstahl des Eneas, also erst nach dessen weit gediehener Urfassung, entstand. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 207 unvollendeten Handschrift Margarete von Kleve empfohlen haben. 13 Beide Gönnerinnen waren Teil eines dynastisch-institutionellen Netzwerks, das wohl auch den Zugang zu den nachbarsprachlichen Vorlagen bot. Der zumindest im Kern glaubwürdigen apokryphen Notiz über die fata libelli des Eneas zufolge 14 reizte den Dieb der Handschrift in Kleve ein bereits zu rund achtzig Prozent gediehenes, verschiedentlich wohl auch schon (vor-)gelesenes Werk, das später in Thüringen ‚nur noch‘ stilistisch (und/ oder sprachlich 15 ) überarbeitet und vollendet werden musste. Offen bleibt, ab wann das geschah 16 und ob dem Dichter dabei noch, oder wieder, die Vorlage zu Gebote stand. 17 Der hier einschlägige vielinterpretierte Passus lautet: Her [sc. Heinrich von Veldeke] hete ein lange stunde / daz mêrre teil getihtet, / in tûsche berihtet, / unz daz der hêre Ênêas / frowen Lavînen brief gelas [ca. bei V. 10930 von abschließend ca. 13500 Versen], / und woldez vollebringen. / do beleibz von einem dinge, / her liez ez dorch einen zoren: / her hete daz bûchelîn verloren. / her liez ez einer frouwen / ze lesene und ze schouwen, / ê danne manz wol schreve, / daz was diu grâvinne von Cleve / diu milde und diu gûte / mit dem frîen mûte, / diu konde hêrlîche geben. / vil tugentlîch was ir leben, / als ez frouwen wol gezam. / dô si der lantgrâve nam, / dô wart daz bûch ze Cleve verstolen / einer frouwen, der ez was bevolen. (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 13436-13456) Führt man alle Indizien zusammen, so gehört Veldekes Epik biblio-biographisch und kulturhistorisch damit viel enger zusammen, als es die Forschungstradition indiziert. Sie gehört aber auch konzeptionell enger zusammen, was auszuloten das Ziel meiner Relektüren ist. Ihr Ausgangspunkt sind zwei basale, doch nicht eben banale Befunde: dass nämlich Vel- 13 Vgl. Tina Sabine Weicker, „Dô wart daz bûch ze Cleve verstolen. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes Eneas“, in: ZfdA 130 (2001), S. 1-18, hier S. 14; im Kontext Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 115-118 und 155f. 14 Vgl. Bernd Bastert, „Dô si der lantgrâve nam. Zur ‚Klever Hochzeit‘ und der Genese des Eneas-Romans“, in: ZfdA 123 (1994), S. 253-273; Reinhard Hahn, „unz her quam ze Doringen in daz lant. Zum Epilog von Veldekes Eneasroman und den Anfängen der höfischen Dichtung am Thüringer Landgrafenhof“, in: Archiv 237 (2000), S. 241-266; beide mit Fragen zu Zeit, Ort (Bastert) und Täter (Hahn) des Diebstahls; skeptischer hinsichtlich des Tatbestands selbst Weicker (wie Anm. 13), S. 15-18. 15 Ich rolle in diesem Rahmen das seit Jacob Grimm virulente, lange auch nationalkulturell überhöhte ‚Veldeke-Problem‘ nicht wieder auf, sondern verweise auf die aktuelle Bilanz: Joachim Hamm und Marie-Sophie Masse, „Aeneasromane“, in: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena IV: Historische und religiöse Erzählungen, hg. von Fritz P. Knapp, Geert H. M. Claassens und René Pérennec, Berlin/ Boston 2014, S. 79-116, hier S. 86f.: Veldeke habe im Eneas „sowohl das Maasländische als auch das Hochdeutsche bzw. das Mitteldeutsche in Form einer überregionalen Literatursprache“ thüringisch-hessischer Prägung berücksichtigt; ähnlich Tervooren (wie Anm. 11), S. 99. Vgl. en détail Thomas Klein, „Heinrich von Veldeke und die mitteldeutschen Literatursprachen. Untersuchungen zum Veldeke-Problem“, in: ders. und Cola Minis, Zwei Studien zu Veldeke und zum Straßburger Alexander, Amsterdam 1985, S. 1-121. 16 1184 als terminus post quem scheint sicher. Veldeke könnte daher noch im Gefolge niederrheinischer Gönner an dem im sog. zweiten Stauferexkurs gerühmten Mainzer Hoffest (anlässlich der Schwertleite der Kaisersöhne zu Pfingsten 1184) teilgenommen haben und dort von Hermann ‚entdeckt‘ worden sein (vgl. Hahn wie Anm. 14), S. 257f. und 266. Die zentrale Rolle dieses Festes für Zusammentreffen und Austausch romanischer, nieder- und hochdeutscher sowie beidseitig lateinischer Autoren ist gut belegt. Aus Veldekes früherer Gönnerfamilie war Graf Gerhard von Loon in Mainz zugegen. Zur literarhistorischen Bedeutung des Festes vgl. bereits Bertau (wie Anm. 11), S. 578-585. 17 Vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/ New York 1996 (QF 8), S. 61f. 208 Mathias Herweg deke erstens bei allem Stoff-, Form-, Stil- und Rezeptionswandel (und ohne damit andere Deutungsakzente zu relativieren) stets ‚Geschichten aus der Geschichte‘ mit referentiellem Wahrheitsanspruch (wieder-)erzählt und sich dafür in der Historiographie der Zeit und Region geläufiger Strukturen und Emplotments bedient; und dass zweitens die Resultate in Umfang und formaler wie sprachlicher Virtuosität das in der Volkssprache bis dahin Übliche weit übertreffen. Der Gattungsunterschied ist dagegen graduell, und daher nicht zu überbewerten: Antike Mythen und spätantike Legenden gehören schon in der Kaiserchronik zu einem gemeinsamen Fundus volkssprachigen Erzählens auf dem Boden der Geschichte. 18 Und die zeit- und raumnahe Chronistik und Hagiographie (etwa im Umfeld Herigers von Lobbes) verbindet mit Veldeke, dass sie elaboriert erzählt, dabei planvoll lokale und universale Relevanzen überblendet, Heiligkeit mit Heroik, antike mit heimisch-mündlicher Überlieferung kurzschließt und - dies insbesondere - aus Untergängen Neuanfänge erklärt. 19 Veldekes Heiligen- und Heldenerzählungen nahmen hier Maß - das nächstliegende Maß nebenbei, noch vor den romanisch-antiken Quellen. Veldekes gesamtes Œuvre 20 hat seinen ersten ‚Sitz im Leben‘, seine Primäradressaten und seinen intertextuellen Resonanzraum in der Region um Rhein und Maas. So erklärt sich auch eine narrative Kohärenz, die der Forschung bis heute oft fremd blieb. 21 Der Fortgang nimmt Plotmuster und Erzählkerne 22 in den Blick, die Veldekes epische Texte genre- und quellenbezogen unterschiedlich füllen, kombinieren und funktionalisieren, die aber spezifisch für Veldekes Erzählen und damit auch für historisches Erzählen um 1200 sind. Ohne Vollständigkeitsanspruch seien hier vier besonders signifikante fokussiert: 1. die Welt- und die Heilsgeschichte als ‚master narrative‘ und universaler Rahmen des je partikular Erzählten, textintern präsent durch zeitlich-räumliche Weite, durch Ausblicke und Kommentare, intertextuell durch omnipräsente biblische und antike Bezugnahmen samt einschlägiger Schauplätze und Namen ( Jerusalem, Troja, Rom); 2. Untergang (excidium) und Ursprung (origo), beide verknüpft mit plotbildenden Motiven wie Verrat, Vertreibung, Krieg und mit ‚abgewiesenen Alternativen‘ 23 , etwa in Form von Zwischenaufenthalten; 18 Vgl. Verf., „‚Buch der Anfänge‘ - oder was die Kaiserchronik der höfischen Literatur in die Wiege legt“, in: ZfdA 148 (2019), S. 209-236. 19 Paradigmatisch dazu immer noch Knabs (wie Anm. 10) Studie zum Gattungsumfeld des Kölner Annolieds, bes. S. 38-49 und 75-111. Die Bezüge lassen sich mutatis mutandis über das Annolied hinaus verallgemeinern. Exemplarisch zum Werk Herigers von Lobbes: Franz Josef Worstbrock, ‚Heriger von Lobbes‘, in: ²VL, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 1044-1048. 20 Hier auch mit Einschluss der Lieder. Veldekes Beitrag zum Minnesang, der die Einheit des Œuvres in einer stark regionalen (Sonder-)Prägung bestätigt, bleibt im Fortgang außen vor. Vgl. hierzu Bastert (wie Anm. 11). 21 Eine Ausnahme ist Fulvio Ferrari: „Le strategie di narrazione e le tecniche adottate siano essenzialmente le stesse nella Sint Servaslegende e nell’Eneide, nonostante la differenza di genere letterario“ („Tra agiografia ed epica: la Leggenda di San Servazio di Heinric van Veldeken“, in: Testi agiografici e omiletici del medioevo germanico, hg. von Adele Cipolla und Mosè Nicoli, Verona 2006, S. 151-178, hier S. 167, ähnlich S. 172). 22 Ich folge Jan-Dirk Müllers Definition des Begriffs als „regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können“ (Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zum höfischen Roman, Tübingen 2007, S. 22). ‚Erzählkern‘ zielt auf die narrative Entfaltung dieses Potentials und ist damit deutlich von dem inhaltlich besetzten ‚Motiv‘ unterschieden. 23 Zum Begriff Peter Strohschneider, „Einfache Regeln - komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‚Nibelungenlied‘“, in: Mediävistische Komparatistik: Festschrift für Franz Josef Worst- Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 209 3. Genealogie, Herkommen und translatio 24 als Modi der Diachronisierung, durch die die erzählte Vergangenheit auf die Gegenwart und zeitgebundene Helden auf zeitlose Institutionen hin transparent werden. Aitiologisch-etymologische Argumentationsfiguren tun das Ihre, um den Anspruch der alten Geschichten auf Geltung im Modus nostra res agitur zu untermauern. 4. Reisen und Wanderschaft infolge Flucht und/ oder Auftrags, als Sonderfall auch Übertritte in Ander- und Jenseitsbereiche. 25 Sie geben dem Erzählten eine Richtung, konzeptualisieren den Erzählraum als Bewegungs- und als ‚Zeit-Raum‘. Im Jenseits wiederum werden Akteure mit ihrer Vergangenheit und Zukunft konfrontiert (auch hier also die charakteristische Raum-Zeit-Verknüpfung) oder als transzendentale Helferfiguren beglaubigt. Indem ich diese Plotschemata exemplarisch und in gebotener Raffung verfolge, nutze ich Veldeke zugleich als Testfall für eine Narratologie eines genreübergreifenden historischen Erzählens. Konzeptionell steht dabei die histoire im Fokus. 26 Für den Eneas ist die Forschungslage dabei relativ günstig; 27 der Servas dagegen ist noch kaum auf sein einschlägiges Potential untersucht, das ich als ‚mythopoetisch‘ bezeichnen will. 28 Dabei steht ein solches Potential durchaus nicht in Widerspruch zur Heilsgeschichte und ist sogar legendenaffin, wenn auch die Legende von Zäsur, Aufstieg und Fall handelt. 29 Mytho- und Legendenpoetik konvergieren in der augustinischen Vergegenwärtigung der Zeiten, die die drei Zeiten Verbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 43- 75, hier S. 44-59 und 71-74. Wolf Schmid spricht analog vom (bewusst) ‚Nicht-Gewählten‘: Elemente der Narratologie 3., erw. und überarb. Aufl. Berlin/ Boston 2014, S. 236f. 24 Legendenspezifisch meint der Begriff die Erhebung und Überführung des heiligen Körpers, historisch-geschichtstheologisch die transpersonal-institutionelle Übertragung der Reichsherrschaft (vgl. Graeme Dunphy, „translatio imperii“, in: EMC, Bd. 2, Leiden 2010, Sp. 1438-1440). Vor allem im Servas (wie schon im Annolied) überlagern sich beide Sinnebenen. 25 Hier mischen sich pagane und christliche Motivobservanzen; vgl. Maximilian Benz, Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter, Berlin 2013 (Quellen und Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte 78 (312)) speziell zu Veldeke unten Kap. 3.2. 26 Vgl. zum discours ansatzweise Karen Opitz, Geschichte im höfischen Roman. Historiographisches Erzählen im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 14), Heidelberg 1998. 27 Vgl. namentlich Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, hier S. 131-258, und dies., „Zur Konstruktion von Kontinuität durch Genealogie“, in: Gründungsmythen - Genealogien - Memorialzeichen, hg. von Gert Melville und Karl-Siegbert Rehberg, Köln 2004, S. 37-60. Die ältere Forschung krankt dagegen oft an heils- oder reichsgeschichtlichen Zuspitzungen, so bes. Marie-Luise Dittrich, Die Eneide Heinrichs von Veldeke. 1.Teil: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Enéas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966, und Heinz Thomas, „Matière de Rome - Matière de Bretagne. Zu den politischen Implikationen von Veldekes Eneide und Hartmanns Erec“, in: ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 65-104 (Eneas als „Ursprungsepos der staufischen Familie‘“, „dem Kaiser [sc. Friedrich I.] verpflichtetes Römerepos“, S. 80 bzw. 101). 28 ‚Mythopoetik‘ beziehe ich dabei im engeren Sinn auf die poetische Rezeption genuiner Mythen, im weiteren Sinn auf eine Poetik, die stoff- und genreunabhängig Denkfiguren des Mythos aufgreift und poetisch produktiv macht. Veldeke tut beides: Der Eneas ist ‚echte‘ Mythenrezeption, im Servas spielen Mythenstoffe punktuell hinein (vgl. die Benennung Attilas als Bodelinghes son analog zu Nibelungenlied, Str. 1314,2, und die Apostasie Attilas). Beide Werke sind aber auch stoffunabhängig selbst mythopoetisch. Für den Mythosbegriff sei orientierend auf Aleida und Jan Assmann verwiesen: „Mythos“, in: Handbuch religionsgeschichtlicher Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1998, S. 187-195; für die mediävistische Debattenlage: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast, Berlin 2004 (Trends in Medieval Philology 2). 29 Vgl. grundlegend Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 4 2009, S. 226- 234. Zu Typus und Begriff Konrad Kunze, „Legende“, in: ³RL, Bd. 2, Berlin/ New York 2000, S. 389-393. 210 Mathias Herweg gangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein zentripetales praesens - das dreifache praesens de praeteritis, de praesentiis und de futuris in anima - überführt. 30 II. Implikationen von Gattungs- und Quellenbezügen Die Legende des Heiligen Servas steht in der im 10. und 11. Jahrhundert florierenden Tradition lateinischer Bischofsviten. Der Eneas vermittelt - notabene über die nideren lande und flankiert von deren lateinischen Traditionen - die neue französische Gattung und ihre Stil- und Formstandards ins Deutsche (so schon die Einschätzung Gottfrieds). Zugleich aber weist er wie alle Antikenromane stoffbedingt fließende Grenzen zur Geschichtsschreibung und zur heroischen Epik auf: Er handelt nicht von Aventiure, sondern von Geschichte, Landnahme, Krieg, Völkerschicksalen. Die damit avisierten Genreverortungen gelten schon für die respektiven Quellen: den Roman d’Enéas eines anonymen Anglonormannen 31 nach Vergils Aeneis und die lateinische Vita Sancti Servatii, der ihrerseits Jocundus‘ Actus Sancti Servatii (1088) und die anonymen Gesta Sancti Servatii (um 1130) vorausgehen. 32 Während sich der Eneas-Dichter wiederholt auf Virgilîûs, (diu bûch) Êneide oder schlicht daz liet bezieht (V. 41, 165, 357, 379 u. ö.), um das Stoffganze oder Details zu beglaubigen, ist die Quelle im Servas als vite und legende (V. 460, 3754 u. ö.) generisch markiert. In Veldekes Heimatregion bildet die Hagiographie seit dem 11. Jahrhundert die wohl offenste und experimentierfreudigste Sparte historiographischer Literatur. Sie integriert die Vita des jeweiligen Heiligen in lokale wie universale Bezüge, führt sie mit Personen und Institutionen, publizistischen und panegyrischen causae scribendi, Volks-, Stadt- und Landeslob eng. Wie schon der erste deutschsprachige Beitrag vor Veldeke, das Annolied, zeigt, inspirieren diese Stoff- und Typussubstrate zahlreiche Kompositgenera und Texte sui generis. 33 Episch-narrative, antike und orale Überlieferung fließt vielfältig mit ein, negativ in dem Bestreben, missliebige Konkurrenz zu verdrängen, positiv in der Strategie, auch in laikale Milieus hineinzuwirken und der eigenen Institution durch vorchristliche Ansippung ein möglichst altes Herkommen zu sichern. Heidnische Ahnen wie Caesar und Alexander, ja selbst zwielichtige Ursprünge sind dabei als Mittel zum Zweck kein Tabu. Veldeke tritt in eben diese Linie, wenn er seinen Heiligen (wie schon das Annolied) mythopoetisch einrahmt und funktionalisiert. Im Annolied gilt nur der Schlussteil überhaupt Anno, alles andere ist chronistisch-aitiologisches Kompendium, das die ‚klassische Antikentrias‘ um Troia, Eneas und Alexander als Mikronarrative schon einschließt, bevor sie romanfähig wird - was auch impliziert, dass die Stoffe einem deutschsprachigen Publikum um 1080 bekannt waren. Im Servas ist das Universale genealogisch und institutionell gefasst. Veldeke erzählt, anders als der Annodichter, nicht von den universalen Bezügen des Wirkensorts 30 Vgl. Aurelius Augustinus, Confessiones, hg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009, c. 11,20 (mit Kommentar S. 800). 31 Le Roman d’Enéas, hg., übers. und eingel. von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 9). 32 Die Dichte der Texte steht exemplarisch für die hagiographische Traditions- und Überlieferungslandschaft der Region im 11./ 12. Jh., in die Knab (wie Anm. 10) auch das Annolied einbettet. Vita und Gesta sind mit 66 bekannten Handschriften angesichts des nur regionalen Kults sehr breit überliefert. Vgl. zur Quellenlage GSV (wie Anm. 1), S. 350-353. 33 Vgl. Knab (wie Anm. 10), die konkret auf die Synthese von Universal- und Regionalgeschichte, Reichs- und Institutionenherkommen sowie Genealogie abhebt und in diesem Kontext auch explizit die Servatius-Viten anspricht (Kap. V. 3, S. 105f.). Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 211 auf den Helden hin, sondern (wie dann auch im Eneas) von den universalen Bezügen des Helden auf den Wirkensort hin, der, zunächst locus ignobilis, erst durch diese Bezüge hoch bedeutsam wird. Darauf ist zurückzukommen. Zuvor aber ist ein Blick auf Veldekes Umgang mit den Quellen zu richten: Weder der Servas, der meist eng, noch der Eneas, der zumindest inhaltlich relativ eng seiner Vorlage folgt, sind ‚quellennah‘ im Sinne einer Übersetzung. An der konzeptionellen Eigenständigkeit des Eneas besteht in der Forschung kein Zweifel (mehr), für den Servas hingegen sind zähe Urteile noch im Schwange. 34 Aber auch hier schon verfährt der Autor in Gliederung, Sinngebung und Textualisierung „ziemlich frei“ 35 mit der Vorlage. Er kürzt, ergänzt, tritt in Dialoge mit dem Publikum ein, akzentuiert und perspektiviert und hat insgesamt den selbstbewussten Anspruch, die vite voele recht ende bescheydelijk zu vermitteln (Servas [wie Anm. 1], V. 6194). Der Rückbezug auf die lateinische Vita ist also eng, aber stets reflektiert. Als Vergleichsgrößen bieten sich neben den Quellen selbst 36 andere Adaptationen wie der Oberdeutsche Servatius (um 1190) an. 37 Der wohl signifikanteste Befund dabei ist: Veldeke verdoppelt gegenüber der Vorlage die Genealogie des Heiligen im Umfang (vgl. Servas [wie Anm. 1], V. 199-278) und häuft darin das Epitheton edel(ik) (sechs von insgesamt siebzehn Belegen im Text 38 ). Gegen die Skepsis anderer Bearbeiter akzentuiert er also bewusst die exklusive Herkunft des Helden. Das gleiche gilt für den Eneas, der nicht nur die Venus-Verwandtschaft des Protagonisten aus der Beiläufigkeit der anglonormannischen Quelle heraushebt 39 und sich dafür direkt auf Vergil bezieht (vgl. Eneasroman [wie Anm. 2], V. 41-48), sondern auch das aus der erzählten in die Erzählzeit hinüberleitende zweite Geschlechterregister ausbaut 40 und aktualisierende Exkurse ergänzt. Stark erweitert sind im Servas auch die für den Zäsur- und translatio-Aspekt wichtige zweite Visite in Tongern (mit der konsolatorischen Rede an die gefallene Kommune) und die zweite Reise nach Maastricht, Vorspiel der translatio des Bischofssitzes. Hier sind insbesondere auch vergegenwärtigende Ortsangaben ergänzt (Servas [wie Anm.-1], V. 3062-3074). 41 Generell nennt der Servas mehr Namen als die Vita, darunter allein 45- Mal (Maas-)Triecht. Reimgründe und Lokalinteressen 42 reichen hier kaum als Erklärung, weil das Indiz nicht isoliert von den anderen zu bewerten ist. 34 Vgl. bes. Kai Walter, Quellenkritische Untersuchungen zum ersten Teil der Servatiuslegende, Münster 1970, passim; Ferrari (wie Anm. 21, S. 167: „rigorosamente fedele“); als Korrektiv Jan Goossens, „Zu den Quellen von Veldekes Servatius“, in: ZdfPh 127 (2008), S. 1-14, sowie der fortlaufende Kommentar in GSV (wie Anm. 1). 35 GSV (wie Anm. 1), S. 349-360, Zit. S. 357. 36 Dies wird jetzt begünstigt durch den Stellenkommentar der Neuausgabe (vgl. GSV wie Anm. 1). 37 Wolff (wie Anm. 12) zufolge zeichnet er sich durch höfischere Akzente und eine größere Zahl und Anschaulichkeit der Wunderepisoden aus, während er die Genealogiebezüge des Protagonisten zurückdrängt. Detailvergleiche fehlen. 38 Vgl. Wilhelm Breuer, „Die Genealogie des Servatius. Legendenüberlieferung in theologischer Interpretation“, in: ZfdPh 98 (1979), S. 10-21, hier S. 15. 39 Vgl. Schmitz (wie Anm. 11), S. 109f. und passim; es zeichnet sich hier insgesamt eine aemulatio der Quelle ab, die das herrschaftsdiskursive und mythopoetische Potential des Stoffes akzentuiert. Hier trifft sich Schmitz’ Studie mit den inhaltlich wie methodisch durchaus anders kontextualisierten Resultaten Kellners (wie Anm. 27). 40 Vgl. schon Dittrich (wie Anm. 27), S. 125-131. 41 Vgl. GSV (wie Anm. 1), S. 341 und 359. 42 Vgl. Jan A. Huisman, „Die Funktionen der Ortsnamen in Veldekes Servatiuslegende“, in: Namen in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Vorträge Symposium Kiel, 9.-12.9.1987, hg. von Friedhelm Debus und Horst Pütz, Neumünster 1989, S. 225-239, passim. 212 Mathias Herweg III. Emplotments und Erzählkerne III.1. Makronarrative historischen Erzählens a. Universales ‚grand narratif‘: Heils- und Reichsgeschichte Der erste Blick auf Veldekes Werk registriert zwei diachron und synchron ausgreifende Viten, die weitgehend linear erzählt sind. Ihr Beginn liegt weit vor der Geburt der beiden Protagonisten im Sakralen und Numinosen, das Ende reicht weit über ihren jeweiligen Tod hinaus: bei Eneas dynastisch bis zu Augustus und institutionell durch vorausdeutende Exkurse bis zu den Staufern; bei Servas durch Wirken und Kult sowie institutionell durch die bruchlose linea der Maastrichter Bischöfe ebenfalls bis in die Erzählzeit. Synchron bettet sich der Protagonist einmal in die Gemeinschaft der Bischöfe und Missionare des gallorömischen Raums ein (Servas [wie Anm. 1], V. 826-842), das andere Mal in die intertextuelle Gemeinde der überlebenden Trojaner, die nach dem Zerstörungswerk der Griechen europaweit Städte und Völker gründeten und sie eponym benannten. 43 Servas kommt aus dem lant van Grieken (Servas [wie Anm. 1], V. 246), konkret aus Ermenyen 44 (V. 256, 262, 313). Seine Sippe reicht in joedsche ewen (V. 206), also in den Alten Bund zurück. Gegenüber seiner Hauptvorlage erweitert Veldeke die anfechtbare 45 Genealogie des Helden: Er weist ihn als Urenkel Esmerias, der Mutter Elisabeths, Schwester Annas und somit Tante der Gottesmutter aus, d. h. als nahen Verwandten des Täufers und Christi selbst (V. 216-255). 46 In Gottes Auftrag zieht der so Exponierte gen Westen, wo sich seine Vita und Nachvita mit den großen Namen der römisch-deutschen Reichsgeschichte von Attila über Karl bis zu den Saliern verbindet. Die Analogie zu Eneas’ göttlichen Ursprüngen, die Veldeke im Rückgriff auf den primus inventor der matière an prominent frühem Ort gegenüber der anglonormannischen Quelle akzentuiert, 47 ist eklatant: Herkunft ebenfalls aus dem kleinasiatischen Osten, göttliche Sippschaft und Sendung (zur Mutter Venus gesellt sich über Dardanus die implizite Ahnschaft Jupiters), weite Wanderung gen Westen, Spitzenahn der Kaiser Roms, unter deren 43 Man darf den Anspielungshorizont des fränkischen Trojamythos nicht unterschätzen. Auch wenn er im Text unmarkiert bleibt, war er am Niederrhein (im Umkreis des ‚fränkischen Troja‘ Xanten) vertraut und bereits im Annolied und in der Kaiserchronik programmatisch. Vgl. grundlegend František Graus, „Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter“, in: Kontinuitat und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongressakten zum Freiburger Symposion des Mediavistenverbandes, hg. von Willi Erzgräber, Sigmaringen 1989, S. 25-43; Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt, hg. von Martin Zimmermann, München 2006 (ebd. v. a. der Beitrag von Knut Görich); speziell zum Eneas zudem Kellner (wie Anm. 27). 44 Gemeint ist das kleinasiatische sog. Klein-Armenien in Kilikien. 45 Der Oberdeutsche Servatius tilgt planvoll und führt seinen Servatius lediglich als von gote erchorn, von Armenia geborn und von chünichlichem bluote ein; vgl. Sanct Servatius, oder wie das erste Reis in deutscher Zunge geimpft wurde. Ein Beitrag zur Kenntnis des religiösen und literarischen Lebens in Deutschland im 11.und 12. Jahrhundert [=Text der Gesta S. Servatii und des Oberdeutschen Servatius], hg. von Friedrich Wilhelm, München 1910, S. 159, V. 247-249. 46 Vgl. die Stemmata bei Breuer (wie Anm. 38), S. 20, und Tervooren (wie Anm. 11), S. 43. 47 Vgl. im Kontext des Götterauftrags: Venus, la deesse d’amor, / ki sa mere ert, li a noncié / que Troïen sont trebuchié, / li deu en ont pris lor venjance (Roman d’Enéas [wie Anm. 31], V. 32-35) - Virgilîûs der mâre, / der saget uns, daz her wâre / von der gote geslehte / geboren mit rehte, / und Vênûs diu gotinne, / diu frowe is uber die minne, / wâre sîn mûder / und Cupidô sîn brûder. (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 41-48). Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 213 Ägide Christus geboren wird - dessen Verwandter dann wie erwähnt Servas sein wird: Man kann den Eneasroman (einigermaßen reduziert) auch als Vorgeschichte des Servas lesen! Mit Eneas’ Einbettung in das Universalnarrativ des rîche folgt Veldeke grundsätzlich, doch mit Straffungen und Modifikationen, Vergil. Das von Eneas begründete Reich ist für das höfische Publikum der Zeit noch institutionelle Realität. Es ist auch bereits früh als Thema volkssprachiger Literatur etabliert (vgl. Annolied, Kaiserchronik, König Rother, Herzog Ernst). Die Antikenepik, in die sich Veldeke nach dem Servas einklinkt, wird auch im Deutschen als matière de Rome (und als solche mit Jean Bodel als ‚weise und belehrend‘) rezipiert. Veldeke erweitert in diesem Sinn Vergils zweites, im Gegensatz zu Anchises’ genealogischer Prophezeiung nun extradiegetisch und retrospektiv konzipiertes Geschlechterregister am Schluss (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 13332-13428) und synchronisiert es mit Christus. 48 Auch schließt er durch zwei Exkurse in die Stauferzeit den institutionellen Bogen zur eigenen Gegenwart. 49 All dies verschiebt Vergils panegyrische Inanspruchnahme des Helden für Rom und Augustus 50 tendenziell zu einer universalhistorischen Profilierung im Rahmen der Daniel-Exegese (Dn 2 bzw. 7) und der daraus abgeleiteten Idee der vier Weltreiche, deren letztes das Römische ist. 51 Man muss die Universalisierung dabei durchaus nicht so weit treiben wie Teile der älteren Forschung, die die knappen, am Schluss des Eneas konzentrierten Digressionen über Gebühr belasteten. Denn im Licht des Servas gehört der reichs- und heilsgeschichtliche Rahmen zu den von Veldeke œuvreverbindend eingesetzten ‚Texteffekten‘, die nicht nur vom Ende her, oder punktuell, wirksam sind: Schon im Erstling wird der regionale locus ignotus mit universalen Gedächtnisorten vernetzt und hierdurch selbst zu einem solchen, wird dem römischen Kaisertum eine Schlüsselrolle für den postumen Kult zugeschrieben (statt Bischöfen oder Päpsten), werden fast alle Mirakel in der Reichsgeschichte verankert, werden Krisen im Reich zugleich als Krisen des Kults und der Stiftung des Heiligen erfahren. Wie der Eneasroman ist schon der raum- und zeitgreifende Servas insofern alles andere als Regionalliteratur. 52 48 Das ist kein „angeklebte[r] Hinweis“ (so Werner Schröder gegen Dittrich: „Veldekes ‚Eneit‘ in typologischer Sicht“, in: ders., Veldeke-Studien, Berlin 1969 [ZfdPh Beiheft 1], S. 60-103, hier S. 100), und auch nicht marginal: Auch spätere Antiken- und Troja-Dichtungen verorten ihre Stoffe mittels biblischer Synchronisationen in der Heilsgeschichte und schaffen damit die Basis für die Popularität antiker Stoffe auch in der Chronistik. 49 Es handelt sich um Eneasroman (wie Anm. 2), V. 8376-8408 (Auffindung des Pallasgrabes im Kontext der Kaiserkrönung Barbarossas 1155), und V. 13222-13252 (das Mainzer Hoffest). Sie wurden vielleicht nachträglich inseriert. Vgl. ausführlich, doch in den Deutungen z.T. überspitzt Dittrich (wie Anm. 27), S. 573-594, und Thomas (wie Anm. 27), bes. S. 80. 50 Vgl. Vergil’s Aeneid: Augustan Epic and Political Context, hg. von Hans-Peter Stahl, Bristol 1998. 51 Zur Tradition Edgar Marsch, Biblische Prophetie und chronographische Dichtung. Stoffgeschichte und Wirkungsgeschichte der Vision des Propheten Daniel nach Dan. VII, Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 65). 52 Die universale Einbettung und Überhöhung des lokalen Heiligen wurde besonders durch die niederländische Forschung betont und mit Maastrichts zeitgenössischer Rolle und Politik korreliert; vgl. Adrianus M. Koldeweij, „Sint Servatius, een pion in de politiek van Duitse keizers? “, in: Andere structuren, andere heiligen. Het veranderende beeld van de heilige in de Middeleeuwen, hg. R. E. V. Stuio und C. Vellekoop, Utrecht 1983, S. 217-239 und S. 278-283; Anja van Leusden, „St. Servaas, heilige tussen paus en keizer. Peilingen naar de context van Hendrik van Veldeke’s ‚Sint Servaeslegende‘“, in: De nieuwe taalghids 79 (1986), S. 134-151, bes. S. 147-151; Ludo Jongen, „The Emperor, the Saint and the Poet. For whom did Heinrich von Veldeke write the ‚Sint-Servaaslegende‘? “, in: ABäG 65 (2009) S. 103-116, bes. S. 109-111 und 113f. 214 Mathias Herweg b. Biographisches Narrativ: Helden- und Heiligenvita Die Vita des im Prolog bereits genre- und rollenbestimmend mit dem Attribut Sint (Servas [wie Anm. 1], V. 157) eingeführten Servas ist vorgeprägt durch seine exklusiv-exkludierende Herkunft, die in der persönlichen Nähe des späteren Bischofs zu den Aposteln und Gott, als deren Sprachrohr er auftritt (vgl. V. 1349-1363), weiterwirkt. Auch weltliche Große suchen noch postum die Nähe Gottes in der Präsenz des heiligen Körpers - bis hin zu dem in drastischer Komik scheiternden Versuch seiner Umbettung nach Quedlinburg (vgl. V. 4483-4790). Der Heiligkeit und dem Plotmodell ‚Legende‘ entsprechen die frühe religiöse Erweckung, der unbedingte Gehorsam, die irdische Prüfung und rückhaltlose Vergebungsbereitschaft. Heiligkeits-Marker durchziehen beide Textteile, und von der Romreise an häufen sich auch die beide verbindenden Wunder (teiken). Gegen die meisten anderen Fassungen der Legende greift Veldeke, wie schon erwähnt, das heikle Konstrukt einer realen Christusverwandtschaft entschlossen auf: Servas ist uut der lynien rechte, ist neve ons lieven Heren, / als ons die boecke leeren, / ende sijnre moeder Sinte Marien (V. 253-255). Typologisch-figurative Signale wie das vierzigtägige Fasten (analog Christus nach Mt 4,2), die Visite am Petrusgrab just an dem Tag, an dem Mariä Verkündigung und Karfreitag als „Beginn und Vollendung der Erlösung durch Christus“ 53 zusammenfallen, oder der Tod in Christi Todesstunde bestätigen die kühne Behauptung. Als in dieser Weise schon stofflich präformatierter Helferheiliger ist Heinrics Servas ein ethisch wie ästhetisch, und nicht zuletzt narratologisch, vergleichsweise unterkomplexer Protagonist. 54 Er ist „ein stiller, fast passiver“ 55 Held, dessen wichtigste Waffe das Wort ist und der am tatkräftigsten postum wirkt. Der durchaus legendengängige ‚heilige Zorn‘ fehlt dieser Figur, die selbst ihre größte Tat zu Lebzeiten, die Bekehrung des Hunnenkönigs Attila, nur durch die Macht der Rede bewirkt (im heymelike[n] runen, Servas [wie Anm. 1], V. 1988f.) und, wie in Kenntnis der oral-heroischen Tradition sogleich klargestellt wird, damit auch nur begrenzten Erfolg hat: die [sc. doupe] hij [Attila] boeslijck ave ghinck, / want hij waert weder heyden, / doen sij [Attila und Servas] waren ghescheyden (V. 2014-16). Eine so bewusst reduzierte innerweltliche Wirkmacht und ethisch-narratologische Komplexität unterscheidet Servas markant von Eneas, obwohl beider Viten so parallel ‚makrostrukturiert‘ sind. Als göttliche Abkunft ante gratiam erzeugt die exklusive linea bei Eneas eher Ambiguität als Eindeutigkeit, und aus den Anfechtungen des Lebens geht er versehrter hervor als Servas. Dazu tragen textintern die zwar subjektiven, aber vom Erzähler nicht konsequent relativierten Anklagen Didos, Turnus’ und der Mutter Lavinias bei, darüber hinaus aber vor allem auch Eneas’ intertextuell negatives Profil in der Trojatradition, in der er der notorische Verräter und Griechenfreund ist. Beides macht eine subversive Lektüre ‚gegen den Strich‘ möglich, in der Eneas Troja zu Beginn selbstsüchtig im Stich lässt, 56 sich in Karthago auftragswidrig ‚verliegt‘, durch seine Flucht Mitschuld an Didos Tod und Karthagos Fall trägt. Das Bild hellt sich zwar im Gefolge der Unterweltfahrt auf, doch letztlich ist der Satz nicht ganz ohne Berechtigung, dass es ein „unbegreifliche[r] - und genau 53 Breuer (wie Anm. 38), S. 19. 54 Vgl. mit Blick auf die Quellen GSV (wie Anm. 1); Goossens (wie Anm. 34). Eine knappe, inhaltsnahe Charakterisierung bietet Barbara Haupt, „Der schielende Heilige“, in: Botschaften aus dem Jenseits, hg. von Hans Körner, Düsseldorf 2002 (Studia humaniora 35), S. 94-104. 55 Tervooren (wie Anm. 11), S. 42. 56 Es bedarf mit Schmitz (wie Anm. 11), S. 116, gleich dreier Rechtfertigungen auf Handlungsebene, um das darin liegende, von Veldeke gegenüber der Vorlage zugespitzte „êre-Problem“ (ebd.) abzumildern. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 215 gesehen parteiliche[r] - göttliche[r] Ratschluß [sei], der den troischen Eindringling über den alteingesessenen Turnus, dem obendrein die Nachfolge des Latinus und die Hand seiner Tochter fest versprochen waren, triumphieren läßt und mit persönlicher Leistung und Würdigkeit wenig zu tun hat.“ 57 So liegt ein konstantes Irritandum über dieser Vita, das der anderen fehlt. Daher ist es auch nicht wie bei Servas die genealogische Verlängerung in die Vergangenheit, sondern die in die Zukunft, die Eneas’ Rolle vom Ende her klärt und seine Integrität restituiert: Erst sie verschafft dem Helden transpersonale Legitimität als Achsenfigur einer linea, aus der Roms Gründer und Namengeber hervorgehen und die über viele benannte und unbenannte Zwischenglieder bis zu Augustus und weiter bis in die staufische Gegenwart führt. c. Memoriales Narrativ: Herkommen Über die Historizität des Trojanischen Kriegs streitet erst die Moderne. Um 1200 sind Troja und seine Überlebenden wirkmächtige Erinnerungsorte. 58 Gleiches gilt in seiner Region für Servatius: Der Heilige an der Schwelle von Antike und Mittelalter gilt als letzter Bischof Tongerns; im 4. Jahrhundert soll er die Verlegung des Bischofssitzes nach Maastricht veranlasst haben. 59 Konjunktive überschatten zwar schon diese Grundtatsachen, und was man darüber hinaus weiß, stammt aus Legenden, ist Legende und weist nicht mehr ins 4., sondern ins 5. und 6. Jahrhundert. 60 Aber Legende ist eben um 1200 noch nicht reformationszeitlich Lügende: 61 Auch hier steht hinter der dubiosen Überlieferung das „historische Gedächtnis des Raumes“ 62 , und über dem belegten Faktum die Bewusstseinstatsache 63 einer sinn- und identitätsstiftenden Erinnerung. In Veldekes Erzählwelt sind der Held und der Heilige Gründerfiguren. Servas zieht in göttlichem Auftrag aus Jerusalem an einen erst vorläufigen (Tongern), dann endgültigen Ort (Maastricht), für den er über den Tod hinaus sorgt. Für Eneas gilt mutatis mutandis das Gleiche. Die Unterschiede liegen in der inhaltlichen Füllung des Makroplots, der bei 57 Schröder (wie Anm. 48), S. 70. 58 Den Begriff prägten (inspiriert von Maurice Halbwachs) Pierre Nora und Etienne François (vgl. etwa Lieux de mémoire - Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand, Berlin 1996). Solche Orte „können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke […]. Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert“ (dies., Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2000, S. 17f.). Der Übergang vom so bestimmten Erinnerungsort zu Mythos wie Legende ist fließend, weil Erinnerungsorte Ausgangs- oder Fluchtpunkte eines religiösen Kults oder einer mythischen origo sein bzw. werden können. Ich halte daher das Begriffskonzept für ungemein fruchtbar, um bislang (zu) feste Grenzen von Stoffen, Genres und kulturellen Praktiken zu überwinden. 59 Zu den wenigen historischen ‚Fakten‘ und ihrer historio-hagiographischen Deutung vgl. die entsprechenden Artikel in LMA, Bd. 7 (1999), Sp. 1792f.; LThK, Bd. 9 (2009), Sp. 492; R. de la Haye, „In welke eeuw leefde St. Servas? “, in: De Maasgouw 113 (1994), S. 5-28; Ferrari (wie Anm. 21), S. 155-158. 60 Die Hauptzüge des Plots, wie ihn noch Veldeke bietet, überliefert als erster Gregor von Tours (gest. 594). Überblicke zur Stoff- und Quellentradition geben GSV (wie Anm. 1), S. 349-353, und (veraltet) Friedrich Wilhelm (wie Anm. 45, Einleitung), S. III-XXX. 61 Luthers berühmte Polemik richtete sich speziell, aber eben nur pars pro toto generis gegen die Lügend von St. Iohanne Chrysostomo (1537; WA 50, S. 52-64). 62 So Tervooren (wie Anm. 11), S. 42. 63 Zum Begriff vgl. Verf., Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25), S. 88 und 239 passim. 216 Mathias Herweg aller (auch) Exemplarität als ‚Herkommen‘ funktioniert: „Während die Funktion Exemplum einer Erzählung eine Lehre unterlegt, bezieht die Funktion Herkommen eine Erzählung auf ein Zurechnungssubjekt (eine Trägergruppe oder Institution). Die Erzählung wird als Herkommen Teil der eigenen Gesch[ichte].“ 64 Im Eneas stehen unter diesem Vorzeichen die Stauferexkurse, im Servas die ungebrochene Präsenz des Gründers ‚bis heute‘, die sich in seinen schon intradiegetisch verehrten und immer wieder ‚vergegenwärtigten‘ Insignien, vor allem dem erlösenden Schlüssel, in seinem Kult und selbstreflexiv auch in Heinrics Legende materialisiert. Wesentlich für die memoriale und legitimatorische Macht des Herkommens ist das ihm inhärente Zäsurpostulat: Wo „Bestehendes durch den Verweis auf Vorhergehendes“ erklärt wird, weist das Vorhergehende explizit oder implizit „einen qualitativen Unterschied zum Bestehenden auf, […] der das Bestehende begründen kann und die Frage nach den Gründen des Vorhergehenden verstummen läßt.“ 65 Der qualitative Unterschied kann zwar auch schlicht behauptet werden, wirkungsvoller aber lässt sich in und mit Geschichte(n) Evidenz für ihn erzeugen. In diesem Sinn verbindet das Herkommen, als Makronarrativ verstanden, konstitutive Teil- und Mikronarrative mit einschlägigen Leitmotiven zu einer spezifischen ‚Erzählgrammatik‘, die um jenen Unterschied kreist. Im Sinne einer Narratologie historischen Erzählens 66 kommt es auf die präzise Beschreibung dieser Erzählgrammatik an, d. h. auch auf konstitutive Mikroplots, unter denen ich nachfolgend ohne Vollständigkeitsanspruch vier für Veldeke m. E. fundamentale näher ins Auge fasse: Untergang, Gründung, Genealogie und Wanderschaft. III.2. Mikronarrative historischen Erzählens a. Zäsur vor dem Herkommen: Untergang (excidium) Im Unterschied zur Geschichte als ‚Geschehen im Vollzug‘ setzt jede erzählte Geschichte mehr oder minder willkürliche Zäsuren: Anfang und Ende, Höhepunkt und Wende, Aufstieg und Fall, Ursache und Folge. Nichts von alledem ist im bruchlosen Kontinuum der Zeit vorab gegeben, weniges schon den Miterlebenden bewusst. 67 Die Selbstermächtigung des ‚Geschichts-Geschichtenerzählers‘ (und -schreibers) zum sinnstiftenden (oder eben einen qualitativen Unterschied setzenden) Emplotment hat bereits lange vor Hayden White Otto von Freising betont, als er in den Widmungsepisteln der zweiten Fassung seiner Historia de duabus civitatibus (um 1150) auf den modus tragoediae seines Geschichtsnarrativs und auf fuga et electio, Ausschluss und Auswahl, als Basisoperationen des Chronisten hinwies. 68 64 Klaus Graf, „Sage“, in: LMA, Bd. 7 (1999), Sp. 1254-57, hier 1256. 65 Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Kilian Heck und Bernhard Jahn, Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), Vorwort der Hgg., S. 3. 66 Vorüberlegungen dazu am Fall der Kaiserchronik bei Verf., „Geschichte erzählen. Die Kaiserchronik im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens)“, in: ZfdA 146 (2017), S. 413-443. 67 Abgesehen allenfalls von religiösen Rahmendaten wie Schöpfung, Inkarnation und Apokalypse, die eine im biblisch-theologischen Leitdiskurs gründende Präexistenz beanspruchen dürfen. 68 Otto von Freising, Chronica sive historia de duabus civitatibus / Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, hg. von Walther Lammers, übers. von Adolf Schmidt, Darmstadt 1961, hier S. 4: Unde nobilitas vestra [sc. Friedrich I.] cognoscat nos hanc historiam nubilosi temporis, quod ante vos fuit, turbulentia inductos ex amaritudine animi scripsisse ac ob hoc non tam rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragediae texuisse et sic unamquamque librorum distinctionem […] in miseria terminasse Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 217 Neben den biblisch-heilsgeschichtlichen Rahmensetzungen von Schöpfung, Inkarnation und Endzeit sind Gründung und Fall die wirkmächtigsten Plotkoordinaten historischen Erzählens, wobei sich die Abfolge auch umkehren lässt (was dann im Sinn von Whites metahistory entweder zur Romanze oder zur Tragödie hinführt: Modell Eneasvs. Trojaroman). Um Untergänge narrativ zu begründen, gibt es seit der Antike einen Vorrat von Motiven, die zu Erzählkernen werden können: Verrat, Rache, Neid, Eifersucht u. a. m. Heroische Epik und Geschichtsschreibung verbindend, reduzieren sie jeweils komplexe historische Geschehensfolgen auf greifbare menschliche Affekte (so beim Trojanischen Krieg auf die Rivalität zweier Männer um eine Frau), assimilieren das Geschehen an vorgängige Erzählplots wie Entführung und Rückentführung, Flucht, Heimkehr, Landnahme, koordinieren sie zu übergreifenden Verbünden (z. B. die Argonauten und Eneas als Sprossfabeln zu Troja). 69 Der Untergang Trojas steht im Eneas am Anfang, so wie am Beginn der trojanischen Katastrophe der Argonautenzug stand. Trojas Fall wird bei Veldeke gleich zweimal erzählt; zuerst im ordo historialis als Exposition des Geschehens durch den extra- und heterodiegetischen Erzähler anstelle eines Prologs: Ir habet wol vernomen daz, / wi der kunich Menelaus besaz / Troien die rîchen / vil gewaldechlîchen, / […] / dorch Pârîses scholde, / der im sîn wîb hete genomen. […] / Elenam si nâmen / und gâben si Menelâô wider / und brâchen Troien dernider. (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 1-4, 6f., 30-32) Später wiederholt sich der Bericht im ordo artificialis (analeptisch) als intra- und homodiegetische Rede des Protagonisten, nun konzentriert auf die Verratsgeschichte um das Trojanische Pferd (vgl. V. 919-1230): Der summa folgt die breit auserzählte und fokalisierte Geschichte in, und vor, der eigentlichen Geschichte. Ihre Fülle an Heldentaten und Aristien kommt nicht an gegen die stoffgegebene Untergangsstruktur, die die ‚Sprossfabel‘ des Neugründers gebieterisch verlangt: Troja muss untergehen, damit Rom sein Erbe antreten kann. Diese Logik absorbiert auch den alternativen Exempelwert, der Trojas Geschichte virtuell auch innewohnt. Denn auch Karthago muss untergehen, damit Rom Trojas Erbe antreten kann. Didos Reaktion auf Eneas’ Erzählung macht die abgewiesene Alternative einer didaktischen Rezeption des Untergangsberichts explizit: Sine rûchte waz her sprach, / wan daz her eht sprâche (V. 1234f.). Ihre fatale Minne ignoriert also die Botschaft hinter dem minnesüßen Klang, die der Erzählung immanente fatale Lehre der Paris-Helena-Liebe - eine Lehre, an der auch Didos Herrschaft hängt. So müssen zuletzt beide weichen: die Gründerin und die ihr in Aufstieg und Blüte so eng verbundene Stadt. Dido hat keine genealogische Kontinuität begründet (V. 2192f.) und unternimmt nichts, um vor ihrem Suizid „Vorsorge für die weitere Entwicklung“ im Land zu treffen. 70 Da Rom als Erbin früh im („Daher möge Eure Hoheit wissen, dass wir wegen der Wirrnisse der düsteren Zeit vor Euch dieses Geschichtswerk mit verbitterter Seele schrieben und aus diesem Grund nicht so sehr die Folge der Ereignisse, als vielmehr ihr Elend nach Art einer Tragödie darlegten, und dass daher jeder Buchschluss […] in Leid endet“); S. 6: Scitis enim [sc. Rainald von Dassel], quod omnis doctrina in duobus consistit, in fuga et electione („Ihr wisst ja, dass alles wissenschaftliche Tun in zwei Dingen besteht: im Verwerfen und im Auswählen“). Zu Autor und Werk vgl. ebd., S. XI-LXVIIII, sowie Franz- Josef Schmale, „Otto von Freising“, in: ²VL, Bd. 7, Berlin/ New York 1983, Sp. 215-223. 69 Zu den Verfahren historisch-epischer Plotbildung vgl. an einem anderen prominenten Stoff Joachim Heinzle, „Die Nibelungensage als europäische Heldensage“, in: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, hg. von dems., Klaus Klein und Ute Obhof, Wiesbaden 2003, S. 3-27. 70 So Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), S. 207. 218 Mathias Herweg Raum steht (V. 427), handelt die weitere Geschichte (als historia verstanden) nur noch vom Vollzug der translatio. Der intertextuelle Bezug zwischen den excidia Tongerns im Servas und Trojas im Eneas wurde in der älteren Forschung vereinzelt erörtert. 71 Die komplementär dazu bestehende Kontinuität (oder werkchronologische Vorläuferschaft) Tongerns zu Karthago aber blieb außen vor. Sie scheint mir noch signifikanter und reicht bis zu dem nicht unwichtigen Detail, dass Eneas und Servas zwar Zeugen des ihre Stiftung je ermöglichenden Untergangs werden, die Stiftung selbst aber gar nicht mehr erleben bzw. vollenden. Veldeke widmet Tongern eine ähnlich strahlende Ekphrase wie Karthago (vgl. Servas [wie Anm. 1], V. 843-867 / Eneasroman [wie Anm. 2], V. 383-406): Beide Städte ragen aus dem textuellen und geographischen Umfeld durch ihre Größe (Servas [wie Anm. 1], V. 844 / Eneasroman [wie Anm. 2], V. 372f.), Verkehrslage (Servas [wie Anm. 1], V. 848-855 / Eneasroman [wie Anm. 2], V. 393-396) und architektonische Pracht heraus (Servas [wie Anm. 1], V. 859-866 / Eneasroman [wie Anm. 2], V. 404-415). 72 Beide stehen unter göttlichem Schutz und scheinen providenziell zu Hohem bestimmt: Karthago erblüht im Schutz Junos, Tongern nach längerer Krisis im Schutz des Christengotts neu. Erzählstrukturell befinden sich pagane und christliche Transzendenz hier auf Augenhöhe, auch wenn sie ideell von ungleicher Wahrheit und Wirkmacht sind (was wiederum für den Handlungsspielraum der menschlichen Akteure Folgen hat). Beide Städte zehren von der Größe ihrer gottgesandten Regenten. Und beide erfüllen ihre scheinbare Bestimmung nicht und fallen durch göttlichen Willen. Doch liegt dem Fall eine je eigene Motivationslogik zugrunde. Karthagos Abstieg ist wie Roms Aufstieg durch ‚das Schicksal‘ (Götterauftrag im antiken, Providenz im mittelalterlichen Kontext) vorherbestimmt, was die menschlichen Beteiligten (auch Dido! ) a priori entlastet. Die Tongerner dagegen sind Verursacher ihres Geschicks. Zu ihnen kommt der Auslöser des Falls auch nicht von außen: Es sind vornehme Bürger, die dem Rat des Teufels folgend eine Fronde gegen ihren Retter bilden. Dieser flieht in eine Einöde, aus der seine Gebeine später in die neue Stiftung Maastricht transferiert werden. Derweil hält Gott Gericht über Tongern: Die Hunnen zerstören die Stadt so gründlich, wie die Griechen zu Beginn des Eneas die rîche Troien zerstören: Wie rijck dat sij [sc. Tongheren die meere] weere, / sij moeste ommer verstuert wesen. / Sij en lieten nyemant ghenesen / der keersten die sij vynghen (Servas [wie Anm. 1], V. 3276-3279). Hier empfiehlt sich ein kurzer Exkurs, denn die Tongerner Fronde, die zum Zäsurereignis wird, hat es nicht allein legendenpoetisch (als Auslöser der Passion des Heiligen), sondern auch herrschaftsdiskursiv in sich. Sie kontrastiert zwei Legitimationsfiguren von Herrschaft, die im Eneas in den Argumenten der Dido-Gegner und der Turnus-Partei wiederkehren. Das Kernargument der Frondeure gegen Servas lautet: ‚Onse busdome hevet sijne eer / ane desen vreemden man [sc. Servas] verloren / die hij busscop is vercoren. / Eyn ellendich arme man / die onser spraken nyet en kan, / die onse lant nyet en berichtet / noch slote noch burghe en stichtet, / noch hoeff en wilt halden. / Wat heerscapien mocht hij walden, / eyn arme wandellere, / hoem is alsoe meere / dat menten schelde als menten love? / Hij en wilt nommer comen te hove. / Hij wilt altoes alleyne wesen / ende altoes in sijnen boeken lesen. / […] / Wij 71 Vgl. bes. den Exkurs Dittrichs (wie Anm. 27), S. 465-474, der es indes mehr um die Untermauerung der interpretatio Christiana des Eneas, weniger um die Analyse der narrativen und mythopoetischen Bezüge zwischen den beiden Texten geht. 72 Der poeta doctus bedient sich beide Male feststehender Topoi des rhetorischen Städtelobs. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 219 mochten sijns wale ontberen / want hij en vroemt ons nyet eyn blat. / Wij willenten verdryven uuter stat.‘ (Servas [wie Anm. 1], V. 900-924). Diese dünkelhafte Suada verkennt nicht nur das eigentlich Auszeichnende des Gottgesandten, sein Exulantenschicksal, seinen höheren Auftrag, sein Charisma, sondern erklärt all dies schlechterdings zum Malus. Die Vorwürfe zielen auf die weltlich-geistliche Doppelessenz des Bischofsamtes, das seit der Spätantike Seelsorge und Herrschaft über ein Territorium (nebst Mitherrschaft im Reich) vereint und von daher intellektuelle Bildung, geistliche Tugend und adlige Machtrepräsentation zugleich verlangt. Daher begegnen sie in Bischofsviten der Zeit fast topisch - so auch im nahen Annolied und in den lateinischen Annoviten. Aber sie haben eben auch ihr profanes Pendant im Eneas. Denn so fehl am Platz Servas für seine Gegner als ellendich wandellere auf dem altehrwürdigen Bischofsthron ist, so unpassend ist es der vertriben Troiâre und unsâlege Troiân für seine Kritiker an der Seite der Landesherrin Dido und später der Landeserbin Lavinia (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 1947, 10655). Der im Eneas stets affirmativ-konstruktiv eingesetzte Ratstopos wird in Tongern als Ver-Rat diskreditiert, der den göttlichen Willen nicht bestätigt, sondern konterkariert. Konträr zum Kalkül der Verräter führt er die Stadt daher nicht in herrliche Zeiten, sondern direkt in den Untergang. Het is van Gode voersproken. / Dat en mach nyemant ghekeren, bescheidet Petrus den in Rom um Schonung bittenden Protagonisten (Servas [wie Anm. 1], V. 1724-1725), der das Urteil zerknirscht nach Tongern trägt: [Ir] hevet uch ontfoeghet / daer ghij eerst waert gheheylet. / Uwe stadt is nu verdeylet / ende heeft haren rechten name verloren / ende moet arnen Gods toren. / Des hebbe ich groten rouwe (V. 2688-2693). Nur individuelle Schuld darf Servas kraft der ihm übertragenen Schlüsselgewalt lösen, nicht aber die Schuld und Strafe der Institution und das Vergehen gegen Gottes Geschichtsplan. Der Tongern-Plot kombiniert demnach die Logik beider excidia des Eneas. Zentrales tertium commune mit Karthago ist die an die Endgültigkeit mythischer Tabus gemahnende Unumkehrbarkeit, die gleichgültig bleibt gegenüber subjektiver Zerknirschung und Reue (bei Tongerns Bürgern und Dido), aber auch Fürsprache und Mitleid (bei Servas und verspätet Eneas). Hinzu kommt der transitorische Charakter beider Städte als Übergangs- und ‚Zwischenorte‘. Obwohl selbst durch analeptisch inserierte origines ausgezeichnet (Kuhhaut- Mythe: Eneasroman [wie Anm. 2], V. 325-337; Bischofsstab-Wunder: Servas [wie Anm.-1], V. 476-494/ 583-596), bleiben Karthago und Tongern narratologisch und historisch doch nur retardierende, widerständige Stationen (mit Greimas ‚Opponenten‘) im Vollzug des providenziell Vorbestimmten - daher in beiden Fällen die göttlichen Abreisebefehle, die Zerknirschung und Zerstörung. Troja dagegen, als Herkunftsort des Stifters und Ausgangsort für die Gründung, hat sein strukturelles Pendant in dieser Hinsicht nicht in Tongern, sondern in Jerusalem, dem großen nahöstlichen lieu de mémoire, von dem aus Servas nach Gallien aufbrach. Nur wird Jerusalem im Servas eben nicht zerstört. 73 b. Komplement des Untergangs: Gründung (fundatio) Der Eneas-Stofferzählt Weltgeschichte als Geschichte einer „Helden- und Gründerdynastie“. 74 Ein Exulant erobert das Land eines Ahnen, der selbst bereits Exulant war und zum Grün- 73 Intertextuell geschieht dies indes gleich mehrfach in der etwas früheren Kaiserchronik. 74 Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 96. 220 Mathias Herweg derheros wurde. Nach retardierendem Einschub der Gründungsmythe Karthagos (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 294-348) zielt der Stoff planhaft auf Rom (V. 13364-13375). In Roms Gründung gipfelt die translatio Troiae in drei als Klimax angelegten Schritten: 1. Flucht des göttlich (Auftrag) und genealogisch (Spitzenahn Dardanus) legitimierten Helden nach Göttergebot und Vasallenrat; 2. Übertragung der Herrschaft durch den legitimen Vorgänger (Latinus) und Ehe mit dessen Tochter (V. 13287-13291); 3. Übertragung von Land und ,Burg‘ (Albâne) an den Nachfahren aus erster Ehe, Julus- Ascanius, der dem späteren Kaisergeschlecht der Julier den Namen gibt, während die Gründung selbst den Namen Romulus‘, eines Nachfahren aus zweiter Ehe, präsent hält (V. 13372). Mit ihrer Ankunft in Rom ist die translatio besiegelt. Jüngere Arbeiten wiesen luzide auf die trans- und intratextuelle Signifikanz des damit umrissenen Ursprungs- und Kontinuitätsdiskurses hin. 75 Dardanûs der alde (V. 64) war vor Zeiten aus Italien ausgezogen, um Troja zu stiften; Eneas zieht nach Italien zurück, als diese Stiftung fällt (V. 1219f.). Heimkehrer, Landnehmer und Reichsgründer zugleich, stiftet er ein neues Troja. 76 Das Leitwort stiften rahmt den Plot und verknüpft seine chronologischen Pole: Dardanus stiftet Troja (V. 66), Eneas Albâne (V. 13292-13303), Romulus Rom (V. 13370); und räumlich halbwegs dazwischen stihtet (V. 289) Dido, auch sie eine Landflüchtige, das vom Erzähler als Herrschaftsort par excellence beschriebene Karthago - freilich im Plotmodell einer abgewiesenen translatio, wie der Erzähler und durch den Götterauftrag der Held, nicht aber die unglückliche Dido vorab wissen: Dîdô hete gekêret / ir flîz wole dar zû / […] / daz Jûnô schaffen solde, / daz Kartâgô diu mâre / houbetstat wâre / uber alliu diu riche, / und daz ir gelîche / diu lant wâren undertân. / ez enmohte niht sô ergân: / sint hete Rôme den gewalt (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 416-427). Die konzeptionelle Nähe dieser Plotkerne zum Servas legt schon die Frequenz des Leitwortes nahe: stiften fällt auch hier vorzugsweise da, wo Kontinuitäten beginnen, die bis in die Gegenwart andauern, 77 insgesamt elf Mal. Auch die Frequenz aitiologischer oder etymologischer Erklärungen selbst für kleine Erinnerungsorte fällt auf, so etwa im Fall der Kirche Himmelpfort nahe Köln, die Servas auf Reisen buchstäblich en passant stiftet (vgl. Servas [wie Anm. 1], V. 2297-2313). Jenseits solcher Episoden ist der gesamte erste Textteil (die Vita) makrostrukturell als fundatio organisiert: Durch den aus Jerusalem, dem Heilsort schlechthin, an den Rhein gesandten Migranten 78 wird zunächst das schon bestehende Tongern vom Mantel der Geschichte umweht. Als Tongern seine Chance verspielt (s. o.), steht es für das ,Davor‘, dem 75 Vgl. bes. Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), Kap. 2.2.3, S. 175-258. 76 Genealogisch gesehen handelt es sich damit um eine Heimkehrerfabel, Eneas’ Landnahme ist eigentlich eine Rück-Eroberung, Raum und Zeit verknüpfen sich in einer zirkulären Struktur: „Indem die Eneaden eine neue Herrschaft in Italien gründen sollen, gewinnen sie […] eben jenes Reich zurück, welches ihre Vorfahren bereits innegehabt hatten“ (Kellner, Zur Konstruktion, wie Anm. 27, S. 53). 77 So gilt ein Exkurs nach Servas’ Vertreibung dem Apostel Maternus, der die cristenheit / in Gallia stichtede (Servas [wie Anm. 1], V. 1004f.). 78 So ephemer für den Handlungsverlauf die lebenszeitlich nicht kurze, doch vom Erzähler kaum gefüllte (vgl. Servas [wie Anm. 1], V. 377-383) Jerusalem-Episode bleibt, so bedeutsam wird sie für Servas‘ spätere Gründung, nicht nur weil Servas hier den himmlischen Auftrag empfängt: Jerusalem ist schon Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 221 das qualitativ Unterschiedene folgt. Die descriptiones beider Orte sind denn auch gegenbildlich gestaltet: Tongern, das bereits römische Octavia, ist groot, lanck ende wijt, vor allem auch reich an kirchlicher Infrastruktur (V. 861-863), schon bevor Servas es betritt. Dagegen tritt Maastricht vor den Leser und Hörer im Modus des ,noch nicht‘, als ein locus amoenus, der vor allem durch sein Potential besticht (V. 958-982). Der lateinische Name ist hier nicht Indiz hohen Alters, sondern einer verheißungsvollen Zukunft: Die weghe versamenen sich all dae. / Des is die stadt daer nae / gheheiten Trajectum (V. 979-981). 79 Hier also kann Servas Neues stiften, während er in Tongern nur alte Größe hätte restaurieren können. Und mit Tongerns Fall erbt Maastricht als Wirkens- und Kultort des Gründers auch dessen universales ‚Netzwerk‘: Griechenland (Geburt), Jerusalem (Weihe und Entsendung), Rom (Schlüsselgewalt) und die galloitalischen Metropolen (kirchenpolitischer Aktionsradius) werden im Wortsinn zu Vor-Orten und zum Teil der ‚regio-universalen‘ Identität der neuen Stadt. Das demonstriert der zweite Textteil (die Miracula), der Servas’ Nach-Leben vor allem auf die Protektion seiner Stiftung bezieht. Spiegelbildlich zu Tongerns Zerstörung bleibt Maastricht durch höchste Gewalt schon vor den Hunnen verschont: Sij [sc. die Hunnen] verwoesten alt lant, / sij en lieten nyet ongebrant / sonder Triecht daer Sinte Servaes / die heilighe man begraven was, / dat bescheermde onse Heer Jhesus (V. 3421-3425). Auch später erweisen sich Stadt und Stift Maastricht durch Servas gleichsam als ,Heilige (Orte) vom unzerstörbaren Leben‘. Wie Roms Gründung über die Zwischenstufen Troja - Karthago - Albâne im Eneas, so ist auch diejenige Maastrichts großräumig als Ost-West-Drift von Ermenyen lande über Jherusalem nach Lutteringhen (V. 3206f.) bzw. in dat goede lant vander Masen tot opden Rijn (V. 4333f.) angelegt. Servas’ postumer Kultort, dessen kirchenrechtliche Erhebung zwar erst mit der Wahl des ersten Bischofs Agricolus vollendet ist (V. 3715), als dessen Gründerpatron aber stets und nur Servas verehrt wird, bildet den Fluchtpunkt. Unter Karl Martell werden Servas’ Gebeine erhoben (chronikhaft konstatiert V. 3808-3812, breit auserzählt 3813-4201), Grabwunder stellen sich ein, Karl der Große lässt sich die Vita des Heiligen vorlesen 80 (V. 4241f.), Servas selbst verteidigt seine Stiftung gegen große und kleine Frevler mit Mitteln, die zu Lebzeiten kaum zu seinem quietistischen Figurenprofil gepasst hätten. Eine auch narrativ herausragende Probe aufs Exempel für die Endgültigkeit des Kultortes inszeniert der Text selbst, indem er die gegen Gottes und des Stifters Willen betriebene Entführung der Reliquien durch die sächsischen Ottonen, die in gewisser Weise ‚zurück‘ nach Osten zielt, so unrühmlich wie kläglich scheitern lässt (V. 4652-58): Die translatio hat in Maastricht ihr Ziel gefunden, eine weitere (postume) Gründungstat sieht die Erzähllogik nicht vor. 81 Interpretament in der Christusgenealogie des Heiligen. Es ist im Servas das Pendant zum heillosen Troja, das Eneas in seinem ‚ideellen Reisegepäck‘ führt. 79 Vgl. dagegen zu Tongern: Doen hiet die stadt Octavia, / want der coninck hiet Octaviaen / den doe dat lant was onderdaen / ende die stat ghehoersam (Servas [wie Anm. 1], V. 506-509). 80 Markus Greulich bezieht die Stelle selbstreferenziell auf die Vortragssituation: „Der Heilige, der Sünder und das Wort. Zu Erzählerstimmen im Sente Servas Heinrichs von Veldeke“, in: Sprechen mit Gott. Redeszenen in der mittelalterlichen Bibeldichtung und Legende, hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S. 247-267, hier S. 262f. 81 Signifikant ist hier die variierte Wiederholung und Korrektur des Motivs, denn als später Heinrich III. Servatius-Reliquien für seine Goslarer Stiftung benötigt, sendet er Boten nach Maastricht, um die Stiftsbrüder höflich darum zu ersuchen. Nach schwierigen Verhandlungen erhält er nur, doch legal 222 Mathias Herweg c. Fortschreibung des Herkommens: Genealogie Als epochal „dominante mentale Struktur“ wirkt das genealogische Denken weit über episch-historiographisches Erzählen hinaus. 82 Aber die Genealogie stellt auch ein produktives Erzählschema bereit, das sich organisch in die oben genannten universalen, biographischen und memorialen Makronarrative historialen Erzählens einpassen lässt, mitunter auch selbst als Makronarrativ funktioniert. Die Frequenz von Geschlechterregistern, generationenübergreifenden Plots oder durch Ansippung diachron aggregierten Stoffen (wie in der Dietrichepik oder Chanson de geste) weist die Genealogie als Operator für Erzählen und als Koordinator von Erzähltem gleichermaßen aus. Und sie vermittelt zwischen Ursprung und Bestehendem, strukturiert das ‚Dazwischen‘, generiert Ketten abbreviierter oder nur angedeuteter, nicht auserzählter Geschichten. Genealogischer Anker der Eneasgeschichte ist der Jupitersohn Dardanus. 83 Von ihm führt eine direkte Linie über Venus zu Eneas, bei dem sie sich teilt: Aus erster Ehe mit der in Troja zurückgelassenen Kreusa stammt Ascanius-Julus, aus zweiter mit Lavinia Silvius, respektive die von ihnen je ausgehenden Lineagen. Beide sind für Roms Herkommen wichtig und laufen in Roms Gründung zusammen, bis sie zuletzt mit Augustus in die amtsrechtliche successio der römisch-deutschen Kaiser übergehen. Das hier Resümierte wird bei Veldeke, mit markanten Modifikationen gegenüber den Quellen, in zwei ‚Geschlechterregistern‘ weniger erzählt als katalogisiert. 84 Das erste Register ist narratologisch Figurenrede (des Anchises) und Vorausdeutung, historisch Prophezeiung (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 3642-3690). Das zweite ist narratologisch Erzählerrede, historisch Retrospektive (V. 13332- 13428). Veldeke integriert das zweite in die christliche Zeitrechnung und verlängert es durch zwei Stauferexkurse implizit bis in die eigene Zeit. Die Bedeutung der Geschlechterregister erhellt auch aus dem betonten Kontrast zu Dido: Der Bruch ihrer Herrschaft (und mithin ihres Gründungsakts) ist explizit durch die fehlende dynastische Perspektive aufgrund des genealogisch folgenlosen Liebesakts mit Eneas begründet - der Suizid erscheint in Didos genealogischer Herrschaftslogik nachgerade alternativlos: ‚Ichn hân daz kint noch den mâch / niender in dem lande. / […] / die hêren sint mir alle gram: / den ich versagete wîlen ê, / die ne gerent mîn nû niht mê. / soldich lebendich blîben, / si solden mich vertrîben / oder brennen unde heren. / ich ne moht mich niht erweren, / wand die scholde sint mîn. / hetet ir doch ein kindelîn / an mir gewunnen! ‘ (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 2180-2193) Sind Eneas und Dido somit intratextuell als genealogische „Spiegelfiguren“ 85 gestaltet, so sind es Servas und Eneas intertextuell. Dabei fällt als rein formale Parallele nicht ins Ge- und auf Dauer, ein Kinnbein des Patrons (V. 5343-76; daran schließt die Anekdote vom schielenden Kopfreliquiar an). 82 Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), S. 13-127 passim, Zit. S. 15. Vgl. auch R. Howard Bloch, „Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form“, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters XI: La littérature historiographique des origines à 1500, Bd. 1,1, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer und Peter-Michael Spangenberg, Heidelberg 1986, S. 135-156; R. Howard Bloch, Etymologie et généalogie. Une anthropologie littéraire du Moyen Age français, Paris 1989. Bloch leitet das Genealogieprinzip aus der jüdisch-christlichen Offenbarung her und beschreibt es als universales Denken in Lineagen, Sukzessionen und Filiationen. 83 Vgl. Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), S. 194. 84 Vgl. Michael Müller, Namenkataloge. Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Hildesheim 2003 (Documenta onomastica litteralia medii aevi: Reihe B. Studien 3), S. 71-76. 85 Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), S. 205. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 223 wicht, dass analog zu Dido auch Servas’ hehre Genealogie mit ihm abbricht. Diese Kinderlosigkeit liegt in der Logik des Genres, in dem die geistlich-institutionelle Sukzession fruchtbaren Ersatz schafft. In deutlich kontrastiver Korrespondenz stehen aber die göttliche Abkunft Eneas’ und die Wurzel Jesse-Ansippung Servas’ zueinander, zumal der beiderseits göttliche Auftrag sie fortsetzt: Eneas wird in Troja von den goten nach Italien (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 55), Servas in Jerusalem durch einen Engel Gottes nach Gallien gesandt. Die rund 3600 folgenden Verse (V. 149-3744) zeigen Eneas dann als Spielball der widerstreitenden Götter auf See, in Karthago und in der Unterwelt, bevor er seinen Bestimmungsort erreicht. Servas dagegen ist in kaum 20 Versen am Ziel (Servas [wie Anm. 1], V. 430-445): Sein monotheistischer Gott hat keine Rivalen. Und da Gehorsam und Gottnähe Servas’ Charakteristika sind, ist es nur konsequent, dass Heinric anders als andere Bearbeiter nicht davor zurückschreckt, die biblische David-Christus-Genealogie (Mt 1) auf seinen Heiligen zu verlängern. Der heilsgeschichtlich unüberbietbare Geburtsstatus begründet einen ganz inkommensurablen Adel - und eben auch einen providenziellen Schutz, der Eneas offenkundig versagt bleibt: Schutz vor Prüfungen, die die Bestimmung zur Heiligkeit konterkarieren (nicht vor Prüfungen schlechthin! ), Schutz vor ethischem Versagen. Dass seine Gegner gegen diesen providenziell beglaubigten Adel tradierte Adelsattribute auffahren, wie sie auch für Eneas taugen, zeigt ihre groteske Ignoranz (die einschlägige Stelle, V. 899-925, wurde oben zitiert und erörtert): Servas’ fehlender Reichtum, fremde Herkunft, Intellektualität und Introvertiertheit sind eben nicht Defizite, sondern Zeichen seiner höheren Sendung. Was ihn für seine Gegner zum Sonderling macht, garantiert recht eigentlich seine unverwechselbare Größe. Der Hauptunterschied der beiden spiegelnden Helden bleibt aber festzuhalten, und er hängt erwähntermaßen mit der Gattung, Heldenrolle und Zielinstitution zusammen: Servas’ Ausnahmegenealogie geht der Vita voraus und weicht postum einer Amtssukzession. Eneas’ Ausnahmegenealogie hingegen setzt sich über seine Vita hinaus fort und mündet erst später (Stauferexkurse) in Amtssukzession. Die Sukzession kann in beiden Fällen die Genealogie substituieren, ist aber für geistliche Helden deren zwingendes Komplement, weil die Geblütsfolge hier, des Zölibats wegen, konstitutiv abbrechen muss. 86 Die fehlende Sippenkontinuität wird aber noch durch ein weiteres Moment kompensiert: die zeitlose Wirksamkeit des heiligen Helden durch seine Wunder. Nicht durch Nachkommen, sondern durch Nachfolger und teiken also bleibt Servas in seiner und für seine Gründung präsent: Das zeigt der seriell als Kette machtvoller miracula strukturierte zweite Teil der Erzählung. d. Zeit und Entzeitlichung im Raum: Reisen im Dies- und im Jenseits Die Protagonisten Veldekes reisen weit und viel. Dabei deckt sich, wie gesehen, die grobe Ost-West-Richtung, und in beiden Fällen steht hinter der Reise im Raum auch eine solche durch die Zeit: Zeitgenössische mappae mundi sammeln in der Mitte der Ökumene (Palästina, östliches Mittelmeer) die zentralen Stationen der Menschheitsgeschichte und die Ausgangspunkte großräumiger translationes, im Westen deren Ziele. Dazu kommen jeweils noch Reisen in vertikaler Richtung zwischen Himmel, Welt und Hölle, die das Historisch- Irdische transgredieren und die erzählte Zeit gewissermaßen arretieren. 86 Analog substituiert schon das Annolied die seinem niederadligen Helden fehlende genealogische Bedeutsamkeit zahlensymbolisch: Anno ist 33. Kölner Erzbischof und siebter Heiliger unter ihnen; er ist zugleich eingebettet in ein Umfeld namhafter fränkischer Missionare und Seelsorger. 224 Mathias Herweg Diese Plotkonstanten lassen viel Raum für die je spezifische Füllung. Eneas ist auf den Spuren eines Ahnen unterwegs und kennt sein Ziel, für Servas dagegen ist das Ziel (aus seiner Sicht) kontingent. Die Not, die Eneas’ Auszug begründet, herrscht bei ihm in seelsorgerlicher Hinsicht erst am Zielort. Servas zieht überdies aus, ohne eines Rats zu bedürfen, wie Tobias allein von einem Engel begleitet. Seine Fahrt über Meer verläuft providenziell ungestört. Bei Eneas ist es ganz anders: Er bringt den göttlichen Auftrag vor den Rat, er strandet nach einem Seesturm in Afrika und gelangt erst nach Jahren in das verheißene Land, um das er erbittert kämpfen muss, bis es seinen Nachfahren gehört. Die Weiterfahrt nach dem punischen Interim wird durch eine Reise in vertikaler Richtung unterbrochen, die als Musterfall mittelalterlich-christlicher Anverwandlung paganer Mythologie gelten darf. 87 Die antike Unterwelt dient im Eneas der Konfrontation des Helden mit fremdem wie eigenem, unverschuldetem wie mitverschuldetem Leid (Eneas trifft auf die Toten Trojas und Dido), doch dann auch der Verheißung einer großen transpersonalen Zukunft durch Vater Anchises (vgl. bes. Eneasroman [wie Anm. 2], V. 3683-3690). Vergangenheit und Zukunft werden „in der Unterwelt - im Wortsinne - Gestalt, indem sich die Schatten der Verstorbenen und Künftigen hier gewissermaßen in einer mythischen Gegenwart vereinen.“ 88 Noch stärker als die irdische Ost-West-Wanderung setzt also Eneas’ Abstieg in die Unterwelt seine universalhistorische Bestimmung in Szene. Auch der Servas kennt Jenseitsreisen, die für die Sinngebung des Ganzen allerdings randständiger bleiben. Sie wurzeln auch nicht im antiken Mythos, sondern gehören zum Traditionsbestand frühkirchlicher Mirakel- und Visionsliteratur. 89 Zunächst wird ein grundübler Brabanter Ritter in einer Art Nahtoderlebnis durch alle Zonen der Hölle bis vor das hoechste gherichte geführt (Servas [wie Anm. 1], V. 5582-5782, hier 5699). Er ist es auch, der (früheren Unsagbarkeitsbeteuerungen zum Trotz) das Geschaute erzählt, weil ihm Servas’ Fürsprache eine Chance irdischer Bewährung (und damit auch des Berichtenkönnens aus dem Jenseits) erwirkte. Fürsprache und Rettung sind die Pointen des Plots, nicht Zukunftsschau und Verheißung wie im Eneas. Ähnlich verhält es sich beim ovelen Bruder der frommen Nonne Oda aus Nivelles, gleichfalls einem Ritter, der nach seinem Tod unter die leyden helschen honde 90 fällt (V. 5849-6137, hier 5992): Er wird durch den von Oda angerufenen Servas erlöst, erscheint seiner Schwester und lässt sie seine Geschichte ter eeren Sanctus Servacium niederschreiben. 91 Es gibt beachtliche raumsemantische, sprachliche und ekphrastische Links zwischen den Jenseitsdarstellungen der beiden Texte: die nachgerade synästhetische Ausgestaltung; die dem Diesseits analoge heterotopische Raumstruktur, die erst in der Bewegung des Reisenden als ‚Erfahrungsraum‘ entsteht; das Motivsyndrom aus liminalem Eintritt, abgründiger Tiefe, Finsternis, Gestank, Feuer und Qualm, quälenden Ungeheuern und gequälten Seelen (vgl. etwa Eneasroman [wie Anm. 2], V. 2888-2906 / Servas [wie Anm. 1], V. 87 Sie ist denn auch ein locus classicus in der Veldekeforschung geworden; vgl. zuletzt Joachim Hamm, „Die Poetik des Übergangs. Erzählen von der Unterwelt im Eneasroman Heinrichs von Veldeke“, in: Unterwelten. Modelle und Transformationen, hg. von dems. und Jörg Robert, Würzburg 2014 (Würzburger Ringvorlesungen 9), S. 99-122 (mit älterer Lit.). 88 Kellner, Ursprung (wie Anm. 27), S. 215. 89 In zeitlicher Nähe zu Veldeke sind Texte wie die Visio Pauli, die Visio Tnugdali und der Tractatus de Purgatorio S. Patricii zu nennen; vgl. zum Genre Benz (wie Anm. 25). 90 Hier immerhin eine Antikenreminiszenz: Im Eneas hat Cerberus Hundsgestalt (Eneasroman [wie Anm. 2], V. 3246f.). 91 Vgl. zur Episode auch Greulich (wie Anm. 80), S. 253-257. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 225 5662-5672); die identische Reaktion der ,Reisenden‘ auf das durch ihre Augen wahrgenommene Geschehen: Furcht, Schrecken, Reue. Erst im Gesamtblick wird signifikant, was jeder Einzelzug für sich, als eher unspezifischer Teil einer um 1170 schon breiten Diskurs- und Motivtradition, in die antike und jüdisch-christliche, mythologische und hagiographische Anregungen einflossen, noch nicht erkennen lässt. Indes zeigen sich auch die Unterschiede in der Semantisierung der Motive und Topoi: Im Servas ist der Protagonist nicht Akteur, sondern Helfer, analog der Sibylle im Eneas. Es geht hier auch nicht wie im Eneas um eine Verschmelzung der Zeiten im mythischen ‚Jetzt‘ (Troja-Dido-Retrospektive, Anchises-Prophezeiung), sondern um Sündenstrafe und Sozialkritik - und zwar exemplifiziert an jenem Milieu, dem der Eneas dann ein neues Leitbild anzubieten trachtet: dem laikalen Adel. 92 Doch es geht zugleich in beiden Texten um eine Transgression des Historisch-Zeitlichen im Erzählen. Für Eneas verschmelzen in der Unterwelt die drei Zeiten nicht nur in der ihm zubestimmten Rolle, sondern auch in einem stricte augustinischen praesens in anima. Für den Brabanter Ritter pausiert die irdische Zeit, während das Visionsgeschehen sich achron neben ihr vollzieht, und Odas Bruder kehrt als Jenseitsbote nur episodisch in die irdische Zeit zurück, um die Niederschrift seiner außer ihr liegenden Erlebnisse zu initiieren. Diese selbst sind nicht mehr historisch und erst recht nicht mythopoetisch, sondern heilsdidaktisch, exemplarisch. Deshalb wird Servas auch als Nothelfer aktiv, wo sich Eneas’ überirdische Begleiterin noch auf die passive Rolle der Wegweiserin beschränken muss: Servas’ Hilfe ist wiederholbar und dient ad imitandum, die der Sibylle dagegen ist zwingend einmalig, weil es nur ein Rom und einen Gründer Roms geben darf. IV. Bilanz und Ausblick: Ein kohärentes Werkprofil Ich gebe dem in vieler Hinsicht noch der Verfeinerung bedürfenden Bild einen für den Moment abschließenden Rahmen. Mein Beitrag lud dazu ein, Heinrich von Veldeke quer zur etablierten Forschung stärker in eine vorhöfische als höfisch-‚klassische‘ linea zu rücken. Wer das spezifisch Literarische, narratologisch Avancierte des Eneas betonen will, für den scheint der Vergleich mit dem früheren Werk eher widerständig und hinderlich. Zwei schlichte philologische Befunde raten dennoch dazu: Entstehungskontext und Überlieferung. Entstehungskontext : Die Frage ist hypothetisch, doch naheliegend: Wie kam Heinric van Veldeken eigentlich zu dem ersten, noch niederrheinischen Großauftrag für den Eneas? Man wird hier doch zunächst daran denken, was er davor geschrieben hat - auch weil der alte Stoff geradezu ein geistliches Komplement zu dem neuen zu sein scheint, den Autor mithin als kompetent auch für diesen ausweisen konnte. 93 Es gibt die oben herausgearbeiteten Links zwischen den Texten, aber es gibt auch schon solche zwischen den Stoffen: Die ‚trojanischen Franken‘ landeten als Eneas’ Verwandte und Schicksalsgenossen nidir bî Rîni, um in Servas’ späterem Wirkraum eine luzzele Troie zu gründen: So berichtet orts- und zeitnah das Annolied mit Bezug auf Xanten (c. 23). Und der Eneas endet genealogisch exakt da, wo Veldeke seine Legende gegen kritischere Bearbeiter beginnen ließ: bei Christi Geburt. Die Genealogie des Eneas führt damit zeitlich unmittelbar zur Genealogie des Servas. Auch 92 Vgl. Haupt (wie Anm. 54), S. 104. 93 Was der Dichter später (und unterbrochen durch die längere Pause) aus dem Eneasstoff gemacht hat, steht auf einem anderen Blatt. Die Grundzüge des mythopoetischen Profils blieben aber erhalten. 226 Mathias Herweg wenn beide Texte nach Befundlage nie von ein- und demselben Publikum (etwa im Umkreis der Gräfin von Kleve) rezipiert oder in ein- und demselben Kodex vergemeinschaftet wurden, ist der Werkverbund konzeptionell absolut schlüssig. Das Annolied und nach ihm die Kaiserchronik führen all das schon auf engem Raum zusammen, was Veldeke als eine Art Doppelepos bietet: antike Sage, spätantike Legende, regionales Herkommen in universalen Bezügen, bis in die Gegenwart wirkende uralte Geschichte(n): Enêas irvaht im Walilant. / dâr diu sú mit trîzig iungin vant, / dâ worhten si diu burg Albâne, / dannin wart sint gestiftit Rôma (Annolied, c. 23). - Dannin santir [St. Peter] drî heilige man, / ci predigene den Vrankan: / Eucharium unti Valêrium, / der dritti geinti ûffin leige. / dâ kêrdin dî zvêne widere, / senti Pêtri daz ci clagine. / dari santer duo sînin staf, / den legitin si ûffe Maternis graf. / Si hîzin un wider von dem tôd erstân, / in senti Pêtiris gibote mit un ci Vrankin gân (Annolied, c. 32). 94 Von Trojanern, Herrschergenealogie und Bischofssukzession, paganer Erst- und christlicher Neugründung, vom Herkommen einer Institution und vom Herkommen ihres Gründers also erzählt auch Veldeke. Und wenngleich Troja im Servas nominell nicht vorkommt (trotz des Trojaerben Augustus in Tongerns antikem Namen Octavia), ist es als intertextueller Horizont auch dort präsent: Das trojanische name-dropping des Annolieds (c. 23) setzt mit seinen nicht auserzählten Geschichten stoffkundige Rezipienten schon ein Jahrhundert früher voraus. So zielt auch der Servas zwar vordergründig auf legendentypische imitatio, aber eben zugleich auf Herkommen und Vergangenheitskonstruktion. 95 Römische Könige und Kaiser als Repräsentanten der Institution, die im Eneas begründet wird, erhalten dabei viel Raum. Überlieferung : Für den Eneasroman mag die vergleichende Lektüre angesichts seiner virtuosen Poetik prima vista anstößiger wirken als für den Servas. Doch sie hat in der Überlieferung ein unschlagbares Argument für sich. Konkret geht es hier angesichts der relativ stabilen Textgeschichte um die Verbindungen, die nicht weniger als vier der sieben vollständigen Handschriften mit anderen Texten eingehen: 96 - Hs. H (Heidelberg, UB, Cpg 368, 1333): Eneas vergemeinschaftet mit Herborts von Fritzlar Liet von Troye als seiner stofflichen Vorgeschichte (zwei Hände, von denen die Haupthand den gesamten Herbort-Text und gut die zweite Hälfte des Eneas schrieb; Auftragsarbeit für den Deutschordensritter Wilhelm von Kirrweiler); - Hs. M (München, BSB, Cgm 57, 14. Jh.): Eneas vergemeinschaftet mit dem pseudohistorischen Aventiureroman Mai und Beaflor (sekundär im 16. Jh.) und Ottes Eraclius, der partiell der entsprechenden Vita der Kaiserchronik (V. 11138-351) folgt. Die Texte sind durch Rom als gemeinsamen Schauplatz verbunden (zwei zeitlich nahe Hände, die zweite verantwortet Eneas und Eraclius); - Hs. G (Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A 584, um 1470): Eneas vergemeinschaftet mit Jeans de Mandeville Reisen in der Verdeutschung Ottos von Diemeringen (zwei Hände); 94 Das Annolied. Mhd./ nhd., hg., übers. und komm. von Eberhard Nellmann. Stuttgart 1975 [u. ö.]. 95 Dagegen überzeugt Breuers (wie Anm. 38) Aussage wenig, in Veldekes Servas spiele Geschichtstheologie „keine Rolle“, und gehe es „nicht um ein christliches Verständnis von Geschichte als Heilsgeschichte“ (S. 21). Dafür erhält beides entschieden zu viel Platz im Erzählraum. 96 Zu den folgenden Angaben vgl. den Marburger Census (wie Anm. 6) und Becker (wie Anm. 6), S. 20- 28. Von Jerusalem nach Maastricht, von Troia nach Rom 227 - Hs. w (Wien, ÖNB, Cod. 2861, 1474): Eneas vergemeinschaftet mit der Weihenstephaner Chronik mit Fortsetzung bis 1474 (eine Hand, nach Bl. 93rb Jorg von Elrbach); - hinzu tritt: Frgm. Wa (Marburg, StA Best. 147 Hr 1 Nr. 12/ 13, 14. Jh.): Eneas und Waldecker Alexander. Wertet man die Skizze aus, so stellen sich neben den Eneas ‚klassische‘ oder legendarische Rombzw. Antikenepik (H/ Wa; M), Reichschronistik (w) und Reiseliteratur (G). Der manuskriptphilologische Befund ist kaum zu überschätzen, zeigt er doch, was für zeitgenössische Schreiber, Auftraggeber und Besitzer 97 zusammengehörte - und e silentio, was nicht. Der nicht erst heute, sondern schon von Dichtern wie Gottfried von Straßburg mit Veldeke assoziierte höfische ‚Höhenkamm‘ aus Tristan- oder Artusepik, doch auch die Heldenepik (germanisch wie romanisch) fehlen. Das führt zu meinem abschließenden, textanalytisch und überlieferungsgeschichtlich gestützten Plädoyer: Gegen alle Zweifel darf man das Werk Heinrichs von Veldeke als literarische Einheit sehen. Und was den literarischen Ort des Dichters angeht, wird man Werner Schröders einflussreiche, latent bis heute wirksame These getrost hinter sich lassen, die „Heiden der ‚Eneit‘ und die Christen des ‚Servatius‘, einschließlich der sündigen“ seien „inkommensurabel“ 98 (was im Wortsinne hieße: nicht auf ein gemeinsames Maß resp. tertium commune zu bringen). Das sind sie nicht, und es wäre im Licht des Entstehungsumfelds und, beim Eneasroman, der Überlieferungsbefunde auch einigermaßen erstaunlich, wenn sie es wären. Daher sollte man Veldekes Erzählwerk so unbefangen und gewinnbringend zusammensehen und aneinander messen, wie es für Autoren wie Hartmann, Wolfram oder Rudolf von Ems längst Usus ist. In diesem Fall birgt es zugleich die Chance, dem kanonischen Antikenroman ein intertextuelles Bezugsfeld neu zu erschließen, das die Grenzen zwischen ‚geistlich‘ und ‚profan‘ auch im Leitgenre höfischen Erzählens diskursiviert. Zu denken geben müsste hier schon der auffällig unauffällige Umstand, dass Veldeke in diesem Punkt mitnichten alleine dasteht: Alle drei Pioniere deutscher Antikenepik hinterließen neben ihrem Hauptwerk kürzere Legendendichtungen. 99 Ihre Romane aber sind in Forschung und Lehre omnipräsent, während ihre Legenden stets Fußnoten der Fach- und Literarhistorie geblieben sind. 97 In der von Jürgen Wolf vorgeschlagenen Typologie verorten sich die fünf Fälle zwischen den Polen der additiven und synthetischen Sammlung unterschiedlich, doch ist die Zusammenstellung in jedem Fall von mindestens einer der drei genannten Instanzen intendiert; vgl. Jürgen Wolf, „Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile“, in: Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. von Dorothea Klein, Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter 52), S. 69-81, hier S. 70-78. 98 Schröder (wie Anm. 48), S. 99, hier zwar kontextuell gegen Dittrich, aber ohne Einschränkung formuliert. 99 Der Pfaffe Lambrecht nennt sich im Eingangsgebet als Autor des nur noch fragmentarisch erhaltenen ‚Tobias‘, Herbort von Fritzlar wird ohne letzte Sicherheit, aber mit guten Gründen (für Hinweise sei Cornelia Herberichs gedankt) ein nach rd. 600 Versen abbrechender ,Pilatus‘ zugeschrieben; vgl. ²VL, Bd. 5, Berlin/ New York 1985, Sp. 495-497 (‚Tobias‘) und ²VL, Bd. 7, Berlin/ New York 1989, Sp. 676-678 (,Pilatus‘). Bild und Geschichte 229 Bild und Geschichte Der Wunderbaum in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg Almut Schneider Der Trojanische Krieg wird im Mittelalter als ein historisches Ereignis von weltgeschichtlicher Tragweite aufgefasst 1 - und zugleich mit Formen eines Wiedererzählens verbunden, das Rhetorik und Ästhetik in höchster Kunstfertigkeit vereint. 2 Als programmatisches Kernwort für diese Form der Narrativierung von Vergangenheit in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg hat die Forschung den Begriff des erniuwens herausgearbeitet, der den Text auf der Handlungsebene durchzieht, den Konrad aber auch im Prolog setzt. 3 Frisch erblühen soll die materia, doch dies umfasst auch einen veränderten Deutungshorizont im Rückgriff auf andere Wissenskontexte. 4 Mein Beitrag schließt hier an und geht der Frage nach, in welcher Weise Konrads Trojanerkrieg das Denkmuster der Typologie als ein historisches Erzählverfahren eingeschrieben ist. 5 Ziel ist es zu zeigen, in welcher Weise 1 Bis ins 16. Jahrhundert galt der Trojanische Krieg so gut wie unhinterfragt als historisches Ereignis; vgl. Elisabeth Lienert, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S.-13; dies., „Ein mittelalterlicher Mythos. Deutsche Troiadichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts“, in: Troia - Traum und Wirklichkeit, hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Stuttgart 2001, S. 204-211. 2 Jan-Dirk Müller, „schîn und Verwandtes. Zum Problem der Ästhetisierung in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik)“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287-307; Hartmut Bleumer, „Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im Trojanischen Krieg Konrads von Würzburg (mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte)“, in: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter, hg. von dems. u. a., Köln u. a. 2010, S. 109-156; Gert Hübner, „Der künstliche Baum. Höfischer Roman und poetisches Erzählen“, in: PBB 136 (2014), S. 415-471. 3 Konrad von Würzburg, ‚Trojanerkrieg‘ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe von Heinz Thoelen und Bianca Häberlein. Wiesbaden 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter 51), im Folgenden zitiert; Beate Kellner, „daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg“, in: Im Wortfeld des Textes (wie Anm. 2), S.-231-262; Burkhard Hasebrink, „Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg“, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 209-230. 4 Bent Gebert, Mythos als Wissensform: Epistemik und Poetik des ‚Trojanerkriegs‘ Konrads von Würzburg, Berlin 2013 (Spectrum Literaturwissenschaft 35). 5 Der Begriff der Typologie ist in jüngster Zeit erneut in der kritischen Auseinandersetzung mit Erich Auerbachs figura-Aufsatz und dem Versuch seiner produktiven Weiterführung in den Blick geraten; vgl. Christian Kiening, „Einleitung‟, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. von dems. und Katharina Mertens-Fleury, Würzburg 2013 (Philologie der Kultur 8), S. 7-20. Im Kontext der älteren Forschung (u. a. Friedrich Ohly, „Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung“, 230 Almut Schneider Troja zum Typus eines Erzählens entwickelt wird, in dessen Zentrum nicht zuerst die Feier höchster Kunst steht, sondern Typologie sich in kunstvoller Verdichtung und äußerster Artifizialität - in spannungsvoller Beziehung zur Allegorese - als Ordnungsmuster und Vergegenwärtigungsstrategie, als „je neu lebendige Form abendländischen Geschichtsdenkens“ 6 weisen kann. Damit schließe ich an Überlegungen Christian Kienings an, der in seiner Einleitung zu dem im Jahr 2013 erschienenen Sammelband „Figura“ vorgeschlagen hat, über den Figura-Ansatz Erich Auerbachs hinauszugehen, nämlich „grundsätzlicher zu bedenken, welche Dimensionen von ‚figura‘ eine weitere Entfaltung lohnen könnten.“ 7 Als erstes nennt Kiening die ästhetische Dimension und greift damit Auerbachs Frage auf, „wie weit die ästhetischen Vorstellungen figural bestimmt sind - wie weit also das Kunstwerk als figura einer noch unerreichbaren Erfüllungswirklichkeit aufgefasst wird.“ 8 Hier möchte ich mit meinen Beobachtungen zu Konrads Trojanerkrieg anknüpfen - zur mehrdimensionalen Zeitlichkeit, die Konrad entwirft, und zu der daraus entstehenden spannungsvollen Beziehung von historia und fabula. 9 Ich möchte vorschlagen, den Voin: Natur - Religion - Sprache - Universität. Universitätsvorträge 1982/ 83, Münster 1983 [Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 7], S. 68-102; wieder abgedruckt in: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. von Volker Bohn, Frankfurt a. M. 1988 [Poetik. Internationale Beiträge 2], S. 22-63) hebt Rudolf Suntrup, „Zur sprachlichen Form der Typologie“, in: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand und Klaus Speckenbach, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), S. 23-68, hervor, dass eine Erweiterung des strengen Begriffs von Typologie auch auf Typen aus der heidnischen Antike nicht illegitim, sondern theologisch begründbar sei, denn die „Legitimierung von Typen aus der heidnischen Antike wird gestützt durch die biblische Lehre von der Berufung der Heiden zum Heil Christi in seiner Kirche“ (S. 36). Hans Jürgen Scheuer, „Im Schatten keines Zweifels. Jehan Renarts Lai de l’ombre und die Auflösung des moralischen Dilemmas im Gleichnis“, in: Schatten. Spielarten eines Phänomens in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Björn Reich, Christoph Schanze und Hartmut Bleumer, LiLi 45 (2015), S. 67-82, unterstreicht, in welcher Weise für den Begriff der Typologie das Verhältnis relevant ist, die Relation der beiden Elemente, die aufeinander bezogen werden (bes. S. 68); vgl. dazu Ruben Zimmermann, „Einführung: Bildersprache verstehen. Die offene Sinndynamik der Sprachbilder“, in: Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen. Mit einem Geleitwort von Hans-Georg Gadamer, hg. von dems., München 2000, S. 13-54, hier S. 47: „Der griechische Begriff typos kennzeichnet die Relation, in der A zu B steht. Wenn A in B sichtbar wird, ist B Typos. Und A ist dann Typos, wenn es seine Funktion ist, B sichtbar werden zu lassen. Weder A noch B sind an sich Typos. Der Begriff typos steht also weder für Urbild noch für Abbild, er benennt ein Verhältnis, kein Sein.“ Vor diesem Hintergrund, so Scheuer, werde deutlich, „warum die christliche Tradition figuraler Schrift- und Geschichtsdeutung versucht hat, die im Lateinischen fehlende exakte Entsprechung zum griechischen τύπος metaphorisch durch umbra einzuholen“ (S. 68). 6 Kiening (wie Anm. 5), S. 14. Kiening beschreibt und problematisiert hier Auerbachs Ansatz, den Begriff der Typologie in Abgrenzung von der Allegorie und dem Symbol fruchtbar zu machen als „eine Form, in der der Reichtum der Immanenz und das Numinose der Transzendenz sich verschränken“ (ebd.). Dies allerdings auf der philologischen Grundlage einer semasiologischen und onomasiologischen Untersuchung vorzunehmen, überfordere den Ausdruck figura (ebd., S. 14f.). Statt dessen kann es um eine „Dynamik des Figuralen in einzelnen textuellen und visuellen Gefügen“ gehen (ebd., S. 17). Eine solche Dynamik sucht auch der vorliegende Beitrag nachzuzeichnen. 7 Ebd., S. 15. 8 Vgl. Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, S.- 55-92; wieder abgedruckt in: Figura (wie Anm. 5), S. 263-300. Darüber hinaus nennt Kiening die semiotische und die mediale Dimension von figura: Kiening (wie Anm. 5), S. 16. 9 Vgl. Hans-Werner Goetz, „Zum Geschichtsbewusstsein hochmittelalterlicher Herrscher“, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewusstsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. von dems., Berlin 1998, S. 55-72, hier S. 60: „Hochmittelalterliches Geschichtsverständnis war bei allem Bemühen um chronologische Abfolge und zeitliche Zuordnung daher auch von einer gedanklichen Entzeitlichung der Ereignisse geprägt, die vor allem durch einen typologischen Vergleich erreicht wurde.“ Bild und Geschichte 231 gelbaum in Konrads Trojanerkrieg als Zentrum eines typologischen Geschichtsentwurfs zu lesen, der den Trojanischen Krieg als Teil der Wanderungsbewegung von Herrschaft und zugleich als Ursprungserzählung höfischen Rittertums auf die Konstruktionen höfischer Herrschaft, Minne und Ehre des 13. Jahrhunderts abbildet. I. Die vielfältigen Begründungen des Krieges Konrads Roman - so hat Beate Kellner herausgearbeitet - legt die Ursprünge der Gewalt und deren Konnex mit der Liebe offen: 10 Minne, Kampf und Tod sind auf das Engste verbunden. Damit schließt Konrad einerseits an die konstitutionelle Nähe von amor et militia im höfischen Roman an, führt diese aber weiter zurück zu den Ursprüngen von Ritterschaft überhaupt. Das zeigt sich bereits, wenn Konrad im Anschluss an seinen Prolog die Gewalt der Minne als die Ursache der größten Schlacht überhaupt bezeichnet, wie das Mittelalter den Trojanischen Krieg auffasste. 11 Damit gilt auch für Konrad Troja als Ursprungsort von Ritterschaft, von chevalerie - wie Chrétien de Troyes im Prolog zum Cligès ausführt, der im Blick auf den Trojanischen Krieg das Konzept des Herrschafts- und Kulturtransfers von Ost nach West (translatio imperii und translatio studii) um die Vorstellung einer translatio militiae erweitert. 12 Auch Konrad entwirft eine Herkunftsgeschichte mittelalterlicher Ritterschaft, deren Geltungsanspruch sich darin manifestiert, dass er ein maere dichten möchte, daz allen maeren ist ein her (V. 235). Doch zugleich greift Konrad weiter aus: Sein Erzählen ist auf Vollständigkeit angelegt. Er konstituiert seine materia selbst, wie Franz Josef Worstbrock herausgestellt hat, eine materia, die es in dieser Form zuvor nie gegeben hat, und er unterlegt seinem Trojanerkrieg eine „neue ordnende und verknüpfende Regie“. 13 10 Beate Kellner, „Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter“, in: Poetica 42 (2010), S. 81-116, hier S. 99. 11 Vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg (wie Anm. 3), V. 314-317. 12 Chrétien de Troyes, Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übersetzt und kommentiert von Ingrid Kasten, Berlin/ New York 2006, V. 30-35: Ce nos ont nostre livre apris, / Que Grece ot de chevalerie / Le premier los et de clergie. / Puis vint chevalerie a Rome / Et de la clergie la some, / Qui ore est an France venue. Chrétien sorgt sich im Folgenden um die Möglichkeit des Vergessens und stellt ihm die Möglichkeit eines neuen Anfangs im Erzählen gegenüber, der Vergessen und Erinnern ins rechte Verhältnis setzt. Vgl. Stephanie Wodianka, „Metamorphosen des Ovid zum höfischen Erzählen. Philomena von Chrétien de Troyes‟, in: Mittelalterliche Mythenrezeption. Paradigmen und Paradigmenwechsel, hg. von Ulrich Rehm, Köln 2018 (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 10), S. 157-171, hier S. 157f.; Almut Schneider, „…in tiutsche sprâche rihten. Argumentationsmuster bei der Herausbildung einer eigenständigen deutschen Sprache und Literatur vom 8. bis ins 16. Jahrhundert“, in: Abgrenzung - Eingrenzung. Komparatistische Studien zur Dialektik kultureller Identitätsbildung, hg. von Frank Lauterbach, Fritz Paul und Ulrike-Christine Sander, Göttingen 2004 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge- 264), S. 229-282. Zum Konzept der translatio imperii vgl. Werner Goez, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; Franz Josef Worstbrock, „Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie“, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1-22; Frank-Rutger Hausmann, „Translatio militiae sive retranslatio - Crétien de Troyes’ ‚Cligés‘ [sic] im Lichte eines altbekannten Topos“, in: Kunst und Kommunikation. Betrachtungen zum Medium Sprache in der Romania. Festschrift zum 60. Geburtstag von Richard Baum, hg. von Maria Lieber und Willi Hirdt, Tübingen 1997, S. 417-426. 13 Franz Josef Worstbrock, „Die Erfindung der wahren Geschichte. Über Ziel und Regie der Wiedererzählung im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg“, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, Festschrift für Jan-Dirk Müller, hg. von Ursula Peters und Rainer Warning, München 2009, S. 155-173, hier S.-157. 232 Almut Schneider Dabei lässt er in seine Erzählung des Trojanischen Krieges - hystôrje (V. 17644) nennt er sie - die verschiedensten Quellen einfließen: Nicht monokausal erschließt sich der Konflikt um Troja, sondern er wird auf eine Vielzahl unterschiedlicher Begründungszusammenhänge zurückgeführt, die Konrad nebeneinander gelten lässt, wie die Vielzahl der Ströme, die sich, wie er im Prolog betont, ins Meer seiner Erzählung ergießen. Auf den Götterwillen führt er den Krieg zurück, der in unheilvollen Prophezeiungen zum Ausdruck kommt und demgegenüber alle menschlichen wie göttlichen Bemühungen, das Schicksal noch abzuwenden, scheitern müssen: Weder gelingt es Priamos, seinen Sohn Paris dauerhaft vom Trojanischen Hof, noch Thetis, ihren Sohn Achill von der Teilnahme an der Schlacht fernzuhalten. Im Gegenteil: Thetis’ Bemühungen spielen dem Kampf zu, wenn sie Achill durch Schyron erziehen lässt, der Achill zum exorbitanten Helden ausbildet und doch nur zum Vorschein bringt, was zu Achills löwengleicher Natur gehört. 14 Daneben benennt Konrad die unheilvolle Verführungskraft weiblicher Schönheit als Ursache, die ins Verderben führe. Unheilstiftend ist die Untreue, die in den Minnegeschichten als deren Grundton entfaltet ist und die Paare aufeinander bezieht: Paris und Oenone, Jason und Medea, Achill und Deidamie und nicht zuletzt Hercules und Dianira. Zwei davon sterben durch vergiftete Gewänder, todbringende Liebesgaben also, in denen sie qualvoll verbrennen - auch dies lässt sich lesen als eine doppelte Vorausdeutung auf den Brand Trojas. Der Konflikt um Troja fußt auf dem nît alternder Herrscher, so etwa, wenn Peleus Achill gegen Jason auszuspielen versucht und wenn Lamedon, der Vater des Priamos, den Argonauten grundlos das Gastrecht verweigert. 15 Nicht zuletzt aber - und in übergreifender Perspektivierung - ist es das Wirken der discordia, der missehellung (V. 1263), wie Konrad ihren Namen übersetzt, die den Krieg entfacht, indem sie in die höfische Festgesellschaft der Hochzeit von Thetis und Peleus den Apfel wirft. Ihn hat sie mit seiner kostbaren Materialität und ambivalenten Wahrnehmbarkeit in Vollendung höchster Artifizialität geschaffen, um ihrem Wesen getreu ihre Wirkung entfalten zu können. 16 Denn ihr Ziel ist es, ihre art der werresite - ihre Fähigkeit zur Zwietracht, zu Streit, Krieg und Kontroverse - zu erniuwen. 17 Mit Beginn der Handlung sind höchste Kunstfertigkeit und der Ursprung des Kriegsgeschehens ineinander verwoben unter dem Begriff des erniuwens, der zwei Ebenen der Dichtung miteinander verknüpft. Der Wunsch zu erniuwen ist handlungsstiftend, und zugleich trägt er den ästhetisch-poetologi- 14 Vgl. Ulrich Barton, „Manheit und Minne. Achills zweifache Erziehung bei Konrad von Würzburg“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2009, S. 189-204; Almut Schneider, „jâ, zwâre ich bin Achilles. Narration und personale Identität im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg“, in: Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink und Frank Rexroth, Berlin 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge 41), Bd. 1, S. 266-286. 15 Vgl. Hasebrink (wie Anm. 3), S. 212-214. 16 Zur Artifizialität und Wahrnehmbarkeit des Apfels vgl. Bleumer (wie Anm. 2); Christoph Huber, „Der ‚Apfel der Discordia‘: Funktion und Dinglichkeit in der Mythographie und im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg“, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin 2016, S. 110-126. 17 si wolte ir art erniuwen / und ir alten werresite, / dâ si noch leider ofte mite / verwirret gnuoge liute (Trojanerkrieg, V. 1490-1493). Bild und Geschichte 233 schen Anspruch der Dichtung, denn im Prolog formuliert der Dichter programmatisch den Wunsch, er möchte daz alte buoch […] erniuwen / mit worten lûter unde glanz (V. 269-75). 18 Auch Jasons Fahrt auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, als die von Konrad breit auserzählte Vorgeschichte des Trojanischen Krieges, entfaltet genau diese Doppelung von Handlungsebene und einer Ebene poetologischer Reflexion unter dem Zeichen des erniuwens. Denn es gehört zu den magischen Künsten Medeas, Leben erneuern zu können, wie sie es mit einem Widder listig beweist, um anschließend den Onkel Jasons unter dem Versprechen, auch ihm die Lebensjahre zu erniuwen, zu töten. Ihre Künste aber - kompilieren, lîmen, erniuwen - sind solche der Textproduktion und verweisen zugleich auf Konrads ästhetisch-poetologische Selbstansprüche im Prolog. 19 Erniuwen erweist sich damit als ein Kernbegriff Konrads in der Weise, dass er Handlung und Poetik, Geschichte und die Kunstfertigkeit ihrer Narrativierung - oder, wie Gert Hübner differenziert, materia und form - vielleicht weniger verschränkt, als dass er eins auf das andere wechselseitig abbildet. 20 Das gilt auch für die Erneuerung der Stadt Troja selbst, auf deren Bericht es mir im Folgenden ankommt. II. Das neuerrichtete Troja Die Argonauten legen am Strand Ilions an, um ihre Wasservorräte mit kalten küelen brunnen zu erniuwen (V. 6920-22). Die Trojaner aber werfen die Fremden unter der Führung Lâmedons ins Meer zurück, verletzen das Gastrecht und fügen den Argonauten eine Schmach zu, die Herkules veranlassen wird, zurückzukehren, Troja zu zerstören und mit dem Raub der Hesione den Trojanern einen Grund zu liefern, Helena zu entführen. Troja also muss wiederaufgebaut werden - und so findet sich gleichfalls ein (allerdings unbenanntes) Moment des erniuwens, wenn Priamos Troja nach der ersten Zerstörung als eine Idealstadt errichtet, prachtvoller als zuvor und schöner als je eine Stadt auf Erden hätte erbaut werden können: 21 reht als ein irdisch paradîs (V. 17444) bezeichnet, erscheint sie als ein Abbild des himmlischen Jerusalems. Bereits aufgrund der Nachricht vom Wiederaufbau Trojas entführt Thetis Achill von Schyron fort zu Lycomedes in der trügerischen Hoffnung, ihn vor der Schlacht bewahren zu können, von der ihr geweissagt worden ist, dass Achill dort den Tod finden werde. 18 Kellner (wie Anm. 3), S. 251, ist dem darin sich offenbarenden poetologischen Anspruch Konrads nachgegangen. Sie deutet den Begriff des erniuwen als das „Glätten und Kitten der Risse“ durch eine Ästhetik, die die Brüche der Quellen - auch im Rückgriff auf das Stilideal des blüemens - überspielen kann. Konrad erweist darin einmal mehr seine produktive Auseinandersetzung mit Gottfried von Straßburg. Vgl. Susanne Köbele, „iemer niuwe. Wiederholung in Gottfrieds ‚Tristan‘“, in: Der ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. von Christoph Huber und Victor Millet, Tübingen 2002, S. 97-115. 19 Zu denken ist auch an das Reimpaar gelîmen ‒ rîmen im Prolog (V. 277f.). Vgl. dazu Hasebrink (wie Anm. 3), S. 223f., 226; Almut Schneider, „Vielfarbige Klänge. Liebesgaben im poetologischen Diskurs der ‚Synästhesie‘“, in: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Margreth Egidi u. a., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 313-327. 20 Hübner (wie Anm. 2), S. 426. 21 Als eine Steigerung gegenüber seiner altfranzösischen Vorlage des Benoît de St. Maure, unterstreicht Konrad gerade die Exzeptionalität Trojas. So betont Lienert, Geschichte und Erzählen (wie Anm. 1), die „superlativische[n] Wertungen“, die Konrad einfügt, und kommt zu dem Ergebnis: „Troja erscheint von noch ausgeprägterer künstlich-irrealer Pracht“ (S. 93). 234 Almut Schneider In seiner Beschreibung der Stadt führt Konrad den Blick konsequent von außen nach innen, indem er zunächst die äußere Stadtbefestigung mit ihren Gräben, Mauern und Türmen schildert, die sieben Tore mit den darauf befindlichen Kastellen in all ihrem Glanz und ihrer Farbigkeit, dann die Stadt, deren Häuser mit Reliefs geschmückt und deren Dächer mit Gold und Lasuren überzogen sind, so dass sie, gemeinsam mit den glänzenden Marmorstraßen, die ganze Stadt zum Leuchten bringen. In ihrer Mitte liegt der Burgberg Ilion mit einem Turm, der so kunstfertig ausgeführt ist, dass alle Handwerker zwischen Rhein und Elbe solches nicht hätten vollbringen können. Zugleich ist er so stark befestigt, dass ihn nichts und niemand mit Gewalt einzunehmen vermöchte. Ein Narr, wer glaubt, diese Stadt zerstören zu können (vgl. V. 17368f.). Neben dem Turm steht der palas des Königs, mit Säulen und kunstvoll gearbeiteten Kapitellen verziert. Der Saal ist auf kostbarste Weise mit Zypressenholz und Elfenbein ausgestattet. Damit lenkt Konrad den Blick von außen nach innen ins Zentrum der Repräsentation weltlicher Herrschaft und göttlicher Präsenz: Beides findet Ausdruck zum einen in einem künstlichen, goldenen Baum voller Vögel aus vielfarbigen Edelsteinen, zum anderen in einem Standbild Jupiters, der über der Tafel des Priamos thront und den Konrad als der minne got (V. 17635) bezeichnet. Anders als Benoît de St. Maure, der Fenster, Kreuzgänge, Rasen, Quellen, Brunnen, Tore und Kommandanten anfügt, so hat Elisabeth Lienert herausgestellt, 22 lässt Konrad die Beschreibung der Stadt hier enden und fokussiert damit auf den künstlichen Vogelbaum, mit dem Priamos den Innenhof seines Palastes krönt, und der in all seiner Kunstfertigkeit Natur nachahmt und zugleich überbietet: swaz ich iu noch entsliezen sol, daz habent niht für einen troum: vor dem palas ein rîcher boum sich hete gar gespreitet und was sô wît gebreitet von künsterîcher sache, daz drunder mit gemache sâzen hundert ritter wol. der boum stuont vögellîne vol, diu süeze doene sungen. gewahsen unde entsprungen was niht der boum von rehter art, mit listen er gemachet wart vil rîlîch unde wunnesam. des boumes wurzel und sîn stam diu beidiu wâren silberîn, sîn este lûter guldîn sach man dâ ferre schînen, diu bleter ûz rubînen und von smâragden wâren, diu gâben unde bâren erwelten unde reinen glast. 22 Gegenüber Benoît zieht Konrad die Schilderung des Wunderbaumes aus der Schilderung der Gesandtschaft des Ulixes und Diomedes hierher vor (vgl. Lienert, ebd). Bild und Geschichte 235 dâ klanc ein iegelicher ast in wunneclicher wîse, swenn er gerüeret lîse wart mit handen eteswâ. wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ diu vögellîn drûf glizzen, man hete sich geflizzen ûf si mit listen reine, si wâren von gesteine gewürket ûzer mâze fîn. diu selben glanzen vögellîn diu wâren des betwungen mit listen, daz si sungen den winter und die sumerzît, ir stimme lûte enwiderstrît den liuten in diu ôren klanc, swer dâ gehôrte ir süezen sanc, dem wart vil hôher muot gegeben. si stuonden sam si künden leben und heten wunneclichen braht, seht, alsô wâren si gemaht von nigromanzîe. Prîant, der wandels frîe, het an si koste vil geleit. swenne er wolte sîn gemeit und werden rehte fröudenhaft, sô gienc er und sîn ritterschaft hin zuo dem boume wunneclich, dar under liez er danne sich ûf ein gestüele reine, daz was von helfenbeine erziuget und ûz golde lieht. (V. 17560-17613) Geschaffen ist der Vogelbaum durch nigromanzîe (V. 17603). Daraus ließe sich der Schluss ziehen, der kunstvolle Baum gehe auf schwarzmagische Kunst und damit auf Teufelswerk zurück, das es gemeinsam mit der Zerstörung Trojas zu überwinden gelte. Doch scheint mir, dass Konrad den Begriff der nigromanzîe weiter und ambivalenter fasst, denn auch Medea ist ihrer kundig (V. 7443), dies in enger Verbindung mit der Kenntnis der septem artes liberales (vgl. V. 7442-53): nîgromancîe kann Wunder wirken und eine tödliche Macht entfalten. Dieses Moment greift der Zerstörung Trojas voraus. Doch ihre Magie hat ihren Ort in der Ambivalenz von Tötung und Erneuerung. 23 23 Vgl. Hasebrink (wie Anm. 3), S. 211. Auch Meliur in Konrads Partonopier ist mit ihrer Kunst, Bilder zu erzeugen, eine Meisterin der Nigromanzie; vgl. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, Turnei von Nantheiz, Sant Nicolaus, Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth hg. von Karl Bartsch, Wien 1871, V. 8096. 236 Almut Schneider III. Der Wunderbaum Der Wunderbaum als imitatio naturae und zugleich artifizielle Übersteigerung der Natur inmitten vielfältiger Architektur - so möchte ich im Folgenden zeigen - greift die seit der Antike geläufige Nähe von Hain und Begräbnisort auf, die im christlichen Kontext den Friedhof zugleich als Paradiesgarten ausformuliert. So geht der künstliche Vogelbaum auf eine literarische wie auch historische Tradition tönender Automaten zurück, die sich weit zurückverfolgen lässt und Antike, Altes Testament, byzantinische Literatur und mittelalterliche Prachtschilderung miteinander vereint. 24 Dazu gehören nicht zuletzt die platonischen Entwürfe tönender Kosmos-Automaten, wie sie sich in Platons Staat und im Timaios finden, wo sie die mechanische Ordnung der Planetenbahnen mit der Harmonie der Sphären verbinden und den Schöpfungsanspruch des Demiurgen reflektieren. 25 Darüber hinaus ist für einen solchen Wunderbaum orientalische Herkunft nachgewiesen worden: Im Orient tauchen Nachrichten über Bäume, die mit kostbaren Materialien, Gold oder Edelsteinen geschmückt oder daraus gefertigt waren, frühzeitig auf. Sie standen ursprünglich in Zusammenhang mit dem Mythos vom Lebensbaum, dessen Ursprung im babylonisch-assyrischen Vorstellungskreis zu suchen ist. 26 Die byzantinischen Romane des Mittelalters kennen raffinierte Wasseranlagen, die etwa durch Pumpen und Gläser den Eindruck erwecken konnten, Trauben würden unter den Augen der Betrachter zur Reife gebracht (z. B. in Libistros und Rhodamne, 14. Jh.). 27 Brunnen sind mit Wasserautomaten ausgestattet, wie in Hysmine und Hysminias (2. Hälfte des 12. Jhs.), wo sich in einem kreisrunden Marmorbecken eine Säule erhebt, auf deren Kapitell eine kostbare Schale ruht, von deren Rand ein vergoldeter Adler Wasser speit, während er seine Flügel öffnet. Metallvögel am Brunnenrand sind so vom Wasser durchströmt, dass Töne wie Gezwitscher entstehen. Solche Wasserautomaten und Windmaschinen beschreibt Dieter Hennebo als historisch zum eindrucksvollen Bestand byzantinischer Gärten gehörend. 28 Sie wurden vom europäischen Mittelalter bewundernd wahrgenommen. So berichtet Liutprant von Cremona von einem ehernen, vergoldeten Baum am Kaiserhof in Konstantinopel, auf dessen Zweigen Metallvögel saßen, die ihre Stimmen ertönen ließen. 29 Im Mittelalter hat man zwischen dem ersten Adam und Christus als dem zweiten Adam, zwischen Paradiesesbaum und Kreuzesbaum sowie zwischen Paradiesgarten und Garten Gethsemane einen 24 Nach Reinhold Hammerstein, Macht und Klang. Tönende Automaten als Realität und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt, Bern 1986, findet sich die „umfassendste und auch am besten dokumentierte Verwirklichung des Prinzips des tönenden Automaten, sowohl nach der Vielfalt der auftretenden Arten als auch nach der semantischen und politischen Bedeutung […] im Byzanz des 9./ 10. Jhs.“ (S. 42). Vgl. auch Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Grubmüller und Markus Stock, Wolfenbüttel 1999 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 17). 25 Platon, Der Staat (Politeia), übers. und hg. von Karl Vretska, Stuttgart 2000 (RUB 8205), S. 462f.; ders., Timaios, Griechisch/ Deutsch, übers., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn, Stuttgart 2003 (RUB 18285). 26 Dieter Hennebo, Gärten des Mittelalters, München 1987, hier S. 123f. 27 Die Beispiele sind beschrieben bei Hennebo (wie Anm. 26), S. 121-124, und bei Hammerstein (wie Anm. 24), S. 137-157. 28 Vgl. Hennebo (wie Anm. 26), S. 122. 29 Vgl. ebd., S. 124. Oft waren solche Kunstwerke in Gebäuden untergebracht. Für die byzantinischen tönenden Automaten unterstreicht Hammerstein (wie Anm. 24), S. 57, deren zeremonielle Bedeutung am Kaiserhof. Bild und Geschichte 237 typologischen Bezug hergestellt: Paradies und Leidensgarten erscheinen als Klammern der formatio und reformatio mundi umfassenden Heilsgeschichte. 30 Auch die mittelalterliche deutschsprachige Dichtung kennt solche Automaten. So schildert Heinrich von Neustadt im Apollonius einen goldenen Vogelbaum in Candors Garten, der in einer Höhe von zwei Speerlängen mit goldenen Vögeln in seinen Ästen bestückt ist (V. 13075-13165). 31 Vier Türen führen in den Baum hinein, vier Skulpturen in Gestalt von Bauern, von denen jeder eine Posaune in der Hand hält, umstehen ihn. Wenn die Figuren in ihre Instrumente blasen, erklingt der Schall der wilden Tiere, die aus Gold gegossen den Baum umgeben. Sodann öffnet der Baum sich, die Blätter klingeln und der durch einen Luftstrom künstlich erzeugte Gesang einer präzis benennbaren Vogelschar ertönt: genannt werden Finken, Zeisig, Amsel, Drossel, Buchfinken, Lerchen bis hin zu Pelikan und Nachtigall. Ihr Gesang begleitet Apollonius’ Eintritt in das ander hymel reich (V. 13063). Bemerkenswert an diesen Kunstwerken ist, dass die Mechanik ihrer Bewegungsapparate ausführlich geschildert und herausgestrichen wird. 32 Konrad dagegen verzichtet auf die Beschreibung mechanischer Kunst, sein Vogelbaum ertönt, wenn jemand - dem Lautenspieler gleich - daran rührt. Damit schließt sein Artefakt an Konrad Flecks Scheingrab in Flore und Blanscheflur an, für die der Autor Vulcân und Orphanus als Baumeister benennt und damit Kunstfertigkeit und magisch-göttliches Vermögen in einem Artefakt zusammenführt. 33 Konrad Flecks Roman verbindet zwei Ekphrasen einer solch kunstvollen Naturnachahmung miteinander: Zunächst das Scheingrab Blanscheflurs, dessen elfenbeingleicher Marmorsarkophag mit Vögeln und Tieren aller Art geschmückt ist, die so kunstreich gestaltet sind, dass sie dem Betrachter als lebendig erscheinen (V. 1970f.). Magie und Mechanik bilden keinen Gegensatz, sondern stehen als „zwei verschiedene Aspekte ein und desselben Konzepts von ars“. 34 Die beiden Skulpturen, die den Kenotaph krönen, sind von den Baumeistern Orpheus und Vulcanus mit zouverworten (V.-2020) so kunstsinnig gestaltet, dass sie, durch den Wind bewegt, einander Rose und Lilie reichen, sich küssen und miteinander sprechen. Das Grabmal ist ein Memorialzeichen, doch nicht für die vorgeblich Verstorbene, sondern für das Verhältnis der Liebenden zueinander. Indem es die „wesenhafte Nähe von (naturhaftem) Eros und (artifizieller) Kunst“ ins Bild setzt, gerät es zum Kristallisations- 30 Ulrich Ernst, „Virtuelle Gärten in der mittelalterlichen Literatur. Anschauungsmodelle und symbolische Projektionen“, in: Imaginäre Räume: Sektion B des Internationalen Kongresses ,Virtuelle Räume, Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter‘, Krems an der Donau, 24. bis 26. März 2003, hg. von Elisabeth Vavra, Wien 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 19; Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 758), S. 155-190, hier S. 164f. 31 Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift, hg. von Samuel Singer, Berlin 1906 (DTM 7). Vgl. dazu Helmut Birkhan, Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte, Wien 2012, S. 201f. 32 Auch Thomas etwa erzählt, wie Tristan bei der Erschaffung seines Bildersaals die Röhrchen führt, durch die der Duft bestimmter Kräuter aus dem Mund der geschmiedeten Figur Isoldes strömen kann. Thomas, Tristan, eingeleitet, textkritisch bearb. und übers. von Gesa Bonath, München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 21), S. 141. 33 Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, Text und Untersuchungen, hg. von Christine Putzo, Berlin 2015 (MTU 143), V. 2019-2042. 34 Margreth Egidi, „Die höfischen Künste in ‚Flore und Blanscheflur‘ und ‚Apollonius von Tyrland‘“, in: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Susanne Bürkle und Ursula Peters, in: ZdfPh 128 (2009) Sonderheft, S. 37-47, hier S. 40. 238 Almut Schneider punkt des Erzählten. 35 Zudem findet sich im Garten des Amirals ein Baum, der den Jahreszeiten nicht unterworfen ist, sondern beständig blüht, während eine Nachtigall in seinen Zweigen singt, und der so dem grausigen jahreszyklischen Ablauf des Amirals mit der beständigen Wiederholung von Hochzeit und Tötung seiner Braut ein Moment von Zeitlosigkeit entgegenstellt - und darin Erlösung andeutet (V. 4449-4461) 36 IV. Bilder von Tod und Erneuerung Der künstliche Vogelbaum, dies deutet sich auch bei Konrad Fleck an, vereint mit seiner Nähe zum Lebensbaum oftmals Naturnachahmung mit der Verschränkung von Hain und Begräbnisort, wie sie schon in der Antike ausgestaltet ist. Als ein frühmittelalterliches christliches Beispiel dafür kann der St. Galler Klosterplan gelten, dessen geometrische Anordnung und vegetative Fülle den Friedhof als Ort des Totengedenkens wie der Hoffnung auf Auferstehung sichtbar werden lassen. 37 Seine mediale Präsenz aber weist höchsten Kunstanspruch aus. Entstanden ist er vermutlich unter der Leitung des Reichenauer Bibliothekars Reginbert, der dem Kloster St. Gallen im Kontext des Neubaus der Kirche durch Abt Gozbert etwa ab dem Jahr 830 übersandt wurde. 38 Der Baumgarten auf der Ostseite des Planklosters ist Friedhof und Obstgarten zugleich: „Die schmalen Gräber der Mönche liegen in Reihen, symmetrisch geordnet um das Kreuz in der Mitte. Zwischen ihnen stehen Bäume, im Plan sind es feine Rankenornamente mit den dazugehörigen Namen.“ 39 Vielleicht besitzen sie Vorbilder in der spätrömischen oder byzantinischen Kunst, „und es wäre denkbar, dass in ihnen die Form der uralten Lebensbaum- Signaturen, die wir in Vorderasien schon im frühen Altertum finden, wieder auflebt“. 40 Es ist die einzige Stelle, an der die strenge Geometrie des Klosterplanes durchbrochen wird, die den Garten als Teil einer civitas Dei entwirft. Nicht Raummangel bestimmt die Zusammenfügung, sondern die „Obstbäume mit ihrem Lebensrhythmus von Winterruhe, Blüte und Frucht, galten als Sinnbild der Auferstehung.“ 41 Die Vielfalt der Baumarten repräsentiert 35 Für das Grabmal Blanscheflurs trifft damit gleichfalls zu, was Gerd Dicke, „Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von Rotte und Harfe im Tristan Gottfrieds von Straßburg‟, in: ZfdA 127 (1998), S. 121-148, hier S. 145, für den Tristan festgehalten hat. 36 Der gesamte Baumgarten ist durch das Jahr hindurch belaubt und vermittelt jedem seiner Besucher Freude als in dem paradise (V. 4415). Die Reihe der künstlichen Vogelbäume ließe sich fortsetzen mit der Beschreibung des Gralstempels in Albrechts Titurel oder dem Rosengarten Kriemhilds (Rosengarten C), in dem 3000 künstliche Vögel auf den Zweigen einer Linde sitzen, in denen der Wind ein Zwitschern erzeugt. Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, hg. von Werner Wolf, Bd. 1, Berlin 1955 (DTM 45), S. 99 (Str. 392-394); Rosengarten C, in: Rosengarten. Teilband 3: Rosengarten C, Rosengarten F, Niederdeutscher Rosengarten, Verzeichnisse, hg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Svenja Nierentz, Berlin 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8/ 3), S. 443 (Str. 51-52). 37 Der St. Galler Klosterplan. Faksimile, Begleittext, Beischriften und Übersetzung, hg. Stiftsbibliothek St. Gallen, mit einem Beitrag von Ernst Tremp, St. Gallen 2014. 38 Ebd., S. 4f. 39 Hennebo (wie Anm. 26), S. 29. 40 Ebd.; Hennebo verweist auch zum Vergleich auf die Bronzetüren Bernwards von Hildesheim im Hildesheimer Dom. Dort findet sich in der Szene, in der Gott Adam zur Rechenschaft zieht, am linken Bildrand ein ganz ähnliches Rankenmotiv, das auf den Lebensbaum im irdischen Paradies verweise, dessen Zugang Gott im Begriff ist, Adam zu verweigern. 41 Ebd., S. 30. Die Bedeutung des Baumgartens für den Klosterplan insgesamt unterstreicht Tremp (Anm. 37), S. 32: „Im Baumgarten und Friedhof als Mittelpunkt und Abbild des Paradieses erreicht die Symbolik des Klosterplans ihren Höhepunkt.“ Bild und Geschichte 239 eher symbolische Fülle als einen geographisch gedachten Obstbaumbestand. Dies zeigen die fremden Früchte, wie etwa der Lorbeer- oder Feigenbaum, deren Bestand in einem Klostergarten der St. Galler Umgebung kaum gedeihen mag. 42 Die Hoffnung auf die Erneuerung des Lebens aus dem Tod begründet die Verschränkung von Friedhof und Paradiesgarten, das Ineinander von Tod und Erlösung. Die Erneuerung des Lebens aus dem Tod reflektiert auch die Beischrift zum Hochkreuz, denn sie lautet: ‚Unter diesen Hölzern der Erde ist das heiligste immer das Kreuz, an dem duften die Früchte des ewigen Heils. Um es herum sollen liegen die Leiber der verstorbenen Brüder; wenn es wieder erglänzt, mögen sie empfangen die Reiche des Himmels.‘ 43 Auch der Palast des Priamos vereint Architektur und künstliche Natur in einem Bild von Tod und Erneuerung. Zugleich nimmt die christliche Bildersprache Eingang in den Antikenroman. Trifft dieser Eindruck einer christlichen Ausdeutung des antiken Geschehens zu, so hat das Konsequenzen für den Entwurf von Geschichte, den Konrad seinem Erzählen des Trojanischen Krieges unterlegt. Im weltgeschichtlich bedeutsamen Geschehensablauf finde sich im neuerrichteten Troja ein Ort, an dem Zeit aufgehoben ist, da der künstliche Baum dem jahreszeitlichen Verlauf von Blüte, Ernte und winterlicher Ruhe nicht unterliegt, im deutlichen Gegensatz zu den Teilnehmern der Schlacht um Troja. Denn für das Kampfgeschehen greift Konrad immer wieder auf jahreszeitliche Bilder zurück. So beschreibt er Hektor als eine Figuration des Winters, wenn es heißt, er häufe die Toten auf, wie der eisige Wind den Schnee zusammentreibt (vgl. V.-36480). 44 Die Wappen und Fahnen der Kämpfenden erheben sich in der Weise, wie der Mai die Blumen sprießen lässt (V. 36884f.), doch wie vom Reif manche Blume welkt, so entfärbt Hektor manch lebendes Bild: als von dem kalten rîfen sich manic bluome felwet, sus wart von im geselwet vil manic lebendez bilde, daz tôt zuo dem gefilde vor siner angesihte schôz. (V. 36608-36613) Konrad schildert den ersten Kampf vor Troja im Bild des jahreszyklischen Zeitverlaufs, in der Folge von Aussaat und Ernte, über das Abfallen der Blätter bis hin zum eisigen Winter. Für den Wunderbaum dagegen fallen die Jahreszeiten ineins, denn die Vögel singen den winter und die sumerzît (V. 17595), im nicht endenden Schall des enwiderstrît (V. 17596), wohl als Übersetzung von alter ad alterum und damit als imitatio des zeitenthobenen Gesangs der Engel. 45 Der Stadt aber ordnet Konrad auf doppelte Weise Zeitlichkeit zu, linear und 42 Ebd. Tremp (wie Anm. 37), S. 32, führt als mögliche Vorlage für die Beschriftung der Bäume ein Kapitular Karls des Großen an: Nicht der Baumbestand einer Mönchsgemeinschaft der Reichenau, sondern eine Schriftquelle bestimmt die Beschriftung des Plans. 43 Inter ligna soli haec semper sanctissima crux est / In qua perpetuae poma salutis olent / Hanc circum iaceant defuncta cadauera fratrum / Qua radiante iterum Regna poli acciperant; zitiert nach Tremp (wie Anm. 37), S. 51. 44 Wie der Mai linden Tau ausgießt, so gießt Hector heißes Blut auf den Kies (V. 26122) und arbeitet wie ein Schnitter (V. 26148), während die Kämpfenden wie das dürre Laub vom Baum fallen (V. 25851- 25853), die Pfeile aber fliegen wie Schnee (V. 25870f.). 45 Die Charakteristika des himmlischen Lobgesangs der Engel als eines nie endenden Wechselgesangs in vollkommener Harmonie sind sine fine, una voce und alter ad alterum; vgl. Reinhold Hammerstein, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern 1962, hier S. 45. 240 Almut Schneider zyklisch zugleich. Denn ihrer Schönheit und Pracht misst er eine Zeitspanne in größtmöglicher Ausdehnung zu, die von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht reicht: unz an den jungestlichen tac wirt beschouwet niemer mê kein feste, diu sô schône stê, sô Troie stuont, diu wîte, ouch wart bî keiner zîte, sît daz diu welt gestiftet wart, kein stat von alsô rîcher art gebûwen ûf der erden. (V. 17678-17685) Zugleich deutet sich ein zyklischer Geschehensablauf an, wenn Hektor den Wiederaufbau Trojas im Blick auf das beständige Kreisen des Fortuna-Rades vorschlägt: waz, ob ir noch Gelückes rat / beginnent umbe trîben (V. 13332f.). V. Geschichte in Konrads Erzählen Im Gegensatz zur Vorstellung von Rom als der ,ewigen Stadt‘ (Roma aeterna) ist für Troja mit der Nennung des Stadtnamens schon die Geschichte von Zerstörung und Erneuerung mit aufgerufen, die sich als ein zyklisches Geschehen in der Folge von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion immer wieder vollzieht. Berichtet Konrad von der ersten Zerstörung Trojas, ihrem Wiederaufbau durch Priamos, und muss seine Erzählung auf die zweite Zerstörung durch den Trojanischen Krieg hinstreben, so liegt in dieser spezifischen Form der Narrativierung des Geschehens selbst wiederum ein Akt der Rekonstruktion begründet. Auch dieser Prozess ist mit dem Programmwort des erniuwens umfasst. Dagegen bietet der künstliche Vogelbaum in seiner Zeitenthobenheit als ein ästhetisches Kunstwerk von Licht, Glanz und Harmonie auch ein Gegenstück zum Wirken der Discordia. 46 Unter ihm sitzen einhundert Ritter, nicht in seinem Schatten, wohl aber in seinem Glanz. Es ist ein Bild, das an die Tafelrunde erinnert und den Glanz höfischer Ritterkultur evoziert. Der Vogelbaum im wiedererrichteten Troja fügt so die Historie des Trojanischen Krieges mit dem Ritterethos der höfischen Kultur zu einem gemeinsamen Bild zusammen. Doch geht es dabei nicht zuerst um eine Feier höfischer Idealität, sondern, unter der Perspektive einer Verschränkung von Tod und Erlösung, um die Hoffnung auf die Erneuerung des Lebens aus dem Tod. Denn das Leid der Kämpfenden ist so groß, dass Konrad es nicht auszählen kann: wie möhte ich ûf ein ende komen mit rechenunge und mit der zal, waz man dô volkes ûf dem wal ze tôde jaemerlîchen sluoc? (V. 37008-37011) 46 Auch die musica mundana scheint „ein Konzept gewesen zu sein, mittels dessen man die Bewegungen der Welt auf eine konstante Ordnung oder Harmonie, und insofern auf Bewegungslosigkeit zurückführen konnte“ (Frank Hentschel, „Unbewegte Beweger. Klang und Bewegung in mittelalterlichen Musikbegriffen“, in: Klang und Bewegung, hg. von Christa Brüstle und Albrecht Riethmüller, Aachen 2004, S. 41-59, hier S. 53). Zu verstehen ist dies wohl auch in dem Sinne, dass es nicht gelingen kann, das Wirken der misstönenden Discordia, der missehellung, in die Zahlhaftigkeit harmonischer Verskunst rückzubinden. Es ist ein Leid, das nicht in kunstvolle Worte gefasst werden kann. Der Trojanische Krieg erzählt von einer zutiefst erlösungsbedürftigen Welt. Auf der Figurenebene findet dieses Leid Ausdruck einerseits in der Klage Helenas, jemals geboren worden zu sein, weil sie die Schuld am grausigen Geschehen ihrer Schönheit zumisst: ach got, daz ich ie schoene wart / und ie sô klâren lîp gewan (V. 33968f.). 47 Ihre Klage mündet in den Wunsch, man solte mich versteinen (V. 33980). Auf der anderen Seite steht Achills Verzweiflung angesichts des Todes seines Gefährten Patroclos, den er in den Versen äußert: owê, daz ich ze tôde mac / mich selber niht geweinen (V. 38816). In der Zerstörung Trojas spiegelt sich die Zerstörung des Höfischen. Die Antwort darauf aber kann nur bei Gott liegen: got in den himelkoeren den möhte hân erbarmet die nôt, daz dâ verarmet sô maniger wart des lebetagen. (V. 36468-36471) Doch ebenso ist es Gott, der dem Dichter alles Kunstvermögen als Gnade geschenkt hat. Gotes gunst aleine (V. 77), darauf beruht alles Vermögen des Dichters, wie Konrad im Prolog ausführt. Konrads Kunstanspruch findet seinen letzten Grund damit in der Rückbindung an Gottes Gunst. Das religiöse Zentrum allen Kunstschaffens ist noch nicht aufgegeben. 48 Erlösung angesichts des Grauens des Krieges und das Kunstvermögen - beides liegt letzten Endes in Gottes Hand, und doch ist es die Aufgabe des Dichters, mit all seiner Kunstfertigkeit die Geschichte Trojas zu erniuwen / mit worten lûter unde glanz (V.-274f.). Konrads Auseinandersetzung um das Geschichtliche ist eng verbunden mit seinem ästhetischen Anspruch, der sich doch nicht als eine Feier seiner Kunst offenbart, sondern gleichfalls von der Hoffnung auf Erlösung durch Gnade getragen ist. Deren Echo aber, der Abglanz göttlicher Gnade, kann in der Kunst liegen. So mündet seine Beschreibung des Jupiter-Standbildes in die Verse: swaz ich von der hystôrje nime, daz künde ich hie ze tiute: sich heten wîse liute geflizzen ûf daz bilde sîn, daz gap sô liehtebaeren schîn, daz mich sîn iemer wundert, 47 So wie die Ilias in der Begegnung Hektors mit seiner Mutter, Helena und Andromache im sechsten Gesang - als ein Innehalten der Schlacht - der weiblichen Stimme Raum gibt, so kennt auch Konrads Roman eine weibliche Stimme, die in der Klage Helenas erklingt. Helenas Glanz aber motiviert zu weiteren Kämpfen und überstrahlt dabei das Leuchten und Glänzen der Schwerter und Rüstungen. Vgl. Homer, Ilias, Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart 1979 (Universal-Bibliothek 249); zur Dichtkunst Homers Jonas Grethlein, Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens, München 2017, S. 22-39. 48 Vgl. Almut Schneider, „Das Gewebe der Sprache. Poetische Kreativität bei Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg“, in: Medieval Theories of the Creative Act / Theorien des kreativen Akts im Mittelalter / Théories médiévales de l’acte créatif, Freiburger Colloquium 2015, hg. von Elisabeth Dutton und Martin Rohde, Wiesbaden 2017 (Scrinium Friburgense 38), S.-87-102; Jan-Dirk Müller, „Überwundern - überwilden. Zur Ästhetik Konrads von Würzburg‟, in: PBB 140 (2018), S. 172-193. Bild und Geschichte 241 242 Almut Schneider sîn glanz wart ûzgesundert. (V. 17644-17650) Im Transformationsprozess des Troja-Stoffes hin zu einer Erzählung, die der Auslegung bedarf (ze tiute), 49 liegt auch ein Deutungsmuster des Figuralen begründet. Konrad lenkt den Blick von der Statue auf den Glanz ihrer Oberfläche. Nicht an einer festgefügten Deutung ist ihm gelegen, sondern an Dynamisierung, an dem ‚Wunder‘, das auch den Erzähler ergreift. Konrad formt seine Erzählung des Trojanischen Krieges so, dass gemäß der Denkform der Typologie das antike Troja und die höfische Kultur des Mittelalters wechselseitig aufeinander transparent werden. Die Begrifflichkeit des Typologischen, so zeigt Ulrich Johannes Beil, referiert nicht auf zwei strikt voneinander getrennte Bereiche, vielmehr zeige sich, „dass sie, wie Agamben betont hat, eine Spannung, eine Beziehung zum Ausdruck bringt, eine ‚untrennbare Konstellation‘.“ 50 Kristallisationspunkt einer solchen wechselseitigen Abbildung ist in Konrads Trojanerkrieg der Wunderbaum im Hof von Trojas palas, der mit seiner Nähe von Friedhof und zugleich Paradiesgarten das Leid des Krieges und die christliche Hoffnung auf Erlösung in höchster Kunstfertigkeit in einem Artefakt zusammenführt. Im synästhetischen Kunstwerk des Vogelbaumes - zwischen höchster Artifizialität und Natur - wird die dichterische Sprachkunst als Zentrum der Verbindung von Historiographie und Mythographie wahrnehmbar. 51 Zugleich verdichtet sich im Bild des künstlichen Baumes der Blick auf die Zeit in ihren beiden Erscheinungsformen, dem linearen Verlauf der fortschreitenden Historie wie dem zyklischen Verlauf der Wiederholung. Mittels des Wunderbaumes wird „Troja“ als Chiffre für den Kreislauf von Zerstörung und Erneuerung christlichen Denkmodellen geöffnet. Konrad setzt damit in seinem Erzählen ein Konzept von Geschichte an: eines von Voraussetzung und Erfüllung, das „Troja“ weniger als Wiege höfischer Ritteridealität versteht, vielmehr erweisen sich Historia und höfische Gegenwart als zwei spiegelbildlich angelegte Erzählungen von Untreue, Verrat, Zerstörung und Leid, aufgefangen und gehalten in der Utopie eines Wunderbaumes, der ein Moment von Zeitlosigkeit und Glanz trägt und darin paradiesische Hoffnung vermittelt. 49 Als diejenigen Begriffe, die im Deutschen für typologische Zusammenhänge stehen, führt Rudolf Suntrup (wie Anm. 5), S. 60, bilde sowie bizeichenunge, lere, betiuten, bezeichen, gelichen, ebenmazen, ewic, her himelsch, lebendic, niuwe, suez, war auf. 50 Vgl. Ulrich Johannes Beil, „Vom Typos zur Typologie. Ansätze figurativen Denkens bei Paulus“, in: Figura (wie Anm.-5), S. 21‒49, hier S. 37. Das Messianische wäre demnach bei Paulus „kein drittes Zeitalter“, sondern eine „Zone nicht zuweisbarer Indifferenz, in der die Vergangenheit in die Gegenwart verschoben und die Gegenwart in die Vergangenheit ausgedehnt wird“ (ebd., S. 37f.). Vgl. auch Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, S. 87f. 51 Damit verdichtet sich im Vogelbaum die Spannung zwischen Natur und Kunst, die Konrad in der Metaphorik seiner Schlachtbeschreibung austrägt, wenn er dafür neben „betont artifizialen Metaphern“ (Gebert, wie Anm. 4, S. 261f.), auf das Bildfeld der Natur ausgreift. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik Nine Miedema I. Einleitung Rudolfs von Ems Mitte des 13. Jahrhunderts entstandener, unvollendet gebliebener Weltchronik wird nachgesagt, dass sie starken Einfluss der höfischen Klassik aufweise. 1 Mathias Herweg zufolge ist eines der Kennzeichen der „signifikant höfische[n] Konzeption und Lesart“ von Rudolfs Chronik die spezifische Gestaltung des Erzählers, 2 ein weiteres, dass die „Protagonisten als struktureller Fokus“ verwendet werden. 3 Der Text bietet damit die Möglichkeit, in Fortsetzung aktueller narratologischer Forschungen 4 zu erkunden, inwiefern sich hier sowohl auf der Ebene des Erzählers als auch der Figuren ‚Emotionalisierungsstrategien‘ 5 nachweisen lassen, hat sich doch in der germanistischen Mediävistik spätes- 1 Mathias Herweg, „Erzählen unter Wahrheitsgarantie. Deutsche Weltchroniken des 13. Jahrhunderts“, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott, Berlin/ Boston 2016, S.-145-179, hier S.-156-159. Bereits Horst Wenzel prägte den Begriff der ‚höfischen Geschichte‘ und sprach vom „unverkennbar höfische[n] Charakter“ der Weltchronik Rudolfs von Ems: Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern u. a. 1980 (Beiträge zur Älteren deutschen Literaturgeschichte 5), zu Rudolf von Ems S.-71-87, hier S.-75. 2 Da Fragen des Genders bei der Erzählerfigur in Rudolfs von Ems Weltchronik keine Rolle spielen, wird im Folgenden statt der Bezeichnungen ‚Erzählinstanz‘ oder ‚Erzählerfigur‘ der Begriff ‚Erzähler‘ verwendet. Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S.-88, rückt die Erzählerstimme mittelalterlicher Werke in die unmittelbare Nähe des Autors, die „fremde Stimme“ wirke „allenfalls als Modulation seiner eigenen“; wichtig erscheint jedoch gerade mit Blick auf Rudolf von Ems, dass beim Vergleich der ihm zugeschriebenen Werke untereinander ein deutliches Bewusstsein möglicher, differierender Erzählerrollen (bei grundsätzlich gleichbleibendem Autor) erkennbar wird. Der Ausdruck eines ‚Erzählers in der Autorrolle‘ scheint mir damit am besten geeignet, die Formen mittelalterlicher Ich-Erzähler zu beschreiben. 3 Beide Zitate nach Herweg (wie Anm.-1), S.-157. 4 Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44); Glauch (wie Anm.- 2); Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin u. a. 2010 (Trends in Medieval Philology 19); Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin u. a. 2012; Wolf Schmid, Mentale Ereignisse. Bewusstseinsveränderungen in europäischen Erzählwerken vom Mittelalter bis zur Moderne, Berlin/ Boston 2017 (Narratologia 58); Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum, hg. von Eva von Contzen und Florian Kragl, Berlin u. a. 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 7). 5 Entscheidende Anstöße zur Erforschung der literarischen Darstellung von Affekten und Emotionen im Mittelalter gab der Sammelband Codierungen von Emotionen im Mittelalter/ Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin/ New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1). Für die vorliegenden Untersuchungen wenig zielführend ist Irmgard Rüsenberg, Liebe 244 Nine Miedema tens durch Gert Hübners Monographie (vgl. Anm.- 4) deutlich gezeigt, dass es trotz aller Differenzen zwischen modernen und älteren Erzähltexten ein sehr sinnvoller Ansatz sein kann, die spezifische Art des Erzählens mittelalterlicher Texte mithilfe erzähltheoretischer Beschreibungskategorien genauer zu erfassen. 6 Dabei wird speziell die hochmittelalterliche Figurenkonstitution mit ihrer „neuen Kultur der Innerlichkeit“ 7 und ihrem Emotionalisierungspotenzial zu fokussieren sein. Chronikalische Texte gerieten im Bereich narratologischer Untersuchungen vor dem vorliegenden Sammelband noch nicht sehr häufig in den Fokus: Zu nennen ist vor allem Alastair Matthews, der sich auf die um 1150 entstandene Kaiserchronik konzentrierte; 8 weitere Anregungen speziell zum Erzähler in Rudolfs von Ems Weltchronik gaben Mathias Herweg und Moritz Wedell. 9 und Leid, Kampf und Grimm. Gefühlswelten in der deutschen Literatur des Mittelalters, Köln u. a. 2016. Friedrich Michael Dimpel und Hans Rudolf Velten, „Sympathie zwischen narratologischer Analyse und Rhetorik - Einleitung“, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von dens., Heidelberg 2019 (Studien zur historischen Poetik 23), S.-9-29, hier S.-11, beschreiben Sympathiesteuerung als ein „dynamisch-variables System“, das als ein „Instrument zur Modellierung des Rezeptionsverhaltens“ verwendet werden könne. Katharina Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Literatur, Berlin/ Boston 2013 (Hermaea, N. F. 131), S.-313-374, weist zu Recht darauf hin, dass lediglich die Repräsentationen von Emotionen erforscht werden können, nicht die Emotionen selbst (vgl. auch Rüdiger Schnell, Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions, 2-Bde, Göttingen 2015). Vgl. auch Glauch (wie Anm.-2), S.-85: An die Stelle von emotionaler Beteiligung tritt „rhetorische Intensität der Sprache und kommentierend-bewertende Einmischung“, als „sekundäre[] Anteilnahme“. Betont sei hier allerdings, dass die antike und mittelalterliche Rhetorik das movere der Zuhörerschaft als ein wichtiges Ziel der narratio und peroratio kennt und entsprechende Strategien zu dessen Erzeugung vorschlägt, so dass ein Begriff wie ‚Emotionalisierungsstrategien‘ nicht grundsätzlich anachronistisch ist (Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 4 2008, §-330-334, 436-439, vgl. §-263): „Zu Stoffen wichtigerer Bedeutung paßt […] ein freieres Spiel der Affekte“ (Lausberg, S.-184); durch die „Pathoserregung“ werde eine „günstige Atmosphäre für die Wirkung der argumentatio“ geschaffen (ebd., S.- 185), wobei als zu bewirkende Affekte ira und miseratio, S.-185, bzw. spes und metus (‚Besorgnis‘), S.-238, genannt werden. Vgl. auch Dimpel und Velten (wie Anm.-5), S.-16. 6 Der vorliegende Beitrag bezieht sich ausschließlich auf Texte; das Zusammenspiel von Text und Bild in den illustrierten Codices der Weltchronik zu untersuchen, würde den Rahmen des Beitrags sprengen. Vgl. dazu zuletzt Martin Roland, „Erzählstrategien der Bildprogramme zur ‚Weltchronik‘“, in: Rudolf von Ems. Beiträge zu Autor, Werk und Überlieferung, hg. von Elke Krotz u. a., Stuttgart 2020 (ZfdA, Beihefte 29), S.-301-324 (ich danke Herrn Roland für die freundliche Bereitstellung des Manuskriptes bereits vor der Drucklegung des Sammelbandes). Roland weist nach, dass für die Weltchronik bezüglich des Layouts der bebilderten Handschriften offenbar bereits um 1300 ein ganzes Repertoire unterschiedlicher Illustrationsmöglichkeiten zur Verfügung stand; er spricht von einem „Baukastensystem[-]“ (S.-322). 7 Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S.-221; vgl. z. B. auch Markus Stock, „Figur. Zu einem Kernproblem historischer Narratologie“, in: Historische Narratologie (wie Anm.-4), S.-186-203, hier S.-200, zur neuen Konzeption der Figuren im 12. Jahrhundert und zur damit verbundenen „privilegierte[n] Sicht in ihr Inneres“. Allgemein zur Konstitution von Figuren in Erzähltexten: Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/ New York 2004 (Narratologia 3). 8 Alastair Matthews, The ,Kaiserchronik‘. A Medieval Narrative, Oxford 2012 (Oxford Modern Languages and Literature Monographs); ders., „Der Erzähler im Text. Zur Kaiserchronik aus narratologischer Sicht“, in: Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen crônicâ. Festgabe für Wolfgang Haubrichs zu seiner Emeritierung, hg. von Nine Miedema und Matthias Rein, St. Ingbert 2017, S.-123-145. 9 Herweg (wie Anm.-1); Moritz Wedell, „Poetische willekür. Historiographie zwischen Inspiration und rhetorischer Produktion in Rudolfs von Ems ‚Weltchronik‘“, in: ZfdPh 132 (2013), S.-1-28. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 245 Die Untersuchungen in diesem Beitrag widmen sich der Frage der Repräsentation von Emotionen in Rudolfs von Ems Weltchronik und dem möglichen emotionalen Wirkungspotenzial solcher Textpassagen, zunächst in Bezug auf den Erzähler (II), sodann mit Blick auf die intradiegetischen Figuren (III). Dabei soll keine schlichte Gleichsetzung von dargestellten Affekten der Figuren, literarisch codierten Emotionen und potenziellen gefühlsmäßigen Reaktionen mittelalterlicher und heutiger Rezipientinnen bzw. Rezipienten vorgenommen werden - seit den Untersuchungen von Katja Mellmann ist die Problematik der Annahme einer mimetischen Empathie, insbesondere für ältere Literatur, ja sehr deutlich geworden. 10 Analysierbar ist jedoch, wie die Texte die Emotionen der Figuren, inklusive der Erzählerinstanz, darstellen, welche Effekte diese auf andere intradiegetische Figuren haben und welche Einflüsse damit möglicherweise auch auf die textexternen Rezipienten bzw. Rezipientinnen ausgeübt werden sollen. Entscheidend ist dabei, dass die höfischen Romane besondere Formen der Psychonarration (Innensicht, Formen fingierter Subjektivität), z. B. durch Informationsfilter und Fokalisierung, sowie der Sympathielenkung und Empathiegenese aufweisen. Rudolf von Ems standen die vollständigen Gestaltungsmöglichkeiten hochmittelalterlicher literarischer Erzähler- und Figurenkonstitution bereits zur Verfügung; welche dieser Möglichkeiten nutzte er in der Weltchronik? Angestrebt wird damit ein Beitrag zu einer näheren, narratologischen Bestimmung dessen, was für Rudolfs Chronik als ‚höfische‘ Formen des Erzählens bezeichnet werden könnte. II. Der Erzähler in Rudolfs von Ems Weltchronik Wie in mittelalterlichen Erzähltexten generell vorherrschend, findet sich auch in Rudolfs Chronik ein extradiegetischer, heterodiegetischer bzw. ein nicht-diegetischer 11 Ich-Erzähler 10 Katja Mellmann, „Gefühlsübertragung? Zur Psychologie emotionaler Textwirkungen“, in: Machtvolle Gefühle, hg. von Ingrid Kasten, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S.-107-119. Als Beispiel kann dienen, dass die Beschreibung der Verliebtheit einer Figur nicht in der Weise gespiegelt wird, dass auch die Rezipientin bzw. der Rezipient diese Verliebtheit empfindet; sie bzw. er wird durch die Darstellung der Verliebtheit dennoch in irgendeiner Form emotional affiziert. Vgl. auch dies., Emotionalisierung - von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn 2006 (Poetogenesis 4); Dimpel und Velten (wie Anm.-5), S.-13, führen aus, dass Sympathiesteuerung wertungsbezogen ist, während Empathie wertungsfrei mit allen Emotionen verbunden sein kann. Für die grundsätzliche Möglichkeit einer Analyse literarischer Emotionalisierungsstrategien und ihres Einflusses auf den Rezeptionsprozess plädiert z. B. Kathrin Fehlberg, Gelenkte Gefühle. Literarische Strategien der Emotionalisierung und Sympathielenkung in den Erzählungen Arthur Schnitzlers, Marburg 2014. 11 Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin/ Boston 3 2014, S.-84. Denkbar ist, dass dieser Erzähler im Rahmen der jüngsten (sechsten) aetas die Rolle des ‚Erzählers und Akteurs‘ übernommen hätte, wenn Rudolf das Werk vollendet hätte (vgl. zur Rolle des Akteurs Gert Hübner, „Ich-historien. Gregor von Tours als Erzähler und Akteur“, in: Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens, hg. von Sonja Glauch und Katharina Philipowski, Heidelberg 2017 [Studien zur historischen Poetik 26], S.- 465-485). Ansätze hierzu scheint der Prolog zur fünften aetas zu entwickeln, indem der Erzähler hier die jugent und uf gende[-] kraft (V.-21706) des Kaisers Konrad IV. betont, von dem das Werk in Auftrag gegeben wurde (V.-21656-21707) - damit möglicherweise implizierend, dass Rudolf sich, Gregor von Tours vergleichbar, in seiner Jetztzeit als den Kaiser aktiv beratend hätte darstellen können (Hinweise auf die Wichtigkeit der Beratung bzw. guter Ratgeber finden sich etwa in V.-11404-11475, 21610, 29861-29866; vgl. dazu Dirk J. C. Zeeman, Stilistische Untersuchungen über Rudolf von Ems’ Weltchronik und seine beiden Meister Gottfried und Wolfram, Amsterdam 1927, S.-54). Im überlieferten Texttorso fehlt jedoch das erlebende Ich (vgl. Sonja Glauch, „Ich-Erzähler ohne Stim- 246 Nine Miedema (Nullfokalisierung), der mit besonderer Deutlichkeit in den Rahmentexten auftritt, darüber hinaus jedoch auch des öfteren die Erzählung in der Diegese unterbricht. Der Erzähler erzählt dabei nah an den ‚biographischen‘ Abläufen des Lebens der Protagonisten bzw. Protagonistinnen. Vielleicht hat dies dazu veranlasst, Rudolfs Text als die „Darstellung [einer] weltlichen Geschichte“ zu beschreiben 12 - demgegenüber erwägt Jürgen Wolf jedoch, Rudolfs Weltchronik vielmehr als Bibeldichtung einzuordnen. 13 Zwar hätte das letzte Buch der Chronik die Geschichte bis in die Lebenszeit Rudolfs hinein fortsetzen und somit auch nicht-biblische Fürsten behandeln müssen; wie in der Kaiserchronik wäre bei Rudolf dennoch die Abfolge der weltlichen Kaiser ebenfalls notwendigerweise die Erfüllung christlich-geistlicher Heils prophezeiung. Die Weltchronik beginnt jedes neue Weltalter mit einem (Binnen-)Prolog, der das Erzähler-Ich nachdrücklich in den Fokus rückt: 14 aetas I V.-1-866; Prolog = V.-1-188, Akrostichon RVODOLF; Schöpfung, Adam II V.-867-3793; Binnenprolog = V.-867-900; Akrostichon NOE III V.-3794-8797; Binnenprolog = V.-3794-3877; Akrostichon ABRAHAM IV V.-8798-21517; Binnenprolog = V.-8798-8867; Akrostichon MOISES V V.-21518- [unvollendet]; Binnenprolog = V.-21518-21740; Akrostichon DAUID [VI] [Christus] Vor allem die explizite Erzählerdarstellung 15 zeigt zwar kein ‚Ich mit Leib‘, wohl aber ein Ich mit einer deutlich vernehmbaren Stimme. Insbesondere der fünfte Prolog, der einleitend zu me. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte“, in: Historische Narratologie [wie Anm.-4], S.-149-185, hier S.-153); sogar Aktualisierungen durch Verweise auf die Jetztzeit, wie von Matthews, The ‚Kaiserchronik‘ (wie Anm.-8), S.-119, 144f., beschrieben, sind relativ selten (Beispiele finden sich etwa in V.-293, 338, 1967f., 2464, 3203). Zitiert nach: Rudolfs von Ems Weltchronik aus der Wernigeroder Handschrift, hg. von Gustav Ehrismann, Berlin 1915 (DTM 20), Nachdruck Dublin/ Zürich 1967 (vgl. auch http: / / www.mhdwb-online.de/ Etexte/ PDF/ RWCHR.pdf, letzter Abruf 8.9.2019); alle Hervorhebungen sind von meiner Hand, N. M. 12 Wedell (wie Anm.-9), S.-14. 13 Siehe Jürgen Wolf, „Rudolf von Ems als Bibeldichter? Weltchronistik und biblische Geschichtsschreibung“, in: Rudolf von Ems. Beiträge zu Autor, Werk und Überlieferung (wie Anm.- 6), S.- 267-280 (ich danke Jürgen Wolf, dass er mir das Manuskript seines Beitrags bereits vor der Drucklegung des Sammelbandes zur Verfügung gestellt hat). 14 Abbildungen des Erzählers in den Miniaturen wie bei Wolframs von Eschenbach Willehalm (vgl. Horst Wenzel, „Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorenfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen“, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1995, S.- 1-28, vor allem S.- 9f.) scheinen für Rudolfs Weltchronik nicht überliefert zu sein. Zur Hervorhebung der Prologe durch Akrosticha siehe z. B. Helmut Brackert, Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte, Heidelberg 1968, S.-15; Danielle Jaurant, Rudolfs ‚Weltchronik‘ als offene Form. Überlieferungsstruktur und Wirkungsgeschichte, Tübingen/ Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 34), S.-292. Zur Struktur des Werks vgl. Brackert, S.-174-184; Jaurant, S.-292; Zeeman (wie Anm.-11), S.-11; zur mit dieser Struktur verknüpften Vorstellung von Zeit Gert Melville, „Die Wege der Zeit zum Heil. Beobachtungen zu mittelalterlichen Deutungen der Menschheitsgeschichte anhand der ‚Weltchronik‘ des Rudolf von Ems“, in: Zeitenwende - Wendezeiten, hg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2001 (Dresdner Hefte für Philosophie 3), S.-159-179. Den Stil der Prologe analysiert Jaurant, S.-292f., die in den Binnenprologen „bewußte Anknüpfungen an den [ersten, N. M.] Prolog“ feststellt, „dessen Formulierungen sie zuweilen nur leicht abgewandelt aufgreifen“ (ebd., S.-293); als Beispiele nennt sie V.-159f. und 886-888 sowie V.-122-124 und 8846f. 15 Schmid (wie Anm.-11), S.-71-73, 80. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 247 Davids aetas Konrad IV. als Auftraggeber nennt, verankert den Text wie auch dessen Autor im höfisch-kulturellen Umfeld adligen Mäzenatentums. 16 Rudolf setzte mit der Weltchronik jedoch nicht nur Konrad IV., sondern auch sich selbst ein eweclih memorial (V.- 21697): 17 Die Nennung Rudolfs im Akrostichon des ersten Prologs verbindet ihn auf der Textebene mit Gott, 18 der in diesen Versen demütig angerufen wird (Richter Got, […] / Lob und ere si dir geseit! , V.-1-6), sie stellt ihn jedoch außerdem in eher unbescheidener Bescheidenheit auf die gleiche Ebene wie Noah, Abraham, Mose und David, die zu Beginn ihres Zeitalters ebenfalls jeweils ein Akrostichon erhalten. 19 Darüber hinaus exponiert der erste Prolog Rudolf als „Herold des göttlichen Heilstuns […], der sich kraft göttlicher Inspiration dazu bestimmt sieht, im Erzählprozess die Schöpfung quasi ein zweites Mal, dichterisch, nachzuformen“. 20 Der Prolog präsentiert Rudolf „als gläubige[n] Christ[en] und als poeta doctus, als Sprachrohr Gottes und als Chronist[en] der Weltgeschichte“, 21 sich dabei den rhetorischen Idealen der brevitas und des stilus humilis verpflichtend und gleichzeitig ein stilistisches „Feuerwerk“ gestaltend. 22 Wedell hat in seiner differenzierten Analyse gezeigt, dass sich im ersten Prolog nach religiösen und höfischen Mustern ein Erzähler als Inspirierter und ein Erzähler als Schöpfer unterscheiden lassen. 23 Wedells Untersuchung konzentriert sich 16 Siehe dazu Brackert (wie Anm.-14), S.-83-91. Zur auffälligen Wahl der deutschen Sprache für dieses Auftragswerk siehe Xenja von Ertzdorff, Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen Roman im 13. Jahrhundert, München 1967, S.-108-110. Sie vermutet, die Wahl der deutschen Sprache habe sich aus der Aufgabe des Werkes ergeben, der „Information - und Beeinflussung - des höfischen Publikums“ zu dienen; „[u]m bei den literarisch Gebildeten unter seinen Anhängern und Gegnern für seinen [Konrads IV.] Anspruch zu werben, mußte er sich auch ihrer - deutschen - Literatursprache bedienen“ (ebd., S.-110). 17 Mathias Herweg, „Konrad IV. und die ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems. Ewiclich memorial und imperiale Agenda vor neuem Quellenhorizont“, in: ZfdPh 128 (2009), S.-397-420, vor allem S.-417-420. 18 Ebd., S.-418. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es unerheblich, dass kaum eine der erhaltenen Handschriften die Akrosticha fehlerfrei überliefert (siehe dazu Wolf [wie Anm.-13]); entscheidend ist die erkennbare gestalterische Absicht des Autors. Zur lückenhaften Überlieferung des (ersten) Prologs vgl. zusammenfassend bereits Jaurant (wie Anm.-14), Falttafel zwischen S.-270 und 271. 19 Vgl. Jaurant (wie Anm.-14), S.-292, zum Spannungsfeld von Demut und Stolz in diesen Versen. Bescheiden bleibt Rudolf, insofern er sich im ersten Prolog verewigt, der die in gewissem Sinn unperfekteste der aetates einleitet. Bescheiden bleibt er außerdem, wie Jan-Dirk Müller, „Anfang vor dem Anfang“, in: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier, Berlin/ Boston 2017 (Literatur - Theorie - Geschichte 12), S.-15-39, hier S.- 31, ausführt, indem er den „prekäre[n] Anfang der Dichtung“, der der göttlichen Inspiration bedarf, „kontrastierend mit der Anfangslosigkeit Gottes […] verknüpft“. Viele illuminierte Handschriften der Weltchronik stellen dem Text ein Autorbild voran (vgl. Wenzel [wie Anm.-14], S.-9f.), das die Position des Autors/ Erzählers zumindest sekundär hervorhebt. 20 Herweg (wie Anm.-1), S.-158; ders. (wie Anm.-17), S.-418; vgl. auch Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin/ New York 2010 (MTU 139), S.-103-107. 21 Jaurant (wie Anm.-14), S.-290. 22 Zur brevitas siehe V.-177, 877f., 3798, 3800, 3803, 3819 (und seitens des Fortsetzers V.-33487), zum sermo humilis (slihte) insbesondere V.-3797 (vgl. V.-33488). Zur mittelalterlichen Forderung nach einem einfachen Stil für Texte, die den Anspruch erheben, biblische Wahrheit zu erzählen, vgl. Brackert (wie Anm.-14), S.-236; zum Spannungsfeld von descriptio und brevitas Herweg (wie Anm.-1), S.-158 und 153 („[d]as Ideal der Kürze wird durch das der Totalität konterkariert“; vgl. vor ihm bereits Ingrid von Tippelskirch, Die ‚Weltchronik‘ des Rudolf von Ems. Studien zur Geschichtsauffassung und politischen Intention, Göppingen 1979 [GAG 267], S.-64-68); zum Kontrast von stilus humilis und betonter Selbstreferenzialität Herweg (wie Anm.-1), S.-158. Das Zitat nach Herweg (wie Anm.-17), S.-419. 23 Wedell (wie Anm.-9). 248 Nine Miedema auf den ersten, Herwegs Analyse auf den fünften Prolog; 24 die Frage nach dem Einfluss der höfischen Epik auf den Erzähler außerhalb der Prologe in Rudolfs Weltchronik ist somit noch zu beantworten. Marie-Laure Ryan umreißt anhand moderner Erzähltexte drei Funktionen von Erzählinstanzen, die versuchsweise auch für mittelalterliche Werke angewendet werden können: 25 die selbstexpressive (oder selbstreflexive), den Prozess des Gestaltens der materia betonende creative function des Erzählers, 26 die performative transmissive function 27 und die assertive testimonial function. 28 Während Matthews sich bei der Zuweisung der creative function an die Erzählinstanz der Kaiserchronik zurückhaltend zeigt, beziehen sich Herweg und Wedell, ohne Ryans Terminologie zu verwenden, für die Weltchronik insbesondere auf diese Erzählerfunktion. 29 Sie ist auch außerhalb der Prologe in Rudolfs Werk sehr häufig nachweisbar, zumeist im Sinne eines Hinweises auf ein „chronological rearrangement“ oder auf „economy versus digressivity“ (vgl. Anm.- 26). Dies sei hier lediglich anhand einiger weniger Beispiele belegt: aetas I V.-603-606 vierzic und aht hundirt jar wart uz gesundirt Malaleche, den ich nande ê, und fúnf und zweinzic jare me […] II V.-3368-3369 die nennich ouh hie nah der zit alse der antreite zit gelit. III V.-8591-8593 welhe in dén landen andirswa kúnege werin bi dén tagen, das wilih ouh her undir sagen. IV V.-10439 des ih alhie ein teil wil sagen V V.-22400 […] ih davon niht sprechin wil. Die transmissive function ist dagegen außerhalb der (Binnen-)Prologe deutlich schwerer nachweisbar. Im Rahmen der ersten aetas wird vermerkt, […] dú rede irgie / bezeichenlich, ich sage iuh wie (V.-467f.); an dieser Stelle scheint mit dem Leitwort bezeichenlich darauf hingewiesen zu werden, dass allegorische bzw. typologische Elemente folgen, die als für die Gattung („genre“, vgl. Anm.-27) der Chronik untypisch aufgefasst werden könnten. Auch im 24 Vgl. auch die Hinweise von Sandra Linden zum ersten, dritten und vierten Prolog von Rudolfs Weltchronik im vorliegenden Sammelband. 25 Marie-Laure Ryan, „The Narrational Functions. Breaking Down a Theoretical Primitive“, in: Narrative 9 (2001), S.-146-152, vor allem S.-147. Vgl. Matthews, „Der Erzähler“ (wie Anm.-8), S.-129f. 26 „The creative function covers, for instance, such phenomena as control of rhetorical devices, speed, stance, self-presentation, chronological rearrangement, alternation between diegetic and mimetic narration, or economy versus disgressivity“ (Ryan [wie Anm.-25], S.-148). 27 „A description of the transmissive function will ask: is the narrative written or oral; what is the channel of communication; in what genre is the narrator narrating; to what extent are the generic norms respected? “ (ebd.). Dieser Beschreibung entsprechend wären einige der von Matthews, „Der Erzähler“ (wie Anm.- 8), S.- 134-137, als Belege der transmissive function beschriebenen Textstellen möglicherweise eher als Beispiele für die testimonial function zu verstehen. 28 „The testimonial function subsumes questions of reliability, of source of knowledge, of sincerity, and of authority“ (Ryan [wie Anm.-25], S.-148). 29 Matthews, „Der Erzähler“ (wie Anm.-8), S.-138-141; Herweg (wie Anm.-1); Wedell (wie Anm.-9). Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 249 Zusammenhang mit den biwege[n] (V.-3114), die als bewusst markierte Ausflüge in andere Gattungen aufgefasst werden können, lassen sich Textstellen finden, die möglicherweise als Manifestationen der transmissive function des Erzählers zu verstehen sind (hier aus der zweiten aetas): die [die Nachkommen Noahs] ih almeistic nennin wil, so mich dú mere und ouh ir zil nah der antreite bringint hin, 3085 da ich ir mere sol von in sagin unde tihtin und ir getat berihtin: das nu sol belibin hie. Ih wil nu sagin wie ez irgie 3090 dort da ih ê dú mere lie […] Darüber hinaus mag gelegentlich ein Hinweis auf das mittelaltertypische Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegeben werden („written or oral“, vgl. Anm.-28). So findet sich etwa in der vierten aetas der Nebensatz als ih ez iuh hie vor las (V.-15727), der aufgrund des eingefügten Dativobjekts iuh als ein (im Rahmen von Rudolfs Weltchronik sehr seltener) Hinweis auf eine mündliche Weitergabe der Informationen (‚vorlesen‘) interpretiert werden kann. Die Belege für die testimonial function in Rudolfs Weltchronik in Gestalt von Wahrheits- und Quellenberufungen dagegen sind zwar nicht so zahlreich und systematisch verteilt wie im von Linus Ubl besprochenen Beispiel der Nürnberger Excerpta Chronicarum, 30 sie durchziehen aber dennoch in großer Zahl den vollständigen Text der Diegese: 31 aetas I V.-197 als ih iuh sage II V.-2267 das sprichich, wan ich hans gelesin III V.-5391 an der heiligin schrift ich las IV V.-9188 als ich han virnomen V V.-25438 als úns dú warheit tůt irchant 30 Vgl. den Beitrag von Linus Ubl in diesem Sammelband. Für Rudolfs Weltchronik wurden die Belege bereits von Zeeman (wie Anm.-11), S.-50-89, gesammelt; dessen stark wertende Interpretationen können hier außer Betracht gelassen werden (vgl. z. B. S.-189 zum angeblichen „erstarrten Formalismus“ in Rudolfs Werk). 31 „Wie die anderen Mittel stärkerer ‚Historisierung‘ - Augen- und Ohrenzeugenbericht, geschiht, Berufung auf fromme Gewährsmänner - dient diese Vereinfachung und Versachlichung des Berichts nicht der geschichtlichen Faktenwahrheit im modernen Sinne; es soll vielmehr der geschiht in ihrer Eigenschaft als ebenmaze der lere erhöhte Glaubwürdigkeit zuteil werden“ (Brackert [wie Anm.-14], S.-236f.). Von Tippelskirch (wie Anm.-22), S.-62, verweist zu Recht darauf, dass die Wahrheitsbeteuerungen Bestandteil der Exordialtopik sind; vgl. Lausberg (wie Anm.-5), §-275α. Herweg (wie Anm.-1) fasst diese Funktion unter der Formel des Erzählens „unter Wahrheitsgarantie“. Gelegentliche Bekundungen von Unkenntnis tun dem keinen Abbruch, vgl. z. B. V.-1847f.: Der Diamant ist ze manegin dingin gůt, / dú mir niht rehte sint bekant, ähnlich V.-2682 u. ö.; diese Textstellen sind in der Tabelle unten mit aufgeführt. 250 Nine Miedema Die Diegese weist, anders als die teils „rhapsodisch[-]“ 32 gestalteten (Binnen-)Prologe, einen stark belehrenden Duktus auf, der die Autorität des Erzählers unanfechtbar erscheinen lässt: Nur er verfügt über die materia und über die Wahrheit. Er involviert die Rezipientinnen bzw. Rezipienten an kaum einer Stelle in diesen sehr einseitigen Vermittlungsprozess; nur selten werden Fragen eines imaginierten Publikums antizipiert, und wenn dies geschieht, dienen die Fragen nicht, wie bei Hartmann von Aue in der Beschreibung von Enites Pferd, einer souverän autoreflexiven, metafiktionalen, poetologischen Ausgestaltung der Möglichkeiten fiktionaler Anreicherung eines vorgefundenen Stoffes, 33 sondern folgen dem Muster eines Lehrer-Schüler-Dialogs, bei dem ein Schüler kurze Fragen stellt, die lediglich die Funktion erfüllen, den Lehrer zur Darbietung eines enzyklopädischen Wissens zu veranlassen: was der bilande mere si? / dú mindir Frigia da lit […]. 34 Der Erzähler spricht in der Diegese somit, anders als in den Prologen und anders als in den höfischen Erzähltexten, die Rezipientinnen und Rezipienten allenfalls als passive, unbewegte Empfängerinnen und Empfänger seiner Lehre an. Die zitierten Demonstrationen der Beglaubigung und des Geltungsanspruchs sind an sich nicht ungewöhnlich, auffällig ist aber ihre Häufung - insbesondere im Vergleich zu älteren deutschsprachigen Chroniken, z. B. zur Kaiserchronik. Im Bewusstsein, dass die Bedeutsamkeit quantifizierender Angaben grundsätzlich anfechtbar ist, scheint die im Anhang zu diesem Beitrag wiedergegebene Tabelle doch einiges Aufschlussreiche zu enthüllen. 35 Erkennbar wird mithilfe der Tabelle, dass der Erzähler gerade zu Anfang der Weltchronik, in den ersten beiden aetates, in der Diegese in deutlicher Häufung auftritt - durchschnittlich alle 33, teilweise (in der zweiten aetas) sogar alle 22 Verse beruft er sich auf die Quellen und inszeniert sich als deren einzig autorisierter Vermittler. Dabei sieht Wedell in der Vermischung der unterschiedlichen Quellenbereiche den Versuch, im Sinne eines „profanen Autorschaftsverständnis[ses]“ „die Heilige Schrift und die außerbiblische Überlieferung annähernd gleichwertig zu einem Textreservoir zusammenzuschließen“. 36 Dass der Erzähler seine Berechtigung zur Wiederholung und zum Neuarrangement der biblischen Geschichte 32 Der Begriff wird von Jaurant (wie Anm.-14), S.-292, für den ersten Prolog verwendet. 33 Vgl. zum dialogisch gestalteten „witzige[n] Spiel zwischen Erzähler und Publikum, das als Charakteristikum literarischen höfischen Erzählens gilt“, Glauch (wie Anm.- 2), S.- 87; Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S.- 263-281, v. a. S.- 273-278 (mit weiterer Literatur zu solchen Formen der sermocinatio). Siehe außerdem Zeeman (wie Anm.-11), S.-78f. (Zitat S.-79): „Daß Rudolf in seinem Werk von diesem Mittel, das die stärkste Wirkung hätte hervorrufen können, nur einen äußerst spärlichen Gebrauch macht, wundert uns kaum, wenn wir bedenken, wie kühl beherrscht im allgemeinen seine Sprache ist, wie wenig er sich gibt.“ Zeemans diesbezügliche Abwertung der Leistung Rudolfs von Ems (S.-88f.) ist in diesem Zusammenhang wenig zielführend. 34 V.-2123f.; vgl. V.-1271, 2230, 5029f., 15300. Ob hier tatsächlich Fragen intendiert sind, kann nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden: Wird das in der Edition gesetzte, in den Handschriften nicht vorgegebene Fragezeichen durch einen Doppelpunkt ersetzt, handelt es sich vielmehr um die erzählerseitige, Überschriften vergleichbare Ankündigung weiterer Informationen. 35 Zum Vergleich: In der Kaiserchronik finden sich innerhalb der ersten 1000 Verse der Diegese (V.-43- 1044) neun Nachweise für das Erzähler-Ich (1: 111), einer davon in wir-Form; auffälligerweise lässt keiner dieser Belege den Erzähler als denjenigen auftreten, der sich aktiv auf seine Quellenlektüre bezieht. In diesen 1000 Versen lassen sich 18 sonstige Quellenberufungen finden (1: 56), von denen acht die 1. Ps. Pl. benutzen. Insgesamt sind dies 17 Passagen, die den Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. erkennbar werden lassen (1: 59). Siehe Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892, Nachdruck München 2002 (MGH, Deutsche Chroniken 1.1). 36 Wedell (wie Anm.-9), S.-2. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 251 derart nachdrücklich einfordert, 37 scheint jedoch weniger ein Ausdruck von bewusst propagierter profaner Autorschaft zu sein als vielmehr das selbstlegitimierende Erheben eines Geltungsanspruchs, der geistlichem Verständnis von Autorschaft vergleichbar sein will , es aber nicht selbstverständlich ist . Das Beharren auf Autorität wäre für die Rezipientinnen und Rezipienten allenfalls erklärbar, wenn sie wüssten (wie im Prolog nicht erwähnt wird, somit lediglich erschließbar ist), dass Rudolf von Ems kein Geistlicher war, und sie deswegen der Meinung wären, es stünde ihm nicht zu, den geistlichen Stoff wiederzuerzählen. Das hieße, dass die gehäuften Selbstautorisierungshinweise in Rudolfs Weltchronik mit der ungefähr zeitgleich zu beobachtenden Behauptung der Geltung des Sangspruchs als geistliche Lehre durch Laien zu vergleichen wäre. 38 Die Weltchronik weist in der Diegese keinen predigthaften Sprachduktus auf; zwar ist die erwähnte Asymmetrie von Erzählerrolle und Publikum mit der Predigt vergleichbar, es fehlen in Rudolfs Text aber (sieht man von der Grobstruktur der aetates ab) z. B. für die Predigt charakteristische gliedernde und die Memorierbarkeit der Lehre unterstützende Elemente wie enumerationes. Außerdem findet sich gerade in mittelalterlichen Predigten eine stärkere Inszenierung von Emotionen des Erzählers bzw. Predigers, z. B. Wut oder Trauer über die Sündhaftigkeit der Gläubigen, 39 um diese zu Reue und Einkehr zu bewegen. Auf der Ebene des Erzählers der Weltchronik sucht man dagegen außerhalb des Lobpreises Gottes im ersten Prolog und des Lobes für Konrad IV. im fünften Prolog vergebens nach einem ‚rhapsodischen‘ Sprachstil oder auch nur nach emotionsindizierenden Interjektionen und Partikeln wie owe, wol, leider oder hey. 40 Obwohl gerade die ersten aetates aus einer Aneinanderreihung von Manifestationen göttlicher Präsenz auf Erden bestehen, nutzt der insgesamt als eher ‚unaufgeregt‘ zu charakterisierende Erzähler außerhalb der Prologe selten die Gelegenheit, Dankbarkeit oder Staunen über diese Wunder als Zeichen für die 37 Die Abnahme der Frequenz im Verlauf der aetates (dritte aetas: alle 75 Verse Erzählerpräsenz; vierte aetas: alle 53 Verse) könnte darauf hinweisen, dass Rudolf von Ems davon ausgegangen sei, die Autorität des Erzählers in den ersten aetates ausreichend etabliert zu haben. 38 Vgl. Sangspruchtradition. Aufführung - Geltungsstrategien - Spannungsfelder, hg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5); Tobias Bulang, „wie ich die gotes tougen der werlte gar betiute. Geltungspotentiale änigmatischen Sprechens in der Sangspruchdichtung“, in: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S.-43-62; Nine Miedema, „in Theothonico multorum bonorum dictaminum compilator. Konrad von Würzburg als Verfasser geistlicher Sangspruchdichtung“, in: Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013, hg. von Gert Hübner und Dorothea Klein, Hildesheim 2015 (Spolia Berolinensia 33), S.-147-165. 39 Vgl. als beliebige Beispiele für miseratio (vgl. Anm.-5): owe, waz geistlicher minne ze vleischlicher minne ist worden (Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten, hg. von Dieter Richter, München 1968 [Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 5], Predigt Nr.-4) oder Ach ach vnd wüstend ir wes ir ivch selber hinderent […] (Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, gesammelt und zur Herausgabe vorbereitet von Wilhelm Wackernagel, Basel 1876, Predigt Nr.-62). Weitere Beispiele bei Nine Miedema, „‚Oratorisches Beiwerk‘. Zum fingierten Dialog mit dem Publikum in den ‚St. Georgener Predigten‘“, in: exemplar. Festschrift für Kurt Otto Seidel, hg. von Rüdiger Brandt und Dieter Lau, Frankfurt a. M. u. a. 2008 (Lateres 5), S.-225-241, insbesondere S.-231, 233f. 40 Vgl. zu den Möglichkeiten der „Formung e -i -g -e -n -e -r auktorieller Subjektivität“ Glauch (wie Anm.-2), S.-135 (Hervorhebung im Original). Beispiele dafür aus der Kaiserchronik bei Matthews, „Der Erzähler“ (wie Anm.-8), S.-139f., wo sich auf Erzählerebene durchaus emphatische Ausrufesätze finden (z. B. Die Kaiserchronik [wie Anm.-35], V.-503f.: Owi wi di sarringe chlungen, / dâ diu march zesamene sprungen! ; vgl. V.-32, 311f., 478, 787f. u. ö.). 252 Nine Miedema Realpräsenz Gottes auf Erden zum Ausdruck zu bringen 41 oder durch besondere emotionalisierende rhetorische Formen wie Lob oder Klage die Affekte der Rezipientinnen und Rezipienten anzusprechen. 42 III. Die intradiegetischen Figuren in Rudolfs von Ems Weltchronik und ihre Emotionen Bezogen auf ihre Makrostruktur ist die Weltchronik Ereignisgeschichte: 43 Die Entstehung der Weltalter wird jeweils als einmaliges Ereignis auf der Ebene der die aetates konstituierenden Protagonisten inszeniert. 44 Auf der Mikroebene spielt die Geschichte als Ereignisgeschichte allerdings eine erheblich weniger wichtige Rolle, das Erzählmodell ist dort, da die aetates programmatisch mit einer einzelnen Figur identifiziert werden, 45 über weite Strecken biographisch. Wie an der Tabelle im Anhang ersichtlich, tritt der belehrende Erzähler ab dem dritten Weltalter in der Diegese etwas zurück, indem er sich nur noch durchschnittlich alle 75 (dritte aetas) bzw. 53 Verse (vierte aetas) manifestiert. Ab dem dritten Zeitalter finden sich außerdem gelegentlich ausführlichere Einblicke in das fingierte Innenleben der Figuren; der Text weicht an solchen Stellen häufig von den von Maria Sherwood-Smith sorgfältig nachgewiesenen Quellen ab. 46 Besprochen seien im Folgenden einige der seltenen Darstellungen der Emotionen der Protagonisten und Protagonistinnen, da deren Seltenheit 41 Passagen wie die folgenden kommen dem Ausdruck des Staunens auf Erzählerebene am nächsten, obwohl sie auf die Rhetorik emotionalisierter Rede verzichten: V.-17821-17827 (swen es so sere wndert-/ das er wil glouben niht / und durh můt willen giht / es si ein lúge, der missetůt: / wan Got is wnderlich gemůt / und hat uns des erzeiget vil / das er tůt wnder swas er wil); V.-20904f. (wan Got der gewere / ist gar ein wundirere). 42 Dies im Gegensatz zu den von Christina Lechtermann, Mary Boyle und Annette Volfing sowie Cora Dietl im Rahmen dieses Sammelbandes besprochenen Werken. Auch das ‚Gemeinde-Wir‘, das potenziell ein Zugehörigkeitsgefühl zwischen Autor/ Erzähler und Rezipientinnen bzw. Rezipienten hervorrufen kann, wird relativ selten verwendet; vgl. die Tabelle im Anhang, und zusätzliche Belege wie die Erwähnung des Blutes Christi, das er durh únsich alle goz, V.-2285; ähnlich etwa auch V.-3112, 4333, 4626, 6272 u.ö. 43 Vgl. dazu den Beitrag von Christina Lechtermann in diesem Sammelband. 44 Der Beginn der aetates wird jeweils durch eine von Gott gewollte und bewirkte Veränderung markiert, Herweg (wie Anm.-1), S.-151 (vgl. V.-21526-21530: […] das ie ein welt [aetas] were anders niht / wand wandelunge einir geschiht, / so Gotis kraft gedahte / ein núwis und das brahte / der welte das nie was geschehin). 45 Auch „innerhalb der aetates bündelt er [Rudolf von Ems] zahllose größere oder kleinere Episoden- (stränge) um ihrerseits jeweils plotbildende Zentralfiguren“ (Herweg [wie Anm.-1], S.-157). So verlässt die Erzählung in der dritten aetas gelegentlich (z. B. in V.-4510-4571) den Protagonisten Abraham und berichtet im Perspektivenwechsel über andere Figuren, für die sich an einigen Stellen ebenfalls Emotionszuschreibungen finden lassen (zu Hagar siehe V.- 4528, 4530, 4538, 5081-5083, zu Sara V.- 5047): Beschrieben wird etwa, dass Hagar Abrahams Sohn Ismael gebiert und in Konflikt mit Sara gerät, so dass sie vertrieben wird; in V.-5024-5107 wird die Erzählung über Abraham erneut unterbrochen, um über Hagars weitere Geschicke zu berichten. Ähnliches gilt für die Geschichte Lots, v. a. V. 4906-4967: Auch hier fehlt Abraham als Wahrnehmungssubjekt und -objekt. 46 Maria C. Sherwood-Smith, Studies in the Reception of the Historia scolastica of Peter Comestor. The Schwarzwälder Predigten, the Weltchronik of Rudolf von Ems, the Scolastica of Jacob von Maerlant and the Historiebijbel van 1360, Oxford 2000 (Medium Aevum Monographs, N.S. 20), S.-83-132. Sogar die Vertreibung aus dem Paradies und Noahs Rettung nach der Sintflut werden ohne jeglichen Hinweis auf das Leid oder die Freude der Protagonistinnen und Protagonisten erzählt. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 253 vermuten lässt, dass ihnen eine besondere Bedeutung zukommt. Die Beispiele entstammen zunächst der Darstellung eines einzelnen Protagonisten, desjenigen der dritten aetas, Abraham (III.1); danach werden einige exemplarische Emotionen systematisch in den Blick genommen (III.2). III.1. Abraham Abraham ist (nach einer ersten, ankündigenden Erwähnung im Prolog, V.- 113) bereits im zweiten Weltalter im Text präsent, wo zunächst (V.- 894) auf seine Herkunft aus dem Stamm Sems und auf seine besonderen astronomischen Fähigkeiten hingewiesen wird (V.-1180); später wird angekündigt, er werde durch die Beschneidung ein besonderes Bündnis mit Gott eingehen. 47 Im Rahmen der genealogischen Ahnenreihe wird er erneut genannt (V.-3264: Tare gwan Abramen, vgl. Gn 11,27) und wird dargestellt, dass Gott seinen Namen von Abram zu Abraham (V.-3283) ändert. Abrahams Privilegierung wird wenig später wie folgt zusammengefasst: Got was mit im, er was in Gote (V.- 3290). Die Sympathielenkung durch den Erzähler ist in der zweiten aetas explizit und eindeutig: Er wird der degin Gotis genannt, der wise volger Gotis gebotis, / reine, selic, uz irchorn (V.-3322-3324). 48 Diese Privilegierung wird in der dritten aetas durch Abrahams Nähe zu Gott bestätigt, der ihm mehrfach direkte Aufträge erteilt. 49 Dass Gott Abraham zu Recht privilegiert, zeigt sich in Abrahams sofortiger, geradezu gedankenlos-gehorsamer Umsetzung der Befehle Gottes; 50 dies bestätigt die Darstellung Abrahams als volger Gotis gebotis (V.-3323), als eines gottesfürchtigen, gottgefälligen Menschen. Bezüglich der direkten Emotionszuweisungen an die Figur Abraham fällt auf, dass dieser die Erscheinungen Gottes, d. h. die Wunder, ebenso emotionslos erlebt wie der Erzähler. 51 Die wenigen expliziten Gefühlszuschreibungen an Abraham werfen darüber hinaus gelegentlich Rätsel auf. So wird Abraham, Gotis wigant und Gotis dienest man, 52 aufgrund der Schönheit Saras in Ägypten Angst um sein Leben zugeschrieben. 53 Es ist hier nicht 47 V.-3157f.; vgl. V.-3858-3860, 4611-4625. 48 Im Prolog zum dritten Weltalter wird er als Abraham der reine (V.-3856) erneut erwähnt, der minte Got alleine (V.-3857); ausführlich wird auch hier seine Privilegierung dargestellt (V.-3858-3866), die dazu berechtigt, mit ihm eine neue welt (V.-3868) beginnen zu lassen. 49 Zusammengestellt seien hier lediglich die Zitate an Abraham gerichteter direkter Rede Gottes in der dritten aetas: V.- 3883-3899, 3956f., 4381-4384, 4393-4398, 4402f., 4404-4409, 4417-4424, 4440-4469, 4487-4501, 4579-4584, 4588-4611, 4627-4634, 4644-4666, 4739, 4743f., 5132-5137. 50 Vgl. zehant, V.-3903; ebenso V.-5138, als Gott Abraham den Auftrag erteilt, Isaak zu opfern (wie in der Bibel, Gn 22,1-3, wird an dieser Stelle keinerlei Innensicht Abrahams geboten). 51 Im Rahmen der Geschichte Moses wird allerdings dargestellt, dass dieser über den brennenden Dornbusch staunt (Gedankenrede in direkter Rede, V.-9420-9425); Gideon fürchtet sich bei einem Wunder und äußert dies ebenfalls in direkter Rede, V.-18270-18274 (auf Figurenebene werden die auf Erzählerebene fehlenden affektindizierenden Interjektionen gelegentlich verwendet, vgl. V.-18272 ach). Zu überprüfen wäre die These, ob in der Weltchronik nach der dritten aetas zunehmend Emotionsdarstellungen zu finden sind. Auch die bei Roland (wie Anm.-6) abgebildeten Illustrationen zur Weltchronik sind im Vergleich zu den Illustrationen z. B. der Berliner Handschrift von Veldekes Eneasroman (Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Elektronisches Faksimile des Ms. germ. fol. 282, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Wiesbaden 2003, ca. 1220/ 1230) von einer relativ starken Statik geprägt. 52 Das Epitheton Gotis wigant wird mehrfach für Abraham verwendet (V.- 3902, 3965, 4317, 4425, 4701, 4732, 5058, 5139), es findet sich jedoch auch bei anderen Figuren, ebenso wie Gotis dienest man (auf Abraham bezogen in V.-3973, 4415, 4584, 4669, 4723). 53 Er vorhte han virlorn den lip, V.-3974; in der Vulgata ist von Furcht keine Rede. 254 Nine Miedema der positiv konnotierte timor dei 54 gemeint: Abraham befürchtet, getötet zu werden, wenn er Sara in der Fremde als seine Ehefrau bezeichnet, so dass er sie seine Schwester nennt (V.-3983; vgl. Gn 12,11-13). Sollten die durch die Lexik aufgerufenen heroischen und höfischen Register (wigant bzw. dienest man), die z.T. auch in der Chanson de geste verwendet werden 55 und deswegen mit dem Erzählen über Heilsgeschichte an sich kompatibel sind, hier bewusst gesetzt sein, so wird die vorhte hier weder im Sinne der weltlich-höfischen Erzähltexte produktiv gemacht, noch wird sie im theologischen Sinne nutzbar. 56 Nach dem sorgfältigen Aufbau der Figur Abraham als gottergeben und gehorsam ist es ein Bruch in der Figurenkonzeption, dass Abraham nun um sein Leben fürchtet, obwohl er sich in Gottes Hand weiß und darüber hinaus als wigant bezeichnet wird. 57 Ein deutlicher Kontrast, der Abraham gegenüber anderen Figuren erneut positiv hervorhebt, wird durch die unterschiedlichen Reaktionen Saras und Abrahams auf die folgende Ankündigung des Engels aufgebaut (Gn 18,9f.): 4706 „wa ist Sara? dú hat fúrwar von disin tagin ubir ein jar einin sun den si gebirt, der dir von ir geborn wirt.“ Sara, so vermerkt der Emotionsbericht des Erzählers, stůnt dabi und hates sa / spot und kriegis wider strit (V.-4711f.); sie empfie […] zeinim spote / die rede und den geheiz von Gote (V.- 4718f.). 58 Abrahams Reaktion auf die vergleichbare Prophezeiung in V.- 4631f. war dagegen nicht nur durch einen Verhaltens- (V.-4635f.) und einen Emotionsbericht (V.-4637f.), sondern außerdem durch ein weiteres wichtiges Mittel der Empathiegenese, die Gedankenrede (V.-4640-4642), vermittelt worden, die, anders als bei Sara, im deutschen Text nachvollziehbar macht, weswegen auch Abraham der Prophezeiung des Engels zunächst nicht zu glauben vermochte: 59 54 Zur Gottesfurcht vgl. z. B. V.-8547, 10256, 11570, 11726, 12106-12140. Siehe Annette Gerok-Reiter, „angest/ vorhte - literarisch. Möglichkeiten und Grenzen der Emotionsforschung zwischen Text und Kontext“, in: Emotionen, hg. von Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter, Bielefeld 2010 (Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2010/ 2), S.- 15-22, insbesondere S.- 17 (timor dei) und S.- 18 (Abrahams vorhte ist kein Ausdruck von contritio). 55 Vgl. im Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 2007 (RUB 2745), z. B. die Ausdrücke gotes degene (V.-3412, 3429, 4852, 5799), gotes wîgant (V.-8505, 8579) und dû hâst gote wole gedienet (V.-941, ähnlich V.-1076, 2258). 56 Vgl. Andrea Sieber, „Die angest des Herkules. Zum Wandel eines emotionalen Verhaltensmusters in mittelalterlichen Trojaromanen“, in: Machtvolle Gefühle (wie Anm.-10), S.-222-234; Gerok-Reiter (wie Anm.-54). 57 Damit harmoniert, dass die Weltchronik sehr häufig Hinweise zur Überwindung der Furcht enthält, vgl. Gott zu Abraham: Abram, du solt dir fúrhten niht, / din stetir schimer ich bin! (V.-4381f.), zu Isaak: du solt sin / ane vorhte (V.-5599f.), zu Mose: du solt dir fúrhten niht (V.-9891), zu Josua: wis ane vorhte! (V.- 16548, 16720); Mose zu seinen Gefolgsleuten: ir sult alle vorhte lan! (V.- 10848); Samuel zu seiner Gefolgschaft: ir sult iuh fúrhten niht! (V.- 22501). Dass der Pharao Sara aufgrund ihrer Schönheit tatsächlich bei sich aufnimmt, löst in der Weltchronik nachfolgend zwar Gottes Strafe für die Egypter aus, aber keine Emotion bei Abraham. 58 Das Motiv der vermeintlichen Verhöhnung Saras und Abrahams (spot) wird in V.- 4979-5002 wieder aufgegriffen. 59 Die Bibel gibt für beide Eheleute einen Gedankenbericht in direkter Rede wieder (Gn 17,17 und 18,12), die Weltchronik privilegiert Abraham. Die Darstellung Saras ist in der Bibel dagegen insofern negati- Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 255 4635 der Gotis degin uz irchorn viel abir nidir alda fúr Got. in dem hercen sin fúr spot empfienc er Gotis geheize do und sprah in sinim můte also: 4640 „wie sol ein hundirt jerig lip und ein núnzig jerig wip kint gebern? “ alse Got irsah den zwivil, ze Abrahame er sprah: […]. In der ältesten deutschsprachigen Literatur ist die Gedankenrede vor allem ein Mittel, die Absichten negativ dargestellter Figuren wiederzugeben, wodurch sie der Motivierung des Geschehens dient; 60 der Rezipient bzw. die Rezipientin erhält damit einen spannungserzeugenden Wissensvorsprung. In der höfischen Literatur findet sich die Gedankenrede jedoch zunehmend als Stilmittel, das auch für positiv dargestellte Protagonistinnen und Protagonisten verwendet werden kann. 61 Hübners These, die Gedankenrede werde in den höfischen Texten gerade dann verwendet, wenn Figuren problematisch werden, 62 findet ihre Bestätigung auch in solchen Textstellen der Weltchronik, denn Abrahams zwivil (V.-4643) an Gott ist sicherlich zwar ein verständlicher Moment (und auf dieses Verständnis zielt die plausibilisierende Gedankenrede), in sich jedoch ein problematischer. 63 Allerdings hält sich Rudolf gegenüber den höfischen Erzähltexten im Bereich der Gedankenreden sehr zurück; 64 mit den langen, emotional bewegten und bewegenden Gedankenreden Enites oder Didos, mit der rhetorischen dubitatio, bei der verschiedene inkompatible Diskurse verhandelt werden und Sympathie für die gegen den dominanten Diskurs kämpfende Figur geweckt wird, haben die entsprechenden Passagen in Rudolfs Weltchronik kaum Gemeinsamkeiten. 65 ver als in der Weltchronik, als Sara Gott gegenüber aus Furcht leugnet, zunächst über die Prophezeiung gelacht zu haben (Gn 18,15). 60 Nine Miedema, „Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006, hg. von Klaus Ridder in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conrad Lutz, Berlin 2008 (Wolfram- Studien 20), S.-119-160, hier S.-127, 131. 61 Ebd., S.-131-147. 62 Hübner (wie Anm.-4), S.-261 (Fehler der Figuren werden nicht geleugnet, sondern es wird Verständnis für sie hergestellt), 262f., 407 („funktionale Äquivalenz zwischen Soliloquium und Psychonarration“). 63 Zu erwägen ist, ob der zwivil als Emotion verstanden werden kann, sowohl in Rudolfs von Ems Weltchronik als auch in anderen Werken wie etwa Wolframs von Eschenbach Parzival; in der Weltchronik zeigen Formulierungen wie zwivils vorhte (V.-1225, ähnlich V.-5237, 11745, 16661, 23286, 23376, 27864, 34893) jedenfalls die Nähe des Zweifels bzw. der inneren Zerrissenheit zu den Emotionen. In der Weltchronik ist an ca. 100 Stellen von Zweifel die Rede; behoben wird er durch Gottes trost (vgl. V.-18368, 18427; auch vorhte kann durch trost ausgeglichen werden, V.-24914). 64 Dass die Weltchronik die Gedankenrede außerdem nicht ausschließlich zur Markierung problematisch werdender Figuren verwendet, zeigt die Tatsache, dass auch Gott eine Gedankenrede zugeschrieben wird (V.-9380-9383, indirekte Rede; vgl. kontrastiv die durch haz, zorn und nit verursachte Gedankenrede des Teufels in indirekter Rede, V.-350-359). 65 Vgl. bereits Zeeman (wie Anm.-11), S.-182, der beobachtet, in Rudolfs Weltchronik fänden sich (anders als in dessen sonstigen Werken) keine „psychologischen Antithesen“, keine „zwei in der Seele seines Helden ringende[n] Empfindungen“. 256 Nine Miedema Auch die Gestaltung der Dialoge bestätigt Abrahams Gottesnähe. 66 Nur kurz sei hier eine Dialogpassage erwähnt, die bereits an anderer Stelle ausführlicher diskutiert wurde: 67 Nachdem er erfahren hat, dass Gott das Verhalten der Einwohner von Sodom und Gomorra missfällt, versucht Abraham, wissend, dass sich sein Neffe Lot in der Stadt aufhält, in einem Gespräch mit Gott Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen (vgl. Gn 18,20-33): er [Abraham] sprah mit urlobe: „herre min, 4735 wiltu indem zorne din virliesin umbe die missetat den der enkeine schulde hat, mit dem der unreht ist irchant? “ - „neinich niht! “ In Rudolfs Chronik versichert sich Abraham somit zunächst der grundsätzlichen Bereitschaft Gottes, zu reflektieren, ob er auch die Gerechten in Sodom und Gomorra vernichten wolle - das emphatische „neinich niht! “ (V.-4739 68 ) charakterisiert Gott in seiner direkten Rede gegenüber der biblischen Vorlage als stärker vergebungsbereit. Erst dann folgt die in direkter Rede wiedergegebene Frage Abrahams, ‚wenn es nun aber 50 Gerechte in den genannten Städten gäbe, würdest du sie dann verschonen? ‘ (vgl. V.-4741f.), und nachfolgend, in indirekter Redewiedergabe: und werin bi den ziten do da fundin zehin rehte man, die schuldig werin niht heran, 4750 das beidú die stete und das lant […] mit vride solten gestan […]. Dass Abraham in der Bibel seine Frage nach der Zahl derjenigen Gerechten, die eine Zerstörung Sodoms und Gomorras verhindern könnten, schrittweise von 50 auf 45, 40, 30, 20 und schließlich zehn Gerechte reduziert, so dass als Ergebnis des Dialoges Sodom und Gomorra gerettet werden könnten, wenn sich in den beiden Städten nur zehn Gerechte fänden, wird hier somit nur indirekt und stark raffend wiedergegeben. Abraham stellt eine suggestive erste Frage (‚du willst doch nicht etwa alle vernichten, wenn auch Gerechte unter ihnen sind? ‘), auf die Gott emphatisch reagiert (V.-4739) - denn die Gerechten wird er tatsächlich schützen, wenn auch nicht auf die von Abraham erhoffte Weise. Die Weltchronik stellt Abraham damit in dieser Textpassage als rhetorisch versierten Dialogführer dar, obwohl unbestritten bleibt, dass er auf einer grundsätzlicheren Ebene keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Gottes Entscheidungen ausüben kann; zumindest weist der Text der Weltchronik Abraham 66 Zur Bedeutung von Dialogen als Mittel indirekter Charakterisierung von Figuren siehe Jannidis (wie Anm.-7), S.-198, 208, 210. 67 Nine Miedema, „Abraham verhandelt mit Gott? Fürbitten in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende“, in: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, hg. von ders., Angela Schrott und Monika Unzeitig, Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S.-43-66, insbesondere S.-52-65. 68 Der Blick auf V.-10328, 10396 und 12121 lässt vermuten, dass sich im Dialog emphatische Verneinungen besonders eindrucksvoll gestalten lassen, jedoch findet sich Emphase auch bei bejahenden Reden, vgl. etwa V.-9580-9592. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 257 jedoch ein gesprächstechnisch geschickteres Verhalten zu als die Vulgata und die Historia scholastica. Allerdings: Während andere Nacherzählungen dieser Bibelpassage einen ausführlichen, bewegten Dialog entstehen lassen, bei dem ein verzweifelter oder beharrlicher Abraham mit großem Engagement und starkem Emotionseinsatz schrittweise ‚Zugeständnisse‘ Gottes erwirkt, so erscheint Rudolfs Abraham in dieser Szene sehr verhalten. Trotz der insgesamt ausgesprochen emotionsarmen Darstellung Abrahams lassen sich zwei weitere Textstellen zitieren, in denen von den Emotionen des trûrens und (erneut) der vorhte des Protagonisten gesprochen wird. In knappen Worten wird nach einem Streit der beiden Kinder Isaak und Ismael, der Sara dazu veranlasst, Ismaels Mutter Hagar zusammen mit ihrem Sohn zu verstoßen, Abrahams Trauer angesprochen: vil swere insinem můte / Abraham die rede [dass er Hagar und Ismael verstoßen soll] empfie / gein sinim liebin sune hie (V.-5055-5057). Da Gott Abraham unmittelbar darauf bestätigt, dass er der zornigen Sara Folge leisten soll, damit Ismael ein eigenes Volk gründen kann, entfaltet die Passage textintern keine emotionale Dramatik; auch die textexternen Rezipienten und Rezipientinnen sind wohl aufgefordert, wie bei Abrahams selbstverständlicher Bereitschaft zum Opfer Isaaks eventuelle Emotionen zugunsten eines absoluten Gottesvertrauens zurückzustellen. Etwas ausführlicher werden die vorht und der zwivil Abrahams beschrieben (V.- 5237), als dieser kurz vor seinem Tod befürchtet, dass sein Sohn und Nachfolger Isaak die falsche Braut wählen könnte (vgl. Gn 24): Nu trůg in dem herzen sin von grozir vorhte manegin pin 5230 Abraham der gůte: er vorhte in sinim můte das sinin sun gezeme das er vil lihte neme wip uz der fruht von Canaan. 5235 wie er das solte widerstan, des heter manegin gedanc. der vorhte zwivil in des twanc das er zůzim besante her sinin kneht Eliezer […]. Auch hier gilt jedoch, dass die Befürchtungen nur von kurzer Dauer sind: Eliezer arrangiert in Abrahams Auftrag die Hochzeit Isaaks mit Rebekka, der Tochter des Neffen Abrahams, Betuël (V.- 5259-5267). Aufgrund des engen Verwandtschaftsgrades kommentiert der Erzähler zwar, das wer nu ein missetat / und was doch billih do (V.- 5273f.), eine nähere Beschreibung von Abrahams Sorgen oder Freuden anlässlich des gelungenen Arrangements fehlt jedoch. III.2. Die Emotionen zorn, vorhte und trûren/ jâmer Mit Blick auf die Möglichkeiten eines Rhetors, bei seinem Publikum ira und miseratio bzw. spes und metus auszulösen (vgl. Anm.-5), sei für die nachfolgenden Überlegungen der Versuch unternommen, Rudolfs textinterne Verwendung der mittelhochdeutschen Begriffe 258 Nine Miedema zorn (≈ ira), vorhte (≈ metus) sowie trûren und jâmer (≈ miseratio) in der gebotenen Kürze darzustellen, um überprüfen zu können, ob die Emotionen weiterer intradiegetischer Figuren möglicherweise zumindest potenziell eine empathiesteigernde Wirkung entfalten. Es erstaunt nicht, dass die erste Erwähnung von zorn im Zusammenhang mit dem Teufel steht (V.-346), der die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies veranlasst, womit er (bzw. das erste Menschenpaar) seinerseits den Zorn Gottes auslöst. 69 Menschlicher Zorn, der als eine Art zeitübergreifendes Konstituens des menschlichen Charakters dargestellt wird, wird z. B. im Zusammenhang mit Mose erwähnt, der die Gesetzestafeln zerstört (V.-12168), als noch die lúte in zornne tůnt (V.-12171). Mag es sich auch gelegentlich um ein berechtigtes Zürnen handeln, so scheinen die Verse 25343-25345 den präferierten Umgang mit dem Zorn zu demonstrieren: David liez den zorn. der degin wert / stiez vor ir widir in sin swert / und liez ir g u e tliche den zorn. 70 Wie bei Abraham, wird auch bei Mose vorhte einmal in einer Gedankenrede zum Ausdruck gebracht (hier in direkter Rede, der biblischen Vorlage entsprechend, Ex 2,14): Moyses der wise man / die rede fúrhten do began: / er dahte: wie ist diz uz komen / und weme ist dú geschiht fúrkomen, / dú doch so heinlich geschach? (V.-9310-9314). 71 Eine Plausibilisierung des Geschehens liefert diese Textpassage kaum, anders als bei Abraham; sie kann jedoch als ein Beispiel dafür dienen, dass Rudolf von Ems die verschiedenen Angebote einer Darstellung des gedanklichen und emotionalen ‚Innenlebens‘ der Figuren aus der biblischen Vorlage übernahm und variierte. Ein in seinen Emotionalisierungsstrategien den höfischen Erzählungen vergleichbares Beispiel findet sich, als Jakob darüber trauert ( trûren ), 72 dass er aufgrund einer Hungersnot seine Söhne zu verlieren droht - Josef und Simeon sind bereits für die Anschaffung von Getreide als Geiseln genommen, damit das Volk nicht verhungert, und Jakob fürchtet, auch Benjamin dieses Los nicht ersparen zu können (Apg 7,11-15): Jacobe gar virkerte sin vroide und merte 7600 sin groz leit und ungemah. 69 V.-371; vgl. zum Gotteszorn danach auch V.-442, 704, 1307, 4735, 4878, 9638, 10256, 10514, 11622, 11719, 12110, 12113, 12122, 12140, 12234, 12822, 13322, 13324, 13445, 14274, 14859, 17414, 17536, 17776, 17868, 18933, 19388, 21442, 23124, 23508, 23935, 26355, 28003, 28035, 28103, 28985, 31135, 31279, 31285, 34512, 35205, 33376, 33905. Im Text finden sich insgesamt 32 Belege für zürnen und 173 für zorn. Auffällig ist eine Textpassage, in der Christus spricht, als ob er zürne (V.-9580-9592, 9599-9611, Zitat V.-9598). Zum Zorn siehe insbesondere Klaus Grubmüller, „Historische Semantik und Diskursgeschichte. zorn, nît und haz“, in: Codierungen von Emotionen (wie Anm.-5), S.-47-69, zum Zorn Gottes, „[f]ür die Liebestheologie des Neuen Testaments […] freilich eine Herausforderung“, siehe S.-54-56 (das Zitat S.-55). 70 Vgl. Evamaria Freienhofer, „Tabuisierung von Zorn als Herrscherhandeln im König Rother“, in: Machtvolle Gefühle (wie Anm.-10), S.-87-103. 71 Vergleichbar ist auch die Furcht Jakobs (vgl. V.-6572, 6580, 6593, 6602) oder die Angst der Brüder Josefs (V.- 7706, 7711, 7714, 7778, 7835, 7837, 7848, 7896, 7898, 7901, 7904, 7914, 8352, 8359, 8368f.). Im Text finden sich insgesamt 190 Belege für vorhte und fúrhten bzw. für Ableitungen von diesem Substantiv und Verb. Der Ausdruck Gotis vorhte ist relativ selten nachweisbar (V.-8547, 22453). Auch die Doppelformulierung angist […] mit vorhte (V.-25686) wird selten verwendet. 72 Manuel Braun, „Trauer als Textphänomen? Zum Ebenenproblem der mediävistischen Emotionsforschung“, in: Machtvolle Gefühle (wie Anm.- 10), S.- 53-85; Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin u. a. 2006 (Trends in Medieval Philology 8). Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 259 in trureclichim můte er sprah: „nu hant ir mih ane kint gemachit gar! owe wa sint Joseb min sun und Symeon? 7605 so ist mins hohsten leidis lon, das mih von vroiden scheidin wil, das ih ouh nu ze disim zil Benjamin virliesen sol! “ In solchen Passagen zeigt sich, dass Rudolf die aus weltlichen Erzähltexten bekannten rhetorischen Mittel der Darstellung der Emotionen in der Weltchronik durchaus anwendet: Die ubi sunt-Klagerede ist syntaktisch und bezüglich der verwendeten Wortwiederholungen (mih/ min) und Binnenassonanzen (leidis/ scheidin) kunstvoll gestaltet; sie verwendet Affektinterjektionen (owe, V.-7603 73 ) und könnte das Ziel verfolgen, die textexternen Rezipientinnen und Rezipienten emotional zu bewegen, auch durch die nach der direkten Rede in den Erzählerbericht eingestreuten Emotionswörter 74 - textintern reagiert allerdings niemand auf die Klage. Die Weltchronik nutzt somit an dieser Stelle die Möglichkeit der Darstellung eines Spiegeleffekts der Emotionen nicht, in recht hartem Bruch wechselt der Erzähler nach dieser Passage zurück zur Darstellung der Hungersnot (Do dú spise was virzert, / do was abir vil unerwert / si můstin abir spise han, V.-7612-7614). Noch intensiver ist der jâmer bzw. die Klage Davids um Saul und Jonatan gestaltet: 26890 Davit von jamir tihte alda ein klagelichis klagesang, das hat klagindin anevang und klagelichis ende zil, das grozer klage irzeigte vil 26895 dú in der klage wise gie. das klage sang sus ane vie: „Israhel sih und nim war umbe dine toten, die dir gar uf dinin hohin bergin ligint tot! 73 Wie erwähnt (Anm.- 39f. und 51), sind solche Partikeln auf der Erzählerebene selten, sie finden sich jedoch durchaus in Figurenrede (vgl. z. B. auch V.- 9126, 13612f., 27476, 30201). Auch äußere Anzeichen der Trauer werden in der Weltchronik verwendet, vgl. das Weinen (z. B. V.- 5817, 6663, 7834, 13710, 15710, 21789), Schreien bzw. wuofen (V.-5818, 15710, 22208; V.-22208, 22980, 23375), Haareraufen (V.-21279, 26820), Bestäuben der Haare mit Asche (V.-26820, 31144f.), usw. Zu den Klagereden in mittelhochdeutschen Erzähltexten siehe Richard Leicher, Die Totenklage in der deutschen Epik von der ältesten Zeit bis zur Nibelungen-Klage, Breslau 1927 (Germanistische Abhandlungen 58); Wilhelm Neumann, Die Totenklage in der erzählenden deutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts, Emsdetten 1933; Urban Küsters, „Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer“, in: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters, hg. von Gert Kaiser, München 1991, S.-9-75. 74 V.-7609-7611: von der jamerlichin dol / tet Jacob mit jamir schin / vil klage nah dén kinden sin. Vgl. V.-7623-7626: dú rede gie / dem vatir an das herce sin / und fůgtim jamir unde pin / mit chlagelichem leide . 260 Nine Miedema 26900 sich unde nim war der grozen not, wie dine starchir irstorbin sint! ah wie sint nu virdorbin dú strit werlichen wapin kleit, dú mit so grozir manheit 26905 truͦ gin werliche die helde muͦ tis riche, Saul und Jonatas der degin! ach wie sint die nu gelegin! des duldich klagelichin pin 26910 umbe dich, vil liebir bruͦ dir min, minninclichir Jonatas! […]“ In diesem Fall wird die Klage von den intradiegetischen Figuren insofern übernommen, als David sie den Klagesang hiez […] leren (V.-26937f.). 75 Insgesamt nutzt die Weltchronik die Figur Davids häufig für die Darstellung der Trauer; so wird in den Versen 27486 bis 27496 beschrieben, dass David so sehr um Abner trauert, dass er zwei Tage lang nichts isst oder trinkt (ähnlich V.- 27499-27502), und auch Davids Klage um Absalom wird hyperbolisch beschrieben (V.-30191-30224). In der zuletzt genannten Textpassage, die erneut mit einigem rhetorischem Aufwand gestaltet ist, 76 ist einer der intradiegetischen Figuren ( Joab) diese unmäßige Klage leit und ungemah (V.-30227); nach seinem Tadel wůsch [David] das antlútz sin / und empfie mit froidîn gar / liepliche alle sine schar (V.-30250-30252). Wie bei der Beherrschung des Zorns dargestellt, wird hier somit das Klagen an sich zwar nicht negativ bewertet, gleichzeitig wird jedoch mâze eingefordert, damit der Klagende handlungsfähig bleibt. Vergleichbar zieht sich Josef in ein gaden zurück, um von jamir […] genůg um Benjamin zu weinen; als er sin antlútze get w o g, / er gie mit vroidin zůzin wider / und sazte si ze tische nider (V.-7733-7737). IV. Schlussbetrachtung In der Rudolf von Ems zugeschriebenen Weltchronik inszenieren zwei der fünf (Binnen-) Prologe einen rhetorisch überlegenen Erzähler. In den anderen Prologen, vor allem jedoch in der Diegese bleibt das Erzähler-Ich dagegen zwar sehr präsent, es inszeniert sich jedoch als ein autoritativ Belehrender und reduziert damit die in den Prologen angesprochenen Rollen (creative, transmissive und testimonial function) auf eine einzige. Die sehr starke Betonung seiner Wahrheit sichernden Rolle und seiner Befähigung und Berechtigung zu dieser Rolle erinnert an die Geltungsstrategien, die zur gleichen Zeit in der Sangspruchdichtung 75 Vergleichbar beeinflussen gelegentlich auch andere Gefühle als Zorn oder Trauer die intradiegetischen Akteure: Josef weint, als er sich seinen Brüdern zu erkennen gibt, V.-7841; andere Figuren nehmen dies wahr und erschrecken (V.-7894f.), sie zeigen somit Empathie. 76 Vgl. auch die Darstellung Thermutis’, die Zorn (V.-9079) und Trauer (V.-9094) empfindet, weil man ihr Stiefkind Mose im Zuge einer Probe, ob es dem Pharao absichtlich die Krone vom Haupt gerissen habe, Verbrennungen zufügt; die Passage zieht durch den sechsfachen Reim auf -o (V.-9088-9093) besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der Pharao lässt sich durch Thermutis’ Tränen ebenfalls zu zorne (V.-9092) bewegen. Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 261 entwickelt werden. Möglicherweise schrieb Rudolf seine Chronik zu einer Zeit, als Nicht- Geistliche sich nicht ohne Weiteres anmaßen konnten, den biblischen Stoff so frei nachzuerzählen, wie dies für geistliche Autoren seit Otfrid von Weißenburg nachweisbar ist. Der Erzähler in Rudolfs von Ems Weltchronik bleibt distanziert, er lädt die Rezipientinnen und Rezipienten selten zur emotionalen Teilnahme am Geschehen oder zu einer imaginativen Vergegenwärtigung des Geschehens ein; sogar traditionell zu Furcht, Staunen oder Freude aufrufende Ereignisse wie die Wunder werden auf Erzählerebene nicht und auf Figurenebene relativ selten emotional aufgeladen. Dass Rudolf die sprachlichen Register der Emotionsdarstellung beherrscht, demonstriert er (auch in der Weltchronik) an den seltenen Stellen, die vor allem Klagereden mit großer rhetorischer Sorgfalt ausgestalten. Die stärksten Hinweise auf eine Wirkung von Emotionen der Protagonistinnen und Protagonisten auf andere intradiegetische Figuren finden sich bei der Trauer; hier, wie auch beim Zorn, mahnt die Weltchronik die extradiegetischen Rezipientinnen und Rezipienten dann allerdings jeweils zu einem gemäßigten Verhalten. Insbesondere für das Erzählen außerhalb der Prologe ist in Rudolfs Chronik programmatisch ein stark „zurückgenommene[r] Ornat“ 77 charakteristisch. Dies zeigt sich auch in der Figurenzeichnung: Die verschiedenen Techniken der Darstellung der Emotionen der Figuren, die prinzipiell eine Emotionalisierung der Rezipientinnen und Rezipienten bewirken können, verwendet die Weltchronik zwar gelegentlich, jedoch insgesamt selten. Diese distanzierte Figurenkonstitution betrifft insbesondere die aetates I-II; jedoch nutzt Rudolf auch in den aetates III-V die vielfältigen Techniken höfischer Figurenprofilierung kaum, anders als in seinen anderen Erzähltexten (und anders als andere Bibelerzählungen). Wenn sich Innensichten der Figuren finden und sich in Ansätzen Fokalisierung beobachten lässt, dient dies vor allem der Plausibilisierung der Handlung der Figuren, insbesondere in problematischen Situationen. Rhetorische Muster wie die Klagerede werden zwar verwendet, bleiben jedoch auf Figurenwie auch auf Erzählerebene häufig wirkungslos - und damit vielleicht auch auf Rezipientinnen- und Rezipientenebene. Möglicherweise stand dahinter ein Ideal souveräner emotionaler Ausgeglichenheit, das der Weltchronik als einer Fürstenlehre 78 für Konrad IV. angemessen wäre. Bezüglich der Schwerpunkte in der Wahl derjenigen Textpassagen, die Rudolf von Ems mit besonderem emotionsindizierendem Aufwand gestaltete, sei zum Schluss der Anführungen eine Hypothese aufgestellt: Die Empathiegenese scheint in der Weltchronik vor allem auf Genealogie bezogen. Dass Abraham vil swere insinem můte auf den Streit zwischen Sara und Hagar reagiert, bezieht sich nicht auf Hagar, sondern auf den gemeinsamen Sohn Ismael; Jakob klagt über den drohenden Verlust seiner Kinder; Esau klagt darüber, dass er 77 Herweg (wie Anm.- 1), S.- 147 und 159 („derhetorisierte Chronik“); vgl. auch den Beitrag von Sandra Linden in diesem Sammelband. Bereits Brackert (wie Anm.- 14), S.- 235, spricht von einer „Versachlichung des Stils“ in den späten Werken Rudolfs von Ems. 78 So zuerst Brackert (wie Anm.-14), S.-230-234 (eine auffällige Gegenposition findet sich bei von Ertzdorff [wie Anm.-16], S.-111f.: „Rudolf von Ems verzichtete darauf, den König durch sein Werk belehren zu wollen, ihm genügte es, wenn es ihm Unterhaltung bot“). Zum Vergleich mit Gottfrieds von Viterbo Pantheon siehe Brackert, S.- 232f. („a - l - l - e Exempla der Geschichte sollen zusammengestellt und dem jungen Fürsten zu seiner Belehrung vorgeführt werden“, S.-233, Hervorhebung im Original). Die Weltchronik enthält im Dialog eine Fürstenlehre en miniature, vgl. V.-31707-31776, insbesondere V.-31707-31742 (Salomo). 262 Nine Miedema nicht den Erstgeborenensegen seines Vaters Isaak erhält; 79 David klagt über seinen Bruder Jonathan. Diese Betonung genealogischer Bezüge stünde durchaus im Einklang mit der Weltchronik als Fürstenlehre. Anhang: Erzählermanifestationen in Rudolfs von Ems Weltchronik I V.-1-866 (678 Verse ohne Prolog) außerhalb des Prologs 10 Ich-Manifestationen 80 (1: 68, Muster: als ih iuh sage, V.-197), davon 5 Quellenberufungen (Muster: als ich gelesin han, V.-597); 14 weitere Quellenberufungen (1: 36, Muster: nah der scrift urchúnde, V.-701), davon 5 unter Verwendung von wir/ uns (Muster: als úns dú schrift hat geseit, V.-623). Insgesamt somit 15 Passagen mit dem Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. (1: 45). Belegstellen für das Erzähler-Ich: 81 V.- 190, 197, 467f., 497Q, 597Q, 605, 634, 641Q, 646Q (wir), 670Q. zusätzliche Quellenberufungen: 82 V.- 250, 256 (úns), 297 (úns), 304 (úns), 308 (úns), 424, 476, 623 (úns), 634, 700, 701, 808, 820, 824. II V.-867-3793 (2833 Verse ohne Prolog) außerhalb des Prologs 91 Ich-Manifestationen (1: 31), davon 34 Quellenberufungen; 77 weitere Quellenberufungen (1: 25), davon 40 unter Verwendung von wir/ uns. Insgesamt somit 131 Passagen mit dem Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. (1: 22). 79 Die betreffende Textpassage konnte hier nicht ausführlicher besprochen werden; vgl. V.- 5815-5818, wo Esau mit Tränen und Schreien darauf reagiert, dass sein Bruder Jakob ihn überlistet hat, sowie V.- 5830, der Esau wůfende darstellt; Esau empfindet haz und umbrůderlichin nit, V.- 5897f., was sich auch in einer Gedankenrede äußert (V.-5906-5913). 80 Unter „Ich-Manifestationen“ werden in der Tabelle die Belege für alle drei von Ryan (wie Anm.- 25) dargestellten Funktionen des Erzähler-Ichs zusammengefasst; im Bereich der testimonial function werden in der Tabelle die Quellenberufungen als eine mittelaltertypische Eigenart der Autoritätskonstitution gesondert ausgewiesen, vgl. die nachfolgende Anmerkung. 81 Die Ergänzung „Q“ bedeutet, dass sich das Ich an dieser Stelle auf eine Quelle beruft (Muster: der hiez Irad, als ih ez las , V.- 497; dass mit lesen selten auch ‚vorlesen‘ gemeint sein kann, zeigt der bereits erwähnte V.-15727). Querverweise innerhalb des Textes, die die 1. Ps. Sg. verwenden (Muster: den ich nande ê, V.- 605) werden als Ich-Manifestationen gezählt, nicht als Quellenverweise. Ab der zweiten aetas finden sich Querverweise auch ohne das ich (Muster: die hie vor genennet sint, V.-904; als ir ê hant virnomin, V.-7072); diese werden bei den zusätzlichen Quellenberufungen mitgezählt. Publikumsadressierungen wie nu ho e rent (V.-1018) und unpersönliche Vorankündigungen (Muster, V.-1038: als úh wirt hernah geseit) werden nicht berücksichtigt. 82 Mit dem Zusatz „(úns)“ oder „(wir)“ wird gekennzeichnet, dass der Erzähler hier von der 1. Ps. Pl. statt der 1. Ps. Sg. Gebrauch macht (vgl. Zeeman [wie Anm.- 11], S.- 55-65, v. a. S.- 63-65). Die häufigsten Bezüge betreffen dú scrift (als dú scrift úns giht, erstmalig V.- 256), womit durchaus auch weltliche Quellen angedeutet werden können (siehe Zeeman, S.- 64), oder schlicht ‚die Wahrheit‘ (dú warheit úns bescheidit des, erstmalig V.- 308). Zu den namentlich genannten Quellen vgl. Zeeman, S.- 56-71. Ausgelassen wurden in der Übersicht unpersönliche Formulierungen wie als iu vil schiere wirt geseit / mit ungelogener warheit (V.-723f., vgl. die vorhergehende Anmerkung) bzw. formelhafte Wendungen wie daz ist war (z. B. V.-593), fúr war (V.-641), sundir wan (V.-4771), dest also (V.-4866) oder mit warheit (V.-8202). Diese könnten als Verstärkung der testimonial function des Textes interpretiert werden, sie weisen allerdings keinen expliziten Bezug zum Erzähler auf. Belegstellen für das Erzähler-Ich: V.-908, 909Q, 918, 919Q, 974, 975f.Q, 982Q, 993Q, 1044, 1068, 1120, 1129, 1132, 1144Q, 1150, 1164Q, 1216, 1220Q, 1283Q, 1286, 1357, 1371, 1387, 1582, 1614, 1675Q, 1681, 1685Q, 1779Q, 1848, 1881, 1885, 1891, 1952, 2049Q, 2079, 2080, 2156, 2157, 2178Q, 2185, 2113f.Q (wir), 2223Q, 2267Q, 2281, 2297Q, 2331Q, 2367, 2430Q, 2449Q, 2461Q, 2474, 2511 (wir), 2626, 2682, 2683Q, 2684, 2700Q, 2757, 2802Q, 2869, 2872, 2883, 2915, 2947, 2953, 3061Q, 3075, 3082f., 3085, 3089, 3090, 3091, 3093, 3095, 3143Q, 3204Q, 3260, 3271Q, 3368, 3378f., 3391, 3395Q, 3418Q, 3501, 3552, 3574Q, 3646, 3747Q, 3772, 3779. zusätzliche Quellenberufungen: V.-904, 916 (úns), 975f., 990 (úns), 1015 (úns), 1021, 1028, 1103, 1126, 1149, 1167 (úns), 1184f. (úns), 1287 (úns), 1293, 1388f. (úns), 1394 (úns), 1435, 1472 (úns), 1568, 1615, 1637, 1648, 1816 (úns), 1829, 1851f. (úns), 1861, 1941f., 1956 (úns), 2002 (úns), 2057 (úns), 2136, 2159, 2191 (úns), 2205 (úns), 2320 (úns), 2333 (úns), 2356 (úns), 2363 (úns), 2387, 2395 (úns), 2406 (úns), 2434 (wir), 2512f. (úns), 2514 (úns), 2574 (úns), 2586, 2632, 2636, 2676 (úns), 2696, 2764, 2793, 2858, 2861 (úns), 2885 (úns), 2901 (úns), 2928, 2938 (úns), 2940, 2966 (úns), 3005, 3016f., 3068, 3128f., 3210 (úns), 3393 (úns), 3405, 3422 (úns), 3529 (úns), 3640 (úns), 3665 (úns), 3760, 3781, 3784 (úns), 3787, 3791, 3792f. (úns). III V.-3794-8797 (4920 Verse ohne Prolog) außerhalb des Prologs 51 Ich-Manifestationen (1: 97), davon 27 Quellenberufungen; 37 weitere Quellenberufungen (1: 77), davon 15 unter Verwendung von wir/ uns. Insgesamt somit 66 Passagen mit dem Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. (1: 75). Belegstellen für das Erzäher-Ich: V.- 3879, 3916Q, 3929, 3943Q, 4078, 4121, 4157, 4171, 4213Q (wir), 4215, 4282 (mich), 4683, 4858Q, 4879, 4984, 5173, 5206Q, 5369 (ih enweiz), 5391Q, 5400Q, 5538Q, 5657Q, 6010Q, 6114Q, 6175, 6273, 6282 (ih enweiz), 6569Q, 6705, 6754Q, 6776Q, 6898Q, 7010Q, 7052 (ich enweiz), 7216 (Ich enweiz), 7299Q, 7301, 7315Q, 7434, 7446Q, 7659Q (mich), 7679Q, 7938 (ih enweiz), 8115Q, 8385Q, 8593, 8594Q, 8621Q, 8635Q, 8667Q, 8738. zusätzliche Quellenberufungen: V.-4292f. (úns), 4881f., 4967 (úns), 5031, 5187, 5289, 5374, 5387, 5436 (úns), 5508, 5534f., 5685, 5857f. (úns), 6121, 6243 (úns), 6319 (úns), 6557, 6934, 6973 (úns), 6975 (úns), 7002, 7008, 7037, 7167 (úns), 7170, 7439 (úns), 7916, 8327, 8509 (úns), 8607 (úns), 8637, 8647 (úns), 8675 (úns), 8699, 8770, 8781, 8793 (úns). IV V.-8798-21517 (12497 Verse ohne Prolog) außerhalb des Prologs 185 Ich-Manifestationen (1: 68), davon 75 Quellenberufungen; 121 weitere Quellenberufungen (1: 64), davon 52 unter Verwendung von wir/ uns. Insgesamt somit 237 Passagen mit dem Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. (1: 53). Emotionalisierungsstrategien in Rudolfs von Ems Weltchronik 263 264 Nine Miedema Belegstellen für das Erzähler-Ich: V.- 8911Q, 8953Q, 9097, 9188Q, 9258Q, 9324Q, 9384, 9614 (in weiz), 9673, 9706, 9839, 10380f.Q, 10439, 10494Q, 10502 (wir), 10693, 10747Q, 10927Q, 11029, 11089, 11103 (ich en weiz), 11123Q, 11350Q, 11488Q, 11569Q, 11791Q, 11852, 11854, 11887Q, 11893Q, 11948, 11980, 11993, 12010, 12287Q, 12382, 12390Q, 12500Q, 12529, 12537Q, 12607Q, 12878, 12902, 12906, 12907, 12908, 12951, 13039Q, 13059, 13110Q, 13153Q, 13175Q, 13178, 13249, 13267Q, 13275, 13419Q, 13533Q, 13536 (wart mir niht irkant), 13537, 13560Q, 13775, 13803f.Q, 13828, 14074 (wir), 14096 (ich enweiz), 14177, 14471, 14479Q, 14505, 14621, 14635Q, 14984Q, 15077, 15166Q, 15171, 15292, 15301, 15542f., 15606, 15725, 15727Q, 15753, 15800, 15849, 15998, 16226, 16232 (ich wene), 16463, 16532, 16576Q (mich), 16667Q, 16784Q, 16797, 16798, 17025Q, 17122Q, 17154, 17187Q, 17251, 17266f. (des kan ich úch bescheiden iht / wan ich es vant geschriben niht), 17268 (nach dem wane min), 17402Q, 17421Q, 17448, 17454, 17514Q (mir), 17551Q, 17607Q, 17654, 17721, 17810, 17817 (ich [en]weis), 17844, 17900Q, 17922Q, 17949, 18082Q, 18145, 18199, 18336Q, 18361, 18365Q (mich), 18484, 18512Q, 18685f.Q, 18781Q, 18795, 18836, 18935Q, 18949, 18963Q, 18997Q, 19176Q, 19215, 19242Q, 19356Q, 19537, 19588, 19630, 19605, 19565, 19662, 19703Q, 19715Q, 19788Q, 19797Q, 19814, 19860, 19907Q, 19924, 19944Q, 19946, 19948, 19959Q, 19969, 19970Q, 19983, 20030, 20088, 20102Q, 20164Q, 20181, 20193Q, 20196, 20205, 20306, 20353 (mir), 20377 (wir), 20380, 20400, 20413, 20492Q, 20522, 21025, 21140Q, 21192Q, 21219, 21223Q, 21224, 21232 (ih weiz niht), 21263, 21505, 21513, 21515. zusätzliche Quellenberufungen: V.- 8998 (úns), 9155 (úns), 9331, 9824, 9851 (úns), 9905, 9996, 10024f. (úns), 10121f., 10341, 10378f., 10436f., 10531 (úns), 10608, 10656, 10791, 10960, 10962f., 11212, 11242, 11355, 11826, 11882f. (úns), 11935, 11968, 12042 (úns), 12576 (úns), 12636, 13075, 13098 (úns), 13108 (úns), 13114, 13171f., 13194 (úns), 13262, 13414, 13553, 13586, 13847, 13944, 13948, 14049, 14060, 14377 (úns), 14386, 14493 (úns), 14562, 14617f., 14891 (úns), 15151, 15255 (úns), 15737 (úns), 15741, 15783, 15834, 15912, 16491 (úns), 16589 (úns), 16612, 16813, 16828, 16937, 17020, 17287 (uns), 17492 (úns), 17739 (úns), 17793 (úns), 17830, 17874, 17916 (úns), 17959, 18253 (uns), 18437 (uns), 18755, 18787, 18796, 18873 (wir), 19031 (úns), 19220, 19333 (úns), 19397 (úns), 19430 (úns), 19514 (úns), 19627 (úns), 19645 (úns), 19652f. (da von ist sageberis niht / úns gescribin), 19667, 19680 (úns), 19690, 19716 (úns), 19728, 19735f. (wir), 19749, 19754, 19766 (úns), 19779 (úns), 19785, 19827 (úns), 19849, 19887 (úns), 19895 (úns), 19899, 20005, 20113 (úns), 20126 (úns), 20137f. (úns), 20149, 20171, 20236 (úns), 20303, 20336 (úns), 20343 (úns), 20344 (úns), 20375, 20495, 20597, 20628, 21087 (úns), 21186 (úns), 21315, 21460 (úns). V V.-21518- [unvollendet; ab V.-33483 wohl nicht mehr von Rudolfs Hand, somit 11742 erhaltene Verse ohne Prolog] außerhalb des Prologs ? Ich-Manifestationen, davon ? Quellenberufungen; ? weitere Quellenberufungen, davon ? unter Verwendung von wir/ uns. Insgesamt somit ? Passagen mit dem Erzähler in der 1. Ps. Sg. oder Pl. Belegstellen für das Erzähler-Ich: ? . zusätzliche Quellenberufungen: ? . Pilatus als Richter des Stephanus? Zum Geschichtsbewusstsein in Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners Henrike Manuwald I. Einführung in die Problematik In die Handschrift Ms. germ. fol. 1278 der Staatsbibliothek zu Berlin, entstanden wohl im Wiener Umkreis an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, ist eine Versdichtung eingetragen, die dort als Sandt Stephanns leben bezeichnet ist. 1 Sie wird - den Angaben im Werk selbst folgend - Hawich dem Kellner zugeschrieben; die Autor-Figur nennt sich in Prolog und Epilog ,Dienstmann‘ des Stiftes Sankt Stephan in Passau (V.-10-12; 5224-5235). 2 Carl von Kraus gesteht dem Verfasser zu, dass er sich „im Dienste seines Heiligen redlich gemüht“ habe, zeigt sich aber ansonsten wenig begeistert über das Werk, in dem er zwar einige Anlehnungen an Dichtungen Hartmanns von Aue ausmachen kann, das ihm aber als „inhaltlich reizlose[n] Legende“ erscheint. 3 Auch ohne normative Erwartungen an den 1 Die Handschrift war zwischenzeitlich zerlegt, die einzelnen Teile gehörten jedoch ursprünglich zusammen. Vgl. dazu Hermann Degering, Neue Erwerbungen der Handschriftenabteilung. II. Die Schenkung Sir Max Waechters 1912, Berlin 1917 (Mitteilungen aus der Königlichen Bibliothek 3), S.- 63-67, und den Eintrag im Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 7825, 12.05.2018). Zur Mitüberlieferung s. u. Anm.-73. Zur niederösterreichischen Schreibsprache vgl. Balázs J. Nemes, „Die Budapester Handschrift des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg und ihre Verbindungen zum Benediktinerkloster Millstatt“, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik (2005), S.-119-142, hier S.-139f. 2 Hier und im Folgenden wird der Text nach der handschriftennahen Ausgabe McCleans zitiert: Havich der Kellner, Sankt Stephans Leben. Aus der Berliner Handschrift, hg. von Reginald J. McClean, Berlin 1930 (DTM 35); auch McCleans Wiedergabe der diakritischen Zeichen (vgl. dazu ebd., S.-VII-IX) ist übernommen. Vgl. zur Ausgabe die Rezensionen von Edward Schröder in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 193 (1931), S.-61-66 (mit Kritik an der Wiedergabe der diakritischen Zeichen auf S.-62), und Hans- Friedrich Rosenfeld in: Deutsche Literaturzeitung 3. Folge 6 (56) (1935), Sp.-456-460. Vgl. außerdem Carl von Kraus, „Zu Haugs Stephansleben“, in: ZfdA 76 (1939), S.-253-263 (mit zahlreichen Konjekturvorschlägen). Zu der Namensform Havich (V.- 5226) und der im Text entworfenen sozialen Stellung des Autors vgl. Schröder ebd., S.-65f. 3 Vgl. von Kraus (wie Anm.-2), Zitate auf S.-254f. Mit der Bezeichnung des Werks als ,Legende‘ schließt sich von Kraus Schröder (wie Anm.- 2, S.- 62) an, der daran Anstoß nimmt, dass McClean in seiner Ausgabe den handschriftlichen Titel als Werktitel übernommen habe, da es im Text nur wenig um das Leben Stephans gehe. Tatsächlich bilden Stephans Eintreten für die christliche Wahrheit, sein Martyrium und das Schicksal seiner Gebeine nur die Klammer für die geschilderten Geschehnisse. Trotzdem spricht nichts gegen die Übernahme der Werkbezeichnung aus der Überlieferung, wie sie sich etwa auch bei Der Heiligen Leben durchgesetzt hat (Konrad Kunze, „‚Der Heiligen Leben‘ (‚Prosa-‘, ‚Wenzelpassional‘)“, in: 2 VL, Bd.- 3, Berlin/ New York 1981, Sp.- 617-625, hier Sp.- 617f.). Das frühneuhochdeutsche leben im Ms. germ. fol. 1278 dürfte ähnlich unspezifisch gebraucht sein wie lateinisch 266 Henrike Manuwald Text gestaltet sich die Annäherung schon aus äußeren Gründen schwierig, da einige Stellen - selbst nach heutigen Wertmaßstäben - als verderbt anzusehen sind. 4 Trotzdem lohnt sich die Beschäftigung mit dem Text, nicht zuletzt weil darin verschiedene Plots zusammengeführt sind und dadurch eine spezifische Chronologie der Handlung entworfen wird: 5 Der Erzählung vom Tod des Stephanus und von der Translation seiner Gebeine ist ein ausführlicher Teil zu den Ereignissen nach dem Tod Jesu vorgeschaltet. Dafür haben sich als Vorlagen das Evangelium Nicodemi in der Bearbeitung durch Konrad von Heimesfurt in seinem Werk Diu urstende und die Pilatus-Veronika-Legende identifizieren lassen. 6 Anders als etwa in einer Handschrift der Sentlinger-Redaktion der Weltchronik Heinrichs von München ist aber nicht einfach eine Stephanuslegende nach einem Abschnitt eingeschoben, vita (zum wechselnden semantischen Spektrum von vita und legenda vgl. Bruno W. Häuptli, „Einleitung“, in: Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar, hg. von dems., 2 Bde, Freiburg u. a. 2014, Bd.-1, S.-13-67, hier S.-24-30; zur Diskussion um den Vitenbegriff in der Forschung vgl. Daniel Eder, „Die Mutter des Märtyrers. ‚Prägnanz‘ als narratologische und rezeptionshermeneutische Kategorie in der Legendarik (am Beispiel der Gangolf-Erzähtradition)“, in: Prägnantes Erzählen, hg. von Friedrich Dimpel und Silvan Wagner, Oldenburg 2019 [Brevitas 1 - BmE Sonderheft], S.-119-157 [online], hier S.-123f.). Als moderne Genrebezeichnung ist ,Legende‘ gerechtfertigt, wenn man einen Legendenbegriff zugrunde legt, der Mirakel mit umfasst (vgl. dazu Elke Koch, „Legende“, in: Handbuch Literatur und Religion, hg. von Daniel Weidner, Stuttgart 2016, S.- 245-249, hier S.-247). Im Verfasserlexikon ist die neutrale Bezeichnung „Versdichtung“ gewählt (vgl. Karl-Ernst Geith, „Hawich der Kellner“, in: 2 VL, Bd.-3, Berlin/ New York 1981, Sp.-561-563, hier Sp.-561). 4 Zum Beispiel fehlen mehrfach Wörter (vgl. dazu McClean [wie Anm.-2], S.-VI; von Kraus [wie Anm.-2], S.-254). In der älteren Forschung wurden auch Entstellungen in Metrum und Reim beklagt (vgl. bes. Reginald J. McClean, Sprachliche und metrische Untersuchungen über St. Stephans Leben (Ein bayrisches Gedicht aus dem 14. Jahrhundert), Diss. Königsberg 1928, Borna-Leipzig 1928, S.- 57; Rosenfeld [wie Anm.- 2], S.- 458f.; von Kraus [wie Anm.- 2]). Tatsächlich kann man den Handschriftentext über Metrum und Reim als spätere Bearbeitungsstufe identifizieren, da bei werkimmanenter Wiederholung von Versgruppen Veränderungen in Metrum und Reim nicht konsequent vorgenommen worden sind. Zwar lässt sich auf diese Weise rekonstruieren, dass der Text ursprünglich regelmäßiger gebaute Vierheber und eine weniger ,rohe‘ Reimtechnik (Rosenfeld ebd., S.- 459) aufwies, was einen zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung des Textes und seiner Überlieferung wahrscheinlich macht. Trotz einiger Anlehnungen an höfische Literatur erscheint jedoch fraglich, welche Maßstäbe man für den ursprünglichen Text anzulegen hat. Insofern sind auch die Datierungsvorschläge auf der Grundlage stilistischer Kriterien nicht gesichert (die Datierung „etwa gegen die Mitte des 14. Jh.s“ im Verfasserlexikon-Artikel von Geith [wie Anm.-3, Sp.- 561] beruht auf den Hypothesen Rosenfelds zur Reimtechnik und „stilistischen Haltung“ [Rosenfeld ebd.]). 5 Ähnlich argumentiert Geith (wie Anm.- 3, Sp.- 562f.), wobei er vor allem die stoffgeschichtliche Relevanz der Verbindung verschiedener Elemente hervorhebt. Nicht übernommen werden soll hier seine in diesem Zusammenhang geäußerte Wertung, Sankt Stephans Leben sei ein „einfache[s] Werk“. Eine nicht wertende Analyse des passio-Teils hat jüngst Elke Koch vorgenommen. Vgl. dies.: „Optionen des Erzählens von Märtyrerheiligen“, in: dies. u. a., Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter, Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 273), S.-89-113, hier S.-98-103. 6 Vgl. dazu Emil Baumgarten, Lateinische und deutsche Stephanuslegenden, Diss. Halle-Wittenberg 1925, S.-30-37; Werner J. Hoffmann, Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Überlieferung und Wirkung seiner beiden Werke ,Unser vrouwen hinvart‘ und ,Urstende‘, Wiesbaden 2000 (Wissensliteratur im Mittelalter 37), S.-293-302; Henrike Manuwald, Jesus und das Landrecht. Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter, Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica 67), S.-352-364. Wahrscheinlich diente für die Pilatus-Veronika-Handlung in Sankt Stephans Leben die Cura sanitatis Tiberii als Ausgangstext (vgl. Hoffmann ebd., S.-302). Mit ‚Vorlage‘ ist im Folgenden die damit verbundene Texttradition gemeint, nicht ein konkreter Text. Pilatus als Richter des Stephanus? 267 der der Handlung des Evangelium Nicodemi folgt, 7 sondern Stephanus ist als Figur in die Handlung des Evangelium Nicodemi und der Pilatus-Veronika-Legende integriert worden. Auf diese Weise wird die im Aufsatztitel skizzierte Situation denkbar, dass nämlich Pilatus über Stephanus urteilen soll. 8 Stephanus wird als ,Kaplan‘ des ,Bischofs‘ Kayphas eingeführt, er sei dyacon in der alten ee gewesen (V.- 71-73). Er bekehrt sich jedoch zum Christentum (V.-74-81), macht später den Bericht der vom Tod auferweckten Simeonsöhne bekannt und verkündet gegen den Willen des Kayphas die Messianität Christi wahrheitsgemäß und so überzeugend, dass es zu einer Massentaufe kommt (V.- 1011-1205). Kein Wunder, dass Kayphas erbost ist und Stephanus nach dem Leben trachtet (V.-1077-1086). Kayphas wendet sich an Pilatus und berichtet ihm, dass Stephanus die religiösen Gesetze (unser ee,-V. 1210) und das römische Recht (die ee des Pilatus, V.-1210) schwäche (V.-1206- 1221). Pilatus antwortet: ‘nu sag mïr sein zauberlist! wem hat er damit laid getan? genügt dich nicht daran das ich Jesum vienge und umb unschuld erhienge (des verhengt ich dïr deiner gepet), der wol und gut den leuten tёt? ich getot chainen mer durch dich, er chöm mit schulden her für mich.’ (V.-1222-1230) Unter narratologischen Gesichtspunkten ist hier bemerkenswert, dass einer Figur ein Bewusstsein davon zugeschrieben wird, was sie in einem anderen Handlungszusammenhang getan hat, und dass sie bei einer Entscheidung auf diesen Erfahrungsschatz zurückgreift. 7 Vgl. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2°, datiert auf 1399 (mit der Sentlinger-Redaktion von 1399). Die Handschrift trägt die Sigle Wo2 (vgl. Andrea Spielberger, „Die Überlieferung der ,Weltchronik‘ Heinrichs von München“, in: Studien zur ,Weltchronik‘ Heinrichs von München, Bd.-1: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte, hg. von Horst Brunner, Redaktion: Dorothea Klein, Wiesbaden 1998 [Wissensliteratur im Mittelalter 29], S.-113-198, hier S.-157-161) bzw. H12 (Die Weltchronik Heinrichs von München. Neue Ee, hg. von Frank Shaw, Johannes Fournier und Kurt Gärtner, Berlin 2008 [DTM 88], S.-XXV). Auf einen Abschnitt zu den Auferstehungszeugen, der Abschnitt 10 in der Ausgabe von Shaw, Fournier und Gärtner (S.-156-179) entspricht (zur Grundlage für die Kompilation und der Textfassung vgl. Hoffmann [wie Anm.- 6], S.- 210f.; 224-229; Manuwald [wie Anm.-6], S.-294-306), folgt ein Abschnitt zu Stephanus, der in der Rubrik als erster martrer nach gotes / Tod eingeführt wird (fol.-204vb, Z.-27f.). 8 Dass Kayphas und Pilatus als aktive Amtsträger zur Zeit des Martyriums des Stephanus konzipiert sind, ist in der Stephanus-Hagiographie nicht die Regel. Es gibt dafür aber eine Parallele in der sogenannten Fabulosa vita S. Stephani Protomartyris (BHL 7849; der Text ist ediert in: Bibliotheca Casinensis seu Codicum Manuscriptorum qui in tabulario Casinensi asservantur, Bd. 3, Florilegium Casinense [mit eigener Paginierung], Montecassino 1877, S.- 36-38; vgl. dazu Gunnar Mikosch, Von alter ê und ungetriuwen Juden. Juden und Judendiskurse in den deutschen Predigten des 12. und 13. Jahrhunderts, München 2010, S.- 103-105). Dort wird gesagt, dass Stephanus zu der Zeit geboren worden sei, als Pilatus Richter war, und Stephanus wird von Kayphas regelrecht zum Tod verurteilt. Diese konkrete geschichtliche Verortung spielt allerdings in der Fabulosa vita selbst, die sich hauptsächlich auf die Wechselbalg-Episode in der Kindheit des Stephanus konzentriert, kaum eine Rolle. Da die Fabulosa vita im deutschen Raum nicht rezipiert worden zu sein scheint (vgl. Hoffmann [wie Anm.-6], S.-301f., Anm.-47), dürfte Pilatus als Richterfigur in Sankt Stephans Leben auf das Evangelium Nicodemi als Vorlagentext zurückzuführen sein. 268 Henrike Manuwald Für ein solches Figurenwissen gibt es durchaus Parallelen. 9 Eine biographische Dimension wird bei der Pilatus-Figur durch Retrospektion auch in der Pilatus-Veronika-Legende erzeugt, wo Pilatus konstatiert, dass sein Urteil gegen Jesus falsch gewesen sei. 10 Aber die Wiederholung der (als bekannt vorausgesetzten) Gerichtssituation mit einem ,lernfähigen‘ Pilatus scheint doch etwas Besonderes zu sein: 11 Die zur Verurteilung Jesu analoge Konstellation setzt Stephanus in ein systematisches Verhältnis zu Jesus, da - der in der Gerichtsszene abwesende - Stephanus strukturell die Position von Jesus einnimmt, dem Kayphas als Antagonist gegenübersteht. Zwar wird die Parallelisierung durch den Sinneswandel des Pilatus in der Gerichtsszene selbst aufgebrochen, aber der Pilatus-Figur sind später Worte in den Mund gelegt, die das ,Entsprechungsverhältnis‘ zwischen Jesus und Stephanus betonen. So verweist Pilatus die Boten des kranken Kaisers Tiberius an Stephanus, den ,die Juden‘ 12 zugrunde richten wollten genauso wie Jesus, indem sie ihn (Pilatus) dazu hätten bringen wollen, Stephanus kreuzigen zu lassen (V.-1369-1376). 13 Letztlich ist es Kayphas, der den Tod des Stephanus bewirkt (V.-2683-2787), wobei in der Schilderung des Martyriums erneut Bezüge zur Jesus-Figur hergestellt werden. 14 Über die strukturelle Analogie 9 Man denke zum Beispiel an Gaweins Rat im Iwein Hartmanns von Aue, als Gawein Iwein warnt, sich nicht wie Erec zu ,verliegen‘ (V.-2763-2912; zitiert nach: Hartmann von Aue, Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 [Bibliothek deutscher Klassiker 189; Bibliothek des Mittelalters 6]). Dort weiß Gawein, was Erec widerfahren ist; Gawein bezieht sich zwar nicht auf eigene frühere Handlungen, aber allein durch sein Wissen um Erecs Erfahrungen gewinnt Gawein eine biographische Dimension. Zur Übertragung handlungsbezogenen Erfahrungswissens von einem Fall auf den anderen an dieser Stelle vgl. Gert Hübner, „Der künstliche Baum. Höfischer Roman und poetisches Erzählen“, in: PBB 136 (2014), S.-415-471, hier S.-450. 10 Stellvertretend sei hier auf die Legendenversion im edierten Text der Weltchronik Heinrichs von München verwiesen (Abschnitt 12 in Shaw, Fournier und Gärtner [wie Anm.-7], S.-183-233; Leithandschrift ist dafür Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A 3; nach Spielberger [wie Anm.- 7], S.- 164-168, Sigle Go1; nach Shaw, Fournier und Gärtner, S.-XXVf., Sigle H15). Wie im Vorlagentext (Christi Hort Gundackers von Judenburg) wird gesagt, dass Pilatus Reue darüber empfinde, dass er Jesus verurteilt habe. Allerdings - so stellt der Erzähler klar - reut Pilatus sein Verhalten nicht wegen dessen Sündhaftigkeit. Vielmehr hat er Angst um sein Leben, da er sowohl die Wundermächtigkeit des auferstandenen Jesus fürchtet als auch die politischen Konsequenzen, sollten die Römer erfahren, wen er hat töten lassen (V.-12,17-54). 11 Zur veränderten Rolle des Pilatus vgl. Andreas Scheidgen, Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Mikrokosmos 68), S.-198: „Die Verhandlung über den Heiligen erscheint geradezu als gegenbildliche Wiederholung des Prozesses Jesu. Erneut stehen sich Cayphas als Verfechter einer ungerechten Anklage und Pilatus als Richter gegenüber. Das Auftreten der von Stephanus geheilten Christen knüpft darüber hinaus an das Nikodemus-Evangelium an, denn dort (Kap. 6-7) wird Jesus ebenfalls von Zeugen verteidigt, die einst von ihm geheilt worden waren. Die Pilatus- Rolle wird also hier dezidiert in Umkehr der biblisch-apokryphen Passionsüberlieferung gestaltet.“ 12 Die kollektivierende Bezeichnung ,die Juden‘ wird in Sankt Stephans Leben meist abgrenzend und oft abwertend gebraucht. In den Textparaphrasen ist hier und im Folgenden die Gruppenbezeichnung übernommen, weil sich nur so die Konfliktlinien nachzeichnen lassen. Einfache Anführungszeichen sollen andeuten, dass jeweils die im Text konstruierte Gruppe gemeint ist, nicht die ethnisch-religiöse Gemeinschaft. 13 Vgl. Scheidgen (wie Anm.-11), S.-199. 14 Das geschieht nicht nur über die Bitte des Stephanus, Gott möge seinen Peinigern vergeben, denn sie wüssten nicht, was sie täten (V.-2715-2717), die Jesu Bitte in Lc 23,34 aufnimmt, sondern auch darüber, dass gesagt wird, Kayphas habe dafür gesorgt, dass Stephanus gefangen genommen und gekreuzigt-(! ) oder gesteinigt werde (V.- 2683-2687). Auch bei der Schilderung der Gefangennahme kann man Parallelen feststellen, wenn gesagt wird, dass Stephanus wie ein Räuber abgeführt wird (V.-2699-2702; vgl. z. B. Mt 26,55). Bereits in der Apostelgeschichte ist Stephanus als Nachfolger Jesu stilisiert (Act Pilatus als Richter des Stephanus? 269 hinaus wird Stephanus über Pilatus als Richterfigur in ein chronologisches Verhältnis zu Jesus gestellt, unterstützt dadurch, dass auch Kayphas sowohl in der Stephanus-Handlung als auch in der Jesus-Handlung, auf die im Text zurückverwiesen wird, eine wichtige Rolle spielt. Auch das ist zunächst einmal ein Befund, der sich narratologisch beschreiben lässt, und zwar als Verschränkung paradigmatischer und syntagmatischer Verknüpfungen in der zitierten Gerichtsszene. Da es sich bei dem Protagonisten um einen Heiligen handelt, ist diese Verschränkung zusätzlich semantisch aufgeladen: Die Parallelisierung von Jesus und Stephanus, die in der Szene angelegt und im weiteren Textverlauf ausgearbeitet ist, hebt dessen Jesus-Nachfolge hervor, akzentuiert also das überzeitliche Prinzip der imitatio. 15 Die chronologische Verortung, die durch die Zuordnung zu anderen als historisch erachteten Figuren erreicht wird, betont dagegen die Historizität des Heiligen. Indem andere Figuren mit ihren je eigenen Geschichten integriert werden, kommen zudem Sinnstiftungsprozesse in Gang, die nicht allein auf den Heiligen bezogen sind. So lässt zum Beispiel die Einsicht des Pilatus Kayphas als umso verbohrter erscheinen, wodurch antijüdische Stereotype bedient werden. 16 Auf der Grundlage der Beobachtung, dass die historische Einbettung des Heiligenlebens in Sankt Stephans Leben offenbar von Bedeutung ist, soll im Folgenden ausgehend vom Aufbau des Textes und von den Figurenkonstellationen herausgearbeitet werden, welche Konzeptionen von Zeit und Geschichte sich aus der Art der historischen Verortung erschließen lassen. Das Vorhaben ist in Verbindung mit Überlegungen zum ,Geschichtsbewusstsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen‘ zu sehen, 17 steht aber auch im Kontext von Studien zum Verhältnis von Hagiographie und Historiographie. 18 Was die allgemeine Aussagekraft für die Hagiographie betrifft, ist jedoch - abgesehen von der Spezifik des Einzeltextes - zu berücksichtigen, dass die Stephanus-Figur von Anfang an in besonderer Weise in historische Zusammenhänge eingebunden erscheint, wie im Folgenden zur Vorbereitung der Textanalyse gezeigt werden soll. 7,60). Vgl. dazu Heike Hötzinger, „Stephanus“, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www. wibilex.de), 2011, 3.2 (Permalink: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 53987/ , 25.10.2019). Als Referenzausgabe für die zitierten Bibelstellen dient: Biblia sacra vulgata - lateinisch-deutsch, hg. von Michael Fieger, Widu-Wolfgang Ehlers und Andreas Beriger, Bd.-5, Berlin/ Boston 2018. 15 Dazu, dass das Prinzip imitatio Christi historisch variabel realisiert werden kann, vgl. Edith Feistner, „Imitatio als Funktion der Memoria. Zur Selbstreferentialität des religiösen Gedächtnisses in der Hagiographie des Mittelalters“, in: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, hg. von Ulrich Ernst und Klaus Ridder, Köln 2003 (Ordo 8), S.-259-276, hier S.-265. 16 Eine antijüdische Stoßrichtung der Stephanus-Erzählung ist bereits in der Apostelgeschichte angelegt. Vgl. dazu Mikosch (wie Anm.-8), S.-100-103. 17 Vgl. den Sammelband Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. von Hans-Werner Goetz, Berlin 1998. 18 Vgl. z. B. Andreas Hammer, „Inferences between Hagiography and Historiography: Bishop Ulrich of Augsburg and Emperor Henry II“, in: ABäG 70 (2013) [Special Issue Section: Sovereigns and Saints], S.-179-194. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Stephanie Coué, Hagiographie im Kontext. Schreibanlaß und Funktion von Bischofsviten aus dem 11. und vom Anfang des 12. Jahrhunderts, Berlin/ New York 1997 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 24), S.-18f. 270 Henrike Manuwald II. Die Historizität von Heiligenleben: Der Erzmärtyrer Stephanus als besonderer Fall Für die Verehrung von Heiligen wie auch das Erzählen von ihnen ist die Historizität ihres Lebens konstitutiv. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass es auch Erzählungen mit legendarischen Mustern gibt, die ohne einen historischen Kern auskommen, aber es wird zumindest der Anspruch erhoben, dass das Erzählte stattgefunden hat. 19 Bei Heiligen, denen Gedenktage zugeordnet sind, ist außerdem eine taggenaue Fixierung des Todes oder der Translation der Gebeine von Bedeutung. Nicht selten ist dafür in hagiographischen Texten auch das Jahr angegeben. Und gerade bei Märtyrern aus der Zeit der Christenverfolgung sind die Herrscher, die Folterung oder Tod anordnen, namentlich benannt. Oft tritt in Legenden aber das Interesse an historischen Umständen zurück, stattdessen werden prototypische Rollen ausgearbeitet wie die des bösen Herrschers und die des oder der standhaften Heiligen. 20 Gewiss sind die hier vorgenommenen Pauschalisierungen zu modifizieren: Bei Erzählungen von Herrschern, die zu Heiligen werden, spielt die geschichtliche Verortung durchaus eine größere Rolle. 21 Wenn Legenden nicht in einen chronikalischen Zusammenhang eingeordnet oder aitiologisch funktionalisiert sind, ist es in der Regel jedoch nicht von Bedeutung, was dem Leben eines oder einer Heiligen vorangegangen ist und was ihm folgt. Das ist bei Stephanus - trotz seiner exemplarischen Funktion als erster Märtyrer - von vornherein anders. Die Geschehnisse vom Eintritt des Stephanus in das öffentliche Leben bis zu seinem Tod werden in der Apostelgeschichte berichtet. Sie sind eng verknüpft mit Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen in der Zeit, als die ,Zahl der Jünger zunahm‘ (Act 6,1): Spannungen zwischen ,Hellenisten‘ und ,Hebräern‘ führen dazu, dass Stephanus zusammen mit sechs anderen ehrbaren Männern dazu berufen wird, sich dem ,Dienst an den Tischen‘ (zur Versorgung der hellenistischen Witwen) zu widmen, damit die Jünger sich ganz dem ,Dienst am Wort‘ hingeben können (Act 6,1-7). 22 Stephanus tritt dann aber durch eigene Wunder hervor, die das Missfallen anderer Gruppierungen erregen (Act 6,8-10). Er wird verleumdet und vor dem Hohen Rat angeklagt (Act 6,11-15). Der Name des Hohepriesters, der Stephanus befragt, wird nicht genannt. Als Stephanus nach seiner großen Rede (Act 7,2-53) gesteinigt wird (Act 7,54-60), geschieht das durch eine in der Apostelgeschichte anonym bleibende Gruppe von Peinigern, doch wird im Text derjenige identifiziert, dem sie ihre Kleider während der Steinigung übergeben: Es ist Saulus (Act 7,58). Von ihm wird explizit gesagt, dass er mit dem Mord einverstanden gewesen sei (Act 8,1); und der bekehrte 19 Vgl. dazu Benedikt K. Vollmann, „Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende“, in: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), S.-63-72, hier S.-65; 72. Dazu, dass der Wahrheitsanspruch nicht allein auf der Historizität beruht, vgl. grundlegend Klaus Schreiner, „Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters“, in: Saeculum 17 (1966), S.-131-169, hier S.-131-145. Zur Funktion von historischen Verankerungen vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie“, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S.-37-84, hier S.-53-55. 20 Zum Vorrang des Exemplarischen gegenüber der historischen Verortung von Heiligen vgl. Dirk Schlochtermeyer, „Heiligenviten als Exponenten eines ,zeitlosen‘ Geschichtsbewußtseins? “, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein (wie Anm.-17), S.-161-177, hier S.-162f. 21 Vgl. dazu z. B. Hammer (wie Anm.-18). 22 Zu den Konflikten, die nur angedeutet werden, vgl. Rainer Schulz, Stephanus - Gestalt ohne Antlitz. Rezeptionshermeneutische Untersuchungen zu einer theologischen Figur, Leipzig 2016, S.-26-39. Pilatus als Richter des Stephanus? 271 Paulus beschuldigt sich der Mitwirkung an der Steinigung (Act 22,20). Im Anschluss an den Tod des Stephanus ist er als Saulus aktiv an Christenverfolgungen beteiligt, die noch am selben Tag ausbrechen und dazu führen, dass die Jerusalemer Gemeinde (bis auf die Apostel) zerstreut wird (Act 8,1-3) und die Versprengten im ganzen Land das Wort predigen (Act 8,4). Insgesamt erscheint der Tod des Stephanus so in ein Geschehenskontinuum mit religionsgeschichtlichen Konsequenzen eingebunden. Damit hatten sich die späteren Legendenversionen ebenso auseinanderzusetzen wie mit seiner (in der vorangegangenen Paraphrase ausgesparten) Parallelisierung mit Jesus. 23 Als Kontrastfolie für Sankt Stephans Leben sei hier die Legenda aurea [LA] als eine am Kirchenjahr orientierte Legendensammlung betrachtet. Ihrem Bauprinzip entsprechend werden das Martyrium und die Auffindung der Gebeine des Stephanus an zwei unterschiedlichen Stellen behandelt. 24 In der Partie zum Martyrium wird die Christusnachfolge ausdrücklich betont: Stephanus habe Christus nachgeahmt, indem er für seine Peiniger gebetet habe (LA 8,53; Bd.- 1, S.- 214, Z.- 11-13). 25 Aber auch in der Legenda aurea ist das Geschehen sorgfältig historisch kontextualisiert, dadurch dass in Anlehnung an die Apostelgeschichte eingangs die Probleme diskutiert werden, derentwegen Stephanus als einer der sieben ,Diakone‘ eingesetzt worden sei (LA 8,50; Bd.-1, S.-206, Z.-12-30). 26 Wie in der Apostelgeschichte wird in der Legenda aurea auch auf die Christenverfolgungen verwiesen, die nach dem Tod des Stephanus beginnen (LA 8,53f.; Bd.-1, S.-214, Z.-20-25). Der Bezug zu Saulus ist jedoch getilgt; damit ist die Vernetzung mit einem in der linearen Chronologie später folgenden Ereignis, der Bekehrung des Saulus (Act 9,1-22), gekappt. Dafür werden andere Bezüge aufgebaut: Zum einen wird gesagt, dass die Steinigung des Stephanus in demselben Jahr wie die Himmelfahrt Christi stattgefunden habe, und zwar einen Montag später am Morgen des 3. August (LA 8,53; Bd.-1, S.-214, Z.-17f.). Zum anderen liest man in der Legenda aurea, dass der Heilige Gamaliel und Nikodemus Stephanus auf dem Gut des Gamaliel begraben hätten. Explizit wird gesagt, dass Gamaliel und Nikodemus die Christen in allen Ratsversammlungen der Juden vertreten hätten (LA 8,53; Bd.-1, S.-214, Z.-18-20). 27 Assoziiert werden kann weiterhin die Mitwirkung des Nikodemus am 23 Zur Rezeption der Stephanus-Figur, ausdifferenziert nach einzelnen Aspekten, vgl. Schulz (wie Anm.- 22). Zur Sonderstellung legendarischer Erzählungen, die sich auf biblische Figuren beziehen, vgl. Elke Koch und Julia Weitbrecht, „Einleitung“, in: Legendarisches Erzählen (wie Anm.- 5), S.- 9-21, hier S.-16. 24 Vgl. Nr. 8 (26. Dezember): De sancto Stephano protomartyre (Der heilige Erzmärtyrer Stephanus) und Nr. 112 (3. August): De inventione corporis sancti Stephani (Auffindung des heiligen Stephanus). Die Legenda aurea wird zitiert nach der Ausgabe von Häuptli (wie Anm.-3), Bd.-1, S.-206-221; Bd.-2, S.-1386- 1397. Als Vorlagentext für Sankt Stephans Leben ist die Legenda aurea auszuschließen (vgl. Baumgarten [wie Anm.-6], S.-20; zur Quellenlage insgesamt vgl. zuletzt Manuwald [wie Anm.-6], S.-352, Anm.-394). 25 Auf die vorangegangenen Geschehnisse referiert die Legenda aurea in stark systematisierter Form: Die Widersacher des Stephanus - in der Legenda aurea zunächst zusammenfassend als ,Juden‘ bezeichnet - hätten ihn auf dreifache Weise überwinden wollen: durch ein Streitgespräch, durch falsche Zeugen und durch Folter (LA 8,50; Bd.-1, S.-208, Z.-3-6). 26 Der Text der Legenda aurea präsentiert sich an dieser Stelle als Auslegung der Apostelgeschichte, indem verschiedene Möglichkeiten dafür erwogen werden, worin die in der Apostelgeschichte genannten Probleme mit den Witwen (Act 6,1) eigentlich bestanden haben könnten. Der Aufbau der (überwiegend argumentativen) Stephanus-Partien der Legenda aurea ist im Folgenden nicht berücksichtigt. 27 Das bezieht sich wohl auf die Auftritte des Nikodemus (Io 7,50f.) bzw. Gamaliel (Act 5,34-39) vor dem Hohen Rat. Gamaliel, als Pharisäer und angesehener Gesetzeslehrer identifiziert, rettet mit seinem Verweis auf eine Entscheidung Gottes das Leben der Apostel (vgl. auch die Einordnung Gamaliels als Propheten in Sankt Stephans Leben, V.-2305). 272 Henrike Manuwald Begräbnis Jesu (Io 19,39). Die Namen implizieren aber nicht nur Rückverweise, 28 sondern deuten auch auf die Auffindung der Gebeine des Stephanus voraus: Im siebten Regierungsjahr des ,Herrschers Honorius‘, nämlich 417 n.-Chr., - so die Legenda aurea im Abschnitt zur Auffindung der Gebeine - sei dem Presbyter Lucianus der Heilige Gamaliel erschienen und habe ihn aufgefordert, die Gräber öffnen zu lassen, in denen Stephanus, Nikodemus, er selbst und sein Sohn lägen, damit sie an einem würdigeren Ort bestattet würden. An dieser Stelle rekapituliert Gamaliel, nachdem er sich selbst als Lehrer des Paulus vorgestellt hat (vgl. Act 22,3), die je eigene Geschichte dieser Personen (LA 112,462; Bd.-2, S.-1386, Z.-17-26, S.-1388, Z.-1-7). Wenn Gamaliel dabei darauf eingeht, dass er sowohl Stephanus als auch Nikodemus begraben habe, ist daraus eine lineare Chronologie ableitbar. Zusätzlich ist in der Legenda aurea das Bemühen festzustellen, die Auffindungs- und Translationslegende in die politische Geschichte einzuordnen, denn neben Honorius (dem Sohn Theodosius’ I.) wird auch Theodosius (II.) als Herrscher namentlich genannt (in Zusammenhang mit der Überführung der Gebeine des Stephanus nach Rom). 29 Dabei kommt es jedoch nicht zu einer Konkurrenz verschiedener Ordnungsmuster in dem Sinne, dass von Geschehnissen erzählt würde, die nicht direkt mit Stephanus verbunden wären. Angesichts des Bemühens um eine genaue chronologische Festlegung des Geschehens hat sich die Legenda aurea allerdings damit auseinanderzusetzen, dass bei der Stephanus- Verehrung die liturgische Praxis von den Daten des Martyriums und der Auffindung der Gebeine abweicht: Das Fest des Martyriums wird am Tag der Auffindung der Gebeine (also am 26. Dezember) gefeiert, die Auffindung am Tag des Martyriums (also am 3. August). In der Auffindungslegende der Legenda aurea werden zwei Gründe für die Vertauschung angegeben (LA 112,463; Bd.- 2, S.- 1390, Z.- 5-18). Als erster Grund wird genannt, die aus dem Martyrium resultierende ,Geburt‘ des (Heiligen) Stephanus habe in zeitlicher Nähe zur Geburt Christi auf Erden gefeiert werden sollen, weil dieser die Voraussetzung für die Geburt im Himmel gewesen sei. 30 Der zweite Grund für den Tausch der Feste habe in der Verehrungspraxis gelegen: Der Tag der Auffindung sei feierlicher begangen worden als der des Martyriums, zum einen wegen der zeitlichen Nähe zum Fest der Geburt des Herrn, zum anderen wegen der zahlreichen Wunder bei der Auffindung der Gebeine des Stephanus. Da dem Martyrium aber mehr Ehre erwiesen werden solle als der Auffindung, habe die Kirche die Termine vertauscht. 31 Nach dieser Argumentation wird zur Sicherung einer angemesse- 28 Darüber hinaus könnten die Namen Nikodemus und Gamaliel auch die apokryphen Evangelien aufgerufen haben, die ihnen jeweils zugeordnet sind (vgl. dazu auch Häuptli [wie Anm.- 3], S.- 214f., Anm.- 26f.), wobei das Gamalielevangelium im Westen nicht sehr bekannt gewesen sein dürfte. Vgl. dazu Hans-Martin Schenke, „B. VII.6 Das Gamalielevangelium“, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. von Christoph Markschies und Jens Schröter in Verbindung mit Andreas Heiser, 7. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen. I. Band: Evangelien und Verwandtes, Teilband 2, Tübingen 2012, S.-1307-1347, hier S.-1308. 29 Zur Identifikation der Herrscher vgl. Häuptli (wie Anm.-3), Bd.-2, S.-1386, Anm.-2; S.-1393, Anm.-18. Theodosius II. war von 408 bis 450 Kaiser des Ostreichs. 30 Zu den Quellen für die Argumentation in der Legenda aurea vgl. den Kommentar Häuptlis (wie Anm.-3), Bd.-2, S.-1390f. 31 Im Abschnitt über das Martyrium des Heiligen Stephanus in der Legenda aurea sind zwei andere Gründe genannt (LA 8,55f.; Bd.- 1, S.- 220, Z.- 1-13): Christus als Bräutigam und Oberhaupt habe mit seinen Gefährten vereinigt werden sollen, die als der Evangelist Johannes, der Erzmärtyrer Stephanus und die Schar der Unschuldigen Kinder identifiziert werden. Damit seien zugleich die drei Arten des Martyriums repräsentiert (willentlich und de facto: Stephanus; willentlich, aber nicht de facto: Johan- Pilatus als Richter des Stephanus? 273 nen Erinnerungspraxis die zyklische Zeit des Gedenkens der historisch korrekten Fixierung des Ereignisses übergeordnet. 32 Umso bemerkenswerter ist es, dass in der Legenda aurea durch die Datierung im Himmelfahrtsjahr und die Figurennamen trotzdem eine historische Kontextualisierung erfolgt. III. Die historische Einbettung der Stephanus-Figur in Sankt Stephans Leben: zur Handlungsstruktur Eine kultische Zeitdimension spielt in Sankt Stephans Lebens Hawichs des Kellners keine Rolle. Das Autor-Ich führt im Prolog zwar den Heiligen Stephan als seinen Herrn ein (V.-13), aber der Hauptakzent des Prologs liegt darauf, dass man einem Herrn loyal zu dienen habe und dafür einen entsprechenden Lohn erwarten könne (V.-1-8). Verallgemeinernd stellt das Autor-Ich fest, dass man dem jeweiligen Bischof, der einen zum christlichen Leben ‚zwingen‘ solle, und dem Papst gehorsam sein müsse, wobei Gott wiederum als deren Herr fungiere (V.- 15-38). Als Gegenbeispiel wird der gefallene Engel (also Luzifer) genannt, der wegen seines Hochmuts in die Hölle gekommen sei (V.-39f.). In diesem Kontext bringt das Autor-Ich den Verrat an Jesus, der als Rechtsbruch gegenüber Gott bezeichnet wird, als Negativbeispiel: nü merkht was da geschach da man dy recht an Got zeprach, und das sein junger ainer tёt: seinen herren er verraten het. in verchauft ein jud hies Cayphas; und Judas, der sein junger was, der gab in umb ein klain güt. wer an seinem herren missetüt, dem wïrt derselbig lon gegeben, das er in jamer ewikleich müs leben. (V.-41-50) Bereits in diesen Versen werden Themen gesetzt, die für das gesamte Werk bestimmend sind: die Themenkomplexe von Rechtsordnung und Rechtsbruch ebenso wie antijüdische Stereotype, die daran erkennbar sind, dass auch Kayphas vorgeworfen wird, er habe (wie Judas) Jesus gegen Geld verraten. Dementsprechend wird Stephanus in den nächsten Vernes; de facto, aber nicht willentlich: Unschuldige Kinder). Diese drei Arten von Märtyrern, für deren Martyrium die Geburt Christi der Grund gewesen sei, habe die Kirche deren Würde entsprechend vereinigt gesehen haben wollen - und das ist der zweite Grund. Hier ist nicht die zyklische Zeit, sondern die Exempelhaftigkeit der Märtyrer ausschlaggebend, wobei ihr Martyrium unter systematischen Aspekten an das historische Ereignis der Geburt Jesu angedockt wird. 32 Die Argumentation steht im Einklang mit dem hohen Stellenwert der zyklischen Zeit der Liturgie in der Legenda aurea insgesamt. Vgl. dazu Andreas Hammer, „Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden“, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von Udo Friedrich, dems. und Christiane Witthöft, Berlin 2014 (Literatur - Theorie - Geschichte 3), S.-173-197, hier S.-178-180. Allerdings geht die Liturgie nicht vollständig in der Zyklizität auf. Vgl. dazu allgemein Arnold Angenendt, „Die liturgische Zeit: zyklisch und linear“, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein (wie Anm.-17), S.-101-115. 274 Henrike Manuwald sen auch nicht als jemand eingeführt, der das Martyrium erlitten, sondern als jemand, der sich von ,den Juden‘ abgewandt habe: 33 Möcht ich es güten leẅten mit warten wol pedewten wie der heilig sand Stephan Gotes hulde gewan und von den juden sich pechёrt! (V. 51-55). Der Emanzipationsprozess wird dadurch plausibel, dass Stephanus, wie gesagt, zunächst die Funktion als ,Kaplan‘ des ,Bischofs Kayphas‘ zugeschrieben wird, des bösesten Menschen, der je auf Erden gelebt habe (V.-56-73). Aus Kummer über die Marter Jesu habe er sich dann von ,den Juden‘ distanziert und den Aposteln zugewandt (V.- 74-81). Er habe durch das Gebet vor seinem Tod seinen ,Mitschüler‘ Paulus bekehrt (V.-82-88). Diese Kurzfassung vom Leben des Heiligen wird mit der Bemerkung abgeschlossen, dass er der erste Märtyrer gewesen sei (V.-89-92). Die Verbindung zu Paulus ist über diese einführenden Bemerkungen im Text präsent, sie wird bei der Erzählung vom Tod des Stephanus noch einmal benannt (V.-2707-2728), aber nicht systematisch genutzt, um das Leben des Stephanus und die Ereignisse nach seinem Tod in ein zeitliches Kontinuum einzuordnen, indem etwa Saulus im weiteren Verlauf der Handlung noch einmal aufträte. Stattdessen schafft der Text einen anderen linearen Handlungszusammenhang. Bei den Ereignissen vor dem Tod des Stephanus setzt Sankt Stephans Leben im Prinzip an demselben Punkt an wie die Legenda aurea, nämlich der zeitlichen Nähe zur Passion Jesu. Während sich die Legenda aurea aber darauf beschränkt anzugeben, dass das Martyrium des Stephanus einen Monat nach der Himmelfahrt Jesu stattgefunden habe, sind in Sankt Stephans Leben die Geschehnisse ab der Auferstehung Jesu auserzählt. 34 Für die Zeit nach dem Tod und dem Begräbnis des Stephanus (im Text ab V.-2859) wird dadurch eine lineare Verknüpfung und zugleich eine Verdichtung erreicht, dass - anders als in der Legendentradition - sein Bestattungsort gar nicht erst in Vergessenheit gerät. 35 Damit wird nicht nur eine Schilderung der Auffindung der Gebeine hinfällig, sondern es ist auch eine Zeitspanne von mehreren hundert Jahren getilgt. Gekappt ist außerdem die Verbindung zu Gamaliel, diejenige zu Nikodemus ist abgeschwächt: Zwar wird gesagt, dass Nikodemus um Stephanus getrauert und Kayphas dazu gebracht habe, den Christen die Erlaubnis zu geben, den Leichnam des Stephanus zu bergen (V.- 2791-2800); bestattet wird er jedoch auf Bitten der Veronika, bei deren hof Stephanus gelegen habe (V.-2802), von Allexander (sic) und Juliana (V.-2801-2837), einem vornehmen Ehepaar, wobei Nikodemus bei der Grablegung hilft (V.- 2836). Das Ehepaar ist üblicherweise in der Auffindungslegende präsent, und zwar erst in Zusammenhang mit der Überführung der Gebeine nach 33 Koch (wie Anm.-5, S. 90) konstatiert zu Recht für den ganzen Text, dass das Martyrium in den Hintergrund gerückt sei. Neben der von ihr hervorgehobenen Profilierung von Stephanus als „Zeuge[n] der Heilsereignisse“ (ebd., vgl. auch S.- 99) scheinen jedoch mit den genannten Themenkomplexen noch andere Erzählinteressen erkennbar zu sein, die im Folgenden herausgearbeitet werden. 34 Inhaltsangaben für den Teil bis V.-1272, der maßgeblich auf Diu urstende Konrads von Heimesfurt aufbaut, finden sich bei Hoffmann (wie Anm.-6), S.-293, und Manuwald (wie Anm.-6), S.-354-358. 35 Vgl. dazu Koch (wie Anm.-5, S. 102), die hervorhebt, dass auf diese Weise die „Kette der Zeugen und Zeugnisse“ nicht abreiße. Pilatus als Richter des Stephanus? 275 Konstantinopel. 36 Veronika wird an dieser Stelle eindeutig identifiziert: dy selb witib was das weib / der Got das antlicz gab (V.-2834f.). Damit ist ein Ereignis aufgerufen, das zeitlich vor der Handlung des Textes liegt, darin aber rekapituliert wird, und zwar in der Szene, in der Nikodemus veranlasst, dass die Boten des Heilung suchenden römischen Kaisers Tiberius das Tuch mit dem Antlitz Jesu von Veronika bekommen (V.-1529-1581). 37 An der Interaktion mit den Boten war auch Stephanus beteiligt: Pilatus ist es, der die Boten mit dem Bericht über seine frühere Verweigerung der von ‚den Juden‘ geforderten Kreuzigung des Stephanus und dessen Heilungswunder auf ihn verweist (V.-1347-1385). Ebenso wird Allexander mit einer Vorgeschichte versehen, in der Stephanus eine Rolle spielt, denn der Erzähler führt aus, dass Stephanus Allexander bekehrt und eigenhändig getauft habe (V.- 2810f.). Dass zugunsten der zeitlichen Verdichtung, wie sie diese Verflechtungen erzeugen, die Auffindung der Gebeine ausgespart wurde, ist angesichts der liturgischen Bedeutung der Auffindung bemerkenswert. Offensichtlich sind andere Erzählinteressen leitend. Sie zeigen sich besonders deutlich an den Stellen, an denen die Vorlagen modifiziert sind, und sie entsprechen - das sei schon vorweggenommen - den im Anfangsteil des Textes gesetzten Themen, wie exemplarisch gezeigt werden soll: Änderungen gegenüber der jeweiligen Vorlage gibt es in den Textteilen von Sankt Stephans Leben, die auf Diu urstende und der Pilatus-Veronika-Legende beruhen, allein schon deshalb, weil die Stephanus-Figur irgendwie in die Handlungsabläufe integriert werden musste. Das geschieht auf relativ krude Weise: So wird gesagt, dass Stephanus kurz nach den Simeonsöhnen, die die Messianität Jesu bezeugen sollen, aus Galiläa im Tempel angekommen sei, weil er nämlich vom streit ,der Juden‘, also ihren Auseinandersetzungen über den Status Jesu, gehört habe (V.- 749-753). 38 So kann Stephanus im Text später die Funktion zugestanden werden, die Botschaft der Simeonsöhne zu verkünden und zahlreiche Juden zum Christentum zu bekehren (V.-939-1205). 39 In diesem Zusammenhang dient wiederum eine Figur dazu, die Handlung mit vorangegangenem Geschehen zu verknüpfen, denn zu den Taufwilligen gehört Longinus, der sich selbst reumütig als denjenigen vorstellt, der ,Gott‘, als dieser tot am Kreuz hing, mit der Lanze eine Wunde gestochen habe (V.-1097-1132, bes. V.-1112-1120). 36 Vgl. die Translatio Constantinopolim von Anastasius dem Bibliothekar (BHL 7858): PL 41, Sp.-817-822. Dieser Text könnte eine Quelle für Sankt Stephans Leben gebildet haben. Vgl. Baumgarten (wie Anm.-6, S.- 20f.), der zu diesem Schluss kommt, weil er annimmt, dass Hawich die Auffindungslegende nicht gekannt habe, was nicht zwingend erscheint, zumal die Auffindung auch im Bistum Passau liturgische Bedeutung hatte (vgl. H[ermann] Grotefend, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 2,1: Kalender der Diöcesen Deutschlands, der Schweiz und Skandinaviens, Hannover 1892 [Nachdruck Aalen 1984], S.- 149; dort auf der Grundlage von Quellen aus der Zeit um 1500, das Fest war aber allgemein verbreitet, vgl. dens. ebd., Bd. 2,2: Ordenskalender, Heiligenverzeichnisse, Nachträge zum Glossar, Hannover 1898 [Nachdruck Aalen 1984], S.-172). Auf jeden Fall sind Allexander und Juliana auch in Sankt Stephans Leben fester Bestandteil der Translationserzählung (V.-3335-4241). 37 Nachdem Nikodemus die Boten über das Tuch mit der vera icon informiert hat, empfiehlt er den Boten, dass sie mit der Autorität des Kaisers ,die Juden‘ dazu bringen sollten, Veronika das Tuch abzugewinnen, was dann auch Erfolg hat. 38 Darnach chom sand Stephann / her von Galileam; / der het dy mer dort vernomen / und was zu ir̈ m streit chomen. / zu den juden er inn tempel gie. (V.-749-753). Zu dieser Stelle vgl. auch Hoffmann (wie Anm.-6), S.-298. 39 Durch diese Umgestaltung gegenüber der Tradition rückt Stephanus in eine ,Zeugenkette‘ ein: „Stephanus ist […] nicht selbst im rechtsfähigen Sinne Zeuge, er darf aber als autorisierter Vermittler der Wahrheit das Medium des Zeugnisses werden“ (Koch [wie Anm.-5], S. 101). 276 Henrike Manuwald Dass es die Bekehrung zum Christentum ist, auf die die Erzählung von den Simeonsöhnen zusteuert, ist angesichts einer anderen gravierenden Veränderung der Vorlage überdeutlich: Diu urstende Konrads von Heimesfurt kreist darum, dass die Messianität Jesu nur indirekt bezeugt werden kann. Den Simeonsöhnen ist von Jesus ein Redeverbot auferlegt worden, sie schreiben dann einen auf wunderbare Weise wortgleichen Bericht (V.-1669-1692). 40 In Sankt Stephans Leben geben sie mündlich Auskunft, nur die wunderbare Übereinstimmung ihrer Worte ist erhalten (V.-818). Der Hauptunterschied zu Diu urstende besteht aber darin, dass die Simeonsöhne in Sankt Stephans Leben nur noch bestätigen, was Jesus selbst schon angekündigt hat: Als Kayphas berichtet wird, dass man Jesus gesund und munter in Galiläa gesehen habe, wird nämlich ein Bote zu Jesus geschickt (V.- 149-153), mit dem dieser spricht (V. 231-256) und dem er einen Antwortbrief mitgibt (V.-221-224). 41 Darin werden die Erweckung der Simeonsöhne und deren Zeugnis als Beweis angekündigt (V.-161-180), vor allem aber verheißt Jesus darin all denen Vergebung und Befreiung von der Erbsünde, die sich zum Christentum bekehren (V.-157-220). 42 Um die Abkehr vom Judentum geht es letztlich - in Verbindung mit der Rechtsthematik - auch bei einer zweiten Abweichung von Texttraditionen: Dadurch, dass die Gebeine in Sankt Stephans Leben nicht wie in den meisten Legendenversionen in Vergessenheit geraten, ergibt sich ein Freiraum dafür, von Wundern zu erzählen, die sich nach der ersten Bestattung an seinem Grab zugetragen haben. 43 Vom Teufel befreit wird dort der heidnische Fürst Gaudein, den seine Frau nach Jerusalem gebracht hat. 44 Der Wille zur Taufe, den seine Frau bereits vor der Heilung äußert (V.-2941-2944), wird vom geheilten Gaudein bekräftigt, wobei er betont, nur die Christen könnten Gottes Reich erlangen, nicht aber ,Juden‘, ,Ketzer‘ und ,Heiden‘ (V.-2965-2985). 45 Gaudein beschließt, in Jerusalem zu bleiben, schickt aber nach seinen Leuten, die er überzeugt, sich ebenfalls taufen zu lassen. Nach der Massentaufe 40 Vgl. Konrad von Heimesfurt, »Unser vrouwen hinvart« und »Diu urstende«. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann, Tübingen 1989 (ATB 99). Zur Auratisierung der Schrift und der Problematik der Zeugenschaft vgl. Peter Strohschneider, „Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt im Problemfeld vormoderner Textualität“, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Joachim Bumke und Ursula Peters, Berlin 2005 (ZfdPh, Sonderheft 124), S.-309-344; dens., Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014 (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beihefte 55), S.-94-112. Zur Zeugenschaft vgl. auch Manuwald (wie Anm.-6), S.-87-91; 251f. 41 Zu den medialen Verschiebungen gegenüber Diu urstende vgl. Manuwald (wie Anm.-6), S.-359-361. 42 „Diese Botschaft Jesu an die Juden darf wohl als freie Erfindung Hawichs angesehen werden, die jedoch möglicherweise angeregt wurde durch den Predigtexkurs über den Unglauben der Juden, der in der Urst. gleich nach dem Bericht von der Aussendung der Boten folgt.“ (Hoffmann [wie Anm.-6], S.-299). Im Gegensatz zum Brief Jesu in Sankt Stephans Leben werden ,die Juden‘ allerdings in dem Exkurs als so verstockt dargestellt, dass Erlösung für sie unmöglich erscheint. 43 Hoffmann (wie Anm.- 6, S.- 301f.) nimmt an, dass die Wunder aus anderen Legenden frei zusammengestellt seien. Singulär ist die Annahme von Wundern nach der ersten Bestattung nicht. So heißt es im Buch der Märtyrer summarisch, dass bereits vor der Auffindung viele Wunder geschehen seien, weitere dann im Rahmen der Translation (V.-26771-26780; zitiert nach: Das Märterbuch. Die Klosterneuburger Handschrift 713, hg. von Erich Gierach, Berlin 1928 [DTM 32]). 44 Die Heilung eines Blinden (V.-2859-2888) wird von einem Knecht des Heiden Gaudein gesehen - eines Herrn aus Syrien von großem Einfluss (V.-2889-2897), im Text als ameral (,Kalif‘, ,Fürst‘) bezeichnet (V.-2893). Der Knecht berichtet Gaudeins Frau davon, die sich daraufhin mit Gaudein und zweien ihrer Kinder nach Jerusalem zum Grab des Stephanus begibt, denn ihr Mann und die Kinder sind vom Teufel besessen (V.-2899-2930). 45 ‘ […] / was Stephan ye hat gesait, / das ist alles warhait. / wer christenlichn tauft wïrt, / dy tauf in ander stünd gepïrt / und wïrt gehaissen Gotes kind. / dy kristen Gotes erb sind, / sy pesiczen auch sein reich. / dy Pilatus als Richter des Stephanus? 277 gibt es dann im Umkreis von Gaudein mehr Christen als zuvor in allen Ländern zusammen (V.-2997-3076). Das heißt, seine Bekehrung verschiebt massiv die Gewichte zwischen den Religionsgruppen. Über das Motiv, dass ein Bote des Kaisers Tiberius (Claudius) 46 nach Jerusalem kommt, um Stephanus zu suchen, wird die Geschichte Gaudeins mit der Pilatus-Veronika-Legende verknüpft: Tiberius, der durch den Anblick der vera icon geheilt und bekehrt worden war, hatte nach Stephanus geschickt, da sich die Oberen des Reichs nur von diesem taufen lassen wollten (V.- 2127-2152; 2207-2213). Daneben hatte er den Boten auch beauftragt, ,die Juden‘ wegen ihrer Schuld am Tod Jesu zu enteignen (V.- 2201-2206), die Christen von der Zinspflicht zu befreien (V.-2218-2223) und einen christlichen Richter einzusetzen (V.-2242-2246). 47 Die Christen in Jerusalem bitten den Boten, Gaudein zu diesem Richter zu machen (V.-3131-3148). Gaudein bekommt dann nicht nur die Gerichtsgewalt übertragen; er wird auch zum König gewählt (V.- 3180f.). Der Text suggeriert, dass er die Funktionen von Pilatus, Kayphas und Herodes in Personalunion übernimmt, denn er erhält auch deren Ländereien und Befehlsgewalt: ‘ […] und was Herodes wer, Pylatus und Caypha, es sey hie oder anderswa, das sy von dem kaiser dein; sy dïr lasst enpholichen sein, das arm̈ kristen Gotes her, von Jerusalem un̈ cz an das mer.’ (V.-3168-3174) 48 Herodes war schon zuvor in einer Rede Gaudeins in Erinnerung gerufen worden. Gaudein hatte darin die Hinwendung seines Vaters zu Jesus beschrieben: Zwar habe er sich nicht taufen lassen, weil Herodes so mächtig gewesen sei. Er hätte es jedoch gern gemacht. Weil er Jesus bereitwillig zugehört habe, sei der Vater mit erlöst worden, als Jesus in die Hölle herabgestiegen sei (V.-3029-3038). Soweit ich ermitteln konnte, handelt es sich bei Gaudein um eine fiktive Figur. 49 An ihr wird der Übergang zu einer christlichen Herrschaft verdeutlicht. Für diese Ablösefunktion ist der lineare Zeitablauf wichtig, der dadurch geschaffen wird, dass - wie bei der eingangs zitierten Pilatus-Szene - einzelne Figuren zueinander in Beziehung gesetzt werden: Gaudein als Nachfolger von Pilatus, Kayphas und Herodes. Auch erfolgt in der paraphrasierten andern all geleich / sind dervon geschaiden, / juden, chetzer und haiden, / dy in ungelauben sind. / […]’ (V.-2971-2981). 46 Claudius ist der ,Kaplan‘ des Tiberius (V.-2191-2195). Er hatte sich von dem Priester, den Stephanus nach Rom gesandt hatte, taufen und ins Taufritual einführen lassen (V.-2153-2190). Claudius hat also auch eine eigene Geschichte, die indirekt mit Stephanus verknüpft ist. 47 Zur Umsetzung dieser Maßnahmen vgl. V.-3086-3184. 48 Vgl. zu dieser Stelle auch Scheidgen (wie Anm.- 11, S.- 199f.), der darauf hinweist, dass die in Sankt Stephans Leben streckenweise positiv gezeichnete Pilatus-Figur dort wieder in die „Schar der Mörder Christi“ eingereiht ist. 49 Die Namensform Gaudin ist in historischen Quellen und literarischen Texten nachzuweisen (vgl. Baumgarten [wie Anm.-6], S. 26, Anm.-1), ohne dass sich ein Bezug zur Gaudein-Figur herstellen ließe. Dafür, dass der Name seiner Frau, Formosa (V.- 2898), Implikationen hätte (vgl. Cant 1,4), gibt es im Text keine Indizien. 278 Henrike Manuwald Episode über die Bezüge zu Tiberius eine weitere Verortung des Geschehens in der äußeren Chronologie der politischen Geschichte. Diese Art der Anbindung wird jedoch relativ frei gehandhabt, wie daran abzulesen ist, dass es im Handlungsverlauf ein Herrscher namens Konstantin ist, der als ,König‘ von ,Griechenland‘ genannt wird (u. a. V.-3593): Nach dem Tod Allexanders bedrängt Gaudein dessen Witwe Juliana, einen seiner Verwandten zu heiraten (V.-3501-3510). Hilfesuchend wendet sie sich an ihren Vater, der als Mitglied des Rates ,König‘ Konstantins diesen darum bittet, dafür einzutreten, dass Gaudein Juliana ziehen lässt. Damit ist die Translation der Gebeine des Stephanus nach Konstantinopel vorbereitet, denn Juliana überführt sie nach Konstantinopel in dem Glauben, es handele sich um die Gebeine ihres Mannes (V.- 3479-3708). Aufgrund der Verbindung zu Konstantinopel liegt es zumindest nahe, mit dem Namen ,Konstantin‘ den im vierten Jahrhundert nach Christus regierenden römischen Kaiser gleichen Namens zu assoziieren, auch wenn der Konstantin im Text später (ab V.-4632) als Zeitgenosse eines in Rom herrschenden Kaisers Theodosius (V.-4472-4474) erscheint, der Bezüge zum historischen Theodosius II. aufweist. 50 Auf jeden Fall hängt der Bruch in der äußeren Chronologie damit zusammen, dass der Text in die traditionelle Legende zur Translation der Gebeine zu Beginn des fünften Jahrhunderts einmündet. 51 Wahrnehmbar ist der Bruch allerdings nur, wenn man versucht, die Herrschernamen historisch zu referentialisieren. Im Text bleibt die linear fortschreitende Chronologie dadurch gewahrt, dass Juliana an der Bestattung des Stephanus beteiligt war und Gaudeins Herrscherposition ausführlich hergeleitet worden ist. Die Funktion, verschiedene Handlungsstränge zu verknüpfen, die die Gaudein-Figur hier übernimmt, wird auch nicht durch seinen abrupten Rollenwechsel tangiert: Der vorher so positiv stilisierte Gaudein muss nun ein Verhalten an den Tag legen, dass Juliana motiviert, nach Konstantinopel zurückzukehren, woher sie stammt. 52 Auch im Translationsteil sind Zusätze zu beobachten, die im Einklang mit den bisher skizzierten Bearbeitungstendenzen stehen. Auf der Schiffsreise wird das Schiff der Juliana zwar ebenso wie in der Translatio Constantinopolim (PL-41, Sp.-820) von feindlichen Schiffen bedroht, aber während es in der Translatio Constantinopolim Dämonen sind, die einen princeps Augustus dazu veranlassen, die Schiffe loszuschicken, sind es in Sankt Stephans Leben ,Heiden‘, die unter Führung von deren König Augustus angreifen. 53 Die Rettung erfolgt jeweils durch einen Engel, aber in Sankt Stephans Leben ausdrücklich nach Anrufung des Heiligen Stephanus. Augustus verliert sein Land und wird schließlich durch einen Christen ersetzt, der christliches Recht einführt, das bis in lehnsrechtliche Regelungen hinein erläutert wird (V.-3781-4219). Während ,König Augustus‘ eine trotz ihres Namens fiktive Figur ist, handelt es sich bei Kaiser Theodosius, der als der in Rom herrschende Kaiser vorgestellt wird (V.-4472-4474), um eine Figur, bei der sich außertextliche Referenzen herstellen lassen. Theodosius gehört 50 S. dazu o. Anm.-29 und u. Anm.-54. 51 Neben der Translatio Constantinopolim (wie Anm.-36) hat sich die Translatio Romam (BHL 7878) für diesen Teil als möglicher Vorlagentext identifizieren lassen (vgl. Baumgarten [wie Anm.-6], S.-20-30; Geith [wie Anm.-3], Sp.-562). 52 Mit seiner zornigen Reaktion auf Julianas Entschluss, ihr Leben Gott zu widmen und nicht erneut zu heiraten (V.-3504-3510), übernimmt Gaudein strukturell die Position der in der Translatio Constantinopolim nicht namentlich genannten Fürsten (PL 41, Sp.-819). 53 Nach Sankt Stephans Leben handelt es sich bei Augustus um einen König, der die Stadt Calcedonia belagert, weil sie christlich ist (V.-3781-3789). D.h., der Name, nicht aber die Konstellation, ist aus der Translatio Constantinopolim (BHL 7858; PL 41, Sp. 820) übernommen. Pilatus als Richter des Stephanus? 279 - allerdings als oströmischer Kaiser - zum festen Inventar der Translationslegende: In der Regel wird das Motiv genannt, dass seine Tochter Eudoxia von einem Dämon besessen ist, der nur vertrieben werden kann, wenn die Gebeine des Stephanus nach Rom gebracht werden. 54 Diese Konstellation findet sich auch in Sankt Stephans Leben, aber Theodosius wird zusätzlich als besonders gerechter Richter charakterisiert (V.-4472-4500). 55 Seine Tochter, die hier den sprechenden Namen Concordia trägt, 56 zeichnet sich dadurch aus, dass sie für die Armen sorgt und ein Spital reich ausstattet (V.-4501-4571; 4776-4824; 5181-5215). Mit der Beschreibung des tugendhaften Lebens Concordias, die sich ganz der Krankenpflege widmet, jungfräulich bleibt und auf jede Art von Bequemlichkeit verzichtet, schließt der narrative Teil des Textes (V.-5213-5215). Auf Stephanus wird die Aufmerksamkeit nur durch die historische Einordnung des Geschehens in den Versen vor dem Epilog gelenkt: ïr [sc. Concordias] vater, der do chaiser was, als ich es an dem püch las, der was genant Theodosius. der pabst hies Pelagus. 57 pey der zeit wart sand Stephan von Constantinopel gefürt dan gen Rom, da er noch leit und wart der jungsten zeit. (V.-5216-5223) Zwar bildet die Besessenheit Concordias den Anlass für die Überführung der Gebeine des Stephanus, aber die ganz auf sie bezogene Datierung scheint auch ein Anzeichen dafür zu sein, dass sich die Gewichte verschoben haben: Vorbildhaft und damit imitationswürdig ist nun vor allem Concordia, 58 während die Figur des Heiligen Stephanus in den Hintergrund tritt. Auch im vorherigen Verlauf des Textes war zu beobachten, dass bestimmte Verhaltensweisen, die nach dem Wertesystem im Text Qualitäten darstellen, nicht allein von Stephanus verkörpert werden. Das betrifft die Abkehr von ,den Juden‘ ebenso wie missio- 54 Vgl. Translatio Romam in der von Baumgarten (wie Anm.-6, S.-2) mit der Sigle c1 bezeichneten Redaktion aus dem 12. Jahrhundert: Historia corporum S. Laurentii ac S. Stephani protomartyris […], in: Acta Sanctorum Augusti II, Antwerpen 1735, Sp. 528F-529A. Eudoxia ist der historische Name der Tochter von Theodosius II. (s. o. Anm.-29) und Eudokia (vgl. Häuptli [wie Anm.-3], Bd.-2, S.-1393, Anm.-17, zur Legenda aurea [112, 464; Bd.- 2, S.- 1192, Z.- 11-28; S.- 1194, Z.- 1-12], wo die Tochter ebenfalls Eudoxia heißt). Zur Funktionalisierung der Chronologie politischer Geschichte in Legenden vgl. in Bezug auf Theodosius (II.) in der Siebenschläferlegende Elke Koch, „Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik)“, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Susanne Köbele und Coralie Rippl, Würzburg 2015, S.-75-99, bes. S.-91 (zur Passio). 55 Vgl. dazu Manuwald (wie Anm.-6), S. 368f. 56 Baumgarten (wie Anm.- 6, S. 28) hält es wegen der Namensabweichung für unmöglich, dass Hawich die lateinische Legendentradition, nach der die Tochter Eudoxia hieß, gekannt habe; jedoch ist die bewusste Änderung des Namens einer Nebenfigur nicht auszuschließen. 57 In der Translatio Romam (wie Anm.-54, Sp. 529A) wird Pelagius als Papst benannt, an den sich Theodosius wendet, um einen Austausch der Gebeine von Laurentius mit denen des Stephanus zu erreichen. 58 Hervorgehoben wird auch ihre Großzügigkeit, nicht zuletzt dem Spital gegenüber (V.-5181-5215), das als Institution erfolgreich ist. Wie bei dem Kloster, das die Gebeine des Stephanus in Konstantinopel bewahrt (V.-4242-4285), akzentuiert der Text hier wirtschaftliche Aspekte, wobei die Mönche materiell vom Stephanus-Kult profitieren, während Concordia die Mittel, die sie im Rahmen der Translation erhält, zugunsten der Armen einsetzt. 280 Henrike Manuwald narische Tätigkeit. Indirekt bleibt das vorbildhafte Verhalten aber auf den Heiligen bezogen. So wird über den Christen, der ,König Augustus‘ nachfolgt, gesagt, dass er die Gebeine des Stephanus damit geehrt habe, dass er das Land bekehrt habe (V.-4218f.). Dazu gehört, wie der Handlungsverlauf nahelegt, auch die Einführung einer christlichen Rechtsordnung. Die Prinzipien des guten Richtens, die hier und an anderer Stelle thematisiert sind, 59 werden im Text zwar relativ unabhängig von der Stephanus-Figur entwickelt, doch kommt Stephanus auch dafür eine Art Schlüsselstellung zu: Schon zu Lebzeiten des Stephanus kann Kayphas Pilatus nicht mehr für seine Zwecke einspannen (wie bereits in der Apostelgeschichte angelegt, wird Stephanus dann auch nicht verurteilt, sondern von einem Mob gelyncht, V.- 2699-2706; 2734f.). Mit dem Tod des Stephanus kommt eine Bewegung in Gang, im Laufe derer der Einfluss von ,Juden‘ und ,Heiden‘ zurückgedrängt wird und sich die christliche Gerichtsbarkeit durchsetzt. Dafür sind die lineare Zeitlichkeit und die vorgenommene Verdichtung der Geschehnisse wichtig, denn es wird konkret vorgeführt, wie die Funktionen von Kayphas, Pilatus und Herodes durch den christlichen Richter Gaudein verdrängt werden. Wie fiktiv die Gaudein-Figur auch sein mag, sie dient dazu, historische Entwicklungen zu verdeutlichen, die mit der Person des Stephanus in Zusammenhang stehen. IV. Figuren-Vernetzungen als Ausdruck von Geschichtsbewusstsein Bereits der kursorische Blick auf die Handlungsstruktur von Sankt Stephans Leben hat gezeigt, dass es sich bei der Funktionalisierung der Pilatus-Figur in der eingangs diskutierten Gerichtsszene nicht um einen Einzelfall handelt: An mehreren Stellen treten in der Stephanus-Handlung Figuren auf, die in die Geschehnisse um die Passion Jesu involviert waren. So wird bei Veronika und Longinus - wie bei Pilatus - jeweils im Text benannt, wie sie Jesus begegnet sind. Dadurch wird nicht nur eine Zeitebene eingespielt, die der im Text entfalteten Handlung zeitlich vorausliegt, sondern es werden über die erneut positive Zeichnung der Veronika-Figur und die Umkehr der Longinus-Figur auch paradigmatische Bezüge aufgerufen. 60 Das gilt in negativer Perspektivierung in gleicher Weise für die Einbeziehung der Kayphas-Figur. Durch die Beteiligung dieser Figuren sowohl an der Jesusals auch an der Stephanus-Handlung erscheint das Leben des Stephanus in einen linearen Zeitablauf eingeordnet. Dieses Bauprinzip setzt sich fort, wenn Juliana und Allexander zunächst am Begräbnis des Stephanus beteiligt sind und der Tod Allexanders mit Julianas Reaktion darauf später die Translation der Gebeine des Stephanus nach Konstantinopel auslöst. Ebenso hat die (wohl neu eingeführte) Gaudein-Figur die Funktion, verschiedene Ereignisse (die Wunder am Grab des Stephanus und die Translation seiner Gebeine nach Konstantinopel) in einen diachronen Zusammenhang zu bringen. Über die Gaudein-Figur und die Figur des Kaplans Claudius werden außerdem parallel laufende Handlungsstränge (in Rom und in Jerusalem) miteinander verknüpft, aber insgesamt ist das Prinzip der zeitlich linearen Reihung 59 Vgl. dazu Manuwald (wie Anm.-6), S.-364-371. 60 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Deutung des Jesus aus dem Herzen strömenden Wassers durch Stephanus (V.-1121-1132). Die Veronika-Figur ist hier nicht allein wegen ihres Kontakts zur vera icon von Bedeutung, wie Julia Weitbrecht es für andere Versionen der Pilatus-Veronika-Legende herausstellt: vgl. Julia Weitbrecht, „Kontaktheiligkeit: Die Medialität von Heil in der Veronika-Legende“, in: Legendarisches Erzählen (wie Anm.-5), S.-45-63, bes. S.-45f. Pilatus als Richter des Stephanus? 281 dominant. 61 Meist treten die Figuren einfach auf, wenn sie ,gebraucht‘ werden; nur im Falle von Juliana und Allexander wird der Neuansatz eines Handlungsstranges markiert. 62 Damit wird der Tod Allexanders als biographischer Einschnitt vorbereitet (V.-3486-3489), der für die Fortsetzung der Geschichte ausschlaggebend ist. Ansonsten sind die Figuren durch eine gewisse Zeitenthobenheit gekennzeichnet, insofern sie vom Vergehen der Zeit nicht betroffen zu sein scheinen, 63 jedoch ist ihre Lebensspanne zugleich ein Indikator für die Chronologie der Geschehnisse, die über die Figurenvernetzungen bis zur Passion Jesu zurückverfolgt werden kann. Tod und Auferstehung Jesu sind Movens für die gesamte Handlung, 64 denn zunächst verhilft Stephanus dem vom auferstandenen Jesus ausgesprochenen Aufruf zu Umkehr und Taufe zu einer breiten Wirksamkeit. Nachdem er selbst wegen seines Bekenntnisses zu Jesus getötet worden ist, richten andere Figuren ihr Verhalten nach den von Stephanus vertretenen christlichen Idealen aus. 65 Anders als in manchen Translationsberichten geht es im Translationsabschnitt von Sankt Stephans Leben nicht allein darum, anhand von Wundern die außergewöhnliche Tugend des Heiligen zu beweisen, 66 sondern um das weitere Wirksamwerden der von ihm gelebten Werte. 67 Der ,axiologische Ertrag‘, 68 der handlungsbestimmend ist, war aber bereits durch Tod und Auferstehung Jesu erreicht. Dass die Stephanus-Figur schon vor der Erzählung des Martyriums in Sankt Stephans Leben nicht durchgehend im Zentrum der Geschehnisse steht, mag damit zusammenhängen, dass eine 61 Insofern ist die Art der Vernetzung von Handlungssträngen nur partiell mit der Technik zu vergleichen, die man für den Prosalancelot ‚entrelacement‘ genannt hat (vgl. dazu Almut Suerbaum, „‚Entrelacement‘? Narrative Technique in Heinrich von dem Türlîns Diu Crône“, in: Oxford German Studies 34 [2005], S.-5-18, hier S.-7f., mit weiterer Literatur). Parallelen für das Wiederauftreten von Figuren in einem linearen Zeitkontinuum ließen sich eher in chronikalisch organisierten Texten finden. In der Kaiserchronik beispielsweise wird in V.- 6206-6322 das Martyrium des Laurentius geschildert, später agiert im Rahmen der Stephanus-Translatio nach Rom dann ,Laurentius‘ in Form seiner Gebeine, indem er die des Stephanus im Grab empfängt (V.-13803-13809; der Text ist zitiert nach: Deutsche Kaiserchronik, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892 [MGH (Scriptores 8), Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher 1,1]). Diesem chronikalischen Prinzip folgt bereits die Apostelgeschichte mit dem erneuten Fokus auf Saulus ab Act 9,1. 62 Nü sol man ew peschaiden wie / es Allexandro gie / und seinem raynen weib (V.- 3335-3337; vgl. auch V.-3479-3481 als Wiederaufnahme nach dem theologischen Exkurs des Erzählers). 63 Vgl. dazu (in Bezug auf den höfischen Roman) Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/ New York 2007, S.-79-84. 64 Vgl. auch den Neueinsatz des Erzählers nach der ersten Vorstellung des Stephanus: Was ich nü mer sprëch davon, / das ist euch wol chund getan, / wie Got dy marter hie erlait. / do pegund der christen selichait / wachsen und steigen / und der juden ere seygen. (V.-93-98). 65 Vgl. Hartmut Bleumer, „‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg“, in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S.-231-261, hier S.-244. Bleumer zeigt für den Silvester Konrads von Würzburg, dass sich die narrative Dynamik jeweils auf die Figuren verlagert, die die vom Heiligen repräsentierten Werte zu erreichen suchen. Wie Stephanus ist Silvester eine Figur, der religionsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. dazu Bleumer ebd., Anm.-33). 66 Vgl. dazu Hedwig Röckelein, „Über Hagio-Geo-Graphien. Mirakel in Translationsberichten des 8. und 9. Jahrhunderts“, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen. Erscheinungsformen. Deutungen, hg. von Martin Heinzelmann, Klaus Herbers und Dieter R. Bauer, Stuttgart 2002, S.-166-179, hier S.-166. 67 Insofern scheint mir der von Koch (wie Anm.-5, S. 102f.) hervorgehobene Aspekt der „Kontaktheiligkeit“, die auf der (über Zeitgenossen- und Zeugenschaft hergestellten) Verbindung des wunderwirksamen Körpers des Stephanus mit dem „transzendierten Körper“ Christi beruhe, nicht dominant. 68 Vgl. Bleumer (wie Anm.-65), S.-244. 282 Henrike Manuwald Bewegung hin zum Christentum geschildert wird, die nicht auf seine Person beschränkt ist. Insofern steht Stephanus in einer Reihe von ,Bekennern‘, die sich über den Text hinaus weiter fortsetzen ließe, wenn die Rezipienten den Vorbildfiguren des Textes folgen. 69 Die Sonderstellung des Stephanus ist dadurch nicht aufgehoben, 70 aber sie basiert - abgesehen von den posthumen Heilungswundern - auf seinem Bekenntnis zu Jesus, das ihm missionarische Kräfte verleiht. Das zeigt sich auch in der (hier nicht analysierten) großen Disputationsszene, in der er die von ,den Juden‘ herbeigeholten ,heidnischen‘ Meister bekehrt (V.- 2385-2682). Seine auch kultisch bedeutende Rolle als Erzmärtyrer bekommt dagegen weniger Gewicht. In der Apostelgeschichte waren bereits mehrere Perspektiven auf die Stephanus-Figur angelegt: das exemplarische Märtyrertum in der Nachfolge Christi und seine historische Position am Anfang der Christenverfolgung, die auch missionarische Tätigkeiten auslöst. Sankt Stephans Leben hebt - im Gegensatz zur Legenda aurea - auf diesen zweiten Aspekt ab, indem die Abkehr vom ,Heiden-‘ und insbesondere vom ,Judentum‘ ins Zentrum des Textes gestellt ist. Hergeleitet werden nicht allein christliche Herrschaftsideale und karitative Prinzipien, nach denen zu handeln ist, sondern auch die Abgrenzung von ,den Juden‘. 71 Ausführlich wird die Einführung der christlichen Rechtsordnung geschildert, die als Ergebnis historischer Entwicklungen erscheint. Wenn sich das Autor-Ich als ,Dienstmann‘ des Heiligen Stephanus präsentiert (V.-10; 13; 5228), inszeniert es sich als Teilhaber an dieser neuen Ordnung. Fassbar wird hier ein Geschichtsinteresse, das auf einem bestimmten Identitätsbewusstsein beruht. 72 Möglicherweise war - neben dem Stephanus-Kult in Wien - ein solches Interesse auch ausschlaggebend für die Aufnahme von Sankt Stephans Leben in eine Handschrift, die mit den ,Rechten und Freiheiten der Stadt Wien‘ eröffnet wird. 73 Narrativ vermittelbar werden solche historischen Zusammenhänge über das Handeln einzelner Figuren, jedoch nicht im Sinne einer personenbezogenen Geschichtsschreibung, vielmehr handelt es sich um die Konkretisierung übergreifender historischer Entwicklungen, wie sie auch in manchen dezidiert historiographischen Texten, beispielsweise bei Ursprungserzählungen, zu beobachten ist. 74 Da es in Sankt Stephans Leben um generelle Entwicklungslinien geht, können auch Figuren ohne historische Referentialisierbarkeit (wie Gaudein) Handlungsträger sein, solange sie sich chronologisch einordnen lassen. Zentral dafür ist aber die historische Verankerung der Handlung, die nicht zuletzt über die abgewiesene Alternative erzeugt wird, dass Pilatus auch Stephanus verurteilt haben könnte. 69 Zu einem solchen Ausgreifen der Wirkungszusammenhänge über die Textgrenzen vgl. (in Bezug auf den Silvester Konrads von Würzburg) Bleumer (wie Anm.-65), S.-245. 70 Zum Spannungsverhältnis zwischen Imitabilität und Exzeptionalität von Heiligen vgl. Gumbrecht (wie Anm.-19), S.-48-56; Daniel Eder, „Von Wundern und Flatulenzen. Narratologische Überlegungen zum Forschungsparadigma des ,legendarischen Erzählens‘-“, in: Euphorion 113 (2019), S.-257-292, hier S.-263f. 71 Damit bewegt sich der Text Hawichs des Kellners im Rahmen einer Auslegungstradition, die Stephanus als Symbol der Trennung von Christen und Juden sieht. Vgl. dazu Hötzinger (wie Anm.-14), 4.2. 72 Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, „Einführung“, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein (wie Anm.-17), S.-9-16, hier S.-11. 73 -Zum Überlieferungskontext vgl. Manuwald (wie Anm.-6), S. 371-374. 74 Vgl. dazu resümierend Hans-Werner Goetz, „Zum Geschichtsbewußtsein hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber“, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein (wie Anm.-17), S.-55-72, hier S.-58f. Insofern scheint mir die memoria an einzelne Ereignisse und Personen, wie sie Hammer (wie Anm.-18, S.-179) als typisches Ziel von Geschichtsschreibung ansieht, als zu eng gefasst. Verschichten von Geschichte(n) 283 Verschichten von Geschichte(n) Metachronikalisches Erzählen als Narrativierungsstrategie in den Excerpta Chronicarum Linus Ubl Wie lassen sich historische Ereignisse narrativ zu einer historiographischen Einheit verflechten? Was sich in modernen wissenschaftlichen Abhandlungen als theoretische Frage stellt, begegnete bereits mittelalterlichen Autoren als praktisches Problem, wie sich an einem im Zentrum dieses Beitrages stehenden Beispiel aus dem 15. Jahrhundert aufzeigen lässt. Die Nürnberger Stadtschreiber Johannes Platterberger und Dietrich Truchseß folgten hierbei einem Konzept, welches im Folgenden unter dem Stichwort des ‚Verschichten von Geschichten‘ vorgestellt wird. Zentral für die hier vorgestellten Überlegungen ist dabei der grundsätzliche doppeldeutige Charakter des Geschichtsbegriffs: Während zum einen die nicht wieder erfahrbare Vergangenheit mit ‚Geschichte‘ ausgedrückt wird, operiert andererseits die Narration mit demselben Begriff. 1 ‚Geschichtsschreibung‘ stellt somit den Versuch dar, eine verlorene Vergangenheit zu rekonstruieren, jedoch bei gleichzeitigem Bewusstsein, diese niemals vollständig abbilden zu können. Auch der Begriff des ‚Geschichtsbewusstseins‘ bezieht sich daher auf beide Ebenen, die Präsenz bestimmter Vorstellungen über das Vergangene ebenso wie über den Konstruktcharakter des jeweiligen Vergangenheitsberichtes. 2 Jede Geschichte setzt sich nach dekonstruktivistischem Verständnis aus den sie beschreibenden Elementen zusammen. Das gilt erst recht in der Folge des linguistic turn oder etwa unter Rückgriff auf Jörn Rüsen und dessen Matrix historischen Denkens, die später von vielen Geschichtstheoretikern weiter ausgebaut worden ist. Unter dem Einfluss 1 Vgl. etwa Jörn Rüsen, Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln u. a. 1994, S. 37-39 sowie grundsätzlich Reinhart Koselleck u. a., „Geschichte, Historie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-717. 2 Vgl. Fabian Schwarzbauer, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising, Berlin 2005 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), S. 10f. Vgl. grundsätzlich zu Geschichtsbewusstsein Karl-Ernst Jeismann, „Geschichtsbewußtsein. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik“, in: Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, hg. von Hans Süssmuth, Paderborn 1980, S. 179-222; ders., „Geschichtsbewusstsein - Theorie“, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hg. von Klaus Bergmann u. a., Seelze-Velber 5 1997, S. 42-44; Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft-(Grundzüge einer Historik 1), Göttingen 1983, S. 48-58; für die Spezifika mittelalterlichen Geschichtsbewusstseins Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter-(Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters-1), Berlin 1999. 284 Linus Ubl Hayden Whites können diese Elemente als ‚Vergangenheitspartikel‘ bezeichnet werden. 3 Erst durch die narrative Verknüpfung wird aus einer rein quantitativen Bestandsaufnahme von zeitlichen Geschehnissen ‚Geschichte‘. 4 Eine Hauptaufgabe des Historiographen bzw. des Historikers besteht somit darin, nicht nur die für die Narration essentiellen Vergangenheitspartikel herauszuarbeiten, sondern diese auch in narrativer Hinsicht zu verflechten. Diese zwei Bestandteile innerhalb des Rekonstruktionsaktes sind in den letzten beiden Jahrzehnten definitorisch differenziert worden, wenn etwa in der Fortsetzung Rüsens verschiedene theoretische und handlungspraktische Folgerungen abgeleitet werden: Das Re-Konstruieren umfasst einerseits die von einer Fragestellung geleitete Erschließung vergangener Phänomene, die letztlich mit Hilfe von Quellen erfolgt (Fokus Vergangenes). Von Bedeutung sind dabei sowohl Heuristik und Quellenkritik als auch das Herausarbeiten von „Vergangenheitspartikeln“, in der Regel durch den Vergleich verschiedener Quellenaussagen und der Erkenntnisse aus historischen Darstellungen (Quelleninterpretation). Die Basisoperation der Re-Konstruktion umfasst darüber hinaus immer auch die Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesen Phänomenen (Fokus Geschichte). Das beinhaltet die Darstellung der Ergebnisse in einer narrativen Form, in einer Geschichte, was die Entscheidung für bestimmte Kontextualisierungen voraussetzt. Dabei werden nicht nur vergangene Entwicklungen erklärt, sondern insbesondere auch Bezüge zu Gegenwart und Zukunft hergestellt (Fokus Gegenwart/ Zukunft). Diachrone Zusammenhänge werden immer mit Hilfe von Sinnbildungsmustern konstruiert. - Beim Re-Konstruieren handelt es sich also um einen Akt der Synthese, der auch die Beachtung der Triftigkeitskriterien umfasst, die die Geltung der entstehenden Narration absichern sollen. 5 Obgleich sich die Fokussierungen zwischen vormodernen und modernen Historiographen unterscheiden, etwa durch den spezifisch heilsgeschichtlichen Charakter ihrer Werke oder durch das Selbstverständnis des Geschichtswissenschafts-Konzepts, lassen sich in der Ausgestaltung gerade im Bereich spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Chroniken und ihrer modernen Entsprechungen durchaus Gemeinsamkeiten feststellen. 6 Mittelalterliche Autoren, und damit auch Platterberger und Truchseß, standen bei ihren Synthesen grundsätzlich vor der gleichen Aufgabenstellung, bestimmte erwähnenswerte Ereignisse mithilfe narrativer Verfahren in Beziehung zu setzen. Das Dekodieren des verfassten Ergebnisses lässt sich etwa an den sogenannten Triftigkeitskriterien verfolgen, die nach dem vorgestellten Modell der FUER-Gruppe (Initiatoren mehrerer Projekte zur Förderung und Entwicklung von reflektiertem Geschichtsbewusstsein) eine empirische, narrative und nor- 3 Bei White als „singular existential statements“ bezeichnet, vgl. Hayden White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, S. 40. Für die Anordnungsmöglichkeiten und gattungstheoretische Konsequenzen vgl. Richard T. Vann, „Hayden White and Non-Non- Histories“, in: Philosophy of History after Hayden White, hg. von Robert Doran, London u. a. 2013, S. 183-199. Zum Begriff der ‚Vergangenheitspartikel‘ vgl. Waltraud Schreiber, „Kompetenzbereich historische Methodenkompetenz“, in: Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, hg. von Andreas Körber, Waltraud Schreiber und Alexander Schöner, Neuried 2007, S. 194-235, hier S. 207. 4 Inwieweit hierbei nicht auch ‚rudimentärste‘ Quellen wie Annalen etwa durch Selektion und sprachliche Gestaltung narrativen Charakter besitzen, kann entgegen der Meinung Whites überdacht werden. 5 Waltraud Schreiber u. a., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2 2006, S. 23f. 6 Vgl. etwa den Katalog von zehn Universalien, freilich aus neuzeitlicher Perspektive, bei Jerome S. Bruner, „Past and Present as Narrative Constructions“, in: Narration, Identity and Historical Consciousness, hg. von Jürgen Straub, New York/ Oxford 2005, S. 23-43, hier S. 26-40. Verschichten von Geschichte(n) 285 mative Triftigkeit beinhalten, die für moderne Historiographien als unabdingbar gelten. 7 Bei Untersuchung dieser Kriterien lassen sich bestimmte Fokussierungen entschlüsseln, die nicht nur auf die Vergangenheit verweisen, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft, also etwaige Intentionen der Schreibenden hinter dem Text offenbaren. Im Folgenden soll an den Excerpta Chronicarum aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gezeigt werden, wie Vergangenheitspartikel miteinander verknüpft und zur Narration kombiniert werden - anders formuliert: Der Prozess der Rekonstruktion der beiden Chronisten Platterberger und Truchseß soll unter Schwerpunktsetzung auf die narrative Triftigkeit näher betrachtet werden. Deren Vermittlung von Geschichte erhält gerade durch den reflexiven Charakter eine besondere Bedeutung, da infolge ihrer Arbeit der Konstruktcharakter von den Autoren durchgängig transparent gehalten wird. Diese wechselseitige Relation zwischen Erzähl- und Reflexionsebene führt dabei zu einer mehrschichtigen Erzählstrategie des historischen Berichts, die im wahrsten Sinne des Wortes als ein ‚Verschichten von Geschichte(n)‘ bezeichnet werden kann. Geschichte setzt sich hierbei aus bereits narrativ verfassten Vergangenheitsberichten zusammen, da als grundlegende Quellengattung für die beiden Nürnberger Historiographen vor allem Chroniken dienen. Allerdings finden auch Quellen anderer Art Berücksichtigung, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die dabei durchgeführten Verhandlungen von Versatzstücken werden daraufhin analysiert, ob und warum man eine solche Schichtung von Partikeln als ‚metachronikalische Erzählweise‘ bezeichnen könnte. Die beiden Nürnberger Stadtschreiber Dietrich Truchseß und Johannes Platterberger der Jüngere verfassten die Excerpta Chronicarum im Jahr 1459: Ihr Werk stellt einen der letzten spätmittelalterlichen Versuche dar, die ganze Weltgeschichte in einem heilsgeschichtlichen Gesamtkontext abzubilden. 8 Dabei wird nicht nur die politische Geschichte betrachtet, sondern auch Elemente der Sozial-, Kultur-, und Ideengeschichte einbezogen, was dem Werk einen bedeutenden Stellenwert als Rezeptionszeugnis verleiht, welches Einsichten in mentalitätshistorische Prozesse und Vorstellungen bieten kann. Der erste Band ist in einem von Dietrich Truchseß geschriebenen Autographen erhalten. Zusätzlich existieren zwei Abschriften des ersten Teils, wohingegen der zweite Band nur in einer, erst vor wenigen Jahrzehnten wiederaufgefundenen, Kopie überliefert ist. 9 Ferner gibt es diverse Kurzfassungen, deren genaue Abhängigkeiten und Zusammensetzungen sowohl aus philologischer wie auch erzähltheoretischer Hinsicht noch nicht ausreichend erforscht sind. 10 Die beiden Schreiber unterteilten ihr Werk klassisch in sechs Zeitalter; die Schnittstelle 7 Zur empirischen Triftigkeit vgl. etwa die ‚Fehler‘ im weiter unten vorgestellten Beispiel, in dem Zitate falsch zugeordnet bzw. wiedergegeben werden. Vgl. zu den Triftigkeiten Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, - Köln u. a. 2013, S. 60-62, der zu den drei genannten eine ‚theoretische‘ Triftigkeit (bei Rüsen ‚Plausibilität‘ genannt) hinzufügt. 8 Vgl. Mike Malm, „Truchseß, Dietrich“, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung, hg. von Wolfgang Achnitz, Berlin/ Boston 2012, Sp. 732-734 und Lotte Kurras, „Platterberger, Johannes“, in: 2 VL, Bd. 7, Berlin/ New York 1989, Sp. 726-728 sowie den Nachtrag in Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 1248. 9 Zu den Einzelbänden, insbesondere zu den Lederschnitteinbänden vgl. Linus Ubl, „Bodleian Library, MS. Douce 367. Von Kupferstichen und Einbänden - Die- Excerpta Chronicarum“, in: Oxford German Studies 46 (2017), S. 241-247. 10 Vgl. Malm (wie Anm. 8), Sp. 733. Für einen Forschungsüberblick sowie insbesondere für die Beziehung zwischen dem Speculum historiale und den Excerpta vgl. Rudolf K. Weigand, Vinzenz von Beauvais. Scholastische Universalchronistik als Quelle volkssprachiger Geschichtsschreibung, Hildesheim u. a. 1991 (Germanistische Texte und Studien 36), S. 249-276. 286 Linus Ubl zwischen erstem und zweitem Band bilden die Taten Julius Cäsars in der Mitte des fünften Weltalters. 11 Im Folgenden werden drei unterschiedliche Beispiele analysiert, an denen das bereits angesprochene ‚Verschichten von Geschichten‘ nachgewiesen werden kann. Hierbei werden verschiedene Schwerpunkte abgedeckt, die einerseits die poetologischen Selbstaussagen über die Konzeption der Gesamtdarstellung erfassen und andererseits die praktische Ausgestaltung selbiger in den Vordergrund rücken: Zuerst wird die Transparenz des Kompilationscharakters ins Blickfeld gerückt. Zweitens erfolgt eine Untersuchung zum Charakter von Exzerpten als Übersetzung und die damit verbundenen Prinzipien, mit denen die Autoren bei fremdsprachlichen Bestandteilen in ihrer Chronik verfahren. Schließlich erfolgt drittens die Verhandlung von sich widersprechenden Partikeln. Abschließend wird in einem Rückblick auf den Prolog untersucht, welchen programmatischen Prinzipien sich die beiden Autoren in ihrem Werk verpflichtet zeigen. I. Kohärentes Erzählen von Geschichte Das Kapitel über die vier Griechen Demokrit und Heraklit sowie Anaxagoras und Aischylos aus dem fünften Zeitalter veranschaulicht den Kompilierungsakt der Autoren, auch wenn der Partikelcharakter der einzelnen Exzerpte nicht immer so deutlich herausgestellt wird wie in vorliegendem Kapitel. Das Kapitelthema wird in einer rubrizierten Überschrift genannt. 12 Anschließend wird das Geschehen von den beiden Autoren bzw. Kompilatoren in den zeitlichen Rahmen eingebettet, hier das zehnte Jahr der Herrschaft des Darius. Nach der Tradition der Vier-Monarchien-Lehre gilt Darius auch für die umliegenden Kapitel als chronologische Bezugsgröße für die Kapitelordnung. 13 So lässt sich für beinahe sämtliche Kapitel bzw. Kapitelblöcke eine chronologische Einbettung feststellen: Die Temporalachse fungiert daher als chronologisches Grundgerüst, in das die einzelnen inhaltlichen Sinnabschnitte eingeordnet werden. Im Rückgriff auf White lassen sich die Versatzstücke somit als strukturelle Anordnung von emplotments betrachten, durch die sich erst der gesamte plot ergibt und diesen mit Sinn ausfüllt. 14 Diese Anordnung erfolgt innerhalb eines referentiellen Rahmens, deren Bezugsgröße die Zeit ist; durch die Erzählung der Partikel kann, gerade im Bereich spätmittelalterlicher Chroniken, Sinn transportiert und vermittelt werden. 15 Während zunächst noch einmal die grundsätzliche Existenz der vier im Mittelpunkt stehenden Personen wiederholt wird, folgen nun Spezifikationen aus verschiedenen Quellen, wobei Platterberger und Truchseß die- 11 Die Einteilung der Weltalter erfolgt hierbei nach dem Schema des Augustinus bzw. Isidor in dessen Nachfolge, da z. B. Moses nicht als Einschnitt eines neuen Weltalters betrachtet wird, vgl. hierzu generell Frank Shaw, „Chronometrie und Pseudochronometrie in der Weltchronistik des Mittelalters“, in: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, hg. von Timothy Jackson, Nigel Palmer und Almut Suerbaum, Tübingen 1996, S. 167-181, zum Augustinus/ Isidor-Schema bes. S. 173. 12 Vgl. die Transkription des Kapitels im Anhang; dort finden sich auch die Transkriptionsrichtlinien, die für die weiteren Zitate gelten. 13 Vgl. zur Rolle Darius’ in historiographischer Hinsicht, der nicht nur aufgrund seiner Nennung in Neh 4,24 eine wichtige Rolle in der Vier-Monarchien-Lehre spielt, Shaw (wie Anm. 11), S. 177. 14 Vgl. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, S. 7-11; vgl. zum emplotment auch Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 10 2016, S. 177. 15 Vgl. die Ablehnung von White bezüglich der Sinnvermittlung bei Chroniken, in White (wie Anm. 14), S. 7: „In the chronicle, this event is simply ,there‘ as an element of a series; it does not ,function‘ as a story element.“ Verschichten von Geschichte(n) 287 se allesamt angeben. Die Autorität findet sich hierbei stets rubriziert, so als erstes Vinzenz von Beauvais, der bereits im Prolog neben Martin von Troppau und den Flores temporum als eine Hauptquelle angegeben wird, später dann aber nur noch selten, wie in vorliegendem Kapitel, explizit genannt wird. Im weiteren Verlauf fungieren Isidor, Augustinus, Aristoteles, Valerius mit drei unterschiedlichen Zitaten, Horaz sowie Boethius als Quellen, wobei in einigen Fällen sogar das Werk und die genauen Kapitelangaben angegeben werden. Dass dabei bisweilen die Zitate falsch zugeordnet oder verstellt wiedergegeben werden, also die empirische Triftigkeit verletzt wird, bleibt in der Folge sekundär, da vor allem die narrative Triftigkeit im Vordergrund steht, also die Frage nach der erzähltechnischen Gestaltung des Kapitels. 16 Auch die Frage nach der direkten Übersetzungsaktivität bleibt an dieser Stelle unbeachtet. Betrachtet man nun die unterschiedlichen Partikel aus narratologischer Sicht, so erscheinen diese keinesfalls als reine enzyklopädische Aneinanderreihung von Zitaten, sondern durchaus selektiert und miteinander sinnhaft verknüpft. So widmen sich die Vinzenz und Isidor zugeschriebenen Belege vor allem Demokrit und berichten von dessen Herkunft, Ausbildung und Hauptarbeitsfeldern, 17 wobei Isidor die Hauptunterschiede zwischen Demokrit, Heraklit und Pythagoras vorstellt. Paragraphenzeichen markieren die jeweiligen Abschnitte und zugleich einen Quellenwechsel. Dies ist die einzige Stelle des Kapitels, in der Heraklit gewürdigt wird, da im folgenden Augustinus-Exzerpt der Schwerpunkt bereits auf der Biographie und dem Wirken des Anaxagoras liegt. 18 Während die ersten Zitate eher biographische Stichpunkte liefern, 19 wird gerade ab den Valerius-Exzerpten exempelhaft das Wirken des Anaxagoras in den Vordergrund gerückt, wobei sich hier das allgemeine Interesse der Kompilatoren an Redeszenen bestätigen lässt. 20 Allerdings werden auch hier die einzelnen Szenen an die vorhergehenden Zitate angebunden, da die dort vorgestellten Hauptthesen des Anaxagoras exemplarisch vorgeführt werden. 21 Mit dem Boethius-Exzerpt folgt schließlich eine Episode, die auf Anaxagoras‘ Tod verweist, 22 bevor das Kapitel mit einem weiteren, Valerius entlehnten Exzerpt, fortsetzt, in dem auf wenigen Zeilen das Leben und Werk des Aischylos beschrieben wird. 23 In einem abschließenden kontextuellen Verweis, der wieder auf die Herrschaft des Darius verweist, diesmal interessanterweise auf das dreizehnte Herrschaftsjahr im Unterschied zum zehnten zu Kapitelbeginn, beenden die Kompilatoren die Ausführungen und kehren wieder zum chronologischen Grundgerüst 16 Vgl. für die Quellen-Belege, also die Überprüfung der empirischen Triftigkeit die Transkription des Kapitels im Anhang mit Angabe der Herkunftsstellen. 17 Für das Vinzenz-Zitat vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale, in: Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex sive Speculum maius, Douai 1624, ND Graz 1965, liber IV, caput 176; Isidor von Sevilla, Etymologiarum, in: PL 82, liber VIII, caput 9. 18 Allerdings wird hier Augustinus falsch zitiert, es handelt sich nicht um ein Zitat aus dem siebten Buch von De civitate Dei, sondern aus dem achten Buch, vgl. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber VIII, caput 2. Ferner stammt bereits der zweite Teil des Isidor zugeschriebenen Zitats, der die Gegenüberstellung der Antworten Heraklits, Pythagoras’ und Epikurs auf die Frage nach der Urmaterie vornimmt, von Augustinus, vgl. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber VI, caput 5. 19 Zu Aristoteles vgl. Metaphysik X, 1053a, 35f., wobei der Ausspruch hier nicht Anaxagoras, sondern Protagoras zugeschrieben wird. 20 Vgl. 5.10.ext.3 bzw. 7.2.ext.12. 21 Das Horaz-Zitat konnte bisher nicht nachgewiesen werden. 22 An dieser Stelle führt die Überprüfung nicht auf eine Provenienz bei Boethius, sondern wiederum zu Augustinus, vgl. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber XVIII, caput 41. 23 Vgl. 9.12.ext.2. 288 Linus Ubl zurück. Zusätzlich erfolgt die Erwähnung, dass seit dem datierten Jahr in Rom das Amt der Konsuln eingeführt worden war - eine Sachlage, zu der der zweite Band der Chronik im Verlauf der Erzählung um die Geschichte des Römischen Reiches ein eigenes Unterkapitel bietet. Allerdings erfolgt hierbei im Unterschied zu anderen Beispielen kein Verweis darauf, dass diesem Faktum mit einem eigenen Kapitel gewürdigt wird, wobei an anderen Stellen nicht nur auf ein ‚früher‘ oder ‚später‘, sondern in zahlreichen Fällen auf den anderen Chronikband verwiesen wird. Hierbei wird der Status des Gesamtwerkes als planvolles Gesamtkonstrukt von Anfang an deutlich, da durch solche Querverweise immer wieder Zeit und somit Geschichte überbrückt werden kann - Zeitdifferenz erscheint hierdurch als erzähltechnisch gestaltete Komponente. Die Konzeption des Beispielkapitels kann also wie folgt zusammengefasst werden: Auf einem chronologischen Grundgerüst, in diesem Fall der Herrschaft des Darius, werden verschiedene Exzerpte aus diversen Werken, teilweise Chroniken, zu einem bestimmten Thema platziert und kompiliert. Diese Kompilation erfolgt auf einer Ebene über der rein temporalen Ebene, sodass verschiedene Erzählebenen ausgemacht werden können. Einerseits werden die Exzerpte somit über das Zeitgerüst gelegt, andererseits miteinander verknüpft, da sie aufeinander Bezug nehmen, sich gegenseitig ergänzen und damit miteinander ‚verschichtet‘ werden. Das hierdurch entstandene Geschichts-Florilegium, welches von den Autoren in das chronikalische Gesamtgeschehen eingeflochten wird, behält dabei jedoch gleichzeitig seinen Konstruktcharakter, der von den beiden Kompilatoren durchgängig transparent gehalten wird. II. Reflexives Übersetzen in den Excerpta Auf die Thematik der Übersetzung geht bereits der Prolog ein, da die Vorlagen in vielen Fällen von den beiden Kompilatoren ins Deutsche übersetzt wurden. 24 Eine grundsätzliche Untersuchung der Übersetzungstechnik von Platterberger bzw. Truchseß blieb bisher Desiderat, auch wenn für bestimmte Komplexe die unikale Übersetzung bereits gewürdigt wurde, etwa von Brian Murdoch für die Vita Adams und Evas. 25 Die Übersetzungstätigkeit lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen, wobei stellenweise ebenfalls selbstreflexive Tendenzen zu beobachten sind. So werden teilweise einzelne Wörter adressatenspezifisch übersetzt, da die Chronik wohl für ein Publikum geschrieben wurde, welches des Lateinischen selbst in Grundzügen nicht mächtig gewesen zu sein scheint. Neben einigen anderen 24 Laut Weigand (wie Anm. 10), S. 276 gilt dies aber nicht für die Hauptquelle, das Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais. Diese stand, so Weigand, nach der Untersuchung dreier Beispielkapitel, den beiden Schreibern in einer älteren Übersetzung zur Verfügung, welche auch der Handschrift Straßburg, Bibliothèque Nationale et Universitaire, Ms. 2119 als Vorlage diente. Diese Vorlage ist lediglich in Fragmenten erhalten, vgl. ebd. 25 Vgl. zur Vita Adae et Evae Hans Vollmer, Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, Berlin 1912, S. 170f. (mit Teilabdruck aus der Oxforder Handschrift). Vgl. hierzu auch Brian Murdoch, The Apocryphal Adam and Eve in Medieval Europe. Vernacular Translations and Adaptations of the Vita Adae et Evae, Oxford 2009, S.- 175f. Für die Übersetzung der Zitate aus Ciceros De officiis vgl. Peter Kesting, „Ein deutscher ,Cato‘ in Prosa. Cato und Cicero in der St. Galler Weltchronik“, in: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, hg. von Peter Kesting, München 1975 (Medium Aevum 31), S. 161-173, hier S. 165f. Da Kesting noch nichts von der Beziehung der St. Galler Weltchronik und den Excerpta Chronicarum wusste, hatte er Schwierigkeiten mit der Erklärung des Erzählerplurals ‚wir‘, vgl. ebd., S. 165. Zur Übersetzungstechnik stellte Kesting lediglich eine „Tendenz zur Kürzung und zur eindeutigen, leicht faßlichen Aussage“ (ebd.) fest. Verschichten von Geschichte(n) 289 fremden Namen wie etwa Adonai und Tetragrammaton 26 werden im Prolog sogar die römischen Zahlzeichen in die Volkssprache übersetzt. Aber auch größere Exzerptblöcke werden mit einer reflektierenden Notiz eingeleitet, wobei die Autoren dort ebenfalls die Quellen sowie weitere relevante Informationen offenlegen. Als Beispiel sei hier die Einleitung zu einigen Fabeln Äsops angeführt. 27 Dass das Autorenduo einige Äsop-Fabeln übersetzte, hat die Forschung bereits erkannt. 28 Nur ansatzweise wurde dabei jedoch die Einbettung des gesamten Äsop-Abschnittes, in dem Fall als Narrationspartikel, in das übergreifende Gesamtkonzept der Excerpta Chronicarum untersucht. So lautet die Einleitung zu dem Fabelkapitel: Von Esopo seinen peyspielen vnd gedichten yn seiner tugend leret vnd vnsitten straffte AN dem ersten Jare des reichs Ciri Als Eusebius schreibt ward Esopus Adelphus geporn von kriechen aus der stat Attica erslagen Welcher Esopus vil hubscher lere vnd sprüch yn peyspil weys gesetzt hatt des Romulus auß kriechischer sprach Jn latein bracht vnd die Tyberino seinem sun zu vnderweysung zuschicket auf maynung wo er die lesen vnd zu synne nemen wurde das er dann den schimpff mit dem ernst fundt gemischt vnd wie wol solch peyspile vnd sprüch an vil enden in gemelde vnd schrifften gesehen werden haben wir doch ettliche derselben sprüch noch ausziehung Vincenty in seinem puch die herein zu deütsch bringen vnd setzen wöllen Das erst peyspil (Oxford, Bodleian Library, MS. Douce 367, Bl. CXXXIIIIrb-va) Die Einleitung lässt die Verschichtung der einzelnen Exzerpte deutlich erkennen. Während durch die Herrschaftsangabe des Kyros die Einbettung in das chronologische Gerüst gegeben wird, fungiert Eusebius als Autorität für eine kurze Biographie des Dichters. Im Anschluss wird eine kurze Überlieferungsgeschichte geboten, wobei unklar bleibt, ob diese Passage ebenfalls von Eusebius übernommen wurde oder dem allgemeinen Wissensgedächtnis der beiden Autoren. 29 Dabei geht die Passage auf die Tradition des Aesopus Latinus ein, also die spätrömische Übersetzung eines Romulus, unter der die Fabeln im Mittelalter rezipiert wurden und an deren Anfang sich ein Romulus nennt, der die Übersetzung aus dem Griechischen zum Unterricht für seinen Sohn Tiberinus anfertigte. 30 Völlig transparent wird die direkte Vorlage genannt, aus der die beiden Kompilatoren ihre nun folgenden Äsop-Passagen in die Volkssprache übersetzten, nämlich Vinzenz von Beauvais. Es wird sogar geschildert, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass Äsop auch in anderen gemelde vnd schrifften vermittelt und überliefert wird, wobei sich die Autoren letztendlich für Vinzenz als Vorlage entschieden haben, somit der Selektionscharakter des Narrationspartikels deutlich zutage tritt. 26 Oxford, Bodleian Library, MS. Douce 367, Bl. XLVIIIrb, letzteres verschrieben zu tetragraton. Vgl. die Stelle im Autograph, Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. II 86, Bl. LXXXVIIva. 27 Vgl. zum Einschluss literarischer Texte in Chroniken am Beispiel Heinrichs von München Norbert H. Ott, „Kompilation und Offene Form - Die Weltchronik Heinrichs von München“, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott, Berlin 2016, S. 181-196. 28 Vgl. Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987, S. XLIX. 29 Bei Eusebius lassen sich allerdings keinerlei Angaben zu Äsop noch zu dessen Werk finden. 30 Für einen Überblick zum Aesopus Latinus vgl. Niklas Holzberg, Die antike Fabel. Eine Einführung, Darmstadt 3 2012, S. 105-116. 290 Linus Ubl III. Verhandeln von Zeit Zu fragen bleibt allerdings, was geschieht, wenn nicht nur der Charakter der einzelnen Partikel transparent gemacht wird, also die narrative Verschichtung der Geschichte(n) ins Zentrum gerückt wird, sondern der zentrale Bestandteil einer Chronik, die chronologische Verortung historischer Ereignisse. Erst wenn die Zeit selbst zum Gegenstand der Reflexionen wird und somit das chronologische Gerüst in Frage gestellt oder zumindest verhandelt wird, tritt der Doppelcharakter des metachronikalischen Erzählens zutage. Dieser bezieht sich einerseits auf die Kompilation und Verschichtung der einzelnen Exzerpte, die bisher an Beispielen besprochen wurde, andererseits auf die Produktion und Reflexion des zugrundeliegenden Zeitgerüstes. Als die beiden Kompilatoren das erste Zeitalter beschließen, sehen sie sich dort mit differierenden Zahlenangaben in ihren Quellen konfrontiert: vnd hiemit enden wir das erst alter der werlt begreyffende zehen gepurte vnd hat ym nach der warheit der hebereyschen schrifft Tausent Sechshundert vnd zwayundfirczig Aber nach der Rechnung der lxxij Interpretum vnd Mayster Auch nach beschreibung Ysidorij Jn dem fünfften buch Ethymologiarum zwaytausend zwayhundert vnd zwayunduierczigk Jar (MS. Douce 367, Bl. VIIIvb) Somit steht die Vulgata der Septuaginta und Isidor gegenüber, immerhin in ihrer Angabe um 400 Jahre abweichend. 31 Bemerkenswert erscheint hierbei nicht etwa die Tatsache, dass der altbekannte Widerspruch der beiden Bibeltexte nicht aufgelöst wird, ja vermutlich aufgrund der Quellenautorität auch gar nicht aufgelöst werden kann, sondern vielmehr, dass beide Zeitangaben parallel samt jeweiliger Quellenangabe präsentiert und nebeneinander stehengelassen werden. 32 Es wird folglich Aufgabe des Rezipienten, mit dem dargebotenen Widerspruch umzugehen. Zeit erscheint also nicht nur als von den Kompilatoren gesetzte Kategorie, viel eher muss diese auch von den Rezipienten akzeptiert und als solche anerkannt werden, um dem chronikalischen Prinzip seine Geltung zu verschaffen. An manchen Stellen sahen sich die Autoren jedoch auch dazu gezwungen, sich für eine von mehreren Lesarten bzw. Datierungen zu entscheiden, wobei in den meisten Fällen eine Begründung für die Entscheidung dargeboten wird. So wird etwa im Unterkapitel zu Judas Makkabäus am Ende betont, dass im Gegensatz zu anderen, nicht spezifizierten Chroniken, einer bestimmten Angabe gefolgt wird: vnd wann yn den Cronicken mancher hant zale der Richter noch dem tod Josue funden wyrtt volgen wir hie der Cronicken Eusebij vnd halten die zale dye man lysett yn dem drytten buch der kunig Also das von anfang der kynder von Yßrahel aus Egipten biß zu pawung des tempels zu Jerusalem sich verlauffen vnd ergangen haben iiij C vnd lxxx Jare (MS. Douce 367, Bl. LXIIIIrb-va) 31 Inwieweit diese Differenzen auch späteren Historiographen in der Frühen Neuzeit nicht nur Probleme bereitete, sondern auch Möglichkeiten zu Konkordanzen eröffnete, zeigt Benjamin Steiner, Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit, Köln 2008, S. 306f. auf. Vermutlich handelt es sich in den Excerpta Chronicarum hierbei auch um einen Schreibfehler, der sowohl im Autographen als auch der Oxforder Abschrift auftritt: Gemeinhin beträgt der Zeitabschnitt bis zur Sintflut nach Zählung der Vulgata 1656 und nach der Septuaginta 2242 Jahre. Zur Diskussion vgl. bereits in der aus dem Armenischen übersetzten Chronik des Eusebius bei Josef Karst, Eusebius Werke. Fünfter Band. Die Chronik, Leipzig 1911, S. 39f. 32 Ähnliche Vorgehensweise findet sich bereits bei Vinzenz, vgl. Weigand (wie Anm. 10), S. 257, Anm. 574. Verschichten von Geschichte(n) 291 Selbstverständlich bleibt letzten Endes die biblische Angabe ultimative Instanz (1 Reg 6,1), zusätzlich verstärkt durch die Autorität Eusebius, 33 aber die grundsätzliche Alternativsetzung anderer Quellen wird durchaus akzeptiert und anerkannt, auch wenn ihr in diesem Beispiel nicht gefolgt wird. Die genauen Zahlenangaben, die in den anderen Chroniken angeführt werden, werden nicht benannt, wohl weil für die genannten Quellen wiederum Eusebius als Vorlage dient und folglich keine weiteren Angaben durch die Autoren selbst getätigt werden konnten. Um zu zeigen, dass sich solche Angaben nicht nur auf biblische Datierungen erstrecken, sondern auch chronologische Datierungen miteinander verhandeln, sei noch ein kurzes Beispiel nur wenige Blätter später genannt, in dem unter anderem Herkules und die Amazonen im Zentrum stehen. Auch hier findet am Ende eine Einordnung in das zeitliche Grundgerüst statt: vnd von dem selben Jare biß auf das vierd Jare kunig Achas yn Ißrahel herschung das do was das erst Jare pawung der Stat Rom wyrtt yn Cronicken gefunden iiij C xxxviij Aber Orosius setzt iiij C vnd xxx Jare do schwuren die Kriechen zusamen von der empfurung wegen Helenam vnd besassen die Stat Troya zehen Jare (MS. Douce 367, Bl. LXIXra) Wie in den früheren Beispielen stehen nicht näher spezifizierte Chroniken im Gegensatz zu einer anderen Quelle, hier Orosius. 34 Im Unterschied zu der zuvor zitierten Passage werden hier jedoch die sich um acht Jahre unterscheidenden Angaben wieder parallel nebeneinandergestellt, ohne dass sich die Autoren für eine Datierung entscheiden. Somit werden zusammenfassend im Verlauf der Erzählung nicht nur die einzelnen Geschichtspartikel selbst verhandelt, sondern die Zeit selbst wird zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen. IV. Metachronikalisches Erzählen als Strukturprinzip Versucht man nun aus den bisher vorgestellten Beispielen, die natürlich nur einen ausschnitthaften Einblick in die Prinzipien des Gesamtwerkes geben, ein Fazit zu ziehen, so lässt sich konstatieren, dass die Verfahrensweisen des chronographischen Beschreibens, des chronikalischen Erzählens sowie des metachronikalischen Verhandelns der beteiligten Exzerpte in gegenseitigem Austausch stehen. Diese Methode kann als erzählerisches Grundprinzip in den Excerpta Chronicarum verfolgt werden. Bereits im Prolog wird ein solches poetologisches Prinzip programmatisch vorgestellt - es sei hier in einem längeren Ausschnitt aus dem Prolog präsentiert: Jn welchenn hieuorberürten Cronicken vnd schrifften aber die maynung der interpretum vnd ausleger auch ander lerer in etlichen stücken vnd zalen der zeytt etlicher mas vngeleich helend vnd lauttende sich ereügen Darumb bruder Herman Gigas Jn beschreybung seiner Cronicken hieuor gemelt vnder den alten Orosium ein discipel sant Augustins vnd Ysidorum Ethymologiorum vnd vnder den 35 Newen bruder Vincencium Auch bruder Martinum vorgenant yn iren Cronicken nach gefolget vnd die doch in etlichen stückenn auch nit vberein ziehen Sich auff das myttel gelegt hatt dem wir dann auch nach zufolgen vnd mit zuhellen vns vermessen haben […] diss buch ist genant Excerpta Cronicarum ein 33 Vgl. Karst (wie Anm. 31), S. 50. 34 Vgl. Paulus Orosius, Historiarum adversum Paganos, in: PL 31, liber I, caput 17. Vgl. zur Stadtära auch Alexander Demandt, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015, S. 324f. 35 Als Nachtrag über der Zeile ergänzt. 292 Linus Ubl versampnung lusperlicher sachen tat vnd geschichten gezogen aus vil Cronicken vnd ist gemachtt worden des Jars von anfang der werlt zu zellen vjM vjC lviij von anfang vnd pawung der Stat Rome ijM ijC xj vnd von Cristi vnsers lieben herren gepurtt Tawsent vierhundertt vnd ym Newnundfunfftzigisten iaren des tags Mercury der funfften Nonas July der do was der xj tag desselben monats July oder hewmon genant Jn der Sybenden Romer zal Jndicio genant der regirung Babst Pij des andern ym ersten vnd kayser fridrichs des drytten kuniglicher wirden ym xx vnd des kayserthumbs ym achten Jare (MS. Douce 367, Bl. Ira-va) Deutlich werden in diesem Abschnitt die Hauptquellen, Vinzenz von Beauvais, Martin von Troppau und die Flores temporum benannt, wobei die zahlreichen anderen Quellen für Exzerpte erwähnt werden. Ob mit dem gezogen die Übertragung in die Volkssprache von beiden Kompilatoren thematisiert wird, kann dabei vermutet werden, auch wenn hierbei für die jeweiligen Einzelfälle von unterschiedlichen Vorgehensweisen zwischen direkter Übersetzung und der Übernahme bereits übersetzten Materials ausgegangen werden muss. 36 Selbst die Frage, wie mit differierenden Zeitangaben umgegangen wird, problematisieren die Autoren. In Anlehnung an die Fortsetzung der Chronik Martins von Troppau wird in strittigen Fällen der Mittelwert gebildet und somit das zeitliche Grundgerüst erstellt, auf dem die einzelnen Geschichten, eine versampnung lusperlicher sachen tat und geschichten, angeordnet werden. Obgleich das intendierte Publikum des Lateins so unkundig ist, dass sogar die römischen Zahlzeichen in die Volkssprache übersetzt werden müssen, 37 erfolgt trotzdem die Vergabe eines lateinischen Titels, welcher im Unterschied zu der volkssprachlichen Übersetzung den gelehrten Charakter des Werkes unterstreicht. Schließlich erfolgt die finale Einordnung des eigenen Werkes in genau dieses aufgespannte zeitliche Grundgerüst. Dabei werden exakt diejenigen unterschiedlichen Datierungen aufgerufen und somit fortgeschrieben, mit denen die zahlreichen Geschichtsexzerpte aneinandergereiht werden, etwa die Gründung der Stadt Roms oder die Herrschaftsjahre der unterschiedlichen Kaiser und Herrscher. Dabei folgt die Darstellung dem mendikantischen Modell der Unterteilung in Kaisersowie Papstgeschichte, wie sie etwa in der Chronik Martins von Troppau vorgenommen wird. Die Autoren betrachten dadurch das Ergebnis ihrer Arbeit als Teil der gesamten Heilsgeschichte und damit wiederum in einer Wechselbeziehung zur erzählten Vergangenheit stehend. Ohne diese Vergangenheit gäbe es keine Geschichten für vorliegende Chronik, umgekehrt bedarf es aber des chronikalischen Werkes und der Arbeit der beiden Kompilatoren, ohne die ebendiese Vergangenheit nicht erzählt werden könnte. Da diese Vergangenheitserzählung über verschiedene Quellen funktioniert, ergeben sich somit verschiedene Ebenen, zwischen denen die Erzählung an der Oberfläche hin- und herchangiert. Bereits im Titel wird hierbei der Anspruch auf ein einziges Geschichts-Buch, ein ‚Liber chronicon‘, wie etwa in der Kaiserchronik, aufgegeben. 38 Stattdessen wird durch den Titel Excerpta Chronicarum die Verschichtung von Narrationspartikeln bzw. Vergangenheitspartikeln transparent gemacht, wobei nicht nur die einzelnen Geschichten an sich als solche Partikel angesehen werden, sondern die Zeit selbst verhandelt wird. So konstituieren sich 36 Vgl. oben Anm. 24 und 25. 37 vnd dorumb das die zalle in etlichen alten gemainen schrifften nit einem itlichen verstentlich ist So haben wir die gemainen deütschen zall hierJnn seczen vnd doch dabey die zal alter geschrifft nit vnerclert lassen wöllen (MS. Douce 367, Bl. Irb). 38 Auch Hartmann Schedels Chronik versteht sich wenige Jahrzehnte später als Liber chronicarum. Vgl. zum Begriff crônicâ im Prolog der Kaiserchronik Alastair Matthews, The Kaiserchronik. A Medieval Narrative, Oxford 2012, S. 8-10. Verschichten von Geschichte(n) 293 verschiedene Zeiten auch auf historiographisch-chronologischer Ebene, neben der erzählten Zeit nämlich die Abfassungszeit der verschiedenen Quellen, die wiederum von dem Autorenduo zu einer späteren Zeit neu kompiliert werden. Schon im Titel erfolgt daher eine Reflexion von Geschichte, da die Konstitution des Gesamtwerkes als narratives Konstrukt hervorgehoben wird. Hierbei avanciert auch die Zeit zum Gegenstand von Verhandlungen, die bei mehr oder minder ausgeprägter ‚Quellenkritik‘ - zumindest in Ansätzen in einem heutigen modernen Verständnis - konstruiert und gesetzt werden muss. Erst wenn solche Verhandlungen, etwa die chronologische Bestimmung bei bestimmten Ereignissen, ausgeführt werden und von dieser stattfindenden Verhandlung auch erzählt wird, kann mit der Erzählung der das Zeitgerüst besetzenden Geschichten fortgesetzt werden. Somit wird ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein spürbar, welches für die Konzeption des Gesamtwerkes als Ansammlung von Geschichtsexzerpten von zentraler Bedeutung zu sein scheint. Durch diese Erzählstrategie erhalten die Excerpta Chronicarum ihre Besonderheit im Geflecht spätmittelalterlicher Chronistik, stehen dabei jedoch nicht alleine. Die an sich gestellten Prinzipien werden jedoch konsequent durchgesetzt und in zahlreichen Fällen ‚auserzählt‘. Während Platterberger und Truchseß in ihrer Struktur und ihrem Inhalt durchaus in der Tradition älterer Modelle stehen, weisen sie in ihrer Ausgestaltung und ihren poetologischen Prinzipien bereits auf spätere historiographische Perspektiven hin und zeigen, dass Geschichtsschreibung immer aus der Verschränkung von Vergangenheitspartikeln einerseits und Narrationspartikeln andererseits erfolgt. Bezüglich Whites Überlegungen erscheint es also durchaus fraglich, ob eine temporale Anordnung historischer Ereignisse automatisch einer Sinnvermittlung widerspricht, oder ob durch das Erzählen einzelner plots nicht doch größere Vermittlungszusammenhänge konstruiert und transportiert werden können. Gerade im Bereich mittelalterlicher Chronistik erscheint eine solche Intentionalität durchaus fassbar zu sein, wenn Chroniken hierbei als Teil enzyklopädischen Erzählens als „Bild und Spiegel der Welt“ 39 fungieren. Vor allem in dem sich herausbildenden Genre der ‚Stadtchroniken‘, die sich laut Johanek nur schwer den konventionellen Genreeinteilungen aus Annalen, Chronik und historia zuordnen lassen, zeigt sich der Beitrag zur Identitätsstiftung durch Erzählen bestimmter Ereignisse. 40 Meyer weist dies etwa am Beispiel von Sigismund Meisterlin im Unterschied zu den Excerpta nach, etwa was die Selektion und Anordnung bestimmter Partikel angeht, deren Ziel in der Darstellung und Vermittlung einer anderen Wahrheit als der von späteren Historikergenerationen liegt. 41 Die Untersuchung der Triftigkeiten im Rahmen eines Dekonstruktionsprozesses, vor allem hinsichtlich der narrativen Triftigkeit, erlaubt es dabei, eine differenzierte Perspektive auf die (spät)mittelalterliche Chronistik einzunehmen, die einen Einblick in die praktische Vorgehensweise der jeweiligen Autoren verschafft. Für die mittelalterlichen Historiker gilt somit in noch viel größerem Maße als für ihre neuzeitlichen Nachfolger, dass Historiographie 39 Christel Meier, „Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung“, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 467-500, hier S. 479. Vgl. grundsätzlich zur Ordnung von ‚Weltbüchern‘, in denen die Geschichte einen Bereich unter mehreren darstellt ebd., S. 478-483. 40 Vgl. Peter Johanek, „Das Gedächtnis der Stadt: Stadtchronistik im Mittelalter“, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott, Berlin 2016, S. 337-398, hier S. 386. 41 Vgl. Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen 26), S. 142-149. 294 Linus Ubl vor allem Neuvertextung bereits vorhandener Konstruktionen bedeutet. 42 Wenn bei einer solchen Neuvertextung die ihr zugrundeliegenden Prinzipien so reflektiert werden wie bei den Excerpta Chronicarum, kann hierbei, der Anfangsthese folgend, durchaus von einem metachronikalischen Erzählreflex gesprochen werden. Dieser lässt sich zwar in kleineren und größeren Ausprägungen auch in anderen Chroniken finden, erscheint in vorliegendem Fall aber geradezu als bestimmende Narrativierungsstrategie. ‚Geschichtspartikel‘ können also in Form von Excerpta Chronicarum in den Excerpta Chronicarum in ihrem doppelten Charakter angetroffen werden. Anhang Kapitel über Demokrit, Heraklit, Anaxagoras und Aischylos 43 (Bl. CXLIra) Von Democrito Eraclito den weysen vnd Anaxagoro vnd Hesquilo den poetenn In dem zehenden Jar Dary herschung waren Democritus vnd Eraclitus die philosophien Anaxagoras der Arczt vnd Hesquilus der beschreiber der siten Vincencius Spricht das Democritus (Bl. CXLIrb) was geborn von Abberites vnd was der reichst vnd verließ all sein veterlich erbe den burgern daselbst vnd kam gein Athenis do erplendet er sich selbs vmb des willen das er dester ein scherpfer gedechtnus haben mocht vnd das er nicht sehe das es den posen burgern wol giennge auch das er die frauen an begirde nicht mocht ansehen Unde de Demetrio (! ) philosopho refert A. Gellius in libro Noctium Atticarum quod natione Abderites fuerit et ditissimus, qui omne patrimonium suum relinquens suis civibus, Athenas profectus est et ibi oculos sibi eruit, tanquam, scilicet impedimenta bonorum studiorum, ut vegetatiores cogitationes haberet. Liberius tamen dicit eum oculos sibi eruisse, ne videret bene esse malis civibus. Tertullianus dicit, quod ideo excaecavit seipsum, quia mulieres sine concupiscentia aspicere, non poterat. Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale, in: Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex sive Speculum maius, Douai 1624, ND Graz 1965, liber IV, caput 176 42 Vgl. Klaus Weimar, „Der Text, den (Literatur)Historiker- schreiben“, in: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, hg. von Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich und Klaus R. Scherpe, Stuttgart 1990, S. 29-39, hier S. 29. 43 Die folgende Transkription erfolgt nach der Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS. Douce 367. Die u/ v-Unterscheidung wird beibehalten, ebenso die Groß- und Kleinschreibung. Eigennamen werden jedoch immer kapitalisiert. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. In der Handschrift rubrizierte Wörter werden in der Transkription unterstrichen, ansonsten wird die Strichelung einzelner Buchstaben nicht ausgewiesen. Schaft-s wird als Rund-s transkribiert. Für einen besseren Überblick und im Hinblick auf die Fragestellung wird nach Möglichkeit auf die Patrologia Latina verwiesen. Im Falle der Valerius Maximus-Zitate wird der online zugänglichen (www.thelatinlibrary.com/ valmax.html) Editio stereotypa, Leipzig 1830, gefolgt. Aristoteles wird nach gängigem Muster zitiert. Verschichten von Geschichte(n) 295 Ysidorus spricht das Democritus dye kunst der zauberei sere braitet bey Ypocras zeyten ¶ Eraclitus sprach das all gott wern gemacht aus dem fewre ¶ Pittagoras sprach aus der zale ¶ Epicurus aus den staubern der Sunnen Hanc artem multa post saecula Democritus ampliavit, quando et Hippocrates medicinae disciplina effloruit Isidor von Sevilla, Etymologiarum, in: PL 82, liber VIII, caput 9 Secundum genus est, inquit, quod demonstravi, de quo multos libros philosophi reliquerunt: in quibus est, dii qui sint, ubi, quod genus, quale; a quodam tempore, an a sempiterno fuerint dii; ex igne sint, ut credit Heraclitus; an ex numeris, ut Pythagoras; an ex atomis, ut ait Epicurus. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber VI, caput 5 Augustinus spricht ym vij buch von der stat gotes Anaxagoras was ein hörer Anaximene vnd dieser Anaxagoras erkant das die gotlich vernufft yn allen dingen die wir sehen mer denn ein anders Anaxagoras vero, ejus auditor, harum rerum omnium, quas videmus, effectorem divinum animum sensit; et dixit ex infinita materia, quae constaret similibus inter se particulis, rerum omnium genera pro modulis et speciebus propriis singula fieri, sed animo faciente divino. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber VIII, caput 2 Aristotules spricht yn dem zehenden puch Metaphisica das Anaxagoras sprach das der mensch wer ein maß aller ding Protagoras uero hominum omnium ait esse metrum (…) 44 Aristoteles latinus, Metaphysica, Üs. von Wilhelm von Moerbeke, liber X, caput 1 Valerius Jn dem siebenden puch spricht das Anaxagoras von einem wort gefragt wer selig wer Antwort er der ist selig den du yn maß vindest wenn derselb heltt ein recht domit er bezwingt die grosten als die spynn grossere tyere vecht mit irm netze wenn sie aus der naturn maß nicht geet Nec parum prudenter Anaxagoras interroganti cuidam quisnam esset beatus ‚nemo‘ inquit ‚ex his, quos tu felices existimas, sed eum in illo numero reperies, qui a te ex miseris constare creditur‘. non erit ille diuitiis et honoribus abundans, sed aut exigui ruris aut non ambitiosae doctrinae fidelis ac pertinax cultor, in recessu quam in fronte beatior. Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilium libri IX, 7.2.ext.12 Valerius Jm funfften puch spricht Da Anaxagoras seins suns tod erhöret Sprach er du sagst mir nit vnpaitlich ding wenn west wol das er todlich was wenn was geporn oder lebend wirtt das ist todlich Ne Anaxagoras quidem supprimendus est: audita namque morte filii ‚nihil mihi‘ inquit ‚inexspectatum aut nouum nuntias: ego enim illum ex me natum sciebam esse mortalem‘. has uoces utilissimis praeceptis inbutas uirtus mittit. quas si quis efficaciter auribus receperit, non ignorabit ita liberos esse procreandos, ut meminerit his a rerum natura et accipiendi spiritus et reddendi eodem momento temporis legem dici, atque ut mori neminem solere, qui non uixerit, ita ne uiuere [aliquem] quidem posse qui non sit moriturus.“ Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilium libri IX, 5.10.ext.3 44 Vgl. Aristoteles, Metaphysik X, 1053a35f.: Πρωταγόρας δ’ ανθρωπόν φησι πάντων είναι, μέτρον (…). 296 Linus Ubl Oracius spricht do er ein Bischoue herre Jupiters haus weyhett hielt Anaxagoras das turgestudel (! ) yn der hant do kam einer vnd sagt ym den tod seins suns do ließ er den turgestudel nicht aus der hantt noch verkeret sein antlutz nye von geystlicher übung Boetius yn dem ersten puch von dem trost der weysheytt offenbart Anaxagoras tod wann die von Athen gaben ym giffte zu trincken dorumb das er sprach die Sunn wer ein prynnender stein die sie doch fur iren gott anpetteten vnd des Anaxagoras nochuolger (Bl. CXLIva) was Archelaus der ein lermaister Socrates was Unde miror cur Anaxagoras reus factus sit, quia solem esse dixit lapidem ardentem, negans utique Deum, cum in eadem civitate gloria floruerit Epicurus, vixeritque securus, non solum solem vel ullum siderum Deum esse non credens, sed nec Jovem, nec ullum deorum omnino in mundo habitare contendens, ad quem preces hominum supplicationesque perveniant. Augustinus, De civitate Dei, in: PL 41, liber XVIII, caput 41 Valerius spricht yn seinem newnden puch das Hesquilus eins wunderlichen tods starbe wann ein are furet ein sneckenn auf die maure do vnder saß Hesquilus do der are den snecken auff tett vielen ym die scherben auff das haubt das er starbe wan ym das haubt kal was vnd glais ym gein der sunnen Aeschyli uero poetae excessus quem ad modum non uoluntarius, sic propter nouitatem casus referendus. in Sicilia moenibus urbis, in qua morabatur, egressus aprico in loco resedit. super quem aquila testudinem ferens elusa splendore capitis - erat enim capillis uacuum - perinde atque lapidi eam inlisit, ut fractae carne uesceretur, eoque ictu origo et principium fortioris tragoediae extinctum est. Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilium libri IX, 9.12.ext.2 ¶ Jm xiii Jare dary herschung gingen die Romischen kunig vnd yr gewalt bey Tarquino dem hochuerttigen abe der vertriben ward die ii C vnd xliij Jar geherscht hetten dornach vingen die Romer an alle Jar zwen Consules zuhaben die Regiurten iiij C vnd lxij Jare geherscht hetten vnd kriegten stetigs wider alle lannde vnd veyrten yn den Jarn allen nit mer dann einen Summer vnd tetten yderman gerechtigkeytt Verschichten von Geschichte(n) 297 Abb. 1: Oxford, Bodleian Library, MS. Douce 367, Bl. CXLIr. © The Bodleian Libraries, The University of Oxford Biblische Geschichte für den Druck 299 Biblische Geschichte für den Druck Die Vier Historien (Bamberg 1462) Henrike Lähnemann Im Mai 1462 brachte Albrecht Pfister eine illustrierte Kompilation von vier Exzerpten aus dem alttestamentlichen Bestand der deutschen Historienbibel auf den Markt. Es war ein volkssprachlicher Druck der ersten Stunde, ein Kleinfolioband gedruckt in der eindrucksvoll großen Type der 36-zeiligen Bibel, die schon vor der Gutenberg-Bibel für Einblattdrucke zum Einsatz kam. 1 Eine genaue Analyse des Buchs ermöglicht einen detaillierten Einblick in die technologische und intellektuelle Werkstatt, in der die ersten gedruckten illustrierten Bücher entstanden: Die Geschichten von Joseph, Daniel, Judith und Esther werden als Episoden einer Erzählfolge narrativ und drucktechnisch auf ein einheitliches Format gebracht und chronologisch aufgereiht. Wird in chronistischen Großwerken wie der Kaiserchronik durch rahmende Bemerkungen und Handschriftenrubriken Einheit zwischen disparaten Erzählstoffen und Exempla geschaffen, so geschieht das hier im Layout. Im Experimentieren mit dem Medium entwickelte sich das Drucken von Geschichten aus dem Erzählen von Geschichte. Den Entstehungsprozess und die Absicht dieses in vieler Hinsicht neuartigen Unternehmens beschreibt ein Schlussgedicht (Abb. 1). 1 GW 12591 (http: / / gesamtkatalogderwiegendrucke.de/ docs/ GW12591.htm [27.07.20]), ISTC ih00286500 (https: / / data.cerl.org/ istc/ ih00286500). Der einzige direkt den Vier Historien gewidmete Beitrag ist die Miszelle von Erich Zimmermann, „Der Bamberger Druck der Vier Historien von 1462“, in: Neue Beiträge zur Geschichte der deutschen Bibel im Mittelalter, hg. von Hans Vollmer, Potsdam 1938, S.-156-158. Zu Albrecht Pfister grundlegend Sabine Häußermann, Die Bamberger Pfisterdrucke. Frühe Inkunabelillustration und Medienwandel, Berlin 2008 (Neue Forschungen zur deutschen Kunst 9). Weiterhin unverzichtbar für den drucktechnischen Hintergrund Gottfried Zedler, Die Bamberger Pfisterdrucke und die 36zeilige Bibel, Mainz 1911 (Veröffentlichungen der Gutenberg-Gesellschaft 10-11). Falko Klaes, „Die Werke der Bamberger Offizin Pfister zwischen Handschrift und Druck“, in: Die Stadt des Mittelalters an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Beiträge des interdisziplinären (Post-) Doc-Workshop des Trierer Zentrums für Mediävistik im November 2017, hg. von Inge Hülpes und Falko Klaes (Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, Beihefte 1), S.-17-41, kommentiert die wichtigste Forschungsliteratur zu Pfister auf dem Stand von Mai 2018 als Ankündigung eines Habilitationsprojekts zu den Werken der Offizin; online unter: https: / / mittelalter.hypotheses. org/ 12596. 300 Henrike Lähnemann Abb. 1: Kolophon, Vier Historien, Bamberg: Albrecht Pfister 1462, Bl.-60r (Manchester, John Rylands Library, 9375); Abbildung Originalgröße, Maße Schriftspiegel: 22,7 x 14,6 cm Biblische Geschichte für den Druck 301 Ein ittlich mensch von herzen gert, Das er wer weisz vnd wol gelert. An meister vnd schrift das nit mag sein, So kunn wir all auch nit latein. 5 Darauff han ich ein teil gedacht Vnd vier historij zu samen pracht: Joseph, daniel vnd auch iudith, Vnd hester auch mit gutem sith. die vier het got in seiner hut, 10 Als er noch ye den guten thut, Dar durch wir pessern vnser leben. Dem puchlein ist sein ende geben Czu bambergk in der selben stat, Das albrecht pfister gedrucket hat, 15 Do man zalt tausend vnd vierhundert iar, Im zweiundsechzigsten, das ist war, Nit lang nach sand walpurgen tag, Die vns wol gnad erberben mag, Frid vnd das ewig leben, Das wolle vns got allen geben! Amen. (Vier Historien, Bl.-60r) 2 Zu weiten Teilen steht dieses Drucker-Kolophon in der Tradition der aus Handschriften bekannten Schreibernennungen. Dazu gehört, dass der Text lokalisiert und datiert wird, hier mit Bezug auf Ort, Jahr und das im Fränkischen besonders gefeierte Heiligenfest Walburga (1. Mai), so dass das Kolophon nahtlos in die Fürbitte übergehen kann, eine traditionelle Aufgabe des Explizit. Ebenfalls bewährt ist die Präsentation der historij als Handreichung mit dem Ziel der Lebensverbesserung. 3 Für den Erwerb von Weisheit und Gelehrsamkeit wird Orientierung gefordert, die mit den Begriffen Meister, Schrift und Latein umrissen ist. Das Konzept der volkssprachigen Geschichtserzählung als belehrende Kombination von Autorität, Bibel und Übersetzung erfüllt damit ein grundlegendes Bedürfnis: Durch die Serie der vier alttestamentlichen Vorbildfiguren werden Muster erkennbar, deren Gesamtschau exemplarisch wirkt. Das ist vergleichbar mit der fast gleichzeitigen Umsetzung von biblischen Stoffen in ein Historienbuch durch Jörg Stuler (1479), der ebenfalls für seine 2 Die Vier Historien werden im Folgenden nach den Digitalisaten der beiden einzigen erhaltenen Textzeugen diplomatisch, aber mit moderner Interpunktion zitiert. Paris, Bibliothèque nationale de France, Rés. A. 1646 (2); Manchester, John Rylands Library, 9375. Die Folio-Angaben beruhen auf dem Pariser Exemplar, da das Manchester Exemplar einzeln neu in Rahmen montiert wurde, wobei der Lagenverbund zerstört wurde und zwei leere Seiten verloren gingen. 3 Die Schreibung historij oder history ist eine Variante der seit dem 14. Jahrhundert gebräuchlichen eingedeutschten Form histori mit langem i für lateinisch historia, die von Pfister für Singular wie Plural gebraucht wird, vgl. Henrike Lähnemann, Hystoria Judith. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Berlin/ New York 2006 (Scrinium Friburgense 20), S.-243. Grundlegend zur Begrifflichkeit der Historie Joachim Knape, „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia 10). 302 Henrike Lähnemann Sammlung eine Bearbeitung von Volkssprache zu Volkssprache vornimmt und sich als Kompilator des Stoffes nennt. 4 Neu ist, dass hier die Bausteine von Quellenangabe, Erbauungsforderung und Kompilatornennung für ein gedrucktes Buch verwendet werden - und dass dabei zum ersten Mal im Deutschen das Wort ‚drucken‘ für den Prozess des Druckens mit beweglichen Lettern verwendet wird. 5 Damit erhält die Schilderung, wie die historij zu samen bracht worden sind (Vier Historien, Bl.-60r), eine neue Bedeutung. Es handelt sich nicht um ein programmatisches ‚Lob der Prenterie‘, wie es sich in Lübecker Drucken der späten Inkunabelzeit findet, 6 aber das Gedicht stellt doch die Möglichkeiten des neuen Mediums deutlich aus. Das entsprechende Verständnis von Historie bildet sich im 14. Jahrhundert gerade anhand von alttestamentlichen Geschichten aus. Entsprechend verarbeitet findet sich die Judithgeschichte etwa in den Historien der alden e (vor 1350), 7 deren Autor am Anfang das Neue Testament als zu schwierig und langatmig erklärt und programmatisch für eine Kurzversion des Alten Testaments in Historienform eintritt: Di bucher der nuwen e Ich laze varn, und durch vle Wil ich ein buch grifen an Der alden e; ir sult verstan, Di heilge scrift an allen wanc Ist gar swer und alzu lanc; Dorumme wil ich grifen an Di historien und uberslan Nach minen sinnen, als ich mag. (V.-35-43) Entsprechend definiert er historien als Beschreibung von Ereignissen im Alten Testament und behauptet, dass das von ‚den Weisen‘ so gehandhabt würde: Historien, di wisen ien,-/ Sin werk, di da sint geschen-/ In der alden e hivor (V.-51-53). 8 Der andere von Pfister in seinem Schlussgedicht verwendete Begriff, das ‚Zusammenbringen‘ (Z. 6), ist eine deutsche 4 Lähnemann (wie Anm.-3), Kap. III.2. Gisela Kornrumpf, „Stuler, Jörg OT“, in: 2 VL, Bd.-9 (1995), Sp.-464- 466. 5 Klaes (wie Anm.-1), S.-22. Die Bedeutung der Schlussschrift für die Druckgeschichte wurde schon früh erkannt, vgl. den Abdruck als Tafel VI in J. Wetter, Kritische Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johann Gutenberg zu Mainz, begleitet mit einer, vorhin noch nie angestellten, genauen Prüfung und gänzlichen Beseitigung der von Schöpflin und seinen Anhängern verfochtenen Ansprüche der Stadt Straßburg, und einer neuen Untersuchung der Ansprüche der Stadt Harlem und vollständigen Widerlegung ihre Verfechter Junius, Meerman, Koning, Dibdin, Otley und Ebert. Mit dreizehn großen Tafeln voll sehr genauer Facsimiles, Mainz 1836, und sprachgeschichtliche Diskussion bei Edward Schröder, „Philologische Beobachtungen zu den ältesten Mainzer und Bamberger Drucken in deutscher Sprache“, in: Centralblatt für Bibliothekswesen 19 (1902), S.-437-451. 6 Überschrift im Mohnkopf-Plenarium von 1492 (ISTC ie00088600 / GW M34208) Wo gud unde durbar de kunst der prenterie is. Dazu Elizabeth Andersen, „Religious Devotion and Business: The Pre-Reformation Enterprise of the Lübeck Presses“, in: Ons Geestelijk Erf 87 (2013), S.-200-223, hier S.-212. 7 Historien der alden e, hg. von Wilhelm Gerhard, Leipzig 1927 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 271). Zur Textstelle vgl. Lähnemann (wie Anm.-3), S.-289. 8 Eine noch frühere deutschsprachige Zusammenstellung alttestamentlicher Beispielerzählungen bietet das Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Buch der Könige. Gisela Kornrumpf, „Das Buch der Könige. Eine Exempelsammlung als Historienbibel“, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota u. a., Tübingen 1992, Bd.-1, S.-505-527. Biblische Geschichte für den Druck 303 Variante von ‚Kompilation‘. Es wird also ein Geschichten-Zyklus angekündigt, der über die namengebenden Figuren zusammenhängt. Im Epilog zu den Vier Historien wird Albrecht Pfister damit als erster Drucker-Autor fassbar. 9 Sein Gedicht ist nicht nur der erste gedruckte Epilog für ein deutsches Buch, sondern wir können in den Vier Historien das erste genuin für den Druck konzipierte Buch greifen. Hier wird nicht ein bereits handschriftlich geformtes Textgebilde reproduziert, sondern ein Text-Bild-Verbund konzipiert, der für das neue Medium geschaffen ist. Es wurde bereits vermutet, dass die Textfassung auf Pfister zurückgeht, 10 aber noch nicht untersucht, welch ein Konzept sich hinter dieser Unternehmung verbirgt. Die These meines Beitrags ist, dass es Albrecht Pfister gelingt, durch Textauswahl und Bildprogramm die Vier Historien als ein in sich geschlossenes Geschichtswerk zu präsentieren, und dass er damit einen neuen Buchtyp erschafft. I. Der Drucker-Autor Albrecht Pfister Albrecht Pfister ist in Bamberg seit 1448 als ‚clericus conjugatus‘ bezeugt. 11 Dort tritt er als Prokurator Georgs von Schaumberg im Streit um die Dompropstei auf; das verschaffte ihm eine wichtige Rolle am Hof, als dieser 1459 Fürstbischof von Bamberg wurde. Als Sekretär des Bischofs hatte er direkten Zugriff auf das gesamte Archiv und die Bibliothek mit ihrem phantastischen Fundus auch an illuminierten kostbaren Handschriften. Gleichzeitig wohnte er mit seiner Familie zwischen den Handwerkern und Händlern der Stadt, die die technischen Voraussetzungen für die Instandhaltung von Druckerpressen, den Einkauf von Papier und den Vertrieb der fertigen Bücher boten. Die Lage seines Hauses im Sonnengässchen auf der Bamberger Flussinsel spiegelt diese geistlich-weltliche Zwischenstellung. Er starb am 13. April 1466. Seine Druckproduktion konzentriert sich damit auf wenige Jahre: Boner, Der Edelstein (14. Februar 1461) GW 4839, ISTC ib00974500 12 Vier Historien (Mai 1462) GW 12591, ISTC ih00286500 Biblia pauperum, deutsch (1461/ 1462) GW 4325, ISTC ib00652700 Biblia pauperum, lateinisch (1462/ 63) GW 4326, ISTC ib00652750 Ackermann aus Böhmen, 1. Aufl. (~1463) GW 194, ISTC ia00039000 Biblia pauperum, deutsch, 2. Aufl. (~1463) GW 4327, ISTC ib00652800 9 Der Begriff wurde von Volker Honemann in die Diskussion gebracht (Volker Honemann, „Inkunabeldrucker als Autoren - Autoren als Inkunabeldrucker“, in: Gutenberg-Jahrbuch 81 (2007), S.-85-100) mit der Aufforderung, dem Phänomen weiter nachzugehen. Mai-Britt Wiechmann hat 2018 an der Faculty of Medieval and Modern Languages an der University of Oxford eine Dissertation in Angriff genommen, die das Phänomen für Lübeck untersuchen wird. 10 Zuerst bei Zedler (wie Anm.-1), S.-78. 11 Sein Familienname, die oberdeutsche Berufsbezeichnung für Bäcker, würde mit einer Abstammung aus der Region übereinstimmen, ist aber, genau wie die Sprache seiner Drucke, nicht dialektal oder regionalspezifisch genug, um eine direkte Einordnung zu erlauben. Die Lebenszeugnisse sind bei Zedler (wie Anm.-1), S.-79-90, zusammengestellt. 12 In der Datenbank MEI (Material Evidence in Incunabula) waren 2018 von den Pfisterdrucken nur die beiden Boner-Exemplare (beide Ausgaben sind unikal überliefert) und das Blatt der Cathedral Library Canterbury aus dem über Amerika (Indiana Bl.- 19, Princeton Bl.- 20, Texas Bl.- 24), Großbritannien (Canterbury Bl.-17, Manchester Bl.-21 und 22, Oxford Bl.-18) und Deutschland (Bamberg Bll.-14, 15, 16 und 23) verstreuten, zerschnittenen Ackermann-Exemplar verzeichnet. Inzwischen sind alle Drucke plus der Ackermann-Nachdruck und die 36-zeilige lateinische Bibel nachgewiesen: https: / / data.cerl. org/ istc/ _search? query=Pfister+Bamberg 304 Henrike Lähnemann Boner, Der Edelstein, 2. Aufl. (~1463/ 4) GW 4840, ISTC ib00974550 Jacobus de Theramo, Belial (~1464) GW M11085, ISTC ij00073800 Ob Pfister mehrere Auflagen machte und lateinisch und deutsch produzierte, weil seine Werke so erfolgreich waren oder ob es nicht eher eine Experimentalanordnung ist, bei der mit kleinen Stückzahlen ein Sammlermarkt bedient wurde, ist nicht klar. Der Satz scheint immer nur lagenweise stehen gelassen worden zu sein, was auf einen kleinen Druckbetrieb deutet, ebenso wie die kontinuierliche Weiterentwicklung der Drucktechnik für die Holzschnitte. 13 Es war offensichtlich ein von ihm persönlich betreutes Unternehmen, das von seiner Expertise lebte, denn der einzige Versuch, seine Produktion fortzusetzen, eine zweite Auflage des Ackermann aus Böhmen, die posthum um 1470 erschien, zeigt eine stark abfallende Druckqualität, obwohl die erste Auflage offensichtlich als Druckvorlage herangezogen werden konnte. 14 Was ist Albrecht Pfisters besondere Leistung? Er stellte sich einer dreifachen Herausforderung: 1. Technisch: Wie setzt man einen deutschen Text? 2. Künstlerisch: Wie verbindet man Holzschnitte und Drucktypen im Layout? 3. Literarisch: Welche Geschichten eigenen sich in welcher Form für den Druck? 1. Technisch: Der eindrucksvoll groß laufende Schriftsatz, mit dem Pfister alle seine Bücher setzte, war ursprünglich für kürzere Gebrauchstexte wie Donat und Kalender bestimmt gewesen und musste kreativ abgewandelt werden, um damit einen längeren, deutschen Text zu setzen. 15 In dem vorliegenden Schriftsatz waren keine Umlaute oder Buchstaben mit diakritischen Zeichen, keine Ligatur ß, keine Großbuchstaben W und Z und nur eine begrenzte Anzahl an ‚w‘s vorhanden; Pfister lässt Diakritika weg (puchlein), gebraucht sz durchgängig für ß und nutzt Cz statt Z, z. B. für die Ortsangabe am Versanfang im Abschlussgedicht: Czu Bamberg. 16 Am Ende des Abschlussgedichts, bei dem bereits mehrere w-Typen verbraucht waren, wird das w in ewig mit einem punktlosen i und v statt w gesetzt und erwerben als erberben buchstabiert (Abb.-1). 17 Die graphische Variante cz/ z findet sich häufig im 15. Jahrhundert und in der Bastarda in Handschriften des 15. Jahrhunderts sehen b und w sich tatsächlich sehr ähnlich, aber hier werden die varianten Formen offensichtlich nur als Notlösung eingesetzt, sobald das Buchstabenmaterial ausgeht, um die sonst relativ 13 Zedler (wie Anm.-1), S.-16, interpretiert die Tatsache, dass im Manchester Exemplar der Vier Historien auf Bl.-12r Daniels Traumdeutung auf dem Kopf stehend gedruckt wurde, dahingehend, dass zu dem Zeitpunkt der Satz nicht mehr stand, so dass der Fehldruck in Kauf genommen wurde, um nicht den ganzen Bogen erneut setzen zu müssen. 14 Die Verstöße gegen die Setzerregeln etc. werden diskutiert bei Zedler (wie Anm.-1), S.-3-7, der allerdings annahm, es handele sich um ein frühes Experimentalstück; das ist seitdem durch Bestimmung der Wasserzeichen widerlegt, vgl. die Zusammenfassung der Debatte bei Klaes (wie Anm.-1), S.-26-27, aufgrund von James C. Thomas, „Die Umdatierung eines Wolfenbütteler Frühdrucks des ‚Ackermann aus Böhmen‘ (GW 193) aufgrund beta- und elektronenradiographischer Untersuchungen seiner Papierwasserzeichen“, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 13 (1988), S.- 106-124, und Christian Kiening, Schwierige Modernität. Der ‚Ackermann‘ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 113), S.-68. 15 Zu Pfister im Typenrepertorium der Wiegendrucke unter http: / / tw.staatsbibliothek-berlin.de/ ma04131 mit einer Abbildung des Typenvorrats der 36zeiligen Bibel unter https: / / tw.staatsbibliothek-berlin.de/ ma06121. 16 Dazu Schröder (wie Anm.- 3), S.- 450-451, der darauf hinweist, dass diese Praxis sich bereits bei den Mainzer Kleindrucken fand, wo ein fehlendes Z ersetzt werden musste. 17 Zu Pfisters Umgang mit dem w-Problem vgl. Zedler (wie Anm.-1), S.-12. Biblische Geschichte für den Druck 305 konsistent gesetzten Normalschreibungen zu ersetzen. Es wird auf die Flexibilität spätmittelalterlicher Schreibungen zurückgegriffen, wo es sonst zu Engpässen käme, etwa auch bei der Nichtmarkierung von Umlauten, ansonsten aber Einheitlichkeit in Schreibung und Layout angestrebt. Neben der Anpassung der Buchstabenwahl, wenn der lateinische Typensatz die nächstliegende Lösung nicht hergibt, wirkt sich das Typenrepertoire auch auf den sparsamen Einsatz von Großbuchstaben aus, die hier konsequent auf Satzanfänge beschränkt werden, während Eigennamen und Gottesbezeichnungen klein geschrieben sind. Die großen Typen erforderten ein entsprechendes Format; der Satzspiegel der Vier Historien beträgt 22,7 x 14,6 cm; der Druck erfolgt für alle Pfisterdrucke in Folio im Kanzleiformat (31/ 31,5 x 23 cm). 18 Die 60 Blätter sind gleichmäßig aufgeteilt: Jede der Historien erhält als erste Lage ein Quinio, die bevorzugte Länge bei Pfisterdrucken; die restlichen 20 Blätter werden nicht auf zwei, sondern vier Lagen aufgeteilt, so dass jede Geschichte noch ein Binio oder Ternio hat, um den Text fertig zu erzählen: Joseph a10 b4, Daniel c10 d6, Judith e10 f6, Hester g10 h4. Dieses modulare Vorgehen erlaubte es, an mehreren Setzabschnitten gleichzeitig zu beginnen. Die Fläche des Satzspiegels wird mit den vielfigurigen Bildern und großen Buchstaben mit wenigen Lücken dicht gefüllt (Abb.-2). 19 Die Gliederung in ein bis zwei Seiten umfassende Abschnitte ist aus der Historienbibel übernommen und wird meist durch eine rote Initiale über zwei Zeilen eröffnet. Satzstrukturen werden durch Punkte auf halber Höhe und Großschreibung angedeutet; die Rubrizierung, die diese Struktur unterstreicht, ist so einheitlich in beiden Exemplaren, dass sie wohl zusammen mit der Kolorierung in der Werkstatt geschah. 20 Insgesamt ist der technische Aspekt konsistent gelöst. Dieser Eindruck eines sorgfältig durchgeplanten Unternehmens verstärkt sich noch bei dem Blick auf das Bildprogramm. 18 Zu Kanzleiformat und generell Papierformaten bei Inkunabeln vgl. Paul Needham, „Format and Paper Size in Fifteenth-Century Printing“, in: Materielle Aspekte der Inkunabelforschung, hg. von Christoph Reske und Wolfgang Schmitz, Wiesbaden 2017 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 49), S.-59-107, hier S.-71-77. 19 Statt Leerzeichen zu setzen, werden für ein lückenloses Erscheinungsbild selbst Wörter wie au=ch radikal umgebrochen. Teilweise werden mit Tinte Trennstriche, die dann über den Satzblock hinausragen, nachgetragen und zwar wohl schon in der Werkstatt, da es konsequent in beiden Exemplaren geschieht und die Tinte anders ist als die der Nachträge des 18. Jahrhunderts. Zur Worttrennung bei Pfister vgl. Zedler (wie Anm.-1), S.-11. 20 Zur Kolorierung Häußermann (wie Anm.- 1), S.- 71. Kolorierer und Concepteur sind nicht identisch, denn auch wenn meist die Farbigkeit bei den Personen beibehalten wird, stimmen doch Details nicht, wie das Gewand Josephs, das schlicht braun ist und nichts von dem Blut des Rehkitzes zeigt, in das es getaucht gewesen sein soll. 306 Henrike Lähnemann Abb. 2a: Holofernes’ Körper im Zelt, Judiths Mahl (Bl.-39v), Vier Historien, Bamberg: Albrecht Pfister 1462 (Manchester, John Rylands Library, 9375) Biblische Geschichte für den Druck 307 Abb. 2b: Holofernes’ Körper im Zelt, Vier Historien, Bamberg: Albrecht Pfister 1462 (Manchester, John Rylands Library, 9375) 308 Henrike Lähnemann 2. Künstlerisch: Auf 61 Seiten finden sich Illustrationen, die minutiös auf den spezifischen Text des folgenden Abschnitts bezogen sind. Auch von ihrer Verteilung auf die Vier Historien und in ihren Proportionen sind die Holzschnitte speziell für dieses Buch geschaffen. Der Gesamteindruck der Seiten (Abb.- 2) ist ausgewogen: Die einheitliche Größe der Holzschnitte (Rahmen 8,1 x 14,5 cm), die sich über die ganze Seitenbreite erstrecken, mit den großformatigen, in einheitlichem Maßstab gezeichneten Figuren harmonieren mit der großlaufenden Schrifttype und dem Verhältnis des Schriftsatzes, das wie andere Inkunabeln als Bezugsgröße auf der quadratischen m-Type aufbaut. 21 Bei dem Verfahren, die Bilder und Texte zu verbinden, stellt dieser Band ein experimentelles Zwischenstadium dar. Hatte Pfister für die Boner-Drucke jede Seite dreifach drucken müssen, da sich die Rahmen der beiden Bildelemente (Erzähler und Erzähltes) überlappen sollten, um die Illusion eines Kontinuums zu schaffen, kombinierte er hier von vornherein Szenen in einem Holzschnitt. In einem ersten Durchgang wurden an den Stellen, an denen Bilder stehen sollten, die oberen zwölf Zeilen geblockt und nur die unteren 17 Textzeilen gedruckt und dann in einem zweiten Pressvorgang die Holzschnitte so positioniert, dass sie die Lücken füllten. Für die folgenden Drucke muss Pfister dann einen Weg gefunden haben, die Druckstöcke an die Höhe der Typen anzupassen, so dass das Text-Bild-Ensemble in einen gemeinsamen Rahmen gespannt und in einem Durchgang gedruckt werden konnte - anders wäre das komplexe Layout der wenig späteren Biblia pauperum-Ausgaben nicht möglich gewesen. 22 Aber auch die Vier Historien erforderten eine sorgfältige Layoutplanung, da die Leerstellen nicht regelmäßig, sondern in unterschiedlichen Formationen auftreten, anders als etwa bei der wenig später von Margarete von Savoyen in Auftrag gegebenen Sigenot-Handschrift, bei der die Lagen so eingerichtet wurden, dass auf jeder der 201 Seiten ein Rahmen für eine Illustration zu stehen kam, unabhängig davon, ob die Inhalte Stoff zur Visualisierung hergaben. 23 In den Vier Historien steht im Schnitt auf jeder zweiten Seite ein Holzschnitt, wobei aber Cluster auftreten, z. B. die Episode von dem Wahnsinn Nabuchodonosors (Bll.- 21r- 23v), wo sechs Seiten nacheinander illustriert sind, und teilweise der Effekt der Doppelseite effektiv genutzt wird, um mehrere Szenen optisch zu einer Folge zu verbinden wie auf dem Höhepunkt der Judithgeschichte (Abb.-2). In der Josephsepisode wird die Flucht vor Potiphars Weib (Bl.-2v) so der Kerkerszene (Bl.-3r) gegenüberstellt, dass Joseph direkt ins Gefängnis zu laufen scheint. In der Esthergeschichte stellen Bll.-50v-51r (Botenszenen) und Bll.-53v-54r (Esthers Verhandlungen mit dem König) fortlaufende Bilderzählungen dar (vgl. den Überblick der Holzschnitte am Ende). 3. Textlich: Eigener Text Pfisters findet sich im ganzen Korpus seiner Drucke nur in sehr begrenztem Maße. Außer dem eingangs zitierten Schlussgedicht und einem kürzeren Kolo- 21 Mit Dank an Claire Bolton, die ausführlich die Maße der Inkunabelzeit in ihrer grundlegenden Untersuchung zu Fehlern und Experimenten in Frühdrucken diskutiert: Claire Bolton, The Fifteenth-Century Printing Practices of Johann Zainer, Ulm, 1473-1478, Oxford 2016, S.-94-96, und Claire Bolton, „Typesetting and Printing in the Fifteenth Century“, in: Materielle Aspekte (wie Anm.-18), S.-146-163, hier S.-152 („setting to fixed measures“). Dazu auch Oliver Duntze, „Geviert und Proportion im Inkunabeldruck“ (Vortrag gehalten auf der Inkunabeltagung in Greifswald Juni 2018, im Druck). 22 Zedler (wie Anm.-1), S.-20. 23 Vgl. zu den Folgen für die Bildkonzeption des Sigenot Henrike Lähnemann und Timo Körner, „Die Überlieferung des Sigenot. Bildkonzeptionen im Vergleich von Handschrift, Wandmalerei und Frühdrucken“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2003/ 2004), S.-175-188. Biblische Geschichte für den Druck 309 phon im Belial verfasste Pfister wohl einige Zusätze in Boners Edelstein. 24 Pfisters Eigenleistung ist vielmehr die Auswahl und Herauslösung von Texteinheiten aus einem großen ‚Pool‘ an volkssprachigen Erzählungen. Für die Vier Historien konnte er als Text auf die Historienbibel, eine deutschsprachige Geschichtskompilation auf Grundlage der Historia scholastica zurückgreifen, die im 15. Jahrhundert in zahlreichen Versionen kursierte. 25 Sein Text folgt dem Zweig Ia, der im fränkischen Raum weit verbreitet war, und präsentiert eine besonders vulgatanahe Fassung. 26 Pfister meistert dabei nicht nur die mechanische Umsetzung, sondern das gesamte Konzept mit Bravur. Die Vier Historien konstituiert er als Einheit über zwei Verfahren: Textzuschnitt und Bildprogramm. II. Die Vier Historien - Auswahl und Textzuschnitt Albrecht Pfister wählt aus der Historienbibel vier Erzählkomplexe, die jeweils um eine positive Beispielfigur kreisen: Joseph, Daniel, Judith und Esther. Die Josephsgeschichte bildete schon bei der Entwicklung der hebräischen Bibel das Modell für in sich stimmige Erzählungen von der Behauptung gläubiger Menschen mit Gottes Hilfe unter schwierigen Bedingungen. Das Buch Esther folgt diesem Muster der Diasporanovelle ebenso wie sich ein Rückgriff auf ältere Erklärungsmodelle von Rettung und Erwählung bei Daniel und Judith findet, so dass bereits in der jüdischen Literatur ein Konzept von Geschichte als Reihe von Historien existiert; 27 die Erzählung um Josephs Verkauf nach Ägypten, Aufstieg und Fall, Hunger und Segen hat sich dann bis hin zu Thomas Mann als unerschöpfliche Geschichtenquelle erwiesen. Pfister setzt also auf einen bewährten Stoff als Fundament für sein Gesamtkonzept. Er fängt bei dem Abschnitt über Josephs Traum an (Incipit: Dô nu Joseph sechszechen iar alt was [Historienbibel, S.-176]) und formuliert einen programmatischen ersten Satz, den er vor das Geschehen an den Anfang der Geschichte Israels stellt: Do der ewig allmechtig got mit seinen gnaden den heiligen patriarchen Jacob begabt mit zwelff sunen douon die zwelff geschlecht 24 Schröder (wie Anm.-3), S.-449, versucht an den dialektalen Unterschieden der Zusätze zu dem Grundtext Pfisters Herkunft aus dem Ostfränkischen nachzuweisen. 25 Hans Vollmer, Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters I,1), S.-69f. (Nr. 9); Die deutschen Historienbibeln des Mittelalters nach vierzig Handschriften, hg. von Theodor Merzdorf, Tübingen 1870 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 100), S.-9 (im Folgenden zitiert als Historienbibel). Die genaue Handschrift, die als Vorlage diente, ist nicht ermittelt, aber die Lesarten sind nah an Handschrift B (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 1.6.1 Aug. 2°), die 1471 im fränkisch-bairischen Raum geschrieben wurde. 26 In allen von Merzdorf angeführten Handschriften der Historienbibel wird der Lobpreis durch den Hohenpriester Joachim, Judith habe viriliter gehandelt, mit menschlich widergegeben. Bei Pfister findet sich die ursprüngliche Bedeutung manlich (Vier Historien, Bl.-44r, Z.-5) - ob das an einer guten Vorlage lag, die gegen alle anderen Handschriften des Zweigs die korrekte Übersetzung beibehielt oder ob Pfister das selbst bei dem Vergleich mit dem Vulgatatext korrigiert hatte, lässt sich nicht feststellen, es zeigt aber den hohen Textstandard der Pfisterschen Zusammenstellung. Die von Merzdorf nicht konsultierte Handschrift Freiburg, Universitätsbibliothek, Hs. 1500,-12, Bl.-228v/ p.-445 (http: / / handschrif tencensus.de/ 3264), die Mitte des 15. Jahrhunderts in Ostfranken entstand, liest manlich, allerdings in einem sonst so entstellten Satz, dass die Bedeutung nicht klar wird. 27 Literatur zur sogenannten ‚Josephsnovelle‘ Genesis 37-50 als persisch-hellenistische Diasporaliteratur bei Walter Dietrich u. a., Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart 2014, S.-101-103. Grundlegend Arndt Meinhold, „Die Gattung der Josephsgeschichte und des Estherbuches: Diasporanovelle I“, ZAW 87 (1975), S.- 306-324, und „Die Gattung […] II“, ZAW 88 (1976), S.- 72-93. Zu den Erzählmodellen, denen das Buch Judith folgt, vgl. Lähnemann (wie Anm.-3), S.-17-20, und Deborah Levine Gera, „The Jewish Textual Traditions“, in: The Sword of Judith. Judith Studies Across the Disciplines, hg. von Kevin Brine u. a., Cambridge 2010 (https: / / books.openedition.org/ obp/ 986), S. 23-39. 310 Henrike Lähnemann von israhel geborn sein. Vnter den was ym ioseph in sunderheit lieb (Vier Historien, Bl.-1r). Im Bericht über Josephs Träume lässt Pfister den zweiten Traum über die sich verneigenden Sonne, Mond und Sterne aus (Historienbibel, S.-176, Z. 5-9), übernimmt aber sonst den kompletten Text der Historienbibel bis zum Beginn der Mosesgeschichte (Historienbibel, S.-200) mit Ausnahme der sich während Josephs ägyptischer Zeit simultan bei seinem Bruder Juda abspielende Tamar-Episode, die übersprungen wird (Historienbibel, S.-178-179). Das schließt den in der Historienbibel stark mit Ausdeutungen auf das Neue Testament ausgeschmückten Segen Jakobs über die zwölf Stämme ein (Historienbibel, S.- 193-197 = Vier Historien, Bl.- 11r-13r) und endet mit dem Abschnitt, an dessen Anfang noch einmal feierlich die zwölf Stämme aufgezählt werden (Historienbibel, S.-198-200 = Vier Historien, Bl.-14r-14v). Offensichtlich wurde also bis zu einem Einschnitt der Vorlage der Text fortlaufend gesetzt bis nur noch eine halbe Seite bis zum Ende der zweiten Lage frei blieb, was zur Folge hat, dass die historij Joseph mit einem drastischen Satz über die Ertränkung der Erstgeborenen endet, ohne dass noch berichtet werden konnte, wie Moses gerettet wird: Darnach gepot der kunig allen sein dienern. was kneblein geporn wurden. die solten sie ertrencken vnd solten die meidlen behalten vnd also wurden der kneblein vil ertrenckt (Vier Historien, Bl.-14v). Die zweite Geschichte, genau parallel zur ersten als Hie hebt sich an die historij danielis (Vier Historien, Bl.- 15r) angekündigt, spielt hunderte von Jahren in der innerbiblischen Chronologie und hunderte von Seiten in der Historienbibel später. Es ist eine weitere Erzählung von der Selbstbehauptung gottesfürchtiger Figuren im Exil, hier in Babylon am Hofe Nabuchodonosors (Vulgata-Form für Nebukadnezar). Wieder beginnt die Geschichte mit einem Traum, diesmal dem von der Statue mit den tönernen Füßen, durch deren Auslegung sich Daniel am Hof etabliert, wie es Joseph bei dem Pharao durch die Traumausdeutung tat. Der erste Satz wird leicht redigiert, um geschichtenkonform mit Do anzufangen und den König einzuführen, dessen Name in der Historienbibel schon vorher erwähnt worden war. Aus Aines nachtes trompt dem kúng in dem andren jar sins richs und ducht inn; es gieng ain bild fúr inn (Historienbibel, S.-468) wird Do der gewaltig kunig nabuchodonosor in dem andern jar seines reichs herschet. Do traumt ym eins nachts wie er sehe ein vorchtlich pild (Vier Historien, Bl.-15r). Es folgt dann wörtlich und bruchlos die Episodenfolge um Daniel aus der Historienbibel; der hebräisch-aramäische Text des Prophetenbuchs war in der Septuaginta um mehr als die Hälfte um ähnliche Episoden (die Stücke in Daniel, die u. a. Susanna im Bade, den Bel zu Babel, eine zweite Löwengrube und die drei Jünglinge im Feuerofen umfassen) erweitert worden, die dann Eingang in die Vulgata und darüber in die Historienbibeln fanden, ohne dass Dubletten entfernt wurden. So wiederholt sich mehrfach das Muster, dass Nabuchodonosor Daniel zum Tode verurteilt, der auf wundersame Weise überlebt und damit die Überlegenheit seines Gottes erweist, den Nabuchodonosor anerkennt, bis er wieder abtrünnig wird. Nach dem ersten Traum folgen die drei Jünglinge im Feuerofen (wobei ihr Gesang auf die Hälfte gekürzt wird), Daniel in der Löwengrube, der Wahnsinn des Nabuchodonosor, dessen Tod und Zerstückelung, die Geschichte seines Sohns Balthasar (Vulgata-Form von Belsazar) samt Menetekel und Daniel erneut in der Löwengrube unter Darius. Als letzter eigentlicher Daniel-Abschnitt stehen die Weissagungen, die auf den apokalyptischen Passagen des Prophetenbuchs beruhen, aber wie der Segen Jakobs durch zahlreiche Verweise auf das Neue Testament und apokryphe Texte zum Antichrist angereichert sind, bevor Daniel stirbt, getröstet von einer Verheißung, die der Engel Gabriel ihm überbringt, dass die Juden nach Jerusalem zurückkehren werden. Biblische Geschichte für den Druck 311 In der Historienbibel wie in den Vier Historien folgt unmittelbar auf Daniel die Geschichte Judiths, aber Pfister organisiert die Aufteilung des Stoffs unterschiedlich, die beiden Bücher bilden ein Kontinuum, das durch den gemeinsamen Feind Nabuchodonosor zusammengehalten wird, auch wenn keine erzählerische Verbindung in der Historienbibel hergestellt wird. Am Ende der Danielgeschichte ist Nabuchodonosor schon lange tot, am Anfang der Judithgeschichte bzw. im ersten Judith-Abschnitt der Historienbibel (Historienbibel, S.-493) kämpft er gegen Arphaxad. Die Niederschlagung dieses Aufstands führt zu dem Entschluss, die ganze Welt zu erobern und zwar mit Hilfe des Holofernes. Diese Vorgeschichte wird in den Vier Historien noch als Teil der historij danielis erzählt, ohne dass diese plötzliche Wiederbelebung Nabuchodonosors thematisiert wird. Die Aufteilung des Stoffes könnte technisch dadurch bedingt sein, dass noch Platz in der vierten Lage war - die eigentliche Danielhandlung erstreckte sich bis auf ein fünftes Blatt, konnte also nicht auf zwei Doppelblättern wie der Schluss der Josephserzählung untergebracht werden; andererseits sollten auch nicht drei Seiten leer bleiben. Der Text wurde so gesetzt, dass Bl.-d5 ganz leer blieb und auf Bl.-d6 der Schluss des letzten Danielabschnitts und der erste Judith-Abschnitt zu stehen kam. 28 Der erst einmal merkwürdig erscheinende Umstand, dass nicht das letzte Blatt leer blieb, mag damit zusammenhängen, dass trotz der vier buchtechnisch klar separaten Teile doch ein bruchloser Erzählfortgang visuell suggeriert werden sollte. Damit schließt das Buch Judith optisch nach einer halben Leerseite genauso an, wie Daniel an Joseph. Die Arphaxad-gegen-Nabuchodonosor-Episode wird umkodiert als letzte Folge der Daniel-Serie von Aufstieg und Fall der babylonischen Könige, während die historij judith sich ganz auf Holofernes als Gegner konzentriert. Der erste Satz wird wie bei Daniel leicht angepasst, um die Struktur des Einsatzes mit Do beizubehalten und das vorhergegangene Geschehen zusammenzufassen: Aus Darnach r u e fft der kung den grösten herren und fúrsten (Historienbibel, S.-494) wird Do nabuchodonosor jm het vnderthenig gemacht vil landt vnd stet. Do berufft er all sein fursten (Vier Historien, Bl.-31r). Die Judith-Geschichte war von vornherein als Exempelerzählung mit einem klar definierten ‚happy ending‘ konzipiert und wurde in der christlichen Tradition immer stärker auf die Figur Judiths fokussiert. 29 Dabei ist ihre Rolle vielschichtiger als es die Bildtradition der Moderne suggeriert; die eigentliche Enthauptung des Holofernes wird im Text mit einem Halbsatz, bildlich gar nicht dargestellt, während Judiths Gebete, Mahnreden und Lobgesänge ausführlichen Raum in Text und Bild einnehmen. Die Kohärenz der Judith-Geschichte ermöglicht eine in sich geschlossene Präsentation. Das vorletzte Blatt des Ternio wird wie bei der historij danielis frei gelassen, um die Geschichte bündig mit der letzten Seite der Lage und in sich stimmig mit der Einsetzung des Festes abzuschließen: Darnach starb sie seliglich in got. Do clagt sie als volck israhel siben tag mit grossem leide vnd begruben sie gar wirdiglich zu irem manne manasses vnd nach dem als sie israhel erlost von holoferno. Do betrubt sie kein man nymmer mer vnd vil iar hin nach vnd namen den hochziglichen tag der signufft zu der zale der heiligen tage vnd feierten die iuden die hochzeit alle iar pisz an den iungesten tag vnd danckten got seiner gnaden. (Vier Historien, Bl.-44v) 28 Im Pariser Exemplar sind das Bl.-29/ 30, während im Manchester Exemplar, wo alle Blätter einzeln im Passepartout dargeboten werden, das leere Blatt fehlt und Bl.-d6 dadurch zu Bl.-29 wird. 29 Elena Ciletti und Henrike Lähnemann, „Judith in the Christian Tradition“, in: The Sword of Judith (wie Anm. 27), S. 15-22. 312 Henrike Lähnemann Danach folgt nur hier eine Folge von Punkten als Zeilenfüller, die den befriedigenden Schluss unterstreichen, bevor auf der nächsten Recto-Seite mit der neuen Lage die Geschichte Esthers beginnt, die ebenfalls die Einsetzung eines Festes begründet. In der Historienbibel folgt als Nächstes nicht wie in vielen Vulgata-Handschriften das Buch Esther, sondern die Geschichte von Tobias, die auch sonst gern mit Judith verbunden wird; die populäre Geschichte mit der Beschützung durch den Engel Rafael auf der Reise, um den blinden Vater zu heilen, hätte sich auch als Illustrierung für die Schlussmoral Pfisters, dass Gott die Seinen in guter Hut hält, geeignet. Der Grund, Esther statt Tobias als Fortsetzung zu wählen, könnte entweder darin liegen, dass Pfister zwei Männer und zwei Frauen als Vorbilder vorstellen wollte, oder dass ihm die große politische Bühne bei Tobias fehlte; es kommen keine Könige, Morde oder großpolitischen Ereignisse in dem Buch vor, während die historij Hester wie Judith programmatisch mit einem mächtigen Herrscher einsetzt: Der wirdig kunig asswerus reicht von iudea pis zu ethiopia vber hundert vnd sibenundzweinzig lant (Vier Historien, Bl.-45r). Die gesamte Geschichte passt wie die historij ioseph genau auf sieben Bögen und wird ungekürzt aus der Historienbibel übernommen - mit einer Ausnahme: der letzte Satz, der von dem Tod des Königs Ahasver berichtet, wird ausgelassen. Damit schließt Pfister zwar nicht die narrative Klammer zum Anfang der historij Hester, dafür aber die der gesamten Vier Historien. Durch den vorzeitigen Abbruch steht am Ende der Traum des Mardocheus (Vulgata-Form für Mordechai), der aus apokryphem Material geschöpft ist (Stücke in Esther 6) und die Handlung Esthers heilsgeschichtlich überhöht. 30 Mardocheus legt den Traum als Bestätigung dafür aus, dass Gott den Seinen hilft. Das schlägt den Bogen zu den Träumen, mit denen sowohl die historij joseph wie die historij danielis begannen, aber auch zu der Moral, die Pfister in dem direkt folgenden Druckerkolophon vorstellt. Die Vier Historien werden also motivisch und dramatisch miteinander verbunden. Im Zentrum stehen Figuren, die schon in der Bibel herausgehoben waren - Daniel, Judith und Esther sogar namengebend für Bücher - und die entsprechend breiten Raum in der Historienbibel einnehmen; Judith, Daniel und Esther bewegen sich als Figuren durch die Anreicherung von Daniel und Esther um erzählende Elemente und Vorausdeutungen in der Historienbibel in einem Bereich, der die Figuren als Propheten der christlichen Geschichte aufbereitet. Die Verarbeitung durch die Historienbibel zu einem narrativen Kontinuum schafft die Voraussetzungen dafür, die komplexe biblische Grundlage in leichter vermittelbare Fallstudien zu sequenzieren, wie es Pfister für seine Reihe von exemplarischen Charakteren benötigt, durch Konzentrierung der Handlung auf weniger Protagonisten. Die Historienbibel reduziert die Detailfülle, etwa in den Eroberungserzählungen der ersten Judith-Kapitel, und separiert Erzählstränge in eigene Abschnitte, etwa die Tamar-Geschichte, die Pfister dann in seiner Josephs-Historie übergehen kann. Ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel der Historienbibel ist die narrative Einbettung der christlich überhöhten Prophezeiungen, die systematisch erfolgt, z. B. in dem Jakobssegen über die zwölf Stämme oder der Danielweissagung vom Antichrist. Weitere Verbindungen bestehen nicht nur von Judith zu Esther, sondern auch zu Joseph: Seine gute Taten, mit denen er der Verführung durch Potiphars Weib widersteht, werden in der Deutschordens- Judith von 1254 zur Veranschaulichung des geistlichen Sinns des Judithbuchs benutzt. 31 30 Rudolf Smend, „2. Zusätze zu Ester“, in: Dietrich (wie Anm.-27), S.-44. 31 Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11, hg. von Hans-Georg Richert, Tübingen 1969 (ATB 18); dazu Lähnemann (wie Anm.-3), S.-208-219. Biblische Geschichte für den Druck 313 wa gute werc Ioseph zuleit, da ist got und sine wisheit; sus ist wisheit unde Crist, da guter werke ein Ioseph ist (Judith, v.-2497-2500). Pfister konnte sich also auf ein bestehendes Verständnis von alttestamentlichen Gestalten als durch gute Werke vorbildhaft stützen; das verband sich dann mit den Serialisierungstendenzen des späten Mittelalters. Reihen wie die ‚Neun guten Heldinnen‘, zu denen Judith und Esther als zwei der drei jüdischen Heldinnen gehören, bereiten bereits optisch die Wahrnehmung der beiden Frauen als Vorbildfiguren vor. Abgesehen von den inhaltlichen Kriterien scheint die durchschnittliche Länge eine Rolle gespielt zu haben: alle vier Geschichten ließen sich ungekürzt jeweils auf anderthalb Lagen drucken. Diese Querverbindungen werden nun noch sehr dadurch verstärkt, dass alle vier Geschichten durch ein gemeinsames Bildprogramm verknüpft werden. III. Das Bildprogramm - Szenisches Erzählen und Wiederholung Die Bildfolge beruht auf keiner handschriftlichen oder druckgraphischen Vorlage; es gibt durchaus Überschneidungen mit der Ikonographie der Historienbibeln auf der einen und Holzschnittfolgen und deren darstellerischen Lösungen von Kampf- und Essensszenen auf der anderen Seite, aber die Besonderheit ist, wie eng hier Text und Bild aufeinander abgestimmt sind und zwar von vornherein unter den Bedingungen der Druckproduktion. Drei Darstellungsprinzipien kennzeichnen die Holzschnitte: 1. Bühnensicht: Die Anordnung von mehreren Szenen folgt einer Raumlogik, nicht der Leserichtung. So liegt in der Josephsgeschichte Israel links und Ägypten rechts vom Bildrand. Die Brüder kommen nach Ägypten zu Joseph (Bl.-9v) und bringen Jakob aus Israel (Bl.- 10r) von links, während sie mit den vollen Getreidesäcken (Bl.- 9r) von rechts nach links von Ägypten nach Israel zurückkehren. Der Herrscherthron steht in der Regel rechts, ob für Pharao (Bl.- 4r), Nabuchodonosor (Bll.- 20r, 22v und 31v), Balthasar (Bl.- 21v) oder Ahasverus (Bll.-47r, 57r und 57v). In verschiedenen Szenen auftauchende Orte haben feste loca im Bildaufbau wie das Zelt des Holofernes (links) oder die Stadt Bethulia (rechts) in der Judithgeschichte. 32 Auf Bll.-40v-41r (Abb.-2) spielen sich in der Zusammenschau von zwei Holzschnitten drei Szenen wie auf einer Bühne ab. Ganz links steht das Zelt mit dem kopflosen Rumpf des Holofernes; rechts davon findet das Mahl, das Holofernes für Judith gibt, statt, bei dem er noch in pluender mynne gegen ir (Bl.-40v) samt Kopf sitzt; ganz rechts liegt die Stadt Bethulia am Bildrand, zu der Judith und ihre Magd mit dem abgeschlagenen Kopf zurückkehren. Das wiederholt den Aufbau des Auszugs auf Bl.- 36v (Abb.- 3). Dort sind gleich drei Szenen im Holzschnitt kombiniert: ganz rechts sitzt Judith betend in ihrer Kammer; in der Mitte zieht sie, verabschiedet von den zwei Männern, die sie auf Bl.- 41r auch wieder in Empfang nehmen, aus Bethulia und wird von den Soldaten des Holofernes ergriffen, die überwachen, dass die am linken Rand dargestellte Wasserzufuhr in die Stadt abgeriegelt wird. Die Szenenfolgen von rechts nach links sind nicht einer fehlverstandenen 32 Eine Ausnahme macht die erste Darstellung des Holofernes, wo sein Stuhl auf der Herrscherthronseite rechts steht (Bl.-33r); das bühnenartige Arrangement beginnt erst auf Bl.-34r mit der Platzierung Achiors zwischen Lager links und Stadt rechts. 314 Henrike Lähnemann oder seitenverkehrten Vorlage geschuldet, 33 sondern ein räumlich gedachtes Simultanbild als Inhaltsvorschau. 2. Detailtreue: Auf dem Bild des Auszugs Judiths aus Bethulia (Bl.-36v, Abb.-3) trägt die Magd ein Fässchen und ein Pfännchen, eine direkte Umsetzung des Texts, dass Judith ihr in Übereinstimmung mit der Historienbibel als koscheren Proviant ein Weinfässchen und gekochtes Lammfleisch (legelen mit wein […] gekocht von lemmern [Vier Historien, Bl.-38r], Abb.-4) mitgibt statt des in der Vulgata erwähnten Weinschlauchs (ascopa vini) und der Feigen (palata Jdt 10,5). Die entsprechenden Gefäße hat die Magd dann auch bei der Audienz vor Holofernes (Abb.-4) dabei, aber nicht mehr auf dem Rückweg, wo sie stattdessen den Kopf des Holofernes trägt. Das weist darauf hin, dass Pfister wieder einer guten Handschrift der Historienbibel folgte, denn die meisten Überlieferungszeugen lassen Judith den Kopf der Magd in ihr fäßlin (Historienbibel, S. 510) geben, während Pfister mit Handschrift B es zum Sack (veles) macht (Vier Historien, Bl.-41v), der als Transportmittel deutlich sinnvoller als ein Weinfässchen ist. Auch da, wo nur ein Ereignis abgebildet wird, werden die dramatischen Elemente herausgehoben und durch Redegesten und lebhafte Körperbewegungen unterstrichen. Die Kompositionen nutzen dafür alle Möglichkeiten des Mediums aus, verbunden mit dem Anspruch, dass eine inhaltsspezifische Kolorierung ausgeführt wird - etwa für die Säule aus dem Traum des Nabuchodonor, die in vier unterschiedlichen Farben für die vier Zeitalter (golden, silbern, ehern, tönern) eingefärbt werden musste. 3. Holzschnittwiederholung: Standardereignisse wie Festmähler, Boten- oder Schlachtszenen werden mehrfach eingesetzt (vgl. den Überblick über die Szenen im Anhang). Das ist zum einen ökonomisch, zum andern aber auch ein Mittel, die vier aus unterschiedlichen Teilen des Alten Testaments bzw. der Historienbibel geschöpften Geschichten erzähllogisch zu verknüpfen und auf die im Kolophon propagierte gemeinsame Moral visuell hin zu fokussieren. Der Holzschnitt mit den vollen Säcken kann für das Heimbringen des Korns in der Josephsgeschichte (Bl.-10r) und für den Beutezug der siegreichen Israeliten (Bl.-43v) verwendet werden; das betonte tertium comparationis ist der Erfolg des Gottvertrauens, das sich ganz handfest am Ertrag messen lässt. Abb. 3/ 4: Judiths Auszug aus Bethulia und ihre Ankunft bei Holofernes, Vier Historien, Bamberg: Albrecht Pfister 1462, Bl. 36v und 38r (Manchester, John Rylands Library, 9375); Originalgröße Holzschnittrahmen: 8,1 x 14,5 cm. 33 Häußermann (wie Anm.-1), S.-68, vermutete, der Reißer habe unreflektiert eine Miniatur kopiert, welche die Ereignisse „in zeitlich korrekter Reihenfolge“ darstellte. Biblische Geschichte für den Druck 315 Die Funktion der Holzschnitte, eine durchgängige Bild-Erzählung zu schaffen, wird gerade in der Wahl der Titelholzschnitte deutlich. Für Judith (Bl.- 31r) wird die Szene mit den Rittern vor dem Herrscherthron aus der Danielgeschichte (Bl.- 21v) verwendet, die signalisiert, dass ein weiterer bewaffneter Konflikt mit einem heidnischen Herrscher zu erwarten ist. Die Gastmahlszene, die Esther eröffnet (Bl.- 47r), war bereits als erste Gastmahlszene in der Judithgeschichte genutzt worden, und signalisiert so, dass die prominent in der Mitte platzierte Frau am Ende siegreich sein wird. Dabei ist signifikant, dass Details dieser Szene (Frau und Mann tragen Kronen, der Hintergrund ist ein Speisesaal und kein Zelt) auf den Esthertext zurückgehen; wenn der Holzschnitt also schon für die im Band vorausgehende Judithillustration eingesetzt wird, bedeutet das, dass der ganze Holzschnittzyklus bereits am Anfang fertiggestellt war. Der Beginn der Danielerzählung (Bl.-15r) hat zwar mit der Darstellung der Säule ein eigenes Bildelement, aber die Figur des träumenden Nabuchodonosor ist fast identisch mit der des sterbenden Jakob aus der Josephsgeschichte, der zu den Weissagungsworten des Jakobssegens gestellt ist (Bl.-12r), und der die prophetische Dimension des dann folgenden Berichts signalisiert. Die vier historij werden in der Form, wie sie Pfister zusamenpracht hat, zum Beispiel dessen, was Literatur im Druck leisten kann. Die eindrucksvolle Präsentation in repräsentativer Type und einprägsamen Holzschnitten lenkt den Blick auf das Wesen von Geschichte als Wiederholung, deren wiederkehrende Erfolgsstory das Versprechen des Epilogs unterstreicht, dass Gott weiterhin die Guten in seiner hut hält. Die Verbindungen zwischen den Historien werden durch die Verknüpfung von Detailtreue und wiederholten Standardszenen, die den Erfolg der Figuren zeigen, buchstäblich einprägsam und können damit überzeugend dafür werben, in der Nachahmung der vier Vorbilder das eigene Leben zu pessern. IV. Die Wirkung der Vier Historien Waren die Leser der Vier Historien von dem Programm Pfisters überzeugt? Bei nur zwei erhaltenen Exemplaren lassen sich keine repräsentativen Aussagen machen, aber auch Fallstudien können Tendenzen aufzeigen. 34 Beide Exemplare waren ursprünglich Teil eines Sammelbands mit den Pfister-Drucken des Ackermann in der Ausgabe von ca. 1463 (ISTC ia00039000/ GW 194) und der deutschen Biblia pauperum in der Erstauflage von 1461/ 1462 (ISTC ib00652700/ GW 4325). 35 Die Nachbarschaft dieser Erzählformen und ihrer strukturierten Aufbereitung durch Holzschnitte beleuchtet auch die Lektüre des Ackermann: die Figur des Ackermanns in den Holzschnitten wird in einer ähnlich predigenden Pose dargestellt wie die Figuren von Joseph als Traumausleger, Daniel als Götzenüberwinder und Judith als Heilsgeschichtsvermittlerin in den Vier Historien. Die typologische Aufbereitung der biblischen Geschichten in der Biblia pauperum ergänzt die narrative Vermittlung von alttestamentlichen Vorbildern in den Vier Historien. Die Drucke scheinen entsprechend als Serie betrachtet worden zu sein mit einem den drei Werken gemeinsamen Anspruch, in einem Text-Bild-Ensemble biblische Geschichte und theologische Konzepte zu vermitteln. Wahrscheinliche Erstkäufer sind zum einen Augsburger Bürger (Pariser Exemplar), zum anderen das Würzburger Karmelitenkloster St.-Barbara (Manchester Exemplar). Jedenfalls 34 Provenienzangaben im Folgenden nach Häußermann (wie Anm.-1), S.-132. 35 Forschungsüberblick zu dem Ackermann-Druck bei Ivana Hostnik, Das Text- und Bildverhältnis im Ackermann aus Böhmen, Diss. Porto 2016, S.-10-13 (open access auf sigarra.up.pt). 316 Henrike Lähnemann zeugen Federproben und handschriftliche Eintragungen von späterer Lektüre an diesen Orten. So trug z. B. Johann Jeremias Lutz 1740, in dem Jahr, in dem er vorgeher der Augsburger Goldschmiedezunft war, den Beginn des lateinischen Credo und die Devise Soli deo gloria auf das leere Blatt (Pariser Exemplar, Bl.- 29r) nach der Segnung Daniels ein. 36 Insgesamt zeigt sich in dieser Verteilung auf Würzburg und Augsburg, Kloster und Bürgertum ein Interesse an Textvermittlungsexperimenten aus der Region. Die Faszination, die von diesem Buchexperiment ausging, hielt bis in die Neuzeit an. Beide Exemplare wurden Ende des 18. Jahrhunderts von der ersten Welle der interessierten Altertümer sammelnden Gelehrten als Zeugnisse des Frühdrucks an die Öffentlichkeit gebracht. Der Pariser Band wurde 1792 in Augsburg von Matthias Jakob Adam Steiner, Pfarrer bei St.-Ulrich, in Privatbesitz entdeckt. Der Manchester Band wurde vor dem 12.12.1795 von Dom Maugérard im Rahmen der Säkularisierung in Würzburg erworben, zusammen mit einem Stück der 36-zeiligen Bibel. 37 Sein Interesse lässt sich an den Benutzungsspuren ablesen (Abb.-1): Er fasste lateinisch unter dem Kolophon die Schlüsseldaten zusammen, aber zog auch den deutschen Text an zwei Stellen nach: 38 in der ersten Hälfte des Reimgedichts, das von Gottes Unterstützung für die Guten spricht, und auf Bl.-32r, wo es um das Gebet der bedrängten Israeliten geht - eine Stelle, die vielleicht für den exilierten Benediktiner von besonderem Interesse war. Er verkaufte vor 1814 den Band über Sotheby’s an den Earl Spencer, der eine große Sammlung von frühen Druckwerken aufbaute. Spencer zerlegte den Sammelband in seine Teile, ließ die einzelnen Blätter rahmen und neu montieren und band alle Bände in rotes Leder. Seine ganze Sammlung wurde 1892 von Enriqueta Rylands gekauft und gelangte nach Manchester. Die Pfisterdrucke waren unter den ersten Bänden der Inkunabelzeit, die als ‚cultural objects‘ zu Sammlerstücken wurden. 39 Albrecht Pfister als ‚Pioneer of Print‘ bildete einen entscheidenden Meilenstein in der Webpräsentation der Frühdrucke in der John Rylands Library, die unter dem Titel From Mainz to Westminster and Beyond lief. 40 Auf mehrfacher Ebene wird damit in den Vier Historien die Frage der Tagung nach Strategien der Narrativierung von Vergangenheit beantwortet. Die erste Ebene ist der Anspruch Pfisters in dem Epilog, in der Konstruktion der vier biblischen Episoden als ‚Historien‘ die Grundlage zu schaffen, ein einheitliches Drucklayout zu konzipieren. Sein Erfolg dabei, die neue Druck- 36 Nr.-185 auf der Liste Die Nahmen der Herrn von Goldschmiden […], Augsburg 1736, die als Jahr seines Meisterstücks als Silberarbeiter 1726 nennt mit dem handschriftlichen Eintrag, dass er 1740 vorgeher war - mit Dank an Günther Hägele für den Hinweis. Auf dem letzten Blatt findet sich ein nicht identifiziertes frühneuzeitliches Wappen mit einer Wildfrau, einem Monogramm (AI oder ANT) und der Devise got giptz vnd nimptz, vgl. das Digitalisat des Microfilms https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ bpt6k105089q/ f200.item. Die Reihenfolge der Drucke ist Ackermann, Vier Historien, Biblia pauperum. Im Manchester Exemplar finden sich nur auf der letzten Seite der Vier Historien zeitgenössische Federproben (dreifach die Notiz, dass am 4 Februarij doktor Mangnus begraben wurde), so dass in diesem Band wohl die Vier Historien am Ende standen. 37 Häußermann (wie Anm.-1), S.-132; zu Dom Maugérard vgl. Renate Schipke, Die Maugérard-Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha, Gotha 1972 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 15), S.-12. 38 Er verlängerte die t-Oberlängen nach oben, um sie klar von den sehr ähnlichen c-Formen zu unterscheiden, und setzte über die u-Formen Häkchen und Kommata in Form von Virgeln. 39 Zu dem Begriff vgl. Evanghelia Stead, „Introduction“, in: Reading Books and Prints as Cultural Objects, ed. Evanghelia Stead, Cham 2018, S.-1-30. 40 Lotte Hellinga, From Mainz to Westminster and beyond. Bis Mai 2019 war die Präsentation online auf www. library.manchester.ac.uk/ firstimpressions (2011), dann wurde sie off-line genommen; noch sichtbar auf https: / / web.archive.org/ web/ 20190328065233/ https: / / www.library.manchester.ac.uk/ firstimpressions/ Biblische Geschichte für den Druck 317 technik für die technisch und inhaltlich anspruchsvolle Präsentation von volkssprachigem Lesestoff weiterzuentwickeln, ging in den erhaltenen Einzelfällen auf: die Erzählfolge der vier ‚Historien‘ wird Teil einer Einzelband übergreifenden Geschichtsvermittlung in den spätmittelalterlichen Sammelbänden, in die das Buch integriert wird. Auf der Ebene der Rezeption und Nutzungsgeschichte diesseits und jenseits des Kanals schließlich wird das fortgeführt, wenn die an Joseph, Daniel, Judith und Esther erprobte Konzeptionalisierung als Erzählen von Geschichte in Einzelgeschichten in seinem Ensemblecharakter gewürdigt wird. Die Pfister-Druckerei wird mit ihrer sprachübergreifenden Produktion, Text-Bild- Arrangements und der Aufbereitung von spätmittelalterlichen Prosatexten wegweisend für die Entwicklung der Buchdruckerkunst als dem Wahrheitsanspruch der ‚Historie‘ verpflichtete Kommunikationsform. Appendix: Liste der Holzschnitte 41 Von den 61 Holzschnitten werden elf wiederholt, teilweise dreifach. Joseph (Historienbibel S.-176-200, basierend auf Gn 37-52) hat 14 Illustrationen (Lage a-b): 1. 1r Joseph in der Mitte, umringt von fünf Brüdern, verweist auf elf Ährenbüschel links, die sich vor einem Bündel in der Mitte verneigen; der bärtige Jakob rechts auf dem Sessel weist ihn zurecht. 2. 1v Links: Sechs Brüder lassen Joseph herunter in den Brunnen; rechts: Einer der Brüder hält Josephs Rock hoch und der rechts auf dem Boden sitzende Jakob zerreißt sein Gewand. 3. 2v Potiphars Weib hält Joseph, der zu einem Baum rechts läuft, am Rock fest, während am linken Rand Potiphar steht. 4. 3r Joseph redet in der Mitte des Kerkers stehend zu den im Stock sitzenden Gefangenen, Schenk und Bäcker. 5. 4r Links: Joseph geht aus dem Kerker, rechts: Pharao, der rechts auf dem Thron sitzt, gibt Joseph einen Ring. 6. 5r Joseph (rechts stehend) überwacht den Bau von Speichern. 7. 5v Josephs Brüder kommen von links (= Israel) mit Kamel und Esel zu Joseph, der aus dem Haus rechts tritt. 8. 6v Joseph begrüßt Benjamin, rechts knien sieben Brüder mit Schale. 9. 7v Joseph weist auf das Goldgefäß, das in Benjamins Getreidesack gefunden wird, der trauernd zwischen den Brüdern rechts steht. 10. (= 45.) 9r Heimzug der Brüder nach links (= Israel) mit Getreidesäcken auf Tieren und einem Karren. 11. (= 14.) 10r Zug mit Jakob zu Joseph nach rechts (= Ägypten). 12. 11r Jakob links auf dem Thron sitzend segnet die von Joseph gebrachten Söhne Ephraim und Manasse, die Brüder stehen hinter Joseph rechts. 41 Verzeichnis der Holzschnitte mit kurzen Textzitaten und Vermerk der Wiederholungen bei Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke (Band 1): Die Drucke von Albrecht Pfister in Bamberg, Leipzig 1922, S.-4-5 und Tafel 19-25. 318 Henrike Lähnemann 13. 12r Der tote Jakob liegt links im Bett, sechs Brüder knien rechts vor dem neben dem Bett stehenden Joseph und bitten ihn um Vergebung. 42 14. (= 11.) 13v Die Rückführung des Leichnams Jakobs. Daniel (Historienbibel S.-468-493, basierend auf dem Buch Daniel, den Stücken in Daniel, Bel zu Babel) hat 18 Illustrationen (Lage c-d): 15. 15r Nabuchodonosor liegt links im Bett und träumt von den Weltreichen, die rechts in der Form einer mehrfarbig kolorierten Säulenstatue dargestellt sind. 16. 15v Nabuchodonosor sitzt rechts auf dem Thron und diskutiert mit den Traumdeutern, deren Ermordung links durch die Enthauptung eines Mannes exemplarisch dargestellt wird. 17. 17r Nabuchodonosor betet die in der Mitte aufgestellte Säule mit einem Abgott an, begleitet links von Fidel- und Orgelspieler, rechts von zwei Anbetern. 18. 17v Rechts knien die drei Jünglinge und Daniel im Feuerofen, links stehen Nabuchodonosor und eine weitere Figur und sehen, wie die beiden Heizer verbrennen. 19. 18v Daniel in der Mitte bringt mit einer Segensgeste eine links aufgestellte Abgottsäule zum Umstürzen, rechts wundert sich Nabuchodonosor, der mit drei Beratern zuschaut. 43 20. 19r Daniel sitzt in der Löwengrube links, während ein Engel Abacuck an den Haaren herbeiträgt. 21. 20r Daniel in der Mitte erläutert dem rechts auf dem Thron sitzenden Nabuchodonosor die Bedeutung seines Traums von einem Baum, der links dargestellt ist. 22. 21r Der mit Hörnern sichtbar zum Rind gewordene wahnsinnige Nabuchodonosor kriecht von rechts auf einen Wald links zu. 23. (= 33.) 21v Nabuchodonosors Sohn Eumurodach sitzt rechts auf dem Thron und schlägt seine Anhänger, die von rechts zu ihm kommen, zu Rittern. 24. 22r Nabuchodonosor als wilder Mann klopft an ein Jägerhaus an, aus dem rechts der Jäger flieht, während seine Frau aus dem Fenster sieht. 25. 22v Die Anhänger Nabuchodonosors bringen Kleinode zu dem geheilten König auf dem Thron rechts. 26. 23r Nabuchodonosors Sohn überwacht die Zerstückelung der Leiche seines Vaters, während Raben Teile wegtragen. 27. 23v Während Nabuchodonosors Enkel Walthasar in Babylon belagert wird (rechts), lässt er sich die Menetekel-Hand von Daniel auslegen, die erschien, nachdem er die goldenen Gefäße aus dem Tempel aufgetischt hatte (links). 28. (= 44.) 24v Schlachtszene. 29. 25r Löwengrube / Daniel wird herangeschleppt. 30. (= 36. und 43.) 26r Daniel kommt zurück. 31. 27r Erscheinung des richtenden Christus. 32. 28v Daniel betet und wird gesegnet. 42 Der Holzschnitt wurde im Manchester Exemplar auf dem Kopf gedruckt; zu der Bedeutung dieses Fehlers vgl. oben zur Technik. 43 Dieser und der folgende Holzschnitt diskutiert bei Häußermann, S.-70-72, in einem Exkurs zur Kolorierung, in dem sie zeigt, dass sich der Kolorierer im Pariser Exemplar bei der Identifizierung Daniels geirrt hat. Biblische Geschichte für den Druck 319 Judith (Historienbibel S.-494-516, basierend auf dem Buch Judith) hat 14 Illustrationen (Lage e-f): 33. (=23.) 31r Soldaten ziehen zu Nabuchodonosor auf dem Thron. 34. 33r Stadt auf dem Berg / Boten vor Holofernes. 35. 34r Männer vor Zelt / Achior wird an den Baum gebunden. 36. (= 30. und 43.) 34v Israeliten knien / Judith spricht mit Achior. 37. 36v von rechts nach links, drei fortlaufende Szenen: Judith betet ( Jdt 9); sie verlässt die Stadt mit ihrer Magd, verabschiedet von den Ältesten am Stadttor ( Jdt 10,5-6); sie wird von Holofernes Wachen aufgegriffen ( Jdt 10,11). 44 38. 38r Judith (rechts) kniet vor Holofernes (links), der auf einem Stuhl vor dem Zelt sitzt, die Magd dahinter hält Fässchen und Pfanne, im Hintergrund drei Soldaten. 39. (= 47.) 39r Festmahl übernommen von Hester, so dass Judith hier mit Krone sitzt und sich mit dem ebenfalls gekrönten Holofernes unterhält [mögliche Erklärung: die Redegeste der Frau war das entscheidende Element, auf das es hier ankam; bei der späteren Szene ist es Holofernes, der den Gestus hat; das Bild steht hier direkt über ‚Judith sprach‘]. 40. (= 41.) 40r rechts: Festmahl des Holofernes, links das Zelt mit dem kopflosen Holofernes im Bett. 41. (= 40.) 40v Wiederholung des vorigen Holzschnitts. 42. 41r Judith kehrt mit ihrer Magd, die den Kopf des Holofernes trägt, vom Lager zurück; die Ältesten begrüßen sie am Stadttor rechts. 43. (= 30. und 36.) 41v Judith predigt, Achior wird in der Stadt vorgestellt. 44. (= 28.) 42v Schlachtszene. 45. (= 10.) 43v Einsammeln der Beute durch die Israeliten. 46. 46r Dankopfer in Bethulia. Hester (Historienbibel S.-552-568, basierend auf dem Buch Esther und den Stücken in Esther) hat 15 Illustrationen (Lage g-h): 47. (= 39 und 56.) 47r Festmahl des König Ahasverus (mit Esther, als Titel im Vorgriff auf 54r). 48. 48r Die Verbannung der Königin Vasci, der die Krone vom Kopf fällt, durch den König, der von rechts aus der Stadt tritt. 49. 49r links die Ankunft Esthers zu Pferde, rechts wird sie im Haus empfangen und in einer separaten Szene geschmückt. 50. 49v König Ahasverus setzt Esther, die neben ihm mit Demutsgeste auf dem Thron sitzt, die Krone auf, links sind die Herren des Reichs in ihren besten Kleidern Zeugen der Handlung. 51. 50v Mardocheus steht rechts in seinem Haus statt zu knien, Ammon steht vor dem König rechts und verhandelt mit einem Boten. 52. 51r Ammon sitzt rechts, diktiert einem Schreiber und links werden Briefe durch Boten ausgetragen. 53. 52r Esther (rechts im Gemach) schickt Mardocheus (links barfuß im Bußgewand auf dem Boden im Haus mit betenden Frau) ein neues Gewand durch einen Boten (Bildmitte); 44 Diese und die folgenden Szenen diskutiert bei Häußermann, S.-66. 320 Henrike Lähnemann die Trauergeste des Mardocheus wird ähnlich wie die Jakobs bei der Trauer über Joseph (2.) gezeigt. 54. 53r Mardocheus und die Gemeinde / Gebet der Frauen. 55. 53v Esther vor dem König. 56. (= 39. und 47.) 54r Festmahl (für diese Stelle konzipiert). 57. 55r Reiter zu einem Haus. 58. 56r Esther vor dem Haus / Ammon hängt / Mardocheus vor Haus. 59. 57r Esther wird ohnmächtig. 60. 57v Schreiber / Mardocheus erhält einen Ring. 61. 59r Könige / Juden erstechen 70000 Mann. Biblische Geschichte für den Druck 321 Erzählen von Geschichte als Identitätsstiftung Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln Gerhard Wolf I. Jede Gesellschaft, die stabil bleiben will, muss ihren Mitgliedern eine kollektive Identität 1 bieten, also eine von der Mehrheit geteilte Vorstellung darüber, woher man kommt, welche gemeinsamen Eigenschaften man hat und worin man sich von anderen, konkurrierenden Gesellschaften unterscheidet. Die historische Entwicklung einer solchen kollektiven Identität beruht auf sehr komplexen, im Nachhinein nur mit Mühe rekonstruierbaren Prozessen, die möglicherweise einst von den gesellschaftlichen Eliten angestoßen, im Verlauf der Geschichte mitunter eine erhebliche Eigendynamik entwickelten, die sich der Kontrolle der Initiatoren entzog. Dabei wird die überkommene kollektive Identität immer dann prekär, wenn eine ‚kalte‘ Gesellschaft zu einer ‚warmen‘ wird, - um mit Claude Lévi-Strauss zu sprechen - also die Traditionen und Institutionen nicht mehr dazu dienen, „das historische Werden“ stillzustellen, sondern es dazu „interiorisier[t] [wird], um es zum Motor der Entwicklung zu machen.“ 2 Ausgetragen werden die dann entstehenden Kämpfe nicht allein in den politischen und sozialen, sondern in den kulturellen ‚Arenen‘ einer Gesellschaft. 3 Zu letzteren zählt in der Moderne zweifellos der Kampf um die Ästhetik und die ästhetische Bildung einer Gesellschaft, aber auch wenn dieser im Mittelalter nur schwer fassbar ist, so lassen sich doch Spuren einer Identitätsbildung mithilfe der Ästhetik in der literarischen Überlieferung wiederfinden. Wie dies narrativ inszeniert wird, 4 soll im vorliegenden Beitrag exemplarisch untersucht werden. 5 Das wohl bekannteste Beispiel für eine ästhetische Identitätsstiftung in der mittelalterlichen Literatur ist Gottfrieds von Straßburg Tristan, der als Versuch beschrieben werden kann, eine elitär-ideale Identität der edelen herzen aufzubauen, die maßgeblich auf ästhe- 1 Zum Begriff und seiner Geschichte in der modernen Wissenschaft vgl. Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 40-70. 2 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1981, S. 270. 3 Zum Arenabegriff siehe Jörg Zirfas, „Arena der Auseinandersetzung“, in: Arenen der Ästhetischen Bildung. Zeiten und Räume kultureller Kämpfe, hg. von dems., Bielefeld 2015 (Ästhetik und Bildung 9), S. 9-14. 4 Menschsein bedeutet bekanntlich zu einem großen Teil sich Geschichten erzählen und inwieweit diese Geschichten, die sich Menschen von sich selber anderen erzählen in einer typischen Kreisbewegung ihre Identität manifestieren, hat sich in jüngster Zeit in verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen als fruchtbarer Ansatz für die Definition von Identität erwiesen. 5 Ausgespart bleibt aus Platzgründen die an sich in diesen Zusammenhang gehörende Frage, ob aus den Narrativen sinnstiftende Mythen entstehen, die in das kollektive Gedächtnis eingehen: vgl. dazu etwa Stefan Conermann, „Mythen, Geschichte(n), Identitäten - eine Einführung“, in: Mythen, Geschichte(n), Identitäten: Der Kampf um die Vergangenheit, hg. von dems., Hamburg 1999, S. 1-32. 324 Gerhard Wolf tischen Kategorien beruht. 6 Der Tristan repräsentiert freilich eine Stufe der Literaturgeschichte, auf der eine autonome Position von Literatur schon akzeptiert ist. Wie aber sieht es in Gattungen aus, bei denen sich eine ästhetische Identität auch in den anderen Arenen des gesellschaftlichen Diskurses bewähren muss, also im Kontext von politischen und sozialen Identitäten? Für die Beantwortung der Frage bieten sich historiographische Texte an, 7 weil sich ihr Entstehen oft der Notwendigkeit verdankt, kollektive Identitäten zu festigen, zu verteidigen, zu dekonstruieren bzw. überhaupt erst zu begründen. Allerdings bieten diese Texte vor allem hybride Identitäten, womit sie - wie die Forschungsgeschichte der hier behandelten Texte zeigt -, immer schon auf die Skepsis einer Wissenschaft trafen, die selber gern ‚Meisternarrative‘ entwarf, und der deswegen inhaltliche Heterogenität lange als ästhetischer Mangel galt. Hingegen wurde in jüngerer Zeit erkannt, „dass das klassisch auktoriale Meisternarrativ seine Legitimität verloren hat“ 8 und mit Blick auf die Gegenwart stellt Wolfgang Schmale fest: „Europäische Identitäten funktionieren heute im Grunde nach dem Prinzip von Hypertexten, in denen mehrere Erzählungen Platz finden und ‚kursieren‘ - aber nicht mehr als eine Meistererzählung im Singular.“ 9 Geschichte wird nicht mehr mit der Metapher des Stroms, sondern mit der der zerklüfteten Landschaft erfasst, die durch unstrukturierte Prozesse entstanden und im Laufe der Zeit die unterschiedlichen Formationen aufgrund äußerer Einflüsse ausgebildet hat. Diese anhand des modernen Medienwandels gewonnene Beobachtung trifft mit Einschränkungen auf das Mittelalter zu: Denn der ‚Geschichtsdichter‘ dieser Zeit schreibt keine strukturierte Gesamtgeschichte, sondern erzählt situativ. 10 Mit dem Begriff des ‚situativen Erzählens‘ lassen sich die so heterogenen historiographischen Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erklären, deren Autoren immer mit der Schwierigkeit konfrontiert waren, Heils-, Welt-, Regional- oder Lokalgeschichte und Einzelbiographien miteinander verbinden zu müssen. 11 Die daraus notwendigerweise entstandene Heterogenität und die erstaunlichen Perspektivenwechsel lassen sich vorderhand mit dem Bestreben der Autoren erklären, die Texte für ganz unterschiedliche Rezeptionsinteressen attraktiv zu machen. Insofern bemühen sich die Autoren weder um das eine ‚Meisternarrativ‘ noch um die Vereinheitlichung des Uneinheitlichen, vielleicht weil sie die entstandenen Widersprüche als naturgegeben bei der Wiedergabe unterschiedlicher Perspektiven betrachtet haben. Die Methode der Autoren könnte man eher als ein ‚Mapping‘ der Vergangenheit, bei dem eine ganze Landschaft bzw. ein Teppich aus Erzählungen ausgebreitet wird, 12 um die unterschiedlichen Perspektiven oder Interessen sichtbar zu machen. Die Aufgabe der Kohärenzbildung würde auf diese Weise an die Rezipienten delegiert, woraus für die Analyse der Texte folgt, dass nicht mehr die Interessenstopographie 6 Siehe dazu den Forschungsüberblick bei Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007 (RUB 1665), S. 213-225. 7 Der Prozess der Identitätsbildung mittels literarischer Narrative wurde bereits untersucht anhand der Chroniken des Deutschen Ordens; siehe dazu Michael Neecke, Literarische Strategien narrativer Identitätsbildung. Eine Untersuchung der frühen Chroniken des Deutschen Ordens, Frankfurt am Main 2008 (Regensburger Beiträge zur Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft Reihe B/ Untersuchungen 94). 8 Siehe Jakob Krameritsch, „Die fünf Typen des historischen Erzählens - im Zeitalter digitaler Medien“, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009), S. 413-432, hier S. 426. 9 Wolfgang Schmale, E-Learning Geschichte, Wien u. a. 2007, S. 27. 10 Zum Begriff des „situativen Erzählens“ siehe Krameritsch (wie Anm. 8), S. 425. 11 Krameritsch (wie Anm. 8), S. 426. 12 Vgl. Krameritsch (wie Anm. 8), S. 428. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 325 der Verfasser im Mittelpunkt stehen sollte, sondern die der Rezipienten, denn von letzterer hängt ab, wie ein relativ offener historiographischer Text verstanden worden ist. Hier muss sich dann methodologisch eine Überlegung hinsichtlich der ästhetischen Vorbildung der Rezipienten anschließen. Da sich diese kaum aus außerliterarischen Quellen erschließen lässt, ist man auf die Analyse der propädeutischen Maßnahmen angewiesen, die ein Autor ergreift, um die ästhetische Rezeption zu gewährleisten. Schließlich muss aber auch jeder einzelne historiographische Text danach befragt werden, welchen Stellenwert in ihm die ästhetische Identität im Vergleich zu einer politischen, sozialen oder moralisch-ethischen Identitätsbegründung hat. Für die Moderne haben Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen in ihrem grundlegenden Werk über „Phänomenologien der Identität“ behauptet, „dass nicht nur sub specie aestheticis Identität […] genuin als ästhetisches Projekt begriffen werden kann [und damit] die hier bedeutsamen Medien […] und die notwendigen interpretativen symbolischen und metaphorischen Kompetenzen eine enorme Wertsteigerung [gewonnen haben]“. 13 Für das Mittelalter trifft dies tendenziell ebenfalls zu, wie dies etwa Umberto Eco 14 anhand der für das Mittelalter konstitutiven Verbindung von Schönheit und Transzendenz oder Rainer Warning 15 und Paul Ricœur 16 hinsichtlich der narrativen Identitätsbildung gezeigt haben. Die identitätsbildende Kraft der Ästhetik lässt sich u. a. an den ästhetisch besonders anspruchsvollen Narrativen beobachten, die sich in chronikalen Ursprungserzählungen finden lassen. In ihnen werden implizit Anweisungen für den Umgang mit Höhen und Tiefen in der Geschlechtsgeschichte gegeben und versucht, aus einer meist rein fiktiven Vergangenheit eine kollektive Identität für eine Dynastie abzuleiten und als Maßstab für die Gegenwart zu implementieren. Geht man von der Voraussetzung aus, dass für den Autor an der Vergangenheit nur das interessant ist, was ihm für seine eigenen Zwecke wichtig erscheint, dann wird deutlich, dass mit derartigen Narrativen unmittelbar der Rezipient angesprochen wird, dessen Identität durch die jeweiligen Narrative im Hinblick auf zentrale adlige Kategorien wie Tapferkeit, Loyalität, Ethik, politische Bedachtsamkeit etc. als Garant für Erfolg in Vergangenheit und Zukunft konfiguriert werden soll. In diesem Kontext erscheint Ästhetik so wirkungsvoll, weil sie unmittelbar an die Emotionen appelliert und nur über diese eine kollektive Identität erfolgreich begründbar ist. Auf eine weitere Leistung ästhetischer Überformung der Vergangenheit hat vor einiger Zeit Hartmut Bleumer anhand des Annoliedes aufmerksam gemacht: Nur mit Ästhetisierung seien die in diesem Text enthaltenen Divergenzen und Widersprüche zu bewältigen und deswegen ermöglicht es erst „die ästhetische Wirkung der Formen“ dem Rezipienten den Sinn des Annoliedes nachzuvollziehen. 17 Allerdings stehen ästhetische Identitätsan- 13 Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen, Phänomenologien der Identität. Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2007, S. 114. 14 Nach Umberto Eco gab es im Mittelalter ein „Bewusstsein der Schönheit als einer metaphysischen Gegebenheit“; Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München 6 2004, S. 17. 15 Rainer Warning, „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman“, in: Identität, hg. von Odo Marquard, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 553-589, hier: S. 589. 16 Paul Ricœur, „Narrative Identität“, in: Heidelberger Jahrbücher 31 (1987), S. 57-67. 17 Hartmut Bleumer, „Das „Annolied“ als ästhetisches Objekt“, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin u. a. 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 255-280, hier: S. 277. Es sei dahingestellt, ob deswegen der Text erst selbst reflexiv werden muss, wie Bleumer annimmt. 326 Gerhard Wolf gebote - und so müsste man kritisch gegen Bleumer einwenden 18 - nicht nur für sich; sie sollen keine autonome Kunst etablieren, sondern haben immer Anteil an religiösen, sozialen, politischen Identitätsbegründungen, 19 die sie mit zu konstituieren versuchen, aber mit denen sie sich in einem Spannungsverhältnis befinden: „Ein ästhetisches Ich, das sich so zu sich als ästhetischem Selbst in Beziehung setzt, inszeniert sich als kontingente Existenz“, woraus die Gefahr erwächst, „im Zustand der Suspension zu bleiben“. 20 Ästhetische Identität kann man dann als „eine solche [definieren], die einen Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen von Identitätsmodellen markiert und die sich unaufhörlich in einem hypothetischen, experimentellen Status reflektierter Selbstwahrnehmungsprozesse befindet. […] Ästhetische Identitäten haben in diesem Sinne einen kontemplativen, reflexiven, dekonstruktiven Charakter, der das bislang Unerhörte, Ungesehene, Unerahnte, hören, sehen und ahnen lässt.“ 21 Eine solche als-ob-Fiktion tendiert zur Subversivität, zumindest kann der literarische Text potentiell eine beachtliche Eigendynamik entfalten. Insofern ist die Arena des Ästhetischen prädestiniert dafür, anstelle wohlfeiler Lösungen für bestehende gesellschaftliche oder soziale Konflikte den Rezipienten Anregungen für deren Diskursivierung zu geben. Die eigentliche Funktion einer narrativ-ästhetischen Identitätsbildung ist daher nicht in deren definitorischer Festschreibung zu suchen, sondern in der Einleitung eines dynamischen Prozesses der identitären Selbstvergewisserung. Man kann daher davon ausgehen, dass es für das Verständnis der Gattung ‚Geschichtsdichtung‘ insgesamt wichtig ist, inwieweit die narrativ-ästhetische Dimension der chronikalischen Werke Anteil an der intendierten Identitätsbildung hat. Diesen wird man auf keinen Fall unterschätzen dürfen, denn wenn die Autoren mit ihren Werken tatsächlich zum Handeln inspirieren wollten, 22 dann lag es nahe die Geschichte aus jenen menschlichen Leidenschaften heraus zu erklären, die für die Rezipienten unmittelbar verständlich waren, wie etwa Neid, Gier, Rache, Zuneigung und Hass. 23 18 Zur moralisch-ethischen Identitätsbegründung vgl. oben S. 325. 19 Da im Folgenden keine ontologische Analyse mittelalterlicher Identitäten unternommen werden kann, geht es hier nur um „Behauptung von Identität“, vgl. Neecke (wie Anm. 7, S. 15) wobei ich mich auf die sozialen, religiösen und ästhetischen Felder beschränke. 20 Zirfas und Jörissen (wie Anm. 13), S. 114. 21 Zirfas und Jörissen (wie Anm. 13), S. 114-115. 22 Vgl. dazu Grit Straßenberger, Über das Narrative in der politischen Theorie, Berlin 2005 (Politische Ideen 18), S. 172. Straßenberger meint im Rückgriff auf Michael Walzer, der Sinn narrativer Darstellungstechniken liege darin, beim Zuhörer Leidenschaften zu erzeugen, um ihn so zur Aufgabe eines prinzipiell risikovermeidenden Verhaltens zu bringen; siehe dazu auch Jörg Zirfas, „Die Transzendenz des Genießens. Das religiöse Modell der Ästhetischen Bildung von Aurelius Augustinus“, in: Geschichte der Ästhetischen Bildung. Antike und Mittelalter, hg. von dems. u. a., Paderborn u. a. 2009, S. 187-205. Ein Gegenmodell, wonach Literatur zur Interpassivität dient, hat Rudolf Pfaller entworfen; vgl. dazu Silvan Wagner, „Interpassivität und Mittelalter: Eine Einleitung“, in: Interpassives Mittelalter? Interpassivität in mediävistischer Diskussion, hg. von dems., Frankfurt am Main u. a. 2015, S. 9-22. 23 Zuletzt darf aber bei der Untersuchung narrativ-ästhetischer Identifikationsangebote nicht außer Acht gelassen werden, dass die Autoren sich in einem (literarischen) Umfeld bewegten, auf dem sie sich gegen konkurrierende Entwürfe behaupten mussten. Im günstigsten Fall lässt sich dieses Umfeld einsehen, wie im Annolied, wo zahlreiche Paralleltexte (Annolied [wie Anm. 34], S. 121-167), die dem Autor als Vorlage gedient haben könnten, überliefert sind oder wo im Prolog mit den Heldenliedern auf Konkurrenztexte verwiesen ist, die ein anderes ästhetisches Konzept verkörpern. Diese konkurrierenden Werke sind aber nicht nur Abgrenzungsobjekt, sondern die Voraussetzung dafür, dass ein Autor mit seinem neuen Werk überhaupt auf Resonanz hoffen darf. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 327 II. Im Folgenden gehe ich meiner Ausgangsfrage anhand zweier Beispieltexte nach, dem aus dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts stammenden anonymen Annolied sowie dem Boich van der stede Colne, das ein Gottfried Hagen 1270/ 71 abgefasst hat. Die Konzentration der Auswahl auf die mittelalterliche ‚Großstadt‘ Köln hat ihren Grund darin, dass in dieser Stadt die soziale und politische Differenzierung bereits fortgeschritten war und die zahlreichen Interessenskonflikte zwischen den einzelnen innerstädtischen Parteien sowie die Differenzen zwischen geistlicher und weltlicher Macht bzw. Stadt, Bistum und Landadel eine relativ hohe Dynamik in den sozialen und politischen Konstellationen verursachte. Die relative machtpolitische Ausgewogenheit zwischen den beteiligten Parteien hatte dabei zur Folge, dass es keinem der Beteiligten auf Dauer gelang, alle anderen zu dominieren und daher Siege und Niederlagen oft nur temporärer Natur waren. Außerdem kam hinzu, dass die unterlegenen Gruppen für das Funktionieren der Stadt weiterhin gebraucht wurden und sie daher meistens nicht vollständig aus der Stadt verdrängt werden konnten. Aufgrund der Unübersichtlichkeit der politischen Machtverteilung innerhalb der Stadt stieg auch für den Chronisten der Narrativierungsaufwand an. Wenn man davon ausgeht, dass Geschichtsdichtung im Mittelalter - wie andere epische Literatur auch - auf Fragestellungen antwortet, die wir nicht kennen und die im Text auch nicht formuliert werden, dann bietet es sich an, den gewählten Fokus auf zwei Themen genauer zu justieren: a) Inwieweit die chronikalischen Texte dafür geeignet sind, in einer Konfliktsituation parteienübergreifend Identität zu vermitteln und b) wie die Autoren die Ästhetik instrumentalisieren, um ihre Texte als identitätsstiftende Instanz zu etablieren. III. Als ‚Gründungstext‘ frühmittelhochdeutscher Geschichtsdichtung von überraschend hohem rhetorisch-ästhetischem Niveau erfreut sich das Annolied schon seit langem in der Forschung einer allerdings nicht uneingeschränkten Wertschätzung. 24 Vorbehalte gab es wegen der fehlenden Einheit des Textes, dessen struktureller Dreiteiligkeit aus Heils-, Weltgeschichte und Heiligenlegende, die Zweifel an einer Gesamtaussage weckten. 25 Heute geht man im Wesentlichen davon aus, dass die Einheit der drei Teile in der Verherrlichung des 7. Kölner Bischofs, Anno II. (1010-1075), zu finden sei, dessen herausragende Bedeutung als Vermittler zwischen Erde und Himmel mit dem Text bewiesen werden solle. Daraus wird dann auch als äußerer Entstehungsanlass seine bereits kurz nach dem Tod initiierte, aber erst 1183 erfolgte Heiligsprechung abgeleitet. Innerhalb dieser Interpretation werden die Kölner Patrizier als Primäradressaten angesehen, weil sie lange und heftige Konflikte 24 Vgl. dazu allg. Eberhard Nellmann, „‚Annolied‘“, in: ²VL, Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 366-371; Bd. 11 (2004), Sp. 108; Gesine Mierke, „‚Annolied‘“, in: DLL. Das Mittelalter, Bd. 3, Berlin/ Boston 2012, Sp. 88-93; Stephan Müller, „Anfänge deutschsprachiger Chronistik im 11. und 12. Jahrhundert“, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. von Gerhard Wolf und Norbert Ott, Berlin/ Boston 2016, S. 129-143; ders., Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik, Heidelberg 1999; Mathias Herweg, Ludwigslied, De Heinrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002; Mathias Herweg, „Civitas permixta und dritte werilt. Die Programmstrophen des Annoliedes“, in: ZfdPh 123 (2004), S. 1-18. 25 Zum Gegensatz der Heterogenitäts- und Kohärenzthese vgl. Bleumer (wie Anm. 17), S. 260, Anm. 10. 328 Gerhard Wolf mit dem Bischof ausgetragen haben, aber ohne ihre Zustimmung die Heiligsprechung des im Kloster Siegburg begrabenen Annos entweder nicht gelingen konnte oder seiner Verehrung der angezielte ökonomische Erfolg verwehrt bleiben würde. In dieser Logik wäre es die Aufgabe des Annolied-Autors gewesen, den umstrittenen Bischof in der Weise ‚neu zu erfinden‘, dass die Kölner Patrizier ihn als Heiligen akzeptieren würden. In diesem Sinne würde dann die spezifische Ästhetik des Annoliedes ganz im „Dienste des Heiligen“ stehen. 26 Eine Mindermeinung bezweifelt wegen der fehlenden Einheit des Lieds eine solche pragmatische Funktion und geht eher von einem „rhetorischen Schulexperiment“ 27 mit dem Ziel der Apotheose des Bischofs aus. 28 Es wäre aber auch denkbar, dass das Annolied gezielt als polyvalenter Text geplant war, der ganz unterschiedlichen (religiösen und politischen) Zwecken dient und in dem die ästhetische Gestaltung die gemeinsame Klammer für die verschiedenen Themenbereiche darstellt - also Widersprüche gar nicht ausgleichen will. 29 Bei der Analyse der Identität, die beim Rezipienten durch die Narration gestiftet hätte werden können, beschränke ich mich im Folgenden auf den ‚biographisch-legendarischen‘ Teil. Im Hinblick auf das vermutete Publikum verzichte ich auf eine genauere Standeszuordnung, aber gehe angesichts der biblischen und historischen Reminiszenzen im Text von dessen hohem Bildungsniveau aus sowie von einer genauen Vertrautheit mit jenen sozialen und politischen Spannungen, die die Geschichte der Stadt und des Erzbistums vom Frühmittelalter an begleiteten. Im ‚biographisch-legendarischen‘ Teil des Annoliedes ist der Konflikt zwischen dem Erzbischof, 30 anonym bleibenden lantheirrin, seinen ehemaligen Günstlingen sowie der Stadt Köln von entscheidender Relevanz. Die Aktivitäten dieser verschiedenen Gegner werden vom Autor bereits einleitend als göttliche Prüfungen (um)gedeutet, um so gar keinen Verdacht für ein eigenes schuldhaftes Handeln Annos aufkommen zu lassen: Dikki un anevuhtin dî lantheirrin, ci iungis brâht iz got al ci sînin êrin. vili dikki un anerietin, dî une soltin bihůtin. wî dikki une dî virmanitin, dî her ci heirrin brâht havite! ci iungis niwart daz niht virmidin, her niwurde mit gewêfinin ûze dir burg virtribin, als Absalon wîlin virtreib vater sînin, den vili gůtin David. disi zuei dinc, harti si wârin gelîch. 26 Bleumer (wie Anm. 17), S. 279. 27 Mierke (wie Anm. 24), Sp. 89. 28 Der aus 49 Abschnitten bestehende Text enthält Elemente der Chronistik, der Heiligenlegende und des Städtelobs. Die Interpretation des Textes ist stark von dem vermuteten Publikum abhängig: Vermutet man es in der Geistlichkeit, dann wäre die Verwendung der Volkssprache erklärungsbedürftig. Deshalb sieht man eher lateinunkundige Adlige oder die Kölner Patrizier als möglichen Adressaten. 29 Vgl. dazu Gesine Mierke, „Mimesis als Strategie. Religion und Politik im ‚Annolied‘“, in: Abenteuer des Geistes - Dimensionen des Politischen. Festschrift W. Rothholz, hg. von Petra Huse und Ingmar Dette, Baden-Baden 2008, S. 149-165. 30 Zuvor wird Anno als vorbildlicher Diener Gottes und Reichsfürst (34), dann als mildtätiger Vater aller Waisen (35-36) und als europaweit anerkannter Kirchenfürst (37) geschildert. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 329 leidis unte arbeite genúg genîte sich der heirro gůt, al náh dis heiligin Cristis bilide. dů súnt iz got van himele. 31 Mit dem hier verwendeten Narrativ der verfolgten Unschuld wird zunächst die Politik des Bischofs gerechtfertigt, gleichzeitig seine ehemaligen Gegner, die allerdings mehr oder minder in der Anonymität verbleiben und über deren Identität sich nur spekulieren lässt, in ein denkbar schlechtes Licht gerückt: Bei den lantheirrin könnte man an Heinrich I. (den Rasenden) von Lothringen denken, der mehrmals Köln belagert und das Erzbistum verwüstet hatte, bei der zweiten verräterischen Gruppe von Gegnern Annos, die ihn hätte beschützen müssen, wird eventuell auf Kaiser Heinrich IV. angespielt, der sich im Laufe der Zeit von Anno abgewandt hatte. Gänzlich offen bleibt im Text, von wem der Bischof aus Köln vertrieben worden ist. Warum der Text keine Identitätsstiftung durch die konkrete Erinnerung an alte Feindschaften betreibt, liegt auf der Hand: Denn die Rechtsnachfolger jener Anno-Gegner waren immer noch politisch aktiv und sollten für die geplante Heiligsprechung gewonnen werden. Ähnlich verfährt der Autor im 39. Abschnitt, wo die Vertreibung Annos aus der Stadt geschildert wird: Auch hier bleiben nicht nur die genauen Umstände unerwähnt, sondern als Grund für Annos nachfolgende Resignation vom Bischofsstuhl werden gar nicht seine Vertreibung aus Köln genannt, sondern die desaströsen Zustände im Reich. Blickt man freilich auf die geschichtlichen Ereignisse um 1074, so wird man nichts finden, was der Anlass für diesen gravierenden Schritt hätte sein sollen. Die beiden erwähnten Beispiele zeigen, dass es dem Autor des Annoliedes gar nicht um die Darstellung historischer Kausalzusammenhänge geht, diese sogar gezielt verschleiert werden. Viel wichtiger ist ihm die bildhafte Wirkung der Szenen 32 - in Erinnerung gerufen wird die spektakuläre Flucht Annos aus Köln oder die Geschichte der Vertreibung Davids durch seinen Sohn -, was auch dem Charakter eines Liedes entspricht. Ein besonders eindrucksvolles und mit ästhetischer Raffinesse gestaltetes Bild gelingt dem Annolied-Autor an einer Schlüsselstelle des Werkes, bei der Schilderung eines Traumgesichts Annos, aufgrund dessen er seine Strenge gegenüber den Kölnern wesentlich abgemildert hätte. Anno sieht sich im Schlaf in einen überaus prächtigen Saal versetzt, in dem verstorbene Heilige und Fürsten an einer Tafel versammelt sind: dů stûnt dir ein stûl ledig unt eirlîch; seint Anno wart sînis vili gemeit. her was ci sînin êrin dar gesat; nû lobit hers got, dad iz alsô gescach. ô wî gerne her dů gesêze, den lîbin stûl wî gerner bigriffe! 31 Das Annolied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Übersetzt und kommentiert von Eberhard Nellmann, Stuttgart 1996 (RUB 1416), 39,1-17: ‚Oft griffen ihn die Herren im Lande an, / [doch] zuletzt wandte Gott alles zu seinem Ruhm. / Sehr oft planten diejenigen Anschläge gegen ihn, / die ihn beschützen sollten. / Wie oft missachteten ihn die, / die er zu Herren gemacht hatte! / Schließlich kam es so weit, / dass er mit Waffengewalt aus der Stadt vertrieben wurde, / wie Absalom vormals/ seinen Vater vertrieben hatte, / den frommen David. / Diese zwei Ereignisse - sie glichen einander sehr. / Viel Leid und Mühsal / musste der fromme Fürst ertragen, / ganz nach dem Vorbild des heiligen Christus. / Doch Gott im Himmel vergalt es.‘ 32 Doris Knab, Das Annolied. Probleme seiner literarischen Einordnung, Tübingen 1962, S. 120. 330 Gerhard Wolf dad ni woltin gelôbin dî vurstin durch einin vlekke vure sînin brustin. 33 Der Flecken wird gemeinhin als Schandmal für die harten Strafmaßnahmen Annos und seine mitleidlose Verstocktheit gegenüber den Kölner Kaufleuten verstanden, als biblische Quelle Offenbarung 3,4 vermutet, wo ebenfalls ein beschmutztes Gewand als Zeichen für Sünde erscheint. 34 In den wahrscheinlich auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehenden Annalen Lamperts von Hersfeld 35 deutet ein Vertrauter des Bischofs die macula als Schand- und Mahnzeichen, woraufhin Anno seine Schuld bekennt, die bestraften Bürger wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufnimmt und ihnen sogar sämtliche Güter zurückgibt. Demgegenüber schwächt das Annolied die Kritik nicht nur ab, weil dieser Teil der Erzählung weggelassen wird, sondern im unmittelbaren Gegensatz zu Lampert wird am Ende des 43. Abschnitts erwähnt, Anno habe den Kölnern ihre Schuld, für die sie allein verantwortlich gewesen seien, verziehen. Damit entsteht im Übrigen ein unaufgelöster zusätzlicher Widerspruch zu der zuvor aufgestellten Behauptung, die Kölner und seine anderen anonym bleibenden Gegner seien Werkzeuge Gottes. 36 Die fehlende Logik scheint den Autor nicht gestört zu haben, wichtig war es ihm an dieser Stelle nur, die Schuldfrage in Richtung auf die Theodizee abzulenken. Auch andere historische Ereignisse werden nur knapp erwähnt, weil sie dem Autor - anders als Lampert - nicht in ihren Kausalverhältnissen wichtig sind, sondern nur als Beispiel für Gottes heilsgeschichtliches Handeln dienen sollen: Es ist unerheblich, wer Anno angegriffen oder welche Gruppe ihn aus Köln vertrieben hat, denn alle handelten im Auftrag Gottes. Damit verbunden ist nun ebenfalls eine partielle Entlastung der Kölner und dies würde gut zu der vermuteten Abfassungszeit des Annoliedes zwischen 1077 und 1081 passen, als unter Annos kompromissbereiteren Nachfolger, den Erzbischöfen Hildolf und Sigewin, ein Ausgleich zwischen den streitenden Parteien versucht und gefunden wurde. Im Unterschied zu Lampert besteht die Entlastung der Kölner aber nur darin, Werkzeuge Gottes gewesen zu sein. Für eine solche Argumentation eignete sich die Form des volkssprachlichen Annoliedes eher als die lateinische Prosa der Vita Lamperts, da der frühmittelhochdeutsche Reimtext leichter als die lateinische Prosa aufgrund der sprachlich-grammatikalischen und formalen Restriktionen des deutschen Versmaßes und der parataktischen Struktur des Liedes genaue Kausalbeziehungen überspringen kann: Das Lied ermöglicht eine spezifische Form von Uneindeutigkeit. Man könnte darin auch eine ästhetische Identitätsstiftung in der Volkssprache erkennen, denn in der Volkssprache kann sich ein Publikum auf diese Deutung der jüngsten Vergangenheit verständigen und zu einer gemeinsamen Identität finden, in der der Konflikt zwischen den verschiedenen Parteien zwar nicht gänzlich übergangen, aber doch eingeebnet wird. 33 Annolied (wie Anm. 31), 42,15-22: ‚Nun stand dort ein prächtiger freier Stuhl. / St. Anno freute sich sehr darüber. / Ihm zu Ehren war er dorthin gestellt; / nun lobte er Gott dafür, dass es so geschehen war. / Ach wie gern hätte er sich nun gesetzt, / wie gern den lieben Thron in Besitz genommen! / Das wollten die Fürsten nicht erlauben / wegen eines Fleckens vorn an seiner Brust.‘ 34 Annolied (wie Anm. 31), S. 116. 35 Das Abhängigkeitsverhältnis ist in der Forschung umstritten; vgl. Annolied (wie Anm. 31), S. 192 und Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland. 800-1150, hg. von Walter Haug und Benedikt K. Vollmann, Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek deutsche Klassiker 62), S. 1443. 36 Knab (wie Anm. 32), S. 117. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 331 Die Kölner Patrizier sind freilich nicht die einzigen Adressaten des Liedes, wie im legendarischen Teil des Annoliedes anhand des Ritters Volprecht 37 gezeigt wird. Volprecht, dem, vom Teufel verführt, beide Augen auslaufen und der mit seinen leeren Augenhöhlen ein geradezu monströses Bild abgibt, wachsen neue Augen nach, nachdem er sich an „St. [! ] Anno“ gewandt hat und damit seine statusgemäße ästhetische Identität wiedergewonnen hat. Zwar geht es in diesem Beispiel primär darum, die Heiligkeit Annos nachzuweisen, aber erreicht wird dies über ein sicher erschreckend wirkendes Bild von Hässlichkeit, mit einem Kopf, dem die Augen ausgelaufen waren. Die herausgehobene Bedeutung der Ästhetik entsteht im Annolied aber nicht erst akzidentiell am Ende des Liedes, sondern der Rezipient wird sukzessive in sie eingeführt und daher kann man den Text selbst als ein Stück ästhetischer Bildung ansprechen. Eine Legitimation der Schönheit als Beurteilungskategorie findet sich bereits im 2. und 3. Kapitel, wo der Autor den Schöpfergott, der spêhin werch gescûph 38 - als Quelle und Garant aller irdischen Schönheit, die nur von Adam und Luzifer in Frage gestellt wird, definiert. 39 Im 7. Kapitel wird dann Köln als schönste deutsche Stadt gerühmt - und daraus implizit ihre Machtposition abgeleitet - ihre ehemaligen Bischöfe mit den Plejaden verglichen, die nachts vom Himmel leuchten (33), Anno selbst wird gar mit der Sonne verglichen (33-34). In dem bereits erwähnten Traumgesicht 40 affiziert die Pracht des Saales, in den Anno gelangt, alle Sinne: Die Sitze sind allinthalvin […] bihangin mit golde, kostbarste Edelsteine funkeln und es ertönt ein wunderbarer sanc. 41 Wenn Schönheit mit der himmlischen Sphäre untrennbar verbunden ist, 42 dann ist dies nicht nur ein Sprechakt, der generell die Ausrichtung des Ichs am Schönen - und damit ästhetische Bildung - verlangt, sondern implizit verweist die Schönheit des künstlerischen Werkes selbst auf das Wesen des Göttlichen. Im Ergebnis dienen die ästhetischen Inszenierungen im Annolied dazu, ein neues Bündnis zwischen Stadt, Erzbistum und dem landsässigen Adel zu begründen und eine spezifische Deutung der jüngeren Geschichte zu erreichen, dessen ideologischer Mittelpunkt die Verehrung Annos und Kölns ist. Man bedient sich dafür der allgemein verständlichen Volkssprache und nicht des gelehrten Lateins, um alle relevanten Adressaten zu erreichen sowie einer ästhetischen Identität, in der sich alle Rezipienten wiederfinden können. Diese Identität beruht auf der weitgehenden Dekonstruktion bisheriger gruppenspezifischer Feindbilder, ihr Preis besteht in der Aussparung aller rechtlicher und politischer Fragen, deren Gehalt und Lösung in der Schwebe bleibt. 43 Überdeckt werden diese durch die Ästhetik, mit 37 Zur spiegelnden Strafe bzw. ihrer Wiedergutmachung siehe Anselm Haverkamp, „Kölnische Welt. Das Heil der Stadt im frühmittelhochdeutschen Annolied“, in: Diesseits der Oder, hg. von dems., Berlin 2008, S. 99-114 und S. 234-237, hier: S. 112-113. 38 Annolied (wie Anm. 31), 2,4. 39 Hier scheint einerseits die antike Vorstellung der Kalokagathie, der Einheit von äußerer und innerer Schönheit, durch und andererseits wird das ästhetische Erleben zum entscheidenden Parameter für die Wahrnehmung der Umgebung; vgl. dazu Eco (wie Anm. 14), S. 38-39. 40 Vgl. oben S. 329. 41 Annolied (wie Anm. 34), 42,1-15, hier: 6 und 8. Im unübersehbaren Kontrast dazu ist der Flecken auf dem Gewand des Bischofs Zeichen der Sünde. Da an diesem Punkt des Textes bereits die Identität von Außen und Innen vermittelt worden ist, versteht der Rezipient, dass die Entfernung des Flecks indirekt Wiedergutmachung des vom Bischof verursachten Schadens bedeutet. 42 Vgl. dazu vor allem Eco (wie Anm. 14), S. 34-48; Leopold Klepacki, „Das Mittelalter. Schönheit im dunklen Labyrinth der Welt“, in: Geschichte der ästhetischen Bildung (wie Anm. 22), S. 171-185. 43 Anders Hugo Stehkämper und Carl Dietmar, Köln im Hochmittelalter. 1074/ 75 - 1288, Köln 2016 (Geschichte der Stadt Köln 3), S. 24; vgl. auch Geschichte des Erzbistums Köln. 1. Das Bistum Köln von den 332 Gerhard Wolf der die Widersprüche zum Verschwinden gebracht werden, die einer Instrumentalisierung des noch heilig zu sprechenden Bischofs Anno, der ja für das neue Kölner Bündnis von Bistum und Stadt in die Funktion des Schutzpatrons einrücken soll, noch im Wege stehen. IV. Als zweites Beispiel wähle ich das Boich van der stede Colne, eine Reimchronik, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem Kölner Urkunden- und Stadtschreiber Gottfried Hagen (ca. 1230-1299) 44 stammt, der vermutlich das uneheliche Kind eines Kölner Patriziergeschlechtes war. Die Abfassungszeit dürfte 1270/ 71 gewesen sein. Im ersten Teil seines Werkes behandelt Gottfried Hagen die Frühgeschichte Kölns von der Christianisierung an, im zweiten die Auseinandersetzungen der Jahre 1252-1270 innerhalb der Kölner Bürgerschaft sowie zwischen der Stadt und dem Erzbischof. Die schon im Annolied beobachtete Emanzipation der Bürger von ihren bischöflichen Stadtherren war zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich fortgeschritten, 45 aber bei weitem noch nicht abgeschlossen. Innerhalb der Stadt gab es schwere Konflikte zwischen den mächtigsten Patriziergeschlechten, den nicht an der Stadtherrschaft beteiligten Zünften, Kaufleuten und den anderen sozialen Gruppen, wobei es in Köln oft zu überraschenden Koalitionen und Parteiwechseln gekommen ist, was insgesamt zu einer sehr unübersichtlichen Situation führte. In den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts kämpften zwei Patrizierfamilien, die Overstolzen und die von der Mühlenpforte, genannt die Weisen, um die Vorherrschaft im städtischen Rat. Diesen Konflikt versuchte der politisch versierte Kölner Erzbischof, Eberhard II. von Falkenberg (ca. 1220-1274; Erzbischof 1261-74), 46 auszunutzen, der sich jedoch seinerseits den Machtambitionen des Grafen Wilhelm IV. von Jülich (1210-78) erwehren musste, der wiederum in den städtischen Gegenspielern des Bischofs natürliche Verbündete fand. Eine Entscheidung fiel 1267, als Wilhelm mit Unterstützung Kölner Bürger den Bischof in der Schlacht bei Zülpich besiegte und ihn 3½ Jahre auf der Burg Niddeggen gefangen setzte. Während der Abwesenheit des Bischofs kam es in Köln zum Endkampf zwischen den Overstolzen und den Weisen, die im Januar 1268 zwar aus Köln vertrieben wurden, aber im Oktober desselben Jahres mit Unterstützung Kölner Handwerker einen Rückeroberungsversuch unternahmen. Laut dem Boich van der stede Colne 47 bedienten sie sich dazu einer Kriegslist, weil die Stadt im offenen Kampf nicht zu erobern war: Sie bestachen einen Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, hg. von Wilhelm Neuss, neu bearbeitet von Friedrich Oediger, Köln ²1972, S. 123. 44 Zu Gottfried Hagen und seiner Reimchronik siehe: Manfred Groten, „Gottfried Hagen“, in: Rheinische Lebensbilder 17, hg. von Franz-Josef Heyen, Köln 1997, S. 41-56; ders., „Volkssprachliche Geschichtsdichtungen im Deutschen Reich im späten 13. Jahrhundert. Melis Stoke und Gottfried Hagen“, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von Johannes Laudage, Köln u a. 2003, S. 281-308; Bruno Jahn, „Hagen, Gottfried“, in: DLL. Das Mittelalter, Bd. 3, Berlin/ Boston 2012, Sp. 260-261. 45 Zur geschichtlichen Situation Kölns in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vgl. Manfred Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung, Köln u. a. 1995 (Stadtforschung A 36); Chronik zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1400, hg. von Peter Fuchs, Köln 1990, S. 204-224; Stehkämper und Dietmar (wie Anm. 43), S. 347-361. 46 Albrecht Brendler, „Engelbert von Falkenburg (ca. 1225-1274)“ in: Rheinische Lebensbilder 16, hg. von Franz-Josef Heyen, Köln 1997, S. 7-31. 47 Der Text wird zitiert nach Gottfried Hagen. Reimchronik der Stadt Köln, hg. von Kurt Gärtner, Andrea Rapp und Désirée Welter, Düsseldorf 2008 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichts- Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 333 unmittelbar an der Stadtmauer wohnenden Bürger mit dem sprechenden Namen ‚Habenichts‘, gruben von außerhalb in dessen Haus einen unterirdischen Stollen und drangen in der Nacht des 14.10.1268 mit einer staatlichen Streitschar in die Stadt ein. Jedoch wurde „ihr Einsickern [bemerkt und] so frühzeitig den Overstolzen gemeldet, dass diese mit Hilfe der Gemeinde […] den Überfall abwehren können.“ 48 Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit die Darstellung literarische Zutat ist - immerhin sollte der Stollen so groß sein, dass man mit orſſe ind myt perde 49 hindurch gelangte. Eine besondere Stellung innerhalb der Erzählung nimmt die Verschwörung aber schon ein, dient sie Gottfried Hagen doch dazu, seine Nähe zu dem Geschehen unter Beweis zu stellen und damit auch seine eigene Bedeutung hervorzuheben: So will er einen der Verschwörer, den Grafen Dietrich V. (VII.) von Kleve, 50 bei dem heimlichen Vormarsch der Verschwörer auf Köln im Polheimer Forst belauscht haben, als dieser mit einem Kammerherrn über den Plan sprach: der greve […] van Cleve [sprach: ] ‘mir were vil beſſer dat ich bleve’ weder eynen ſynen kemenere. ‘deſe reiſe geit mir an myn ere, want myr is reicht zo můde noch als ich zo Coelne durch ein loch sule krůſſen anderwerff. bi Gode, ich were myr liever zo Hilkeroide.’ ‘vil hertze lieve here myn,’ sprach der kemenere ſyn, ‘wilt ir dan bliven ſonder wort, so laiſt ur lude ryden vort. rijt ein lutzel by ſyden her, bys al vurleden is ur her.’ 51 Der Graf verurteilt in dieser Anekdote also nicht den Angriff, sondern ihn belastet es, auf unwürdige Weise durch ein dunkles und dreckiges Loch in die Stadt kriechen zu müssen. Hier erscheint dann der nächtliche Überfall auf die schlafende Stadt nicht so sehr als moralisches, sondern als ästhetisches Desaster, was den heimlichen Abgang des Grafen rechtfertigt. Implizit ist damit aber ein Paradigma formuliert, welches für alle (Land-)Adligen Geltung beansprucht: Da Köln eine so herrliche Stadt ist, dürfen keine Aktionen gegen sie kunde 74); eine Nachdichtung findet sich in Meister Gottfried Hagen, des Stadtschreibers, Buch von der Stadt Köln, nhd. von Franz Wilhelm Vleugels, Köln 1921 (Rheinlandbücher 3). 48 Chronik (wie Anm. 45), S. 222. 49 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5401. 50 Zu ihm siehe Gottfried Hagen (wie Anm. 47), S. 333. Dietrich eignete sich als Beispiel deswegen besonders gut, weil er ständig zwischen den Parteien larvierte und es mit keiner völlig verderben wollte. 51 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5585-5599: ‚Als das Heer zum Pulheimer Forst kam, / da hörte ich genau, / wie der Graf von Kleve zu einem seiner Diener sagte: / „Es wäre viel besser für mich gewesen, / wenn ich zuhause geblieben wäre. / Dieser Kriegszug geht gegen meine Ehre / denn es entspricht nicht meinem Sinn und Trachten, / durch ein Loch nach Köln / hineinzukriechen. Bei Gott / ich wäre jetzt lieber in Hilkerode.“ / „Mein geliebter Herr,“ / sagte sein Diener, / „Wollt Ihr Euch üble Nachrede ersparen, / dann lasst Eure Leute vorbeireiten / und haltet Euch hier etwas zur Seite, / bis der Zug ganz vorüber ist.“‘ 334 Gerhard Wolf unternommen werden, bei denen Schmutz entsteht, weil dieser Symbol für Unrecht ist. Damit wird unterstellt, dass ein ästhetischer Fauxpas eine politisch-militärische Handlung zu diskreditieren vermag. Der Adel wird so auf eine ästhetische Identität verpflichtet, die seine Handlungsalternativen deutlich einengt. Wie wichtig der ästhetische Faktor ist, wird in dem Erzählerappell, der sich an diese Geschichte von der Schlacht an der Ulrepforte anschließt, noch einmal verdeutlicht: 52 Nu helpe ur eiclich dem anderen raden, wie ir uch ind ure ſtat vur ſchaden behoit ind behalt ure ere. mallich ſyn hertze dar zo kere: halt vrede under uch, dat is myn rait, want die werelt in unvreden ſtait. gedenckit, wat ſpils myt uch gedreven sy hie bevoren. were Coelne bleven, alſulche wainden, die reyne ſtat, alſo gewunnen durch ein gat, dat ſult ir wiſſen ſicherlich, in Coelne en were arm noch riche - als ich it van buyſſen hain vernomen in landen dar ich in byn komen - hie in were ſicherlichen bleven untlijfft, interfft ind verdreven. noch rade ich, Colene, bys in hoeden vur den die dich wolden intguden. 53 Auch hier wird die ästhetische Dimension der geplanten Eroberung gezielt durch eine sprechende Dichotomie in Szene gesetzt: die reyne stat wird besudelt durch diejenigen, die durch ein gat in sie eingedrungen sind. Solchermaßen vorbereitet kann der Autor die Präliminarien einer Identität formulieren, die die ‚Reinheit‘ der Stadt in Zukunft sichern: An erster Stelle steht allseitige Solidarität gegen äußere Feinde und das Friedensgebot im Inneren, welches für Arm und Reich die Voraussetzung für den Erhalt des Lebens, des Besitzes und des Ansehens ist. Als gemeinsamer Nenner dieser ‚Kölner Identität‘ fungieren die ere sowie der Wohlstand, der bei allen anderen Neid hervorruft und deswegen latent von jenen bedroht wird, die die Kölner entguden wollen. Der ästhetische Faktor hat an 52 Die Analogie zwischen dem Kampf an der Ulrepforte und der im 1. Buch der Makkabäer (3, 16-24) geschilderten Schlacht der Juden gegen die syrischen Unterdrücker unter König Antiochos IV. ist offensichtlich. Teleologisches Erzählen wird hier zum Muster für Gottfried Hagen; vgl. Gottfried Hagen (wie Anm. 47), S. 359. 53 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5946-5963: ‚„Nun möge jeder dem anderen dazu raten und helfen / wie ihr Euch und Eure Stadt vor Schaden / schützen und Euer Ansehen behalten könnt. / Jeder möge sein Innerstes darauf ausrichten: / Haltet Friede unter Euch, dies ist mein Rat, / denn die Welt steht in Unfriede. / Denkt daran, welches Spiel man mit Euch hier / vormals getrieben hat. Wäre Köln, / die Heilige Stadt, wie es jene vorhatten, / durch ein Loch erobert worden, / dann hätte - dessen könnt ihr sicher sein -, / in Köln weder Arm noch Reich / - so habe ich es in anderen Territorien, / in die ich gekommen bin, gehört - / Sicherheit gehabt, / sondern wäre ermordet, enterbt oder vertrieben worden. / Deswegen rate ich dir Köln sei vor denjenigen auf der Hut, / die sich an deinen Reichtum vergreifen wollen.“‘ Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 335 dieser Stelle sicher nur eine subsidiäre Bedeutung, wichtiger ist das ökonomische Argument, wie sich auch in der Szene zeigt, in der Gottfried Hagen den entscheidenden Anlass für die Parteinahme der Kölner Bürger für die Overstolzen nennt: Als die Truppen der Weisen mit ihren Verbündeten schon durch den Tunnel in die Stadt eingedrungen und die Anführer der Overstolzen bereits gefallen waren, wendet sich einer der verbliebenen Parteigänger der Overstolzen in einem dramatischen Appell an die unschlüssigen Kölner Bürger: dur die reyne Godes gůde doit it uch hude ſelve zo eren, helpet uns der ſtede viande keren, die uch ind uns willent verdryven beide des goitz ind intliven. edel gemeinde, hait vur oůgen dat, dat wir ſamen in deſer hilger ſtat up ſyn gevoit ind gezogen, helpt uns ind uch weder den hertzoge van Lumburch ind weder die van me lande. wir ſullen’s ummer haven ſchande, solden ſy uns alſus verdryven ind uns gudis heren bliven.’ 54 Derartige Szenen sind aus dem antiken Epos bekannt, in höchster Not wendet sich der Führer an die Verzagten und Unsicheren und findet in seiner Rede Argumente, mit denen er die entscheidende Wendung einleitet. Drei Argumente sind es hier: 1. Begründung einer eigenen Identität, die auf der gemeinsam verbrachten Kindheits- und Jugendzeit beruht, 2. Drohender Ehrverlust, den eine Vertreibung aus der Stadt zur Folge hätte und 3. der Verlust des Besitzes. Dies verfehlt die Wirkung nicht, aus der Schar der Unschlüssigen tritt ein Mann hervor und ruft zum Kampf gegen die Eindringlinge auf. Er steigert die Argumentation seines Vorredners sogar noch und warnt vor einem neuen Betlehemitischen Kindermord. In der Bedrohung ihres Lebens, ihres Ansehens und ihres Besitzes durch die fremden Herren finden die Kölner eine gemeinsame Identität: her zo vil balde ein ſelich man luder ſtymmen antworden began: ‚laiſt uns byzijde in weder ſtain off ſy ſoilen dat kint in der weigen ſlain.’ 55 54 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5709-5721: ‚Helft uns heute aufgrund der wahren Güte / und wegen Eures Ansehens / die Feinde aus der Stadt zu vertreiben, / die Euch und uns wollen / sowohl Eures Gutes als auch Eures Lebens berauben. / Hochwürdige Gemeinde haltet Euch vor Augen, / dass wir uns zusammen in den Schutz dieser heiligen Stadt / gestellt haben und hier aufgezogen worden sind. / Helft uns und Euch gegen den Herzog / von Limburg und gegen die anderen Landherren. / Es wird uns immer als Schande zugerechnet werden, / wenn sie uns vertreiben / und zu Eigentümern unseres Besitzes werden.‘ 55 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5722-5725: ‚Darauf antwortete rasch ein gottgesegneter Mann / mit lauter Stimme: / „Lasst uns schnell den Feinden Widerstand leisten / oder sie werden die Kinder in der Wiege erschlagen.“‘ 336 Gerhard Wolf So überzeugend diese pragmatisch-ästhetische Dimension einer gruppenübergreifenden städtischen Solidarität auch scheinen mag, sie reicht Gottfried Hagen noch immer nicht für die Begründung einer städtischen Identität aus und deswegen fügt er noch eine weitere Komponente hinzu: Die betreffende Erzählung findet sich bereits an einer früheren Stelle, bei der Schilderung einer Belagerung Kölns durch Bischof Eberhard II. und seiner Vasallen im Jahr 1265. Bei der Belagerung war auch jener schon erwähnte Graf Dietrich V. von Kleve mit dabei. Dieser hatte in einer nächtlichen Vision die heilige Ursula mit ihren 11000 Jungfrauen erblickt, wie sie die Stadtmauern gesegnet hatte und schließlich durch die sich öffnenden Tore in die Stadt eingezogen war (Abb. 1). 56 Daraufhin verständigt sich Dietrich V. mit einem weiteren Adligen, Stefan von Sulen, der in der Nacht dieselbe Traumvision hatte, die Belagerung abzubrechen. Das schlüssige Argument Stefans bringt es auf den Punkt: sint Got Coelne hilpt bewaren, / so laiſt uns myt eren hynne varen. 57 Gott und die heilige Ursula als Retter des honors des Gemeinwesens 58 vor den Truppen des eigenen bischöflichen Stadtherrn! Deutlicher kann ein Versuch nicht ausfallen, eine unmittelbare Beziehung zwischen den Kölner Bürgern auf der einen und Gott mit seinen Heiligen, die hier in die Funktion des Stadtherren eintreten, auf der anderen Seite festzustellen. Eine Behauptung, die noch mehr Gewicht dadurch erlangt, dass sie von den Feinden Kölns formuliert wird. Dieser besonderen Beziehung - so insinuiert die Erzählung - muss sich auch der bischöfliche Stadtherr unterwerfen. Wenn die Vermutung zutrifft, dass Gottfried Hagen über die unmittelbaren Adressaten im Kölner Stadtrat hinaus alle namhaften Gruppen der Stadt erreichen will, dann erklärt sich daraus, warum er mit Reimform, Volkssprache und unterhaltsamen Erzählungen auch ein nicht-gelehrtes Publikum erreichen will, um so eine neue gemeinsame Stadtidentität zu stiften, die nun neben den pragmatischen und ästhetischen, auch auf einer religiösen Argumentationsbasis beruht. Zu diesem Ziel gehört es unbedingt dazu, dass der Autor - wenngleich auf deren Seite stehend - nicht einfach als Propagandist der siegreichen Overstolzen auftritt und eine Apotheose von deren Herrschaft vorlegt. Vielmehr muss er die Interessen der anderen Parteien, insbesondere des Erzbistums, aber auch der Verbündeten der Weisen im Auge behalten und berücksichtigen, dass man in Köln ein ‚Gleichgewicht der Mächte‘ will. Ganz abgesehen davon wusste man 1270 natürlich nicht, wie nachhaltig der Sieg der Overstolzen sein würde, vor dem Hintergrund andauernder Kölner Parteiwechsel hätten die vormals Unterlegenen bald wieder zu einem mächtigen politischen Faktor in der Stadt werden können. Aus diesem Grund könnte in der Figur des Grafen Dietrich V. von Kleve ein Identifikationsangebot für die ehemaligen Gegner enthalten gewesen sein, bei dem - ähnlich wie im Annolied - die Ästhetik den Zugang zur Erkenntnis des richtigen Handelns liefert. 56 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 3905-3935. Dieses Bild steht in scharfem ästhetischen Kontrast zu der geplanten Eroberung Kölns durch einen Stollen: Während sich die einen durch die Erde wühlen müssen, öffnen sich für die anderen die Tore zu einem triumphalen Einzug. 57 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 3961-3962: ‚„Da Gott selbst Köln beschützt, / lasst uns unter Bewahrung unseres Ansehens von hinnen fahren“.‘ 58 Peter Johanek, „Das Gedächtnis der Stadt - Stadtchronistik“, in: Handbuch Chroniken (wie Anm. 24), S. 337-398, hier S. 348; vgl. zur mittelalterlichen Stadtchronistik jetzt auch zusammenfassend ders., „Anfänge und Wandlung städtischer Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Deutschen Reich. Formen, Interessenbildung und pragmatische Funktion“, in: Documenta Pragensia 37 (2018), S. 51-97. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 337 Abb. 1: Koelhoffsche Chronik, Gouda 1499, f. 223r: Die lange Reihe der Kölner Stadtheiligen steht auf der Stadtmauer zur Abwehr der Truppen des Grafen von Kleve bereit. 338 Gerhard Wolf Die beiden entscheidenden identitätsstiftenden Leistungen Gottfried Hagens lassen sich mithin so beschreiben: 1. Um 1270 herrschen in Köln bürgerkriegsähnliche Zustände, die auf einem veritablen partikulären Identitarismus beruhen. Hagen stellt dem das Narrativ eines ‚Viva sancta Colonia‘ entgegen, er versucht mit dem honor eine gemeinsame Identität für alle Bewohner Kölns zu etablieren. Dazu dient ihm die Geschichte der Stadt, ihre Uneinnehmbarkeit und ihre Heiligkeit. Zur Versöhnung der beiden Hauptparteien, der Kölner Patrizier unter Leitung der Overstolzen auf der einen und dem Bischof mit seinen Lehensmännern auf der anderen Seite, verwendet Hagen bekannte Bilder und Metaphern der sozialen Harmonie: Der Bischof wird als (geistlicher) Vater gesehen, der seine Kinder, die Bürger, zwar überwacht und bei geistlichen Sünden auch bestraft, der ihnen aber ansonsten alle Freiheiten gibt. Indem sich Gottfried Hagen auf diese beiden politischen Pole in der Stadt konzentriert, scheint eine Versöhnung möglich und deswegen blendet er alle anderen innerstädtischen Spannungen konsequent aus. 2. Charakteristisch für die von Gottfried Hagen konstruierte ästhetische Identität ist, dass er dazu eine Sprache und einen Stil verwendet, mit denen er die geschilderten dramatischen Ereignisse relativiert und teilweise sogar ironisiert. Damit werden die bisherigen Wahrnehmungen der Identitätsmodelle dekonstruiert und mit einer neuen ästhetischen Identität, die die Vorgänge aus der Vogelperspektive betrachtet, überschrieben. Dies findet seine deutlichste Ausprägung in einer Formulierung, mit der Hagen jede kleinliche gegenseitige Aufrechnung erledigt - we weiz wie hoilt dem anderen ſy? 59 - und dagegen ein ästhetisches Erleben setzt, welches auf Konkretisierungen verzichtet und stattdessen sinnlich-bildhaft erzählt. V. In beiden behandelten Geschichtsdichtungen wird versucht, narrativ Identität zu stiften, beide reagieren auf historische Veränderungen in der politischen und sozialen Struktur Kölns, im Annolied auf das Zerwürfnis zwischen Bischof und Stadt, im Boich van der stede Colne auf einen Machtkampf zwischen den mächtigsten Patrizierfamilien. Die politischen Lösungen, die beide Texte anbieten, sind letztlich auf Versöhnung ausgerichtet, die nur zu erreichen ist, wenn von der unterlegenen Partei keine völlige Unterwerfung verlangt wird, sondern sie in einen umfassenden politischen Ausgleich integriert wird. Der politische Appell fällt dabei vergleichsweise schwach aus, viel stärker setzen beide Autoren auf eine religiös begründete Identität der Sancta Colonia als alle Gruppen verbindendes Element. Narrativ in Szene gesetzt wird diese religiöse Identität weniger mittels argumentativ vorgetragener, moralisch-ethischer Maximen als mit Hilfe der Ästhetik. 60 Voraussetzung für die Wirkung dieser Strategie ist eine entwickelte Interpretationskompetenz der Rezipienten, die in der Lage sein müssen, ihre sinnlichen Erfahrungen in ihrem Bedeutungsgehalt zu erkennen und sie einzusetzen für das Verständnis bzw. die Bewertung 59 Gottfried Hagen (wie Anm. 47), V. 5984: ‚„Wer kann heute noch sagen, wer auf wessen Seite stand? “‘. 60 Zum Streit darüber, ob etwa „Fälle religiöser Erregtheit mit Hilfe ästhetischer Theorien zu beschreiben“ sind, vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Korans, München 5 2015, S. 408. Bei Kermani findet sich eine Fülle von Beispielen, wie im Koran Ästhetik und Transzendenz in eins fließen. Narrative Identitätsstiftung in der Geschichtsdichtung der Stadt Köln 339 von Situationen. Es ist das Ziel beider Autoren, diese Kompetenz mit den Texten zugleich einzuüben. Beide tragen zu dieser ästhetischen Bildung bei, indem sie zentrale Inhalte wie ein Gemälde vor dem Betrachter ausbreiten. Dies lässt sich auf den Nenner bringen, dass Schönheit metaphysischen Ursprungs ist, daher als Kategorie für die Bewertung sozialen und politischen Verhaltens dient und so eine Orientierung für richtiges Handeln bietet. In dem die Rezipienten erkennen, dass das Schöne von Gott, alles Hässliche und Schmutzige aber teuflischen Ursprung ist, 61 sollen sie sich zu einer ästhetischen Identität bekennen, womit sie sich gleichzeitig auf einer poetologischen Ebene auch zur Fähigkeit der Kunst und der Literatur bekennen, diese Differenz in Szene zu setzen. Ästhetik wird hier zur Transzendenzvermutung. 62 Den Vorteil einer solchen ästhetischen Identitätsstiftung kann man an mehreren Punkten festmachen. Mit der sinnlichen Erfahrung, die ja nie eindeutig ist und die Aufgabe der Deutung an die Figuren (und die Rezipienten) verlagern, wird intradiegetisch und rezeptionsästhetisch eine Selbstreflexion angestoßen, die auf der Textebene zu einem Perspektivwechsel bei den handelnden Figuren führen und dazu wohl auch die Rezipienten animieren wollen. So wird etwa ansatzweise die Perspektive der unterlegenen Partei übernommen und gezeigt, auf welchem Weg sich diese ohne Gesichtsverlust und Ressentiment der siegreichen Seite anschließen kann: Im Annolied wird den Bürgern Kölns die Schuld des Bischofs durch das Traumgesicht bestätigt und ihnen zugleich die Orientierung an der Ästhetik als neues Identitätsmerkmal anempfohlen, 200 Jahre später den unterlegenen Patriziern und ihren landsässigen Verbündeten auf demselben Weg eine religiös-ästhetische Identität offeriert, die sie in die Gemeinschaft der heiligen Stadt reintegriert. Wenn man das ästhetisch Schöne als Indiz für göttliche Zustimmung versteht, dann sind beide Texte als Aufforderung zu verstehen, sich zum Schönen als gemeinsamem Ziel zu bekennen, weil dies dem göttlichen Willen entspricht. Die daraus entstehende ästhetische Identität kommt ohne theologische Begründung aus, belässt die Konflikte der Vergangenheit in einem Schwebezustand, relativiert politische Loyalitäten und Feindbilder. Auf ihrer Grundlage können beide Autoren eine neue und unmittelbare Verbindung von Stadt und Gott herstellen, eine soziale Gleichheit der Kölner Bürger unter dem Signum des honor imaginieren und so ihre Werke zum Medium einer kollektiven Identität Kölns machen. 61 Die simple Gleichung schön = gut bzw. hässlich = teuflisch lässt sich dort beobachten, wo Aussatz oder eine andere Krankheit als Zeichen eines Bündnisses mit dem Bösen identifiziert wird. Die Vorstellung der Krankheit als Strafe Gottes ist zeitgemäß, die öffentliche Wirkung dieser Gleichung hängt freilich davon ab, ob die sinnlich vermittelte Wahrnehmung der Krankheit auf eine entsprechende Deutung des Rezipienten abzielt. Unter diesem Aspekt ist die Schulung und Interpretation der Wahrnehmung als Schlüssel zur ästhetischen Bildung enorm wichtig, sie appelliert zur Selbstbeobachtung und zur ständigen Arbeit an sich selbst. 62 Vgl. zum Schönen als Transzendentalium Eco (wie Anm. 14), S. 34-48. Literarisierung und Komisierung von Geschichte 341 Literarisierung und Komisierung von Geschichte Le Voyage de Charlemagne Ricarda Bauschke I. Chanson de geste und Geschichte Jean Bodel, der Dichter des altfranzösischen Sachsenliedes, 1 kategorisiert die volkssprachige Dichtung um 1200 nach Stoffkreisen: N’en sont que trois materes à nul home entendant: De France et de Bretaigne et de Romme la grant; Ne de ces trois materes n’i a nule samblant. Li conte de Bretaigne sont si vain et plaisant Et cil de Romme sage et de sens aprendant. Cil de France sont voir chascun jour aparant. (V. 6-11) 2 Während Artusepik und andere aventiurehafte Dichtungen bretonischen Ursprungs auf ihre reine Unterhaltungsfunktion reduziert werden und die Antikenromane primär in ihrem didaktischen Mehrwert eine Würdigung finden, profiliert Jean Bodel den fränkischen Stoffkreis als faktual und wahrhaft, als auf historischer Grundlage beruhend und eine tiefere Wahrheit verweisend. 3 Dabei steht die matière de France für die französische chanson de geste-Dichtung, eine genuine oral poetry. 4 Die auf mündlichen Vorlagen fußenden Heldenlieder besitzen einen historischen Kern im bewaffneten Missionierungshandeln Karls des Großen und seiner Nachfolger; im zeitgenössischen Umfeld der Kreuzzugsbewegung entfalten Wiedererzählung und Anverwandlung aktuelle Relevanz und korrelieren mit 1 Zitiert nach der Ausgabe: Jehan Bodel, La Chanson des Saisnes, hg. von Annette Brasseur, 2 Bde, Genf 1989 (Textes littéraires françaises 369). 2 ‚Für den Wissenden gibt es nur drei Stoffkreise: / von Frankreich, von der Bretagne und vom großen Rom. / Es gibt nichts Vergleichbares, und sie sind voneinander auch völlig verschieden. / Die Erzählungen aus der Bretagne glänzen und unterhalten, / die über Rom sind weise und mit lehrreicher Absicht, / die aus Frankreich sind wahr, wie es jeden Tag deutlich wird.‘ (Übersetzung Bauschke). 3 An eben dieser zeitgenössischen Einschätzung macht Günter Zimmermann ein ‚System‘ mittelalterlicher Textsorten fest, das damit seinen Fluchtpunkt primär in der histoire, nicht aber im discours besitzt. Vgl. dazu ders., „Gattungen, Stoffe, Motive“, in: Ältere deutsche Literatur. Eine Einführung, hg. von Alfred Ebenbauer und Peter Krämer, 2., korrigierte und bibliographisch ergänzte Aufl. Wien 1990, S. 59-89, hier S. 63. 4 Hierzu noch immer grundlegend Marianne Ott-Meimberg, „Karl, Roland, Guillaume“, in: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 81-110. Sie diskutiert auch die verschiedenen Ursprungstheorien, die in der französischen Forschungstradition eine Rolle spielen. 342 Ricarda Bauschke Erfahrungs- und Erwartungshorizonten des höfischen Publikums. Die Angabe chascun jour aparant (V. 11) stellt den Zeitbezug dezidiert her. Im französischsprachigen Raum ist die weit verbreitete chanson de geste-Dichtung hochprominent. Sie lässt sich in einen Karlszyklus und einen Wilhelmszyklus gliedern. 5 Während an Charlemagne gründungsmythische Vorstellungen geknüpft werden, bieten insbesondere die Empörerepen der sich auflehnenden späteren Generationen Assoziationsmöglichkeiten für die erstarkende Schicht der Kleinfürsten und Vasallen. 6 Deutsche Adaptionen der matière de France sind seltener als diejenigen anderer matières, also antike Stoffe und Artusthema. Konrads Rolandslied 7 und Wolframs Willehalm 8 , aber auch Strickers Karl 9 stehen vergleichsweise isoliert in ihren jeweiligen literarischen Umfeldern. Der von Bernd Bastert 2004 herausgegebene Karlsband zeigt, dass in den romanischen Literaturen die Rezeption breiter und vielfältiger verläuft. 10 Jean Bodel betreibt mit seiner programmatischen Kategorisierung am Beginn des Sachsenliedes durchaus Propaganda in eigener Sache; denn indem er sein Werk in die Reihe der Geschichtsdichtungen über Karl den Großen stellt und diese Zugehörigkeit thematisch macht, kann er über das historisch rückgekoppelte Wahrheitspostulat sein eigenes Erzählen aufwerten und über die histoire potentielle Kritik an seinem discours in einer Vorwegstrategie abschneiden. 11 Die Klassifizierung steht also im Dienst einer tendenziösen Bewertung. Dennoch lassen sich aus Jean Bodels Behauptung Merkmale ableiten, die als konstituierend für die Narrativierung von Vergangenheit gelten können - zumindest was heroisches Erzählen im französischsprachigen Raum des 12. Jahrhunderts betrifft. Immerhin impliziert Jean Bodels Positionierung bestimmte zeitgenössische Grundbedingungen der heldenepischen Geschichtsdichtung. Dies sind in erster Linie folgende Aspekte: 1. Der historische Karlsstoff selbst signalisiert als Narration über den im kulturellen Gedächtnis Europas verankerten Ausnahmeherrscher Geschichtlichkeit. 12 Mit der Figur Karls des Großen werden Geschehnisse, die in der faktualen Vergangenheit anzusiedeln 5 Ebd., S. 81-96. 6 Vgl. hierzu grundlegend Peter Wunderli, „Speculatio Carolina. Variationen des Karlsbildes in der altfranzösischen Epik“, in: Vox Romanica 55 (1996), S. 38-87. 7 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, Mhd./ Nhd., hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993. Mit ausführlichem Kommentar und bibliographischem Anhang. Alle Zitate nach dieser Ausgabe. 8 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, 3., durchgesehene Aufl., Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort, Register von Dieter Kartschoke, Berlin/ New York 2003. Vgl. dazu Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart/ Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), zum Willehalm S. 276-406. 9 Karl der Große von dem Stricker, hg. von Karl Bartsch, Quedlinburg 1857, Photomechanischer Nachdruck mit einem Vorwort von Dieter Kartschoke, Berlin 1965. Grundlegend Dorothea Klein, „Strickers ‚Karl der Große‘ oder die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit“, in: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996, hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann- Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 299-323. 10 Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hg. von Bernd Bastert, Tübingen 2004. 11 Zum Konzept von histoire und discours vgl. Émile Benveniste, Problèmes de linguistique générale, Paris 1966; Gérard Genette, Figures I-III, Paris 1966-72. Über die Unterscheidung in ‚Was‘ und ‚Wie‘ der Darstellung handeln zusammenfassend Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 12 Diesen Konnex bespricht bereits Marianne Ott-Meimberg, „di matteria di ist scone. Der Zusammenhang von Stoffwahl, Geschichtsbild und Wahrheitsanspruch am Beispiel des deutschen ‚Rolandslie- Literarisierung und Komisierung von Geschichte 343 sind, erinnert und durch den Erzählvorgang, die Art der Inszenierung und den implizierten ereignishaften Kontext zum aktuellen Zeitgeschehen in Beziehung gesetzt bzw. mit diesem relationierbar gemacht. Dieser letztgenannte Aspekt betrifft insbesondere die an Charlemagne und seine Paladine gekoppelte Kreuzzugsidee, deren fundamentale Historizität sich zeitgenössisch stets neu selbst beweist (chascun jour aparant, V. 11). 13 Dabei steht in den einzelnen chanson de geste-Dichtungen der Zyklen gar nicht unbedingt Karl im Mittelpunkt; vielmehr sind es Verwandte oder ihm als Gefolgsleute verbundene Kämpfer, von denen erzählt wird: Guillaume d’Orange bzw. dessen historisches Vorbild Guillaume de Gellone, Graf von Toulouse, war vermutlich ein Cousin Karls des Großen, 14 Bernard de Brusban wird als Bruder Guillaumes eingeführt, 15 Bertram wiederum ist der Sohn Bernards und damit Neffe Guillaumes. 16 Ogier le Danois, eine Figur der Empörerepik, ist der Sohn eines Feindes von Karl, Godefried von Dänemark. 17 Die Figur Rolands geht auf einen bretonischen Markgrafen Karls zurück, Roland von Cenomanien. 18 Auch ohne die noch lang fortsetzbare Reihe 19 hier weiter zu entfalten, wird bereits anhand der wenigen identifizierten Beispiele deutlich, dass die in ihren jeweiligen Ursprüngen selbst historischen Einzelfiguren genealogisch oder sozialpolitisch (oder auf beide Weisen) mit Karl verknüpft werden. Die biologische bzw. gefolgschaftliche Ansippung steigert nicht nur die geschichtliche Dignität der Protagonisten, sondern scheint überhaupt Voraussetzung dafür zu sein, dass von ihnen erzählt werden kann. 2. Cil de France sont voir (V. 11). Das von Jean Bodel exponiert ins Spiel gebrachte Wahrheitspostulat meint mehr als die bloße Faktualität von Ereignissen der Vergangenheit; nicht zuletzt durch die Verknüpfung mit chascun jour aparant (V. 11) entfalten die chanson de geste-Dichtungen vielmehr eine heilsgeschichtliche Dimension, die auch das Erzählen selbst bestimmt. In seiner vergleichenden Betrachtung über Epos und Roman im 12. Jahrhundert beurteilt Hans Robert Jauß die unterschiedlichen Funktionalisierungen des Wunderbaren als wesentliches Unterscheidungskriterium der beiden Gattungen. 20 Während das märchenhafte Geschehen im Artusroman erkennbar einer imaginierten Welt angehöre, besitze das christlich Wunderbare in der chanson de geste teleologischen des‘“, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky, Stuttgart 1992, S. 17-32. 13 Das nachhaltige Wirken des Kreuzzugsgedankens im Hinblick auf mittelalterliches Weltbild und Selbstverständnis skizziert Alois Haas, „Aspekte der Kreuzzüge in Geschichte und Geistesleben des mittelalterlichen Deutschlands“, in: Archiv für Kulturgeschichte 46 (1964), S. 185-202. 14 Vgl. Eduard Hlawitschka,-„Die Vorfahren Karls des Großen“, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von Helmut Beumann und Wolfgang Braunfels, 5 Bde, Düsseldorf 1965-68, Bd. 1, S. 51-82, passim. 15 Über diese Figur handelt Bernard Gicquel, Généalogie de la Chanson de Roland, suivi des sources et modèles, Paris 2003, S. 40. 16 Vgl. dazu Pierre Le Gentil, „Les Chansons de geste. Le problème des origines“, in: Revue d’Histoire littéraire de la France 5/ 6 (1970), S. 922-1006. 17 Grundlegend Pierre Le Gentil, „Ogier le danois, héros épique“, in: Romania 310 (1957), S. 199-233. 18 Die historische Identifizierung bleibt nicht unumstritten; vgl. dazu André de Mandach, „Le problème de la présence de Roland à la défaite pyrénéenne de 778. Pour une nouvelle édition critique de la ‚Vita Karoli‘“, in: La chanson de geste et le mythe carolingien. Mélanges René Louis, hg. von Emmanuèle Baumgartner u. a., Saint-Père-sous-Vézelay 1982, S. 363-378. 19 Vgl. dazu Wunderli (wie Anm. 6), bes. S. 64-87. 20 Hans Robert Jauß, „Epos und Roman. Eine vergleichende Betrachtung an Texten des XII. Jahrhunderts (1961)“, in: ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, S. 310-326. 344 Ricarda Bauschke Verweischarakter. Wenn also in der Chanson de Roland Gott den Lauf der Sonne anhält, damit die Christen ihren Kriegsvorteil gegenüber den Heiden nutzen können, und wenn im Fierabras ein gottgesandter Hirsch dem verfolgten Boten Richard in höchster Bedrängnis die Furt über den Fluss zeigt, dann mögen diese Erzählungen zwar schwer mit der Faktualität korrelierbar sein, sie verweisen aber dennoch auf Wahres. 21 Die Wahrscheinlichkeit der epischen Handlung wird punktuell unterbrochen, um einen providentiellen Sinn zu entfalten, nämlich die letztliche Überlegenheit des Christengottes, aus der sich der Sieg der christlichen Kämpfer über die Andersgläubigen notwendig ergeben muss. Ein Engel, der Charlemagne nachts prophetisch die Zukunft enthüllt, 22 oder heilige Gegenstände, von denen die Christen Beistand erhalten, 23 erweitern das Erzählen von Geschichte in der chanson de geste um eine hagiographische Dimension, so dass Narration über Karl den Großen zugleich in den heilsgeschichtlichen Horizont eingebunden wird. 3. Das Kampfmotiv dominiert das Liebesthema. Die emotionale Verbindung des heldenhaften christlichen Kämpfers zu einer Dame seines Herzens spielt in den frühen Heldenliedern eine marginale Rolle, etwa bei Roland und seiner Verlobten Alda. 24 Auch im Guillaume-Zyklus bleibt die Arabel-Handlung dem Religionskonflikt untergeordnet. 25 Jean Bodel spricht diesen Aspekt nicht an; er lässt sich aber in der Zusammenschau der chanson de geste-Dichtungen als konstituierendes Merkmal abstrahieren und steht damit deutlich im Gegensatz zu den Antikenromanen und Aventiuredichtungen. 26 4. Formale Vertextungsstrategien korrespondieren mit dem Geschichts- und Wahrheitsanspruch der chansons de geste. Konstituierend ist in diesem Sinne der mündliche Erzählduktus der Dichtungen - sei es als Relikt einer tatsächlichen oralen Tradition, sei es als inszenierte Mündlichkeit, um die ununterbrochene Anbindung an ein erinnerndes Erzählen zu suggerieren und damit die Geschichtlichkeit des historischen Kerns, 21 Vgl. ebd., S. 317; dazu V. 2458f. der Chanson de Roland: Pur Karlemagne fist Deus vertuz mult granz, / Car li soleilz est remés en estant (‚Für Karl den Großen wirkte Gott ein großes Wunder; denn die Sonne blieb in ihrem Lauf stehen‘). Afrz. Zitat und nhd. Übersetzung nach La Chanson de Roland, übersetzt von H[ans] W[ilhelm] Klein, München 1983 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 3). Alle Zitate nach dieser Ausgabe. 22 Auch Konrad übernimmt entsprechende Motive im Rolandslied: dô sach er mit flaisclîchen ougen / den engel von himele. / er sprach zuo dem küninge: / ‚Karl, gotes dienestman, / île in Yspaniam! (V. 52-56). 23 So etwa in der Chanson de Roland, V. 3093f.: Gefreid d’Anjou [i] portet l’orieflambe; / Seint Piere fut, si aveit num Romaine (‚Gottfried von Anjou trägt die Oriflamme. Sie gehörte einst Sankt Peter und trug den Namen Romana‘). Gemeint ist die Kriegsfahne der französischen Könige, die ‚Goldflamme‘. 24 In der Chanson de Roland verstirbt Alda unmittelbar, sobald sie durch Karl vom Tod ihres Verlobten Roland erfährt. Ihr Auftritt beschränkt sich auf eine einzige Laisse (V. 3708-3721). Auch in Konrads Rolandslied ist Aldas Auftritt kurz (V. 8685-8728). Ihre Weigerung, den als Ersatz angebotenen Ludwig zu heiraten und damit Königin von Frankreich zu werden, schmückt Konrad gegenüber seiner Vorlage noch aus; Alda will lieber jungfräulich sterben und wird schließlich auf einem Nonnenfriedhof begraben. Damit ist die Verbindung zwischen Roland und Alda religiös überhöht, und die keusche Treue Aldas, die Rolands Tod überdauert, schneidet einen weltlich angelegten Liebesdiskurs noch rückwirkend ab. 25 Die Ausgestaltung des Liebesmotivs zwischen Guillaume und seiner konvertierten Ehefrau ist eine Neuerung Wolframs. Anders als seine afrz. Quelle (Aliscans, hg. von Claude Régnier, 2 Bde, Paris 1990) aktualisiert Wolfram in seinem Willehalm (wie Anm. 8) literarisch etablierte Liebesdiskurse, um die Verbindung zwischen Willehalm und Gyburc aufzuwerten. 26 Inwiefern in diesen Werken die spannungsvolle Dynamik von Liebe(spassion) und Gesellschaft diskursiviert wird und als ein Kernpunkt der Sinnstiftung fungiert, entfaltet Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, bes. S. 363-478. Literarisierung und Komisierung von Geschichte 345 auf dem der Bericht beruht, für die eigene Narration einzuholen. Bestimmend für die Grundstruktur der chansons de geste ist die Laissentechnik: 27 Assonierende Zwölfsilbler verbinden sich zu thematischen Einheiten unterschiedlicher Länge, wobei jede Laisse gleichsam wieder neu einzusetzen scheint. Dieses Verfahren ergibt sich aus der oralauditiven Vortragssituation der jongleurs, von denen erwartet wurde, dass sie spontan und situationsadäquat aus dem vorhandenen Material schöpfen und dieses jeweils neu zusammenstellen. Die laisses similaires, in denen ein Thema über mehrere Laissen hinweg variierend wiederholt wird, und die laisses parallèles, die durch formalen Gleichbau die Rezeption erleichtern, befördern die mündliche Diktion. 28 Syntaktische Eigenarten kommen hinzu, etwa stereotype Formeln wie Redeankündigungen, invocationes dei, Namensnennungen mit Epitheta oder stabile Formeln für Zeitangaben, für die Darstellung bekannter Situationen, wiederkehrender Schauplätze und Konstellationen. Bei all dem tritt die Erzählerfigur deutlich hinter dem Geschehensbericht zurück. Einer Kommentierung oder gar Auslegung der Narration bedarf es nämlich gar nicht, weil der jongleur lediglich kollektives Wissen ausformuliert und sich in Bezug auf seine Erzählung im Einklang mit dem Publikum weiß oder dies damit zumindest implizit behauptet. Heldenepische Vorausdeutungen besitzen daher auch nicht die Qualität von Erzählerkommentaren, sondern sind ihrerseits stereotype Formeln, mit denen das Geschehen im heilsgeschichtlichen Kontinuum verortet wird bzw. - bei Vorausdeutungen auf andere Werke des Zyklus - das Einzelwerk in den Gesamtstoffkreis eingebunden werden soll. Damit einher geht die grundsätzlich anonym bleibende Verfasserschaft. II. Die ‚Karlsreise‘ Vor dem Hintergrund dieser Skizze stellt sich eine chanson de geste des Karlszyklus als ausgesprochen widerspenstig dar, der Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Constantinople. 29 Bei dem lediglich 870 Verse zählenden Werk handelt es sich offensichtlich um einen humoristischen Text, über dessen genauen Sitz im Leben in der Forschung noch immer Uneinigkeit herrscht: Gattungsparodie, 30 Königssatire, 31 extreme Forcierung des 27 Grundlegend hierzu noch immer Jean Rychner, La chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs, Genf/ Lille 1955 (Société de Publications romanes et françaises 53). Meine folgenden Ausführungen orientieren sich an seiner richtungsweisenden Aufarbeitung und Klassifizierung des Materials. 28 Inwiefern selbst im Rolandslied noch Nachklänge dieses summierend-repetierenden Erzählverfahrens von Konrad aktualisiert werden, habe ich nachgewiesen. Vgl. Ricarda Bauschke, „‚Chanson de Roland‘ und ‚Rolandslied‘. Historiographische Schreibweise als Authentisierungsstrategie“, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050-1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 1-18. 29 Le voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, hg. von Paul Aebischer, Genf 1965. Verszählung und alle Zitate nach dieser Edition. Siehe jüngst auch die englische Übersetzung mit Einleitung und Bibliographie: The Song of Roland and Other Poems of Charlemagne, übersetzt von Simon Gaunt und Karen Pratt, Oxford 2016, Übersetzung der ‚Karlsreise‘ S. 197-224, in der Einleitung vgl. speziell S. XX-XXV. 30 Diese Deutung entfaltet (nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der vorgängigen Forschung) Hans-Jörg Neuschäfer, „‚Le voyage de Charlemagne en Orient‘ als Parodie der Chanson de Geste“, in: Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 78-102. 31 Als Satire auf Ludwig VII., der den zweiten Kreuzzug anführt, versteht das Werk Theodor Heinermann, „Zeit und Sinn der Karlsreise“, in: Zeitschrift für romanische Philologie 56 (1936), S. 497-562. 346 Ricarda Bauschke Karlsmythos im Zuge seiner Heiligsprechung, 32 klerikale Kritik am Reliquienkult 33 sind diskutierte Positionen. 34 Je nachdem, wie ernst oder komisch die ‚Karlsreise‘ gelesen wird, schwanken die Datierungen von der zweiten Hälfte des 12. bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. 35 Sowohl dem unbekannten Autor als auch dem Schreiber werden anglonormannische Dialektmerkmale nachgesagt. 36 Das einzige Manuskript des Werkes, ursprünglich verwahrt in der Royal Library of the British Museum, ist seit 1879 verschollen. 37 Bereits eine straffende Inhaltsangabe lässt die Sonderstellung des Textes erkennen; sie sei daher vorangestellt, um dann in einem nächsten Schritt die vier entfalteten Kategorien an der ‚Karlsreise‘ zu überprüfen: Ähnlich wie in der Chanson de Roland setzt auch im Voyage de Charlemagne die Handlung mit einer Zusammenkunft ein. Während im Rolandsepos die Heiden darüber beraten, wie sie sich den überlegenen Christen gegenüber künftig verhalten sollen, und die Christen ihrerseits eine Art festlichen Hoftag abhalten, erzählt die ‚Karlsreise‘ von einer Festkrönung. Ausgerechnet im Rahmen dieses Zeremoniells will sich Karl von seiner Frau bestätigen lassen, dass er tatsächlich der größte und schönste Machthaber der Welt sei. Die Königin allerdings behauptet, König Hugo von Konstantinopel sei noch prächtiger. Nicht zuletzt weil die gesamte Hofgesellschaft diese Zurücksetzung hört, ist Karl tief in seiner Eitelkeit getroffen. Er will sich selbst über die Pracht des Rivalen informieren und droht seiner Frau mit Hinrichtung, sollte sich ihre Behauptung als falsch erweisen. Als Karl die Reise antritt, erwähnt er seinen Leuten gegenüber den eigentlichen Grund für den Auszug aber nur beiläufig und nennt als offizielles Ziel der Fahrt das Heilige Grab in Jerusalem. Auch dieses fingierte Vorhaben stellt für den Erwartungshorizont an Karl eine Herausforderung dar: Der große Kaiser marschiert nicht als christlicher Heerführer in heidnisches Terrain ein, sondern er zieht mit seinen 12 Paladinen als Pilger aus. Damit nehmen der miles christianus und seine Streitmacht die Rolle von Reisenden ein. In Jerusalem angekommen, setzt sich Karl ahnungslos und unbedarft auf den Stuhl Christi, die 12 Pairs nehmen die Plätze der 12 Apostel ein. Ein Jude wird zufällig Zeuge der Anmaßung, hält Karl für Gott selbst und bittet den Patriarchen um die Taufe. Der Patriarch will sich - zusammen mit einer Delegation von Priestern - selbst ein Bild machen, und als er Karl auf dem Stuhl Christi sitzen sieht, verleiht er ihm aus genau diesem Anlass den Namen ‚der Große‘. Zudem schenkt er ihm feierlich eine ganze Reihe von Reliquien: den Arm des Heiligen Simon, den Kopf des Heiligen Lazarus, das Blut des Heiligen Stephan, das Schweißtuch Christi, einen der Nägel, die bei der Kreuzigung durch den Fuß Christi geschlagen wurden, die 32 So urteilt Gaston Paris, „La chanson de pèlerinage de Charlemagne“, in: Romania 33 (1880), S. 1-50. Auch Joseph Bédier, der als einer der ersten den parodistischen Charakter des Voyage erkennt, versteht das Werk dennoch als einen dem Reliquienkult positiv gegenüberstehenden Text, der die Translation und die erhoffte politisch-kulturelle Wirkung unterstützen soll. Vgl. Joseph Bédier, Les légendes épiques. Recherches sur la formation des Chansons de geste, 4 Bde, Paris 1908-13, 2 1921, hier Bd. 4, S. 151-154. 33 Diese genaue Gegenposition formuliert Ronald N. Walpole, „The Pèlerinage de Charlemagne. Poem, Legend and Problem“, in: Romance Philology 8 (1954/ 55), S. 173-186. 34 Eine Zusammenschau der älteren Forschung bietet Neuschäfer (wie Anm. 30), S. 78-81. 35 Heinermann (wie Anm. 31) liefert ein Referat der älteren Positionen; spätere Datierungsvorschläge werden von Neuschäfer (wie Anm. 30) kritisch diskutiert. 36 Über den Schreiberdialekt handelt Aebischer im Vorwort seiner Ausgabe (wie Anm. 29), S. 16-25. 37 London, British Library, MS Royal 16 E VIII, Bl. 131ra-144ra. Paul Aebischer hat also nicht nach der Handschrift edieren können, sondern die vor dem Verlust hergestellte Ausgabe zugrunde gelegt: Charlemagne. An Anglo-Norman Poem of the twelfth Century, hg. von Francisque Michel, London 1836. Literarisierung und Komisierung von Geschichte 347 Dornenkrone Christi, den Abendmahlskelch und die Abendmahlsschale, das Messer, mit dem Christus gegessen hat, Kopfhaare und Barthaare von Petrus, Muttermilch von Maria und ein Stück von Mariens Hemd. Mit dieser Überzahl an Gaben verknüpft der Patriarch die Aufforderung, gegen die Sarazenen zu kämpfen. Auf dem Weg nach Konstantinopel, den Karl und seine 12 Paladine nach einem Zwischenhalt in Jericho antreten, können sie kraft der Reliquien unzählige Wunder vollbringen: Karl lässt Lahme wieder gehen und Stumme sprechen; es gibt - so heißt es - keinen Blinden auf seinem Weg, der nicht das Augenlicht wiedererlangt hätte. Auch für die Reisenden selbst wirken die heiligen Gegenstände Wunder: an allen Flussläufen öffnen sich ihnen die Furten. In Konstantinopel setzt sich das absurde Geschehen fort. Die enorme Pracht in Hugos Reich erstaunt die Franken, insbesondere Hugo selbst beeindruckt sie, weil er aus einer Sänfte heraus seine Felder mit einem goldenen Pflug bestellt. Auch die kostbare Ausstattung der riesigen Hofgesellschaft zeigt märchenhaft-exotische Züge. Vollends von Hugos Macht und Einzigartigkeit überzeugen kann schließlich das Château tournant, der königliche Palast, der sich bei aufkommendem Sturm um sich selbst dreht und die Franken in Todesangst versetzt, während Hugo unbeirrt weiter darin herumspazieren kann. Sobald sich der Wind gelegt hat, findet ein Festmahl statt, bei dem Karl und die Paladine fressen und saufen. Anschließend stellt Hugo seinen Gästen ein prächtiges, mit 13 Betten ausgestattetes Schlafzimmer zur Verfügung, in dem er einen Spion versteckt. Die Trinkerei der Franken geht weiter und löst eine Kette von Prahlereien aus, die sogenannten gabs. Jeder einzelne Paladin verspricht ungeheuerliche Taten, die Hugo demütigen und seine Macht demontieren sollen: Olivier will mit der Königstochter in einer Nacht hundertmal schlafen; Roland gibt vor, durch das Blasen eines Olifanten die Stadt komplett zum Einsturz bringen zu können; Turpin verspricht, auf galoppierenden Pferden stehend vier Äpfel zu jonglieren; Guillaume d’Orange will eine Kugel, die von 30 Männern nicht bewegt werden kann, mit nur einer Hand gleich 40 Klafter weit schleudern; Bernard de Brusban plant, Konstantinopel unter Wasser zu setzen usw. Auch alle weiteren Männer erfinden unmöglich realisierbare gabs. Der durch den Spion informierte und verständlicherweise nun sehr zornige Hugo fordert zum Entsetzen seiner Gäste, dass die im Vollrausch phantasierten Prahlereien in die Tat umgesetzt werden. Alle Versuche, sich mit vermeintlichen fränkischen Trinkgebräuchen herauszureden, scheitern, so dass die Angeber schließlich mit Hilfe der Reliquien Gott um Beistand anflehen. Ein Engel erscheint, er wirft im Namen des Herrn Karl dessen unbedachtes Verhalten vor und sichert aber zu, die Umsetzung der gabs zu ermöglichen. Nur Olivier, Guillaume und Bernard de Brusban kommen zum Zuge, dann bricht der überzeugte Hugo die Beweisproben ab und unterwirft sich Karl. Der Frankenkaiser genießt seinen Sieg; und als beide Könige nebeneinander unter ihren Kronen gehen, stellt Karl mit Genugtuung fest, dass er einen Fuß und vier Zoll größer als Hugo ist. In seiner Eitelkeit befriedigt, zieht Charlemagne mit reichen Geschenken zurück nach Hause, wo er seiner Frau verzeiht. III. Historizität und Demontage im Voyage Angesichts dieses besonderen Karlsentwurfes stellt sich die Frage, ob und - wenn ja - inwiefern im Voyage de Charlemagne geschichtsnarrative Erzählmuster aktualisiert werden und worin ihre textspezifische Funktion liegt. Es gilt daher, die vier oben entworfenen Kategorien zu überprüfen, wobei jeweils exemplarische und zugleich signifikante Aspekte untersucht werden. 348 Ricarda Bauschke 1. Karl der Große Mit Charlemagne als Protagonist präsentiert sich die ‚Karlsreise‘ als dem historischen Erzählzyklus um den Frankenkaiser zugehörig. Die Figur wird dabei genauso inszeniert, wie sie in den seriösen chansons de geste auftritt. Eine offizielle Kirchenszene initiiert die Handlung: Un jur fu Karlemaine al seint Denis muster (V. 1). 38 Die Ortswahl offenbart die französische Perspektive der Erzählung; denn unter Karl dem Großen verlor Saint-Denis zugunsten von Aachen an Einfluss. Erst mit den Kapetingern konnte die Abtei zur alten Größe zurückfinden. 39 Es wird also auf historische Korrektheit verzichtet, um den Schauplatz dort anzusiedeln, wo ihn das französische Publikum des 12. Jahrhunderts gern sehen möchte. Die historisierende Wahrnehmung der Narration wird damit sogar befördert. 40 In Gang kommt die Handlung durch den Ehestreit, der sich zwischen Karl und seiner Frau entzündet; hierfür werden stereotype Formeln aktualisiert und in absurder Weise umcodiert: Charles li empereres reguardet sa moillier: Ele fut corunee al plus bel e al meuz. Il la prist par le poin desuz un oliver, De sa pleine parole la prist a reisuner: „Dame, veïstes unkes hume dedesuz ceil Tant ben seïst espee, ne la corune el chef? ‟ (V. 5-10) 41 Die Elemente sind konventionell: Ratsversammlungen finden unter Bäumen statt, 42 Karl führt die Verhandlungspartner an der Hand, er redet voller Inbrunst, wobei der jongleur ein Loblied über die äußeren und inneren Vorzüge des Frankenkaisers singt. 43 Völlig ungewöhnlich und durch die neue Kombination in gewisser Weise sinnentleert fügen sich 38 ‚Eines Tages hielt sich Karl der Große in der Abteikirche von Saint-Denis auf.‘ Alle Übersetzungen aus der ‚Karlsreise‘ von Bauschke. 39 Der Bezug zu Saint-Denis, und zwar sogar im Sinne eines Motivs für die Werkentstehung überhaupt, wird bereits hergestellt von Jules Coulet, Études sur l’ancien poème français du Voyage de Charlemagne en Orient, Montpellier 1907. 40 Das mag widersprüchlich klingen, macht aber durchaus Sinn. Inwiefern beim zeitgenössischen Publikum ein die Vergangenheit memorierendes Wissen über die Geschichte von Saint-Denis tatsächlich vorhanden ist, bleibt unsicher. Wenn aber die Bedeutung, welche die Abtei zur Entstehungszeit des Textes besitzt, in den Voyage de Charlemagne hineinprojiziert wird, ermöglicht dies eine Relationierung mit dem Erfahrungswissen der Zuhörer. Da diese Kenntnisse sich auf Fakten aus der Lebenswelt beziehen, suggeriert der außerliterarische Bezug auf Faktuales auch die Authentizität des Erzählten. 41 ‚Kaiser Karl betrachtete seine Frau. Sie sah mit ihrer Krone wunderschön aus. Er nahm sie bei der Hand und führte sie unter einen Olivenbaum. Mit inbrünstiger Stimme fing er an zu sprechen: ‚Herrin, habt Ihr jemals unter dem Himmel einen Mann gesehen, der den Speer besser führt und der die Krone passender auf dem Haupt trägt als ich? ‘‘ 42 Vgl. etwa die Chanson de Roland, V. 114f.: Desuz un pin delez un eglenter / Un faldestoed i unt fait tut d’or mer (‚Unter einer Fichte neben einem Weißdornstrauch hatten sie einen Thronsitz aus purem Gold aufgestellt.‘). Das Olivenmotiv, Symbol für Frieden, Demut und Rettung, wird in der Chanson de Roland als Mittel heidnischen Verrats eingesetzt. Marsilie schickt seine Boten mit entsprechenden Zweigen an den Hof Karls, um ihn in Sicherheit zu wiegen und ihn über seine eigenen feindlich-militärischen Absichten hinwegzutäuschen (V. 72f.: Branches d’olives en voz mains porterez, / Ço senefiet pais et humilitét. [‚Ölbaumzweige sollt ihr in euren Händen tragen. Das deutet Frieden an und Demut.‘]). 43 Eine Belegstelle aus der Chanson de Roland sei hier beispielhaft zitiert (V. 116-119): La siet li reis ki dulce France tient; / Blanche ad la barbe et tut flurit le chef, / ent ad le cors et le cuntenant fier; / S’est kil demandet, ne l’estoet enseigner. (‚Da sitzt der König, der das holde Frankreich beherrscht. Weiß ist sein Bart und silberhaarig sein Haupt, edel ist sein Leib und seine Haltung stolz. Wenn jemand nach ihm fragt, braucht man nicht auf ihn zu zeigen.‘). Literarisierung und Komisierung von Geschichte 349 die Teile im Voyage de Charlemagne zusammen: Am offiziellen Ort im kaiserlichen Habitus und mit Herrscherdiktion führt Karl ein Ehegespräch, dessen Zeuge die anwesende Hoföffentlichkeit wird. Distanz und Erhabenheit des Kaisers, die üblicherweise der Sänger panegyrisch etabliert, fallen in sich zusammen, wenn Karl selbst in eitlem Eigenlob seine Ausnahmehaftigkeit preist. In eben diesem Tenor geht es weiter: Der affektbedingte Streit, der traditionellerweise die epische Handlung auslöst, ist ein banaler Ehekrach. Karls legendärer Zorn, der sich gegen die Heiden richtet, trifft im Voyage seine Frau, weil der Kaiser in seiner männlichen Eitelkeit verletzt ist: Cele ne fud pas sage, folement respondeit: „Emperere, dist ele, trop vus poez priser. Uncore en sai jo unk i plus se fait leger Quant il porte corune entre ses chevalers: Kaunt la met sur sa teste plus belement lui set! “ Quant l’entent Charlemaine, mult en est curecez, Pur Franceis ki l’oïrent mult en est embrunchez: (V. 12-18) 44 Auch wenn die Provokation der Kaiserin in Vers 12 als ‚unklug‘ (pas sage) und ‚verrückt‘ (folement) ausgewiesen wird, kann dies kaum rechtfertigen, dass Karl seiner eigenen Frau die Hinrichtung androht: Se vus m’avez mentid, vus le cumperez cher: / Trencherai vus la teste od m’espee d’acer! (V. 24f.). 45 Der vorbildliche fränkische Kaiser wird in einem konventionalisierten Rahmen präsentiert, einem Setting, das die Inszenierung des Herrscherkörpers erwarten lässt. 46 Die Komik resultiert daraus, dass Karl stattdessen in einer privaten Rolle agiert und dass dieser nichtöffentliche Karl sich zudem als ein Mensch erweist, der aufgrund der ihm zugewiesenen Laster Eitelkeit, Stolz und Zorn zugleich besonders sündhaft ist. Potenziert wird diese Demontage durch den öffentlichen Auftritt, der Karls Blamage 47 publik macht. Es ist der Gesichtsverlust, der den Kaiser besonders trifft: Pur Franceis ki l’oïrent multen est embrunchez (V. 18). Mit dem heilsgeschichtlich überhöhten Karl der chanson de geste-Tradition hat die Herrscherfigur in der Voyage de Charlemagne nur insofern etwas gemein, als die überkommene Rolle die Koordinaten vorgibt, von denen der Kaiser in der ‚Karlsreise‘ abweicht. Besonders markant wird diese Dynamik narrativ gestaltet, wenn es um den Beinamen ‚der Große‘ geht. Karl erhält den ehrenden Zusatz, weil er versehentlich auf dem Stuhl Christi Platz genommen hat: E dist li patriarches: „Sire, mult estes ber! / Sis as en la chaere u sist meïmes Deus: / Aies nun Charlemaine sur tuz reis curunez! “ (V. 156-158). 48 Die Genese 44 ‚Diese [Karls Ehefrau] war nicht klug und antwortete töricht: ‚Kaiser‘, sagte sie, ‚Ihr seid zu eingenommen von Euch selbst. Ich kenne nämlich einen, der die Krone noch erhabener vor seinen Rittern trägt. Wenn er sie sich aufs Haupt setzt, steht sie ihm viel besser! ‘ Als Karl dies hört, wird er sehr zornig, und er ist besorgt, weil die Franken es [ebenfalls] gehört haben.‘ 45 ‚Wenn Ihr mich belogen habt, wird Euch dies teuer zu stehen kommen: Ich werde Euch das Haupt mit meinem eisernen Schwert abschlagen.‘ 46 Die Kategorien der ‚Zwei Körper‘ verwende ich nach Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton, NJ 1957. 47 Dies betrifft sowohl die wenig loyale Rede der Ehefrau als auch die Autodestruktion Karls durch sein eigenes Verhalten. 48 ‚Der Patriarch sagte: ‚Ihr seid besonders! Du hast auf dem Thron gesessen, auf dem Gott selbst Platz genommen hat. Heiße nun Karl der Große vor allen anderen gekrönten Königen! ‘‘ 350 Ricarda Bauschke des Epitheton wird banalisiert und im Werk selbst ad absurdum geführt, weil Karl mit eben diesem Beinamen ‚der Große‘ bereits ganz zu Beginn vorgestellt worden war (V. 1: Karlemaine). Im gesamten Erzählprozess reihen sich zahllose solcher Fälle aneinander, das ihnen zugrundeliegende Verfahren bleibt stets gleich: Typische Versatzstücke, die durch ihre formelhafte Verwendung in den traditionellen chansons de geste eine eigene Authentisierungspotenz und damit Geschichtlichkeit entfalten, werden in der ‚Karlsreise‘ aus ihren Ursprungskontexten herausgebrochen, neu funktionalisiert und in den Dienst einer komischen Wirkung genommen, die auf Lachen zielt. Bezugspunkt der Figur ‚Karl‘ bleibt noch immer der historische fränkische Kaiser und die sich an ihn knüpfende heldenepische Tradition bzw. geschichtsdichterische Praxis, die Erzählung von Karls Reise nach Jerusalem und Konstantinopel aber aktualisiert - zumindest im Literalsinn - keine historische Narration. Deutlich wird dies auch im Umgang mit den Ordnungsmustern ‚Zyklus‘ und ‚Genealogie‘. Die Reisegruppe setzt sich aus einer bunten Mischung bekannter epischer Helden zusammen, über die es eigene Erzählungen gibt. Die Paladine treten durch ihre Prahlreden jeder für sich aus der Gruppe heraus; sie werden namentlich identifiziert und durch die sehr spezifischen jeweiligen gabs voneinander unterschieden. Dabei rekurrieren die Prahlereien individuell auf das epische Wissen über den einzelnen Helden - ganz deutlich etwa bei Roland, der sich für seine Allmachtsphantasie in der ‚Karlsreise‘ eines Olifanten bedient, also jenes Horns, mit dem seine Figur in der Chanson de Roland untrennbar verknüpft ist. 49 Mit einer expliziten Vorausdeutung auf den Tod Rolands beansprucht auch der Voyage seinen Platz im Karlszyklus: Si fist il pus encore: ben en guardat sa fei, / Quant la fud morz Rollant, li .XII. per od sei (V. 231f.). 50 Historisierende Narrative über Karl werden damit zwar aufgerufen, die ureigene Fabel der ‚Karlsreise‘ aber ist kaum faktual zu nennen. 2. Heilsgeschichtlicher Impetus Das christlich Wunderbare häuft sich in der ‚Karlsreise‘ inflationär und betrifft im zweiten Teil derartig profane Bereiche, dass es sich selbst ad absurdum führt. Die Wunderheilungen im ersten Teil, auf dem Weg von Jerusalem nach Konstantinopel, werden summarisch bis lakonisch konstatiert: Les reliques sunt forz; granz vertuz i fait Deus, Qu’il ne venent a ewe, n’en partissent les guet; Ne n’encuntrent aveogle, ne seit reluminet; Les cuntréz i redrescent e les muz funt parler. (V. 255-258) 51 Sprachlich verschmelzen dabei Reliquien und Franken; ganz bewusst wird dadurch in der Schwebe gelassen, ob nicht die Heilkräfte bereits auf Karl selbst übergegangen sind. Zudem macht die Hyperbolik eines solch umfassenden Heilungswirkens das göttliche Wunder schon fast kontingent. Karls Reiseroute hinterlässt eine Spur der Erlösung. 49 V. 470-477. 50 ‚Dies tat er später wirklich: Er hielt sein Versprechen. Denn dort wurde Roland getötet und mit ihm die 12 Paladine.‘ 51 ‚Die Reliquien sind wirkmächtig. Durch sie vollbringt Gott große Wunder, denn sie kommen an keinen Wasserlauf, wo sich nicht die Furten öffnen; sie treffen keinen Blinden, ohne ihm das Augenlicht wiederzugeben; sie lassen Lahme wieder aufstehen und Stumme sprechen.‘ Literarisierung und Komisierung von Geschichte 351 Vorbereitet wird damit die völlig groteske divine Hilfe im Kontext der gabs. Als Karl realisiert, dass ihn die betrunkene Prahlerei in Lebensgefahr gebracht hat, bittet er um göttlichen Beistand. Der providentiellen Geschichtsnarration entsprechend erscheint ein Engel, der zuerst Karl wie einem kleinen Kind eine Strafpredigt hält, um sich dann auf dessen Seite zu schlagen: Atant ast vus un angele cui Deus i aparut, E vint a Carlemaine, si l’a releved sus: „Carles, ne t’esmaer, ço te mandet Jhesus! Des gas qu’er sair desistes, grant folie en fud: Ne gabez ja mès hume, ço cumandet Christus! Va, si fas cumencer, ja ne t’en faldrat uns! “ L’emperere l’entent: leez e joiant fud. […] Carlemaine de France il fud leved en peez, E out dresciet sa main, en croiz seigna sun chef E ad dit a Franceis: „Pas ne vus emaez! “ (V. 672-681) 52 Obwohl das Verhalten der Franken und die gabs von Gott entschieden verurteilt werden, unterstützt der Allmächtige die Realisierung der Prahlereien. Das Fehlverhalten der Christen wird durch Gott selbst kaschiert, indem dieser durch sein wundersames Einwirken die Intrige gegen König Hugo überhaupt ermöglicht. Dadurch wird eine gängige Perspektive auf Karl, nämlich die Inszenierung des Kaisers als Werkzeug Gottes, 53 einerseits aufgerufen, andererseits aber ad absurdum geführt; denn Karl erfährt - so wird es zumindest in der Narration des Voyage behauptet - göttlichen Beistand nahezu automatisch und selbst dann, wenn er ihn für ‚unheilige‘ Aktionen braucht, also um Prahlereien zu decken und den byzantinischen Herrscher zu täuschen. Dabei birgt die göttliche Hilfe durchaus Gefahren für Karl und seine Leute. Während der Umsetzung des gab von Bernard de Brusban, der den Fluss über die Ufer treten lässt und ganz Konstantinopel unter Wasser setzt, drohen auch die Franken zu ertrinken. Sie retten sich auf einen Hügel und müssen Gott nun nochmal anflehen, diesmal mit der Bitte um Rückgang der Flut: E priet a Jhesu que cele ewe remaignet. / Deus i fist grant vertut pur amur Carlemaigne (V. 790f.). 54 Das göttliche Wirken kann also aufgerufen, eingefordert und umgelenkt werden, göttliche Gnade erscheint in der ‚Karlsreise‘ als abrufbare Leistung. Vorbehalten ist dies allerdings ausschließlich Karl dem Großen, der zudem unzählige Re- 52 ‚Da erschien ein Engel, den Gott dorthin geschickt hat. Er kam zu Karl dem Großen und richtete ihn wieder auf: ‚Karl, fürchte dich nicht, das lässt dir Jesus sagen! Die Prahlereien von gestern Abend waren eine große Dummheit. Niemals mehr sollst du jemanden ins Lächerliche ziehen, das befiehlt dir Christus! Geh und lass sie [die gabs] beginnen; keine von ihnen soll misslingen! ‘ Der Kaiser versteht; er ist darüber glücklich und wieder frohen Mutes. […] Karl der Große war wieder aufgestanden, aufrecht, und erhob die Hand, um sich zu bekreuzigen. Dann sagte er zu den Franken: ‚Fürchtet Euch nicht! ‘‘ 53 Diese Sichtweise elaboriert sehr markant die Chanson de Roland, wo ganz am Ende ein Engel dem kriegsmüden Karl einen neuen Auftrag erteilt und damit den Kaiser zum Weinen bringt (V. 3992- 4001). Karls Handeln wird dadurch dezidiert als fremdgesteuert inszeniert. Nicht politisches Machtstreben lässt ihn gegen die Heiden kämpfen und auch nicht individuelle religiöse Gesichtspunkte. Karls Kreuzzugsaktivitäten erscheinen vielmehr als Vollzug des göttlichen Willens und sind damit über jeden Zweifel erhaben. 54 ‚Und er betete zu Jesus Christus, dass das Wasser zurückgehen möge. Gott wirkte dort aus Liebe zu Karl dem Großen ein großes Wunder.‘ 352 Ricarda Bauschke liquien besitzt. Sicherlich wird hier eine christliche Allmachtsphantasie kritisch exponiert und dem Verlachen preisgegeben, so dass der Voyage christlich-wunderbare Narrationen im Geschichtsdiskurs karikiert. 55 Auf der anderen Seite jedoch - und dies ist für den entworfenen Argumentationszusammenhang zentral - wird dadurch zugleich das providentielle Denkmodell und dessen narrative Umsetzung als konstituierend für das Erzählen von Geschichte im Rahmen der chanson de geste ausgestellt. 3. Das marginale Liebesthema Während in den chanson de geste-Dichtungen der ersten Generation die Geschlechterliebe eine eher randständige Rolle spielt, 56 erhält ihre - sich gleichwohl primär auf den physischen Aspekt konzentrierende - Aktualisierung im Voyage eine prominente Rolle. Als König Hugo, durch die Prahlereien der Franken in seiner Ehre gekränkt, die Einlösung der gabs fordert, beginnt er ausgerechnet mit der großsprecherischen Ankündigung Oliviers, dieser werde mit der Königstochter in einer Nacht hundertmal Beischlaf halten. Um also die Franken der Lüge zu überführen und damit die eigene Würde wiederzuerlangen, gibt der byzantinische König seine Tochter, deren Ehre und damit auch seine eigene überhaupt erst preis: Er überlässt Olivier das Mädchen eine ganze Nacht. Für den hundertfachen erotischen Erfolg beansprucht jener allerdings keine göttliche Hilfe, sondern er macht die in ihn verliebte Königstochter zu seiner Komplizin, indem er ihr verspricht, sie zu seiner offiziellen Favoritin (drue, V. 724) zu erwählen: „Bele, dist Oliver, al vostre cumant seit, Mais que de men cuvent m’aquitiez vers lu rei. De vus ferai ma drue: ja ne quier altre aveir.“ Cele fud ben curteise, si l’en plevit sa fei. (V. 722-725) 57 Wenn die Prinzessin dann gegenüber ihrem Vater behauptet, der Franke sei hundertmal erfolgreich gewesen, und Hugo sich darüber ärgert, ohne die Entehrung seiner Tochter überhaupt zu problematisieren, erhält die Narration eine absurde Wendung: Al matin, par sun l’albe, i est venuz li reis E apelat sa fille, si li dist en requeit: „Dites mei, bele fille, ad le vus fait .c. feiz? “ E cele li respunt: „Oïl, mis sire reis! “ Ne fait a demander s’irascud fu li reis. (V. 726-730) 58 55 Eléonore Andrieu etwa konzentriert sich darauf, dass die vermeintliche ‚christliche Wahrheit‘ der erfolgreichen gabs bzw. die Art ihrer Inszenierung als solcher die Erzählung als komische Lüge entlarve, da durch die paradoxe Spannung von Text und Metatext die Prahlerei zur Prophezeiung werde. Eléonore Andrieu, „Quand les rhinocéros prennent la parole: le gab et la question de la parole efficace dans ‚Le Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople‘“, in: Le Pouvoir des mots au Moyen Âge, hg. von Nicole Bériou u. a., Turnhout 2014 (Bibliothèque d’histoire culturelle du moyen âge 13), S. 71-106. 56 Für die Chanson de Roland vgl. Anm. 24. In Epen des späteren 13. Jahrhunderts können durchaus Liebeshandlungen hinzutreten. 57 ‚‚Schöne‘, sagte Olivier, ‚es sei so, wie Ihr es befehlt, vorausgesetzt Ihr helft mir vor dem König mit dem, was ich geschworen habe. Ich mache Euch zu meiner Freundin, um etwas anderes bitte ich Euch nicht.‘ Sie war sehr höfisch und unterstützte ihn.‘ 58 ‚Am Morgen, bei Sonnenaufgang, kam der König. Er rief seine Tochter zu sich, nahm sie bei Seite und fragte: ‚Sagt mir, schöne Tochter, hat er es Euch hundertmal besorgt? ‘ Und sie antwortete: ‚Ja, das hat er, Eure Majestät! ‘ Man muss nicht fragen, ob der König wütend wurde.‘ Literarisierung und Komisierung von Geschichte 353 Mit der Gattungsanspielung auf die Alba-Situation (V. 726) 59 wird zusätzliche Komik erzeugt, weil die literarisch konventionalisierte Heimlichkeit einerseits aufgerufen und andererseits durch den väterlichen Besuch in die Öffentlichkeit des Königshofes überführt wird. Zugleich macht der Ausgriff auf das lyrische System das Spiel mit Hörererwartungen und Traditionsbrüchen selbst thematisch. Zusätzliche Brisanz gewinnt die Episode, wenn Vers 726 der Edition von Eduard Koschwitz 60 einbezogen wird: Li quens ne li fist la nuit mes que .xxx. feiz (‚Der Graf hat sie in der Nacht kaum mehr als dreißigmal besessen.‘). 61 Der lakonische Erzählerhinweis unterstreicht in der Figur einer Litotes Oliviers Virilität, so dass die gesamte Episode als Herrenwitz daherkommt. Doch auch ohne diesen Zusatz entfaltet sich kein Liebesdiskurs. Wenn Olivier das Mädchen schließlich verlässt, um seinem Kaiser zu folgen, besitzt dies nichts von der Tragik um Roland und Alda (s. o.): La fille al rei Hugun i curt tut a bandum: La u veit Oliver, sil prent par sun gerun: „A vus ai jo turnet m’amistet e m’amur! Car m’enportez en France: si m’en irrai od vus! “ - „Bele, dist Oliver, m’amur vus abandon: Jo m’en irrai en France od mun seignur Carlun! “ (V. 852-857) 62 Wie ein kleines Kind zieht die Königstochter den bereits im Sattel sitzenden Olivier am Gewand, um ihn an sein Versprechen zu erinnern und ihre Mitnahme einzufordern. Der Paladin wiederholt zwar das Geschenk seiner Liebe als reines Lippenbekenntnis, hält aber an seinem Entschluss, ohne weibliche Begleitung mit seinem Herrn Karl nach Frankreich zurückzureiten, fest. Die ebenso wie ihr Vater geprellte Prinzessin verschwindet damit aus der Erzählung. 4. Epischer Formelstil Die ‚Karlsreise‘ aktualisiert die formalen Bedingungen der chanson de geste. Für die Gattungszuordnung und den diesbezüglichen Konsens der ansonsten kontroversen Forschung (s. o.) ist diese formal-strukturelle Übereinstimmung zentral. Selbst die 1959 getroffene Einschätzung von Hans-Jörg Neuschäfer, es handele sich bei der ‚Karlsreise‘ um eine Gattungsparodie, 63 zielt schließlich im Kern auf die chanson de geste-Kategorie - und damit auch auf die jener Textsorte prinzipiell inhärente Historizität. Maureen Cromie hat bereits 59 Zum romanischen Vorläufer des mhd. ‚Tagelied‘ vgl. Dietmar Rieger, „Die altprovenzalische Lyrik“, in: Lyrik des Mittelalters I. Probleme und Interpretationen, hg. von Heinz Bergner u. a., Stuttgart 1983, S. 197-390. 60 Karls des Grossen Reise nach Jerusalem und Constantinopel, ein altfranzösisches Heldengedicht hg. von Eduard Koschwitz, 2., vollständig umgearbeitete und vermehrte Aufl., Heilbronn 1883 (Altfranzösische Bibliothek 2). 61 Paul Aebischer (wie Anm. 29), S. 74f., tilgt den Vers, weil er im verschollenen Manuskript angeblich vom Schreiber selbst nach der Niederschrift durchgestrichen worden sei; vgl. auch den Kommentar S. 90f. Es steht jedoch zu vermuten, dass der ‚echte‘ Vers in seiner derb-zotigen Komik sowohl dem Kopisten als auch dem Herausgeber anstößig vorgekommen ist. Im Kontext eines gab macht er durchaus Sinn, und darum hat Koschwitz (wie Anm. 60) ihn in seine Edition aufgenommen. 62 ‚Die Tochter von König Hugo kommt auf sie zugeflitzt. Sobald sie Olivier erblickt, zieht sie an seinem Gewand: ‚Ich habe Euch all meine Liebe und Zuneigung gegeben! Nehmt mich also mit nach Frankreich, ich werde mit Euch kommen! ‘ - ‚Schöne‘, sagt Olivier, ‚ich schenke Euch meine Liebe. Ich werde nach Frankreich ziehen mit meinem Herrn Karl.‘‘ 63 Neuschäfer (wie Anm. 30), S. 101. 354 Ricarda Bauschke 1963 akribisch aufgearbeitet, wie konventionell der style formulaire im Voyage eingesetzt wird. 64 Makrostrukturell betrifft dies die Laissentechnik, 65 wobei insbesondere die Verfahren von laisses similaires, also variierendem Bericht einer semantisch nahezu identischen Erzähleinheit, und laisses parallèles, nämlich struktureller Übereinstimmung, um ähnliche Motive zu narrativieren, benutzt und sogar miteinander kombiniert werden. Dies kann stellvertretend ein Beispiel aus der Pilgerszene belegen: E dist li patriarches: „Ben avez espleitez Quant Deus venistes querre: estre vus dait le melz. Durrai vus tels reliques - meilurs nen at suz cel -, […].“ Karlemaines l’en rent saluz e amistez: Tut li cors li tressait de joie e de pitez. (V. 167-169, 182f.) 66 Ço dist li patriarche: „Ben vus est avenuz! Par le mien escïentre, Deus vus i a cunduist: Durrai vus tels reliques ke ferunt grant vertuz […].“ Karlemmaines l’en rent amistet e saluz. […] Karlemaines fud lez, e tuz qui sunt od lui. (V. 184-186, 190, 203) 67 Die Übergabe der Reliquien wird auf zwei Laissen verteilt. Beide Abschnitte setzen ein mit der auf der sprachlichen Oberfläche leicht variierenden Rede des Patriarchen, der Karls Reise nach Jerusalem lobt und die Übergabe von Reliquien ankündigt; beide enden mit dem Hinweis auf die große Freude, welche die Schätze auslösen. Der Schlussteil der ersten Laisse wird dabei in der zweiten Laisse aufgesplittet; denn dort schließt der Verweis auf Karl die Ankündigung des Geschenkes ab, während am Ende, nämlich nach erfolgter Übergabe, zusätzlich von der Begeisterung aller anwesenden Franken die Rede ist. Im Mittelteil - der gesamten Laisse im ersten Fall und der ersten Laissenhälfte im zweiten Fall - wird jeweils von unterschiedlichen Reliquien berichtet. Dass dadurch die Aufzählung der Kleinodien unterbrochen und mit dem nochmaligen Sprechansatz die Aufmerksamkeit der Hörer neu eingefordert wird, korrespondiert mit der Mündlichkeit des Erzählduktus. Grundsätzlich könnte die Aufteilung aber auch ein Indiz für die fakultative Einsetzbarkeit der ersten Laisse sein; je nach Vortragssituation hätte der jongleur beide Laissen oder nur die zweite übernehmen können. Da strukturell betrachtet die erste Laisse in der zweiten 64 Maureen Cromie, „Le style formulaire dans ‚Le voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople‘“, in: Revue des langues romanes 77 (1967), S. 31-54. Sie orientiert sich dabei vollständig an den Verfahren und deren Klassifikationen, die bereits Rychner (wie Anm. 27) erarbeitet hat. 65 Diese nimmt Cromie (wie Anm. 64) allerdings kaum in den Blick. 66 ‚Und der Patriarch sagte: ‚Ihr habt gut daran gehandelt, hierher zu kommen, um Gott zu suchen. Das wird Euch Glückseligkeit bringen. Ich werde Euch folgende Reliquien geben, bessere gibt es unter der Sonne nicht […].‘ Im Gegenzug grüßte Karl dankbar und brachte seine Freundschaft zum Ausdruck. Sein ganzer Körper hüpfte vor Freude und vor Rührung.‘ 67 ‚Dies sagte der Patriarch: ‚Gut, dass Ihr gekommen seid! Nach meinem Dafürhalten war es Gott selbst, der Euch geführt hat. Ich werde Euch folgende Reliquien geben, die große Wunder wirken […].‘ Im Gegenzug brachte Karl seine Freundschaft zum Ausdruck und grüßte dankbar. […] Karl war glücklich und ebenso alle, die bei ihm waren.‘ Literarisierung und Komisierung von Geschichte 355 inseriert ist und diese mise en abyme den Typ der laisses consécutives aufruft, das heißt semantische Ähnlichkeitsrelation bei inhaltlichem Fortschritt, ist es allerdings mehr als wahrscheinlich, dass die plakative Verwendung gleich mehrerer Oralität suggerierender Verfahren eine mündliche Tradition nur inszenieren soll. Ein solch kalkuliertes Vorgehen fügte sich in den hier bereits aufgearbeiteten Gestaltungsrahmen des Voyage. Offenbar wird referentielles Wissen gezielt aufgerufen und dann benutzt, um Erwartungen aufzubauen und diese zu durchbrechen. Die schulmeisterhafte Anwendung der Laissentechnik, wie sie die beispielhafte Analyse zeigt, dient dazu, genau den Verstehensrahmen zu konstruieren, der letztlich destruiert werden soll. Scheinbare Konformitäten bilden also die wesentliche Voraussetzung für die sich anlagernden Komisierungsstrategien. Die für die Makrostruktur gemachten Beobachtungen gelten auch mikrostrukturell; hier untersucht Cromie Inquit-Formeln, Anrufungsstereotype und zahlreiche kleinste syntaktische Einheiten, die sie nach Inhaltstypen gliedert (Namensnennungen, Ratgebersituationen usw.). 68 Interessant ist - und diesen weiteren Schritt geht Cromie nicht -, wie bestimmte Konstituenten des epischen Formelstils spezifisch eingesetzt werden; denn ausgerechnet für die gabs findet das Prinzip der laisses parallèles Verwendung. Jede Prahlerei wird von Karl angestoßen, der mit gabez, gefolgt vom jeweiligen Namen, zum Angeben auffordert, zum Beispiel: E dist li emperere: „Gabez, Naimes, li dux! “ (V. 531) Ço dist li emperere: „Gabez, sire Aïmer! “ (V. 579) „Gabez, sire Bertram! “ li emperere a dit. (V. 591) „Gabez, sire Gerin! “ dist l’emperere Carles. (V. 602) 69 Auch in der Variante, wo Roland als Aufforderer fungiert, bleibt das Schema gleich: „Gabez, sire Oliver! “ dist Roland li curteis (V. 484). 70 Ein validierender Kommentar des Spions, der stumm mit sich selbst spricht, rundet jede der Allmachtsphantasien ab, etwa: „Par Deu, ço dist l’escut, veilz estes e canuz, Tut avez le peil blanc: mult avez les ners durs! “ (V. 538f.) „Par Deu, ço dist li escut, cist hon est enraget! Que fols fist li reis Hugue qui vus presta ostel! “ (V. 589f.) „Par Deu! ço dist li escut, mal gabement ad ci: Quant le savrat li reis, grains en iert e maris.“ (V. 600f.) 71 68 Cromie (wie Anm. 64), S. 32-47. 69 ‚Und der Kaiser sagte: ‚Prahlt, Herzog Naimes! ‘‘; ‚Da sagte der Kaiser: ‚Prahlt, Herr Aïmer! ‘‘; ‚‚Prahlt, Herr Bertram! ‘, hat der Kaiser gesagt.‘; ‚‚Prahlt, Herr Gerin! ‘, sagte der Kaiser Karl.‘ 70 ‚‚Prahlt, Herr Oliver! ‘, sagte der höfische Roland.‘ Die im Epenkontinuum tradierte enge Verbindung von Roland und Olivier sowie die Anführerposition, welche Roland in der Chanson de Roland gegenüber dem dennoch als gleichrangig inszenierten Freund und Kriegsgefährten Olivier einnimmt, findet sich damit im Voyage wieder, das auch anhand solcher Details den Anspruch, Teil des Karlszyklus zu sein, untermauert. 71 ‚‚Bei Gott‘, sagte der Spion, ‚Ihr seid alt und schwach. Doch auch wenn Euer Haupt weiß ist, so habt Ihr (wohl) doch harte Muskeln.‘‘; ‚‚Bei Gott‘, sagte der Spion, ‚dieser Mann ist verrückt geworden! Was für eine Dummheit hat König Hugo gemacht, als er Euch seine Gastfreundschaft geschenkt hat.‘‘; ‚‚Bei Gott! ‘, sagte der Spion, ‚das ist eine böse Prahlerei. Wenn der König davon erfährt, dann wird er zornig 356 Ricarda Bauschke Traditionell wird die Parallelstruktur der Laissen benutzt, um gleichzeitige Geschehnisse nacheinander zu berichten. Dadurch wirken die Ereignisse, die für die Narration ausgewählt sind, wie durch Spotlights hervorgehoben, während eine große epische Gesamthandlung impliziert bleibt. In der ‚Karlsreise‘ entsteht dagegen eine sukzessive Folge, keine Gleichzeitigkeit. Die namentlichen Ansprachen, die individuelle Natur der Prahltaten und die variierenden Kommentare des Spions provozieren einen Erzählfluss, der sich vom totalitären Erzählduktus der chanson de geste entfernt. 72 Andersartig sind auch die Vertextungsverfahren bei den Ortsbeschreibungen. Die ‚Karlsreise‘ erzählt von einem Sieg ohne Kampf. Folglich können weder Schlachtfelder noch darauf angesiedelte Kriegshandlungen geschildert werden. Für die Pracht des Orients, wie sie sich in Konstantinopel zeigt, zum Beispiel bei der Beschreibung des Wunderschlosses, wird auf Raumkonzepte und Beschreibungsmuster von Ausstattungsdetails zurückgegriffen, die aus der matière de Rome stammen, etwa vom Typ der Chambre de Beauté in Benoîts Roman de Troie. 73 Es werden also im Voyage Erzählverfahren miteinander verknüpft, die zwei unterschiedlichen Stoffkreisen angehören, welche Jean Bodel ausdrücklich voneinander abgrenzt. Indem narrative Strategien zweier matières aktualisiert werden, die der Sachsenlied-Prolog explizit unterscheidet, drängt sich erneut der Eindruck von Inszenierung, von bewusster Montage und Demontage auf. Verstärkt wird dies am Ende durch einen für die chanson de geste-Dichtung ungewöhnlichen Erzählerkommentar: Mult fu lied e joius Carlemaine li ber, Ki tel rei ad cunquis sanz bataille campel. Que vus en ai jo mès lunc plait a acunter? Il passent les païs, les estrange regnez, (V. 858-861) 74 Ein Erzähler-Ich macht den Erzählvorgang thematisch und räumt dabei ein, aus dem historischen Kontinuum zu selektieren. Damit zielt der Bericht nicht mehr auf Vollständigkeit, und es eröffnet sich zudem die Option von Geschichtsdeutung - nämlich je nachdem welche Ereignisse für die Narration ausgewählt werden. Den neutralen jongleur, der aus einem Geschichtskontinuum schöpft und dabei dieses als Ganzes mit aufruft, löst ein selektierender Erzähler ab. Auch er holt den breiten historischen Horizont ein, aber um aus ihm einzelne Elemente herauszugreifen und dabei das Berichtete neu zu semantisieren. Auswahl jedoch impliziert Bewertung und subjektive Entscheidung. Wenn dies die Kriterien sind, nach denen Geschichte narrativiert wird, dann wird in der Folge Geschichte qua spezifischer Erzählweise tendenziell kontingent. und wütend.‘‘ Mit gabement (V. 600) nimmt die Figurenrede des Spions das strukturierende Narrativ autothematisch auf. 72 Dies trifft auch auf die zuvor besprochene Pilgerszene zu, wo die Reliquienübergabe nicht in zwei gleichzeitigen Vorgängen erfolgt, sondern eine sich sukzessiv vorzustellende Handlung abbildet. 73 Le Roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure, hg. von Léopold Constans, 6 Bde, Paris 1904-12. Nachdruck New York/ London 1968. 74 ‚Der tapfere Karl war glücklich und frohen Mutes, einen solchen König ohne Schlacht unterworfen zu haben. Warum soll ich Euch noch lange davon berichten? Sie durchquerten die Länder und fremden Königreiche.‘ Literarisierung und Komisierung von Geschichte 357 IV. Fazit Erzählen über Karl den Großen wird im Voyage parodiert, der Frankenkaiser komisierend demontiert. Auch wenn die berichteten Ereignisse fiktiv sind und es eines Übermaßes an religiöser Gutgläubigkeit bedarf, um hinter dem Gelingen der gabs durch göttliche Hilfe eine tiefere heilsgeschichtliche Wahrheit zu erkennen, so ändert dies doch nichts an der Historizität des Karlsstoffes insgesamt sowie dem Historisierungsvermögen der spezifischen Vertextungsstrategien. Diese sind vielmehr Voraussetzung, dass das Experiment der ‚Karlsreise‘ gelingen kann, ohne den Karlsmythos ernsthaft zu gefährden. Für die leitende Fragestellung des Erzählens von Geschichte kann damit der Voyage als eine Art umgekehrter Prüfstein, als Informant ex negativo, dienen; denn die Strategien einer Narrativierung von Vergangenheit, welche die ‚Karlsreise‘ aufruft und konterkariert, werden durch ihre Demontage als konstituierende Bedingungen von Geschichtsnarration in den chansons de geste gerade bestätigt. Komik und Parodie setzen eine solide und verbindliche Basis des komisierten und parodierten Bezugssystems voraus. Allein der Fakt, dass ein Werk wie der Voyage entstehen kann, belegt, dass den karikierten Verfahren ein hohes Maß an Verbindlichkeit eignet, Historizität dichterisch einzufangen und abzubilden. Zugleich wird damit bezeugt, dass auch das zeitgenössische Publikum ein Bewusstsein für Geschichte und deren Narrativierungspotential besessen hat. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 359 ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung Beobachtungen zu einer Form lyrisch-historischen Erzählens Cordula Kropik Im Folgenden soll ein Gedanke ausgeführt werden, der auf den ersten Blick ungewohnt, ja seltsam anmuten mag, bei genauerer Prüfung aber nicht leicht von der Hand zu weisen ist. Er gilt einer Reihe von (lyrischen) Narrativen, die einige Dichter-Sänger des 12., 13. und 14. Jahrhunderts umranken und die sich dadurch auszeichnen, dass sie die Erinnerung an deren Wirken z.T. mit den Mitteln mündlicher Geschichtsüberlieferung bewahren. Die These lautet, dass sie als solche für eine Form der Gedächtnisbildung stehen, deren spezifisch ästhetische - da auf Künstler und Kunst gerichtete - Qualität man bisher noch kaum wahrgenommen hat, die näher ins Auge zu fassen jedoch interessant erscheint. Wenn die Geschichten, um die es hier geht, bis in die Gegenwart immer wieder rekapituliert werden, dann prägen sie nämlich nicht allein das moderne Bild von Sängern des Mittelalters, sondern sie behalten auch ihren gedächtnishaften Charakter. Indem sie etwa das Leben des Tannhäusers oder den Sängerstreit auf der Wartburg anhaltend auf aktuelle Fragen von Kunst und Künstlertum beziehen, beweisen sie die Fähigkeit des Erinnerungsmediums, durch die Konstruktion von Vergangenheit für die Gegenwart bedeutsam zu werden. 1 Dass der damit angedeutete Nexus so noch nie gesehen worden ist, hat mehrere Gründe. Maßgeblich ist zunächst der Umstand, dass die Forschung erst in jüngerer Zeit dazu übergegangen ist, Lyrik systematisch mit Phänomenen der Narrativität in Verbindung zu bringen, wobei die Gedächtnisbildung freilich nur am Rand thematisiert wird und es zudem vornehmlich um Texte geht, die relativ weit im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Kanons stehen. 2 Im Zuge dessen ließ man die hier fokussierten Sängergeschichten vermutlich auch deshalb lieber beiseite, weil man die Distanz zu einer älteren Forschung wahren wollte, die sie gern als Ausdruck einer diffusen und ideologisch problematischen 1 Grundlegend dazu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München ³2000, hier bes. S.-40-42. Zu den Merkmalen mündlicher Geschichtsüberlieferung mit besonderem Blick auf das Mittelalter Hanna Vollrath, „Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften“, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S.- 571-594. Überblickend zum aktuellen Stand der Gedächtnisforschung: Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart ³2017. 2 Umfassend zu den Übergängen von Lyrik und Narration in der Literatur des Mittelalters: Lyrische Narrationen - narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, Berlin/ New York 2011 (Trends in Medieval Philology- 16). Zuvor befasste man sich in der Altgermanistik vor allem mit den narrativen Implikationen des Minnesangs, insbesondere in der klassischen Minnekanzone sowie bei Autoren wie Neidhart, Hadlaub und Ulrich von Liechtenstein. Vgl. dazu unten, Anm.-11. Die Aspekte von Vergangenheitskonstruktion und Gedächtnis spielen überall dort keine Rolle: das Thema ist bislang ein rein neugermanistisches. Dazu bes. Geschichtslyrik. Ein Kompendium, hg. von Heinrich Detering und Peer Trilcke, 2-Bde., Göttingen 2013. 360 Cordula Kropik ‚Volkssage‘ ansprach. 3 Nicht zu vergessen ist schließlich, dass der Versuch, die „Sagen […] vom Tun und Leben deutscher Dichter aus der Zeit des Minnesangs“ explizit mit einer vergleichbar verfassten historischen Überlieferungsform zu parallelisieren, zwar schon früh unternommen wurde, 4 allerdings so gründlich scheiterte, dass eine Wiederaufnahme wenig reizvoll schien. Über die 1925 erschienene Dissertation Fritz Rostocks zur „mittelhochdeutschen Dichterheldensage“ 5 zeigte sich schon der zeitgenössische Rezensent Heinrich Niewöhner wenig begeistert, und Karl Stackmann zählte sie später umstandslos „zu den dürftigsten, die jemals gedruckt worden sind.“ 6 Man wird sich diesem Urteil in der Tat schwer entziehen können. So lassen Rostocks Ausführungen weder deutlich werden, was die von ihm als ‚Dichterheldensage‘ bezeichnete Textgruppe als literarische Gattung im engeren Sinn des Wortes definieren soll, noch machen sie einsichtig, wie diese genau zu Andreas Heuslers Darstellung der germanischen Heldensage in Beziehung steht. Denn dass die Texte, wie Rostock offenbar meint, durch Analogien in der Literarisierung historischer Ereignisse selbst zu einer Art Heldensage werden, 7 wird man - auch unter Abzug der mit Heuslers Sagenbegriff einhergehenden Probleme 8 - kaum für wahrscheinlich halten wollen. Wenn hier gleichwohl an Rostock angeknüpft wird, so geschieht das nicht, um ihm in der Gleichsetzung von Dichtern und Helden zu folgen oder über den Umweg der Sängerdichtungen gar obsolete sagengeschichtliche Vorstellungen zu repristinieren. 9 Es soll jedoch behauptet werden, dass Rostock in einem Punkt etwas richtig gesehen hat, und zwar genau da, wo die Beobachtung der Parallelen zwischen ‚Dichter-‘ und Heldensage auf Fragen nach der mündlichen Prägung und dem gedächtnishaften Charakter der Narrative über die Sänger des Mittelalters zurückführt. Aus diesem Grund könnte der Ansatz Rostocks dabei helfen, die spezifische Historizität dieser Narrative genauer zu fassen, und es scheint sinnvoll, ihn vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes neu zu perspektivieren. 3 Vgl. dazu etwa die Textsammlung Deutsches Sagenbuch, Teil- 3: Die deutschen Sagen des Mittelalters, hg. von Karl Wehrhan, 2-Bde, München 1919-1920, hier bes. das Kapitel „Ritter und Sänger“ in Bd.-2, S.- 141-192. Ähnlich symptomatisch ist die literaturgeschichtliche Darstellung Scherers, wo Liebeslieder, ‚gesunkene‘ Vagantenlyrik, Balladen, Neidhartlieder u.v.m. weitgehend undifferenziert in die Kategorie „volkstümliche Lyrik“ fallen. Wilhelm Scherer, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin o. J. [1929], S.-283-290, hier S.-284. 4 Fritz Rostock, Mittelhochdeutsche Dichterheldensage, Halle a. d. S. 1925 (Hermaea-15), hier S.-1. 5 So der Titel von Rostocks Arbeit (wie Anm.-4). Der Verfasser entnimmt die Bezeichnung „Dichterheldensage“ einer älteren Studie Richard M. Meyers, vgl. ebd., S.-1f., mit Anm.-5. 6 Heinrich Niewöhner, „Rez. Mittelhochdeutsche Dichterheldensage von Fritz Rostock“, in: AfdA- 45 (1926), S.- 20-23; Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung-3), S.-173, Anm.-2. 7 Er geht davon aus, dass der Nachweis „einer inhaltlichen und stilistischen Entwicklung ähnlich wie in der Heldensage“ (Rostock [wie Anm.-4], S.-2) ausreiche, die ‚Dichterheldensage‘ zu einer Untergattung derselben zu erklären. Rostock bezieht sich besonders auf Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905. 8 Abschließend dazu Walter Haug, „Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf“ (1975), in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S.-277-292. 9 Ich selbst operiere mit einem relativ weiten Begriff der Sage. Ihr wesentliches Merkmal besteht m. E. neben der Narrativität in einer Tradierungs- und Überlieferungsform, in der die Mündlichkeit eine wichtige Rolle spielt, genauer gesagt: Ihre Überlieferung ist ohne die Annahme des Einflusses von (für uns nicht mehr greifbaren) mündlichen Produktions- und / oder Rezeptionspraktiken nicht zu verstehen. Historizität ist kein notwendiges, aber ein typisches Merkmal von Sage; so auch in den beiden hier fokussierten Erzählformen. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 361 Die folgende Untersuchung geht hieran anschließend in vier Schritten vor: Um die Eigenart der Dichtungen herauszuarbeiten und sie zugleich als Gruppe schärfer zu konturieren, sollen sie zunächst hinsichtlich ihrer Medialität und ihres Vergangenheitsbezugs zu einem anderen - offenbar komplementären - Typus des Erzählens über mittelalterliche Sänger ins Verhältnis gesetzt werden (I.). Danach wird ein Vergleich mit der Heldensage ermitteln, inwiefern Prozesse der ‚Verfälschung‘ von historischen Fakten auch in den Sängergeschichten zu beobachten sind (II.) und welche Rolle dabei bestimmte literarisch-poetische Darstellungs- und Konstruktionstechniken spielen (III.). Der letzte Abschnitt rückt die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion der Dichtungen in den Mittelpunkt (IV.). Insgesamt soll nicht nur deutlich werden, was die historisierenden Sängergeschichten mit der Heldensage verbindet, sondern auch, warum sie letztlich doch nicht als ‚Heldensagen‘ anzusprechen sind. Die Revision von Rostocks Arbeit resultiert so in eine Korrektur, die zugleich die eingangs aufgestellte These und den Titel der vorliegenden Abhandlung begründet: Die ‚Dichterheldensage‘ erweist sich als Literaturgeschichtsdichtung, weil sie ‚typisch heldensagenhafte‘ Verfahren der Geschichtskonstruktion am Gegenstand lyrisch-biographischer Sängererzählungen zum Medium einer kollektiven Verständigung über Kunst macht. I. Lyrisch von Dichtern erzählen: Zu den Texten Welches sind die Dichtungen, um die es hier geht, und was zeichnet sie aus? Rostock rekurriert recht vage auf alle Überlieferungszeugnisse, die die „Schicksale [von Dichtern] besing[en]“. 10 Damit benennt er korrekt das lyrisch-narrative und biographische Moment, das seine Texte verbindet, verschweigt jedoch zugleich das Wichtigste. Worin das besteht, wird deutlich, wenn man vergleichend auf einen Typus von Liedlyrik schaut, der ebenfalls quasi-biographisch verfasst ist, sich aber in einem zentralen Punkt von Rostocks ‚Dichterheldensagen‘ unterscheidet: Die Lieder einiger Minnesänger des 13.-15. Jahrhunderts, namentlich vor allem Ulrichs von Liechtenstein, Neidharts, Johannes Hadlaubs und Oswalds von Wolkenstein, besingen gleichfalls die Schicksale von Dichtern - allerdings die ihrer eigenen Dichter. Die Forschung hat diese autobiographischen Inszenierungen unter den Stichworten der ‚Konkretisierung‘, ‚Narrativierung‘ und ‚Biographisierung‘ intensiv besprochen und einleuchtend als Folge einer zunehmenden Verschriftlichung bezeichnet. 11 10 Rostock (wie Anm. 4), S.-2. 11 Die ‚Konkretisierung‘ wurde in Rekurs auf Hugo Kuhns Forschung zum späten Minnesang erstmals von Ingeborg Glier aufgebracht und auf den Minnesang bezogen: Ingeborg Glier, „Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts“, in: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, hg. von Franz H. Bäuml, Göppingen 1984 (GAG- 368), S.- 150-168. Zur ‚Biographisierung‘ bes. Kurt Ruh, „Dichterliebe im europäischen Minnesang“, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S.-160-183; im Anschluss daran: Volker Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub“, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S.-200-210; Volker Mertens, „‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante - Hadloub - Oswald von Wolkenstein“, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut in Paris 16.-18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia-43), S.- 331-344. Zu narrativ-biographischen Momenten der Minnekanzone des 12. und 13. Jahrhunderts auch Manfred Eikelmann, „wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone“, in: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider, Heidel- 362 Cordula Kropik Der Zusammenhang erklärt sich kurz gesagt so, dass der - aus dem aufzeichnungsbedingten „Verschwinden des Sängers“ resultierende - „Faszinations- und Authentizitätsverlust der Liebeslyrik“ durch die biographische Fiktion kompensiert werde. 12 Die Lieder zielen also darauf, die Authentizitätsanmutung lyrischer Aufführungspraxis ins Medium der Schrift zu transponieren, indem sie in der Perspektive eines erlebenden Ich eine auktoriale Gegenwärtigkeitsimagination erzeugen. Beides ist bei den ‚Dichterheldensagen‘ nicht der Fall. Zwar gehen sie nicht minder konkretisierend, narrativierend und biographisierend vor, doch ist dies weder in gleicher Weise vom Übergang in die Schriftlichkeit bedingt, noch suchen sie das Erleben ihrer Protagonisten für die Rezipienten präsent zu machen. Ihre Wirkung entsteht vielmehr im Gegenteil durch eine Inszenierung historischer Distanz, die mit der Anmutung von Mündlichkeit verbunden ist. Das Prinzip lässt sich an den Balladen vom Moringer, Tannhäuser und Bremberger pointiert verdeutlichen. 13 Geradezu als historisierender Gegentyp von vergegenwärtigenden Dichter-Autobiographien im Stile Neidharts und Hadlaubs werden sie erkennbar, wenn man von der Beobachtung ausgeht, dass auch sie den biographischen Bezug auf die in ihnen agierenden Dichter konsequent mit deren literarischem Schaffen verknüpfen. Zwar behaupten sie nicht, von diesen selbst gedichtet zu sein, doch verwenden sie Strophenformen, die (vermeintlich) von ihnen stammen 14 und stellen zudem vielfach zitathafte oder thematisch-motivische Bezüge zu ihren Liedern her. 15 Autor und Werk erscheinen mithin ebenfalls als Einheit, nur ist diese Einheit anders, und zwar historisch konzipiert. Während Leben und Werk bei Neidhart & co. präsentisch inszeniert und zudem dergestalt kopräsent sind, dass sie scheinbar ineinander über- und auseinander hervorgehen - die Lied-Inszenierung bringt die Imagination des Dichterlebens hervor, welches wiederum als berg 1996 (GRM-Beiheft- 13), S.- 19-42; Wolfgang Haubrichs, „Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S.-129-147. Speziell zum Aspekt des Autobiographischen in lyrischen Texten des Mittelalters zuletzt einige Beiträge des Bandes Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens, hg. von Sonja Glauch und Katharina Philipowski, Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik 26). Hier bes. Sonja Glauch, „Versuch über einen minnelyrischen Ursprung des Autobiographischen (Guillaume de Machaut, Dante, Ulrich von Liechtenstein)“, S.-307-342. 12 Mertens, Liebesdichtung (wie Anm.-11), S.-203. 13 Ich zitiere die Texte nach dem Abdruck von Hanno Rüther, der auch die bisher einzige umfassende Untersuchung zu ihnen vorgelegt hat: Hanno Rüther, Der Mythos von den Minnesängern. Die Entstehung der Moringer-, Tannhäuser- und Bremberger-Ballade, Köln u. a. 2007 (Pictura et Poesis- 23), hier S.-54-85 (Moringer), 192-206 (Tannhäuser) und 296-303 (Bremberger). 14 Die Strophe der Moringerballade lehnt sich an Walthers ‚sumerlaten-Lied‘ an, das dem Protagonisten zudem in Teilen in den Mund gelegt und ihm so zugeschrieben wird, vgl. Rüther (wie Anm.-13), bes. S.-41f. Die Brembergerballade ist im ‚Hofton‘ Reinmars von Brennenberg verfasst, und auch hier markiert der Erzähler explizit: geheissen was er Bremberger […]. / In seinem ton, zart fraue, ich euch wol singen kan (Str.-1,2f.). Rüther (wie Anm.-13), S.-242f., zieht darüber hinaus die Spruchreihen XII und XIV des Tannhäuser-Œuvres als Vorbild der Tannhäuser-Balladenstrophe in Betracht. 15 Besonders auffällig ist natürlich wiederum das Zitat des ‚sumerlaten-Lieds‘ im Moringer (Str.-30f.), das immerhin insofern tatsächlich auf Morungens Lyrik rekurriert, als das singen und swîgen auch bei ihm eine wichtige Rolle spielt: vgl. Rüther (wie Anm.- 13), S.- 99-106 und 115f. Beim Bremberger wird für gewöhnlich auf die auffällige Metaphorik im Œuvre Reinmars von Brennenberg verwiesen (Werbung, Herzenstausch, Liebestod): auch dazu Rüther, ebd., bes. S.- 275. Zur Spiegelung von Motiven, Rollen und Themen des Tannhäuser-Œuvres in der Tannhäuserballade prägnant: Burghart Wachinger, „Vom Tannhäuser zur Tannhäuser-Ballade“ (1996), in: ders., Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik, Berlin u. a. 2011, S.-161-178. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 363 fingierter Anlass des Dichtens oder Singens imaginiert wird -, rücken die Minnesängerballaden beides ins Präteritum. Indem sie retrospektiv und in Er-Form über das Leben von Dichtern berichten, deren Werke sie zugleich in Teilen in sich aufnehmen, konstituieren sie einen literarischen Echoraum, den man mit einigem Recht als literaturgeschichtlichen Wissensspeicher bezeichnen kann. Dass damit auch die Momente von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in ein anderes Verhältnis rücken, ist leicht zu sehen. Der historisierende Modus erübrigt vor allem die Erzeugung sinnlicher Präsenz und körperlicher Beglaubigung: Die biographische Narrativierung verliert die Funktion einer schriftlichen Kompensationstechnik. Stattdessen wird sie für die Distanzierung des Dichterlebens in die Vergangenheit eingesetzt. Diese Distanzierung steht im Fall der Minnesängerballaden im Zeichen einer ganz speziellen Mündlichkeit. Wenn etwa der Erzähler der Tannhäuserballade ankündigt, von dem Danheuser zu singen / und was er wunders hat getan (Str.-1,2f.) oder die Moringerballade fremde mere aufruft, die vor zeiten je geschach (Str.-1,1f.), so wird damit eine Erzähltradition beschworen, in der sich Mündlichkeit und Geschichte zum Raunen der Sage verbinden. 16 Dass die Inszenierung des Sängerlebens den Bereich des autoreferentiellen Minnesangs hinter sich lässt, um stattdessen die Form einer (nur scheinbar reflexionslosen) mündlichen Geschichtsüberlieferung anzunehmen, heißt selbstverständlich nicht zwangsläufig, dass die Minnesängerballaden tatsächlich in einer mündlich-sagenhaften Tradition stehen. Es heißt zunächst nur, dass sie den Duktus dieser Tradition übernehmen, um sich eine vergleichbare Aura zu verleihen. Dabei ist nicht unwichtig, dass sie einen ähnlichen Effekt bewirken wie die buchgestützte Vergegenwärtigungsstrategie der Minnesänger. Denn auch die Sage evoziert Faszination und Authentizität. Dies resultiert nur nicht aus der Illusion eines gegenwärtigen Miterleben-Könnens, sondern aus der Beschwörung von Kunde aus alter Zeit. Unabhängig davon deutet freilich einiges darauf hin, dass Mündlichkeit bei der Überlieferung der Balladen zumindest eine gewisse Rolle spielte. 17 Man wird demnach nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit, literarische Sageninszenierung und reale Gesangspraxis konvergieren und in einer Weise aufeinander einwirken, die im Einzelnen nicht mehr nachvollzogen werden kann. 16 Die Signalworte (wunder, fremde mere, vor zeiten) weisen deutlich in Richtung des Nibelungenliedes, bzw. der Tradition alter mære, die dieses so effektvoll inszeniert. Vgl. dazu Michael Curschmann, „Dichter alter mære. Zur Prologstrophe des Nibelungenliedes im Spannungsfeld von mündlicher Erzähltradition und laikaler Schriftkultur“, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky, Stuttgart 1992, S.-55-71. 17 Rüther (wie. Anm. 13) beschreibt die Entstehung der Balladen als einen vollständig schriftliterarisch konzipierten Vorgang (zusammenfassend S.-321f.) und begreift sie entsprechend als literarische Werke, die sich in ihrer Medialität nicht wesentlich von der sonstigen Lyriküberlieferung unterscheiden. Dass er der Sachlage damit nicht gerecht wird, macht Wachinger (wie Anm. 15) für den Tannhäuser deutlich: Er hält angesichts der „unkalkulierbaren Varianz der Texte“ sowie dem „Fluidum von mündlichen ‚Informationen‘, unausgegorenen Konzepten, ungenauen Erinnerungen usw. [um die Texte herum]“ die Bezeichnung ‚Sage‘ für zumindest „nicht ganz abwegig“ und verweist auf den ähnlichen Befund der Heldensagenforschung (hier S.-178). Der vergleichende Blick belegt: In beiden Überlieferungsformen sprechen unklare Entstehungszeit, späte und variantenreiche Überlieferung sowie die relativ große Zeitspanne zwischen ersten Hinweisen auf die Inhalte der Balladen (also Belegen der ‚Sage‘) und dem Aufkommen greifbarer Texte für eine gewisse Nähe zur Mündlichkeit. Zur Heldendichtung diesbezüglich die prägnante Zusammenfassung von Joachim Heinzle, „Die Nibelungensage als europäische Heldensage“, in: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, hg. von Joachim Heinzle, Klaus Klein und Ute Obhof, Wiesbaden 2003, S.-3-27, hier S.-11-18. 364 Cordula Kropik Das skizzierte Gesamtbild der Minnesängerballaden in den beiden Sangspruchdichter- ‚Sagen‘ wiederzufinden, ist nicht schwer. Es genügt, die einzelnen Bestandteile in eine etwas andere Konstellation zu bringen. So ist in den Wartburgkrieg-Dichtungen 18 der autoreferenzielle Bezug auf die Sangspruchdichtung (Dichternamen, Strophenformen, Anlass und Thema des Streits) offensichtlich, und auch an der Verortung im Zwischenraum von literarischer Inszenierung und realem Wettstreit, schriftlicher Komposition und mündlicher Aufführung kann kein Zweifel bestehen. 19 Zwar fehlt die Selbststilisierung im Modus alter mære, doch wird bei näherem Hinsehen deutlich, dass der retrospektive Blick auf das dargestellte Geschehen auf andere Weise evoziert wird. Genauer kann man vielleicht formulieren, dass das agonal-kompetitive Moment, das im Zentrum des Wartburgkriegs steht, insofern historische Tiefe generiert, als der Komplex sowohl auf reale Dichterkonkurrenzen zurückweist als auch legitimierendes Vorbild für weitere Sängerkriege war. 20 Sein selbstreflexiv-historisierender (und in diesem Sinne literaturgeschichtlicher) Charakter besteht folglich darin, dass er auf Anschlusskommunikation angelegt ist. Deshalb macht er die eigene Tradition bewusst und wirkt zugleich selbst traditionsbildend. Die Überlieferung von den zwölf alten Meistern 21 geht einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie die Gründung der Tradition, die der Wartburgkrieg gleichsam vollzieht, nun selbst historisiert. Dabei wird sowohl die zeitliche Distanz zum dargestellten Geschehen als auch dessen Bedeutung für die Kunst so stark hervorgehoben, dass die Forschung die ‚Meister-Sage‘ explizit mit dem Prädikat der ‚meistersingerlichen Literaturgeschichte‘ belegt hat. 22 Wie sie als solche mit dem Eigennarrativ der Sangspruchdichter zusammenhängt, ist ihrer Genese bemerkenswert deutlich eingeschrieben. Sie nimmt ihren Ausgang bei Sangspruchstrophen, in denen die Namen einiger Sangspruchdichter des 12. bis 14.- Jahrhunderts - darunter eines Teils der Wartburgkrieg-Kombattanten - zu (Zwölfer-) Katalogen zusammengestellt werden. Daran schließt einige Zeit später der Bericht von der Privilegierung der alten Meister durch Kaiser Otto I. an, dessen Sinn offenkundig darin 18 Dazu die kürzlich erschienene monographische Darstellung mit Edition: Jan Hallmann, Studien zum mittelhochdeutschen Wartburgkrieg: Literaturgeschichtliche Stellung - Überlieferung - Rezeptionsgeschichte. Mit einer Edition der Wartburgkrieg-Texte, Berlin/ Boston 2015. 19 Zum Bezug der Wartburgkrieg-Dichtungen auf die literaturgeschichtliche Situation der Sangspruchdichtung bes. Beate Kellner und Peter Strohschneider, „Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum Wartburgkrieg C“, in: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996, hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien- 15), S.-143-167. Zum ‚Krieg‘ als agonales Muster der Sangspruchdichtung grundlegend Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU- 42); weiterführend Beate Kellner und Peter Strohschneider, „Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkrieg-Komplex“, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology-12), S.-335-356. Zur Medialität etwa Peter Strohschneider, „Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des Wartburgkrieges“, in: Mittelalter - Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart 1999, S.-19-41. 20 Pointiert dazu Wachinger (wie Anm.-19), S.-299-319. 21 Dazu bes. der noch immer gültige Überblick von Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zur Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter, München 1975 (MTU-54), S.-12-65. Brunner greift v. a. auf die älteren Studien Ellenbecks und Taylors zurück: Hans Ellenbeck, Die Sage vom Ursprung des Deutschen Meistergesangs, Diss. Bonn 1911; Archer Taylor, The Literary History of Meistergesang, New York ²1966. Eine Liste der Zeugnisse versammelt auch Bert Nagel, Meistersang, Stuttgart ²1971 (SM-12), S.-66-68. 22 So Brunner (wie Anm.-21), S.-12. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 365 besteht, ihre Zwölfzahl zu begründen und zugleich die Dignität ihrer Kunst zu legitimieren. 23 Schon diese zwei Sätze lassen erkennbar werden, wie sich ein historisierender und ein literarisch-selbstreflexiver Ansatz zu einem Prozess verbinden, der in einer Abfolge von Kanonisierung (Dichterkatalog), zeitlicher Distanzierung (Qualifikation des Alten) und Institutionalisierung (Privilegierung durch Kaiser Otto), das Bild einer Vergangenheit hervorbringt, die vorbildhaft für das Schaffen der Meistersänger ist und in ihrer zeitlichen Ferne außerdem fast schon vorgeschichtlich erscheint. Weniger klar, aber doch erkennbar, ist demgegenüber die Funktion, die in dieser Geschichtskonstruktion speziell der Mündlichkeit zukommt. Wie bei den anderen Sängergeschichten spielt der selbstreflexive Gestus der Form eine gewisse Rolle: Die vorbildgebende und die das Vorbild thematisierende Dichtung werden dadurch aufeinander beziehbar, dass sie in derselben Weise strophisch-liedhaft verfasst und damit für den Vortrag bestimmt sind. 24 Daneben ist mit einem gewissen Anteil an Mündlichkeit in der Meister-Überlieferung vor allem deshalb zu rechnen, weil deren von Brüchen, Neuansätzen und Umdeutungen geprägte Gestalt kaum anders zu erklären ist. Wenn etwa die Namen der Meister variieren oder zum Teil in (akustisch) verballhornter Form erscheinen, 25 kann vermutet werden, dass die schriftliterarische Traditionsbildung bisweilen nicht nur in die Mündlichkeit des Vortrags übergeht, sondern sich auch aus mündlicher Überlieferung speist. 26 Der Kreis der zu untersuchenden Texte soll an dieser Stelle geschlossen werden, ohne nach weiteren Beispielen zu fragen. Die anderen von Rostock angeführten ‚Dichterheldensagen‘ (die zum Großteil weder strophisch bzw. sangbar verfasst sind, noch einen nennenswerten Bezug zur Mündlichkeit aufweisen), scheinen hier m. E. weniger einschlägig zu sein. 27 Wichtig ist, dass sich ein klares Bild dessen abzeichnet, was die vorgestellten Texte 23 Speziell zu den Katalogen auch Nikolaus Henkel, „Die zwölf alten Meister. Beobachtungen zur Entstehung des Katalogs“, in: PBB- 109 (1987), S.- 375-389. Auf die „apologetische“ Tendenz der Meister- ‚Sage‘ weist auch Stackmann hin ([wie Anm.- 6], S.- 174). Zur Entstehung der Sage zusätzlich zu den in Anm.- 21 genannten Untersuchungen: Horst Brunner und Johannes Rettelbach, „der vrsprung des maystergesangs. Eine Schulkunst aus dem frühen 16. Jahrhundert und die Kolmarer Liederhandschrift“, in: ZfdA-114 (1985), S.-221-240. 24 Diesen Aspekt hebt Henkel (wie Anm. 23), S.- 379f. und 387-389, für die Katalogstrophen der Sangspruchdichtung besonders hervor. 25 So verschwinden z. B. Neidhart und Friedrich von Sonnenburg aus der in der zweiten Hälfte des 13.-Jahrhunderts von Lupold Hornburg aufgestellten Liste; Wolfram von Eschenbach (der bei Lupold Str.-1,5 noch als der von Esschenbach firmiert) erscheint ca. 300 Jahre später bei Adam Puschman (1571) als Wolffgangus Rohn; aus her[n] reimar (Lupold Str.- 1,1 bezieht sich damit wohl auf Reinmar von Zweter) wird Römer […] von Zwickau (1584). Vgl. The Poems of Lupold Hornburg, ed. by Clair Hayden Bell and Erwin G. Gudde, Berkeley/ Los Angeles 1945, S.-255f.; Adam Puschman, Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs. Die drei Fassungen von 1571, 1584, 1596, Texte in Abbildung mit Anhang und einleitendem Kommentar, hg. und eingeleitet von Brian Taylor, Bd.- 2: Texte und Anhang, Göppingen 1984 (Litterae-84/ 2), Bl.-3r und S.-86. 26 Genauer: Es ist anzunehmen, dass das das Wissen um die Namen, die in den schriftlich konzipierten und aufgezeichneten Meisterliedern und Singschulen wiedergegeben werden, einer (partiell) mündlichen Überlieferung entstammt. 27 Rostock (wie Anm.- 4) nennt außer den bereits angeführten ‚Sagen‘ noch die „Neidhart-“, die „Walther-“ und die „Frauenlobsage“ sowie die „Sage von Wirnt von Grafenberg“ (vgl. sein Inhaltsverzeichnis S.-viii). In einigen dieser Fälle wäre m. E. bestenfalls von Reflexen einer z.T. mündlich vermittelten Erinnerung über die Dichter zu sprechen. So mögen die (in lateinischer Prosa verfassten) Nachrichten über die Epitaphien auf Walther und Frauenlob (vgl. ebd., S.-30-34) auf mündlich vermitteltem Hörensagen beruhen. Konrads von Würzburg Gedicht der Welt Lohn ist jedoch zweifellos das schriftliterarisch konzipierte Rezeptionszeugnis einer Wigalois-Lektüre und folglich in keiner Weise ‚Sage‘ (ebd., 366 Cordula Kropik gemeinsam haben und was sie in ihrer Geschichtlichkeit charakterisiert. Gegenüber schriftliterarisch geprägten und scheinbar autobiographischen Dichtungen in der Art Hadlaubs und Ulrichs von Liechtenstein zeichnen sie sich demnach als Literaturgeschichtsdichtungen unter den Bedingungen partieller Mündlichkeit aus. Inwiefern dieser Befund tatsächlich mit einem größeren zeitlichen Abstand von den thematisierten literarischen Praktiken bzw. Einflüssen konzeptueller Mündlichkeit erklärt werden kann, ist im Einzelnen schwer zu sagen. Unabhängig davon ist festzuhalten, dass die Texte aufgrund dieser Merkmale einen anderen Typ des Erinnerns repräsentieren. Während Hadlaub, Ulrich von Liechtenstein & co. den Minnesang als Erinnerung der rezenten Vergangenheit darstellen und ihn so der Nahperspektive des „kommunikative[n] Gedächtnis[ses]“ zuordnen, operieren Minnesängerballaden, Wartburgkrieg und ‚Meister‘-Überlieferung - in differierender Akzentuierung, aber gleichermaßen deutlich - im Modus des „kulturelle[n] Gedächtnis[ses]“. 28 Indem sie die dargestellten Sängergeschichten als Ereignisse ferner Zeiten schildern und / oder ihnen den Status des Ursprungs einer Tradition zuschreiben, an der sie selbst nur mit Hilfe eines Vorgangs wiederholter (mündlicher) Vermittlung teilhaben, machen sie sie zum Gegenstand eines Erinnerns, das das Heute zwar aus dem Gestern herleitet, sich der Differenz aber bewusst ist. Hinzuzufügen ist, dass die Geschichte, die sie auf diese Weise hervorbringen, der des kulturellen Gedächtnisses auch darin gleicht, dass sie sich um Fakten scheinbar wenig kümmert. 29 Außerdem führt die Untersuchung spätestens an diesem Punkt auf Rostocks These zurück. Denn die ‚verfälschende‘ und ‚unhistorische‘, tatsächlich aber auf ein spezifisches Verständnis von Geschichte verweisende Vergangenheitsdarstellung ist - neben der vergleichbar ‚sagenhaft‘ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit schwebenden Medialität - eines der wichtigsten Merkmale der heroischen Überlieferung der Völkerwanderungszeit. 30 Die Sichtung der relevanten Texte mündet damit in die Annahme, dass ‚Dichter‘- und Heldensage eine ähnliche Art der Gedächtnisbildung realisieren, und ich gehe deshalb davon aus, dass ihre Gemeinsamkeiten sich zum Großteil daraus erklären. Das ist an dieser Stelle festzuhalten, weil es eine Identifikation der beiden Erzählformen, wie sie Rostock zumindest impliziert, von vornherein ausschließt. Der folgende Vergleich S.- 18-20). Die biographisierend-narrativierende und dramatische Neidhartrezepion (Neidhart Fuchs und Neidhart-Spiele) wäre in diesem Kontext gesondert zu behandeln, wobei schon allein wegen der Diversität des Materials zweifellos zu differenzieren wäre. Da die frühen (‚echten‘) Neidhart-Lieder in die Kategorie der auktorialen Gegenwärtigkeitsimaginationen gehören, liegt die Vermutung zumindest nahe, dass hier Übergangsphänomene vom evozierten Erleben ins Erinnern vorliegen könnten - sie wären freilich erst noch zu beschreiben. Zu den Neidhart-Liedern und ihrer Rezeption jetzt umfassend: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarethe Springeth und Franz-Victor Spechtler, Berlin/ Boston 2018. Zum Neidhart Fuchs zuletzt auch Katharina Philipowski, „Der Autor als Schwankheld: Vom Ich im Minnesang zum Ich im Neithart Fuchs“, in: Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens, hg. von Sonja Glauch und Katharina Philipowski, Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik 26), S. 227-262. 28 Zu dieser Unterscheidung Assmann (wie Anm. 1), S.-48-56. 29 Der Terminologie der Gedächtnisforschung zufolge verfahren sie also ‚rekonstruktiv‘. „Damit ist gemeint, daß sich in keinem Gedächtnis die Vergangenheit als solche zu bewahren vermag, sondern daß nur das von ihr bleibt, ‚was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruieren kann‘ (1985a, 390). Es gibt, mit den Worten des Philosophen H. Blumenberg, ‚keine reinen Fakten der Erinnerung‘.“ Assmann (wie Anm.-1), S.-40 zitiert hier (neben Blumenberg) Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985. 30 Zusammenfassend dazu Heinzle (wie Anm. 17), S.-3-18, mit weiterer Literatur. Ich verzichte auf eine breitere Dokumentation der umfassenden Forschung zu diesem Thema. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 367 knüpft deshalb zwar bei Rostock an, ist aber insofern anders ausgerichtet, als er das Ziel verfolgt, hinter den Parallelen von ‚Dichter‘- und Heldensage die entscheidende Differenz zu zeigen. Diese Differenz besteht darin, dass die Geschichte der ‚Dichter‘-Sagen im Kern Literaturgeschichte ist. II. Geschichtsdichtung: Der Bezug auf die historische Wirklichkeit Ein typisches Merkmal von Sage im Allgemeinen, und zugleich die wohl prägendste Eigenschaft von Heldensage im Besonderen, ist ihr Bezug zur historischen Wirklichkeit. Sie gibt vor, historische Ereignisse abzubilden, aber das Bild der Vergangenheit, das sie hervorbringt, ist nicht das der Geschichtsschreiber. Genauer: Es ist ein Bild, das deren Maßstäben zufolge falsch ist. 31 Joachim Heinzle fasst das Wesentliche am Beispiel der Nibelungensage so zusammen: So offenkundig wie die Tatsache, daß sie [d. h. die Nibelungensage, C.K.] sich auf historische Wirklichkeit bezieht, ist die Tatsache, daß sie diese Wirklichkeit nicht faktengetreu wiedererzählt: schon daß sie Gunnar / Gunther, der um 436 fiel, und Attila / Etzel, der erst von 441 bis 453 als Alleinherrscher über die Hunnen regierte, zu Zeitgenossen macht, spricht den Fakten Hohn. Aber die Sage lügt nicht. Sie hat nur einen eigentümlichen Begriff von Geschichtswissen. Vergleicht man, was sie berichtet, mit den Ereignissen, wie sie geschehen sind, dann bemerkt man rasch, daß sie die Fakten in einer Weise umerzählt, die bestimmten Mustern folgt. Wir nennen diese Muster: Reduktion, Assimilation, Koordination. 32 Legt man diese Beschreibung zugrunde, so fällt die Ähnlichkeit der Sängergeschichten sofort ins Auge. Auch sie beziehen sich, wenn sie historisch nachweisbare Dichter zu ihren Protagonisten machen, auf die Wirklichkeit, und auch sie erzählen die Fakten um - und zwar in genau derselben Weise wie das von Heinzle angeführte Beispiel. Das heißt, sie führen Personen zusammen, die sich aus chronologischen oder geographischen Gründen nie begegnet sein können, und integrieren sie in Ereignisabläufe, die so nicht geschehen sind. Der drastischste Fall liegt diesbezüglich gewiss in der ‚Meistersänger-Ursprungssage‘ vor, die mit Walther von der Vogelweide, dem Marner, Heinrich von Mügeln u. a. eine Reihe von Dichtern des 12., 13. und 14.-Jahrhunderts eine Zeitebene setzt und sie zudem im Jahre 962 vor Kaiser Otto-I. auftreten lässt. 33 Ähnliches gilt aber auch für den Wartburgkrieg, wo Sänger verschiedener Generationen mit dem historisch fragwürdigen Heinrich von Ofterdingen und der literarischen Figur Klingsor (der sich auch in der Liste der Meister findet) 34 an einem historischen Ort zusammengeführt werden, den nur zwei von ihnen nachweislich betreten haben. 35 Für die Minnesängerballaden ist in diesem Zusammenhang zunächst auf 31 Für Maurice Halbwachs begründet dies den Unterschied zwischen ‚Gedächtnis‘ und ‚Geschichte‘. Zusammenfassend dazu Assmann (wie Anm. 1), S.-42-45. 32 Heinzle (wie Anm.-17), S.-8. 33 Ich folge den Angaben Puschmans in der ersten Fassung seines Gründlichen Bericht[s] (wie Anm.-25), Bl.-3r und 3v. 34 Als Magister Klingeßuhr, ebd. Bl.-3r. 35 Nämlich Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Zur „pseudohistorischen Konstruktion“ der Wartburgkrieg-Handlung, v. a. von Fürstenlob und Rätselspiel, zusammenfassend Burghart Wachinger, Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manesseschen Handschrift bis zu Moritz von Schwind, Berlin/ New York 2004 (Vorträge der Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie-12), S.-14-21, hier S.-18. 368 Cordula Kropik den Moringer zu verweisen, dessen historisches Vorbild Heinrich von Morungen seinen Balladen-Konkurrenten (Gottfried) von Neifen kaum persönlich gekannt haben dürfte. 36 Auch der Status des Namens von Papst Urban-IV. in der Tannhäuserballade ist jedoch umstritten, ebenso wie der Zusammenhang zwischen dem Tod des Minnesängers Reinmar von Brennenberg und dem des Brembergers. 37 Die Frage, warum all diese Darstellungen gleichwohl ‚nicht lügen‘, lässt sich ebenfalls in Rekurs auf bekannte Kategorien der Heldensage beantworten. Dabei fällt der spezifisch literaturgeschichtliche Charakter ihrer Vergangenheitskonstruktion sofort ins Auge. So kann man zwar, wie Rostock andeutet, zweifellos mit einigem Recht behaupten, dass die ‚Sängersagen‘ durch ihren Bezug auf die Gründungsepoche der deutschsprachigen höfischen Dichtung insgesamt auf die Konstruktion eines heroic age abzielten. 38 Man sollte das indessen nicht tun, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um ein heroic age handelt, in dem alle Merkmale des Heroischen auf ein Moment von Kunst übertragen worden sind. Es ist ein Zeitalter, dessen Helden Sänger sind; ein Zeitalter, in dem das Dichtertum für den Adel bzw. das Wort für das Schwert einsteht und in dem alle Konflikte entweder die Kunst zum Thema haben oder mit deren Mitteln ausgetragen werden. Man mag an dieser Stelle darüber stutzen, dass die Protagonisten der ‚Sängersagen‘ nicht deutlicher als Dichter und Sänger stilisiert sind, dass sie also, vereinfacht gesagt, auffällig wenig singen. 39 Die Verwunderung legt sich jedoch rasch, wenn man mit Blick auf Heinzles Darstellung bedenkt, dass die Sage „die Fakten in einer Weise umerzählt, die bestimmten Mustern folgt.“ Konkret ist hier vor allem die „Reduktion“ anzuführen. Damit ist das typische Verfahren der Heldensage gemeint, die meist sehr verwickelten historischen Ereigniszusammenhänge auf elementare menschliche Affekte und Konflikte wie Goldgier, Hybris, Eifersucht, Rache zurückzuführen. So erscheinen die machtpolitischen und militärischen Verwicklungen, die zur Vernichtung des burgundischen Reichs unter König Gundaharius führten, auf die Goldgier eines Gewaltherrschers oder auf die persönliche Rache einer Frau an ihren Verwandten reduziert. 40 Ein entscheidender Unterschied besteht in diesem Punkt (abgesehen vom Zeithorizont) im Grunde genommen nur darin, dass die ‚Sängersagen‘ nicht militärisch-politische, sondern kulturpolitische Geschehnisse thematisieren. Davon abgesehen ist das Muster weitgehend dasselbe. So, wie die Nibelungensage die historischen Ereignisse des 5.-Jahrhunderts ‚reduziert‘, so ‚reduzieren‘ sie das schwierige Verhältnis zwischen Kunst bzw. Dichter / Sänger 36 Aus geographischen Gründen: Morungen ist Thüringer, Neifen dagegen Schwabe. Immerhin stimmt das in der Ballade vermittelte Generationenverhältnis. Vgl. Rüther (wie Anm.-13), S.-108-112. 37 Zum Tannhäuser Wachinger (wie Anm.-15), S.-165f.; zum Bremberger Rüther (wie Anm.-13), S.-276f. 38 „Auch die Sagen, die wir unter dem Namen ‚mittelhochdeutsche Dichterheldensage‘ vereinigen wollen, sind aus einer zusammenhängenden historischen Bewegung erwachsen, die den andersartigen Stoffen entsprechend der Kultur- und Literaturgeschichte angehört. Es ist die Blütezeit der mittelalterlichen höfischen Dichtung, also etwa vom Ende des 12. bis zum Ausgang des 13.- Jahrhunderts. […] Der späteste mhd. Dichter, dessen Sage eine selbständige poetische Darstellung erfahren hat, ist der Tannhäuser, und mit seinem Tode um 1270 können wir das eigentliche ‚Heldenzeitalter‘ für die Dichtersagen als abgeschlossen betrachten“ (Rostock [wie Anm.-4], S.-35). Das entspricht der Beschreibung des heroic age durch C. Maurice Bowra, Heroic Poetry, London 1952. 39 Das gilt insbesondere für die Minnesängerballaden, von denen die ältere Forschung sogar behauptete, sie wüssten „[nicht mehr, d]aß Brennenberg, Morungen, Neifen, Tannhäuser Dichter waren“ (Scherer [wie Anm. 2], S.-289). 40 Alle Zitate Heinzle (wie Anm. 17), S.-8. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 369 und Gesellschaft im 12. bis 14.-Jahrhundert. Man könnte den Vorgang vielleicht als eine Art Spiegelung oder Verdichtung von Problemlagen bezeichnen, die Minnesang, Sangspruchdichtung und Meistergesang jeweils insgesamt prägen. So spiegelt die Verzweiflung des Tannhäusers die Unvereinbarkeit des Minnesangs mit der (klerikal geprägten) gesellschaftlichen Moral. In ähnlicher Weise deutet die Neigung des jungen Herrn von Neifen zur Frau des Moringers eine literarische Konkurrenz an. Und ähnlich verdichtet die (unbegründete) Eifersucht des Gatten der Bremberger-Geliebten die Problematik einer (als Ehebruch) falsch verstandenen Liebesdichtung. 41 Desgleichen kann man den Rangstreit der Wartburgkrieg- Dichter ohne Weiteres auf das von Mäzenatentum, politischer Parteinahme, persönlicher Konkurrenz und künstlerisch-laikalem Geltungsanspruch geprägte Funktionsgefüge der Sangspruchdichtung beziehen. 42 Und dass die ‚Ursprungssage‘ den Kampf der städtischen Meistersänger um gesellschaftliche und künstlerische Anerkennung zu ihren Gunsten entscheidet, liegt ohnehin auf der Hand. 43 Überall hier stehen die berichteten Ereignisse folglich für komplexe literarische oder literaturhistorische ‚Verwicklungen‘. Sie werden auf elementare menschliche Affekte und Konflikte wie Eifersucht, Rangstreit, Verzweiflung, Genugtuung ‚reduziert‘. Es ist demnach festzuhalten, dass man die ‚Dichtersagen‘ nur dann richtig versteht, wenn man davon ausgeht, dass die Art und Weise, in der sie die historische Wirklichkeit ‚verzerren‘, ein rekonstruktives Geschichtsverständnis anzeigt, wie man es ähnlich in der heroischen Überlieferung der Völkerwanderungszeit findet und wie es in seiner gedächtnisbildenden Funktion zudem für die historische Überlieferung schriftloser Gesellschaften typisch ist. 44 Anders als in der Geschichte der Historiographen geht es nicht um die (richtige) Wiedergabe der faktischen Ereignisse. Diese werden vielmehr in einer Version präsentiert, die als „erinnerte Geschichte“ (fundierend) wirksam ist. 45 Der ‚historische Kern‘ des Erzählens ist kein historisch-faktischer, sondern ein historisch-deutender bzw. -gedeuteter, was konkret heißt, dass er als Träger eines bestimmten Sinns unabhängig davon gilt, ob der Ereignisbericht einer quellenkritischen Prüfung standhält. Für die ‚Dichterheldensagen‘ bedeutet das nicht zuletzt, dass man die Frage nach der realen Todesursache Reinmars von Brennenberg oder nach echten oder inszenierten Sängerkonflikten auf der Wartburg zwar stellen kann. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Antwort, egal wie sie ausfällt, die Geschichtlichkeit des Erzählens wenig berührt. Um diese zu erfassen, muss man stattdessen nach dem historischen - und das heißt hier genau: literaturhistorischen - Sinn fragen, der in ihnen zum Ausdruck kommt. 41 Ich akzentuiere im Einzelnen anders als Rüther, folge ihm aber in der Betonung der literaturgeschichtlichen Stoßrichtung der Balladen: Zusammenfassend Rüther (wie Anm.-13), S.-321 und 327f. 42 Vgl. Wachinger (wie Anm.- 19), S.- 303-307, Kellner/ Strohschneider, „Die Geltung des Sanges“ (wie Anm.-19). 43 Brunner (wie Anm.-21), S.-28-31. 44 Hanna Vollrath hebt das Phänomen, das Jan Assmann als Rekonstruktivität bezeichnet (vgl. dazu das Zitat in Anm.-29) für das Geschichtsverständnis oraler Gesellschaften als besonders bedeutsam hervor und verweist auf ethnologische Feldforschungen, die belegen, „wie die unmittelbare gegenwärtige Erfahrung dem Erzähler [hier] dazu dient, aus Bruchstücken, die ihm von einem früheren Ereignis noch in Erinnerung sind, eine konsistente Erzählung zu formen“ (Vollrath [wie Anm.-1], S.-576f.). 45 „Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen“ (Assmann [wie Anm.- 1], S.- 52). Über die Frage der fundierenden Funktion der Sängergeschichten wird im übernächsten Abschnitt zu handeln sein. 370 Cordula Kropik III. Historische Sinnstiftung und gedächtnishafte Prägung: Narrative Schemata und Erinnerungsfiguren Die vorliegende Untersuchung stößt damit auf die Verfahren, mit denen dieser Sinn erzeugt wird; und es ist von Anfang an klar, dass die Aspekte von Geschichtlichkeit und literarisch-poetischer Darstellung hier aufs Engste zusammenwirken. Heinzle deutet dies in der Benennung der „Assimilation“ als des zweiten Musters heroischen ‚Umerzählens‘ an, bleibt freilich etwas vage, wenn er sie als „Anpassung der historischen Fakten an traditionelle Erzählschemata und Erzählmotive“ erläutert. 46 Denn eine ‚Anpassung‘ könnte auch bedeuten, dass es der Sage auf die Historizität des Geschehens nicht ankommt. In diesem Sinne geht etwa Heusler davon aus, dass der Prozess der Literarisierung, der historische Ereignisse zu Heldensage werden lässt, immer auch eine Enthistorisierung sei. Ihm zufolge gewinnt das Erzählen, wenn es sich durch die Verwendung bestimmter literarischer Muster von den historischen Fakten löst, ein neues Interesse literarischer Art. 47 Wie wenig diese Perspektive dem Gegenstand angemessen ist, hebt demgegenüber Walter Haug hervor, indem er betont, dass die germanische Heldendichtung literarische Muster gezielt einsetze, um bestimmte historische Vorgänge „verständlich zu machen“. Sein berühmtes Diktum, dass „[h]eroische Epik […] sich dadurch [konstituiert], daß historische Erfahrung mittels literarischer Schemata zu sich selbst kommt“, 48 ist hieran anschließend als Plädoyer für die Ersetzung eines faktenorientierten durch ein rekonstruktives Geschichtsverständnis zu lesen. Das heißt, er spricht dafür, ‚Assimilation‘ als Herstellung von Vergangenheit mit Hilfe narrativer Schemata zu verstehen. 49 Die historischen Fakten werden zu ‚Geschichte‘ im Sinn des kulturellen Gedächtnisses, nicht obwohl, sondern weil sie durch narrative Schemata reorganisiert und damit als sinnvoll erfahrbar gemacht werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung liefern die Sängergeschichten gewissermaßen den Beweis dafür, dass es analog zu der von Haug apostrophierten ‚historischen‘ auch so etwas wie ‚literaturhistorische Erfahrung‘ gibt und dass auch diese mittels narrativer Schemata zu sich selbst kommt. Fasst man die hier betrachtete Textgruppe unter diesem Aspekt ins Auge, so fällt vor allem die Rekurrenz eines Musters auf: Nicht weniger als drei der fünf Narrative bringen die Kunstausübung ihrer Protagonisten mit einer (potentiell) legitimierenden (Macht-)Instanz in Verbindung und entwerfen davon ausgehend eine Handlung, die sich zwischen den Polen eines laikalen Künstlertums und einer (meist) klerikalen Gegenseite ausspannt. Zwar variieren sowohl die Abläufe als auch deren Sinnperspektiven im Einzelnen beträchtlich. Gleichwohl ist es nicht schwer, die gemeinsame Konstellation auf eine historische Situation durchsichtig zu machen, die grundlegend von einer Ablösung der (Dicht-)Kunst aus den Bereichen von Herrschaft und Recht auf der einen und Religion und Moral auf der anderen Seite geprägt ist. Nimmt man noch hinzu, dass die Darstellung deutlich auf die Besonderheiten der Dichtkunst in ihrer gesellschaftlichen Einbindung be- 46 Heinzle (wie Anm. 17), S.-8. 47 Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung, Potsdam ²1941, bes. S.-162f. 48 Haug (wie Anm.-8), S.-282f. 49 Haug spricht von „literarische[n] Schemata“ ([wie Anm.- 8], S.- 283), weil er offenbar alle Schemata als literarisch begreift. Wenn man dem aktuellen Forschungsstand folgend davon ausgeht, dass dem Schema über die Literatur bzw. Dichtung hinaus eine sehr viel größere Bedeutung (v. a. im Bereich der alltagsweltlichen Welterfahrung und -deutung) zukommt, sollte man besser von ‚narrativen Schemata‘ reden. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 371 zogen bleibt, so kann an der spezifisch auf die Literatur ausgerichteten Tendenz ihrer Geschichtsdeutung kein Zweifel mehr bestehen. Der Tannhäuser zieht vor den Papst und wird von ihm für seinen Venusdienst verdammt. Die zwölf alten Meister werden (weil sie vom Klerus diffamiert wurden) vom Kaiser vor die Professoren der Pariser Universität zitiert, und mit einem goldenen Kranz beschenkt wieder nach Hause geschickt. 50 Die Sänger des Wartburgkriegs kommen in ihrem Rangstreit trotz der Anwesenheit des thüringischen Landgrafen zu keinem Ergebnis, rufen deshalb Klingsor herbei und überführen so ihren Kampf um Ruhm in einen Schlagabtausch zwischen einem klerikal gelehrten Zauberer und einem frommen Laiensänger. 51 Es bedarf keiner besonderen interpretativen Anstrengung, um zu behaupten, dass diese Handlungsverläufe nicht allein Spannungen zwischen Vertretern der Kunst und verschiedenen Instanzen der Macht thematisieren, sondern dass sie diese auch unterschiedlich weiterentwickeln. Das heißt: Sie beantworten im Medium der schematischen ‚Assimilation‘ just die Fragen, die zunächst durch ‚Reduktion‘ aufgeworfen worden waren. Nur ergänzend erwähnt sei, dass die beiden verbleibenden Narrative ihre Konflikte ähnlich aufbauen. Auch der Moringer basiert auf dem (raumsemantisch verfassten) Gegensatz eines weltlichen und eines geistlichen Pols (Eheleben vs. Pilgerfahrt), und auch der Bremberger gestaltet den Konflikt des Sängers mit einer Instanz gesellschaftlicher Macht (Ehemann der Dame). Hinzugefügt sei ferner, dass die Sinnbildung aller fünf Narrative durch eine ganze Reihe weiterer literarisch geprägter Handlungsverläufe, Darstellungsmuster und Verweise bestimmt wird. So schließen sich die Minnesängerballaden nicht zuletzt darin zu einer Gruppe zusammen, dass sie den Lebensläufen ihrer Protagonisten verschiedene legendarische Schemata unterlegen, durch deren Vermittlung sie zudem mehrfach auf konkrete literarische Vorlagen rekurrieren. 52 Analog arbeitet der Wartburgkrieg mit Schablonen von Streitgespräch und weltlichem Spiel, mit Verweisen auf Artus- und Gralsromane sowie Elementen gelehrten Wissens, 53 während die Zwölf-Meister-Überlieferung 50 Puschman (wie Anm. 25), Bl.-3r und 3v, dem ich auch hier folge, berichtet nichts von Anfeindungen des Klerus, die in anderen Versionen der Ursprungsgeschichte die Bestätigung durch den Kaiser erst erforderlich machen (vgl. Ellenbeck [wie Anm.- 21], S.- 15-28). Stackmann geht trotzdem davon aus, dass „die Ursprungssage der Meistersinger“ den „Reflex eines uralten Gegensatzes [zwischen dem Klerus und den Spruchdichtern]“ darstelle ([wie Anm. 6], S.-173). Brunner korrigiert wohl zu Recht, dass „[d]er in manchen Fassungen auftretende Gegensatz der Zwölf alten Meister zur Geistlichkeit […] eine Zutat aus reformatorischem Geist sein [dürfte]“ ([wie Anm.- 21], S.- 25). Auch die Bestätigung durch den Kaiser allein gilt freilich der laikalen Kunst der Meistersänger, die durch ihre zumeist geistlichen Inhalte zudem von vornherein Spannungen mit einem Klerus provoziert, der den religiösen Diskurs als sein Eigentum betrachtet. Man wird darum annehmen dürfen, dass der Gegensatz zur Geistlichkeit von vornherein angelegt ist, jedoch erst in dem Moment narrativ realisiert wird, in dem er reale Relevanz erhält: Auch dies ein Indiz für die ‚rekonstruktive‘ Verwendung des zugrundeliegenden Schemas. 51 Die Konstellation der beiden nacheinander ablaufenden Handlungen deutet erneut darauf hin, dass die Konstituenten ‚Legitimierung durch eine höhere Instanz‘ und ‚Gegensatz zur geistlichen Sphäre‘ zwar eng miteinander assoziiert sind, aber nicht zusammenfallen. 52 Der Tannhäuser realisiert bekanntlich das Schema der Büßer-, der Moringer das der Heimkehrer- und der Bremberger das der Märtyrerlegende; der Tannhäuser ist in diesem Punkt (u. a.) mit Antoine de La Sales Paradis de la reine Sibylle, der Bremberger mit dem verbreiteten Novellenstoff des Herzmære verbunden. Vgl. dazu mit weiteren Verweisen Wachinger (wie Anm.- 15), S.- 167-169, Rüther (wie Anm.-13), S.-95-112, 234-244 und 283-292. 53 Vgl. dazu die Übersichten bei Hallmann (wie Anm.-18), S.-111-130 und 227-285. 372 Cordula Kropik eher die Nähe zu Formen und Inhalten der Historiographie sucht. 54 Da sich die Dichtungen freilich genau in dem Maß von der Heldensage entfernen, als sie das rekonstruktive Verfahren des kulturellen Gedächtnisses in eine Sinnstiftung übergehen lassen, die in den Bereich rein schriftliterarischer Inter- und Architextualität gehört, sei auf diesen Aspekt nicht weiter eingegangen. Stattdessen sei noch auf ein weiteres Darstellungsmittel hingewiesen, das ‚Dichter‘- und Heldensage gleichermaßen auszeichnet und das in beiden Fällen bei der Gedächtnisbildung eine maßgebliche Rolle spielt. In der Heldensagenforschung wird es für gewöhnlich mit dem narrativen Schematismus in einem Atemzug genannt, erfährt jedoch weniger Aufmerksamkeit: wohl, weil es die Sagen nicht übergreifend, sondern in einzelnen, zentralen Handlungsmomenten prägt und darin in gewisser Weise als Teil der schematischen Handlungsschilderung erscheint. Obwohl es in der Tat zumeist in die schematische Erzählung integriert ist und diese in ihrer sinnbildenden Funktion unterstützt, basiert es allerdings auf einem anderen, poetisch und rezeptionsästhetisch klar zu unterscheidenden Prinzip. Indem es die jeweils zugrundeliegende historische Erfahrung nämlich, anstatt sie schematisch-handlungshaft auszufalten, „bei der Weitergabe auf das zentrale Motiv, auf ein Symbol desselben, auf eine Metapher einschrumpft“, gestaltet es einzelne Situationen zu Verdichtungen des im Erzählen enthaltenen Sinns. 55 Wie es in dieser Form gedächtnishaft wirksam wird, offenbart der Blick auf ein Phänomen, das Jan Assmann in Berufung auf Maurice Halbwachs als „Erinnerungsfigur“ bezeichnet und mit dem Bedürfnis des kollektiven Gedächtnisses nach Konkretheit begründet. Ihnen zufolge ist davon auszugehen, dass Ideen […] versinnlicht werden [müssen], bevor sie als Gegenstände ins Gedächtnis Einlaß finden können. […] Umgekehrt muß sich aber auch ein Ereignis, um im Gruppengedächtnis weiterzuleben, mit der Sinnfülle einer bedeutsamen Wahrheit anreichern. „Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert, es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideensystems der Gesellschaft. 56 In ihrer Eigenschaft als Überführungen historischer Erfahrungen in „Symbole“ wird man die anschaulich geschilderten „zentralen Motiv[e]“ und „Schaubilder[]“ der Heldensage ebenfalls als Erinnerungsfiguren bezeichnen dürfen. 57 Wenn sie auch nicht geradezu zum 54 Indizien dafür sind der Versuch einer konkreten Datierung (962) sowie die Verknüpfung des Berichts mit dem Namen Ottos- I. und der Universität zu Paris: Es werden also Fakten geschaffen, die nicht zuletzt deshalb Objektivität suggerieren, weil sie zeitlich fixierbare res gestae darstellen und auf (chronikalisches) Wissen über historische Herrscher und Institutionen rekurrieren. Bezüge zur Historiographie sind u. U. auch über die katalogartige Aufzählung sowie, bei einzelnen Zeugnissen (z. B. bei Puschman), die Prosaform herzustellen. Vgl. dazu etwa Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, mit einem Beitrag von Hans-Werner Goetz, Darmstadt ²1993, hier bes. S.-105-123. 55 Haug (wie Anm.-8), S.-283. Heusler (wie Anm. 47), S.-165 und 168, spricht analog von „dramatischen Augenblicke[n]“, die den „Gipfel [jeder gut bewahrten Sage]“ konstituieren und sich durch besondere „Versinnlichungskraft“ auszeichnen; Heinzle fasst dasselbe Phänomen am Beispiel des Nibelungenliedes in den Begriff von „Schaubilder[n]“, die dem Hörer „das entscheidende Moment mit Hilfe eines aufwendigen szenischen Arrangements […] augenfällig []mach[en]“: Joachim Heinzle, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, Frankfurt a. M. ²1994, S.-82. 56 Assmann (wie Anm. 1), S.-37f. zitiert Halbwachs (wie Anm.-29), S.-389f. 57 Ich zitiere nochmals die in Anm. 55 belegten Stellen. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 373 „Ideensystem der Gesellschaft“ zählen, 58 so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass sie es sind, die den Stoffen sinnhafte Prägnanz und gedächtnishafte Persistenz verleihen. Die Schemata mögen der historischen Dietrichwie der Burgunden- und Nibelungensage mithin zwar historischen Sinn einschreiben. Erinnert werden aber nicht Ausprägungen der narrativen Muster von Auszug und Rückkehr, verräterischer Einladung und Hinterlist, sondern die Erzählungen von dem um seine Mannen klagenden, ‚armen Dietrich‘, von Gunnar in der Schlangengrube und vom hinterrücks bei der Jagd erschlagenen Siegfried. Genauso gilt für die ‚Dichterheldensagen‘: Die Versammlung der Sänger am Hof Hermanns von Thüringen; Kaiser Otto, der den Meistersängern den goldenen Kranz ihrer Innung überreicht; der sterbend hinsinkende Bremberger; der päpstliche Stab, der grünt, während der Tannhäuser schon wieder im Venusberg sitzt - all dies sind nicht einfach, wie Heinzle sagt, Erzählmotive, an die die historischen Fakten „angepasst“ werden, 59 sondern szenischbildhafte Verdichtungen, die den Sinn ihrer Geschichten so einprägsam ‚auf einen Begriff bringen‘, dass er durch sie ins Gedächtnis der Traditionsgemeinschaft eingeht. 60 IV. Identität? Kulturelles und ästhetisches Gedächtnis Sinnhaft-rekonstruktive Gestaltung und einprägsame Darstellung lassen das andauernde Erinnern an ‚Dichter‘- und Heldensagen gewiss zu einem guten Teil verständlich werden. Für deren Qualifikation als kollektives oder kulturelles Gedächtnis reichen sie allerdings noch nicht aus. Um dieses Prädikat vergeben zu können, ist insbesondere die „[I]dentitätskonkret[heit]“ der einzelnen Dichtungen zu belegen, also ihre konstituierende Wirkung für das Selbstbild einer Trägergruppe. 61 Zu diesem Punkt eine gültige Aussage zu treffen, ist indes bei beiden Erzähltraditionen nicht leicht. Für die heroische Überlieferung der Völkerwanderungszeit stellt sich die Situation immerhin recht einheitlich dar. Da sie bis in die frühe Neuzeit hinein die Normen und Werte eines feudaladligen Publikums transportiert, ist dieses als ihre Trägerschicht anzusehen. Ob und inwiefern es sich (noch) mit ihr identifiziert, ist allerdings schwer zu sagen. Versuche der Forschung, Zeugnisse der Nibelungen- und Dietrichsage über eine allgemein-exemplarische Wirkung hinaus auf genealogische oder lokalgeschichtliche Interessen festzulegen, haben zu keinem haltbaren Ergebnis geführt. Wenn sich solche Interessen, wie z. B. im Bemühen des Passauer Bischofs Wolfger von Erla um die Aufzeichnung der Nibelungenepen 58 Halbwachs (wie Anm.-29), S.-290. 59 Heinzle (wie Anm. 17), S.-8. 60 An dieser Stelle fällt zum einen die Bedeutung des (imaginativ suggerierten) Bildes für die Gedächtniskonstitution auf, zum andern ist die Verfestigung narrativer Inhalte zu Topoi zu vermerken. Die benannten Verdichtungsphänomene wären mithin auch für weiterführende Überlegungen zum ‚Bildgedächtnis‘ der Literatur und für die historische Toposforschung interessant: nicht zuletzt deshalb, weil sich hier verschiedene literatur- und bildwissenschaftliche Fragestellungen in gedächtnistheoretischer Perspektive verknüpfen ließen. 61 „Das Kollektivgedächtnis haftet an seinen Trägern und ist nicht beliebig übertragbar. Wer an ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit. Es ist deshalb nicht nur raum- und zeit-, sondern auch, wie wir sagen würden: identitätskonkret . Das bedeutet, dass es ausschließlich auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen ist. Die Raum- und Zeitbegriffe des kollektiven Gedächtnisses stehen mit den Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe in einem Lebenszusammenhang, der affektiv und wertbesetzt ist. Sie erscheinen darin als Heimat und Lebensgeschichte, voller Sinn und Bedeutung für das Selbstbild und die Ziele der Gruppe“ (Assmann [wie Anm. 1], S.-39, Hervorhebung im Original); vgl. Erll (wie Anm.-1), S.-24-26 und 105-108. 374 Cordula Kropik oder in der genealogischen Anbindung verschiedener Adelsfamilien an das Geschlecht Laurins bzw. Dietrichs von Bern, auch andeuten, so bleiben sie doch Randerscheinungen. 62 Es ist daher mit einiger Sicherheit anzunehmen, dass die Heldensage vom hohen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit für ihre Trägergruppe keine fundierende Bedeutung (mehr) hatte und insofern eine Reduktions- oder Schwundstufe des kulturellen Gedächtnisses repräsentiert. Demgegenüber zeigt sich der Befund bei den historisierenden Sängergeschichten äußerst geteilt. Auf der einen Seite steht die Überlieferung von den zwölf alten Meistern, für die sich die Merkmale des kulturellen Gedächtnisses gut belegen lassen. In der Bezeichnung der vorbildgebenden Sänger als ‚Meister‘ ist der Bezug zur Trägergruppe eindeutig hergestellt; mit der ‚Ursprungssage‘ liegt zudem eine geradezu mythisch fundierende Erzählung vor. In der Dichtungs- und Gesangspraxis der Meistersänger - man denke z. B. an die Vorgabe des Dichtens in den Tönen der ‚alten Meister‘ oder an die Institution der Singschule inkl. Ehrung des besten Sängers mit Kette bzw. Kranz - klingen sogar Momente von ritueller Inszenierung und kollektiver Partizipation an. 63 Auf der anderen Seite stehen die Wartburgkrieg-Dichtungen und, in noch verstärktem Maße, die Minnesängerballaden, für die (konkret) kein fundierender Impetus erkennbar ist und bei denen sogar der soziale Bezug diffus erscheint. 64 Wiewohl sie ihre inhaltliche Fokussierung auf Probleme der künstlerischen 62 Überblickend dazu Heinzle, der freilich hinsichtlich des Einsatzes der Sage für die Behauptung heroischen ‚Herkommens‘ weit optimistischer urteilt: Joachim Heinzle, „Zur Funktionsanalyse heroischer Überlieferung: das Beispiel Nibelungensage“, in: New Methods in the Research of Epic. Neue Methoden der Epenforschung, hg. von Hildegard L. C. Tristram, Tübingen 1998 (ScriptOralia-107), S.-201-221. In der jüngeren Forschung setzt sich dagegen mehr und mehr die Einsicht durch, dass solche konkreten Funktionalisierungen selten und bisweilen sekundär sind. Zur Nibelungensage zusammenfassend etwa Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied, Berlin ³2009 (Klassiker-Lektüren-5), S.-24-29, ähnlich urteilt Elisabeth Lienert, Die ‚historische‘ Dietrichepik. Untersuchungen zu Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod, Berlin/ New York 2010 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik-5), S.-231-249. Vgl. auch Lienerts Kommentare zu den Zeugnissen der Dietrichsage: Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, hg. von Elisabeth Lienert unter Mitarbeit von Esther Vollmer-Eicken und Dorit Wolter, Tübingen 2008 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik- 4), hier bes. Nr.-255, 274, 285 und 342. 63 Zur Praxis des meisterlichen Kunstbetriebs etwa Nagel (wie Anm.- 21), S.- 68-76, vgl. auch die materialreiche Darstellung von Johannes Rettelbach, „Aufführung und Schrift im Meistergesang des 16. Jahrhunderts“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 240 (2003), S.-241-258. Vor dem Hintergrund von Assmanns Beschreibung von Ritus und Fest als Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses ([wie Anm.- 1], S.- 56-59) kann man die meisterliche Singschule wohl mit einigem Recht als eine Zusammenkunft bezeichnen, die „im Regelmaß ihrer Wiederkehr für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität“ der Meistersänger sorgt (ebd., S. 57). Mit dem Fest, auf das sich Assmann in diesem Zusammenhang bezieht, teilt sie v. a. die Merkmale der Nicht-Alltäglichkeit, der Eigengesetzlichkeit, der festen Form, der spezialisierten Traditionsträger und der traditionellen symbolischen Codierung im Gesang (ebd. S.-56). 64 Diese allgemein gehaltene Formulierung wäre gewiss zu differenzieren. Präzisierend sollte man zumindest sagen, dass den Texten entsprechende Hinweise nicht genuin und konstant eingeschrieben sind und dass sie nicht durchgängig einer bestimmten Trägergruppe zugeordnet werden können. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sie nicht ggf. (sekundär) für bestimmte Interessen funktionalisiert werden können: Für den Tannhäuser wäre diesbezüglich etwa auf die protestantisch beeinflusste Papstkritik in Fassung B zu verweisen (vgl. Rüther [wie Anm.- 13], S.- 163-176), der Wartburgkrieg hingegen gewinnt durch die Verknüpfung mit der Elisabethlegende bei Dietrich von Apolda und den damit verbundenen Eingang in die thüringische Geschichtsschreibung (landesgeschichtlich) fundierende Bedeutung (vgl. Hallmann [wie Anm.-18], S.-300-329). ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 375 Praxis immer wieder hervortreten lassen, sprechen sie ihr Zielpublikum damit doch wenig an, zumal dieses - anders als bei den Meistersängern - kaum ausschließlich aus Dichtern und Sängern bestanden haben dürfte. Ein anderer Gruppenbezug aber ist (rezeptionsseitig) kaum herstellbar. Dafür sind die den Texten eingeschriebenen Dichotomien von Laientum und Klerus, Kunst und Macht, Liebe und Ordnung zu allgemein und die von ihnen angesprochenen Rezipienten zu wenig spezifisch. 65 Es erweist sich damit, dass Wartburgkrieg und Minnesängerballaden nicht darauf angelegt sind, die identitätsversichernde Gruppenzusammengehörigkeit des kulturellen Gedächtnisses zu vermitteln. Daraus zu schließen, dass sich in den ‚Dichterheldensagen‘ keine einheitliche Form des Erinnerns vollziehen würde, wäre gleichwohl falsch. Denn dass die Rezipienten nur dann in den Prozess der Identitätsstiftung integriert werden, wenn sie zugleich Dichter und Sänger in der Art der jeweiligen Protagonisten sind, bedeutet nicht, dass die Texte nicht ebenfalls durchgängig „auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen“ wären. 66 Es bedeutet vielmehr nur, dass diese Gruppe auf die aktiven Träger der Traditionsgemeinschaft beschränkt bleibt. Der Unterschied zur heroischen Überlieferung erweist sich damit als einer, der das kulturelle Gedächtnis auf andere Weise einschränkt bzw. partiell realisiert. Die ‚Dichterheldensage‘ tritt dem schwindenden und insofern ‚nichtmehr‘-kulturellen Gedächtnis der Heldensage (Verlust der fundierenden Bedeutung) als die exklusiv-produktionsbezogene Ausprägung eines ‚ästhetischen Gedächtnisses‘ gegenüber (Begrenzung des Gruppenbezugs). Dass der so bestimmte Typus gemeinschaftlichen Erinnerns vom kulturellen Gedächtnis abgeleitet ist und auf dieses zurückbezogen bleibt, lässt sich auch anhand der stoffgeschichtlichen Entwicklung plausibilisieren, die sich bis in die jüngste Gegenwart hinein fortsetzt. Dabei unterliegt das Erzählen von den Sängern des Mittelalters nicht allein in auffälliger Weise denselben Prozessen der gedächtnisfunktionalen De- und Reaktivierung, die auch bei anderen Formen der kulturellen Gedächtnisbildung zu beobachten sind, 67 sondern es tritt darin auch erneut in Analogie zur heroischen Überlieferung der Völkerwanderungszeit: Beide Erzähltraditionen geraten an der Wende zur Neuzeit zunächst ‚in Vergessenheit‘ - werden also im „Speichergedächtnis“ einer ungenutzten Schriftüberlieferung abgelegt -, um nach ihrer Wiederentdeckung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abermals identitätsstiftend zum Einsatz zu kommen. 68 Im Zuge dessen erweist sich die thematische Ausrichtung in beiden Fällen als bemerkenswert konstant. Das Erzählen von Siegfried, 65 Hier ist zwischen implizitem und tatsächlichem Publikum zu unterscheiden: wenn die Wartburgkrieg- Dichtungen auch faktisch v. a. im Umfeld des thüringischen Landgrafenhofs rezipiert wurden (vgl. Hallmann [wie Anm.-18], S. 151-226), so sind sie in ihrer Wirkung doch offenkundig auf ein breiteres Publikum berechnet. Hallmann formuliert, ihnen sei ein „mehr oder minder vielschichtiges Gefüge möglicher Sinn- und Funktionszusammenhänge eingeschrieben, das abseits seiner mutmaßlichen entstehungsgeschichtlichen Kontextgebundenheit stets auch verallgemeinerbare Sinnangebote eröffnet. […] Damit deutet sich als gemeinsames Merkmal zumindest der frühen Wartburgkrieg-Texte eine tendenziell didaktische oder allgemeiner formuliert: lebenspraktisch orientierte Grundausrichtung an, die jedoch durchaus mit selbstreflexiven und poetologischen Aspekten verknüpft werden kann“ (ebd., S.- 224). Die ästhetische Funktion ist also eine unter vielen, jedoch die einzige, die sich auf eine bestimmte Personengruppe beziehen lässt. 66 Assmann (wie Anm.-1), S.-39. 67 Dazu bes. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. 68 Zu Funktions- und Speichergedächtnis, sowie, damit zusammenhängend, zu den Prozessen von Vergessen und Erneuerung kulturellen Wissens Assmann (wie Anm.-67), S.-130-142. 376 Cordula Kropik Dietrich & co. bleibt der politisch-kriegerischen Tendenz der Heldensage verpflichtet und bringt in erster Linie Bearbeitungen in völkisch-nationaler Perspektive hervor. 69 Darstellungen der Meistersänger, der Kombattanten des Wartburgkriegs und des Tannhäusers dagegen widmen sich in den Adaptionen von Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann, Richard Wagner, Theodor Fontane, Thomas Mann und vielen anderen vornehmlich der Reflexion von Kunst und Künstlertum. 70 In welchem Umfang sie dabei Vergangenheiten entwerfen, die weiterhin „von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert“ 71 werden, inwiefern die Gedächtnisbildung also anhaltend rekonstruktiv verfährt und welche literarischen Verfahren für sie relevant sind, wäre zweifellos weiter zu erörtern. Auch diese Frage führt aber über das Ziel der vorliegenden Untersuchung hinaus. Wichtiger ist die Beobachtung, dass im stoffgeschichtlichen Überblick schließlich noch das Wirken des dritten der von Heinzle als heldensagentypisch apostrophierten ‚Muster des Umerzählens‘ historischer Fakten aufscheint. Wenn bisher der Eindruck entstehen konnte, als handle es sich bei den Sängergeschichten um keinen zusammenhängenden Sagenkreis, da ihnen zyklische Tendenzen zwar nicht generell abgehen, 72 die „Koordination […] zu einer Art Gesamterzählung, in der alles mit allem zusammenhängt“, aber fehlt, 73 so wird jetzt nämlich deutlich, dass eine solche Koordination durchaus stattfindet. Dies geschieht jedoch erst im Übergang zur Neuzeit. Der erste Ansatz dazu findet sich bei Cyriakus Spangenberg, dessen musikgeschichtliche Abhandlung Von der Musica und den Meistersängern (1598) die Wartburgkrieg-Fabel und die Überlieferung von den zwölf alten Meistern in eine zusammenhängende Erzählung integriert. 74 Der Chronist des Nürnberger Meistergesangs, 69 Das gilt insbesondere für die Rezeption des Nibelungenliedes. Vgl. Klaus von See, „Das Nibelungenlied - ein Nationalepos? “, in: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, hg. von Joachim Heinzle, Klaus Klein und Ute Obhof, Wiesbaden 2003, S.-309-343; mit weiterer Literatur auch Müller (wie Anm.-62), S.-179-185. Der Dietrichstoff wird nicht in demselben Maß national vereinnahmt, ist aber auch für die Rezeptionsgeschichte der ‚germanisch-deutschen‘ Heldensage weniger relevant. Überblickend dazu Cordula Kropik, „Dietrich von Bern“, in: Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen, hg. von Horst Brunner und Matthias Herweg, Stuttgart 2007 (Kröners Taschenausgabe-352), S.-59f. 70 Zur Tannhäuser-Rezeption, u. a. in diesem Aspekt Karin Tebben, Tannhäuser. Biographie einer Legende. Göttingen 2010. Umfassend dazu jetzt auch der Sammelband Sängerliebe - Sängerkrieg. Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis des Mittelalters und der Neuzeit, hg. von Nikolas Immer und Cordula Kropik, Frankfurt a. M. 2019. 71 Assmann (wie Anm.-1), S.-42. 72 Das betrifft v. a. die Erzählung von den zwölf alten Meistern, die im Versuch, alle relevanten Sänger zu einem ‚Kreis‘ zu versammeln, schon in sich als Ergebnis einer Zyklifizierung erscheint. Daneben ist eine Reihe von Verbindungen mit anderen Stoffen zu vermerken, etwa des Wartburgkriegs mit der Elisabethlegende (vgl. oben, Anm.-64), oder - im vorliegenden Zusammenhang besonders interessant - des Tannhäusers mit der historischen Dietrichsage (zu diesem Aspekt der Heldenbuchprosa: Cordula Kropik, „Dietrich von Bern, der getreue Eckhart und der Venusberg. Zum Problem der Geschichtlichkeit heroischer Überlieferung in der Heldenbuchprosa“, in: Euphorion 110 [2016], S.-389-419) bzw. der Zwölf-Meister-Erzählung mit dem heldenepischen Zwölfkampf im Rosengarten (vgl. Ellenbeck [wie Anm.- 21], S.- 36-44). Über die sich hier auch stoffgeschichtlich äußernde Affinität der ‚Dichter-‘ zur Heldensage wäre eigens zu handeln. 73 Heinzle (wie Anm. 17), S.-8 74 Cyriakus Spangenberg, Von der Musica und den Meistersängern, hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1861 (BdLVS-62), repr. Hildesheim 1966, S.-116-125. Zuletzt dazu Cordula Kropik, „Meistersängergeschichte. Cyriacus Spangenberg und der Ursprung des Meistergesangs“, in: Sängerliebe - Sängerkrieg. Lyrische Narrative im ästhetischen Gedächtnis des Mittelalters und der Neuzeit, hg. von Nikolas Immer und Cordula Kropik, Frankfurt a. M. 2019, S.-85-116. ‚Dichterheldensage‘ / Literaturgeschichtsdichtung 377 Johann Christoph Wagenseil, folgt dieser Darstellung (1697) 75 und reicht sie so an Jean Paul, insbesondere aber an E.T.A. Hoffmann weiter, der mehrfach auf Wagenseils Nürnberger Chronik zurückgreift und sie so zum wichtigsten Referenzpunkt der romantischen Sänger-Rezeption werden lässt. 76 Im Zuge dessen löst sich die Verbindung der Narrative zwar zunächst wieder, jedoch nur, um wenig später eine andere, weit wirkmächtigere hervorzubringen. 77 Es ist kein Geringerer als Richard Wagner, der die Erzähltraditionen von Minnesängern und Sangspruchdichtern zyklisch verbindet, indem er den Tannhäuser zum Protagonisten des Sängerkriegs auf der Wartburg macht (1845/ 1861). 78 Der prägende Effekt von Wagners Tannhäuser begründet sich wohl nicht zuletzt darin, dass er - ähnlich wie das ihm zugeordnete „Satyrspiel“ der Meistersinger von Nürnberg 79 - besonders intensiv im Zeichen der ästhetischen Reflexion steht. Die Stilisierung des Tannhäusers zum neutönenden Verfechter der freien Liebe und die Darstellung seines Scheiterns an den Ansprüchen einer künstlerisch wie erotisch konservativen (Sänger-)Gesellschaft belegen nicht nur die anhaltende Virulenz der Dichotomien, die bereits in den mittelhochdeutschen Texten herrschen, sondern vor allem auch deren aktualisierende Verwendung für Wagners Auseinandersetzung mit den Ordnungs- und Kunstauffassungen der eigenen Zeit. Der ‚sagenhafte‘ Mechanismus der Koordination geht hier also ganz offensichtlich mit einem historisierenden Erzählen Hand in Hand, das durch die Identifikation des Komponisten mit seiner Hauptfigur ästhetische Identität generiert. V. Fazit Mit diesem Ausblick in das neuzeitliche Wiederaufleben des Erzählens von den Sängern des Mittelalters komme ich zum Schluss. Als Ergebnis meiner Überlegungen sind vor allem zwei Punkte festzuhalten. Der erste betrifft eine Korrektur, die weniger auf die Zurückweisung als auf eine Differenzierung von Rostocks These hinausläuft. Die Vorstellung einer ‚mittelhochdeutschen Dichterheldensage‘ sollte demnach zwar eingeklammert werden, zugleich sind Rostocks Beobachtungen jedoch durchaus ernst zu nehmen. Sie weisen auf eine Erzählform hin, die mit der heroischen Überlieferung der Völkerwanderungszeit sowohl die charakteristische Medialität als auch das besondere Verhältnis zur historischen Wirklichkeit teilt. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Erzählen von Helden und Sängern gleichermaßen mündlichkeitsnah und von einem Geschichtsverständnis geprägt ist, das in Form und Funktion in weiten Teilen dem des kulturellen Gedächtnisses entspricht. Eine maßgebliche Differenz ist dagegen darin auszumachen, dass das Erzählen unterschiedliche kulturelle Bereiche mit ihren spezifischen Problemkonstellationen fokussiert und dass es in jeweils eigener Weise identitätsstiftend wirkt. In ihrer Eigenschaft als eine medial ähnlich verfasste, inhaltlich und genetisch aber grundverschiedene Erzählform erweist sich die 75 Johann Christoph Wagenseil, Buch von der Meister-Singer Holdseligen Kunst (aus: De civitate Noribergensi commentatio, Altdorf 1697), hg. von Horst Brunner, Göppingen 1975 (Litterae 38), S.-503-512. 76 Zur Wagenseil-Rezeption Brunner im Nachwort zur Ausgabe (wie Anm.-75), S.-20-24. 77 E.T.A. Hoffmann verteilt Wagenseils Bericht auf zwei Erzählungen: Der Kampf der Sänger und Meister Martin der Küfner und seine Gesellen (beide in den Serapionsbrüdern, 1819/ 21); diese gehören zu den Hauptquellen Wagners. 78 Richard Wagner, Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Textbuch der letzten Fassung mit Varianten der Partitur und der vorangehenden Fassungen hg. von Egon Voss, Stuttgart 2001 (RUB-5636). 79 Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg. Textbuch der Fassung der Uraufführung mit Varianten der Partitur hg. von Egon Voss, Stuttgart 2002 (RUB-5639), ich zitiere hier das Nachwort S.-199. 378 Cordula Kropik ‚Dichterheldensage‘ gewissermaßen als eine Heldensage im Modus des Metaphorischen. Hier scheinen Sänger an die Stelle von Helden zu treten, weil die ‚kulturpolitischen‘ Konflikte, die mit der Ausdifferenzierung der lyrischen Gattungen ab der Wende zum 13.-Jahrhundert einhergingen, in derselben Weise narrativiert werden, wie es mit den militärischen und machtpolitischen Verwicklungen einiger europäischer Reiche in der heroischen Überlieferung der Völkerwanderungszeit geschieht. Dabei entsteht eine Form von Gedächtnis, die für das Selbstbild derer, die die Sängergeschichten erzählen, ebenso relevant ist wie das von der Heldensage vermittelte für den Adel und (später) die Nation. Der zweite Punkt schließt hier an, und auch er kehrt noch einmal an den Anfang der vorliegenden Überlegungen zurück. Denn wenn auf den letzten Seiten deutlicher geworden ist, welche Art von Geschichtsverständnis für die ähnliche Verfasstheit von ‚Dichter-‘ und Heldensage verantwortlich ist, so lässt der Eindruck des Ungewohnten und Merkwürdigen doch keineswegs nach. Die Verwunderung vermehrt sich vielmehr noch mit der Erkenntnis, dass es offenbar nicht nur denkbar ist, im Modus kultureller Gedächtnisbildung (identitätsstiftende) Literaturgeschichte zu betreiben, sondern dass dies tatsächlich auch mehrfach unternommen wurde - und zwar, wie das bis heute ständig neu ansetzende Erzählen von den Sängern des Mittelalters beweist: mit Erfolg. Dass die Verwunderung damit einen neuen Rahmen und einen neuen Fokus erhält, liegt auf der Hand. Wo sie zunächst vor allem Kritik und Abwehr hervorrief, da öffnet sich nun die Perspektive auf ein Phänomen des Erinnerns, das es mit den Mitteln von Literaturwissenschaft und Gedächtnisforschung noch genauer zu beschreiben gilt. Mein Versuch, Rostocks Darstellung der ‚mittelhochdeutschen Dichterheldensage‘ ins Verständnis eines Typs (lyrisch verfasster) Literaturgeschichtsdichtung zu überführen, versteht sich damit als Beitrag zu einem Gesamtbild, das in einer ganzen Reihe von Aspekten ergänzt und vervollständigt werden muss. Von den Aspekten, die in diesem Zusammenhang relevant sind, wurden einige bereits markiert. Anzuschließen wären weitere, gedächtnistheoretische, literaturhistorische und konzeptuelle, die insgesamt vor allem eines verbindet: Um sie benennen und ausführen zu können, ist es unabdingbar, Formen und Verfahrensweisen der narrativen Geschichtskonstruktion gerade da ins Auge zu fassen, wo sie bisher noch kaum vermutet, geschweige denn genauer untersucht worden sind. Schon allein deshalb dürfte es lohnend sein, dem ‚heldensagenhaft‘-literaturgeschichtlichen Erzählen von den Sängern des Mittelalters weiter nachzuspüren. ‚Alternative Fakten‘ 379 ‚Alternative Fakten‘ Narrativierung von Vergangenheit am Beispiel des Trienter Judenprozesses (1475) Julia Frick Kann der Wahrheitsanspruch als grundlegendes Prinzip für die Vermittlung von Vergangenheitswissen gelten? Mittels welcher Mechanismen wird die von einem Kollektiv erfahrene bzw. erinnerte Vergangenheit „erst im Erzählen zu Geschichte“ verwandelt? 1 Das vielfach ideologisch geprägte manipulative Verfahren, um die öffentliche Meinungsbildung in interessenspezifischer (politischer, ökonomischer, kommerzieller) Intention zu beeinflussen, konstruiert eine als Wahrheit begriffene Sichtweise von historischer Wirklichkeit. Damit wird in bewusster Täuschungsabsicht ‚Geschichte‘ gemäß den interessengeleiteten Zwecken einer bestimmten Gruppe funktionalisiert. Diese Praxis ist von einer gewissen (Medien-)Wirksamkeit innerhalb der Trägersysteme der Informationsvermittlung abhängig. Von Interesse ist insofern die Frage, wie die ‚Geschichts-Erzählungen‘ gestaltet und organisiert sind: 2 Wie werden Erzählmuster in wechselnden (historischen, sprachlichen, textsortenspezifischen) Kontexten semantisiert und verwendet? Welche Verfahren der Rezeptionslenkung werden eingesetzt? Wie trägt Erzählen zur Identitätsbildung einer Gemeinschaft bei? Die grundsätzlichen Operationen und politischen Implikationen der durch Formen von Inklusion und Exklusion ein Identitätsbewusstsein generierenden ‚Narrativierung von Vergangenheit‘ lassen sich an einem exemplarischen Fall vormodernen Erzählens von Geschichte veranschaulichen, um den es im Folgenden gehen soll. Der Trienter Judenprozess des Jahres 1475 wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Raum Oberitalien und Deutschland so vielfältig literarisch verarbeitet und im Druck verbreitet wie kein anderes Ereignis der Zeit (mit Ausnahme der Eroberung Konstantinopels). 3 Die im Kontext des Prozesses betriebene Narrativierung von Vergangenheit dokumentiert eine Funktionalisierung von Geschichte mit dem Ziel, eine kollektive memoria im Interesse einer bestimmten Gruppe zu formen. Die Durchsetzung der parteiischen Konstruktion der historischen Wahrheit war derart erfolgreich, dass ihre Korrektur erst im 20. Jahrhundert mit der Abschaffung des Simon-Kultes während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) erfolgte. 4 Am Spektrum der zeitgenössischen literarischen 1 Siehe die Einleitung zu diesem Band, S. 11 2 Zu den grundlegenden Gestaltungsprinzipien historisch ausgerichteter Studien vgl. Hayden V. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore u. a. 8 1993. 3 Vgl. Franz Josef Worstbrock, „‚Simon von Trient‘“, in: 2 VL 8 (1992), Sp. 1260-1275, bes. Sp. 1262. 4 Dazu Willehad Paul Eckert, „Beatus Simoninus -- Aus den Akten des Trienter Judenprozesses“, in: Judenhass - Schuld der Christen? Versuch eines Gesprächs, hg. von Willehad Paul Eckert und Ernst Ludwig Ehrlich, Essen 1964, S. 329-360, bes S. 354. 380 Julia Frick Reaktionen auf den aufsehenerregenden Trienter Prozess sollen die zentralen Fragen des Tagungsbandes verhandelt werden. I. Phänomenevidenz und Verfahrensevidenz Gegenstand des Prozesses waren die Ereignisse der Karwoche im Jahr 1475: Seit dem Abend des Gründonnerstags (23. März), auf den der Beginn des jüdischen Passahfestes im selben Jahr fiel, wurde in der oberitalienischen Stadt Trient das kaum zweieinhalbjährige Kind Simon von seinen Eltern Maria und Andreas vermisst. 5 Der Anfangsverdacht, das Kind könnte in die Etsch gefallen sein - denn als Gerber wohnte Andreas in der Nähe des Flusses, der damals durch Trient führte 6 -, bestätigte sich aufgrund erfolgloser Nachforschungen zunächst nicht. Genährt von der im Spätmittelalter weit verbreiteten Vorstellung von jüdischen Ritualmorden 7 erstattete Andreas am Karfreitag (24. März) Anzeige beim Stadtpodestà Johannes Salis de Brescia, 8 woraufhin die Häuser der drei in Trient ansässigen jüdischen Familien durchsucht wurden; 9 freilich ohne Erfolg. Am Abend des Ostersonntags (26. März) entdeckten die Juden schließlich selbst im Haus des Geldverleihers Samuel, das durch einen Kanal mit der Etsch verbunden war, die Leiche des Kindes. Nach der unverzüglichen Meldung ihres Fundes wurde der Leichnam in das Hospital der St. Peter-Kirche in Trient überführt und am Morgen des Ostermontags ärztlich untersucht. Er wies Hautabschürfungen, punktgroße Einstiche sowie eine Verletzung am membrum virile auf. 10 5 Deren Name ‚Unverdorben‘ ist nicht, wie in der Forschung häufig zu finden, späteres hagiographisches Attribut, das auf Simon bezogen wurde, sondern schon in den Prozessakten belegt. Vgl. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen - Abläufe -Auswirkungen (1475-1588), Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden 4), S. 78. Siehe auch Eckert (wie Anm. 4), S. 337. 6 Erst 1858 ließ Kaiser Franz Josef die Etsch auf die andere Seite des Tals verlegen, um Platz für die Eisenbahn zu schaffen. Vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 50-59. 7 Vgl. Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 2 2003 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44), S. 33-68; Elias H. Füllebach und Gianfranco Miletto, „Einleitung“, in: Dominikaner und Juden. Personen, Konflikte und Perspektiven vom 13. bis zum 20. Jahrhundert/ Dominicans and Jews. Personalities, Conflicts, and Perspectives from the 13th to the 20th Century, hg. von Elias H. Füllebach und Gianfranco Miletto, Berlin u. a. 2015 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 15), S. xiii-l. 8 Die zeitgenössische Rechtslage in Trient war einigermaßen unübersichtlich: Der Bischof Johannes Hinderbach war zwar Reichsfürst, doch sein Bistum gehörte in den Einflussbereich der Grafschaft von Tirol. Deshalb residierte ein Stadthauptmann (Capitaneus) in der bischöflichen Burg, um im Namen Herzog Sigismunds ein Kontrollrecht auszuüben (zu Beginn des Prozesses: Jacobus des Sporo; später: Johannes Rytliz). Die Stadt wurde nach italienischem Recht von einem jährlich wechselnden Podestà verwaltet (1475: Johannes Salis de Brescia). Vgl. Willehad Paul Eckert, „Aus den Akten des Trienter Judenprozesses“, in: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch, hg. von Paul Wilpert unter Mitarbeit von Willehad Paul Eckert, Berlin 1966 (Miscellanea Mediaevalia 4), S. 283-336, bes. S. 295; ders.: „Der Trienter Judenprozeß und seine Folgen“, in: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, hg. von Jüdisches Museum der Stadt Wien, Wien 1995, S. 86-101, bes. S. 91. 9 Die kleine jüdische Gemeinde Trients bestand zu dieser Zeit im Wesentlichen aus drei jüdischen Familien - derjenigen der Geldverleiher Samuel und Angelus sowie derjenigen des Arztes Tobias - und umfasste 21 Erwachsene, dazu Kinder und Jugendliche sowie einige Personen, die als Gäste in der Stadt weilten. In Samuels Haus als dem größten befand sich die Synagoge. Vgl. Eckert: „Der Trienter Judenprozeß“ (wie Anm. 9), bes. S. 90. Zum Detailbericht siehe Treue (wie Anm. 5), S. 66-76. 10 Gerade die letztgenannte Verletzung scheint für die Motivation der Ritualmordthese von zentraler Bedeutung gewesen zu sein: Immer wieder fragt der Podestà beim Verhör nach der Bedeutung der Wunde. Vgl. Eckert, „Aus den Akten“ (wie Anm. 8), S. 326. ‚Alternative Fakten‘ 381 Den standpunktabhängigen Umgang mit dem ‚Befund‘ des Ereignisses als solchem markieren die unterschiedlichen Gutachten dreier ansässiger Mediziner über die Umstände von Simons Tod: Der jüdische Arzt Tobias stellte als Todesursache Ertrinken fest, das schon vor Tagen eingetreten sein dürfte, und erklärte die Verletzungen als durch Dornen verursacht sowie durch das Geröll im Flussbett, durch welches das Kind bis in den Kanal zu Samuels Haus geschwemmt worden sei. Der hinzugezogene christliche Mediziner und zugleich bischöfliche Leibarzt Johannes Matthias Tiberinus widersprach diesem Untersuchungsbefund: Da der Leichnam des Kindes bei seiner Auffindung nur wenig Wasser enthalten habe, vielmehr noch frisch gewesen sei, könne der Tod erst wenige Stunden zurückliegen; die Hautabschürfungen dürften durch Messer, die Einstiche durch Nadeln herbeigeführt worden sein. Der den Tiberinus begleitende renommierte Trienter Arzt Arcangelo Balduini sowie der Chirurg Christoforo de Fatis de Terlaco bestätigten dessen Gutachten. 11 Als die Wunden des kleinen Simon in Anwesenheit der Juden zu bluten begannen - so wird der Evidenzbeweis in den Prozessakten konstruiert 12 - wurde der bis dahin lediglich latent vorhandene Verdacht zur mutmaßlichen Gewissheit: Die Juden hätten den Knaben entführt und zu rituellen Zwecken ermordet. Indem der Vorraum der Synagoge und, nach der Marter des Kindes, die Synagoge selbst als fingierter Tatort fungierten, konnte sich die Anklage gegen die gesamte jüdische Gemeinde Trients richten. Sämtliche Männer sowie Samuels Frau Brunetta wurden noch am selben Tag verhaftet, alle übrigen Frauen unter Hausarrest gestellt. 13 Die Rolle des bereits genannten Mediziners Tiberinus ist für den Prozess von eminenter Bedeutung: Denn rund eine Woche nach Simons Tod erschien ein von ihm verfasster lateinischer Bericht im Druck, der auf die öffentlichkeitswirksame Sicherung der Phänomenevidenz mittels der sprachlichen Repräsentation und zugleich der ‚richtigen‘ Interpretation der Geschichte abzielte. 14 Der Prozess, der am 28. März 1475 begann, sich mit Unterbrechungen bis Mitte März 1476 hinzog und mit der Hinrichtung aller erwachsenen männlichen Juden sowie mit der erzwungenen Konversion der Frauen und Kinder endete, avancierte zu einem der aufsehenerregendsten Ritualmordprozesse des Spätmittelalters: Nicht nur, weil die durch Tiberinus vorgelegte Phänomenevidenz den Richtern als Maßstab für den Erweis der Verfahrensevidenz diente, indem sie versuchten, mit Hilfe einer konstruierten Indizienkette den Nachweis zu führen, dass Ritualmorde an männlichen christlichen Kindern ein grundsätzlicher Bestandteil der religiösen Praktiken am jüdischen Passahfest seien; sondern auch, weil der Prozess, auf Betreiben des Trienter Bischofs Johannes Hinderbach, 15 durch eine entschieden judenfeindliche publizistische Agitation in bis dahin nicht gekanntem Maße die Öffent- 11 Vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 79. 12 Processi contro gli Ebrei di Trento (1475-1478). I processi del 1475, hg. von Anna Esposito und Diego Quaglioni, Padua 1990 (Dipartimento di Scienze Giuridiche, Università di Trento 8), S. 114. Bei den Prozessakten handelt es sich nicht um direkte Mitschriften, sondern um nachträgliche Fassungen, die von dem ausführenden Notar nach dessen Mitschriften angefertigt worden sind. Insofern stellen sie „nicht den Spiegel einer wie immer gearteten Objektivität dar […], sondern [reflektieren] in erster Linie die Sichtweise der Richter.“ Treue (wie Anm. 5), S. 180. 13 Die Kreuzverhöre der einzelnen Beschuldigten sind in den Prozessakten dokumentiert. Vgl. Esposito und Quaglioni (wie Anm. 12), S. 109-410. 14 Siehe dazu unten S. 386-390. 15 Vgl. Il principe vescovo Johannes Hinderbach (1465-1486) fra tardo Medioevo e Umanesimo. Atti del convegno promosso dalla Biblioteca Comunale di Trento, 2.-6. ottobre 1989, hg. von Iginio Rogger und Marco Bellabarba, Bologna 1992. Siehe auch Alfred A. Strnad, „Hinderbach, Johannes“, in: 2 VL 4 (1983), Sp. 41-44. 382 Julia Frick lichkeit mobilisierte. Das Spektrum der Bearbeitungen des aktuellen Geschehens reichte vom bereits genannten lateinischen Bericht des Arztes Tiberinus, elegischen Dichtungen, einem lateinischen Epos in heroischem Gestus bis hin zum volkssprachigen historischen Ereignislied, einer Prosa-Historie sowie zahlreichen Einblattdrucken. 16 Und auch im visuellen Medium des Bildes entwickelte sich schon früh eine Ikonographie, die zum festen Bestandteil der späteren Simon-Darstellungen gehört. 17 Die Trienter Vorgänge fanden schließlich Aufnahme in die zeitgenössischen Chroniken und wurden so durch mittelbare oder unmittelbare Einflussnahme als historisch-politisches Tagesgeschehen zur anti-jüdischen Propaganda instrumentalisiert. Während die in vier Bänden niedergeschriebenen und in acht zeitgenössischen Exemplaren und einigen späteren Abschriften erhaltenen Prozessakten ediert und von der Forschung gut aufgearbeitet sind, 18 fehlt ein ähnlich systematischer Ansatz für die literarischen Darstellungen rund um den Prozess. 19 Denn nicht die Prozessakten, die nur ausgewählten Personen aus dem Umfeld des Trienter Bischofs, der Stadtverwaltung, der päpstlichen Kurie und des herzoglichen Hofes zu Tirol direkt zugänglich waren, sondern die aktuelle, auf alle lesenden Schichten berechnete publizistische Produktion im ‚modernen‘ Medium des Buchdrucks prägte das Bild von den Ereignissen sowie vom Prozessgeschehen in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die literarische Verarbeitung der Ereignisse, um einen Einblick der über den Buchdruck gesteuerten öffentlichen Wahrnehmung des Prozesses zu bieten. Die Druckerzeugnisse repräsentieren damit einen historisch signifikanten Fall der Funktionalisierung von Geschichte, an dem sich die gruppen- und interessenspezifische bzw. parteiische Narrativierung von Vergangenheit ablesen lässt. Im Fokus stehen dabei die Erzählstrategien, mittels derer die erfahrene bzw. erinnerte ‚Vergangenheit‘ in das mit historischem Wahrheitsanspruch operierende Konstrukt von ‚Geschichte‘ überführt und zum kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft transformiert wird. 16 Vgl. die Übersicht bei Worstbrock (wie Anm. 3), Sp. 1262-1274. 17 Vgl. Georg R. Schroubek, „‚Simon von Trient‘“, in: LCI 8 (1976), Sp. 373. Zur Simon-Ikonographie in den unterschiedlichen Kulturräumen siehe auch Laura Dal Prà, „L’immagine di Simonino nell’arte trentina dal XV al XVIII secolo“, in: Rogger und Bellabarba (wie Anm. 15), S. 445-482; Dominique Rigaux, „L’immagine di Simone di Trento nell’arco alpino lungo il secolo XV: un tipo iconografico? “, in: Rogger und Bellabarba (wie Anm. 15), S. 485-496. 18 Vgl. mit Angaben zu weiterführender Literatur: Esposito und Quaglioni (wie Anm. 12), S. 1-96. Siehe auch Ronnie Po-chia Hsia: Trent 1475. Stories of a Ritual Murder Trial, New Haven 1992; Treue (wie Anm. 5); Diego Quaglioni, „Les relations judéo-chrétiennes à la fin du Moyen Âge. L’affaire de Trento (1475-1478)“, in: La Cohabitation religieuse dans des villes Européennes, X e -XV e siècles/ Religious Cohabitation in European Towns (10 th -15 th Centuries), hg. von Stéphane Boisselier und John Tolan, Turnhout 2014 (Religion and Law in Medieval Christian and Muslim Societies 3), S. 39-53. 19 Vgl. Franz Unterkirchner, „Die ‚Simonis‘ des Ubertinus Pusculus“, in: Der Schlern 27 (1954), S. 503-506; Franz Josef Worstbrock, „Neue Schriften und Gedichte Samuel Karochs von Lichtenberg. Mit einer Werkbibliographie“, in: ZfdA 112 (1983), S. 82-125; Iginio Rogger, „Simon von Trient. Eine Ritualmordlegende und ihre Bewältigung“, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 50 (1986), S. 101-107; Paul O. Kristeller, „The Alleged Ritual Murder of Simon of Trient (1475) and Its Literary Repercussions. A Bibliographical Study”, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 59 (1993), S. 103-135; Nicole Spengler, „das er in sijm leiden gheglicht ist der marter vnsers heren. Legendenbildung um Simon von Trient - Ein Ritualmordkonstrukt“, in: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte - Feindbilder - Rechtfertigungen, hg. von Ursula Schulze, Tübingen 2002, S. 212-231. ‚Alternative Fakten‘ 383 II. Der Vorwurf des Ritualmords Die Trienter Ritualmordthese reiht sich in eine lange Tradition ähnlicher judenfeindlicher Tendenzen in Westeuropa ein. 20 Ritualmordbeschuldigungen gegen die Juden gehören im deutschsprachigen Raum seit dem 13. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil des zeitgenössischen Judenbildes 21 und entwickeln besonders im 15. und 16. Jahrhundert eine unheilvolle Dynamik, die zu zahlreichen Verfolgungen und Vertreibungen führte. 22 Grundlegend für die Ritualmordthese ist die Vorstellung, Juden würden aus Hass gegen die Christen alljährlich in der Osterzeit ein unschuldiges christliches, vorzugsweise männliches Kind in ritueller Form ermorden, um mit den Leiden Christi die Sünden ihrer Vorfahren zu erneuern: 23 „Die Wiederholung der Passion Christi an einem ‚Stellvertreter‘ enthält dabei gleichzeitig auch die Verhöhnung der wahren Passion und der gesamten christlichen Religion.“ 24 Zu den zentralen Topoi des Ritualmordmotivs gehören die Marter des Kindes, deren Art und Zeitpunkt in Analogie zur Passion Christi verlaufen, sowie die Entnahme des Blutes, das sowohl der Zubereitung der Mazzen als auch, mit Wein vermischt, der Segnung des Passah-Tisches durch den Hausvater dient; 25 mit der während dieses Vorgangs erinnerten Vergegenwärtigung der zehn Plagen werden Drohworte gegen die Christen assoziiert; ferner ist die auf das zweite Buch Mose (Ex 12,5-14) zurückgehende Schlachtung des Osterlammes konstitutiv für die Vorstellung, dass seit der Zeit Christi anstelle des Lammes 20 Vgl. Rainer Erb, „Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigungen“, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, hg. von Rainer Erb, Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 9-16. Zu Ritualmordbeschuldigungen im mittelalterlichen England vgl. Elisabeth Dutton, „The Blood Libel: Literary Representations of Ritual Child Murder in Medieval England“, in: Children and Violence, hg. von Laurence Brockliss und Heather Montgomery, Oxford 2010, S. 32-38. Zu den bildlichen Testimonien siehe Eric M. Zafran, The Iconography of Antisemitism. A Study of the Representation of the Jews in the Visual Arts of Europe 1400-1600, Diss. New York 1973; Isaiah Shachar, The Judensau. A Medieval Anti-Jewish Motif and its History, London 1974 (Warburg Institute Surveys and Texts 5). Zur Beschuldigung des Hostienfrevels vgl. Rainer Erb, „‚Jude, Judenlegenden‘“, in: Enzyklopädie des Märchens 7 (1993), Sp. 676-686, bes. Sp. 680f. 21 Vgl. Wolfgang Treue, „Diplomaten, Rechtsgelehrte, Intriganten. Der Trienter Judenprozess vor der römischen Kure 1475-1478“, in: Füllebach und Miletto (wie Anm. 7), S. 331-347, bes. S. 331. Zu den literarischen Konkretisierungen im deutschsprachigen Raum vgl. Schulze (wie Anm. 19), S. 1-10; Roland Deigendesch, „Judenfeindschaft am Uracher Hof? Zu einer verschollenen und wieder entdeckten Handschrift aus dem Umkreis Graf Eberhards V. von Württemberg“, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 64 (2005), S. 85-102. 22 Es sind zahlreiche Prozesse gegen Juden dokumentiert: Diessenhofen (1401), Ravensburg (1430), Lienz (1442), Pfullendorf (1461), Endingen (1470), Passau (1478), Tyrnau (1494), Waldkirch (1504), Regensburg (1476; 1519), Rotenburg (1520), Pösing (1529), Sappenfeld (1540), wobei der Regensburger Judenprozess des Jahres 1476 sogar direkt durch die Trienter Ereignisse beeinflusst worden ist. Vgl. Treue (wie Anm. 21), S. 331. Zu den einzelnen Begebenheiten siehe Karl Josef Baum, „Das Endinger Judenspiel als Ausdruck mittelalterlicher Judenfeindschaft“, in: Wilpert (wie Anm. 8), S. 337-349; Albrecht Hausmann, „‚Wernher von Oberwesel‘‚ (von Bacharach)“, in: 2 VL 10 (1999), Sp. 945-950; Burghart Wachinger, „‚Der Judenmord von Deggendorf‘“, in: 2 VL 4 (1983), Sp. 893-897. Die deutschsprachigen Texte, die im Zusammenhang mit den genannten Judenprozessen entstanden, sind z.T. verzeichnet in: Die Historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, hg. von Rochus von Liliencron, 4 Bde, Leipzig 1865-1869 (Nachdr. Hildesheim 1966), Bd. 1, S. 49-57 (Deggendorf); Bd. 2, S. 13-21 (Trient); Bd. 2, S. 142-146 (Passau); Bd. 3, S. 333-337 (Regensburg); Bd. 3, S. 357-359 (Rotenburg). 23 Zu den Elementen der gegen Juden gerichteten Mord- und Blutlegenden vgl. Erb, „Zur Erforschung“ (wie Anm. 20), S. 14f. 24 Treue (wie Anm. 5), S. 30. 25 Vgl. Eckert (Anm. 4), S. 347f. 384 Julia Frick das Blut eines Christenkindes zum Einsatz kommen müsse; 26 schließlich legitimiert die Wundertätigkeit des toten Kindes seine Heiligkeit und verbürgt den Wahrheitscharakter des konstruierten Geschehens. 27 Papst und Kaiser haben Ritualmordvorwürfe gegen die Juden, die im deutschsprachigen Raum erstmals mit drei Mordanklagen im Jahr 1275 zu fassen sind, 28 mehrfach zurückgewiesen; 29 nicht anders zunächst auch beim Trienter Prozess: Bereits einen Monat nach Prozessbeginn (am 29. April 1475), legte Herzog Sigismund von Tirol, der die Juden 1450 unter seinen Schutz gestellt hatte, 30 durch den im Namen der Grafschaft das Kontrollrecht ausübenden Capitaneus Jacobus de Sporo Einspruch gegen den Prozess ein. 31 Papst Sixtus IV. ließ nach der ersten Hinrichtungswelle im Juni 1475 den Trienter Prozess aus Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens am 23. Juli desselben Jahres unterbrechen und entsandte als Kommissar den Bischof von Ventimiglia, Giovanni Battista dei Giudici, nach Trient, wo dieser am 2. September eintraf. 32 Der Trienter Bischof Johannes Hinderbach, der mit der Durchsetzung des Prozesses nicht nur die Demonstration seiner rechtlichen Kompetenz, sondern auch seines landesherrlichen Anspruchs intendierte, verstand es gleichwohl, den Prozess gegen die päpstliche und herzogliche Instanz durchzusetzen: Nicht nur stand er mit Sixtus IV. und Sigismund in stetiger Briefkorrespondenz, sondern erreichte einen Stimmungsumschwung zunächst beim Herzog, später auch beim Papst durch die Mobilisierung zahlreicher Literaten sowie durch deren lateinische und volkssprachige Agitation. 33 Hinderbach suchte die Ritualmordthese außerdem dadurch zu bekräftigen, dass er Nachforschungen in Süddeutschland nach ähnlich gelagerten Fällen in Auftrag gab: Eine Trienter Delegation unter Leitung des Dominikaners Heinrich von Schlettstadt beschaffte in Ravensburg, Pfullendorf und Endingen offizielle Dokumente in lateinischer Sprache über die dort im 15. Jahrhundert stattgefundenen Ritualmordprozesse, die als Präzendenzfälle für das Trienter Verfahren dienen sollten. 34 Ziel war der Evidenzerweis, dass die Vorfälle in Trient nicht von singulärem Charakter, sondern dass Ritualmorde vielmehr in der jüdischen religiösen Praxis fest verankert seien. 35 26 Vgl. Eckert, „Aus den Akten“ (wie Anm. 8), S. 326f. 27 Vgl. Spengler (wie Anm. 19), S. 212. 28 Es handelt sich um Vorfälle in Lauda, Wolfhagen und Fulda. Letzterer Fall ist deshalb bedeutend, weil sich in diesem Zusammenhang erstmals die sog. Blutbeschuldigung findet, d. h. die These, „daß die Juden christliche Kinder ermordeten, um ihnen Blut zu entziehen.“ Treue (wie Anm. 5), S. 36. 29 Dieser Sachverhalt wird durch die Bullen folgender Päpste dokumentiert: Innozenz IV. (1247), Gregor X. (1272), Martin V. (1422), Nikolaus V. (1447), Paul III. (1540). Vgl. dazu Moritz Stern, Die päpstlichen Bullen über die Blutbeschuldigung, München 1900, S. 2-36; Gemma Volli, „I Processi Tridentini e il culto del Beato Simone da Trento“, in: Il Ponto 19 (1963), S. 1396-1408, bes. S. 1397. Zu entgegengesetzten päpstlichen Tendenzen vgl. Kenneth R. Stow, „Papal Mendicants or Mendicant Popes. Continuity and Change in Papal Policies toward the Jews at the End of the Fifteenth Century“, in: Friars and Jews in the Middle Ages and Renaissance, hg. von Steven J. McMichael und Susan E. Myers, Leiden/ Boston 2004 (The Medieval Franciscans 2), S. 255-271. 30 Vgl. Eckert (wie Anm. 4), S. 341. 31 Zur zeitgenössischen Rechts- und Verwaltungslage in Trient vgl. Anm. 8. 32 Zu seiner kommissarischen Tätigkeit sowie zur Auseinandersetzung mit Hinderbach und den Richtern in Trient vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 185-203. 33 Vgl. Eckert, „Der Trienter Judenprozeß“ (wie Anm. 8), S. 95. Zu den Erfolgen der Trienter Diplomatie und Propaganda vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 124-141. 34 Vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 91-94. 35 Vgl. Eckert, „Aus den Akten“ (wie Anm. 8), S. 286f. ‚Alternative Fakten‘ 385 Zwar war der päpstliche Kommissar Battista dei Giudici von der Unschuld der Juden überzeugt und strengte einen Gegenprozess zur Freilassung der zum Zeitpunkt seiner Ankunft noch lebenden inhaftierten Juden an. Doch schlug ihm in Trient eine dermaßen feindselige und seine Untersuchungen erheblich beeinträchtigende Stimmung entgegen, dass er schon nach 22 Tagen seinen Sitz nach Rovereto außerhalb Trients in den Einflussbereich Venedigs verlagerte. 36 In der Einsicht, dass seine kommissarische Tätigkeit in Trient zwecklos war, kehrte er schließlich nach nur drei Monaten am 1. Dezember 1475 nach Rom zurück. 37 Seine kurz darauf verfasste Verteidigungsschrift, Apologia Iudaeorum, zeichnet ein Bild der Voreingenommenheit der Richter gegen die Juden sowie der Parteilichkeit für Hinderbach. 38 Den Trienter Verantwortlichen sei es lediglich um die Durchsetzung ihrer aus ‚falschen Erdichtungen‘ bestehenden Version der Wahrheit gegangen, mit dem Ziel der Vernichtung der Juden und der Beschlagnahmung ihres Besitzes: moleste ferebant, quod sedes apostolica micteret [sic] aliquem commissarium ad investigandum veritatem eorum, que falso confinxerant. 39 Battista dei Giudici nahm vielmehr an, dass die Juden einem Komplott zum Opfer gefallen sein dürften: Sein Verdacht richtete sich gegen den Christen Zanesius Schweizer, der dem Geldverleiher Samuel aufgrund finanzieller Streitigkeiten ausdrücklich mit Rache gedroht hatte; dieser soll das Kind ermordet und in den Kanal des Flusses geworfen haben, der in Samuels Haus mündete. Schweizer wurde tatsächlich am 28. März vom Trienter Podestà einem Verhör unterzogen; infolge eines beigebrachten Alibis erhärtete sich der Verdacht jedoch nicht und er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. 40 Die Apologie des päpstlichen Kommissars blieb angesichts der überwältigenden, von Parteilichkeit für den Bischof dominierten literarischen Propaganda ohne erkennbare Wirkung. Papst Sixtus IV. erkannte das Verfahren nach Abschluss des Prozesses am 20. Juni 1478 in der Bulle Facit nos pietas nachträglich als formal rechtmäßig durchgeführt an: processum rite et recte factum. 41 Weil er zugleich die offizielle Verehrung des Simon von Trient als Märtyrer untersagte, die schon sehr bald nach dessen Tod eingesetzt und um deren Erlaubnis sich Hinderbach intensiv bemüht hatte, dokumentiert die Bulle den Versuch, „bei formalrechtlicher Anerkennung des Trienter Prozesses, ein Urteil über dessen Gegenstand zu vermeiden.“ 42 Die offizielle Seligsprechung des Simon als Märtyrer erfolgte 36 Zur Auseinandersetzung siehe Diego Quaglioni, „Rovereto nella controversia sui processi agli Ebrei di Trento“, in: Atti dell’Accademia Roveretana degli Agliati A Ser. 6, 28 (1988), S. 117-130; Treue (wie Anm. 5), S. 185-204, bes. S. 200f. Die kommissarische Tätigkeit außerhalb Trients brachte dei Giudici jedoch den Vorwurf eines von Juden bestochenen iudex suspectus ein. Dazu Eckert (wie Anm. 4), S. 342. 37 Vgl. Eckert, „Der Trienter Judenprozeß“ (wie Anm. 8), S. 98. 38 Battista de’ Giudici, Apologia Iudaeorum. Invectiva contra Platinam. Propaganda antiebraica e polemiche di Curia durante il pontificato di Sisto IV (1471-1484). Edizione, traduzione e commento a cura di Diego Quaglioni, Rom 1987 (Roma nel Rinascimento. Inedita 1). 39 Ebd., S. 52. ‚Sie ärgerten sich darüber, dass der apostolische Stuhl einen Kommissar geschickt hat, um deren Wahrheit zu untersuchen, die sie mit falschen Angaben erdichtet hatten.‘ 40 Vgl. Eckert (wie Anm. 4), S. 338. Das Verhör ist in den Prozessakten dokumentiert. Siehe Esposito und Quaglioni (wie Anm. 12), S. 393-404. Dazu auch Treue (wie Anm. 6), S. 179. 41 Ein Abdruck der Bulle findet sich bei Benedetto Bonelli, Dissertazione apologetica sul martyrio del B. Simone da Trento nell’ anno 1475 dagli Ebrei ucciso, Trient 1747, S. 198f. Zur Anerkennung des Prozesses durch die römische Kurie vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 142-152, bes. S. 150. 42 Treue (Anm. 21), S. 344f. 386 Julia Frick erst rund 100 Jahre später (1588) durch Papst Sixtus V. und ist getragen vom Aufschwung des Simon-Kultes während des Trienter Konzils. 43 III. Die literarische Modellierung von Geschichte Die von Hinderbach intensiv geförderten literarischen Bearbeitungen des Trienter Geschehens, deren ungewöhnlich hohe Quantität ein Spektrum von unterschiedlichen Sprachen und diversen Gattungen umfasst, waren von entscheidendem Einfluss auf die mit dezidiertem Wahrheitsanspruch operierende Konstruktion des aktuell Vergangenen. Der Fokus liegt im Folgenden auf dem lateinischen Bericht des Johannes Matthias Tiberinus als wichtigster und einflussreichster Quelle für das ‚Weitererzählen‘ der Trienter Geschichte in der deutschen Sprache. 44 III.1. Johannes Matthias Tiberinus Am 4. April 1475, gerade einmal eine Woche nach Beginn des Prozesses, ließ Tiberinus einen lateinischen Bericht in Form eines Briefes an seine Heimatstadt Brescia erscheinen. 45 Dieser enthielt nicht etwa sein medizinisches, aufgrund der Untersuchung von Simons Leichnam erstelltes Gutachten, 46 sondern präsentierte einen narrativen Handlungsentwurf, der die Vorfälle der Karwoche in einen kohärenten formalen Zusammenhang brachte. Tiberinus organisiert die Ereignisse in Gestalt einer Erzählung und inszeniert diese als verständlichen und zielgerichteten Prozess mit folgerichtigem Ausgang: Die Beratungen der Juden zum Raub eines Christenkindes münden in der Entführung und Marter Simons als Höhepunkt; ihre Inhaftierung erscheint als gerechte Strafe für die Tat. Der minutiös dokumentierte Tathergang wird in einem Gestus des authentischen Tatsachenberichts präsentiert, legitimiert durch die Autorität des Verfassers als liberalium artium et medicinae Doctor (S. 126, Z. 1f.), wie Tiberinus seinen Titel zu Beginn der Schrift selbstbewusst hervorhebt. Gleichwohl konnte er bis zum Zeitpunkt des Erscheinens keineswegs auf gesicherte Ergebnisse der gerichtlichen Untersuchung zurückgreifen; bis zum 4. April hatten zwar die Verhöre von sieben Juden stattgefunden - die allesamt als Angeklagte behandelt, nicht als Zeugen befragt wurden -, jedoch lag noch kein einziges Schuldgeständnis vor. 47 Die modellierte Detailgenauigkeit der Ereignisse im lateinischen Bericht lässt indes keinen Zweifel 43 Zur Entwicklung des Simon-Kultes bis zu seiner offiziellen Erlaubnis vgl. ebd., S. 464-494, bes. S. 487- 494. Der Gedenktag des Simon von Trient war nach der Seligsprechung der 24. März. Vgl. BHL 4 (1900), S. 1124f. Bis dahin wurde er nach dem Vorbild der von Herodes unschuldig getöteten Kinder am 28. Dezember verehrt. Vgl. Eckert, „Der Trienter Judenprozeß“ (wie Anm. 8), S. 96. 44 Er bildet auch die Grundlage für weite Teile der Darstellung von Simons Passion in den Acta Sanctorum. Vgl. AA SS Martii 3 (1668), S. 494-502. 45 Iohannes Matthias Tyberinus liberalium artium et medicine doctor magnificis rectoribus senatui populoque Brixiano salutem, Brescia Sant’Orso [Vicenza]: Hans vom Rin 04.04.1475, GW M47703. Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München (4 Inc.s.a. 1889): http: / / daten.digitale-sammlungen. de/ 0007/ bsb00070636/ images/ (04.05.2018). Zur Edition und Überlieferungsgeschichte vgl. Gaia Bolpagni, Giovanni Mattia Tiberino e la passio beati Simonis pueri tridentini. Edizione e commento, Diss., Mailand 2010/ 2011. Online einsehbar unter: http: / / tesionline.unicatt.it/ handle/ 10280/ 1395 (02.05.2018). Die Zitate des Textes folgen, sofern nicht anders markiert, dieser Ausgabe. 46 Dazu oben S. 381. 47 Siehe Esposito und Quaglioni (wie Anm. 12), S. 153-155. Lediglich Bonaventura, der Sklave Samuels, lieferte ein, wenngleich konfuses Geständnis, bei welchem er allerdings den Christen Johannes ‚Alternative Fakten‘ 387 an der Schuld der Juden aufkommen und ist insofern als Reflex von deren Vorverurteilung durch die Richter zu sehen. Sie spiegelt nicht nur die individuelle Parteilichkeit des Autors für den Trienter Bischof, sondern auch die der führenden Potentaten und der intellektuellen Elite. Der Bericht ist nicht nur konsequent mit biblischen Verweisen und Anspielungen durchsetzt, sondern markiert auch den humanistischen Anspruch seines Verfassers durch eine ganze Reihe an Vergil-Zitaten und -Allusionen. Die so präsentierte ‚offizielle‘ Version der Vergangenheit dürfte von nicht unerheblichem Einfluss auf das Prozessverfahren selbst geblieben sein, bei dem es den Richtern letztlich darum ging, von den Juden unter Folter Geständnisse zu erzwingen, die sich dieser Darstellung fügten. 48 Der Bericht des Tiberinus wurde direkt oder indirekt zur Grundlage für alle weiteren schriftlichen Bearbeitungen des Trienter Geschehens. Allein zehn Neuauflagen im Jahr 1475, darunter in Augsburg, Nürnberg, Köln, Mantua, Rom und Venedig, dokumentieren seine weite Verbreitung. 49 Der zunächst ohne Titel erschienene Text kursierte schon bald unter der Bezeichnung De obitu beati Simonis bzw. Passio beati Simonis, die auf den unmittelbar nach dem angeblichen Ritualmord einsetzenden Kult um den ‚neuen‘ Märtyrer Simon verweist. 50 Die narrative Gestaltung der geschilderten Ereignisse wird im Folgenden exemplarisch an drei im Hinblick auf die interessenspezifische Modellierung von Vergangenheit zentralen Aspekten skizziert, welche die Darstellung der Juden, des Simon sowie die Kommentare des Erzählers betreffen. Tiberinus entwirft ein Bild der Juden, das sie als kalt und berechnend bei der Planung des vastum facinus (S. 128, Z. 44), als geldgierig und bestechlich zeigt: Der Arzt Tobias, dem es als einzigem von Berufs wegen gestattet war, sich in der Zeit von Gründonnerstag bis Ostersonntag auf den Straßen zu bewegen, lässt sich zum Raub des Kindes nur wegen des in Aussicht gestellten Geldes überreden præmium […] propositum (S. 128, Z. 63f.); in einer Reminiszenz an Vergils Aeneis erscheint er als auri ceca cupidine captus (ebd., Z. 64; ‚von blinder Gier nach Gold getrieben‘). 51 Als Entführer des Kindes werden ihm die Attribute proditor (S. 129, Z. 84) und carnifex (ebd., Z. 90) zugeordnet. Die Marter beginnt in Samuels Haus in der Nacht auf Karfreitag in einem Vorraum der Synagoge: Um Schreie des Kindes zu unterbinden, wird es mit einem Tuch gewürgt (S. 131, Z. 119-121); dem ältesten der Juden, Moses, obliegt die Durchführung des Marter-Rituals; aus diesem Grund erhält er deutlich negative Epitheta: crudelis Moyses (Tiberinus [Anm. 45], S. 9), saevissimus […] senex, tanti sceleris caput (S. 131, Z. 134). Als erstes wird die Beschneidung des Simon durchgeführt: Tunc evaginato Moyses gladio summum virgae perforavit infantis (S. 131, Z. 121f., ‚Dann durchschnitt Moses mit einem gezückten Messer die Vorhaut des Kindes.‘). Die übri- Schweizer beschuldigte, das Kind entführt, getötet und in Samuels Haus geworfen zu haben. Dazu Treue (wie Anm. 5), S. 81f. 48 Zum Vorgehen bei den Verhören vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 78-110. Dazu auch Diego Quaglioni, „Giustizia criminale e cultura giuridica. I giuristi trentini e i processi contro gli Ebrei“, in: Rogger und Bellabarba (wie Anm. 15), S. 395-406. 49 Vgl. die Übersicht bei Worstbrock (wie Anm. 3), Sp. 1264f. 50 Vgl. ebd., Sp. 1264. 51 quid non mortalia pectora cogis, / auri sacra fames! (Aen. 3,56f.; ‚Wozu zwingst du nicht sterbliche Herzen, verfluchte Gier nach Gold! ‘). Die blinde Leidenschaft von Dido und Aeneas wird mit der Wendung beschrieben: regnorum immemores turpique cupidine captos. (Aen. 4,194; ‚Sie denken nicht mehr an die Herrschaft und sind in schändlicher Begierde gefangen.‘). Zitate aus Vergils Aeneis hier wie im Folgenden nach P. Vergili Maronis Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger A. B. Mynors, Oxford 1969. 388 Julia Frick gen Juden, reliqui[ ] atrocissimi[ ] Iudæi[ ] (S. 130, Z. 112), beteiligen sich an der Marterung, indem sie das Kind am ganzen Körper mit Messerstichen verletzen und mit einer Zange Fleischstücke herausreißen; das Blut wird dabei in Schalen gesammelt. 52 Schließlich richten die Juden das halbtote Kind kreuzweise auf und traktieren es mit Dornen und Nadeln am ganzen Körper; 53 dazu sprechen sie Flüche gegen die Christen aus. Um die Glaubwürdigkeit des Berichts zu untermauern, gibt Tiberinus den vorgeblich ‚authentischen‘ hebräischen Wortlaut der Flüche und christenfeindlichen Gebete in lateinischen Buchstaben wieder und versieht diese mit einer entsprechenden lateinischen Übersetzung: Collecti [i. e. Iudaei] dicentes: «Tolle Yesse, Mina, Elle parethief Elle pasissen Tegmalen! », quod est: «Sicut Iesum, Deum Christianorum, qui nihil est, trucidemus istum, sic inimici nostri confundantur in aeternum! » (S. 131, Z. 139f.) Die Versammelten sprachen: „Tolle Yesse, Mina, Elle parethief Elle pasissen Tegmalen! “ das heißt: So wie Jesus, den Gott der Christen, der nichts ist, wollen wir diesen schlachten; auf diese Weise sollen unsere Feinde auf ewig beschämt werden. Am Ende des Textes verweist Tiberinus auf weitere gotteslästerliche Praktiken wie die tägliche Schmähung der hl. Jungfrau Maria und nennt zu deren Beglaubigung jüdische Schriften als Quelle: Iudei aeterno statuto decreverunt ut diuinae Eucharistiae beataeque Mariae semper virgini quotidie maledicatur […] idest in tertio libro Talmud (S. 133, Z. 184-188; ‚Die Juden haben in einer ewigen Satzung bestimmt, dass die göttliche Eucharistie und die selige, immer jungfräuliche Maria täglich zu schmähen seien; […] das steht im dritten Buch Talmud.‘). Mit der dezidiert negativen Darstellung der Juden kontrastiert die Charakterisierung des Kindes Simon deutlich. Der Grausamkeit der atrocissimi Iudæi steht der puer benignus (S. 129, Z. 82) gegenüber, dessen äußere Gestalt von vortrefflicher Schönheit ist: tam formosus erat in cunctis, ut in eo non comprehenderetur quod iure reprehendi possit (ebd., Z. 79f., ‚Er war in jeder Hinsicht so schön, dass man an ihm nichts finden konnte, was zurecht getadelt werden könnte.‘). Durch den gelehrt-humanistischen Gestus wird Simon in Analogie zur Identifikationsfigur des julischen Kaiserhauses, Aeneas’ Sohn Ascanius/ Julus, gesetzt: Wie dieser bei der Flucht aus Troja ungleichen Schrittes neben seinem Vater ging, so folgt Simon seinem vorauseilenden Entführer Tobias: Precedit [i. e. Tobias] sequiturque puer non passibus aequis (S. ebd., Z. 83). 54 Damit wird zugleich der Aspekt der Prädestination des Simon subtil eingespielt. Verweise auf seine Heiligkeit begleiten die Marter: et utraque sanctissima illius [i. e. pueri] brachia instar crucifixi violenter extendentes, hortabantur alios ut sacrum illud corpus duris acubus infoderent (S. 131, Z. 136-138; ‚Und sie streckten seine beiden so heiligen Arme, einem Gekreuzigten gleich, gewaltsam aus und forderten die anderen auf, jenen heiligen Körper mit harten Nadeln zu durchbohren‘). Sein Ende wird auf zweifache Weise stilisiert: erstens, nach dem Typus des Märtyrertodes: 52 Colligebant astantes sacrum sanguinem, et alterno ordine, forcipe porecta, quilibet sibi frustulum vivae carnis excidebat (S. 131, Z. 124-126). ,Die Umstehenden sammelten das heilige Blut und ein jeder riss abwechselnd mit ausgestreckter Zange Stücke lebendigen Fleisches heraus.‘ 53 Collecti ergo omnes circum, incipientes a vertice usque ad plantas, illum duris ictibus perforabant (S. 131, Z. 138f.). ‚Die alle ringsum Versammelten fingen also an, jenen vom Haupt bis zu den Füßen mit kräftigen Stichen zu durchbohren.‘ 54 dextrae se paruus Iulus / implicuit sequiturque patrem non passibus aequis (Aen. 2,724). ‚Der kleine Iulus fasste die rechte Hand und folgt dem Vater mit ungleichen Schritten.‘ ‚Alternative Fakten‘ 389 Iam plusquam per horam ministrandus puer terribili duraverat in supplicio et, interdicto spiritu, collapsis viribus deficiebat. Attolens graves oculos in celum, superos advocare videbatur in testes et inclinato capite sanctum Domino reddidit spiritum. (S. 132, Z. 143-145) Schon mehr als eine Stunde lang hatte der verehrungswürdige Knabe in der grässlichen Marter ausgeharrt; nachdem die Kräfte trotz Gegenwehr des Geistes zusammengebrochen waren, verschied er und, die schweren Augen zum Himmel erhebend, schien er die Himmlischen als Zeugen anzurufen: Mit gesenktem Haupt übergab er seinen heiligen Geist dem Herrn. Zweitens, der intellektuellen Physiognomie des Autors entsprechend, unter Rekurs auf klassisch-antike Formmuster (hier: Zitat aus Aen. 9,435-437 mit dem Tod des Euryalus): Purpureus veluti cum flos succisus aratro languescit moriens lapsave papavera collo, demisere caput pluviae cum forte grauant. (S. 132, Z. 148-150) Wie eine vom Pflug abgeschnittene Purpurblume sterbend erschlafft und wie der Mohn mit gesenktem Hals das Haupt neigt, wenn er einmal vom Regen niedergedrückt wird. Schließlich wirkt der Leichnam nach der Überführung in die Kirche St. Peter täglich Wunder: ubi, maxima languentium confluente frequentia, multis maximisque in dies miraculis fulget [i. e. cadauer Simonis] (S. 133, Z. 176-178; ‚Wo Simons Leichnam jeden Tag durch zahlreiche und sehr große Wunder erstrahlt, während eine gewaltige Menge an Kranken zusammenströmt.‘). Die Erzählerkommentare haben die Funktion, die Folgerichtigkeit der berichteten Ereignisse zu garantieren. Gleich zu Beginn des Textes bezieht Tiberinus das Geschehen in den göttlichen Heilsplan ein: Gott habe das Verbrechen ans Licht gebracht, um die Juden aus dem ganzen Erdkreis zu vertreiben: [Q]uam [i. e. rem] nuper his diebus elapsis, Dominus noster Iesus Christus […] tandem produxit in lucem, ut catholica fides nostra, si qua in parte debilis est, fiat tamquam turris fortitudinis et antiqua Iudaeorum rabies toto ex orbe christiano deleatur et de terra viventium eorum penitus memoria pereat. (S. 126, Z. 5-10) Dieses Ereignis hat unser Herr Jesus Christus in den eben erst vergangenen Tagen endlich ans Licht gebracht, damit unser ‚katholischer‘ Glaube, auch wenn er in irgendeinem Teil geschwächt ist, gleichsam zum Turm der Stärke werden und damit die alte jüdische Wut aus dem gesamten christlichen Erdkreis ausgelöscht und die Erinnerung an ihr Leben vollständig von der Erde gestrichen werden soll. Jüdische Ritualmorde werden als verbreitete Praxis zur Verhöhnung des christlichen Glaubens ‚entlarvt‘: Crudeles Iudaei non solum Christianorum res rabiosa usurarum fame consumunt, sed, in capita nostra perniciemque coniurati, filiorum nostrorum vivo sanguine depascuntur, quos atroci in synagogis suis affligunt supplicio et instar Christi crudeli funere iugulant. (S. 126, Z. 13-17) Die grausamen Juden vertilgen nicht nur den Besitz der Christen in reißendem Hunger nach Zinsen, sondern, zu unserem Tod und Untergang verschworen, ernähren sie sich vom lebendigen Blut unserer Söhne, denen sie in ihren Synagogen grässliche Martern zufügen und gleich Christus durch einen grausamen Mord schlachten. 390 Julia Frick Der Bekräftigung dieses Sachverhalts dienen Vergleiche, die die Juden mit blutrünstigen Tigern, Drachen oder nach Christenblut gierenden Wölfen assoziieren. 55 Im letzten Abschnitt des Textes finden sich Ansprachen an die christliche Gemeinde, 56 in denen der Mord an Simon sowie dessen Heiligkeit als Faktum dargestellt werden: Gloriosus Simon, virgo, martyr et innocens […] in contemptum nostrae fidei a Iudaeis est extensus in cruce (S. 133, Z. 181-183; ‚Glorreicher Simon, jungfräulich, Märtyrer und Unschuldiger, der zur Verachtung unseres Glaubens von den Juden gekreuzigt worden ist‘). Durch die wiederholte Verwendung des Pronomens nos wird eine Gemeinschaft der Christen imaginiert, in die der Erzähler sich einreiht, wenn er das Geschehen letztlich als gerechte Strafe Gottes für die Duldung der Feinde Christi unter seinem Volk deutet: Non est mirum, Christicole, si nos bello, fame, siti, grandine, pruina Christus affligat […] cum patimini inter nos regnare inimicos eius (S. 134, Z. 205-208; ‚Es ist nicht verwunderlich, ihr Christen, wenn uns Christus mit Krieg, Hunger, Durst, Unwetter und Frost schlägt, da wir unter uns die Herrschaft seiner Feinde dulden‘). Zur Bekräftigung des dargestellten Sachverhalts ist dem Druck ein Wunderbericht beigegeben (Tiberinus [wie Anm. 45], S. 13). 57 Im Folgejahr 1476 erschienen unabhängig voneinander zwei deutsche Übersetzungen des Tiberinus-Berichts (Augsburg: Günther Zainer 1476, GW M47722; Ulm: Friedrich Creussner 1476, GW 47725), die im Wesentlichen eine recht getreue Wiedergabe des lateinischen Textes bieten. 58 Tiberinus selbst brachte nach Prozessende auf Veranlassung Hinderbachs eine vervollständigte, um die Foltern, Verurteilung sowie Hinrichtung der Juden ergänzte Version des Berichts heraus: die Historia completa de passione et obitu pueri Simonis, die am 9. Februar 1476 in Trient gedruckt worden ist. 59 III.2. Die deutschsprachigen Bearbeitungen Hinderbach ließ so früh wie möglich nicht nur mit lateinischen, sondern auch mit volkssprachigen Texten agitieren. 60 Die erste deutschsprachige Publikation zum Trienter Geschehen ist das 444 Verse umfassende Ereignislied des Matthias Küng. 61 Es muss noch vor Mitte Juni 1475 entstanden und im Druck erschienen sein (Santorso: Johannes Renensis, GW M16478), da die ersten Hinrichtungen, die zwischen dem 21. und dem 23. Juni stattfan- 55 Samuel beim Anblick des Kindes: Hic Samuel, veluti tigris expectans ad sanguinem, corripiens puerum (S. 129f., Z. 94f.; ‚Da ergreift Samuel wie ein nach Blut gierender Tiger den Knaben‘); alle anderen Juden heulen vor Freude: Praetereo hic quanta tunc dracones illi sunt affecti laetitia: ululabant, siccis faucibus super christianum sanguinem (S. 130, Z. 95-97; ‚Außerdem wurden sogleich jene Drachen von so großer Freude erfüllt, sie heulten aus dürstenden Kehlen wegen das christlichen Blutes‘). 56 Ecce, fidelis christiane, Iesum inter latrones rursum crucifixum! (S. 133, Z. 179; ‚Siehe, gläubiger Christ, Jesus ist wiederum zwischen den Räubern gekreuzigt worden‘); Ecce quid facerent Iudaei si inter Christi fideles haberent imperium! (ebd., Z. 180; ‚Siehe was die Juden tun würden, wenn sie unter den an Christus Glaubenden die Herrschaft hätten‘). 57 Das erste Wunder soll bereits drei Tage nach Simons Auffindung, am 31. März 1475, bewirkt worden sein. Vgl. Spengler (wie Anm. 19), S. 217. 58 Dem Text im Zainer-Druck sind 13 Holzschnitte beigegeben, die die einzelnen Stationen der Handlung prägnant ins Bild setzen. Vgl. dazu Worstbrock (wie Anm. 3), Sp. 1265. 59 Johannes Matthias Tiberinus, Historia completa de passione et obitu pueri Simonis, Trient: Albrecht Kunne 09.02.1476, GW M47718. Vgl. dazu Bolpagni (wie Anm. 45), S. 46-49. 60 Vgl. die Übersicht der Texte bei Worstbrock (wie Anm. 3), Sp. 1270-1274. 61 Es ist abgedruckt bei Liliencron (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 13-20. Zur historisch-politischen Ereignisdichtung vgl. Karina Kellermann, Abschied vom ‚historischen Volkslied‘. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung, Tübingen 2000 (Hermaea 90). ‚Alternative Fakten‘ 391 den, unerwähnt bleiben. 62 Der sonst nicht nachgewiesene Küng, der Hinderbach zweimal seinen Herren nennt (V. 336; 340), dürfte am bischöflichen Hof zu Trient tätig gewesen sein. Küngs Zeitgedicht orientiert sich in wesentlichen Punkten an der Darstellung des Tiberinus, 63 bietet jedoch an einigen Stellen darüber hinausgehende Angaben, die auf die Einsicht in die Prozessakten oder auf eine nicht mehr näher definierbare Mitwirkung beim Prozess hindeuten. 64 Das Gedicht enthält die Ereignisse bis zum Tod des Kindes (V. 1-160), die Gefangennahme und Folter der Juden (V. 161-294), die Wundertätigkeit des Leichnams (V. 294-334), schließlich eine Widmung an den Bischof (V. 335-364) sowie ein Lob der für die Durchführung des Prozesses verantwortlichen Trienter Beamten (V. 365-424). Wahrheitsbeteuerung und Fürbitte schließen den Text ab (V. 425-444). Im Folgenden soll die narrative Organisation des Erzählten im Hinblick auf die bereits genannten drei Aspekte untersucht werden. Die falschait (V. 17) der Juden, insbesondere im Hinblick auf den Glauben (snöde Juden im glauben plint, V. 82), durchzieht leitmotivisch den gesamten Text: Tobias, der vermeintliche Entführer des Kindes, missbraucht das Vertrauen, das die Christen ihm als Arzt entgegenbringen: die Christen tuent mirs [i. e. eine solche Tat] nit vertrauwen (V. 54); er geht sowohl bei der Entführung als auch beim Fund der Leiche mit großem neid (V. 56), valschhait (V. 59), falsche[m] sinn (V. 195) vor; der die Suche nach einem Christenkind fokussierende Reim: das tet er [i. e. Tobias] mit falschen listen / unde fand da ain edelen Cristen (V. 61f.) verdichtet in pointierter Anschaulichkeit den im Text systematisch entwickelten Gegensatz von jüdisch (‚falsch‘) und christlich (‚gut‘ bzw. ‚rein‘). An der Marter des Simon beteiligt sich die gesamte Gemeinde (jung vnd alt, V. 96); die Kollektivschuld der Juden wird durch die Namensnennung einzelner Mitglieder markiert. Der Tathergang des Ritualmords gipfelt im Backen der Mazzen, denen das Blut des Kindes beigemischt ist; ein Vorgang, der allgemeine Freude erregt: Sie hetten den selben tag prot gepachen und heten freid und hochen mut; sie satzen in den ofen das kristenplut und ruertens under ainander do, des wurdens all von herzen fro. (V. 144-148) 62 Die öffentliche Hinrichtung wurde durch den Tod auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib vollzogen: „Am 21. Juni wurden Samuel, sein Sohn Israel, Angelus und Tobias verbrannt, am folgenden Tag Vitalis und Mohar. Am 23. enthauptete man die beiden Bonaventura, die zuvor die Taufe verlangt hatten und daher strafmildernde Umstände erhielten.“ Treue (wie Anm. 5), S. 85. Der älteste der jüdischen Gemeinde, Moses, war am 18. Juni in Kerkerhaft gestorben. Vgl. Esposito und Quaglioni (wie Anm. 12), S. 366. Siehe auch Julius H. Schoeps, „Justizfolter und Geständnis. Der Trienter Ritualmordprozess von 1475“, in: ZRGG 49/ 4 (1997), S. 377-881, bes. S. 379. 63 Auch kleinere Details, mit denen Tiberinus’ Text aufwartet, sind übernommen (vgl. Tiberinus [wie Anm. 45], S. 7): So z. B. wird Lazarus, Samuels Sklave, als erster gefragt, die Entführung des Kindes um Gold als Lohn zu verüben; er sagt ab und verlässt die Stadt (V. 26-34). Erst danach fällt die Wahl auf Tobias. 64 Im Zusammenhang mit den Versuchen der Juden, die Tat zu verbergen, wird berichtet, der Koch habe das tote Kind in die Etsch tragen sollen, vermochte es aber nicht hochzuheben. An dieser Stelle verweist Küng darauf, dass sich dieser Vorgang nicht im in den Prozessakten niedergelegten Geständnis findet (doch stet es nit in der vergicht V. 180). 392 Julia Frick Den Kontrast zu den snöde[n] (V. 82; 102), falschen (V. 79) und vnrein[en] (V. 102) Juden bildet das liebe (V. 81), salig edele kindelin (V. 84). Simon wird als Märtyrer stilisiert (vor got ain marterere, V. 126), der als miles christianus für seinen Glauben gelitten habe: Das kind gund so ritterlichen streiten (V. 153). Während die Anrufung um Beistand zu Beginn des Gedichts an den Hl. Geist gerichtet ist (V. 1), avanciert Simon mit seinem inszenierten Märtyrertod zum Objekt der Gebete: Steur mich, du liebs edels kindelin (V. 158). Die geschilderten Wunder sollen, bezeugt durch die Augenzeugenschaft des Autors (das ich auch selbs gesehen hab, V. 299), die Heiligkeit und Verehrung des ‚neuen‘ Märtyrers legitimieren, deren Förderung Bischof Hinderbach über das Prozessende hinaus intensiv gegenüber Kritikern durchzusetzen versuchte. 65 In Küngs Gedicht fungiert insbesondere das Wunder um Zanesius Schweizer, den Battisto dei Giudici sowie die Juden des Mordes an Simon verdächtigten, als göttliche Offenbarung: Schweizers Eisenfesseln sollen sich unter Anrufung des seligen Kindes Simon und des heiligen Sakraments gelöst haben (V. 348-364). Das groze[ ] zaichen (V. 358) manifestiert die Schuld der Juden und damit die faktische Wahrheit des Erzählten. Der Erzähler tritt immer wieder durch Kommentare und Ausrufe hervor. Dazu gehört die Berufung auf die wahrheitsgetreue Darstellung der Ereignisse (warhait, V. 13; 75), die immer wieder auf mündliche Quellen referiert (das ich von Juden hab gehort, V. 10f.; 64; 71). Indem Küng internes Wissen, z. B. den Dialog zwischen Tobias und dem Bischof sowie Tobias und dem Capitaneus bezüglich der Auffindung des toten Kindes, fingiert (V. 197-242), setzt er seine Autorität als Mitarbeiter am bischöflichen Hof gezielt ein, um die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung zu verstärken. Dabei konstituiert die Verwendung des Pronomens ‚wir‘, analog zum lateinischen Bericht des Tiberinus, die Solidarität eines gemeinsamen Kollektivs: Die Juden saumpten sich nit lang, wie daß sie uns wolten überlisten und mit falschait ir leben fristen. (V. 188-190) Der Text arbeitet außerdem mit Ausrufen (owe, wafen), die immer wieder die Narration unterbrechen und als Marker der öffentlichen Anklage einen rechtlichen Aspekt hineinzitieren: z. B. beim Bericht von der Marter des Kindes: und habens gestochen und geslagen / das wil ich allen Cristen clagen! (V. 113f.); oder nach den Geständnissen der Juden: Darumb so wil ich schreigen wafen! (V. 261); so muß ich über sie schrien mord! (V. 269). Der erste Teil des Gedichts schließt mit einer Anrufung an Capitaneus und Stadtrat, die Juden nach dem geltenden Recht zu bestrafen (alle recht solt auß euch fließen, V. 275) sowie sich nicht bestechen zu lassen (und nempt weder silber noch das gold, V. 281). Der Appell an Herzog Sigismund von Tirol, jedweden Bestechungsversuchen der Juden zu widerstehen (V. 289-291), dürfte vor dem Hintergrund von dessen Intervention in den Prozess zu sehen sein und auf die Durchsetzung der Interessen des Trienter Bischofs zielen. Küngs Ereignisgedicht dokumentiert mit seiner Aktualität sowie unverhüllten Tendenz und Parteinahme für Hinderbach den Versuch einer Einflussnahme auf das politische Tagesgeschehen mittels literarischer Modellierung von Vergangenheit. 65 Zum komplizierten Verfahren der Anerkennung Simons als Märtyrer vor der römischen Kurie vgl. Treue (wie Anm. 5), S. 124-142. ‚Alternative Fakten‘ 393 Am 6. September 1475 erschien als weitere Narrativierung von Geschichte die vom Trienter Drucker Albrecht Kunne besorgte deutsche Prosa-Historie. 66 Sie repräsentiert das erste Erzeugnis seiner Offizin, die wohl erst auf Anregung Bischof Hinderbachs in Trient eingerichtet worden ist. 67 In der Frühphase brachte Kunne hauptsächlich Werke aus dem Umfeld des Judenprozesses heraus, z. B. die bereits erwähnte Historia completa des Tiberinus am 9.2.1476. Dass auch die Hystorie von 1475, wenn nicht im Auftrag, so doch unter Einfluss des Trienter Bischofs entstand, dokumentiert dessen ausdrückliches Lob angesichts seiner Verdienste um den toten Simon: vnd der pischoff von Trient vnder dem das selige kint ist funden worden der knijet vor dem kint sein nam haist her Hans hinterbach den got bewar vor allem vbel wan er grossen fleijß in dissen sachen ghetan hat (Bl. 10 r ). Bemerkenswert ist die Anlage des Druckes: Er ist in 13 Kapitel gegliedert, die - bis auf das letzte epilogartige - jeweils eine Bildseite sowie eine dieser gegenübergestellte Textseite umfassen (Abb. 1a/ b). Jedes Kapitel enthält drei Artikel, die auf eine Überschaubarkeit und Einprägsamkeit des Textes zielen, dessen Kernaussage im visuellen Medium verdichtet wird. Mit dieser didaktischen Aufbereitung korrespondiert der belehrende Gestus des Erzählers, der zu Beginn jedes Abschnitts eine kurze Zusammenfassung bietet und die besonders relevanten Aspekte mit der Formulierung zu merken ist/ sind (Bl. 2 r et passim) kennzeichnet. Die auf iterierende Wiederholung angelegte, aus einem erzählenden Teil und einer Vergegenwärtigung im Modus der Andacht sich konstituierende Struktur des Textes wirkt über das jeweilige Text-Bild-Ensemble hinaus kohärenzstiftend und stellt dem Rezipienten geradezu die Möglichkeit einer kontemplativen Lektüre bereit. Die Historie setzt die Kenntnis um die Trienter Geschehnisse voraus, denn - anders als im lateinischen Bericht des Tiberinus und in Küngs Ereignislied -- bietet der Text keine einführenden Angaben, sondern setzt in medias res ein: mit der Beratung der Juden als Anfangsszene. Bereits im ersten Kapitel wird die Ritualmordpraxis unter Berufung auf ein während eines spanischen Konzils beschlossenes Gesetz zur Eindämmung der Christenheit in der jüdischen Kultur verankert (Bl. 2 r ). Zugleich legt der Verfasser Wert darauf, die Analogie von Simons Marter zum Leiden Christi herauszuarbeiten: wer auch mercken wil der sicht wol das liebe kint gemartert ist in aller maß der czeit stund vnd tagen also vnser her ihesus gemartert ist worden (Bl. 2 r ). Simon wird explizit zum Nachfolger Christi stilisiert: Hie wol zu mercken ist aine nach volgung des neuwen marteler der marter vnsers heren ihesu (Bl.-3 r ). Erzählerkommentare stellen in einem eindringlichen Gestus der compassio die Marter des Kindes vor Augen: Betracht ouch Cristen mensch die marter des seligen kindes vnd sein pitters leiden betracht die smachait Cristliches gloubens von der poszhait der iuden die von allen gliddern wolten des kindes plut vergiesen vnserem heren zu smocheit. (Bl. 5 r ) 66 Hystorie von 1475, Trient: Albrecht Kunne 6.9.1475, GW M42239. Im Folgenden zitiert nach der neuzeitlichen Foliierung des Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München, 2 Inc.s.a.62#Beibd.1. Vgl. dazu Spengler (wie Anm. 19), S. 218-224. 67 Vgl. Eckert, „Aus den Akten“ (wie Anm. 8), S. 287. Zu Kunne, der aus dem niederländischen Duderstadt stammte und nach seiner Tätigkeit in Trient (1474-1476) die erste Offizin in Memmingen gründete, vgl. Falk Eisermann, „Alles Wissen auf einen Blick. Figura omnes scientias et artes in unam radicem reducens“, in: Als die Lettern laufen lernten. Medienwandel im 15. Jahrhundert. Inkunabeln aus der Bayerischen Staatsbibliothek München, red. von Bettina Wagner, Wiesbaden 2009 (Bayerische Staatsbibliothek München. Ausstellungskataloge 81), S. 190; Ferdinand Geldner, Die deutschen Inkunabeldrucker. 2 Bde: 1. Das deutsche Sprachgebiet. 2. Die fremden Sprachgebiete, Stuttgart 1968-1970, hier Bd. 1 (1968), S. 232. 394 Julia Frick Abb. 1a/ b: München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 Inc. s.a. 62#Beibd.1, Bl. 1 v / 2 r Diese und ähnliche Verweise auf die gotteslästerliche Handlung und Haltung der Juden, wie auch die nach dem Vorbild von Tiberinus’ Bericht zu beobachtende Wiedergabe der gegen die Christen gerichteten hebräischen Flüche ins Deutsche (Bl. 6 r ), dürften im Kontext der Unterbrechung des Prozesses durch den Papst nach der ersten Hinrichtungswelle im Juni 1475 zu sehen sein. Sie scheinen zur nachträglichen Legitimierung der Hinrichtungen ‚Alternative Fakten‘ 395 konzipiert, indem das Römische Recht geltend gemacht wird, das Verbrennung als rechtmäßige Strafe für Blasphemie vorsieht: Hie ist aber den iuden das fuer zu gheteilt nicht durch er begher sunder durch das recht. also felscher des gloubens ausz den kaiserlichen rechten (Bl. 12 r ). Die Ereignisse werden als Teil von Gottes Heilsplan mit den Menschen gedeutet: so ist doch gottes krafft groeslich do erschinnen das das selig kint solt funden werden vnd sin plut solte gherochen werden (Bl. 8 r ). Im letzten Kapitel, das eine Art Epilog bietet, beruft sich der Verfasser mit dem Verweis auf die mündliche lantmer (Bl. 14 r ) aus rechtshistorischer Perspektive auf die lokale Trienter Tradition der fama publica, 68 nennt aber zusätzlich zu deren Authentifizierung die Prozessakten als Quelle. Diese garantieren die objektive Richtigkeit und Wahrheit der ‚Historie‘, nicht nur in ihrer schriftlichen, sondern auch in ihrer visuellen Form: Dise aufgedrukchte geschrift vnd gemel ist vngeuerlichen beschehen von dem auffdrugkeren vnd maleren in aller der masz wie sie das lantmer weise vnde von dem gemainen volk in der stat zu Trient gesagt vnde geblaten ist worden da mit der warhait der hystorie nicht abgenomen noch verzigen als die in den gerichts pucheren vnd auffschriben vermerket vnd aus geschriben ist. Dar auff wir vns gancz setzen vnd disse vnser geschrifte vnd gemele schriben vnd verlassen [lies: verfassen]. (Bl. 14 r ) Die Hystorie von 1475 ist der erste Text, der zu den Trienter Ereignissen ein durchgängiges Bild- Narrativ der ‚Passio Simonis‘ bereitstellt. 69 Es bildet die Grundlage der späteren Simon-Ikonographie, die in zahlreichen Einblattdrucken Verbreitung fand, die die politische Instrumentalisierung des Trienter Falles dokumentieren. Die prägnante Formulierung der aktuellen Thematik wird dabei jeweils mit einem einprägsamen Holzschnitt kombiniert. Die solchermaßen auf engem Raum vollzogene Modellierung von Vergangenem soll an zwei Beispielen skizziert werden. Im sog. Nürnberger Simon-Gedicht (Abb. 2) wird die Marter des Simon „ebenso als exemplarische posheit der Juden wie als Wiederholung der Passion Christi“ dargestellt: 70 Und starb creutzweiß am karfreitag in der not. Umb die zeit als cristus am creutze starb tot. / Und wart gefunden des ostertags in der frist. als cristus vom tod erstanden ist. 71 Der Prozess gegen die Juden wird nicht erwähnt, im Zentrum steht vielmehr die heilsgeschichtliche Dimension des Geschehens. Das Bild im unteren Drittel des Blattes zeigt das Opfer Simon tot aufgebahrt mit den blutenden Wunden und den Marterwerkzeugen (Messer, Zange, Nägel; auch sind Nadeln an Simons Kopf so präpariert, dass sie einer Dornenkrone gleichen); neben dem ‚neuen‘ Heiligen befinden sich verschiedene Votiv-Gaben sowie herannahende Pilger und Kranke. Der Blick des Rezipienten wird auf die Wundertätigkeit Simons als eines die ‚historischen‘ Vorgänge legitimierenden Beweises perspektiviert. 72 Die Hystorie von 1475 bietet ein entsprechendes Motiv zu dieser Szene (Abb. 3). 68 Der fama publica wurde im Trienter Recht ein hoher Stellenwert beigemessen: „So genügte, den Trienter Statuten zufolge, etwa die fama publica im Fall einer Vaterschaftsklage schon zur Anerkennung der Vaterschaft.“ Treue (wie Anm. 5), S. 201. 69 Vgl. Spengler (wie Anm. 19), S. 222. Details aus dem Tiberinus-Bericht sind in die Ikonographie eingegangen: z. B. das Tuch, mit dem Simon von Samuel gewürgt wird, um Schreie zu unterbinden (Et apprehendens sudarium Samuel, quod sibi pendebat a latere, colloque circumvolvens, comprimebat puerum, ne vagitus effuderet: S. 131, Z. 119-121; ‚Da nahm Samuel ein Tuch, das an seiner Seite hing, und wand es um den Hals, damit der Knabe keinen Laut von sich ließ‘). 70 Worstbrock (wie Anm. 3), Sp. 1273. Der Einblattdruck wurde der Nürnberger Ausgabe der Tiberinus- Übersetzung (GW M47725) beigebunden und hat sich so erhalten. 71 Der Text des ‚Nürnberger Simon-Gedichts‘ (nach 04.04.1475, GW M47725) wird nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München zitiert (Rar. 338). 72 Vgl. Spengler (wie Anm. 19), S. 224. 396 Julia Frick Abb. 2a/ b: München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 338, nach Bl. 6 r Abb. 3: München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 Inc. s.a. 62#Beibd.1, Bl. 9 v ‚Alternative Fakten‘ 397 Das vermutlich bei Johann Zainer erschienene sog. Ulmer Simon-Gedicht (1498/ 1502) 73 unterscheidet sich vom Nürnberger signifikant sowohl hinsichtlich der narrativen Gestaltung des Textes als auch der Bildikonographie: Im Fokus steht das individuelle Erleben des Kindes, das in der Form von dessen Sermocinatio in 81 Reimpaaren präsentiert wird. Diese Perspektive ist freilich nicht neu und dürfte ein Klagelied des Tiberinus auf Simon zum Vorbild haben: die im Anhang der Historia completa abgedruckten, aber auch als separater Einblattdruck kursierenden Lamentationes. 74 In emotionaler Ansprache des Rezipienten schildert das Kind in der Ich-Rede seine Herkunft, Entführung und in besonders eingängiger Form die Passion, wobei die Erbarmungslosigkeit der Juden stets in deutlichem Kontrast zur Unschuld des leidenden Knaben präsentiert wird. Am Ende des Gedichts ruft der hl. Simon zu seinem Gedenken auf und stilisiert sich als Fürsprecher aller bittenden Christen bei Gott: Darumb ir werden cristen leüte mein grosse marter ich eüch bedeüte Die ich vmb vnschuld erlitten han nun lat eüch die zuo hertzen gan Vnd gedencket an das sterben mein so wil ich ewer trewer versprecher sein Wol gegen dem almechtigen got der mag vns wol helffen auß aller not Vnd maria die heylig iunckfraw klar die helff vns an der engel schar Das wir vns dort frölichen samen in dem ewigen hymelreich sprecht amen (V. 151-162) Im Vergleich zum Nürnberger Einblattdruck liegt der Fokus also weniger auf Simons Wundertätigkeit, sondern vielmehr auf der Glorie des Auferstandenen, wie es der dem Text beigegebene kleine Holzschnitt ins Bild setzt (Abb. 4). Er zeigt den Simon triumphans mit Heiligenschein, Standarte sowie den Marterwerkzeugen. Die früheste, freilich ganz anders geartete Darstellung dieses Typus findet sich im Einblattdruck von Tiberinus’ Lamentationes. Auf einen Kopiervorgang bei der Anfertigung des Ulmer Holzschnitts deuten die in Spiegelschrift präsentierten Buchstaben B[eatus] S[imon] hin (Abb. 4). Weil der Ritualmordprozess selbst keine Erwähnung mehr findet, ist eine Tendenz zur Loslösung der ‚Heiligenvita‘ Simons aus dem Prozesskontext zu beobachten. 73 Vgl. Wilhelm L. Schreiber, Formschnitte und Einblattdrucke in der königlichen Bibliothek zu Berlin, Straßburg 1913, S. 17f. 74 Im Druck unter dem Titel: Epitaphium gloriosi pueri Symonis tridentini noui martiris, Trient: Albrecht Kunne [um 1476], GW M4223910. Digitalisat: http: / / kk.haum-bs.de/ ? id=xv-einbl-ab3-0047 (04.03.2020). Auffällig ist z. B. der identische Textbeginn: Sum puer ille Simon (Lamentationes, V. 1) und Simon ain kind bin ich genant (Ulmer Simon-Gedicht, V. 1). Zum Epitaphium selbst siehe Christine Magin und Falk Eisermann, „Two Anti-Jewish Broadsides from the Late Fifteenth Century“, in: The Woodcut in Fifteenth-Century Europe, hg. von Peter Parshall, New Haven/ London 2009 (Studies in the History of Art 75/ Center for Advanced Study in the Visual Arts Symposium Papers 52), S. 190-203. 398 Julia Frick Abb. 4: Wilhelm L. Schreiber, Formschnitte und Einblattdrucke in der königlichen Bibliothek zu Berlin, Straßburg 1913, S. 19 IV. Resümee Auch wenn die verschiedenen Darstellungen des Geschehens um Simon von Trient einem „relativ konstanten Motiv-Ensemble folgen“, 75 so sind die Modellierung von Vergangenheit sowie die Beglaubigungsstrategien der einzelnen Texte durchaus unterschiedlich funktionalisiert und vom konkreten politischen Tagesgeschehen abhängig: Von der Legitimierung des Prozesses bzw. der Hinrichtungen, über die Nachbildung der Passio Christi bis hin zur 75 Spengler (wie Anm. 19), S. 330. ‚Alternative Fakten‘ 399 Verherrlichung des neuen Märtyrers. Die literarischen Konstruktionen vermögen dabei das Spannungsverhältnis von faktisch vorgefallener ‚Geschichte‘ und der tendentiell uneindeutigen Phänomenevidenz nur scheinbar zu harmonisieren. Die in den Texten zu beobachtenden spezifischen Gestaltungsparameter lassen vielmehr das Bemühen erkennen, interpretative Freiräume durch ein als kohärent präsentiertes Narrativ zu beseitigen. Die Semantisierung des Erzählten differiert je nach Kontext und sprachlich-stilistischem Register: In der die Gelehrtengemeinschaft adressierenden Latinität dominiert der gesuchte Anschluss an Autoritäten der römischen Antike neben hagiographischen Traditionen, während das Erzählen in der Volkssprache zwischen ereignisbezogener Dichtung, Historiographie und Legende changiert. Graduelle Differenzen, subtile Nuancierungen auch und gerade in der medialen Aufbereitung der Texte verweisen auf ein offenbar virulentes Interesse daran, eine möglichst hohe Akzeptanz der literarisch modellierten ‚Geschichte‘ in unterschiedlichen Rezeptionskontexten zu erreichen. Ziel ist die Instrumentalisierung der als faktische Wahrheit konstruierten Vergangenheit im Hinblick auf die Durchsetzung einer dezidiert politisch motivierten ‚Lesart‘. Deren rasche Aufnahme in zeitgenössische Weltchroniken, z. B. in die diejenige Hartmann Schedels (vgl. Abb. 5), dokumentiert den durchschlagenden Erfolg der von zahlreichen Literaten im Namen Hinderbachs betriebenen publizistischen Agitation. In diesem Sinne erweist sich die literarische Verarbeitung des Prozesses um Simon von Trient als Modellfall, an dem die grundsätzliche Problematik des Erzählens von Geschichte beobachtbar wird. Das individuelle machtpolitische Kalkül des Trienter Bischofs Hinderbach dominiert das literarische Kontinuum auf eine geradezu systematisch koordinierte Weise. Damit hängt der Aspekt der Stiftung von kollektiver ‚Erinnerung‘ bzw. kollektivem Gedächtnis unmittelbar zusammen: Literarisch modellierte Formen von Inklusion und Exklusion konstituieren ein Identitätsparadigma, das zur polemischen Abgrenzung des ‚Eigenen‘ gegenüber dem ‚Fremden‘ fungiert. Dass dessen Herausbildung nur über textspezifische Strategien des Fokussierens und der Auswahl möglich ist, lässt sich an den verschiedenen Narrativen zum Trienter Judenprozess von 1475 historisch signifikant beobachten: Sie sind getragen von der Tendenz zur aktiven Tilgung alternativer Sinnpotentiale, zum ‚Überschreiben‘ der als ungewollt betrachteten Informationen im Akt literarischer Produktion. Und sie können nur insofern Deutungsautorität beanspruchen, als sie jederzeit ihren literarisch konstruierten Bezugshorizont zu erkennen geben. Für das Phänomen ‚Geschichte erzählen‘ bedeutet dieses bewusste Zurückweisen von Alternativen freilich eine - im Hinblick auf den fokussierten Modellfall - heikle Konstellation, die die Übergängigkeit von ‚faktischer‘ Vergangenheit und politisch grundierter Instrumentalisierung exemplarisch markiert. Die Literatur entfaltet eine Eigendynamik narrativen, rhetorischen und kommentierenden Zugriffs, die den problematischen Status des Erzählens von Geschichte und damit der ‚erzählten Geschichte‘ selbst unmittelbar ausstellt. 400 Julia Frick Abb. 5: München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 287, Bl. 254 v ‚Alternative Fakten‘ 401 Geschichtsschreibung im historischen Kontext The Hohenstaufen and the Shape of History 403 The Hohenstaufen and the Shape of History Len Scales Modern interest in the Hohenstaufen era in Germany and the modern academic study of medieval German literature have a common root, in the Napoleonic period and in the years following Napoleon’s downfall. It is a conjunction well illustrated by the life of a today largely-forgotten founding giant of medieval German literary studies: Hans Ferdinand Maßmann - a correspondent of the Grimms and an early editor, alongside much else, of the Sachsenspiegel and the Kaiserchronik. 1 Born in 1797 as the son of a Berlin clockmaker, Maßmann was to have a remarkable career, encompassing poetry, pedagogy, and political agitation, alongside medieval German philology. A disciple of Turnvater Ludwig Jahn, he would devote his later years to invariably fruitless attempts at persuading the German princes to introduce public gymnastics, to fortify the people in body and patriotic spirit. Maßmann had been present at the festivities on the Wartburg in October 1817, where he had instigated the notorious nocturnal burning of purportedly unpatriotic books, including copies of the Code Napoleon. 2 This hothead reputation was to prove a career obstacle to the youthful Maßmann, with Freiherr vom Stein personally vetoing his application to join the recently-founded Monumenta Germaniae Historica. With age eventually came respectability, however, and chairs at the universities of Munich and Berlin. And youthful radicalism lay far in the past when, in January 1850, Maßmann addressed the Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache on the subject of Frederick Barbarossa in the Kyffhäuser. 3 By now a loyal servant of the king of Prussia, he judged the moment auspicious for his lecture, with the Prussian-sponsored Erfurt Union - an attempt by the princes to steer the revolutionary spirit of 1848 into safely monarchist channels - about to convene in a town visible from the summit of the myth-laden Kyffhäuser mountain itself. 4 Maßmann left his audience in no doubt about the contemporary relevance of his subject-matter. He linked Barbarossa’s Hohenstaufen dynasty to the contemporary Prussian Hohenzollerns. He identified the Hohenstaufen emperors as inaugurating a proto-Protestant drive for church reform that would later be taken up by Luther, and that he hoped would soon reach a final fruition in a united Germany. Yet the mythologized, subterranean Barbarossa was also for Maßmann essentially one of the old Germanic gods, in thinly Christianized form. And the 1 For what follows, see Joachim Burkhard Richter, Hans Ferdinand Maßmann: Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert, Berlin/ New York 1992 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker-224 [N. F. 100]). 2 Günther Steiger, Urburschenschaft und Wartburgfest: Aufbruch nach Deutschland, Leipzig u. a. 2 1991, S. 122-124. Characteristically, Maßmann later compared his action with Luther’s burning of papal bulls and canon-law books. 3 H[ans] F[erdinand] Maßmann, Kaiser Friedrich im Kiffhäuser: Vortrag, gehalten am Stiftungsfeste der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache, Quedlinburg/ Leipzig 1850. 4 Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland: Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin 1990, S. 296-300. Kyffhäuser itself, he emphasized, was but one of many such magic mountains, scattered throughout the German-speaking lands, the mythic abodes of monarchs and heroes, who down the centuries had offered a hope to the common people more potent than any mere constitution. 5 It was Friedrich Rückert’s Barbarossa poem of 1817 (which Maßmann recited during his lecture) that had done more than anything to popularize among a literate public the legend, anthologized shortly before by the Grimms and by other folk-tale collectors, of the Hohenstaufen emperor banished to slumber underground. 6 And it was Rückert who gave the ancient tale its contemporary political edge: the Kaiser’s eventual reawakening, restoring to the light of day the glory of his Empire - des Reiches Herrlichkeit - would be the moment when a united German nation reclaimed its inheritance. Heavyweight support was soon forthcoming in the shape of Friedrich von Raumer’s six-volume Geschichte der Hohenstaufen und ihre Zeit, published between 1823 and 1825, which became the inspiration for countless literary as well as more strictly historical evocations of the Staufer in the years that followed. 7 My concern in this paper is with the relationship between these modern memories, myths, and appropriations of ‚the Hohenstaufen and their times‘ and the perception of those rulers and their age by contemporaries. Seen from this perspective, the striking thing about Maßmann’s engagement with the figure of Barbarossa is its almost entirely modern character. Underpinned by the patriotic enthusiasms and characteristic bookish preoccupations of the generation of educated Germans who had grown up during the Wars of Liberation, it encodes their disappointments during the subsequent Restoration era, the hopes and fears of 1848, and the new opportunities signalled to some by the rise of Prussia. The twelfth-century Hohenstaufen emperor here serves as little more than a cypher for a series of characteristically nineteenth-century bourgeois concerns, although distilled into Maßmann’s distinctive personal mode of antiquarian Teutonophilia. 8 In what follows I will seek to identify what the Hohenstaufen era itself contributed to these much later views of its significance: to ask how complicit the emperors and their followers were in their own modern mythologization. Did the period possess or acquire any coherent shape and meaning in writings produced at the time and, if so, do these bear any relation to the shape and meaning imposed on the Staufer era in modernity? Is the very idea of such an ‚era‘ an entirely modern construct? Just how modern is the modern myth of the Hohenstaufen? The sheer, unshakable ubiquity of the Staufer period seems to pose the first obstacle to its exploration. A word-search, under ‚Hohenstaufen‘, in the on-line catalogue of Berlin’s Staatsbibliothek, for example, yields almost a hundred thousand separate results. The reification of the Hohenstaufen and their times has proved tenacious enough easily to outlast the discrediting, in the mid-twentieth century, of the modern German nationalism with 5 Maßmann (as note 3), S. 23-25. 6 Friedrich Weigend, Bodo M. Baumunk and Thomas Brune, Keine Ruhe im Kyffhäuser: Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart/ Aalen 1978, S. 39-45. 7 Friedrich von Raumer, Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, 6 Bde, Leipzig 1823-1825. For the influence of von Raumer’s work, see Stefanie Barbara Berg, Heldenbilder und Gegensätze: Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster/ Hamburg 1994 (Geschichte 7), S. 51-62. 8 For the nineteenth-century Barbarossa cult: Camilla G. Kaul, Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser: Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert, 2 Bde, Köln u. a. 2007 (Atlas N. F. 4). 404 Len Scales The Hohenstaufen and the Shape of History 405 which they appear so closely, although paradoxically, bound up. 9 The roots of the myth were deeper and more numerous, and they proved capable of fresh growth in changed times. When the state of Baden-Württemberg celebrated its twenty-fifth anniversary in 1977, its ambitious minister-president, Hans Filbinger, chose the Hohenstaufen to symbolize - or more accurately, to construct and nurture - Baden-Württemberg’s historic identity and unity. The results were spectacular. The exhibition which Filbinger instigated, on „The Age of the Staufer“, staged at the Old Residence in the centre of Stuttgart from late March to early June, smashed all existing records for an event of its kind. 10 Around seven hundred thousand visitors crammed themselves into the narrow exhibition space. At times the police had to intervene to restore order among the heaving and jostling crowds. 11 The iconic four-volume catalogue was soon changing hands on the black market for sums well above its cover price. 12 The organizers took pains to distinguish modern images of the Hohenstaufen from their high-medieval reference-points. A whole section of the exhibition was dedicated to post-medieval reflections of the dynasty and its era, in everything from Romantic art and literature to contemporary consumer kitsch. 13 Displays of Staufer-themed beermats particularly outraged the traditionalists. Avant-garde film-maker Alexander Kluge produced two short films, looking with characteristic irony at the Staufer themselves and at the people involved with the exhibition. 14 (His more famous Deutschland im Herbst would later inspect the same year of 1977 from seemingly very different standpoints.) Yet in the end it was the myth that won. The crowds came, as one of the exhibition organisers would put it many years later, „to bathe in gold“, not to look at beermats. 15 They came, like some lucky peasant stumbling upon a secret doorway to the Kyffhäuser, to gaze upon the face of Barbarossa himself. The difficulties with speaking of the Hohenstaufen at all are underlined by an inscription on the marble pillar which was set up on the eponymous hilltop, to celebrate a later Baden- Württemberg anniversary, the fiftieth, in 2002: the name, we read, encompasses „a mountain, a castle, a dynasty“ as well as „an epoch“ and, of course, „a myth“. The conjunctions are neither necessary nor straightforward. Locality can build its own historical narratives, can make its own visible connections, and can form its own significant patterns, within the landscape itself. Locality has underpinned modern constructions of the Hohenstaufen 9 For the reification of the Staufer era in older accounts, see Erich Maschke, Das Geschlecht der Staufer, München 1943, S. 9: „Keines der mittelalterlichen deutschen Königsgeschlechter ist so geschlossen in seiner politschen Haltung und so einheitlich in seiner geschichtlichen Wirkung, wie das Haus der Staufer“; Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, S. 75: „in jener einzigen Stauferzeit […], von römisch-südlichem Licht übergossen und durchwärmt“. It is not without reason that modern general histories of the Staufer devote significant attention to their post-medieval commemoration: Odilo Engels, Die Staufer, Stuttgart 6 1994, S. 192-202; Knut Görich, Die Staufer: Herrscher und Reich, München 3 2011, S. 9-19. 10 Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960-2000, Münster 2005 (Zeitgeschichte - Zeitverständnis 15), S. 21-25. 11 Stuttgarter Zeitung, 16 May 1977 (‚Chaos bei den Staufern‘). 12 Stuttgarter Zeitung, 30 March 1977. 13 Burlage (as note 10), S. 50; Thomas Brune and Bodo Baumunk, „Wege der Popularisierung“, in: Die Zeit der Staufer: Geschichte - Kunst - Kultur: Katalog zur Ausstellung, Bd. 3, Stuttgart 1977, S. 327-335. 14 „Nachrichten von den Staufern“; „Die Menschen, die das Staufer-Jahr vorbereiten“: in Alexander Kluge, Sämtliche Kinofilme, Frankfurt am Main 2007, Disk 9. 15 Interview with Dr. Thomas Brune, 9 September 2016. 406 Len Scales to a remarkable degree. A central part in this was played by the town of Göppingen, in the shadow of the mountain, where the long-serving mayor, Dr Herbert König, was the driving force in establishing in the 1970s a network of tourist routes - the Straße der Staufer - joining up significant regional sites and centred on the town itself. 16 A footpath through the forest, leading from Göppingen to the Hohenstaufen, still celebrates the memory of its promoter, Oberbürgermeister König. The ‚Staufer pillar‘ on the summit is but one of many such monoliths, established at sites, mostly in Germany, claiming links of various kinds to the dynasty. 17 Their octagonal form invokes the medieval imperial crown but also Castel del Monte, the mysterious castle built for the last Staufer emperor, Frederick II, far to the south of the Alps in Apulia, in his hereditary kingdom of Sicily. At the points of their densest concentration, these pillars present an account of Hohenstaufen history that can not only be read but seen and experienced as interconnected points in the landscape. At the so-called ‚Wäscherschloß‘ in the Beutetal, between Göppingen and Schwäbisch Gmünd, walkers can read of how Frederick, duke of Swabia, the son of Frederick of Büren, in 1079 took in marriage Agnes, daughter of the emperor Henry IV. From there they can fix their eyes on the Hohenstaufen across the valley, which they have by now also learned Duke Frederick founded. They can then proceed to re-enact with their own aching feet the historic ascent of the Staufer dynasty. In the small museum at the foot of the mountain (another mid-1970s initiative of Oberbürgermeister König) they can admire copies of the ‚Cappenberg bust‘ and of a portrait-head of Frederick II. Should they continue to Göppingen, they might discover that the self-proclaimed Hohenstaufenstadt has been twinned since 1971 with Foggia in Apulia, distant site of another Staufer residence. 18 Experienced on the ground, or encountered in the exhibition gallery, or invoked in any number of book titles, the Hohenstaufen and their times appear to possess undeniable substance and clear narrative shape. Yet when we turn to the medieval evidence, and to the recent specialist scholarship bearing upon it, coherent narratives and clear meanings have never seemed more elusive. It is not simply that some of the crucial links in the traditional story - the connection of the early Staufer with the ‚Wäscherschloß‘, for example - are more fragile and uncertain than letters incised in marble might suggest. 19 It is not just that the high-medieval emperors invoked on all sides almost never actually visited their family’s hilltop castle. (There is solid evidence for only one such stay at the Hohenstaufen, by Barbarossa in 1181.) 20 More fundamentally, the ‚Hohenstaufen era‘ itself turns out to be of highly unstable shape and extent, and to be almost wholly a later construct - or rather, multiple, assorted later constructs - reflecting assumptions and serving enthusiasms and aspirations that only emerged after (and largely because) the Staufer had passed from the scene. Chronologies fluctuate wildly. Local and regional histories, rooted in the German southwest, tenaciously seek out the family’s earliest, uncertain traces, pushing the story back to 16 Manfred Akermann, Die Staufer: Ein europäisches Herrschergeschlecht, Stuttgart 2003, S. 11. The route, later extended, is still signposted and advertised: http: / / www.germany.travel/ de/ freizeit-erholung/ fe rienstrassen/ strasse-der-staufer.html. 17 Gerhard Raff, Stauferfreunde stiften Stauferstelen, Stuttgart 5 2014. 18 Akermann (as note 16), S. 11. 19 Görich, Die Staufer (as note 9), S. 20f. 20 Hans-Martin Maurer, Der Hohenstaufen: Geschichte der Stammburg eines Kaiserhauses, Stuttgart/ Aalen 1977, S. 30f. Since Barbarossa made recorded stays at other sites in the region, further short unattested visits to the castle may well have occurred. The Hohenstaufen and the Shape of History 407 the early eleventh century. Hansmartin Schwarzmaier’s recent history, which covers a twohundred-year period beginning with Duke Frederick I’s enfeoffment in 1079, has the revealing subtitle Wegstationen einer schwäbischen Königsdynastie. 21 Studies with a focus on the Hohenstaufen as emperors start much later, in 1138 - or even in 1152, ignoring Konrad III, who was never crowned by the pope in Rome, as insufficiently imperial. When Frederick II’s offspring are also excluded, on the same basis, the Hohenstaufen era can be compressed into a mere century. 22 Histories written, as down to the mid-twentieth century they characteristically were, from a German-nationalist viewpoint often celebrated the reign of Barbarossa as a high-point while sometimes omitting altogether his supposedly un-German grandson. 23 By contrast, recent studies informed by contemporary transnational perspectives have tended for that reason to gravitate towards the later Staufer, with their wider, extra-European cultural horizons. 24 We seem to confront a variable-geometry Stauferzeit, almost endlessly adjustable in response to the shifting requirements of its modern votaries. Given the nature of the subject-matter, this can come as no surprise. There is little reason to think that, at least before the final decades of the family’s existence, its members even thought of themselves as comprising a single dynasty, in the sense of an exclusive fatherto-son descent line. Even the accustomed names are absent, or when they do appear it is with different and more limited meanings than those of familiar modern usage. The German vernacular ‚Staufer‘ is first encountered in 1260, not long before the dynasty’s extinction. 25 The toponymic form ‚of Staufen‘ appears earlier, but probably only to designate those members of the family who exercised lordship from the eponymous castle. 26 Not before the thirteenth century are emperors occasionally referred to in this way. The letter of Frederick II from the year 1247, which invokes a domus Stoffensis - a ‚house of Staufen‘ - is without parallel. 27 For members of the family and their literate supporters there could be no ‚Hohenstaufen‘ history, because the connections that mattered were to different, more remote and illustrious, pasts. When Otto of Freising wrote of the ‚Henrys of Waiblingen‘ from whom emperors were descended, it was in order to trace Barbarossa’s ancestry through the female line to the Salians and, beyond them, the Carolingians. 28 Where a conception of imperial blood, and even of imperial destiny conveyed through blood, found expression, this could not be of 21 Hansmartin Schwarzmaier, Die Welt der Staufer: Wegstationen einer schwäbischen Königsdynastie, Leinfelden-Echterdingen 2009 (Bibliothek Schwäbischer Geschichte 1). 22 Josef Fleckenstein, Das Bild der Staufer in der Geschichte: Bemerkungen über Möglichkeiten und Grenzen nationaler Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1984 (Göttinger Universitätsreden 72), S. 8. 23 For Frederick II’s ambivalent place in nineteenthand early twentieth-century Germany historiography: Marcus Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs…“: Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt, Ostfildern 2005 (Kieler historische Studien 42). 24 An example: Kaiser Friedrich II. 1194-1250: Welt und Kultur des Mittelmeerraums, hg. von Karen Ermete und Mamoun Fansa, Mainz 2008 (Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 55). 25 Kaiserchronik (Erste Bairische Fortsetzung), hg. von Edward Schröder, Berlin 1895 (MGH Deutsche Chroniken 1), S. 397, V. 23-26: Hie nâch vert aber ain maere von einem Stoufaere: Friedrich war er genant, herzoge er was in Swâbenlant. 26 Werner Hechberger, Staufer und Welfen 1125-1190: Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, Köln u. a. 1996 (Passauer historische Forschungen 10), S. 110f. 27 Historia diplomatica Friderici Secundi, hg. von J.-L.-A. Huillard-Bréholles, Bd. 6.i, Paris 1860, S. 515; Hechberger (as note 26), S. 112. 28 Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imp., hg. von G. Waitz (MGH Scriptores rerum Germanicarum 46), Hannover/ Leipzig 1912, S. 104; Tilman Struve, „Vorstellungen von ‚König‘ und ‚Reich‘ in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts“, in: Stauferreich im Wandel: Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit 408 Len Scales recent origin. Gottfried of Viterbo, writing in praise of the young Henry VI, traced his lineage back, via the Franks and the Trojans, to the god Jupiter. 29 The whole concentration of high-medieval emperorship was upon continuities with illustrious, legitimizing pasts, and not with the breaches that mark out a historical epoch. The Archpoet understood the duties of imperial panegyric when he compared Barbarossa with Charlemagne. 30 By his day even more important than the Carolingian was the Roman template. Numbering the Empire’s current ruler in continuous sequence from Caesar or Augustus, and bedecking him with Romanising titles, had been established practice since the eleventh century. 31 The Romeward turn continued under the Staufer. Barbarossa, who patronized the schools of Bologna, named Constantine, Valentinian, Theodosius, and Justinian as his forebears. 32 The trend would be carried much further under his Italian-born grandson. 33 The growing importance, at the end of the Staufer period, of pope-emperor chronicles beginning with Christ and Augustus, served further to reinforce and to popularize the vision of a single, unbroken, Roman imperial history. 34 The view encountered in older scholarship, which located the Hohenstaufen emperors at the centre of a well co-ordinated propaganda machine, projecting a consistent and highly ambitious doctrine of rule, has in recent times given way to more sceptical assessments. 35 Even under Barbarossa, when the evidence for a circle of writers seems for a time most compelling, and is supported by signs of opinion-forming efforts by Frederick’s chancery, the detailed picture is hard to discern. 36 How close a figure like Gottfried of Viterbo really Friedrich Barbarossas, hg. von Stefan Weinfurter, Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 9), S. 288-311 (here S. 308). 29 Gottfried of Viterbo, Speculum regum, hg. von Georg Waitz, in: MGH Scriptores 22, Hannover 1872, S. 37-38. For Gottfried and the idea of heredity: Struve, „Vorstellungen“ (as note 28), S. 299-301; Thomas Foerster, „Der Prophet und der Kaiser: Staufische Herrschaftsvorstellungen am Ende des 12. Jahrhunderts“, in: Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert: Konzepte - Netzwerke - Politische Praxis, hg. von Stefan Burkhardt u. a., Regensburg 2010, S. 253-276 (here S. 259f.). 30 Gedichte des Archipoeta, hg. von Heinrich Watenphul und Heinrich Krefeld, Heidelberg 1954, S. 68-72, Strophe 16. 31 Gottfried Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium: Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert, Wien u. a. 1972 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 20). 32 Peter Ganz, „Friedrich Barbarossa: Hof und Kultur“, in: Friedrich Barbarossa: Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers, hg. von Alfred Haverkamp, Sigmaringen 1992 (Vorträge und Forschungen 40), S. 633; Heinrich Appelt, „Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas“, Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte 253 (1967), S. 1-32; Robert L. Benson, „Political renovatio: Two Models from Roman Antiquity“, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, hg. von Robert L. Benson und Giles Constable, Oxford 1982, S. 339-386. 33 Hans Martin Schaller, „Die Kaiseridee Friedrichs II.“, in: Probleme um Friedrich II., hg. von Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1974 (Vorträge und Forschungen 16), S. 109-134. 34 Heike-Johanna Mierau, „Die Einheit des Imperium Romanum in den Papst-Kaiser-Chroniken des Spätmittelalters“, in: HZ 282 (2006), S. 281-312. 35 Roman Deutinger, „Imperiale Konzepte in der hofnahen Historiographie der Barbarossazeit“, in: Staufisches Kaisertum, hg. von Stefan Burkhardt u. a. (as note 29), S. 25-39. The older view is well represented by Karl Langosch, Politische Dichtung um Kaiser Friedrich Barbarossa, Berlin 1943. The idea of a Staufer court historiography under Frederick I originated with Robert Holtzmann, „Das Carmen de Frederico I. imperatore aus Bergamo und die Anfänge einer staufischen Hofhistoriographie“, in: NA 44 (1922), S. 252-313. 36 For the role of the chancery and epistolary communications, see: Timothy Reuter, „Past, Present and No Future in the Twelfth-Century Regnum Teutonicum“, in: Perception of the Past in Twelfth-Century Europe, hg. von Paul Magdalino, London 1992, S. 15-36 (here S. 25f.). The Hohenstaufen and the Shape of History 409 stood to the Staufer court, and how far his writings reflect the views of anyone but himself, seems far from clear. 37 Motivations for writing, too, were probably far from consistent. Peter Godman’s recent work on the Archpoet portrays no ideological zealot but a distinctly reluctant mouthpiece, producing on Rainald of Dassel’s orders the bare minimum he could get away with: „Barbarossa“, for his foot-dragging panegyrist, „was boring“. 38 The Ligurinus-poet, who sings the praise of imperial triumphs in twelfth-century Lombardy, probably wrote as a supplicant at Barbarossa’s court, not its official spokesman. 39 The capacities of the monarchs themselves to formulate and direct any programme of self-presentation were variable at best. John Freed’s monumental biography of Frederick I draws (and perhaps over-draws) a picture of a monarch ill-prepared for the throne and bereft of the cultural resources necessary to engage with abstract ideas. 40 And while Frederick’s chancellor, Rainald of Dassel, appears a more promising candidate for a co-ordinating role, his tenure was relatively brief, his activities uncertain. Barbarossa’s descendants, it is true, had cultural credentials stronger than his own. Henry VI would be posthumously commemorated as a poet in the Great Heidelberg Liederhandschrift, while the learning of Henry’s Sicilian heir was to prove as remarkable as it was eccentric. 41 More generally, however, it is difficult to discern any but the broadest continuities in purpose and approach across a span of several reigns between which lay interrupted succession and significant changes in circumstances, locations, and available material and ideological resources. Earlier visions of the court as an ideological powerhouse reflected both an overestimate of its capacities and a misjudgement of its motivations. The effects of both kinds of misjudgement are evident, for example, in older views about the role of the sacred in Staufer conceptions of rule, as expressed particularly in the canonization of Charlemagne at Aachen in December 1165. This event was long understood as part of a larger project to ‚re-sacralise‘ (as well as, paradoxically, to ‚secularize‘) the imperial monarchy in the wake of the Investiture Contest, and to establish a basis for claims to the imperial crown independent of papal approbation. As Knut Görich has convincingly shown, however, Charles’s canonization appears to have owed most to local Aachen traditions and actions. 42 And, although Barbarossa devoutly professed the Frankish saint to be his model in ruling, there is little sign that the emperor and those around him sought to draw ideological capital, or derive constitutional consequences, from his sainthood. The Hohenstaufen generally played remarkably little part in their own ideological construction. Part of the explanation is that they simply lacked the means to pursue any 37 Gerhard Baaken, „Zur Beurteilung Gottfrieds von Viterbo“, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter: Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Hauck und Hubert Mordek, Köln/ Wien 1978, S. 373-396 (here S. 379-381). 38 Peter Godman, „The Archpoet and the Emperor“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 74 (2011), S. 31-58 (here S. 58). 39 Deutinger (as note 35), S. 29f. 40 John B. Freed, Frederick Barbarossa: The Prince and the Myth, New Haven/ London, 2016; and see the review by Thomas Foerster: https: / / www.history.ac.uk/ reviews/ review/ 2018. 41 Die große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), hg. von Fridrich Pfaff, 2., verb. und erg. Aufl. bearb. von Hellmut Salowsky, Heidelberg 1984, Sp. 1f.; Charles Homer Haskins, „Science at the Court of the Emperor Frederick II“, in: American Historical Review 27 (1922), S. 669-695. 42 Knut Görich, „Karl der Große - ein ‚politischer Heiliger‘ im 12. Jahrhundert? “, in: Religion and Politics in the Middle Ages/ Religion und Politik im Mittelalter: Germany and England in Comparison/ Deutschland und England im Vergleich, hg. von Ludger Körntgen und Dominik Waßenhoven, Berlin 2013 (Prinz-Albert-Studien 29), S. 117-155. 410 Len Scales such project. A recent study of Barbarossa’s visual representations has emphasized the absence of any firm evidence for the court’s involvement in the production of images of the monarch. 43 Invariably, these reflect instead local perspectives and interests. An example is the famous painting of the enthroned emperor with his sons in the Weingarten manuscript of the Historia Welforum. 44 This probably owed its origins to an institutional concern to integrate the Staufer, as the monastery’s powerful new protectors, into a pre-existing Welf tradition of patronage. An itinerant court, like Barbarossa’s, lacked the means to plan and execute a programme of image-making in the emperor’s name. Modern scholarship has rejected, at least for the early Staufer, the existence of anything that can be termed a ‚court‘ style, whether in monumental architecture or in smaller objects of patronage: regional forms and workshop traditions held sway. 45 The belief that the ‚Cappenberg bust‘, logo and star exhibit of the 1977 Hohenstaufen exhibition, was made to project an image of the emperor, although still finding occasional defenders, 46 is now widely dismissed. The Stuttgart crowds were probably not gazing at Barbarossa after all. The gravitational pull of the local, and the limited capacity of an itinerant court to impose larger, unifying meanings, are a recurrent element in the Staufer era north of the Alps. It was not that the resources for larger projects were altogether lacking. The library at the imperial palace at Hagenau, for example, was evidently well stocked; but the court came to Hagenau, as to its other calling points in the German south-west, only periodically. 47 The difference that this made becomes clear when comparison is drawn with the self-presentation of Barbarossa’s cousin Henry the Lion as duke of Saxony. 48 Henry developed at Braunschweig a settled court centre of a kind that the Staufer never attained. Religious and secular building projects were combined to glorify the duke and his kin and to root them in an imagined Saxon territorial past. All this endowed his memoria with a quite different quality. The lion-monument which Henry set up before his palace there in 1166 was to become an object of myth and wonder without parallel among the works of his imperial kinsmen. 49 Especially conspicuous is the absence of anything that can be called a Hohenstaufen version of history. With the prominent and important exception of the works of Otto of Freising, who wrote under unique circumstances and, as Barbarossa’s uncle, from a very particular perspective, the Staufer emperors took remarkably little interest in promoting historical writing. 50 Otto’s Gesta Friderici was not only the first imperial biography since 43 Knut Görich, „BarbarossaBilder - Befunde und Probleme“, in: Barbarossabilder: Entstehungskontexte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge, hg. von Knut Görich und Romedio Schmitz-Esser, Regensburg 2014, S. 9-29. 44 Görich, „BarbarossaBilder“ (as note 43), S. 20. 45 Ganz (as note 32), S. 643-50. 46 See Caroline Horch, „Nach dem Bild des Kaisers“: Funktionen und Bedeutung des Cappenberger Barbarossakopfes, Köln u. a. 2013 (Studien zur Kunst 15). 47 Ganz (as note 32), S. 637; Ferdinand Opll, Das Itinerar Kaiser Friedrich Barbarossas (1152-1190), Wien u. a. 1978 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 1), S. 133. 48 For what follows, see Otto Gerhard Oexle, „Die Memoria Heinrichs des Löwen“, in: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Dieter Geuenich und Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111), S. 128-177. 49 See, for example, the account in Braunschweigische Reimchronik, hg. von Ludwig Weiland (MGH Deutsche Chroniken 2), Hannover 1877, S. 496, V. 2895-2900. 50 For Otto, see Walther Lammers, Weltgeschichte und Zeitgeschichte bei Otto von Freising, Wiesbaden 1977 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 14). The Hohenstaufen and the Shape of History 411 Wipo’s account of the deeds of the Salian Konrad II (r. 1027-1039); it would find no highmedieval successor. 51 Even at the cosmopolitan court of Frederick II, where poetry, science and law were cultivated by a polyglot array of distinguished masters, history found little place. The emperor himself, whose scholarship extended to authoring a remarkable handbook of scientific ornithology, took little discernible interest in the study of the past, as did a contemporary monarch like Alfonso X of Castile. 52 At a time when elsewhere in western Europe quasi-official histories, like that produced at the French royal abbey of Saint Denis, were coming into being, the Staufer never sponsored a general account of their familial past or their historical relationship with the imperial title. Lack of impetus from the centre was not, however, the only obstacle, and even a rare attempt by Frederick II to influence the historical record was evidently thwarted by the weakness of the ties between court and regions. According to the annalist of St Pantaleon, Cologne, the emperor had commanded that reference to his 1235 Mainz curia be made in all annals. 53 In spite of this, however, the measures enacted there were the subject of only meagre contemporary report. 54 About the Latin histories that celebrate the deeds of the Staufer, what stands out is the meagreness and lateness of their manuscript traditions. The extensive reception enjoyed by Gottfried of Viterbo’s compilations (his Pantheon survives in three different versions) is untypical. 55 Of the thirty-one surviving manuscripts of Otto of Freising’s Chronicle - itself quite a modest tally, for a work that has so gripped the imaginations of modern scholars - nearly two thirds date from the fifteenth and early sixteenth centuries. No fewer than ten of the thirteen manuscripts of Otto’s account of the Deeds of his nephew Barbarossa come from the end of the Middle Ages. 56 The Ligurinus poem, which this work inspired, has no surviving medieval tradition: its earliest text comes in the printed edition by the humanist Konrad Celtis (1459-1508). 57 In this as in much else, the Hohenstaufen were shaped within history by others, well after the fact. But it is from the German vernacular literature of their day that the Staufer are perhaps most surprisingly absent. The epics of the later twelfth century were set, with varying degrees of historicity, in ages long past. 58 While it is likely that hearers and readers would have identified a König Rother or the Charlemagne of the Rolandslied with contemporary rulers of the Reich, and would have drawn parallels with the events of their reigns, explicit 51 Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter: Gattungen - Epochen - Eigenart, Göttingen 4 1987 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1209), S. 61-64. The early Staufer histories had been largely forgotten within a generation of their writing. 52 Wolfgang Stürner, Friedrich II., Bd. 2: Der Kaiser 1220-1250, Darmstadt 2000, S. 385-457; Joseph O’Callaghan, The Learned King: The Reign of Alfonso X of Castile, Philadelphia 1993, S. 131-146. 53 Chronica regia Coloniensis, hg. von Georg Waitz, Hannover 1880 (MGH Scriptores rerum Germanicarum 18), S. 267. 54 Jean-Marie Moeglin, „Das Erbe Ludwigs des Bayern“, in: Die Goldene Bulle: Politik - Wahrnehmung - Rezeption, hg. von Ulrike Hohensee u. a., 2 Bde, Berlin 2009 (Berichte und Abhandlungen, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Sonderband 12), Bd. 1, S. 17-38 (here S. 25f.). 55 Friedrich Hausmann, „Gottfried von Viterbo: Kapellan und Notar, Magister, Geschichtsschreiber und Dichter“, in: Friedrich Barbarossa, hg. von Alfred Haverkamp (as note 32), S. 624. 56 Heinz Krieg, „Die Staufer in der Wahrnehmung des späten Mittelalters“, in: Von Palermo zum Kyffhäuser: Staufische Erinnerungsorte und Staufermythos, hg. von Manfred Akermann und Karl-Heinz Rueß, Göppingen 2012 (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 31), S. 77-96 (here S. 87). 57 Krieg (as note 56), S. 58. 58 Wilhelm Störmer, „Königtum und Kaisertum in der mittelhochdeutschen Literatur der Zeit Friedrich Barbarossas“, in Friedrich Barbarossa, hg. von Haverkamp (as note 32), S. 581-601. 412 Len Scales comparisons were avoided. Heinrich von Veldeke’s equating of the festival celebrated by Aeneas with Barbarossa’s 1184 Mainz curia is a solitary exception that proves the rule. 59 Nor did the rulers depicted in such works present in every case a flattering image of monarchy. Despite the importance of crusading for the Staufer kings and emperors, no Middle High German poet - not even a Friedrich von Hausen, who would die on Barbarossa’s expedition to the east - seems to have glorified them as holy warriors, or to have been encouraged by the court to do so. 60 For German-language literature, as in most other forms of cultural production, there is little sign that the monarchs themselves provided direction, still less that they commissioned specific works. German vernacular chronicles of the Staufer era, with the important but hard-to-date exception of the Saxon World Chronicle, concentrated mainly on remote pasts. 61 The much-copied Kaiserchronik focused heavily upon the Roman emperors of pagan and Christian antiquity, before the imperial title’s revival in the west under the Franks. 62 Rudolf von Ems, despite writing for Konrad IV, and despite praising the king’s own ancestors on the throne, did not get beyond Old Testament times with his world history. 63 Both a symptom of and partial explanation for the tenuousness of contemporary Staufer memoria must be sought in the multiple sites for its cultivation, their varying character, and their wide geographical diffusion. In contrast to the nodal points of modern commemoration, there existed no medieval centre dedicated to celebrating the dynasty and to constructing and interpreting its past and its relationship with the imperial title. Instead, multiple dynastic and imperial traditions and memory-sites pulled in competing directions. As time passed, the range of potential locations only grew. There were familial sites in Alsace and at the monastery of Lorch, close to the Hohenstaufen itself; but no monarch was interred in these places. 64 The bones of the seven Staufer kings and emperors of the Romans are scattered between six different locations, only two in Germany. The obscurity of Barbarossa’s burial site was such as to inspire his nineteenth-century votaries to organize an (unsuccessful) Prussian-backed archaeological expedition to Syria to find and recover his remains. 65 The nascent development in the later twelfth century of a Staufer imperial memoria can be observed in the favour which the Salian mausoleum at Speyer increasingly gained as a place of interment. 66 Yet any such movement might be quickly undercut by the 59 Heinrich von Veldeke, hg. von Ludwig Ettmüller, Leipzig 1852 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 8), S. 347f. 60 Störmer (as note 58), S. 582. 61 Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), S. 345. 62 Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder (as note 25); Eberhard Nellmann, Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit: Annolied - Kaiserchronik - Rolandslied - Eraclius, Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 16), S. 93-116. 63 Rudolf von Ems, Weltchronik, aus der Wernigerode Handschrift, hg. von Gustav Ehrismann, Berlin 1915 (Deutsche Texte des Mittelalters 20), S. 302, V. 21617-21672. 64 Olaf B. Rader, „Von Lorch bis Palermo: Die Grablegen der Staufer als Erinnerungsorte“, in: Von Palermo zum Kyffhäuser, hg. von Manfred Akermann und Karl-Heinz Rueß (as note 56), S. 46-63; Klaus Graf, „Staufer-Überlieferung aus Kloster Lorch“, in: Von Schwaben bis Jerusalem: Facetten staufischer Geschichte, hg. von Sönke Lorenz und Ulrich Schmidt, Sigmaringen 1995 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts 61), S. 209-240. 65 Professor Dr. [Johann Nepomuk] Sepp, Meerfahrt nach Tyrus zur Ausgrabung der Kathedrale mit Barbarossas Grab, Leipzig 1879; and see Rader, „Von Lorch bis Palermo“ (as note 64), S. 58f. 66 Caspar Ehlers, Metropolis Germaniae: Studien zur Bedeutung Speyers für das Königtum (751-1250), Göttingen 1996 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 125), S. 166-183. The Hohenstaufen and the Shape of History 413 rival pull of other, geographically remote, memory cultures and traditions. Around the time that the youthful Frederick II was arranging for his uncle, Philip of Swabia, to be reinterred at Speyer, he was choosing for himself a porphyry sarcophagus in the Norman-Sicilian style and planning his own future repose alongside his maternal ancestors in Palermo. 67 The clear and purposeful narrative shape ascribed to the Hohenstaufen era in the histories, dramas, poems, and paintings that proliferated from the Romantic era onward, with its familiar arc of triumph and tragedy, of destinies thwarted and postponed, has no precursor in high-medieval historical writings. Only after it had passed away did the rule of the Swabian emperors gradually attain a degree of perceived historical unity and meaning: in the two generations after Frederick II’s death, some chroniclers began to take that event, or the emperor’s excommunication, as the end point or starting point for their narratives. 68 Forgetting would prove to be at least as important as (highly selective) remembering for subsequent perspectives on the Staufer. 69 These were far from always being favourable. The Cologne canon Alexander of Roes, looking back from the year 1281, insisted that it was sub Suevorum imperio - under Swabian rule - that the authority and power of the Empire had ceased to grow and had begun instead sharply to decline. 70 The set-piece dramas and melodramas of modern Hohenstaufen myth are largely absent, and their modern metahistorical readings entirely so, from historical writings produced at the time. An example is the encounter between Barbarossa and Henry the Lion early in 1176, usually localized to Chiavenna in northern Italy. 71 The meeting, at which the emperor unsuccessfully implored his cousin’s aid for his Italian wars, in some accounts falling to his knees, became an axial moment in nineteenth-century visions of the Hohenstaufen tragedy. 72 With the emergence after mid-century of polemical debate focused on the proper course of medieval - and thus also contemporary - German state-making (the großdeutsch versus kleindeutsch schools), the Chiavenna incident appeared to bring contemporary constitutional issues to a focus. 73 Who had history on his side - the southward-looking emperor or the stay-at-home, state-building duke? In fact, the incident is recounted by only a relatively small number of chroniclers writing during the generation 67 Olaf B. Rader, „Die Kraft des Porphyrs: Das Grabmal Kaiser Friedrichs II. in Palermo als Fokus europäischer Erinnerung“, in: Europäische Erinnerungsräume, hg. von Kirstin Buchinger u. a., Frankfurt u. a. 2009, S. 33-46. 68 Len Scales, The Shaping of German Identity: Authority and Crisis, 1245-1414, Cambridge 2012, S. 345. 69 For the remembrance and forgetfulness of different Staufer rulers, see: Hansmartin Schwarzmaier, „Könige im Umfeld Friedrichs II. Mythenbildung und geschichtliches Vergessen bei den späten Staufern“, in: Mythos Staufer: Akten der 5. Landauer Staufertagung 1.-3. Juli 2005, hg. von Volker Herzner und Jürgen Krüger, Speyer 2010 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 105), S. 9-26. 70 Alexander von Roes, Memoriale, cap. 29, in: Alexander von Roes: Schriften, hg. von Herbert Grundmann und Hermann Heimpel, Stuttgart 1958 (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 1.i), S. 135. 71 The chronicle accounts are compared in Leila Werthschulte, Heinrich der Löwe in Geschichte und Sage, Heidelberg 2007, S. 128-140. The short but dramatic version in the Saxon World Chronicle proved particularly influential for subsequent views: Sächsische Weltchronik, hg. von Ludwig Weiland (as note 49), S. 229. 72 For its prominence in historicist painting, see Kurt Löcher, „Die Staufer in der bildenden Kunst“, in Die Zeit der Staufer (as note 13), Bd. 3, S. 291-309 (here S. 297f.). 73 For the debate, see: Fedor Schneider (Hg.), Universalstaat oder Nationalstaat: Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches (Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters), Innsbruck 2 1943; for the role of Barbarossa and Henry the Lion: Berg (as note 7), S. 90-106. 414 Len Scales that followed. Their accounts disagree on fundamental points (including the location of the meeting) and do little to invest the incident with larger significance. The same contrast is more starkly visible in contemporary and later responses to the deaths of the Staufer rulers themselves. The difference is illuminated particularly by the fate of Frederick II’s grandson Konradin, executed in Naples in 1268 at the behest of Charles of Anjou, his victorious rival for the Sicilian throne. The death of the sixteen-year-old youth on the scaffold would inspire in the nineteenth and early twentieth centuries many hundreds of melodramatic plays, verses and images, often coloured by contemporary xenophobic nationalism, contrasting the innocent blond-haired boy with (as they commonly appear) his swarthy southern tormentors. 74 A distinguished twentieth-century medievalist recalled how his own teacher at Vienna in the late 1930s would break down, overcome with emotion, when he came to lecture on Konradin and the end of the Staufer. 75 Yet German sources at the time, and in the decades that followed, were mostly taciturn on the matter. 76 Contemporaries could see in such events no basis for the metahistories that they would come to sustain many centuries later. Where modern narratives would discern clear meanings, medieval reactions are characterized by confusion, ambivalence, and contradiction. Differences in the details of how Barbarossa met his end at the Saleph - instantaneously, or only after he had confessed his sins and received unction? - clearly reflected contemporary anxieties about possible divine judgment on the emperor, reflected in a sudden death while on crusade. 77 Even that most divisive of emperors, Frederick II, mostly attracted, at least in Germany, the opposite of clear judgments from contemporaries. Chronicle accounts composed at the time of Frederick’s bitter denouement with the papacy often reveal their authors as torn between imperialist sympathies and distress at the state of the Church, and as inclined to blame both sides or to evade explicit positions altogether. 78 Only in the years immediately following his death did more cohesive webs of significance start to be woven around the last Staufer emperor. But it was in the fifteenth century, with the beginnings of German humanism, that the Hohenstaufen first became the subject of detailed historical reconstruction. 79 The terms on which they do so are revealing. A harbinger of the new interest in the dynasty is the conciliarist Dietrich of Niem (c. 1345-1418), writing in the time of the papal Schism at the beginning of the century and seeking solutions. Dietrich was outspoken in his defence both of Barbarossa and of Frederick II, declaring that the former had lived and died neither as a devious serpent nor a Church-persecuting dragon, but as an orthodox, deeply Christian man. 80 Dietrich’s choice of language makes clear what had moved him to take the side 74 Andreas Müller, Das Konradin-Bild im Wandel der Zeit, Bern/ Frankfurt am Main 1972 (Geist und Werk der Zeiten 34); Will Sauer, Konradin im deutschen Drama, Halle (Saale) 1926. 75 Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, Q3/ 36b Bü 1218. The printed but unpublished memoir by Professor Hansmartin Decker-Hauff („Wer mich erzählen lehrte“) here refers to the Austrian medievalist Hans Hirsch. 76 Scales (as note 68), S. 195 and 344f. There are signs of an anecdotal memory of Konradin developing in the course of the later Middle Ages. 77 Knut Görich, Friedrich Barbarossa: Eine Biographie, München 2011, S. 587-597. 78 Andrea Sommerlechner, Stupor mundi? Kaiser Friedrich II. und die mittelalterliche Geschichtsschreibung, Wien 1999 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom. Abteilung 1, Abhandlungen 11), S. 34-48, 103-112, 193-202, 209-219. 79 Krieg (as note 56), S. 84-89. 80 Dietrich von Nieheim, Viridarium imperatorum et regum Romanorum, hg. von Alphons Lhotsky und Karl Pivec, Stuttgart 1956 (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 5.i), S. 51-58; Hermann Heimpel, Dietrich von Niem (c. 1340-1418), Münster 1932, S. 227f. The Hohenstaufen and the Shape of History 415 of the Staufer emperors: the polemical utterances of their opponents in the Church, who had hurled precisely such images of supernatural evil - of dragons, serpents, and basilisks - against them. Reformation propaganda of German authorship was to return to the fate of Konradin, but with a twist: illustrated broadsheets would circulate portraying not Charles of Anjou but the pope himself swinging a huge two-handed sword at the neck of the hapless, kneeling youth. 81 Klaus Schreiner has traced the development of the legend which maintained that, when Barbarossa met with Alexander III to make peace at Venice in 1177, the pope had not only required that Frederick kiss his foot (as he had indeed done) but had stepped on the emperor’s neck in a gesture of triumph over evil. 82 The story, entirely absent from medieval sources in Germany, attained prominence in the early sixteenth century at the hands of Luther and other reformers. It points to the way in which, over the course of time, one central aspect of the Hohenstaufen era came to endow the period and its protagonists with a distinctive historical shape and meaning: the relationship of the Staufer emperors with the Church and with the course of Christian history. In this sense at least Maßmann was correct: Barbarossa did eventually take his place on the path that led to Luther. A distinctive element in medieval imperial doctrine was its propensity to understand past and future politics through a vocabulary of supernatural good and evil. No other medieval European polity is comparable to the Empire in this respect. An important turning point came with the Investiture Contest, which saw both sides deploy lurid eschatological imagery, not because they necessarily thought the End really was at hand, but as a discourse of political defamation: a means of commenting on and judging the present more than predicting the future. 83 This continued and intensified under the Staufer: some of those who identified the latter as heirs to the Salian emperors did so in order to underline their baleful inheritance of persecuting the Church. It was this lineage that Innocent III had in mind when he denounced Philip of Swabia as originating „from a stock of persecutors“ (de genere persecutorum). 84 But the pope also identified Philip more precisely as an offspring of „the house of the dukes of Swabia“. It was in this way that, partly via the pens of their adversaries, the Hohenstaufen gradually attained a firmer dynastic identity. Innocent IV articulated just such a sense of fatal blood continuity when he urged, of Frederick II, „let not the sceptre of rule remain with him or be transferred to his brood of vipers“. 85 The same pope reportedly forbade that the excommunicate Frederick be referred to as emperor, 81 Kurt Stadtwald, Roman Popes and German Patriots: Antipapalism in the Politics of the German Humanist Movement from Gregor Heimburg to Martin Luther, Genève 1996 (Travaux d’humanisme et renaissance 299), S. 201. 82 Klaus Schreiner, „Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel: Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst“, in: Mittelalter-Rezeption: Ein Symposion, hg. von Peter Wapnewski, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 6), S. 145-176. 83 Hans-Werner Goetz, „Endzeiterwartung und Endzeitvorstellung im Rahmen des Geschichtsbildes des früheren 12. Jahrhunderts“, in: The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages, hg. von Werner Verbeke u. a., Leuven 1988 (Mediaevalia Lovaniensia. Series 1. Studia 15), S. 306-332; Tilman Struve, „Endzeiterwartungen als Symptom politisch-sozialer Krisen im Mittelalter“, in: Ende und Vollendung: Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen u. Martin Pickavé, Berlin/ New York 2002 (Miscellanea mediaevalia 29), S. 206-227. 84 Hechberger (as note 26), S. 139, 146. 85 MGH Epistolae saeculi XIII e registris pontificum Romanorum, Bd. 2, hg. von Carl Rodenberg, Berlin 1887, Nr. 585, S. 416: in vipeream eius propaginam transferatur. 416 Len Scales but as Fridericus de Stoupha. 86 The anti-Staufer Rhinelander Alexander of Roes reported the currency in late thirteenth-century Germany of a prophecy anticipating the imminent coming of a persecuting emperor „from this Frederick’s seed, a sinful root by the name of Frederick“. 87 The language of eschatological denunciation attained its most extreme form under the last Staufer. This reflected in part the intensity of Frederick II’s fight to the death against the papacy, but it also attested to the role of new ideas and new audiences for them. The teachings of the Calabrian abbot Joachim of Fiore (c. 1135-1202) here marked a crucial turning point. Now, not only the persecuting Antichrist but the age of spiritual bliss scheduled immediately to follow was tantalisingly close at hand. 88 For Abbot Joachim’s devotees, the impending wicked chastiser was to be awaited almost with longing. All the signs were that he would be an emperor of the Swabian house. Joachim himself was admittedly vague on the matter, though there seems no doubt that he thought the coming persecutor would be a ruler of the Empire. 89 The necessary details were in any case easily added with hindsight. According to the Italian friar Salimbene, when Henry VI met with Abbot Joachim for a private audience, the latter had informed him that his infant son Frederick was evil and would shake the world. 90 The Joachimite template offered scope both for unfolding a dark vision of the Empire’s long-term history and for placing the contemporary monarch within a historical rogues’ gallery. A pseudo-Joachimite tract composed shortly after Frederick II’s death accordingly depicts the Apocalyptic beast, four of whose seven heads are identified with ancient or medieval Roman emperors. The largest and most fearsome of them is clearly labelled Fridericus secundus. 91 If the Hohenstaufen were damned by their opponents, with the passage of time in ever more extreme ways, as agents of supernatural evil, they also attained for their adherents an increasingly firm identity as divinely-appointed doers of good, with a special place in the future history of the church. The assiduousness with which successive Staufer monarchs associated themselves with the creation and translation of saints, even if their actions lacked a consistently anti-Gregorian ‚constitutional‘ purpose, can only have strengthened this impression. 92 The crowned emperor in any case wore the radiant Jerusalem of the Apocalypse on his head. 93 Walther von der Vogelweide accordingly instructed Philip of 86 Hechberger (as note 26), S. 112. 87 Alexander von Roes, Memoriale, cap. 30 (as note 70), S. 136. 88 See generally Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages: A Study in Joachimism, Oxford 1969. 89 Bernard McGinn, Visions of the End: Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 1979 (Records of Civilization 96), S. 133. Joachim’s later interpreters were clear that the persecuting ‚Chaldaeans‘ to whom he referred were the Empire’s German bearers: S. 176f. 90 The Chronicle of Salimbene de Adam, hg. von Joseph L. Baird u. a., Binghamton 1986 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 40), S. 5. 91 Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Vat. lat. 3822 (fol. 5 r ): https: / / digi.vatlib.it/ view/ MSS_ Vat.lat.3822; and see Alexander Patchovsky, „The Holy Emperor Henry ‚the First‘ as One of the Dragon’s Heads of Apocalypse: On the Image of the Roman Empire under German Rule in the Tradition of Joachim of Fiore“, in: Viator 29 (1998), S. 291-322. 92 Jürgen Petersohn, „Kaisertum und Kultakt in der Stauferzeit“, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen 42), S. 101- 146. 93 Reinhart Staats, Die Reichskrone: Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols, Göttingen 1991, S. 55. The Hohenstaufen and the Shape of History 417 Swabia, in mystical language, on the marvellous properties of the imperial crown, whose distinctive jewel - the Waise - was the guiding star of all princes. 94 The ideas sustaining such a view were far from novel. Indeed, the roots of both the negative and the positive accounts of the Roman emperor’s special role in Christian history rely on patristic texts, and ultimately on the Gospels and on Christian readings of Old Testament prophecy. 95 These were reinforced for the medieval reader by a vast and tangled corpus of ‚Sibylline‘ texts and by emperor-prophecies taken over in the early Middle Ages from Byzantium, as well as by the modern theories of Joachim. New in the thirteenth century was the urgency with which such notions now found expression and, crucially, their identification with a specific ruling line. Precisely what role, and how explicit a role, eschatological ideas played in Hohenstaufen political theology is difficult to judge. Where precisely to locate the Ludus de Antichristo relative to Barbarossa’s court remains a matter for debate; but it is hard to think of another medieval ruler being ascribed a role in the history of the Last Things comparable to that played by the emperor in the Ludus. 96 The importance of eschatology to the emperors themselves is likewise hard to assess. Did Henry VI, as some scholars have proposed, really regard himself as in some fashion the Last Emperor? 97 The strong and sustained association of the Staufer with the crusade and the city of Jerusalem was by the thirteenth century beyond doubt. The bloodless recovery of that city by the excommunicate Frederick II in 1229 inevitably encouraged the rival speculations of friends and foes about that emperor’s predestined role in Christian history. 98 When Barbarossa took a hard line with the recalcitrant cities of the Lombard plain, when Frederick II legislated against heretics, were they in some sense acting out the role of the katechon of the Pauline epistle, shoring up the dam wall against the tide of evil that would one day submerge it? 99 Does this way of thinking help us explain the late Staufer court’s increasingly assiduous and convincing imitation, now enriched by the resources of southern Italy, of the cultural styles and models of Roman antiquity - a return to the glorious days of Augustus Caesar, that were also the time of Christ? 100 By this point the emperor’s partisans, most explicitly in the south but in Germany too, were reaffirming the idea adumbrated by Gottfried of Viterbo, that the Staufer were a dynasty divinely appointed to rule until the end of time. 101 94 Hans Böhm, Walther von der Vogelweide: Minne - Reich - Gott, Stuttgart 1949, S. 92. 95 For this and what follows, see Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit: Entstehung, Wandel, und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000 (Mittelalter-Forschungen 3), S. 15-104. For ‚Sibylline‘ texts: G. L. Potestà, „Sibyllinische Bücher“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 1832f.; for Byzantine ‚last emperor‘ prophecies: Paul J. Alexander, „The Medieval Legend of the Last Roman Emperor and its Messianic Origin“, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41 (1978), S. 1-15. 96 Gisela Vollmann-Profe, „Tegernseer Ludus de Antichristo“, in 2 VL, Bd. 9, Berlin/ New York 1995, Sp. 673-679. 97 Hermann Jakobs, „Weltherrschaft oder Endkaiser? - Ziele staufischer Politik im ausgehenden 12. Jahrhundert“, in: Die Staufer im Süden: Sizilien und das Reich, hg. von Theo Kölzer, Sigmaringen 1996, S. 13-28 (here S. 23-28); Foerster (as note 29), S. 260f., 264. 98 Möhring (as note 95), S. 212-219. 99 2 Thess. 2,7. For the Empire as katechon, see Jakobs (as note 97), S. 18-21. 100 For a single remarkable, if enigmatic and problematic, example of late-Staufer imperial antiquarianism, see Emily Albu, The Medieval Peutinger Map: Imperial Roman Revival in a German Empire, New York 2014. 101 Schaller, „Die Kaiseridee“ (as note 33), S. 118f. 418 Len Scales Around the middle of the thirteenth century, for diverse groups and from directly opposed perspectives, a Staufer dynasty - we can even begin to say, a Staufer ‚history‘ - was starting to become a necessity. It was to be a history defined in dynamic intersection with prophecy. 102 The dynastic signifier ‚Frederick‘ was itself a bearer of significant ideas about past and future - and not only for Frederick II, who reputedly punished a hapless notary who misspelt it with the loss of his thumb. 103 The Thuringian chronicler Johannes Rothe, writing towards the middle of the fifteenth century, told of the heretics who in his day were awaiting the coming of a mystical emperor, who would recover the holy places and lay down his crown at Jerusalem. He would be called Friedrich for the peace - Friede - that he made, even if that was not his baptismal name. 104 The adherents of the coming emperor Frederick looked for him at the ruined Staufer castle on the Kyffhäuser, where he had been seen to walk in spirit. The Staufer lived on in late medieval Germany, where they were remembered at all, not only as memory but as (hazy, but periodically potent) expectation. In time, that expectation attached itself to specific places. Rückert and the Grimms were able to popularize the Kyffhäuser legend, and to identify it definitively with Barbarossa, because they had authentically late medieval sources (and their elaborations by seventeenthand eighteenth-century antiquarians) to look back to. 105 Its seeming promise spoke to their hopes and longings, formed in very different times. It spoke to the very nineteenth-century concerns of Hans Ferdinand Maßmann. For him, too, just as for those late medieval Germans awaiting the promised return of the emperor Frederick, vaguely looking back was a way of looking forward. It is this above all that connects a figure like Maßmann to the Hohenstaufen dynasty and their prophetic legacy, and that sets him clearly apart from the exhibition-goers of the late twentieth century. The crowds who packed into the Old Residence in Stuttgart in the spring of 1977 may have pushed and elbowed one another for a better view of the emperor Frederick; but they did not - in any sense - want him back. 102 Hans Martin Schaller, „Endzeiterwartungen und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts“, in: Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, hg. von Max Kerner, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung 530), S. 305-324; Möhring (as note 95), S. 209-223. 103 Chronicle of Salimbene (as note 90), S. 352. 104 Düringische Chronik des Johann Rothe, hg. von R. v. Liliencron, Jena 1859 (Thüringische Geschichtsquellen 3), S. 426: und den nenne man Frederich umb fredis willen den her machit. 105 Albrecht Timm, Der Kyffhäuser im deutschen Geschichtsbild, Göttingen 1961 (Studien zum Geschichtsbild 3), S. 12-16. Explicit identification of the subterranean ‚Frederick‘ as Barbarossa was rare before the Romantic era, however: Georg Voigt, „Die deutsche Kaisersage“, HZ 26 (1871), S. 131-187. Da ward Carolus lachen. 419 Da ward Carolus lachen. Kaiser Karl IV., die Nürnberger Geschichtsschreibung und der Hauptmarkt Nürnbergs 1 Anne Simon I. „Da ward Carolus lachen.“ 2 Das Lachen, schon alttestamentarisch belegt, 3 ist „eines der Kennzeichen des Mensch-Seins“. 4 Laut Winfried Wilhelmy entwickelten: [d]ie christlichen Schriftsteller eine hochdifferenzierte Theorie des Lachens, in die biologische, ethische und natürlich auch vor allem theologische Gesichtspunkte einflossen. Dabei resultierten die unterschiedlichen Bewertungen des Lachens vor allem aus dem heterogenen Adressatenkreis, an den sich die jeweiligen Autoren wandten. 5 Die „Heiterkeit“ avancierte allerdings im Laufe des Mittelalters auch „zum Herrschaftsattribut“ und wurde „zur Stärkung der Machtansprüche“ eingesetzt. 6 Wie ‚menschlich‘ ist also ein sich heiter gebender römisch-deutscher König, 7 wenn er mit seinem ‚Adressatenkreis‘, dem Vertreter einer aufrührerischen Stadt, über die er seine Machtansprüche wieder geltend machen will, verhandelt? Meisterlins in den Jahren 1485 bis 1488 verfasste Nürnberger Chronik hebt die Rolle Karls IV. in der Geschichte Nürnbergs deutlich hervor, 8 denn als Nachfolger der römischen Kaiser in einer Stadt angeblichen römischen Ursprungs 1 Ich danke Seán Williams für kritische Hinweise und hilfreiche Vorschläge. 2 Sigmund Meisterlin, Chronik der Reichsstadt Nürnberg 1488, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert, Bd. 3, Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, hg. durch die Historische Commission bei der deutschen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1864, S. 32‒178, hier S. 159. 3 Der erste Beleg ist das Lachen Abrahams und Saras, wenn sie erfahren, dass Gott ihnen einen Sohn (Isaak) schenkt (Gen. 17,17). Vgl. Marius Reiser, „Das Lachen in der Bibel und die christliche Lachkultur“, in: Seliges Lächeln und höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters, hg. von Winfried Wilhelmy, Mainz 2012 (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz 1), S. 26‒37, hier S. 27. Laut Reiser findet man im Alten Testament vier Arten des Lachens: 1. das fröhlich-selige, 2. das freundlich-überraschte, 3. das unsicher-törichte und 4. das überlegen-verächtliche (S. 28). 4 Winfried Wilhelmy, „Das leise Lachen des Mittelalters ― Lächeln, Lachen und Gelächter in den Schriften christlicher Gelehrter (300‒1500)“, in: Seliges Lächeln und höllisches Gelächter (wie Anm. 3), S. 38‒55, hier S. 40. 5 Wilhelmy (wie Anm. 4), S. 38. 6 Ralph N. Köhnen, „Das Lachen in den Gesichtern der Literatur ― Mittelalter und Humanismus“, in: Seliges Lächeln und höllisches Gelächter (wie Anm. 3), S. 56‒67, hier S. 59. 7 Karl IV. wurde erst 1355 Kaiser. 8 Die Weltchronik Hartmann Schedels (1493) erwähnt Karl IV. dagegen nur einmal (Bl. CIr). 420 Anne Simon gewährte er Nürnberg viele Privilegien, genehmigte 1349 den Abriss jüdischer Häuser und den dadurch ermöglichten Ausbau des Hauptmarktes, veranlasste die Errichtung der Frauenkirche an der Stelle der ehemaligen Synagoge und ließ 1356 die Kapitel I bis XXIII der Goldene Bulle in der Stadt verabschieden. 9 Da die Goldene Bulle Nürnberg als Sitz des ersten Reichstages nach der Wahl eines neuen Kaisers festlegte, diente sie unter anderem dazu, die zentrale Stellung der Stadt in der Reichspolitik zu sichern ‒ eine Zentralität, die Meisterlin und Hartmann Schedel als Hauptthema ihrer Stadtgeschichten herausstellen. Meisterlins Narrativ einer Stadtgründung durch die Römer 10 ist eine bewährte rang- und autoritätsstiftende Strategie der humanistischen Chronistik. 11 Aus diesem ‚Nachkömmling‘ Roms wurde allerdings durch die 1424 erfolgte Übergabe der Reichskleinodien ‒ einschließlich des Reichskreuzes (in dessen Schaft Teile des wahren Kreuzes eingebunden sind), der Heiligen Lanze und eines Kreuzigungsnagels ‒ in die Obhut Nürnbergs auch eine Art zweites Jerusalem, eine Kaiserstadt ganz anderen Ranges. Die Stadtgeschichte ließ sich aber nicht allein auf Papier schreiben, sondern auch an Bauwerken und durch Kunstobjekte sichtbar machen: an der Frauenkirche, an dem 1385 bis 1396-auf dem Hauptmarkt erbauten Schönen Brunnen (von Meisterlin köstlich prun genannt), an der zwischen 1506 und 1509 vom Meisterschlosser Jörg Heuss- und Kupferschmid Sebastian Lindenast d. Ä. geschaffenen, an der Frauenkirche montierten Uhr mit dem ‚Männleinlaufen‘. Anhand verschiedener schriftlicher und architektonischer Quellen untersucht dieser Beitrag die in der Geschichtsschreibung Nürnbergs eingesetzten, macht-, einfluss- und identitätsstiftenden Strategien zur Hervorhebung und Konsolidierung der Reichsstadt als Sinnbild der gerechten, christlichen Herrschaft, die zentrale Rolle Karls IV. als gunstspendenden Herrschers und das Weiterwirken des reichsstädtischen Ideals bis in die Gegenwart hinein. Dabei kommt es weniger auf die Faktizität der Erzählung und des Erzählten an als auf eine gewisse Ikonizität, die Nürnberg zur Vermarktung seiner Waren und zur Sicherung seines politischen Einflusses ausnutzen wollte. II. Der Augsburger Benediktinermönch Sigismund Meisterlin hat im Auftrag des Nürnberger Rates ‒ namentlich für Ruprecht Haller und Niclas Groß 12 ‒ seine Stadtgeschichte in einer 9 Erwin Frauenknecht und Peter Rückert, „Karl IV. und die Goldene Bulle. Zu ihrer verfassungs- und kulturgeschichtlichen Bedeutung“, in: Kaiser Karl IV. (1316-1378) und die Goldene Bulle. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, hg. von Erwin Frauenknecht und Peter Rückert, Stuttgart 2016, S. 20‒25, hier S. 20. 10 Vgl. Meisterlin (wie Anm. 2), S. 41‒49. 11 Laut Joachim Schneider „entstand jetzt [im Spätmittelalter] ein verstärkter Wettbewerb zwischen den Städten um die Frage des Alters […]. Je älter eine Stadt war, als desto vornehmer galt sie, und desto ehrenwürdiger waren ihre Geschichte und ihr Gegenwart. Denn Städte galten als Ansatzpunkt der Zivilisation überhaupt“ ( Joachim Schneider, „Das erste Ereignis einer Geschichte: Die Bedeutung der angeblich römischen Gründung Nürnbergs in der Stadtchronik des Sigmund Meisterlin“, in: Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350-1750), hg. von Susanne Rau und Birgit Studt, Berlin 2010, S. 491‒500, hier S. 493). 12 Beide Auftraggeber ehrt ein Akrostichon in der deutschen Fassung der Chronik; vgl. Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen 26), S. 132. Da ward Carolus lachen 421 lateinischen (1487) und einer deutschen (1488) Fassung geschrieben. 13 Doch war Meisterlin nicht der erste Geschichtsschreiber Nürnbergs: Wie Joachim Schneider in seiner „Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500“ ausführt, gab es schon vor ihm verschiedene Formen der städtischen Geschichtsschreibung: Jahrbücher, Familien- und Geschlechterbücher, Kaufmannsbücher und anonyme Chroniken. 14 Als Mittelsmann zwischen dem Rat und Meisterlin diente der Kaufmann und Pfleger der Sebalduskirche (zwischen 1482‒1503) Sebald Schreyer, der sich in frühhumanistischen Kreisen bewegte, dem Meisterlin Abschnitte aus der deutschen Fassung seiner Chronik zur Korrektur schickte 15 und der selber Verschiedenes zu seiner Familiengeschichte, kaufmännischen Tätigkeit und Amtsführung als Kirchenpfleger aufzeichnete. 16 Laut Carla Meyer läßt sich kein Exemplar der Chronik im Besitz des Rates, sondern nur in Privatbibliotheken wie der seines Freundes Hartmann Schedel nachweisen. 17 Bezahlt hat der Rat für beide Fassungen nur sechs Gulden, 18 obwohl er Meisterlins Reisekosten übernommen hatte, als dieser eine Bibliotheksreise zu verschiedenen fränkischen und schwäbischen Klöstern unternahm, um Einsicht in die dort aufgehobenen Welt- und Reichschroniken zu nehmen. 19 Meisterlin benutzte seriöse historische Quellen, 20 lateinische Autoren 21 und Aufzeichnungen der Nürnberger Familien Stromer und Schreyer, und in seiner Darstellung der Herrschaft Wenzels, des Sohnes Karls IV., und des Hussitenkrieges zitiert er zudem wörtlich die Historia Bohemica Enea Silvio Piccolominis. 22 Seine „Sichtung, Sammlung und Exzerpierung als sinnvoll und glaubhaft 13 Meisterlins Chronik existiert eigentlich in drei Fassungen: einer lateinischen von 1485, einer lateinischen von 1487 und einer deutschen von 1488. Es gibt „fünf Zeugen der lateinischen Fassung von 1488“ und „21 Manuskripte der deutschen Version sämtlich des 16. Jahrhunderts (ab 1519)“. Die deutschen Handschriften aus dem 16. Jahrhundert entstammen verschiedenen Redaktionen (vgl. Matthias Kirchhoff, Gedächtnis in Nürnberger Texten des 15. Jahrhunderts. Gedenkbücher, Brüderbücher, Städtelob, Chroniken, Nürnberg 2009 [Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 68], S. 261). 14 Joachim Schneider, „Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500. Gegenwart und Geschichte in einer spätmittelalterlichen Stadt“, in: Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Peter Johanek, Köln u. a. 2000 (Städteforschung Reihe A: Darstellungen 47), S. 181‒203. 15 Meyer (wie Anm. 12), S. 134. 16 Schneider stellt fest: „Eine zum Teil fiktive Geschichte des Herkommens der Familie geht voran. Sie soll das Alter und den patriziatsgleichen Rang der Schreyer belegen“ (Schneider [wie Anm. 14], S. 184). 17 Meyer (wie Anm. 12), S. 137. Allerdings behauptet Meyer auch Folgendes: „Wurde also Meisterlins Werk im ausgehenden 15. Jahrhundert und ersten Viertel des 16. Jahrhunderts wenn nicht tabuisiert, so doch weitgehend ignoriert, so erlebte es ab 1526 eine fulminante Neuentdeckung: Zuvor ist die deutsche Version nur in einer einzigen Handschrift aus dem Jahr 1519 bekannt. Auf 1526 sind dagegen gleich fünf erhaltene Exemplare datiert“ (S. 176). Sie führt die Familien Volkamer und Imhoff, Bartholomäus Haller, Wilhelm Kress (Exemplar von 1530), Joachim Tetzel (Exemplar von 1541) und Sixt Ölhafen (Exemplar von 1545) an (S. 176‒177). Es ist nicht möglich gewesen, ihre Angaben nachzuprüfen. 18 Ruprecht Haller hat Meisterlin aber nachträglich die gleiche Summe bezahlt; vgl. Paul Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland, Heft I, Die Anfänge. Sigmund Meisterlin, Bonn 1895, S. 165. 19 Meisterlin nennt die Bibliotheken (Meisterlin [wie Anm. 2], S. 43; vgl. auch Meyer [wie Anm. 12], S. 132‒133 und S. 143). 20 Einschließlich der lateinischen Chronik des Matthias von Neuenburg, die unter anderem an das Werk Martins von Troppau-anschloss; vgl. Joachimsohn (wie Anm. 18), S. 199. 21 Diese Autoren schließen ein: Eusebius (Meyer [wie Anm. 12], S. 143); Blondus, De inclinatione Romani imperii & Italia illustrata; Raymundus Marlianus; Tortellius; Junianus Maius; und das Supplementum chronicarum des Jacobus Bergomas ( Joachimsohn [wie Anm. 18], S. 177). Meisterlin selber nennt Cicero und Lucius Marius Victorinus. 22 Meyer (wie Anm. 12), S. 150. 422 Anne Simon erachteter schriftlicher Informationen“, 23 sowie die „intensive, wortgetreue Recherchenarbeit“ 24 und die „Herleitung historischer Fakten aus etymologischen Analysen“ 25 werden von der Forschung als das Humanistisch-Neue hervorgehoben. 26 Dieser Wahrheitsanspruch 27 der Chronik impliziert aber nicht unbedingt, dass sich Meisterlin tatsächlich um Faktizität bemüht, 28 denn er versetzt Ereignisse nach Nürnberg, die dort nicht stattgefunden hatten, wie die Krönung Albrechts von Habsburg, der sich eigentlich am 24. August 1298 in Aachen krönen ließ. 29 Auch die römische Gründung Nürnbergs durch Tiberius Nero im Jahre 12 vor Christus, die zum festen Bestandteil der Stadtgeschichte wurde, ist von Meisterlin erfunden. 30 Er lässt die Stadt aus Neros Heereslager hervorgehen und gleicht sie dadurch den Ursprungserzählungen von Städten wie Augsburg und Regensburg an. Wie Schneider behauptet, ging es hier „um eine höhere historische Weisheit: um die historische Herleitung der Gegenwart sowie um Exemplarität und Vorbildlichkeit der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft“ 31 und um „die virulente Frage nach einer historisch begründeten, kollektiven Identität sozialer Gemeinschaften“. 32 Laut Schneider […] hatten die Ursprungs- und Gründungsgeschichten der europäischen Historiografie eine mythische Funktion: Sie dienten der Weltdeutung und entwarfen damit zeitlos verbindliche Orientierungsmuster, die für jene menschlichen Gemeinschaften eine kollektiv-historische Legitimation und Identität schufen und ihnen, da sie aufgrund dieser Ursprungsmythen nicht zufällig entstanden waren, nun auch für die Zukunft Stabilität verhießen. 33 23 Kirchhoff (wie Anm. 13), S. 279. Dies stellt eine auch schon in Meisterlins Augsburger Chronik evidente Methodik dar. Weitere Beglaubigungsmittel schließen die „Lokalisierung der von ihm berichteten Ereignisse und Fakten im Stadtbild und de[n] Verweis auf Relikte aus der jeweiligen Zeit“ ein. 24 Kirchhoff (wie Anm. 13), S. 279. 25 Meyer (wie Anm. 12), S. 147. Der Stadtname wird zum Beispiel etymologisch erklärt. Vgl. Meisterlin (wie Anm. 2), S. 43‒44, 47‒49. 26 Vgl. Kirchhoff (wie Anm. 13), S. 279. Joachimsohn zum Beispiel bezeichnet das Werk als „das wichtigste historische Ereignis des deutschen Frühhumanismus“ ( Joachimsohn [wie Anm. 18], S. 248). Schneider behauptet, Meisterlins Chronik sei „für Jahrhunderte […] de[r] Leittext der städtische[n] Geschichtsschreibung in Nürnberg“ gewesen (Schneider [wie Anm. 11], S. 491). 27 Kirchhoff (wie Anm. 11), S. 279. 28 Joachimsohn beschreibt Meisterlins Chronik als „in allen wesentlichen Punkten ein Werk der Phantasie“ ( Joachimsohn [wie Anm. 18], S. 233). 29 Meyer (wie Anm. 12), S. 144‒145. 30 Meyer (wie Anm. 12), S. 153; Schneider (wie Anm. 11), S. 498. 31 Schneider (wie Anm. 11), S. 492. Allerdings bestätigen sowohl die Stadtmauer als auch die von Meisterlin erwähnten, scheinbar noch sichtbaren Ruinen eines der Göttin Diana gewidmeten Tempels auf dem Burgberg den römischen Ursprung (Meisterlin [wie Anm. 2], S. 55; Meyer [wie Anm. 12], S. 147). 32 Schneider (wie Anm. 11), S. 491. Franz-Josef Schmale bemerkt dazu: „Ebenso können Gedächtnis und Erinnerung bewußt und gezielt auf das hin erweitert werden, was die Gruppe oder Gruppen, in die ein ich sich eingebunden weiß ‒ Familie und Vorfahren, Stamm, Volk, Staat, religiöse Gemeinschaft, Institutionen ‒, angeht und betroffen hat und von diesen als konstitutiv für sie selbst erachtet wird. Erinnerung wird also sogleich zum Mittel, Gemeinschaften zu konstituieren, sie über die Lebenszeit der gleichzeitig lebenden Mitglieder hinaus zu erhalten und Traditionen aufzubauen, die durch Gedächtnis- und Erfahrungsfähigkeit von später Lebenden wiederaufgenommen und bewahrt werden kann“ (Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 11). 33 Schneider (wie Anm. 11), S. 492. Da ward Carolus lachen 423 Die Geschichtsschreibung diente also unter anderem dazu, zeitgemäße Mythen zu entwerfen, 34 die zur Bildung identitätsstiftender „Gedächtnisgemeinschaften“ beitrugen, 35 denn: Mythen verdichten, ordnen und vereinfachen das kaum überschaubare Geschehen der Geschichte zu sinnstiftenden Geschichten, die aus den historischen Erfahrungen Identität und Zuversicht für die Zukunft schaffen. Sie setzen klare Bewertungen, oft mit starken Figuren und einer Abgrenzung nach außen verknüpft. 36 Die römische Vergangenheit Nürnbergs bildet also einen „Erinnerungsort“, 37 der wenigstens für die gebildete herrschende Elite eine Identität und ein verbindliches Orientierungsmuster für deren Verhalten schuf. Sie verlieh der Stadt ihren ,Sinn‘. Meisterlin betont auch, daß Nürnberg trotz Ausbeutung durch die römischen Statthalter schon zu Römerzeiten kaisertreu geblieben ist, auch wenn die anderen Germanen die wilden haiden (nämlich die Goten, Westgoten und Hunnen) ins Reich eindringen ließen. 38 Neben dem römischen Ursprung der Stadt baut sich Meisterlins Stadtmythos hauptsächlich auf der „starken Figur“ Karls IV. auf. 39 Laut Kirchhoff folgt „Meisterlins Chronik […] dem Grundprinzip der stetigen Vergrößerung, Verschönerung und moralischen Erhebung der Stadt. […] Somit erscheint die Stadtgeschichte als stetige, fast lineare Entwicklung und als historisch-teleologische Zwangsläufigkeit.“ 40 Die Herrschaft Karls wird als Höhepunkt der Geschichte Nürnbergs dargestellt, auch wenn der politische Aufstieg der Stadt eigentlich schon unter dem Wittelsbacher Ludwig IV. (reg. 1314‒1347) angefangen hatte. 41 Zudem war das Verhältnis zwischen Karl und der Reichsstadt nicht immer spannungsfrei gewesen, wie der Chronik auch zu entnehmen ist. Karl wurde am 11. Juli 1346 von den Kurfürsten zum Gegenkönig gewählt und am 26. November 1346 in Bonn gekrönt. Viele Bischöfe und fast alle Reichsstädte, unter ihnen Nürnberg, blieben Ludwig aber treu. Nach 34 Laut Schneider ist es unklar, ob die Zeitgenossen an die Gründungsmythen glaubten oder nicht. Deren Glaubwürdigkeit mag auch nicht von vorrangiger Wichtigkeit gewesen sein (Schneider [wie Anm. 11], S. 493). 35 Daniel Kosthorst, „‚Ein Hoch auf uns‘ - Mythen der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg“, in: Deutsche Mythen seit 1945, hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Kleber Kultur, Bonn u. a. 2016, S. 10-21, hier S. 13. 36 Kosthorst (wie Anm. 35), S. 13. 37 Kosthorst (wie Anm. 35), S. 13. 38 Meisterlin (wie Anm. 2), S. 52. 39 Das dritte, längste Buch der deutschen Fassung beschreibt den sogenannten Handwerkeraufstand von 1348/ 1349, die Herrschaft Karls, die seines Sohns Wenzels und die Hussitenkriegen. Siehe auch Kirchhoff (wie Anm. 13), S. 264. 40 Kirchhoff (wie Anm. 13), S. 265. 41 Ludwig hatte der Stadt nämlich vierunddreißig Privilegien verliehen oder erneuert, einschließlich des Großen Freiheitsbriefes Friedrichs II. aus dem Jahre 1219. Er hielt sich während seiner Regierungszeit vierundsiebzig Mal in Nürnberg auf. Zudem hatte er 1339 das Reichsschultheißenamt, das von den Burggrafen zu Nürnberg ausgeübt worden war, an den Patrizier Konrad Groß verpfändet und mit dem Amt auch die Ausübung des „hohen Gerichts“ in den städtischen Ämtern, zum Beispiel die Erteilung des Bürgerrechts, das Stadtverbot, das allgemeine Strafgericht, die Verbannung und die Gewerbeaufsicht. Die Frage der Zuständigkeit in der Ausübung der verschiedenen Gerichtsbarkeiten hatte immer Spannung zwischen der Stadt und den Burggrafen aus dem Haus Zollern verursacht. Dadurch wurde also ein wichtiger ‒ auch identitätsstiftender ‒ Schritt für das Selbstbewusstsein Nürnbergs als „eines in sich geschlossenen Rechtssubjektes […], das seine sichtbare Mitte im Rathaus hat“ getan (Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter, Göttingen 1958 [Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften], S. 22). 424 Anne Simon dem Tode Ludwigs am 11. Oktober 1347 wurde schließlich Günther XXI. von Schwarzburg-(1304 -14. Juni 1349) von vier Kurfürsten zum König der Deutschen gewählt. Schwer krank und von Karl in der Schlacht bei Eltville besiegt, verzichtete Günther am 24. Mai 1349 auf den Thron. Inzwischen hatten einige mit ihrer politischen Stellung in Nürnberg unzufriedene Handwerker die Wirren ausgenutzt, um den ‚Handwerkeraufstand‘ gegen den jetzt von Anhängern Karls dominierten Stadtrat anzustiften. Der Begriff ‚Handwerkeraufstand‘ trifft allerdings nicht ganz zu, denn im ‚Aufruhrrat‘ befanden sich mehr Mitglieder der Patrizierfamilen als eigentliche Handwerker. 42 Nach der Unterdrückung des Aufstandes (mit Hilfe Konrads von Heideck) begnädigte Karl am 13. Juli 1349 die Aufrührer, setzte den alten, durch ehrbare Familien erweiterten Stadtrat wieder ein und verbot alle Zünfte. 43 Meisterlin beschreibt ausführlich die Schandtaten des Pöbels, 44 bemüht sich aber, die Weisheit des Rates zu loben und die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen zu entkräften. 45 Der Sieg Karls wird als Neugeburt der Stadt dargestellt: Karl verleiht der Stadt ein 42 Zum Beispiel Albrecht und Konrad Ebner, Konrad Schürstab, Ulrich Stromer und Konrad Pfinzing. Der Aufruhrrat übte zwischen Juni 1348 und dem 21. September 1349 die Macht aus. 43 Die Bestrafung der Aufrührer überließ er am 2. Oktober 1349 dem Rat selbst (Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher und Rudolf Endres, Nürnberg 2 2000, S. 404). Allerdings „[kamen] die Angehörigen der oligarchischen Oberschicht […] weitgehend unbehelligt davon“, denn „ihre Wirtschaftspotenz“ war „zum Faktor von reichspolitischer Relevanz geworden, auf den Karl nicht verzichten konnte. […] Der Rat und die ihm angehörigen Familien wie die Groß, Haller, Muffel, Stromer oder Vorchtel dienten dem Luxemburger als Bankiers und Finanziers, wickelten Rüstungsgeschäfte für ihn ab und unterstützten seine größten Unternehmungen durch schier unglaubliche Geldsummen“ (Benno Baumbauer und Jiří Fajt, „Nürnberg ‒ die Metropole wird karolinisch“, in: Kaiser Karl IV.: 1316-2016: Erste Bayerisch-Tschechische Landesausstellung: Ausstellungskatalog, hg. von Jiří Fajt, Markus Hörsch und der Nationalgalerie Prag, Prag 2016, S. 111‒121, hier S. 112). Außerdem arbeiteten Ulrich Stromers Bruder Konrad, dessen Sohn Friedrich, wie auch weitere Nürnberger in Karls Prager Kanzlei. Ab 1336 sind zwei Nürnberger Firmen, die Schopper und Stromer, in Böhmen nachweisbar. Laut Baumbauer „migrierten böhmische Kaufleute wie Götz Scheffein oder Meinwart Wölflein nach Nürnberg und verschwägerten sich mit heimischen Unternehmen“ (Benno Baumbauer, „Nürnberg - die vornemste und baz gelegenste stat des richs“, in: Weiser Herrscher in einer Zeit der Katastrophen. Auf den Spuren Kaiser Karls IV. zwischen Prag und Nürnberg, hg. von Jiří Fajt und Jan Šícha, Augsburg 2016, S. 110-13, hier S. 111). 44 Der Pöbel steckt die Stadt in Brand, bricht in die Häuser der Patrizier und sogar ins Rathaus ein, um die dort aufbewahrten Schätze einschließlich Stadtsiegels, Urkunden, Bücher und Wertgegenstände davonzutragen und zu zerstören (Meisterlin [wie Anm. 2], S. 141‒144). Nürnberg, das Meisterlin gleich am Anfang seiner Chronik urbs nennt (S. 32‒33) und als unter den flügeln des adlers stehend beschreibt (S. 44‒45), wird auch hier mit Rom gleichgesetzt, nicht zuletzt indem der Handwerkeraufstand mit dem Aufstand des römischen Volkes gegen den Senat verglichen wird (S. 137). Der Aufstand wird zum Teil dem Reichtum der Juden zugeschrieben, die dem Kaiser groß gut schenkten, damit sie weiterhin Wucher treiben durften. Beim Einbrechen in die Judenhäuser entdeckt der Pöbel viele Schätze und plündert sie (S. 146). Es mag sein, dass die in den Vordergrund gerückte Geldgier der Juden schon als Rechtfertigung des 1349 stattfindenden Judenprogroms gedacht ist. Erst drei Monate vorher hatte Karl den Nürnberger Juden seinen Schutz versprochen ( Jiří Fajt und Jan Šícha, „Einleitung“, in Weiser Herrscher (wie Anm. 43), S. 10). 45 Vgl. Meisterlin (wie Anm. 2), S. 132. Schneider stellt außerdem fest: „Bei Meisterlins Aufstandsbericht konnte festgestellt werden, daß einzelne politisch brisante Passagen der lateinischen Version im Deutschen wegfielen. Es waren solche Bemerkungen, in denen die Nürnberger Verfassung von den Aufständischen konkret kritisiert wurde und objective Anlässe für einen Aufstand genannt wurden“ ( Joachim Schneider, „Humanistischer Anspruch und städtische Realität: Die zweisprachige Nürnberger Chronik des Sigismund Meisterlin“, in: Zweisprachige Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Deutschland, hg. von Rolf Sprandel, Wiesbaden 1993 [Wissensliteratur im Mittelalter 14], S. 271‒316, hier S. 287). Da ward Carolus lachen 425 neues secretsigel, 46 den treu gebliebenen Metzgern werden Privilegien erteilt, neue Klöster werden gestiftet, 47 und Nürnberger Handelsgesellschaften Zollfreiheiten und andere Privilegien gewährt, die ihnen die Erschließung neuer Märkte vor allem in Ungarn und Polen ermöglichen. Zudem wird die Goldene Bulle am 10. Januar 1356 während eines Reichstages in Nürnberg promulgiert. Obwohl die Bulle größtenteils nur die schon bestehende Praxis kodifizierte, 48 sicherte sie die Zentralität der Stadt in der Reichspolitik, da sie Nürnberg als Sitz des ersten Reichstages nach der Wahl eines neuen Kaisers festlegte. Als Gegenleistung unterstützte die Stadt mit ihrem enormen, durch den priviligierten Handel gewonnenen Reichtum anderthalb Jahrhunderte lang die politischen Ziele der Kaiser. 49 Diese Versöhnung gipfelt in der durch das Lachen ausgedrückten Heiterkeit Karls, wenn er auf das durch Ulman Stromer vorgetragene Anliegen der Stadt, nämlich den Abriss der Judenhäuser, reagiert: Da ward Carolus lachen und sprach: ‚gantz ist es unsern renten kain schad, was darauß der junkfrewelichen mutter gottes ze eren beschicht, auch so verachten wir geren den zeitlichen nutz, wo uns entspringt ewige ere. darumb bei unser majestat genad verlierung mustu deinen freunden und ratsgenoßen unsern brief über die sach antwurten, und sollt mit in schnellen fleiß fürkeren, daß solichs beschech, das wir gebieten‘. Zu hant schuff er kaiserlich gebot zu schreiben, daß sie den plan raumeten, darauf vil heuslein und hütten waren […]. darzu sollt man gebieten den juden, daß sie in jaresfrist alle heuser verkauften, die sie umb den markt hetten, den cristen, und daß die cristen daran machten der hailigen bild. […] er gebot auch, daß man die judenschuel raumet und köstlich bawet [ein capell] auf sein kaiserliche gab die er dazu thet, und die weihet in der ere der obersten versprecherin des römischen reiches, der reinen junkfrawen Maria […]. 50 Laut Ralph Köhnen „[taucht] bereits in Urkunden des späten 11. Jahrhunderts […] das Motiv des hilaris dator, des lächelnden Schenkers auf, der aus vollem Herzen Gaben verteilt“. 51 Dieses performative, hier an den Adressatenkreis der patrizischen Leser gerichtete Lachen Karls signalisiert also sein herrscherliches, gleichzeitig aber auch Machtansprüche 46 Das Siegel zeigt einen Adler mit gekröntem Frauenkopf. 47 Die Waldströmer erbauten zum Beispiel das Franziskanerkloster, die Haller ein Pilgerspital, die Ebner stifteten das Klarissenkloster, die Groß schenkten dem Katharinenkloster und dem Heilig-Geist-Spital Geld (Meisterlin [wie Anm. 2], S. 153). 48 Indem sie zum Beispiel die Thronfolge, die Wahl und die Krönung des Kaisers regelte und die Pflichten und Rechte der Kurfürsten festsetzte (vgl. Stadtlexikon [wie Anm. 43] S. 369‒370). 49 Laut Fajt and Šícha wurde „[d]en Nürnbergern […] als Ersten nördlich der Alpen bewusst, dass man durch den Geldhandel märchenhaften Reichtum erwerben konnte, und sie begannen daher mit der Gründung eigener Bankhäuser. Deshalb wandten sie sich auch an Karl IV., damit er ihnen bei der Beiseitigung der jüdischen Konkurrenz half. Im Gegenzug boten sie eine allumfassende Unterstützung der kaiserlichen Politik im Reich an. Nürnberg wurde zu einem der größten Anhänger und Unterstützer Karls IV. Ohne die Nürnberger Gelder wäre wohl Burg Karlstein nicht entstanden, ohne das Barvermögen der Nürnberger Banken hätte der Kaiser 1373 nicht die Markgrafschaft Brandenburg kaufen können“ (Fajt and Šícha [wie Anm. 43], S. 18). 50 Meisterlin (wie Anm. 2), S. 159‒160. Die Markturkunde, die die Genehmigung für den neuen Markt erteilt, ist auf den 16. November 1349 datiert, und am 5. Dezember 1349 wurden die Juden vertrieben. Karls großzügiger Verzicht auf den zeitlichen nutz, d. h. die ihm zustehenden renten, dient natürlich auch dazu, ihn als besonders frommen, weisen Herrscher zu kennzeichnen, dem das ewige Seelenheil wichtiger als irdischer Gewinn war. 51 Köhnen (wie Anm. 6), S. 59. 426 Anne Simon stärkendes Geschenk an die Stadt, 52 nämlich die Wiederaufnahme in seine Gunst, die Wiederherstellung der für den Handel und das Rechtsleben der Stadt so wichtigen Ordnung und gewissermaßen auch der reichsstädtischen Identität, denn: Die Reichsstädte des Spätmittelalters verstehen sich und ihren Interessenbereich gewissermaßen als selbstverständliche Ausformungen der universalen Idee des Reiches. […] In den Gassen von Nürnberg, Augsburg und Ulm ist das Reich, in dessen Ordnung das Heil der Welt begründet ist. Die Ordnung des Reiches ist dem Denken der Bürger identisch mit Recht und Freiheit der Reichsstadt […]. 53 Indem der Handwerkeraufstand die Ordnung der Stadt zerrüttet hatte, hatte er den Handel und die Identität Nürnbergs als treuer, gut geregelter Reichsstadt auch zerrüttet: Indem die Könige ihr Recht in den Städten lokalisierten, machten sie das Reich fest in ihnen, und da es für das Bewußtsein der Bürger auch in der faktischen Beschränkung auf den engen städtischen Bericht nichts von seiner gleichsam raumlosen, universalen Würde verlor, erscheint jene Städteangst durchaus verständlich, die bei einem Übergriff auf Bürgergut die Christenheit wanken sieht. 54 Das Lachen heilt und bringt Heil, denn Karl schenkt der Stadt auch eine gesegnete Zukunft: Der Abriss der Judenhäuser und Synagoge und der Bau der Frauenkirche geschehen nämlich nicht nur mit seiner Genehmigung, sondern unter dem Schutz ‒ sogar durch die Veranlassung ‒ der Jungfrau Maria selbst, denn Stromer bringt seine Bitte um die Vertreibung der Juden auß ordnung der reinen gottes gebererin Maria vor. 55 Auch wenn Meisterlin die Herrschaft Karls nicht immer positiv bewertet ‒ er wirft ihm nämlich vor, das Reich zugunsten von Böhmen ausgebeutet zu haben 56 ‒ wird der Kaiser als eine Schlüsselfigur in der Geschichte Nürnbergs dargestellt, die „Identität und Zuversicht für die Zukunft schaff[t]“ 57 und an der sich die Stadt weiterhin orientieren sollte. III. Über die Früchte dieser Orientierung liest man in Hartmann Schedels Nürnberger Weltchronik, die von zwei Nürnberger Kaufleuten in Auftrag gegeben wurde: Sebastian Kammermeister und seinem Schwager Sebald Schreyer, der früher als Mittelsmann zwischen 52 Man hätte die Symbolik dieses Lachens ja auch verstanden: „Man kann für das Mittelalter vielmehr mit einiger Berechtigung formulieren, daß auch die Politik, das Recht, ja die Religion neben und teilweise vor der Schrift und dem Wort mit Akten mit performativem Charakter geprägt waren“ (Gerd Althoff, „Zum Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter“, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von Johannes Laudage, Köln u. a. 2003, S. 79‒93, hier S. 80). 53 Schmidt (wie Anm. 41), S. 71. 54 Schmidt (wie Anm. 41), S. 68. 55 Meisterlin (wie Anm. 2), S. 159. Am 8. Juli 1355 erließ Karl den Stiftungsbrief für den Bau der Frauenkirche an der Stelle der abgerissenen Synagoge „zu Lob und Ruhm seines Kaisertums, zu Ehren der glorreichen Jungfrau Maria, der Mutter Gottes und unseres Herrn Jesu Christi, zu seinem und seiner Vorfahren Seelenheil, in seiner kaiserlichen Stadt Nürnberg“ (zitiert nach Baumbauer und Fajt [wie Anm. 43], S. 114). Die ursprüngliche Stiftungsurkunde ist auf lateinisch. 56 Meisterlin (wie Anm. 2), S. 156. 57 Kosthorst (wie Anm. 35), S. 13. Da ward Carolus lachen 427 dem Stadtrat und Meisterlin gedient hatte. 58 Die Weltchronik erschien 1493 in einer lateinischen und einer deutschen Fassung. 59 Unter den 1809 Holzschnitten befinden sich dreiundfünfzig Städtebilder, 60 wovon achtundzwanzig Städte von überregional politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung darstellen, die wichtige Handelsverbindungen mit Nürnberg pflegten. 61 Schedel, der selber einer kaufmännischen Familie entstammte, unterstreicht die wirtschaftliche Macht der Stadt, deren Vorrangsstellung auch visuell hervorgehoben wird: Der Nürnberg darstellende Holzschnitt ist einer von nur zwei, die eine ganze Doppelseite in Anspruch nehmen (Bl. LXXXXIXv‒Cr). Der andere, mit dem Titel Die siben churfursten Des heilligen romischen reichs, stellt den Kaiser, die Sieben Kurfürsten und Pagen dar, die Stadtwappen tragen (Bl. CLXXXIIIv‒CLXXXIIIIr). Dieser bildlich-politische Parallelismus wird im Nürnberger Holzschnitt weitergeführt: Die Kaiserburg ragt über der Stadt empor, die Stadtwappen annoncieren die gegenseitige Abhängigkeit von Stadt und Reich. Die wirtschaftliche Macht Nürnbergs wird durch die Mühle unten rechts angedeutet. Im Vordergrund weisen drei Objekte auf die Kreuzigung Christi und daher auf die in Nürnberg aufbewahrten Reichsreliquien. Da der Holzschnitt dem Text vorangestellt ist, liest man die Stadtgeschichte unter dem Einfluss dieser visuellen Propaganda. Die Chronik beschreibt Nürnberg als in gantzem teütschen land vnd auch bey eüßern ein fastnamhaftige vnd weyt besuchte stat und berümbts gewerbhaws teüscher land, die ihren Ursprung bis auf Kaiser Tiberius Claudius Nero oder seinen Bruder Drusius Nero zurückverfolgen kann (Bl. Cv). 62 Die Verwurzelung Nürnbergs in der römischen Vergangenheit verstärkt nicht nur dessen Autorität und Ansehen, sondern auch dessen Anspruch, die Reichsstadt schlechthin zu sein. Diese bewußte Positionierung Nürnbergs als ‒ sozusagen ‒ reichsstädtischer Marktführer drückt sich auch in der Kritik an denjenigen aus, die das Alter der Stadt in Frage stellen, denn sogar diese Unsicherheit stellt Nürnberg auf die gleiche Ebene wie Rom: 58 Zur Weltchronik Schedels siehe Nürnberg 1300‒1550. Kunst der Gothik und Renaissance, München 1986, S. 232‒235, Holzschnitt Nürnbergs S. 110‒111; und Christoph Reske, Die Produktion der Schedelschen Weltchronik in Nürnberg, Wiesbaden 2000 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 10). Laut Reske gehört Schedels Weltchronik dem dritten dreier Typen an, der „‚imago mundi‘, die neben der Geschichte auch Geographie und andere Wissensgebiete zusammenfaßt, um ein ‚erfahrbares und erlernbares Weltbild‘ zu erzeugen“ (Reske, S. 3). Reske zitiert Anna-Dorothee von den Brincken, „Die lateinische Weltchronistik“, in: Mensch und Weltgeschichte, hg. von Alexander von Randa, München 1969, S. 43‒86, hier S. 47. 59 Die lateinische Fassung erschien am 12. Juli 1493, die von Georg Alt, einem Nürnberger Stadtschreiber, übersetzte deutsche Fassung am 23. Dezember 1493. 60 1803 Holzschnitte illustrieren die deutsche Fassung. Die Holzschnitte wurden von Michael Wolgemut und dessen Stiefsohn Wilhelm Pleydenwurff hergestellt. Die Städtebilder dokumentieren „einen Städtebegriff [Wehrhaftigkeit, Heiligkeit und Schönheit], der bereits im spätantiken Städtelob ausgebildet wurde“ (Roland Gerber, „Zeichen der Stadt. Zum mittelalterlichen ‚Imaginaire‘ des Urbanen“, in: Was macht im Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte, hg. von Kurt-Ulrich Jäschke und Christhard Schrenk, Heilbronn 2007 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 18), S. 25‒46, hier S. 28‒29. 61 Gerber (wie Anm. 60), S. 30. 62 Bei einem Heereszug schlug Drusius Nero z. 10 v.-Chr. das Lager in Nürnberg auf. Aus diesem Keim erwuchs die Stadt. Das Lager von Drusius und ein Festungsturm sind in der illustrierten Stadtchronik (z. 1613) des Nürnberger Wirts Wolf Neubauer abgebildet (Stadtlexikon [wie Anm. 43], S. 386‒387 und 736). Das Ursprungsnarrativ, das Nürnberg als eine von den Römern gegründete Stadt darstellt, wird aus der Chronik Meisterlins übernommen. Vgl. Meisterlin (wie Anm. 2), S. 41‒49. 428 Anne Simon Vnd wiewol auch dise statt von ettlichen für new geachtet wirdt darumb das in den schrifften der alten wenig dauon geschriben gefunden werde. vnnd auch keynerlay fuoßstapffen oder anzaigung des alters darinn erschynen dann allain die vorbemelt alte burg vnd ettliche hewser. des sich doch nymant verwundern sol. denn auch von vil anderan [sic] treffenlichen stetten nit allain teütscher sunder Auch Welscher vnd andrer land. vnnd sunderlich von der in aller werlt berümbtisten statt Rom irs vrsprungs. alters vnd stiffters mancherlay zweifellicher wone vn vermuotung vnder den geschihtschreibern erscheinen. (Bl. Cv) Die Gleichsetzung mit Rom, Sitz des Papstes und der katholischen Kirche, ermöglicht es Nürnberg, sich etwas von der spirituellen Autorität der Ewigen Stadt anzueignen. Die Verschmelzung von Reichsstadt und christlichem Kaisertum wird in der Weltchronik durch die Assozierung mit Karl dem Großen gefestigt: Aber Karolus hielte sein wartt mit dem dritten teil des heers zu Nürmberg vnd in den nahenden enden daselbst vnd pawet in form vnd gestalt seines gezeltes bey Nürmberg ein kirchlein das nachfolgend durch babst Leo den dritten. der dem benannten Karolo gein Paderporren in Sachssen nach zohe. auff dem widerweg gein Rom in sannt Katherinen der iunckfrawen vnd martrerin ere geweiht worden ist vnd yetzo zu dem alten fürt genant wirdt. (fol. Cv) Nürnberg wird also in die Vereinigung und Verchristlichung des Reiches durch Karl den Großen integriert. Die zeltförmige Katharinenkapelle bildet ein greifbares Zeichen seiner Gunst und Andenken an die strategisch-militärische Unterstützung durch eine Stadt, die, wie wir bei Meisterlin gesehen haben, von Anfang an kaisertreu gewesen ist. 63 Nürnbergs Reichstreue wird in der Weltchronik wieder hervorgehoben: Nach dem aber dise statt an das Römisch reich komen ist so ist sie seydher mit hoher trew vnd bestendigkeit dem Römischen reich vnuerwenckt angehangen. vnd hat den römischen konigen alweg hohbestendigen glawben vnnd trew gelaystet (Bl. Cv). Die römisch-reichsstädtische Identität überwiegt also alles andere. Auf den Handwerkeraufstand wird kein Wort verschwendet, Karl wird allein in Zusammenhang mit dem Ausbau der Stadtmauer kurz erwähnt (Bl. CIr). Stattdessen werden die Lage, die Geschäftstüchtigkeit und der Reichtum der Stadt, die herrlichen Bauten und die Reichskleinodien geschildert: 64 Sie frewet sich auch der keyserlichen zaichen. als des mantels. schwerter. scepters. Der öpffel vnd kron des großen keyser Karls die die zu Nümberg [sic] bey ine haben. vnd die in der krönung eins römischen konigs von der heiligkeit vnnd alters wegen einen glawben geben. So wirdt auch dise statt sunderlich hohgezieret mit dem vnerschetzlichen vnd götlichsten sper. das die seyten Jhesu cristi am 63 Die Kapelle steht noch in Altenfurt am Rande des heutigen Nürnbergs (Stadtlexikon [wie Anm. 43], S. 63; Fritz Traugott Schulz, Die Rundkapelle zu Altenfurt bei Nürnberg, Straßburg 1908 [Studien zur deutschen Kunstgeschichte 94]). 64 Der deutsche König Sigismund ließ die Reichskleinodien 1424 von Burg Karlstein nach Nürnberg bringen, um sie vor den Hussiten sicherzustellen. Der in Nürnberg geborene Sigismund (1368-1437) war der Sohn Karls IV. und dessen vierten Frau, Elisabeth von Pommern. Für die Reichskleinodien siehe Stadtlexikon (wie Anm. 43), S. 874 und Johannes Müllner, Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623, Bd. 2, Von 1351-1469, hg. von Gerhard Hirschmann, Nürnberg 1984 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 11), S. 244-250. Ohne die Krönungsinsignien ‒ die Krone, das zeremonielle Schwert, das Schwert des Heiligen Mauritius, den Reichsäpfel, das Zepter und verschiedene angeblich von Karl dem Großen bei seiner Krönung benutzte Gewänder ‒ konnte kein Kaiser legitim gekrönt werden, denn die Insignien haben das Reich nicht lediglich symbolisiert, sondern regelrecht verkörpert und verliehen dessen Herrschern ihre Legitimität. Da ward Carolus lachen 429 creutz geoffent hat. Auch mit einem mercklichen stuck des creützs vnd anderen in der gantzen werlt zewirdigen heilthumen. die ierlich zu österlicher zeit offentlich daselbst mit grosser solennitet vnd zierlichkeit gezeigt werden. (Bl. CI r ) Hier ist eine andere Reichsidentität ausschlaggebend, denn die alljährliche Heiltumsweisung am zweiten Freitag nach Ostern auf dem Hauptmarkt 65 ermöglichte es Nürnberg, mächtigen Herrschern, Adligen, Geistlichen und Kaufleuten nicht nur aus Deutschland sondern aus ganz Europa seinen Status als symbolisches Herz des Reiches buchstäblich vor Augen zu führen und sich als ‚zweites Jerusalem‘ und Lokus des Heils darzustellen. 66 Die sich anschließende Handelsmesse bildet auch ein wiederkehrendes Merkmal der Stadtgeschichte: 67 die Verbindung von religiöser und politischer Bedeutung mit wirtschaftlichem Vorteil. Dank strengster Qualitätskontrolle durch das Rugsamt genossen in Nürnberg hergestellte Waren einen sehr hohen Ruf, und deren Verkauf auf dem Hauptmarkt war sozusagen ‚marianisch‘ gesegnet. Bei Schedel dient also die Geschichtsschreibung der Orientierung und Legitimation, aber auch dem ‚branding‘: A brand can be defined as ‚a mixture of tangible and intangible attributes, symbolized in a trademark, which, if properly managed, creates influences and generates value‘. […] Marketers suggest that the brand is more important than the product being sold, and believe communicating the core values of the brand is key to generating customer loyalty and brand recognition. 68 Die reichstädtische Identität sollte nationale und internationale Markentreue erzeugen, die wiederum die politische und wirtschaftliche Stabilität der Stadt sicherte. Schedels Weltchronik wird zum Mittel nicht nur innerstädtischer Identitätsstiftung und -stabilisierung, sondern auch außerstädtischer Reklame und Einflusses. 69 65 Karl ließ 1361 seinen Sohn und Erben Wenzel (1361‒1419) in der Frauenkirche taufen und zu diesem Anlaß die Reichskleinodien, einschließlich Reliquien, zum ersten Mal in Nürnberg öffentlich vorzeigen, wodurch die Stadt, die Luxemburger Kaiserdynastie und die Heiligkeit der materiellen Zeugen vom Leben und Leiden Christi miteinander verbunden wurden (Stadtlexikon [wie Anm. 43], S. 433). 66 Unter den Besuchern befanden sich u. a. im Jahre 1426 Herzog Johann in Bayern und Graf Ludwig von Öttingen (Müllner [wie Anm. 64], S. 254); im Jahre 1439 Herzog Johann in Bayern, Markgraf Albrecht zu Brandenburg und die Bischöfe von Bamberg und Eichstatt (S. 338); Herzog Friedrich der Weise von Sachsen (1487, 1496); Herzog Bugislaw von Pommern (1523); Herzog Gerhard von Jülich und Berg (1446). Vgl. auch Julia Schnelbögel, „Die Reichskleinodien in Nürnberg 1424‒1523“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 51 (1962), S. 78‒159, hier S. 141‒142. 67 Die Handelsmesse dauerte zwei Wochen. Im Jahre 1431 besuchte Sigismund persönlich die Heiltumsweisung, verlängerte die Dauer der Handelsmesse auf 24 Tage und gewährte den Händlern zahlreiche Privilegien, was großen Protest seitens anderer Städte wie Frankfurt and Nördlingen hervorrief, die die Begünstigung Nürnbergs übelnahmen (vgl. Dieter J. Weiß, „Des Reiches Krone - Nürnberg im Spätmittelalter“, in: Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut Neuhaus, Nürnberg 2000, S. 2‒-41, hier S. 28; Eugen Franz, Nürnberg: Kaiser und Reich. Studien zur reichsstädtischen Aussenpolitik, München 1930, S. 26; Schnelbögel [wie Anm. 66], S. 129‒148). 68 Phil Hubbard, city, London/ New York 2006 (Key Ideas in Geography), S. 86‒ 87. Hubbard zitiert The Future of Brands: Twenty-Five Visions, hg. von Rita Clifton und Esther Maughan, New York 2000, S. xvi. 69 Auf Handelsmessen ließen sich nämlich auch Bücher verkaufen, und im Nürnberger Gerichtsbuch befindet sich die Reinschrift der Konten vom 22. Juni 1509, die berichten, daß 1134 Exemplare der Weltchronik verkauft worden waren, und zwar an Kunden aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Österreich, Ungarn und Polen (vgl. Eberhard Slenczka, „Die Weltchronik des Hartmann Schedel aus Nürnberg“, in: Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg 1400-1800, hg. von Hermann Maué und Christine Kupper, Nürnberg 2002, S. 285‒303, hier S. 297). 430 Anne Simon IV. Die Geschichte lässt sich allerdings nicht nur textlich, sondern auch architektonisch erfassen: Sie [die Erinnerungsgemeinschaft der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt] schuf im Stadtraum ‚Orte der Erinnerung‘ [Pierre Nora], die in der Ausstattung öffentlicher Bauten durch Malerei und Plastik, in Denkmälern und dinglichen Symbolen nicht lediglich die eigene Stadtgeschichte zu verdeutlichen suchte, sondern häufig auch deren Einbettung in die Universal- und Heilsgeschichte, die Beziehungen der Stadt zum Stadtherrn, sei es nun ein Herrscher oder ein Landesfürst, sowie die historische Begründung städtischer Wertsysteme. 70 Ein solcher Ort der Erinnerung ist die auf dem Nürnberger Hauptmarkt stehende, von Karl IV. gestiftete, nach dem Vorbild der Marienkapelle in Aachen gebaute Frauenkirche. 71 Während die Frauenkirche die Geschichte der Juden ‚überschreibt‘, schreibt sie die Geschichte des christlichen Heils weiter, die jedes Jahr durch die Heiltumsweisung vor der Frauenkirche ‚wiedererzählt‘ wurde. 72 An deren Fassade findet man die Wappen des Heiligen Römischen Reiches, der Sieben Kurfürsten, Nürnbergs und Roms, Krönungsortes Karls des Großen. Nicht nur die gegenseitige Abhängigkeit Nürnbergs und des Kaisers wird also an prominentester öffentlicher Stelle steinern verkörpert und zur Schau gestellt, sondern auch der reichsstädtische Stolz, denn: [d]ie an der Brüstung angebrachten Wappen des Reiches, der Kurfürsten und der Stadt Rom stellen nicht nur eine Reminiszenz an die Goldene Bulle dar, sondern eine Repräsentation des Heiligen Römischen Reichs als Ganzes; selbstbewusst reihte sich auch die Reichsstadt mit ihrem Schild in den Zyklus ein. 73 Die Westfassade der Frauenkirche ist zudem vom Männleinlaufen geschmückt, einer 1509 montierten mechanischen Uhr. Jeden Tag stoßen die Herolde um Mittag in ihre Posaunen, und die Sieben Kurfürsten huldigen Karl IV., indem sie dreimal an ihm vorbeimarschieren und sich vor ihm verbeugen. Ein Jahrhundert lang inszenierte Nürnberg also auf dem von Karl IV. gutgeheißenen Marktplatz ein großes religiöses Schauspiel, in dessen Verlauf die vom Kaiser angebeteten Reliquien vorgezeigt wurden, von denen er wiederum am Männleinlaufen zwei ― Zepter und Reichsapfel ― selber in den Händen hält. Diese „Vergegenwärtigung von Kaiser und Reich“ ist beschrieben worden als „Spiel“, bei dem das Reich „zu einem wohlfunktionierenden Uhrwerk, weithin erkennbar zugleich als Regulator des 70 Peter Johanek, „Einleitung“, in: Städtische Geschichtsschreibung (wie Anm. 14), S. vii‒xix, hier S. viii. Daraus folgt, dass sich die „Geschichtsüberlieferung in der Stadt […] als öffentliche Präsentation in Bildern, Symbolen, Denkmälern und Objekten, in Ritualen, Zeremoniell, liturgischer Memoria und theatralischem Gestus, kurz, in einem Ensemble von Medien [vollzieht]“ (S. ix). 71 Die Marienkapelle diente nach der Krönung Ottos I. 936 sechshundert Jahre lang als die Krönungskirche deutscher Könige. Die Aachener Marienkirche ist der Grabeskirche in Jerusalem und der kaiserlichen Kirche von San Vitale (547) in Ravenna nachgebaut. Karl der Große und nach ihm Karl IV. reihten sich also bewusst in die römisch-byzantinische Kaisertradition ein. 72 Vgl. auch Josef. J. Schmid, „Die Reichskleinodien. Objekte zwischen Liturgie, Kult und Mythos“, in: Wahl und Krönung, hg. von Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll, Frankfurt a. M. 2006, S. 123‒149. Obwohl sie nach 1523 nicht mehr öffentlich vorgezeigt wurden, blieben die Reichskleinodien bis 1796 in Nürnberg. 1796 wurden sie nach Wien geschickt, um sie vor der Armee Napoleons zu retten. 73 Baumbauer und Fajt (wie Anm. 43), S. 114. Da ward Carolus lachen 431 bürgerlichen, des geschäftlichen Lebens“ 74 wurde. Das trifft die Sache allerdings nicht ganz: Die Uhr führt zwar die historische Verbindung Nürnbergs mit dem Reich, dessen andauernde Treue dem Reich als politischem und sakralen Begriff und die Dankbarkeit der Stadt Karl gegenüber vor, zählt aber auch die Stunden bis zum Ende der menschlich-irdischen Geschichte und dem Anfang der Ewigkeit, also der ‚Geschichtslosigkeit‘, 75 in der die zweite Hauptstadt des Reiches in die himmlische Hauptstadt aufgehen, der irdische Kaiser durch den himmlischen ersetzt werden und das durch die Reliquien verkörperte Erlösungsversprechen eingehalten werden soll. Das heißt, die Uhr ordnet Nürnberg sichtbar und hörbar in die kaiserlich-temporale, hier durch Karl IV. verkörperte Geschichte und deren christlich-erlösendes Ende ein. Auf der anderen Seite des Hauptmarkts, und zwar der Frauenkirche diagonal gegenüber, steht der Schöne Brunnen, zwischen 1389 und 1398 von Heinrich Beheim gebaut, um sauberes Wasser in die Stadtmitte zu leiten. 76 Wie das Männleinlaufen stellt der Brunnen nicht nur das Fachkönnen und die Genialität der Handwerker Nürnbergs zur Schau, er signalisiert nicht nur den Stolz Nürnbergs als technologisch fortgeschrittener Stadt, die für die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Einwohner Sorge trägt und spielt nicht nur auf den Lebensbrunnen im Garten Eden an, der die gesamte Schöpfung speist. Der Schöne Brunnen bildet die steinerne Verkörperung des Ideals eines christlichen Reiches. In Form eines 19 Meter in die Höhe ragenden Kirchturms mit Kreuz auf der Spitze brüstet sich der Brunnen mit Figuren aus dem Alten Testament (einschließlich Daniels, auf den die Prophezeiung der vier Weltreiche zurückgeht), den Kirchenvätern, den Sieben Freien Künsten, den vier Evangelisten, den Neun Helden ‒ unter ihnen Karl der Große ‒ und den Sieben Kurfürsten ‒ unter ihnen der böhmische König, der die Gesichtszüge Karls IV. trägt. 77 Markus Hörsch schreibt: Es [das Figurenprogramm] ist […] zugleich der fons vitae, der Lebensbrunnen, denn die vielen Skulpturen beschwören den tiefen Sinn einer zur letztendlichen Erlösung fortschreitenden Heilsgeschichte, deren Erlösungsversprechen für den Christen durch die Taufe bereits in seinem Leben verwirklicht ist. Zugleich ist es aber auch der „Brunnen der Weisheit“: Die Philosophie und die Sieben Freien Künste (Artes Liberales) werden durch antike Weisen vertreten […]. 78 Ihnen übergeordnet sind dann die Evangelisten als Zeugen der Epoche unter der Gnade, d. h. des auf die Erde gesandten Messias’ Jesus, und die lateinischen Kirchenväter, die für spätantike Ausdeutung der Schrift und die theologische Begründung der Kirche stehen. Zugeordnet sind ihnen Patriarchen 74 Karl-Adolf Knappe, „‚Nostra et sacri Romani imperii civitas‘. Zur reichsstädtischen Ikonologie im Spätmittelalter“, in: Der Kunstspiegel 2 (1980), S. 155‒172, hier S. 159. 75 Das Heilige Römische Reich sollte als letztes der vier im Buch Daniel prophezeiten Weltreiche (Dan. 4‒7) bis zur Ankunft des Antichrists bestehen. 76 Aufgrund der chronistischen Tradition und der stylistischen Ähnlichkeit der Brunnenskulpuren mit den Skulpturen in der Vorhalle der Frauenkirche nimmt Herbert Herkommer ein früheres Datum für die Errichtung des Brunnens an, nämlich 1361/ 62. Vgl. Hubert Herkommer, „Heilsgeschichtliches Programm und Tugendlehre. Ein Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte der Stadt Nürnberg am Beispiel des Schönen Brunnens und des Tugendbrunnens“, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 63 (1976), S. 192-216, hier S. 192‒194. Er weist auch auf Ähnlichkeiten im Entwurf der Parler-Bauhütte für das Grab des hl. Adalbert im Prager Dom, die eine weitere Verbindung zu Prag und Karl IV. darstellen (S. 197‒198). 77 Karl IV. wird also wenigstens indirekt am Schönen Brunnen dargestellt, was eine Verbindung zu seinem Standbild an der Fassade der Frauenkirche herstellt. 78 Diese sind Aristoteles, Nikomachos - Arithmetik, Ptolemaios - Astronomie, Euklid - Geometrie, Pythagoras - Musik, Sokrates - Dialektik, Donatus - Grammatik, Cicero - Rhetorik. 432 Anne Simon und Propheten als jüdische Vorläufer des Christentums, der Epoche unter dem Gesetz des Alten Bundes […]. 79 Ihre vielfachen Mahnungen zu gerechter Herrschaft konnten auch den Herrschenden des 14. Jahrhunderts als Hinweis dienen […]. 80 Die neun Tugendhelden der heidnischen Antike (Hektor, Alexander der Große und Julius Caesar), des Judentums ( Josua, David, Judas Makkabäus) und des Christentums (Artus, Karl der Große, Gottfried von Bouillon) symbolisiern wünschenswerte Herrschertugenden, waren aber auch exemplarische Schützer der Gerechtigkeit, hier durch das Reichsschwert symbolisiert, das am Brunnen prominent am Gürtel Karls des Großen hängt und jedes Jahr bei der Heiltumsweisung öffentlich zur Schau gestellt wurde. Der ganze Brunnen bietet eine Art kurzer Geschichte des Reiches an, das in Troja und der Bibel seine Wurzeln hatte, durch Caesar romanisiert, Artus vorbildlich-höfisch romantisiert und Karl den Großen christlich geweiht wurde und dank des ersten Kreuzzugs und Gottfrieds von Bouillon, des ersten Königs von Jerusalems, seine ‚wahre‘ Hauptstadt Jerusalem wiedergewann. 81 Die mittelalterliche Gleichsetzung der vier Evangelisten mit den vier Paradiesflüssen spiegelt sich im Brunnen und auch in der Vorrede der Goldenen Bulle, die im Brunnen dadurch mitverkörpert wird, wider: […] sondern laß es vielmehr, güter [sic] Gott, dank deinem erlauchten und von dir geliebten Kaiser Karl unter seiner gottesfürchtigen Führung durch lieblich grünende Triften immerdar blühender Haine und selige Gefilde zu den heiligen Strömen gelangen, wo die Lebenskeime durch göttliche Wasser beseelt werden und die Saat, durch den Himmelsborn erquickt, von ihren Dornen befreit wird, also daß sie von Gott geerntet werden und künftigen Lohnes hundertfältige Frucht in mächtige Speicher sammeln kann. 82 Die Sieben Kurfürsten versinnbildlichen das von Karl IV. kodifizierte politische System des Reiches, dessen Wohlergehen und Heil von ihrer Wahl eines klugen, tugendhaften Herrschers abhängen. Da die Neun Helden und die Kurfürsten einander paarweise zugeordnet sind, gibt der Brunnen den Tugenden, die die Kurfürsten nicht nur selbst verkörpern, sondern auch beider Kaiserwahl berücksichtigen sollten, sozusagen konkrete Form. 83 Im Herzen der Stadt, im Herzen des Reiches werden also die Tugenden steinern-faßbar dargestellt, die den Grundstein der mustergültigen Herrschaft bilden, und Karl IV. wird in der Figur des böhmischen Königs als weise Stütze des Reiches dauerhaft in das politisch-geistliche Manifest integriert. Herkommer verweist auf die heilsgeschichtliche Bedeutung des Wassers, das an den in der Taufe nachvollzogenen Tod und Auferstehung Christi erinnert und daher die Wiedergeburt, das (ewige) Leben und die Weisheit symbolisiert. 84 Die göttliche Weisheit fließt also in die Reichsstadt, beseelt deren Regiment und das des Reiches, nicht zuletzt 79 Moses, Aron, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel, Hosea und Amos. 80 Markus Hörsch, „Stützen des Kaisers? Die Reichsstädte und die kaiserliche Repräsentation“, in: Kaiser Karl IV. (wie Anm. 43), S. 195-201, hier S. 198. Hörsch stützt sich hier stark auf Herkommer (wie Anm.-76). 81 Daher die Darstellung von Josua, Judas Maccabeus und König David, die Propheten und Wegweiser waren. Die christliche Herrschaft über Jerusalem dauerte zwar nur bis 1244, diente aber als Versprechen einer auf dieser glorreich-christlichen Geschichte aufbauenden, noch glorreicheren christlichen Zukunft. 82 Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. 1356. Lateinischer Text mit Übersetzung, hg. von Konrat Müller, Bern 1957 (Quellen zur neueren Geschichte 25), S. 11. 83 Vgl. auch Hörsch (wie Anm. 80), S. 198. 84 Herkommer (wie Anm. 76), S. 196‒197 und 199. Da ward Carolus lachen 433 bei den Reichstagen. Der Brunnen ist nämlich vom Rathaus und von der Sebalduskirche aus sichtbar, in der Sebalduskirche sammelte sich der Rat vor wichtigen Entscheidungen zum Gottesdienst. Die Figuren ‚bewachen‘ den Hauptmarkt, erinnern aber gleichzeitig Rat, Einwohner und Kaiser an das christlich-politische Ideal, das sie persönlich verwirklichen sollen und bieten dadurch auch „die historische Begründung städtischer Wertsysteme“. 85 Da „Geschichtsüberlieferung in der Stadt […] sich demnach als öffentliche Präsentation in Bildern, Symbolen, Denkmälern und Objekten [vollzieht]“, verschmelzen sich Chronistik, Frauenkirche, Männleinlaufen und Brunnen zu einer schriftlich-architektonisch-performativen, identitätsstiftenden und zukunftsweisenden Geschichte Nürnbergs als Kaiser- und Reichsstadt, die mit vorbildlicher Treue die ewigen Werte und irdischen Interessen dieses Reiches befördert, und zwar nicht zuletzt mittels des Reichtums, der dank den von sukzessiven Kaisern verliehenen Handelspriviligien und der durch Karl IV. ermöglichten Erweiterung des Marktplatzes erworben wurde. Diese bewährten Werte werden durch die Geschichtsschreibung für nachfolgende Generationen als exemplarisches Verhaltensmuster und „Zuversicht für die Zukunft“ 86 festgehalten. V. Die Nürnberger Geschichtsschreibung treibt auch heute noch ihre Blüten, wenn auch teilweise in anderen Gattungen und an andere Adressatenkreise gerichtet. Man denke zum Beispiel an Die Lichtermagd (2009), einen Roman Lena Falkenhagens, der das Verhältnis zwischen Christen und Juden, einschließlich der Judenvertreibung im Jahre 1349, romantisierend darstellt, oder an Oskar und das Geheimnis der verschwundenen Kinder (2007), einen Kinderroman von Claudia Frieser, die ihren jungen Helden durch eine Baumhöhle klettern und ins Jahr 1484 zurückreisen läßt, um mit einem gewissen Albrecht, Sohn eines Goldschmiedes, in Nürnberg allerlei Abenteur zu erleben. So erschien zu Karls 700. Geburtstag im Jahre 2016 Ina Schönwalds Kaiser Karl IV. in Nürnberg. Geschichten von Gut und Böse, eine Sammlung kleiner Erzählungen für Kinder, die heiter-didaktisch, aber durch historische Erklärung und Quellenbezug in Form von Bildern ‒ z. B. der Heiltumsweisung, oder der Judenverbrennung aus der Schedelschen Weltchronik (Bl. CCXXXv) ‒ die wichtigsten Ereignisse aus der Zeit Karls beschreiben und die Geschichte ikonischer Gebäude wie der Sebalduskirche, der Lorenzkirche, der Frauenkirche, des Rathauses und der Kaiserburg erläutert. 87 Sogar die Etymologie des Stadtnamens findet ihren Platz. 88 Das sind alle Aspekte der Stadtgeschichte und des Stadtbildes, die man bei Meisterlin und Schedel findet. Auch 85 Johanek (wie Anm. 70), S. viii. Siehe z. B. auch Weiser Herrscher in einer Zeit der Katastrophen (wie Anm. 43). Eva Schlotheuber schreibt z. B.: „In diesem größeren Diskurs [im 14. Jahrhundert] über ‚richtige Herrschaft‘ entwickelte Karl IV. in bedrängter politischer Lage eine ‚Herrschaftstheologie‘, die seine Macht auf der Basis von ‚Weisheit und Tugend‘ letztlich im Transzendenten begründete, um eine größere Akzeptanz seines Machtanspruchs zu erreichen“ (Eva Schlotheuber, „Karl als Autor ‒ Der ‚weise Herrscher‘“, in Kaiser Karl IV. (wie Anm. 43), S. 69‒77, hier S. 72). 86 Kosthorst (wie Anm. 35), S. 13. 87 Ina Schönwald, Kaiser Karl IV. in Nürnberg. Geschichten von Gut und Böse, Lauf 2016. Im Jahre 2014 war Ina Schönwalds Was machte Karl IV. in Lauf? Kleine Kulturgeschichte(n) für Kinder erschienen. Lauf an der Pegnitz ist eine Nachbarstadt Nürnbergs. Das dortige Wenzelschloss (oder Burg Lauf) ließ Karl IV. im Jahre 1356 bauen. 88 „norenberc“ sei althochdeutsch, „Nuorin“ sei die alte Bezeichnung für Felsen, Nürnberg bedeute also „Felsenburg“ (Schönwald [wie Anm. 87], S. 24). Eine ähnliche Erklärung findet man bei Meisterlin (wie Anm. 2), S. 43 und Schedel (Bl. Cv). 434 Anne Simon die Sieben Kurfürsten, 89 die Goldene Bulle und das Männleinlaufen kommen im Buch vor, letzteres sogar zum Selbstbasteln, so daß man einen Teil der politischen, kulturellen, handwerklichen und religiösen Geschichte Nürnbergs dreidimensional im eigenen Wohnzimmer aufstellen und nacherleben kann. Die identitätsstiftende reichsstädtische Identität wird auch im einundzwanzigsten Jahrhundert weitertradiert und den Kindern Nürnbergs eingeprägt. Die Narrativierung der Vergangenheit bei Meisterlin und Schedel beeinflußt bis zu einem gewissen Grad auch heute noch die Selbstdarstellung der Stadt, 90 dient immer noch „der Weltdeutung“ und entwirft damit immer noch „zeitlos verbindliche Orientierungsmuster, die für jene menschlichen Gemeinschaften eine kollektiv-historische Legitimation und Identität schufen und ihnen […] nun auch für die Zukunft Stabilität verheißen“. 91 Auch wenn die mittelalterliche und moderne Geschichtsschreibung die Selbstprofilierung, sogar Selbstvermarktung Nürnbergs nach innen und nach außen fördert, ist sie also nichtsdestoweniger Ausdruck eines gewissen mit der reichspolitischen Zentralität verbundenen Verantwortungsbewußtseins und einer ethisch-politischen Verpflichtung, die sich auch im modernen Stadtbild widerspiegeln und weitertradiert werden. Die im Mittelalter von Meisterlin und Schedel chronistisch bezeugte Identität Nürnbergs als Exempel der Gerechtigkeit und der weisen (christlichen) Herrschaft, die sich im Schönen Brunnen und im Männleinlaufen öffentlich-konkret zur Schau stellte, bestätigt die 1993 vor dem Germanischen Nationalmuseum erbaute Straße der Menschenrechte, deren Säulen jeweils einen Auszug (in deutscher und einer anderen Sprache) aus der am 10. Dezember 1948 von der UNO verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Inschrift tragen. 92 Auch wenn dieses Denkmal keine christlich-mittelalterliche Züge vorweist ‒ die klassistisch wirkenden Säulen erinnern eher an den angeblich römischen Ursprung der Stadt ‒, soll die architektonische Hervorhebung des Rechtes, der Gerechtigkeit und der ethischen Verpflichtung für einen zeitgenössischen Adressatenkreis und die Geschichtsschreibung der Zukunft ein genauso verbindliches Orientierungsmuster wie die Chroniken Meisterlins und Schedels bieten. 89 Das Holzschnitt der Sieben Kurfürsten aus Schedels Weltchronik ist auch abgedruckt (Schönwald [wie Anm. 87], S. 26‒27). 90 Nürnbergs Wikipedia-Seite z. B. bildet den Holzschnitt aus Schedels Weltchronik ab. Vgl.: http: / / www. stadtgraben.nuernberg.de/ his_chronik.html [letzter Zugriff: 30.04.2020]. 91 Schneider (wie Anm. 11), S. 492. 92 Straße der Menschenrechte = Way of Human Rights. Dani Karavan, hg. von Peter Laub und Konrad Scheurmann, Bonn 1995. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 435 Auf dem Turnierplatz der Geschichte Überlegungen zu Maximilians Freydal Stefan Matter Kaiser Maximilian I. hat Zeit seines Lebens darum gerungen, dass das Gedächtnis seiner Person und seiner Taten der Nachwelt erhalten bleibt. Er tat dies mithilfe einer breiten Palette künstlerischer Ausdrucksformen, zu denen neben Architektur und Skulptur (u. a. das Grabmalsprojekt in Innsbruck) die Bildkünste (Triumphzug und Ehrenpforte) auch und vor allem Texte verschiedener Gattungen gehören. Darunter zählen kursorische Notizen in den sogenannten Gedenkbüchern, zahlreiche recht kostbar ausgestattete Inventare seiner Besitztümer, die Fürstliche Chronik Jakob Mennels sowie die umfangreichen Vorarbeiten dazu und dann, gewissermassen als literarische Prunkstücke, die drei grossen ‚autobiographischen‘ Erzählungen seiner Regierungszeit, der Freydal, der Theuerdank und der Weisskunig. All diese Werke und einige mehr sind sehr eng mit einander verwoben, bauen auf einander auf und bilden als ganzes das, was heute als Maximilians Ruhmeswerk bezeichnet wird. 1 Maximilians Ruhmeswerk gehört fraglos zu den bedeutendsten künstlerischen Unternehmungen an der Epochenschwelle, die vom Mittelalter zur frühen Neuzeit führt. Trotz der anhaltenden Begeisterung für die literarischen und bildkünstlerischen Werke, die dem gedechtnus des Kaisers und des Hauses Habsburg dienen sollten, und der insgesamt für diese Zeit hervorragenden Quellenlage, bleiben immer noch viele Fragen zu Werkgenese und Sinnzusammenhängen unbeantwortet. Zu den zahlreichen noch kaum untersuchten Vorarbeiten zum Freydal gehört auch ein Konvolut von heute noch 203 Zeichnungen in der National Gallery of Art in Washington. Diese Blätter, die zahlreiche aufgeklebte Zettel tragen, werfen neues Licht gerade auf das Verständnis des Freydal als historiographischen Text. Sie erlauben es, so möchte ich im Folgenden zeigen, genauer als bisher zu verstehen, was Maximilian in seinem Turnierbuch dokumentiert haben wollte, in welcher Form also er in ihm ‚Geschichte erzählt‘. Ich beginne mit einem Blick in den Theuerdank. Als Maximilians Alter ego am Ende seiner langen Brautfahrt an den Hof seiner zukünftigen Gattin Frau Ehrenreich gelangt, muss er zuerst einmal eine Folge von sechs Turnierkämpfen gegen verschiedene Höflinge ausfechten, bevor er zur letzten Treueprobe auf einen Kreuzzug geschickt wird. Bekanntlich liefert Melchior Pfinzing in der Clavis der von ihm verantworteten ersten Druckausgabe von 1517 für jedes einzelne Kapitel die historischen Informationen nach, die der jeweiligen 1 Den Stand der Forschung fasst zusammen: Maximilians Ruhmeswerk. Künste und Wissenschaften im Umkreis Kaiser Maximilians I., hg. von Jan-Dirk Müller und Hans-Joachim Ziegeler, Berlin/ Boston 2015 (Frühe Neuzeit 190). Der hier im Zentrum stehende Freydal wird in diesem wichtigen Band allerdings nur gelegentlich am Rand berührt. 436 Stefan Matter Theuerdank-Episode zugrunde liegen sollen. Diese Turnierkampf-Folge kommentiert er mit den folgenden Worten: Durch diese acht figurn werden verstanden alle Ritterspil in schimpff und ernst so der Tewrlich Heldt Tewrdannck vor hübschen Frawen und Junckfrawen in Osterreich, Braband und der Fürstlichen Graffschafft Tyrol volbracht hat. 2 Die ‚figurn‘ stehen also stellvertretend für alle Turniere Maximilians. In einem heute in München aufbewahrten Exemplar des Theuerdank-Drucks jedoch, das auch an anderen Stellen handschriftliche Ergänzungen enthält, ist an dieser Stelle von Hand dazugesetzt: die gleich also beschehen sein. 3 Damit wird der im gedruckten Text eigens ausgestellte fiktionale Charakter der kleinen Turnierkampf-Folge gleich wieder kassiert: genau so sei es gewesen. Dieses Ineinandergreifen von historischer Faktentreue und erzählerischer Überformung ist charakteristisch nicht nur für Maximilians Ruhmeswerk, sondern für spätmittelalterliches historisches Erzählen überhaupt. Der Freydal als fragmentarisches Werk Ich möchte nun behaupten, dass die zu einem späteren Zeitpunkt offenbar wieder fragwürdig gewordene Auffassung der sechs Turnierkämpfe Theuerdanks als Abbild aller (! ) Ritterspil Maximilians in vergleichbarer Form auch im Freydal begegnet. 4 Der Freydal ist wie so viele Ruhmeswerk-Unternehmungen zu Maximilians Lebzeiten nie gänzlich fertiggestellt worden; über die definitive Gestalt, die er hätte bekommen sollen, lassen sich letztlich nur Vermutungen anstellen. Um dies begründet tun zu können, bedarf es eines Überblicks über die heute noch erschliessbare Entstehungsgeschichte. 5 Im Jahr 1502 verfügt Maximilian, dass alle seine Verkleidungen durch den Hofschneider Martin Trummer in einem Buch zusammengestellt werden sollen: Meister Martin sol all mumerey do k. Mt ye gebraucht hat in ain buch mallen lassen. 6 Da eine solche separate 2 München, BSB, Rar. 325a, Clavis, Bl. A8r, zitiert nach dem Faksimile: Maximilian I., Die Abenteuer des Ritters Theuerdank. Kolorierter Nachdruck der Gesamtausgabe von 1517, 2 Bde, Köln u. a. 2003-2004. 3 Vgl. die kurzen Angaben zu den handschriftlichen Nachträgen in diesem Druck von Stephan Füssel, „Kaiser Maximilian und die Medien seiner Zeit. Der Theuerdank von 1517. Eine kulturhistorische Einführung“, in: Die Abenteuer des Ritters Theuerdank (wie Anm. 2), Bd. 2, hier S. 38. Auch das für den Kreuzzug vorgesehene 117. Kapitel, für welches in der Ausgabe von 1517 Platz freigelassen worden war (Maximilian hat bekanntlich ja auch nie einen Kreuzzug unternommen), wurde in diesem Exemplar handschriftlich durch einen Text ergänzt, der Theuerdank einen solchen in die Wege leiten lässt. 4 Die Freydal-Materialien waren bislang am umfassendsten zusammengestellt in: Quirin von Leitner, Kaisers Maximilian I. Turniere und Mummereien, 2 Bde, Wien 1880-1882. Von den zahlreichen zum Todesjahr Maximilians erschienen Publikationen nenne ich nur: Stefan Krause, Freydal. Medieval Games. Das Turnierbuch Kaiser Maximilians I., Köln 2019; Freydal.- Zu einem unvollendeten Gedächtniswerk Maximilians I., hg. von Stefan Krause ( Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 21), Wien 2019. In letzterer sind auch alle Quellen neu ediert. 5 In der grundlegenden Studie von Jan-Dirk Müller zu Maximilians Bemühungen um die persönliche und dynastische Gedächtnissicherung nimmt der Freydal auf gerade mal fünf Seiten einen lediglich marginalen Platz ein: Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), S. 104-108. 6 Von Leitner (wie Anm. 4), S. v; vgl. die Stelle im Zusammenhang ihrer handschriftlichen Überlieferung bei Theodor Gottlieb, Büchersammlung Kaiser Maximilians I. Mit einer Einleitung über den älteren Bücherbesitz im Hause Habsburg, Leipzig 1900 (Die Ambraser Handschrifen. Beitrag zur Geschichte der Wiener Hofbibliothek 1), S. 57. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 437 Zusammenstellung der Kostüme bei den Festbanketten, die überdies auch im Weisskunig in Aussicht gestellt wird, 7 später nicht wieder erwähnt wird, liegt die Annahme nahe, dass sie in den Freydal eingegangen ist. 8 In den Gedenkbüchern Maximilians wird der Freydal in den folgenden Jahren verschiedentlich erwähnt, 9 ohne dass diese Erwähnungen Genaueres über Form oder Inhalt des Werkes verraten würden. Das ist erst im Jahr 1512 der Fall, als der kaiserliche Sekretär Marx Treitzsaurwein nach einem Diktat Maximilians schriftlich festhält, in was zal die Rennen und stechen in den Freytal gemacht sollen werden. 10 Von insgesamt neun verschiedenen Turnierformen notiert er jeweils die Anzahl der Treffen sowie deren Ausgang. Treitzsaurwein summiert die Kämpfe auf 128 (vgl. Anhang). 11 Im selben Jahr 1512 schreibt Maximilian in einem Brief in Bezug auf den Freydal von dritthalb hunderten Bildern, also von rund 250 und damit ungefähr doppelt so vielen, wie er nach der eben zitierten Zusammenstellung Rennen und Stechen enthalten soll. 12 Diese Umfangsangaben passen nun sehr gut zu den beiden Hauptquellen und offensichtlich vorläufigen Endstufen der Werkentstehung, über die der Freydal allerdings auch nie hinausgelangt ist (von der geplanten Druckausgabe sind nur fünf Probedrucke einzelner Blätter erhalten). Das ist zum einen die Folge von qualitätvollen Miniaturen in Tempera- und Aquarellmalerei mit Gold- und Silberhöhungen in einem grossformatigen Klebeband, der heute im Kunsthistorischen Museum Wien aufbewahrt wird. 13 Sie zeigen eine 64 mal wiederholte Abfolge von je einem Rennen, einem Stechen, einem Fusskampf und einem höfischen Verkleidungsspiel, zusammen also 256 Bilder, von denen heute lediglich eines fehlt. 14 Den Miniaturen vorgebunden sind überdies von A bis P gezählte und zur Hauptsache wiederum von Marx Treitzsaurwein beschriebene Blätter mit Listen der Namen von Frau- 7 Maximilian I., Der Weiß Kunig. Eine Erzehlung von den Thaten Kaiser Maximilian des Ersten, von Marx Treitzsaurwein auf dessen Angeben zusammengetragen, nebst den von Hannsen Burgmair dazu verfertigten Holzschnitten. herausgegeben aus dem Manuscripte der kaiserl. königl. Hofbibliothek. [Mit einem Nachwort von Christa-Maria Dreissiger], Weinheim 1985, S. 80: Dann solt Ich seine panget, Mumereyen, und die frewdenreich päß [Pas d’armes; S. M.] die Er gehallten hat, hierynnen beschriben haben, were zu lanng gewest, Ich bin aber ungezweiflt, Es werde ain aigen puech, davon beschriben, etc. 8 Vgl. zu den verschiedenen Mummerei-Quellenbelegen im Umfeld von Maximilian auch Claudia Schnitzer, Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53), S. 81-106. 9 Neben den bereits angeführten Stellen findet sich im ungefähr 1505 bis 1508 benutzten zweiten Gedenkbuch der terminologisch immer noch etwas rätselhafte Eintrag: Freithart Comedi und anfanng mit den alten greysen Erwalter Theuerdank Tragedi. Zu letzterem vgl. Hans-Joachim Ziegeler, „Beobachtungen zur Entstehungsgeschichte von Kaiser Maximilians Theuerdank“, in: Maximilians Ruhmeswerk (wie Anm. 1), S. 211-254, hier S. 214. 10 Wien, ÖNB, Cod. 2835, Bl. 38r-39r (die Datierung auf 1512 findet sich auf Bl. 41r); vgl. zu dieser Zusammenstellung auch von Leitner (wie Anm. 4), S. vii. 11 Allerdings ist einer der Kämpfe unterschlagen oder übersehen, denn tatsächlich sind es 129. 12 Die beiden angeführten Stellen alleine belegen allerdings entgegen der gelegentlich geäußerten Ansicht in meinen Augen keine Planänderung, denn im Treitzsaurweins Gesprächsnotiz ist ja explizit einzig von den Rennen und Stechen die Rede, nur bei diesen scheint es auch besonders auf die genaue Dokumentation der Kostüme und des Ausgangs angekommen zu sein. 13 Wien, Kunsthistorisches Museum/ Kunstkammer, Inv.-Nr. 5073. Papierklebeband mit 273 Blättern, 38,2 x 26,8 cm, davon 255 mit aufgeklebten Miniaturen. 14 Die Miniatur eines Stechens (nach Bl. 173) ist verloren gegangen, weshalb die Bildfolge heute lediglich noch 255 Miniaturen umfasst. 438 Stefan Matter en, vor denen, und von Männern, mit denen Freydal gekämpft haben will. 15 Letztere sind - ähnlich wie in Maximilians Diktat von 1512 und in auffälliger Diskrepanz zur Bildfolge - nach Turnierform geordnet. Auf zahlreichen Miniaturen sind Freydals Gegner beziehungsweise die Mummerei-Teilnehmer namentlich bezeichnet. Allerdings sind 41 Bilder ohne Namen geblieben, die Frauennamen aus der entsprechenden Liste tauchen unter den Miniaturen überhaupt nicht wieder auf, und an einigen Stellen scheint es falsche Zuordnungen zu geben. Erkennbar wird das beispielsweise aus dem vom kaiserlichen Rat und Kämmerer Wolfgang von Polheim eigenhändig angelegten Verzeichnis der 15 Turniere, an denen er selbst mit Maximilian gekämpft habe, zu welchem von Leitner bemerkt: Von den im Freydal vorkommenden eilf Abbildungen von Turnieren, welche Kaiser Maximilian I. mit Wolfgang von Polheim gehalten hatte, stimmt keine einzige mit der vorliegenden Beschreibung überein; hingegen kommen in dieser Beschreibung Turniere vor, welche genau mit Abbildungen im Freydal übereinstimmen, jedoch werden bei diesen statt Wolfgangs von Polheim andere Herren als Gegner des Kaisers genannt. Sollte da nicht eine Verwechslung der Persönlichkeiten von Seite des Schreibers, der die Unterschriften auf den Abbildungen besorgte, vorliegen? 16 Die andere Hauptquelle des Freydal ist ein Textentwurf von der Hand Marx Treitzsaurweins, überliefert in einer Einzeltexthandschrift der Österreichischen Nationalbibliothek. 17 Es handelt sich vermutlich um eine Reinschrift, die zur Durchsicht an Maximilian ging, und tatsächlich hat dieser sie persönlich wenigstens stellenweise korrigiert. Dieser Textentwurf ist in zweierlei Hinsicht fragmentarisch. Einerseits fehlt der Handschrift gleich zu Beginn mindestens das zweite Blatt und damit der eigentliche Textanfang, zum anderen fehlen dem Text bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Personennamen, für deren spätere Ergänzung im Text zunächst offensichtlich Platz ausgespart worden ist. Erhalten ist auf Blatt 1r der Handschrift ein kreuzgereimter Versprolog, in welchem der lehrhafte Charakter des Textes hervorgehoben wird. Während die Rückseite dieses Blattes leer geblieben ist und das folgende Blatt gänzlich fehlt, findet man sich auf Seite 3r ganz offensichtlich bereits mitten in einem Erzähltext wieder: Als nun der hochueruembt jungling der drey edellen und schonen junckfrauen wunderbarlich ansynnen und zumuttung vernomen, ist dardurch sein jugentlich hertz vnd gemut so mit grossen freiden und lieb entzunt worden, das ine bedaucht kein mensch auf diser erde dermassen ye befunden hette. 18 Es handelt sich dabei um die Rahmenerzählung des Turnierbuchs; weder die Identität der Jungfrauen noch das im Zitat erwähnte Ansinnen werden im weiteren Verlauf noch einmal ausführlicher thematisiert, sie bleiben daher für die Leser etwas unklar. Es wird aus dem insgesamt ziemlich kurzen Text jedoch deutlich, dass der Protagonist namens Freydal von den drei Damen auf eine als Tugendprobe verstandene ritterliche Bewährungsfahrt geschickt wird, zu der er sich sogleich aufwendig rüstet. Die Farben seiner Kleider werden 15 Wie in Pfintzings Clavis wird auch hier in den Metatexten der Protagonist konsequent mit dem ‚literarischen Namen‘ genannt, obwohl es doch offensichtlich darum geht, historisches Material beizubringen, die Gegner also allesamt historische Personen sind und keine fiktiven Namen auftauchen. 16 Von Leitner (wie Anm. 4), S. lxv. 17 Wien, ÖNB, Cod. 2831*. 18 Von Leitner (wie Anm. 4), S. xv. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 439 ausführlich allegorisch ausgedeutet, und diese Stelle ist im Entwurf auch sprachlich überarbeitet - offenbar von Maximilian selbst. 19 Erste Fassung Korrekturen Maximilians (Hervorhebungen S. M.) Nun in demselben, bestellet er auch sunst sein sach zu diser rais dienstlich, also künlich, das sich menigelich ab disem jungling verwundert, dann er hett vil ausbundig hübsch und schöne pferdt zu allem ritterspil ärtig aufbracht, desgleichen vil gross wägen mitt harnasch und waffen und ritterspil und noch vil mer wägen mit gulden und seiden gewanden, die dann des merenteils alle von farben weis, rot und schwartz, so im der jungling fur ander gluckhaftig sein erkant, zugerust waren. Aber von wegen der júnckfrauen, die in aller welt ainen verumbten außzesúchen, der dann in seinem abschaid mit ainem weissen gülden rock beclaidt was, geratten hat. So liebt im die weiss varb fur ander; dann die weiss varb sovil bedutt als durchleuchtig, schön, lutter und pur mit thun und lassen, sodann die rot varb wie das gold genad und lieb, die auch gedachter jungling gegen den dreyen junckfrauen vestigelichen furet, und die schwartz varb so nit geren bemäset oder befleckt wird, ist uns beweisen, so einer in die erst welltlich freid und mut kumbt, das er sich dieselben nit ze hart lass uberkumen. Aber die anderen varben thet der jungling nach claidung der kunigin, furstin und frauen, die in dann zu eren und freiden empfangen haben, in seinem abscheid verkeren, auf das er an andern orten von irentwegen zu seinem ritterspil auch dester mer glucks haben solt. Nun in demselben, bestellet er auch sunst sein sach zu diser rais dienstlich, also künlich, das sich menigelich ab disem jungling verwundert, dann er hett vil ausbundig hübsch und schöne pferdt zu allem ritterspil ärtig aufbracht, desgleichen vil gross wägen mitt harnasch und waffen und ritterspil und noch vil mer wägen mit gulden und seiden gewanden, die dann des merenteils alle von farben weis, rot und schwartz, so im der jungling fur ander gluckhaftig sein erkant, zugerust waren. Aber von wegen der júnckfrauen, die in aller welt ainen verumbten außzesúchen, der dann in seinem abschaid mit ainem weissen gülden rock beclaidt was, geratten hat, gebotten ime die drey junckfrauen die weiss varb fur ander; dann die weiss varb sovil bedutt als klarhait, rain und pur mit thun und lassen, sodann die rot varb bedewtt das fewr, das pringt und rainigt alle ding, desgleichen die lieb der eren, die auch gedachter jungling gegen den dreyen junckfrauen vestigelichen furet, und die grab varb bedeut die muetikait und statikait. Nicht destminder die edl junckfraw hett zwlest in seinem ritterspil deß farb verkert, nachdem so vyl ritterspil in ainer varb zw treiben nyht hoflich, und dorumb thet der jungling nach claidung der kunigin, furstin und frauen, die in dann zu eren und freiden empfangen haben, in seinem abscheid verkeren, auf das er an andern orten von irentwegen zu seinem ritterspil auch dester mer glucks haben solt. Freydal kommt auf dieser Fahrt an insgesamt 64 Höfe, die bezeichnenderweise immer von Frauen repräsentiert werden - er kämpft konsequent im Dienst der Damen. An den Höfen wird er stets freudig aufgenommen und ficht mit jeweils drei Gegnern Turnierkämpfe aus, ehe am vierten Tag ein festliches Verkleidungsspiel, eine Mummerei, gegeben wird. Aufbau und Umfang entsprechen also exakt der Wiener Miniaturenfolge. Für die Beschreibung dieser Handlung werden im Text jeweils nur wenige Zeilen aufgewendet; das namenlos bleibende Personal (die Handschrift lässt jeweils Freiräume für die Namen) erscheint mittels stereotypen Epitheta als tugendhaft und in jeder Hinsicht ehrenvoll, an die Rahmengeschichte wird überhaupt nicht mehr explizit erinnert. Ich gebe ein Beispiel: 19 Wien, ÖNB, Cod. 2831*, Bl. 5r-6r. Die Transkription fußt hier und im Folgenden auf dem Textabdruck bei von Leitner (wie Anm. 4), ist aber leicht normalisiert: u/ v ist nach modernem Gebrauch ausgeglichen und Konsonantengemination wird vermieden. 440 Stefan Matter Der xli. hove Ritter Freydal, alls alweg zu schertz geschickt, hat sich nachmals an ainer edlen junckfrauen hove gefugt, die gar ains uberschönen wandels was und gar wol brangen kond; daselbs hat er abermals sein ritterspil lassen erhellen, mit lustigem tharbieten seins fryen gemuts. Also hat die uberschon junckfrau irn vatter darumb besprochen und mit desselben rat zu dem rennen beschaiden ritter n von a , gar ainen kunen man, und zu dem stechen ritter n von b , ainen geschwinden man, und zu dem kempfen ritter n von c , ain behenden man. Des ersten tags ist der unmussig ritter Freidal aber davornen daran gewest und auf die ban geschollen mit höres craft, daselbs mit ritter n von a gerendt, gedroffen und gelegen. [58v] Und des andern tags hat er mit ritter n von b dem geschwinden gestochen und ine gelert mer geschwindigkait ze lernen; dann er hat in herabgerendt, das er da sass. Darnach des dritten tags hat er mit ritter n von c mit dem degen kempft und ine dermassen gedroffen, das er auch befunden hat, ime weiter lerens not sein. Also des vierden tags ist der durchleuchtig ritter mit ainer verwickelten mumerey zu der edlen junckfrauen komen und daselbs subtiler art urlaub genomen, ist damit des fünften tags weiter geraiset. 20 Nach dem 64. Hof lässt eine ganz ausnehmend mächtige, jedoch wiederum namenlose Königin um Freydal werben, den sie für seinen auf der Turnierfahrt erworbenen Ruhm bewundert- es handelt sich um eine der drei eingangs schon erwähnten Damen (die auch hier namenlos bleibt): Nu in demselben gar bald hat sich gefugt, das ain mechttige kunigin durch ir besonder darzu geordnet botschaft [82v] an disen hochueruembten jungling hoflich werben liess und begert sein zu ainem eelichen gemahel. Nun was sy so ain dreffenliche kunigin von er und gut und darzu also hubsch, das kaine mer zur selben zeit irs gleichen geschätzt ist. Es was auch eben der obberurten dreyen junckfrauen aine, von dero wegen er die gemelten ritterspil gepflegen hat. 21 Freydal zieht mit der Erlaubnis seines Vaters zu ihr, von seinen Erlebnissen auf dieser Reise, soll - wie es dann heisst - in einem anderen Buch, mit dem Namen Theuerdank berichtet werden. 22 Damit endet die Rahmenhandlung, die in ihrer Kürze und Schwerpunktsetzung, etwa in der Farballegorese und der Minneauffassung, eher an Minne- und Ehrenreden als an den höfischen Versroman oder den Prosaroman erinnert, die üblicherweise als Muster angeführt werden. 23 Im Theuerdank wird der Ritter Freydal nicht namentlich erwähnt, aber die Rahmenhandlung des Romans wird als literarisch stilisierte Brautwerbungsfahrt zu Maria von Burgund erzählt und durch die Clavis aufgeschlüsselt. Ein erst kürzlich gemachter Fund aus einem Arbeitscodex zum Weisskunig in der Wiener Albertina stellt dieselbe Verbindung zwischen 20 Wien, ÖNB, Cod. 2831*, Bl. 58r-v. Die Namensplatzhalter n von x sind für alle Turnierhöfe von einer späteren Hand in die zunächst freigelassenen Leerräume geschrieben worden. 21 Wien, ÖNB, Cod. 2831*, Bl. 81r-v. 22 Zum Namenwechsel des Protagonisten hieß es im Text zunächst: Dann do er von seinem vatter schied zu seiner heyrat, wolt er hinfur nit mer Freydalb genennt sein, darumb im sein herold ainen andern namen geben und hat in gehaissen Teuerdanckh, wie hernachvolgt. Cod. 2831*, Bl. 83v. Dieser Verweis wurde vom Kaiser allerdings durchgestrichen und durch die paraphrasierte, etwas einfachere Formulierung ersetzt, die den Herold unerwähnt lässt. 23 So schon Müller (wie Anm. 5), S. 106-108, und in der Folge zahlreiche Katalogeinträge. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 441 dem Freydal und der Brautwerbung um die burgundische Erbprinzessin her. 24 Es handelt sich um ein Blatt, auf dem über der gedruckten Darstellung eines thronenden Herrschers und einer vor ihm stehenden Frau der handschriftliche Titulus Küng von fewereysenn ein einige Tochter het den weyssen kung dem aber widerwertig was beigeschrieben ist. 25 Diese Bildüberschrift ist, offenbar von der Hand des Kaisers selbst, durchgestrichen und durch den Vermerk ersetzt worden: In freydal. Es ist allerdings nicht leicht zu entscheiden, ob sich der Vermerk alleine auf die bildliche Darstellung bezieht oder ob sozusagen auch das Wissen um die dargestellten Personen im Freydal hätte kenntlich gemacht werden sollen. So oder so kann man sich diese Darstellung am ehesten in der eben zitierten Schlusspartie vorstellen. Hätte sie dort auch Maria von Burgund und Karl den Kühnen darstellen sollen, dann hätte mindestens die dazugehörige Textpartie im Freydal etwas umformuliert werden müssen, denn der Vater der mechttige[n] kunigin spielt im erhaltenen Text keine Rolle. Soviel zu den Hauptrepräsentanten des Freydal-Zyklus. 26 Im Zusammenhang der Frage nach der literarischen Umsetzung historischer Ereignisse im Gedechtnus-Projekt sind nun weiterhin die bereits erwähnten 203 Federzeichnungen in Washington von besonderem Interesse. 27 Erhalten sind 120 Turnierkämpfe hoch zu Ross, dazu 55 Fusskämpfe und 28 Mummereien. Interessanterweise sind diese Rennen und Stechen - noch, so muss man vor dem Hintergrund der schrittweisen Entstehung des Turnierbuches vermutlich sagen - nach 24 Wien, Albertina, DG2012/ 129/ 162 (Weisskunig-Arbeitscodex), Bl. 146r. Es handelt sich um ein Makulaturblatt von 1514. Ich danke Stefan Krause, Hofjagd- und Rüstkammer Wien, für die Mitteilung dieses Fundes. 25 Der von Marx Treitzsauerwein ebenfalls 1514 geschriebene Cod. 3032 der ÖNB Wien (Weisskunig-Hs. A) hat Bl. 195v zu diesem Holzschnitt keine Beischrift, direkt auf ihn folgt jedoch das Kapitel Wie ain mechtiger kunig, genant der kunig vom fewreyßen, ain ainige tochter het und dem alten weyßen kunig widerwertig was. Vgl. Der Weisskunig, nach den Dictaten und eigenhändigen Aufzeichnungen Kaiser Maximilians I. zusammengestellt von Marx Treitzsauerwein und Ehrentreitz, hg. von Alwin Schultz, Wien 1888 ( Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 6), S. 114f. 26 Zu den Wiener Miniaturen gibt es eine ganze Reihe von verwandten Bildwerken, die in fast allen Fällen noch nicht eingehender untersucht worden sind, vgl. etwa Stefan Krause, „‚die Ritterspil als ritter Freydalb hat gethon aus ritterlichem gmute‘ - Das Turnierbuch Freydal Kaiser Maximilians I.“, in: Kaiser Maximilian I. Der letzte Ritter und das höfische Turnier [Kat. Ausst. Mannheim, 13.4.-9.11.2014], hg. von Sabine Haag u. a., Regensburg 2014 (Publikation der Reiss-Engelhorn-Museen 61), S. 167-180, hier S. 169: „In London hat sich zu der Szene auf Bl. 85 [des Wiener Klebebandes] eine zweite, eng verwandte Version erhalten, die möglicherweise von demselben Meister ausgeführt wurde. Eine Studie für das Turnier auf Bl. 150 wurde im Jahr 1923 mit der Zuschreibung an einen flämischen Meister in London versteigert. Im Codex Vaticanus Latinus 8570, fol. 103v-114r sind etwa zwanzig Entwürfe zu Miniaturen des Freydal zu finden, die schriftliche Anmerkungen zur Kolorierung beinhalten. Federzeichnungen, die mit den wenigen in Holzschnitt ausgeführten Freydal-Miniaturen von Dürer in Verbindung stehen, sind in einer Handschrift der Stadt- und Staatsbibliothek in Augsburg miteingebunden. Die National Gallery of Art in Washington verwahrt ein Konvolut von insgesamt 203 simplen, kolorierten Skizzen in brauner Feder, die als vorbereitende Stufe oder als Nachzeichnungen derselben zu identifizieren sind. Einige dieser Blätter sind mit handschriftlichen Korrekturangaben zur Position der Figuren bzw. der Lanzen versehen, die im Wiener Freydal bildlich umgesetzt zu sehen sind. In welchem Verhältnis all diese Werke zueinander und insbesondere zu dem Wiener Codex stehen, ist bisher noch nicht eingehend untersucht worden.“ 27 Zuerst vorgestellt von Campbell Dodgson, „An Unknown MS. of Freydal“, in: The Burlington Magazine 48 (1926), S. 235-242; Campbell Dodgson, „More Freydal Drawings“, in: The Burlington Magazine 53 (1928), S. 170-173. Einschlägig ist jetzt die eingehende Beschreibung von Stefan Krause im Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums 21 (2019), S. 196-315; danach auch die hier verwendete Nummerierung der Blätter. 442 Stefan Matter Turnierarten sortiert, ganz ähnlich, wie sie Treitzsaurwein notiert hatte. 28 Die Blätter mit den Lanzenkämpfen haben von zeitgenössischer Hand eine Zählung bis 132 enthalten, es fehlen also aus dieser Folge heute mindestens 12 Blätter. Ähnlich lückenhaft ist die Überlieferung bei den Fusskämpfen und den Mummereien, die allerdings keine alten Zählungen tragen. Die Blätter wurden bislang meist als Nachzeichnungen angesprochen, 29 stattdessen handelt es sich offenbar um Vorstufen der Wiener Miniaturen, und diese erlauben einen einzigartigen Einblick in die aufwendigen Bemühungen um eine historisch korrekte Dokumentation der Turnierkämpfe. Das ist unter anderem an aufgeklebten, erneut von Marx Treitzsaurwein geschriebenen Zetteln zu erkennen, welche die meisten Blätter tragen bzw. getragen haben - sie sind bislang noch überhaupt nie genauer in Augenschein genommen und auch nie abgedruckt worden. Zwei Arten von Zetteln sind zu unterscheiden. Die einen beschreiben das darzustellende Kostüm Freydals und erwähnen üblicherweise die Turnierart. Sie sind stets so über dem Rahmen der Zeichnung aufgeklebt, dass sie über dem Reiter stehen, auf den sie sich beziehen. Nur in drei Fällen ist auch ein von anderer Hand geschriebener Zettel über Freydals Gegner erhalten, 30 einige Male sind von nochmals einer anderen Hand die Namen der Gegner direkt auf das Papier geschrieben, und bezeichnenderweise gibt es auch zwei Fälle, in denen beide Reiter als Freydal identifiziert werden - wieso das möglich ist, wird gleich deutlich werden. 31 Andere Zettel, etwas weniger zahlreich und stets unter den Darstellungen angebracht, nennen den Namen des Gegners und teilweise auch dazu noch in einem Wort die Turnierart. Diese Zettel befanden sich nach Ausweis der Klebespuren mit einer einzigen Ausnahme 32 auf allen Turnierdarstellungen. In fast allen Fällen stimmen die Inhalte beider Arten von Zetteln mit den bildlichen Darstellungen sowohl in Washington wie auch in Wien überein, wobei allerdings die Wiener Miniaturen teilweise Details zeigen, die auf den Zetteln gefordert, aber in den Washingtoner Zeichnungen noch nicht ausgeführt sind. Auch die auf die Washingtoner Zeichnungen geklebten Namen sind in fast allen nachprüfbaren Fällen in die Wiener Handschrift übernommen worden. 33 Daneben gibt es auch einzelne Blätter, deren Darstellungen nicht in die Wiener Bildfolge übernommen worden sind. Das Verhältnis der beiden Bildfolgen zu einander lässt sich gut mit dem Blatt 32 der alten Zählung illustrieren (Abb. 1). Freydal ist der linke Reiter, auf dem über ihm aufgeklebten Zettel kann man lesen: Fraydall gestochen in ainer rott, plaub unnd weissen damaschkine 28 Dodgson, „An Unknown MS. of Freydal“ (wie Anm. 27), S. 236f. 29 So noch im Katalog Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit, München 2012 (Ausstellung der Graphischen Sammlung Albertina 494), Kat. 72, S. 284; etwas vorsichtiger: Stefan Krause (wie Anm. 27). 30 T-110: Friedrich von Horn; T-111: Der tüffel (offenbar ein Eigenname); I, 124: Kunig Philipp (zusammen mit auf Freydal bezogenen Zettel). In allen Fällen wird also nur der Namen des Gegners genannt, nie sein Kostüm beschrieben. 31 T-61 (in Wien 180 ist ein Reiter als Herzog von Jülich identifiziert); T-113 (mit drittem Zettel unten, dessen Name, Herzog zu Mecklenburg, zur Bezeichnung des linken Reiters in Wien 122 übernommen worden ist). In beiden Fällen sind die Freydal zugeschriebenen Kostüme auch in Wien unverändert übernommen und damit den Gegnern zugewiesen. 32 T-40, nicht in Wien. Besonders schön sind die Klebespuren auf T-41 zu sehen. Über dieses Blatt ist offenbar eine Flüssigkeit verschüttet worden; an den drei Stellen, an denen sich Zettel befunden hatten, ist das Papier trocken geblieben. 33 Die zwei einzigen Ausnahmen sind T-12 (Felix von Werdenberg) und Wien 86 (Wolfgang von Polheim) sowie T-74 (Christoph von Limburg) und Wien 113 (Wolf von Fürstenberg). Auf dem Turnierplatz der Geschichte 443 deckh, auff dem helm ain ausgeprayttn aren swantz mitt guldin flenderlin, darüber ain tin tuch mitt gulden snueren. Die bildliche Darstellung zeigt die in den drei genannten Farben gestreifte Pferdedecke, auf dem Helm trägt Freydal einen Strauss weisser Federn, die von einem Tuch überfangen werden. Die entsprechende Wiener Miniatur (Abb. 2) übernimmt die Komposition, gestaltet aber im Detail eigenständig aus, etwa die Faltenwürfe und wie stets auch den Untergrund, hier dazu auch die gebrochene Lanze. 34 Die auf dem Zettel erwähnten goldenen Schnüre, welche das Tuch über den jetzt schwarzen Adlerfedern halten, sind in Wien dargestellt, während sie in der Zeichnung fehlen. Als Beispiel für eine Korrektur kann Blatt 12 der alten Zählung dienen (Abb. 3). Hier fehlen zwar alle Zettel, allerdings hat Maximilian offenbar eigenhändig eine Korrekturanweisung auf die Zeichnung geschrieben: Das treffen sol verkert werden Freidall der renner und graff Fellix der sticker. 35 Dargestellt ist ein sogenanntes Krönleinrennen, eine im Freydal nur insgesamt zweimal dargestellte und ziemlich ausgefallene Turnierform, die sich dadurch auszeichnet, dass die beiden Reiter in unterschiedlicher Ausrüstung antreten, nämlich einer im Rennzeug und einer im Stechzeug. Hier sitzt der Ritter rechts im Zeug zum Schweifrennen (erkennbar an der abfliegenden Tartsche, er ist also der Renner), trägt jedoch einen Beinharnisch und eine Lanze mit Krönlein, sein Gegner links sitzt auf einem Ross zum deutschen Gestech (er ist also der Stecher), trägt jedoch ein welsches Stechzeug (erkennbar am Helm) ohne Beinzeug und hätte einen (nicht dargestellten) Rennspiess geführt. Die Anweisung verlangt nun, dass Freydal als Renner erscheint, eine Präzisierung, die überhaupt nur bei dieser speziellen Turnierform notwendig werden kann. Sie setzt überdies voraus, dass in der Zeichnung für Maximilian erkennbar der Reiter links, der Stecher also, Freydal darstellen soll; er muss das an dem Kostüm oder an ehemals aufgeklebten Zetteln erkannt haben, die heute fehlen. In der Wiener Miniatur (Abb. 4) wird der Anweisung in der Art Folge geleistet, dass die beiden Pferdedecken ausgetauscht und überdies farblich differenziert erscheinen. 36 Diese Konstellation lässt den Schluss zu, dass die Zeichner ausgehend von den Informationen zum Auftreten Freydals einen Zweikampf dargestellt und schlicht jeweils einen der beiden Ritter mit den auf den Zetteln geforderten Merkmalen ausgestattet haben. Der Ausgang der Treffen war auf den Zetteln nicht verzeichnet, und wir haben auch keine Listen überliefert, in welchen die Namen mit den Turnierergebnissen kombiniert worden wären - darin differieren die Wiener Miniaturen denn auch ziemlich regelmässig von den Washingtoner Zeichnungen. 34 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. KK 5073, Bl. 22. 35 Dodgson, „An unknown MS“ (wie Anm. 27), S. 241, liest stirtzer, was allerdings wegen der fehlenden Unterlänge nicht sein kann. Er bezieht deshalb die Anweisung irrtümlicherweise auf den Ausgang des Treffens, während es Maximilian auf die Differenzierung Renner/ Stecher anzukommen scheint. 36 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. KK 5073, Bl. 86. 444 Stefan Matter Abb. 1: Washington DC, National Gallery of Art, Rosenwald Collection, 1943.3.4438 (Freydal, vol. 1: plate 31 [S. 32]) Auf dem Turnierplatz der Geschichte 445 Abb. 2: Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. KK 5073, Bl. 22 446 Stefan Matter Abb. 3: Washington DC, National Gallery of Art, Rosenwald Collection, 1943.3.4418 (Freydal, vol. 1: plate 11 [S. 12]) Auf dem Turnierplatz der Geschichte 447 Abb. 4: Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. KK 5073, Bl. 86 Gesamthaft ergibt sich das Bild eines immer noch lückenhaft, jetzt aber doch etwas genauer fassbaren Entstehungsprozesses, der etwa so ausgesehen haben könnte: Möglicherweise stand ganz am Anfang der Wunsch, die kostbaren und kunstvollen Verkleidungen, die Maximilian für seine festlichen Auftritte anzufertigen pflegte, in Form bildlicher Darstellungen zu sammeln. Das würde nicht verwundern, stellen fürstliche Textilien doch bekanntlich repräsentative Schaustücke dar, die in den Quellen immer wieder mit grösster Bewunderung registriert worden sind. Die prunkvollen Kleider beispielsweise, in denen Karl der Kühne 448 Stefan Matter auf dem Trierer Fürstentreffen 1473 Einzug gehalten hat, wurden von allen Chronisten der Zeit mit ungläubigem Staunen beschrieben. Maximilian, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal mit der glanzvollen Welt des burgundischen Hofes in Berührung kam, kannte möglicherweise auch die Liste der zwölf magnificences, der ritterlich-ehrenvollen Auftritte und Taten Karls des Kühnen, welche der später in seinen Dienst tretende burgundische Hofhistoriograph Jean Molinet von seinem Vorgänger Georges Chastellain übernommen hatte. 37 In den Washingtoner Skizzen greifen wir dann eben eine solche Zusammenstellung von Kostümen, wie sie 1502 von Maximilian gefordert worden war. 38 Vor den Zeichnungen mag eine von Marx Treitzsaurwein zusammengestellte Liste der von Maximilian in bestimmten Turnierformen getragenen Kostüme gestanden haben, die an die ausführenden Künstler übermittelt und von diesen in Zettel zerschnitten auf die entsprechenden Darstellungen geklebt worden sind. In einem zweiten Schritt sind dann die Namen der Gegner ergänzt und ist immer wieder auch der Ausgang der Kämpfe korrigiert beziehungsweise überhaupt erst festgelegt worden. Diese Korrekturen zeigen, dass es insbesondere bezüglich des Ausgangs der Treffen (also: wessen Lanze gebrochen ist, wer im Sattel blieb) auf besondere Akkuratesse ankam. Eine zeitliche oder örtliche Lokalisierung, also eine Identifizierung mit einem einzelnen historischen Ereignis wird hingegen an keiner Stelle unternommen. Das bleibt - mit einer einzigen Ausnahme - auch in den Wiener Miniaturen so, die den einzelnen Zeichnungen in deren Anlage folgen, jedoch entgegen der dort noch vorherrschenden Ordnung nach Turnierform jetzt eine Zusammenstellung zu Turnierhöfen bevorzugen, zu denen sie je vier Szenen (Rennen, Stechen, Fußkampf und Mummerei) zusammenstellen. Diese Anordnung deckt sich mit dem vermutlich etwa gleichzeitig entstandenen Text, der eine allegorisierende Rahmengeschichte um ein dürres, aber zweckdienliches Erzählschema spannt. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Treitzsaurweins Text nicht fertig ausgearbeitet ist, ja man hat sogar versucht, sich vorzustellen, welche Form der Text in ausgearbeiteter Gestalt hätte annehmen können und welches Werkverständnis daraus abzuleiten wäre. 39 Ich teile diese Einschätzung nicht, sondern möchte stattdessen vermuten, dass der uns vorliegende Text grundsätzlich als fertiggestellt betrachtet werden kann. Argumente dafür sind - neben dem Umstand, dass es ihn in seiner irritierenden Redundanz überhaupt gibt - zwei Überlegungen im Zusammenhang der Druckausgabe, die vom Freydal offenbar hätte gemacht werden sollen. Einerseits sind die einzelnen Kapitel in der momentanen Form von so ähnlicher Länge, dass man in einer Druckausgabe recht bequem eine regelmässige Abfolge von Bild- und Textseiten hätte erreichen können. 40 Andererseits würde jede inhaltliche 37 Vgl. Werner Paravicini, „Die zwölf ‚Magnificences‘ Karls des Kühnen“, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. von dems., Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51), S. 319-395, einige davon nennen explizit Kleider. Zu den Kleidern, die Karl in Trier getragen hatte, ebd., S. 354, und Richard Vaughan, Charles the Bold. The Last Valois Duke of Burgundy, neu hg. und mit einem Vorwort versehen von Werner Paravicini, Woodbridge 2002, S. 140-147. 38 Zur Entstehungsgeschichte der Washingtoner Zeichnungen vgl. auch Dodgson, „An Unknown MS. of Freydal“ (wie Anm. 27), S. 236. 39 Müller (wie Anm. 5), S. 106f. 40 Die erhaltenen fünf Holzschnitte haben die Masse von ca. 23 x 25 cm, vgl. Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit (wie Anm. 29) S. 284, was ein Grossfolio-Format erfordern würde, ähnlich dem ‚Theuerdank‘. Dort wiederum verhält es sich auch so, dass die ‚Binnenkapitel‘ größtenteils von vergleichbarem Umfang sind. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 449 Ausgestaltung des Textes, wie sie im ersten Turnierhof tatsächlich vorliegt (wo Freydal als Student verkleidet auftritt), zu unlösbaren Schwierigkeiten in Bezug auf die Koordination von Text und Bild führen (es ist kein Zufall, dass kein Turnierkämpfer in den erhaltenen Bildfolgen erkennbar als Student dargestellt erscheint). Der im Cod. 2831* vorliegende Text hingegen könnte von einem Drucker unter Hinzufügung der entsprechenden Namen und nach Anpassung an den dargestellten Kampfausgang direkt verwendet werden. Narrativierung von Vergangenheit im Freydal Ich versuche ein kurzes Fazit: Wie erzählt also der Freydal Geschichte? Zunächst einmal erzählt er in der Tat, indem er nämlich einen Protagonisten als Maximilians Alter ego eine Reihe von Stationen durchlaufen lässt. Dass in den literarischen Gedechtnus-Werken Maximilians Ruhmestaten in einen neuen Sinnzusammenhang treten, welcher „nicht dem historischen Verlauf abgewonnen [wird], sondern […] sich unabhängig von ihm durch ein tradiertes narratives Strukturmuster sowie ein allegorisches Bezugssystem [konstituiert]“, ist bereits hinreichend beschrieben worden. 41 Am Freydal lässt sich darüber hinaus gleichsam ein Blick in die Werkstatt werfen, in der die Ruhmestaten für das ewige Gedächtnis aufbereitet werden, einen Blick damit auch auf die „Erzählstrategien, durch welche die von Gruppen und Kollektiven erfahrene bzw. erinnerte ‚Vergangenheit‘, ungeachtet ihrer faktischen Wahrheit, in das Konstrukt von ‚Geschichte‘ verwandelt wird“, wie es im Ausschreibungstext zur Tagung heisst. Offenkundig haben die einzelnen Darstellungen einen durchaus ernsthaften dokumentarischen Charakter und die Richtigkeit von Details ist von eminenter Wichtigkeit, was insbesondere die Washingtoner Zeichnungen und ihre Korrekturen belegen. Dieser dokumentarische Impetus ist jedoch auch sehr stark fokussiert, er richtet sich offenbar hauptsächlich auf die Kleidung Maximilians sowie auf den Ausgang der Kämpfe, möglicherweise auch auf die Kampfart, nicht aber etwa auf die Kostüme der Gegner und erst recht nicht auf die (in unserem Sinne) ‚eigentlichen‘ historischen Umstände, neben den Personen, nämlich Ort und Zeit. 42 Als ein Aspekt der zur Debatte stehenden Erzählstrategie könnte also diese gezielte, stark reduzierte Auswahl von historisch Faktischem - keinesfalls aber deren Verzicht - sein, die es erst erlaubt, die verschiedenen Ereignisse in einen narrativen Zusammenhang und damit in ein „Konstrukt von ‚Geschichte‘“ zu bringen. Es ging daher vielleicht, so könnte man weiter folgern, eher darum, möglichst viele Namen ‚in das Werk zu stellen‘, 43 also gleichsam ein stilisiertes, auf viermal 64 ‚Ereignisse‘ komprimiertes Archiv einer spezifischen Seite herrscherlicher Bewährung zu erstellen. Vor diesem Hintergrund ist die gängige Forschungsmeinung, „dass alle im Freydal vorkommenden Abbildungen nur wirklich Geschehenes veranschaulichen“, 44 doch in der Art einzuschränken, dass Maximilian sehr wahrscheinlich mit allen namentlich genannten 41 Müller (wie Anm. 5), S. 111. 42 Bei Hugo von St. Victor im Titel: De tribus maximis circumstantiis gestorum id est personis locis et temporibus, vgl. William M. Green, „De tribus maximis circumstantiis gestorum“, in: Speculum 18 (1943), S. 484-493. 43 In dem Sinne ein „In-einen-Rahmen-stellen“, wie es Müller (wie Anm. 5), S. 110, als typisch für das Ruhmeswerk beschreibt. 44 Von Leitner (wie Anm. 4), S. iv, ebenso Krause (wie Anm. 26), S. 167: „Die Bilder des ‚Freydal‘ gehen auf tatsächliche Turniere und Kostümfeste des Kaisers zurück.“ 450 Stefan Matter Gegnern irgendwann einmal in seiner Turnierkarriere gekämpft hat - möglicherweise aber durchaus nicht in der bildlich (und erst recht nicht in der literarisch) dargestellten Art. 45 Der historiographische Anspruch, der freilich nicht im Vordergrund gestanden haben mag, hätte also darin bestanden, einerseits den Turniergegnern Maximilians ein Denkmal zu setzen und andererseits die an den Kostümen ablesbare Magnifizenz Maximilians zu dokumentieren. Bei welcher Gelegenheit und unter welchen Umständen sie sich gezeigt hat, spielt dabei offenkundig keine Rolle. Und so kann es dann auch angehen, dass auf einem Bild zwei Freydal-Turnierausstattungen zu sehen sind. Der historische Gehalt des Freydal läge damit - pointiert gesagt - in der Dokumentation von Maximilians Turniertätigkeit ganz ohne das spezifisch Historische (id est personis, locis et temporibus) daran zu erfassen - und das alles kommt doch wieder der eingangs besprochenen Folge von sechs Turnierkämpfen im Theuerdank sehr nahe, die zwar sinnbildlich und explizit für alle Turnierteilnahmen Theuerdanks/ Maximilians stehen, angesichts derer aber ein naher Zeitgenosse es doch für denkbar hielt, dass sie genau so stattgefunden haben. Anhang: Die Zusammenstellungen der Turnierkämpfe Maximilians Die untenstehende Tabelle macht deutlich, dass die Quellen bezüglich der Angaben, wie oft Maximilian in den unterschiedlichen Turnierformen gekämpft habe, stark auseinandergehen, ja sich überhaupt kaum einmal decken. Das wird sicherlich auch mit dem Umstand zusammenhängen, dass wir es mit einem unfertigen Werk zu tun haben, dessen Vorarbeiten zudem lückenhaft überliefert sind. Ich möchte daher diesen Zahlen auch nicht zu viel Gewicht zumessen. Man muss aber trotzdem betonen, dass der Freydal damit anders konzipiert ist als die zahlreichen zeitgenössischen Turnierbücher, die von Stefan Krause gerade jüngst noch einmal in überzeugender Weise typologisiert worden sind, 46 und die in aller Regel eben tatsächlich viel Wert darauf legen, von den dokumentierten Turnieren zumindest Ort, Zeit und möglichst alle Teilnehmer festzuhalten. Cod. 2835, Bl. 38r-39r (Gesprächsnotizen von 1512) KK 5037, Bl. A-P (Namensverz.) KK 5037, Bl. 1-255 (Bilder) 47 Geschift rennen [11] Item der geschift rennen solen xi sein, darunder iii fäl mit ein ander und zwen fäl, das kaiser besizt, und wider parthey felt, die ubrigen vi rennen sollen sy baid besitzen. 13 17 in 2 fallen beide 4 besitzt Freydal 11 besitzen beide Swayf rennen [6] Item schwayf rennen sollen vi sein, darunder iiii fäl mit ain ander und ii fäl das kaiser besizt und wider parthey felt. [38v] 11 13 in 1 fallen beide 3 besitzt Freydal 9 besitzen beide 45 Mir scheint es überdies möglich, dass es beim Ausgang der Treffen auch auf eine gewisse Ausgewogenheit ankam. Maximilian sollte im Freydal sicherlich in einem vorteilhaften Licht erscheinen. 46 Stefan Krause, „Turnierbücher des späten Mittelalters und der Renaissance“, in: Turnier. 1000 Jahre Ritterspiele, hg. von dems. und Matthias Pfaffenbichler, Wien 2017, S. 181-201. 47 Gezählt nach von Leitners Zusammenstellung (wie Anm. 4), S. xxxviiif. Auf dem Turnierplatz der Geschichte 451 Pundt rennen [12] Item das pundet rennen sollen xii sein, darunder sollen zwen fäl sein das der kaiser besizt, und die wieder parthey felt, und die ubrigen x rennen solen baid besitzen. 11 6 in 1 fallen beide 5 besitzen beide Antzogen rennen [25] Item antzogen rennen sollen xxv sein und der kaiser ist albeg den driten teil besessen, und sein wieder parthey den ii teil gefallen. 20 18 in 8 fallen beide 9 besitzt Freydal 1 besitzen beide Teutsch gestech [26] Item es sollen sechs und zwaintzig teutscher gestech sein, die fäl sol kaiserlich Mt. noch stymben. 41 33 Welsch gestech [38] Item es sollen acht und dreissig welscher gestech sein, die fäl solle kaiserlich Mt. noch stymben. [39r] 28 28 Tornier [3] Item es sollen sein iii Tornier (Namen fehlen) 9 Krönl [3] Item es sollen sein iii rennen, in der gestalt das ainer ain krönl der ander ain scharfes rennspieß hab, die fäl solle kay. Mt. noch stymben. (fehlt als Kategorie) 2 Velt rennen [5] Item es sollen sein v velt rennen. 10 - Summa der rennen stechen und tornier cxxviii [128; die Summe der genannten Kämpfe ist jedoch 129] 134 126 (urspr. 128) Epilog 453 Epilog Almut Suerbaum Wie dicht die Diskussionen um das Erzählen von Geschichte waren, demonstrieren die Beiträge dieses Bandes. Daher soll ein Versuch, die Ergebnisse zu bündeln und Ausblicke auf die aus ihnen sich ergebenden neuen Fragehorizonte zu geben, den Band beschließen. Im Zentrum der Beiträge waren volkssprachige erzählende Texte und Geschichtsquellen, welche Vorgänge der Vergangenheit ordnen, in Erzählung umsetzen und in ihrer Ereignishaftigkeit reflektieren. Doch erfordert ein solcher Akt des Erzählens zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeitlichkeit, wie dies schon eine der Zentraltexte des Mittelalters, die Confessiones des Augustinus, in den Blick ruft. Während Augustinus Zeit als Phänomen weder zu erfassen noch zu beschreiben vermag, verweist er auf die Realität des Erlebens, und sieht Zeit daher jeweils in Bezug auf die Gegenwart des Beobachtenden. Boethius dagegen fokussiert auf die Ewigkeit Gottes, in der auch das menschlich Kontingente der Zukunft bereits im totum simul der Gottessicht enthalten ist. 1 Doch auch in volkssprachigen Werken des Mittelalters findet sich eine Auseinandersetzung damit, dass das Erzählen von Vergangenem in der Gegenwart des Sprechenden Teil einer Beschäftigung mit menschlicher Geschichte ist. Ausgangspunkt dieser abschließenden Überlegungen ist daher einer der großen mittelhochdeutschen Autoren, der zwar in keinem der Beiträge erwähnt wurde, dennoch aber zentral für vieles ist, was in ihnen angesprochen wurde. In seiner Predigt Q 38 In illo tempore (Lc 1. 26-28), die liturgisch entweder im Advent oder aber am Fest Maria Verkündigung anzusetzen ist, setzt Eckhart sich mit der Vorstellung von der ‚Fülle der Zeit‘ auseinander: Ich las niuwelîche in einem buoche - der ez gegründen künde! -, daz got die werlt iezuo machet als an dem êrsten tage, dô er die werlt geschuof. Hie ist got rîche, und daz ist gotes rîche. Diu sêle, in der got sol geborn werden, der muoz diu zît entvallen, und si muoz der zît entvallen und sol sich ûftragen und sol stân in einem înkaffenne in disen rîchtuom gotes: dâ ist wîte âne wîte und breite âne breite; dâ bekennet diu sêle alliu dinc und bekennet sie dâ volkomen. 2 Wie in der Bürgelin-Predigt Q 2 vermittelt Eckhart seinen Lesern und Hörern einen Begriff von der Komplexität der Zeit, der auf Augustinus rekurriert, aber weit über ihn hinausgeht. Schon Augustinus habe, so zitiert Eckhart, konstatiert, dass die Fülle der Zeit, von der Paulus spreche, erst da sei, wo es keine Zeit mehr gebe. Doch Eckhart geht über Augustinus 1 Vgl. The Oxford Handbook of Philosophy of Time, hg. von Craig Callender, Oxford 2011, sowie Temporality and Mediality in Late Medieval and Early Modern Culture, hg. von Christian Kiening und Martina Stercken, Turnhout 2018 (Cursor mundi 32), und demnächst Medieval Temporalities. The Experience of Time in Medieval Europe, hg. von Almut Suerbaum und Annie Sutherland, Woodbridge 2020 (im Druck). 2 Eckhart, Predigt Q 38 In illo tempore missus est angelus Gabriel a deo: ave gratia plena. dominus tecum, in: Meister Eckhart, Werke, hg. von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 1991/ 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20/ 21), Bd. 1, S. 406-419, Kommentar S. 997-1006, hier S. 408. hinaus, indem er diese Fülle der Zeit jenseits der Zeit nicht allein auf die fundamentale Differenz zwischen dem ungeschaffenen, jenseits der Zeit sich bewegenden Gott und seiner Schöpfung, dem endlichen Menschen bezieht, sondern einen Funken dieser göttlichen Ewigkeit in der Seele des Menschen sieht. Obwohl er also, mit Augustinus, konstatiert, daz zît got noch die sêle von natûre niht berüeren enmac (S. 408), ist der Vernunft als dem Haupt der Seele diese Überzeitlichkeit zugänglich. 3 Zugleich aber ist bemerkenswert, dass Eckhart diese Differenzierung philosophischer Positionen zwar unter Bezug auf die Eckpunkte der Wissenschaft seiner Zeit, Augustinus, Boethius und Thomas von Aquin, vornimmt, dabei aber diese spekulativen Gedanken nicht als objektivierende Wissenschaft fasst, sondern erzählend als Ereignis entwirft: niuwelîche, also vor kurzer Zeit, habe er etwas gelesen - die philosophische Spekulation wird also einem identifizierbaren Ich zugeschrieben, in dessen Vergangenheit das Leseerlebnis stattgefunden hat; zugleich artikuliert dieses Sprecher-Ich seine Bewunderung, aber wohl auch Verwunderung über das vor kurzer Zeit Gelesene. Solche subjektiven Ausrufe sind Teil dessen, was Burkhard Hasebrink als inzitative Rede bezeichnet und als genuin literarische Leistung der Eckhartschen Predigten herausstellt: „Seine Leistung bestand darin, daß er die als Kommunikation in der Einheit deutbare Aufhebung der Fremdheit von Gott als Vorgabe für die literarische Konzeption seiner Predigt einsetzte. So gelang ihm eine kommunikative Praxis, die deswegen herausragte, weil sie die traditionelle Rollenstruktur persuasiver Rede durchbrach.“ 4 Es geht, anders gesagt, in seinen Predigten um das Auslösen von Prozessen in den Lesern, nicht allein um die Formulierung überpersönlicher Wahrheiten. Eckhart lenkt somit unser Augenmerk nicht nur auf das Phänomen von Zeit und Zeitlichkeit und das Problem zeitlicher Ordnung, sondern auch auf die subjektive Betroffenheit sowie die Rolle des Erzählens, wie es die Einleitung dieses Bandes fokussiert hatte. Drei große Themen- und Methodenkomplexe standen im Zentrum der Untersuchungen und Diskussionen, die sich in einer Trias von Begriffen zusammenfassen lassen: Geschichte, Erzählen, Deutsch. Erstens unterstrich die Fokussierung auf einen Einzeltext, die Kaiserchronik, wie zentral das Frühmittelalter für das gestellte Thema war, da dort wesentliche Aspekte eines genuin mittelalterlichen Umgangs mit Historie und historischem Erzählen bereits greifbar werden. Wie Jan-Dirk Müller in seinem Beitrag aufweist, ist die Kaiserchronik zwar das erste Beispiel einer chronikartigen Erzählung von Geschichte, die in mehreren Schichten verschriftlicht und jeweils bis in die Gegenwart des Schreibenden geführt wird. Wie wenig sich solche Bearbeitungsprozesse auf eine lineare Tendenz festlegen lassen, wird die demnächst erscheinende Neuedition des Textes dokumentieren (Mark Chinca/ Helen Hunter/ Christopher Young). Doch auch die Struktur des erzählten Textes ist weniger linear, als es die offensichtliche Anordnung nach Regierungsphasen der römischen Kaiser und Könige vielleicht suggerieren mag. An Stelle einer Reihung von Ereignissen in chronologischer Abfolge setzt die Kaiserchronik auf eine Kategorie, die Müller ‚Bedeutsamkeit‘ nennt. Die vollzogene Umordnung geschichtstheologischer Elemente in heldenepische Formen, so etwa, wenn das heilsgeschichtliche Symbol des Ebers aus der Danielsvision bei Pius Antoninus zum Feldzeichen wird, generiert Spannungen, welche die Signifikanz solcher Episoden hervorhebt. Zu fragen wäre, wie weit eine solche Kategorie der ‚Bedeut- 3 Vgl. dazu Largier (wie Anm. 3), S. 998-1004. 4 Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart: Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992 (Texte und Textgeschichte 32), hier S. 267. 454 Almut Suerbaum Epilog 455 samkeit‘ anschließbar ist an das, was seit dem achtzehnten Jahrhundert in einem Begriff, den das Mittelhochdeutsche nicht kennt, ‚Ereignis‘ heißt (Christina Lechtermann). Diese bei Lechtermann als das „irreduzibel Andere“ bezeichnete Alterität ist dennoch von einer Serialität zu unterschieden. Auch die Untersuchung von Heiligenleben weist auf einen spannungsgeladenen Bezug zwischen der geschichtlichen Entwicklung von Heil im Erzählen des einzelnen Lebens einerseits und einer historischen Fundierung von Überzeitlichkeit in liturgischen, inhärent zyklischen Mustern (Rabea Kohnen). Ein zweiter die Überlegungen durchziehender Argumentationsstrang war die in Texten entwickelten Ordnungsstrategien, mit Hilfe derer eine Reflexion über die Zeit stattfindet. Dabei wurde deutlich, dass es im Mittelalter ganz unterschiedliche Konzeptionen von Zeit gibt. Die seit Augustinus prominente, allerdings von ihm selbst in Frage gestellte Dreiteilung eines linear vorgestellten Zeitstrahls in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist allerdings, daran sollte man immer wieder erinnern, zwar prominent in modernen Vorstellungen, für das Mittelalter dagegen nur eines von mehreren Modellen einer Visualisierung von Zeit. 5 Wichtiger als die Separierung menschlicher Zeit in ein davor, jetzt und danach, wie es die Trennung in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft suggeriert, ist mittelalterlichen Theologen und Philosophen die Unterscheidung zwischen Zeitgebundenheit der Schöpfung, besonders aber des Menschen, der sich dieser Zeitlichkeit bewusst ist, und der göttlichen Zeitlosigkeit oder Ewigkeit, welche Eckhart in einer prägnanten Formulierung das nû der êwicheit nennt. 6 Während diese Differenz zwischen Schöpfergott und Schöpfung daher an die Zeitlichkeit der Zeit erinnert, gibt es zudem unterschiedliche Weisen, die Zeitlichkeit der geschaffenen Welt zu strukturieren: Aus der Perspektive des einzelnen Lebens kann sie als Linie vom Geburt zum Tod gesehen werden, doch sind zyklische Modelle mindestens ebenso wichtig, von der Wiederkehr der Jahreszeiten von Aussaat bis Ernte über die wiederkehrende Erinnerung an biblisches Geschehen in der Liturgie oder im geistlichen Spiel. Wenn in den hier vorgestellten Untersuchungen daher von Entzeitlichung oder Vergegenwärtigung gesprochen wurde, so deutet das auf die Notwendigkeit hin, das im jeweiligen Kontext zu präzisieren, vor allem wenn es darum geht, hermeneutische Verfahren von rhetorischen Kunstgriffen zu unterschieden. Damit aber knüpfen die Ergebnisse des Bandes nicht nur an bereits bekannte Positionen der Vergangenheit an, sondern erlauben auch einen Ausblick in die Zukunft, denn aus den in den Beiträgen entwickelten Reflexionen und Ergebnissen lassen sich Anregungen dafür entwickeln, wie die im Kolloquium entsponnene Diskussion weiterzudenken wären. Auch diese Anregungen lassen sich unter drei Begriffe subsumieren: Erfahren, Schreiben, Handeln. Wie zentral menschliche Erfahrung für das Erzählen, Ordnen und Verarbeiten von Geschichte ist, lässt sich an zahlreichen im Band vorgestellten Texten nachweisen. Doch den vielleicht radikalsten Versuch, menschliche Zeitlichkeit und göttliche Ewigkeit ineinander zu verschränken, unternimmt Eckhart, der zentrale Impulse dafür geliefert hat, 5 Vgl. Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo: Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt 1993, und Niklaus Largier, „Time and Temporality in the ‚German Dominican School‘. Outlines of a Philosophical Debate between Nicolaus of Strasbourg, Dietrich of Freiberg, Eckhart of Hoheim, and Johannes Tauler“, in: The Medieval Concept of Time: Studies on the Scholastic Debate and its Reception in Early Modern Philosophy, hg. von Pasquale Porro, Leiden 2001 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 75), S. 221-253. 6 Eckhart (wie Anm. 2), Predigt Q 38, S. 408; vgl. auch Predigt Q 2, S. 30: wan got ist in dirre kraft als in dem êwigen nû. 456 Almut Suerbaum wie Mittelalter und neuzeitliche Philosophie Geschichte konzipieren. Eckharts Predigten entwickeln ein noch bei Heidegger und Husserl zentrales Konzept menschlicher Zeitlichkeit, das wesentlich an die Erfahrung von Zeit gebunden ist. Bei Eckhart allerdings bedeutet diese abstrakt reflektierte Zeitlichkeit, welche in Gegensatz zur physikalischen Größe der Zeit gesetzt wird, gerade keine ahistorische Entzeitlichung, sondern bleibt an die menschliche Erfahrung von Zeit und Vergänglichkeit gebunden. In seinen Predigten manifestiert sich dies vor allem in den vielen deiktischen Hinweisen auf subjektbezogene Orte und Zeiten: ich las niuwelîche in einem buoche, oder als ich sprach zo mergarden. 7 Noch die Auseinandersetzung mit der abstrakten Zeitlosigkeit ist an diese Erfahrung gebunden und wird den Hörern so vermittelt: underwîlen hân ich gesprochen, ez sî ein vünkelîn. Ich spriche aber nû: es enist weder diz noch daz. 8 Zweitens dürfte es lohnend sein, die Überlegungen zu historia als Form des kollektiven Gedächtnisses weiterzuführen. Eine Reihe von Beiträgen hat darüber reflektiert, auf welche Weise das Aufzeichnen und Verschriftlichen der eigenen Geschichte der Identitätsbildung dienen kann. Beobachtbar sind dabei zwei einander entgegengesetzte Tendenzen, denn neben Strategien der Inklusion, welche gemeinsame Merkmale hervorheben, Gruppencharakteristiken entwerfen oder projizieren und auf diese Weise an Traditionen der Vergangenheit anknüpfen, stehen auch solche der Exklusion, in denen der Rekurs auf Gemeinsamkeiten durch eine Ausgrenzung vom jeweils Anderen erfolgt. Dies ist auf mehrfacher Ebene beobachtbar; vor allem sind von wenigen Ausnahmen abgesehen, Frauen oder weibliche Figuren in den meisten Texten und Diskussionen abwesend. Das gehört einerseits zum inzwischen oft reflektierten methodischen Risiko der Geschichtswissenschaften, die als ‚His-story‘ keine Raum für ‚Her-story‘ lassen, und ist andererseits bereits in den mittelalterlichen Texten beobachtbar. 9 Der Beitrag von Ricarda Bauschke macht explizit, dass diese Absenz von Frauen zu den identitätsstiftenden Merkmalen der Turnierbeschreibungen gehört. Umso wichtiger dürfte es daher sein, daran zu erinnern, dass in dieser Hinsicht die Kaiserchronik eine wichtige Ausnahme darstellt, da sie sehr dezidiert weibliche Figuren verwendet, um in bewusst fiktionalen Entwürfen Verhaltensmodelle zu entwickeln, die von einer rein maskulin dominierten und feminine Perspektiven ausschließenden Position abweichen. Schließlich aber sollte festgehalten werden, dass Strategien der regionalen oder partikularen Traditionsstiftung, welche auf Exklusion beruhen, keine rein fiktionalen Gedankenspiele sind, sondern in bestimmten Fällen greifbare Konsequenzen im politischen Handeln hatten und haben. Welche Folgen eine Geschichtsschreibung nach sich zieht, die Identität und Gruppensolidarität über Formen der polemischen Exklusion und Vereinnahmung erreicht, haben die Beiträge von Julia Frick und Anne Simon illustriert. Akte der Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis können, so demonstrieren die Beispiele Nürnbergs und des Trienter Judenprozesses von 1475, den Punkt markieren, an dem das Erzählen zu einer Aufforderung zum Handeln wird und damit den Anlass zu realen Akten der Aggression und Auslöschung gibt. 10 Erzählen von geschichtlichen Ereignissen ist dann kein neutraler 7 Eckhart (wie Anm. 2), Predigt Q 38, S. 408, und Predigt Q 14, S. 164-166, mit Hinweis auf das Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten in Köln; zu Fragen der Lokalisierung vgl. Niklaus Largiers Kommentar in gleichen Band, S. 736-740, hier S. 738f. 8 Eckhart (wie Anm. 2), Predigt Q 2, S. 32. 9 Vgl. Casey Miller und Kate Swift, Words and Women, London 1977. 10 Vgl. Polemic: Language as Violence in Medieval and Early Modern Discourse, hg. von Almut Suerbaum, George Southcombe und Benjamin Thompson, Farnham 2015. Epilog 457 Prozess des Ordnens, Sammelns und Archivierens, sondern eine Form von Sprachhandlung, die politische Konsequenzen hat. Drittens schließlich haben die Diskussionen hervorgehoben, welche Rolle die Volkssprache für die Konzeption und Profilierung des Erzählens von Geschichte spielt. Das Zusammenführen ganz unterschiedlicher Erzähltraditionen (Henrike Manuwald) lässt sich nicht allein als Hybridität beschreiben, sondern setzt neue Maßstäbe, wenn volkssprachige Autoren wie Konrad von Würzburg erniuwen als Bild der Narrativierung von Geschichte entwickeln (Almut Schneider). Volkssprachige Dichtung versteht sich zwar durchaus als Fortsetzung lateinischer Traditionen (Linus Ubl), inszeniert aber andererseits einen dezidierten Neubeginn. Wenn immer wieder nach den implizierten ‚Wissensbeständen‘ und dem ‚gelehrten Leser‘ gefragt wurde, so weist dies auf die sich verändernden Rezeptionskontexte hin, in denen es zwar keinen Fiktionalitätskonstrukt gibt, aber eben auch keinen ungebrochenen Anspruch auf Referenzialität. Offensichtlich geworden ist dagegen, dass gerade im Erzählen von Geschichte die ästhetische Identität der volkssprachigen Texte hervortritt. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 459 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ricarda Bauschke , Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Germanistik, Abt. III: Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, Universitätsstraße 1/ Geb. 24.54.00.82, D-40225 Düsseldorf Prof. Bettina Bildhauer , School of Modern Languages: German, Buchanan Building, Union St., St Andrews KY16 9PH, United Kingdom Dr Sarah Bowden , Department of German, King's College London, Virginia Woolf Building, 22 Kingsway, London WC2B 6LE, United Kingdom Dr Mary Boyle , Faculty of Medieval and Modern Languages, University of Oxford, 47 Wellington Square, Oxford OX1 2JF, United Kingdom Prof. Dr. Elke Brüggen , Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Abteilung für Germanistische Mediävistik, Am Hof 1d, D-53113 Bonn Dr Mark Chinca , University of Cambridge, German and Dutch Section, Faculty of Modern and Medieval Languages and Literatures, Sidgwick Avenue, Cambridge CB3 9DA, United Kingdom Prof. Dr. Cora Dietl , Justus-Liebig-Universität Gießen, Fachbereich 05 - Sprache, Literatur, Kultur, Institut für Germanistik, Otto-Behaghel-Straße 10 B, D-35394 Gießen Prof. Dr. Manfred Eikelmann , Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut, Universitätsstraße 150, D-44801 Bochum Dr. Julia Frick , Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich Prof. Dr. Mathias Herweg , Karlsruher Institut für Technologie, Campus Süd, Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien, Kaiserstraße 12, Geb. 20.30, D-76131 Karlsruhe Dr Helen Hunter , Faculty of Modern and Medieval Languages, University of Cambridge, Sidgwick Avenue, Cambridge, CB3 9DA, United Kingdom Ass.-Prof. Dr. Rabea Kohnen , Universität Wien, Institut für Germanistik, Universitätsring 1, A-1010 Wien Prof. Dr. Cordula Kropik , Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, CH-4051 Basel Prof. Henrike Lähnemann , St Edmund Hall, Oxford OX1 4AR, United Kingdom Prof. Dr. Christina Lechtermann , Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, IG Farben Haus, Norbert-Wollheim-Platz 1, D-60323 Frankfurt am Main apl. Prof. Dr. Sandra Linden , Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Deutsches Seminar, Wilhelmstraße 50, D-72074 Tübingen Prof. Dr. Henrike Manuwald , Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, Käte-Hamburger-Weg 3, D-37073 Göttingen PD Dr. Stefan Matter , Universität Freiburg, Departement Germanistik, Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg Prof. Dr. Nine Miedema , Universität des Saarlandes, Fakultät P - Philosophische Fakultät, FR Germanistik - Mediävistik, Campus A2 2, D-66123 Saarbrücken Dr Stephen Mossman , Department of History, University of Manchester, Samuel Alexander Building, Oxford Road, Manchester M13 9PL, United Kingdom Prof. em. Dr. Jan-Dirk Müller , Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3 RG, D-80799 München Dr Christoph Pretzer , St Hilda’s College, Cowley Place, Oxford OX4 1DY, United Kingdom Prof. Dr. Silvia Reuvekamp , Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abt. Literatur des Mittelalters, Stein-Haus, Schlossplatz 34, D-48143 Münster Prof. Len Scales , Department of History, Durham University, 43 North Bailey, Durham DH1 3EX, United Kingdom PD Dr. Almut Schneider , Akademie der Wissenschaften zu Göttingen: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Geiststraße 10, D-37073 Göttingen Dr Anne Simon , Institute of Modern Languages Research, University of London, Senate House, Malet Street, London WC1E 7HU, United Kingdom Prof. Dr. Michael Stolz , Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggass-Strasse 49, CH-3012 Bern Prof. Almut Suerbaum , Somerville College, Oxford OX2 6HD, United Kingdom Dr Linus Ubl , Somerville College, Oxford OX2 6HD, United Kingdom 460 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 461 Prof. Annette Volfing , Oriel College, Oxford OX1 4EW, United Kingdom Prof. em. Dr. Gerhard Wolf , Universität Bayreuth, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Ältere deutsche Philologie, Universitätsstraße 30, D-95447 Bayreuth Prof. Christopher Young , Pembroke College, Cambridge CB2 1RF, United Kingdom Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 463 Register Im Register aufgeführt sind alle Namen historischer Personen (einschließlich biblischer Figuren und Heiligennamen), Ortsnamen und Werktitel; Handschriften, Blockbücher und Inkunabeldrucke sind einzeln unter dem jeweiligen Stichwort aufgelistet. Aachen 348, 409, 422 Marienkapelle 430 Aaron (bibl. Figur) 129, 145-146, 432 Abel (bibl. Figur) 129, 148 Abner (bibl. Figur) 260 Abraham (bibl. Figur) 126, 129, 246-247, 252-258, 261, 419 Absalom (bibl. Figur) 260, 328-329 Achilleus (röm. Kaiser) 59-60 Achior (bibl. Figur) 313, 319 Adalbert, hl. 431 Adam (bibl. Figur) 129, 148-149, 236, 238, 246, 258, 288, 331 Adso von Montier-en-Der De antichristo 175 Priester Adelbrecht Johannes 156, 158 Aesopus Latinus 289 Agnes, Gräfin von Loon 206-207 Agnes, Herzogin von Schwaben 406 Ahasverus (bibl. Figur) 312-313, 319 Aischylos 286-287, 294, 296 Alanus ab Insulis Anticlaudianus 141 Alarich 50-51, 60 Albrecht I. von Habsburg (röm.-dt. Kaiser) 422 Albrecht III., Markgraf von Brandenburg 429 Alexander der Große, König von Mazedonien 44-46, 72, 76, 78, 142, 210, 432 Alexander III. (Papst) 415 Alexander von Roes Memoriale 413, 416 Alfonso X., König von Castilien 411 Aliscans 344 Alt, Georg 427 Altenfurt Katharinenkapelle 428 Ammon (bibl. Figur) 319-320 Amos (bibl. Figur) 432 Anastasius der Bibliothekar Translatio Constantinopolim 275, 278 Anaxagoras 286-287, 294-296 Anaximenes 295 Angelus, Jude in Trient 380, 391 Anna, hl. 158, 212 Annales Sangallenses 54 Anno, hl., Erzbischof von Köln 72, 192-193, 210, 223, 327-332 Annolied 12-13, 16, 18, 47-48, 51, 71-72, 74-79, 188, 192-193, 198, 208-210, 212-213, 219, 223, 225-226, 325-332, 336, 338-339 Antiochos IV. 334 Antoine de la Sale Paradis de la reine Sibylle 371 Antoninus Pius (röm. Kaiser) 50, 454 Archelaos 296 Archipoeta 408-409 Aristoteles 287, 431 Metaphysik 287, 295 Rhetorik 62-63 Arnaldus de Villanova Tractatus de tempore adventus Antichristi 171 Arnold von Harff Reisebericht 138 Arnulf von Kärnten (röm.-frk. Kaiser) 58 Arphaxad (bibl. Figur) 311 Aso von Vienne 45 Äsop 289 Athen 294, 296 Augsburg 315-316, 387, 420, 422, 426 St. Ulrich und Afra 316 Augustinus, hl. 145-146, 286-287, 291, 453-455 Confessiones 209-210, 453 De civitate Dei 47-48, 287, 295-296 Augustus (röm. Kaiser) 57-58, 72, 212-213, 215, 222, 408, 417 Aulus Gellius Noctes Atticae 294 Frau Ava Johannes 156, 158-159, 163 464 Register Balaam (bibl. Figur) 126 Balduini, Arcangelo 381 Balthasar (bibl. Figur) 310, 313, 318 Bamberg 300-301, 303-304, 429 Basel 161 Baumgartenberger Johannes 156, 164 Beauvale, Kartause 147 Beda, hl. 49 Beheim, Heinrich 431 Benediktbeurer Weihnachtsspiel 145-146 Benjamin (bibl. Figur) 258-259, 317 Benoît de Saint-Maure 233-234 Roman de Troie 356 Bergomas, Jacobus Philippus Supplementum chronicarum 421 Berlin 403-404 Berliner Weltgerichtsspiel 145 Bernhard von Clairvaux, hl. 132 Bernward von Hildesheim 238 Berthold von Regensburg 170, 251 Bethlehem 144 Betuël (bibl. Figur) 257 Bileam (bibl. Figur) 145 Blockbücher Apocalypsis Johannis (Manchester, John Rylands Library, Blockbook 3103) 8 Blondus, Flavius De inclinatione Romani imperii 421 Italia illustrata 421 Boccaccio, Giovanni Dekameron 111 Bodel, Jean 213 La Chanson des Saisnes 341-344, 356 Boethius 287, 453-454 De consolatione philosophiae 296 Bologna 170, 408 Bonaventura, jüdischer Sklave in Trient 386, 391 Bonn 423 Braunschweig 410 Braunschweigische Reimchronik 191-192, 202, 410 Brembergerballade 362, 368-369, 371, 373 Brescia 386 Brunetta, Jüdin in Trient 381 Buch der Beispiele 109-111 Buch der Könige 302 Buch der Märtyrer 276 Bugislaw, Herzog von Pommern 429 Cambridge 26 Cappenberger Barbarossakopf 406, 410 Cassiodor 49 Castel del Monte 406 Cato d. J., Marcus Porcius 73-74 Celtis, Konrad 411 Chanson de Roland 344, 346, 348, 350-352, 355 Chastellain, Georges 448 Chiavenna 413 Chosrau II., König von Persien 63-64 Chrétien de Troyes Cligès 231 Christ’s Burial 148, 150-152 Christ’s Resurrection 148, 150-152 Christoforo de Fatis de Terlaco 381 Christoph von Limburg 442 Christus 16, 41, 45, 64, 122, 124, 127-131, 133-135, 137-142, 145-149, 151, 154-156, 158-164, 168, 172, 175-176, 178-182, 205, 212-214, 221, 223, 225, 230, 236, 246, 252, 258, 266-269, 271-277, 280-282, 313, 318, 328, 346-347, 349, 351, 383, 389-390, 393, 395, 398, 408, 417, 426-429, 431-432 Chronica regia Coloniensis 411 Cicero, Marcus Tullius 421, 431 De officiis 288 De oratore 62, 188 Code Napoleon 403 Collatia 30 Comestor, Petrus Historia scholastica 160, 257, 309 Commodus (röm. Kaiser) 58, 60 Compendium Anticlaudiani 141 Constantin I. (röm. Kaiser) 56, 58, 195, 278, 408 Constantius I. (röm. Kaiser) 58-59 Constantius II. (röm. Kaiser) 59 Cura sanitatis Tiberii 266 Cyrill von Jerusalem 155 Daniel (bibl. Figur) 15, 17, 44-52, 75-76, 87, 126, 145, 176, 213, 299-301, 304, 305, 309-312, 315-318, 431-432 Dante Epistola a Cangrande della Scala 174 Darius, König von Persien 62, 286-288, 310 David (bibl. Figur) 126, 129, 135, 146-147, 172, 223, 246-247, 258-260, 262, 328-329, 432 Demokrit 286-287, 294-295 Diessenhofen 383 Dietrich V. (VII.), Graf von Kleve 333, 336-337 Register 465 Dietrich von Apolda 374 Dietrich von Niem Viridarium imperatorum et regum Romanorum 414-415 Directorium vitae humanae 109 Domitian (röm. Kaiser) 58-59 Donatus 304, 431 Duderstadt 393 Dürer, Albrecht 441 Eberhard II. von Falkenberg, Erzbischof von Köln 332, 336 Ebner (Nürnberger Familie) 425 Ebner, Albrecht 424 Ebner, Christine Offenbarungen 139 Ebner, Konrad 424 Meister Eckhart Deutsche Predigten 453-456 Eichstätt 429 Einblattdrucke Nürnberger Simon-Gedicht (München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 338) 395-397 Ulmer Simon-Gedicht (Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Inc 2605.5 Einbl) 397-398 Elias (bibl. Figur) 122, 155, 175 Elieser von Damaskus (bibl. Figur) 257 Elisabeth (bibl. Figur) 122, 144, 154, 158, 162, 212 Elisabeth von Pommern 428 Elisabeth von Thüringen, hl. 374, 376 Eltville 424 Endingen 383-384 Enikel, Jans ( Jans von Wien) Weltchronik 16, 193, 195, 201 Enoch (bibl. Figur) 122, 175 Ephraim (bibl. Figur) 317 Epikur 287, 295-296 Die Erlösung 16, 121-136, 140-142, 146-147 Esau (bibl. Figur) 261-262 Esther (bibl. Figur) 17, 299-301, 305, 308-309, 312-313, 315, 317, 319-320 Eucharius, hl. 226 Eudokia (röm. Kaiserin) 279 Eudoxia, Tochter des röm. Kaisers Theodosius II. 279 Euklid 431 Eumurodach (bibl. Figur) 318 Eusebius 289-291, 421 Eva (bibl. Figur) 129, 148-149, 258, 288 Evangelium Nicodemi 127, 140, 266-267 Ezechiel (bibl. Figur) 126, 178, 432 Fabulosa vita S. Stephani Protomartyris, BHL 7849 267 Falkenhagen, Lena Die Lichtermagd 433 Feld des Güldenen Tuches (Gedicht) 148 Felix von Werdenberg 442 Fierabras 344 Fifteen Articles of the Passion 148 Filbinger, Hans 405 Fleck, Konrad Flore und Blanscheflur 237-238 Flores temporum 287, 292 Foggia 406 Fontane, Theodor 376 Franck, Sebastian Geschichtbibell 52 Frankfurt a. M. 429 Frankfurter Dirigierrolle 125 Franz I., König von Frankreich 148 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich-Ungarn 380 Frauenlob 365 Frechulf von Lisieux 45 Friedrich I. (dt.-röm. Kaiser) 189, 213, 216, 403-415, 417-418 Friedrich II. (dt.-röm. Kaiser) 406-409, 411, 413-418, 423 Friedrich III. (dt.-röm. Kaiser) 292 Friedrich I., Herzog von Schwaben 406-407 Friedrich III. der Weise, Herzog von Sachsen 429 Friedrich von Büren 406 Friedrich von Hausen 412 Friedrich von Horn 442 Friedrich von Sonnenburg 365 Frieser, Claudia Oskar und das Geheimnis der verschwundenen Kinder 433 Fulda 384 Gabii 94 Gabriel (bibl. Figur) 154, 310 Gaius (röm. Kaiser) 59-60 Galba (röm. Kaiser) 55, 97 Gallienus (röm. Kaiser) 59 Gamaliel, hl. 271-272, 274 Gandersheimer Reimchronik 196, 198 Georg von Schaumburg 303 Gerhard, Graf von Loon 207 Gerhard, Herzog von Jülich und Berg 429 Gesta sancti Servatii 210 Gideon (bibl. Figur) 146, 253 Gigas, Hermann 291 dei Giudici, Giovanni Battista, Bischof von Ventimiglia 384-385, 392 Glossa ordinaria 176-179 Göppingen 406 Goslar 221 Gottfried von Bouillon 432 Gottfried von Neifen 368-369 Gottfried von Straßburg 206, 227, 233 Tristan 194, 199, 238, 323-324 Gottfried von Viterbo 408-409, 411, 417 Pantheon 261, 411 Speculum regum 408 Gozbert, Abt von Reichenau 238 Gregor X. (Papst) 384 Gregor von Tours 215, 245 Grimm, Jacob und Wilhelm 403-404, 418 Groß (Nürnberger Familie) 424-425 Groß, Konrad 423 Groß, Niclas 420 Guillaume de Gellone, Graf von Toulouse 343 Gundacker von Judenburg Christi Hort 268 Gundahar 367-368 Günther XXI. von Schwarzburg 424 Gutenberg, Johannes 299 Habakuk (bibl. Figur) 318 Hadlaub, Johannes 359, 361-362, 366 Hagar (bibl. Figur) 252, 257, 261 Hagen, Gottfried Boich van der stede Colne 18, 327, 332-336, 338-339 Hagenau 410 Haller (Nürnberger Familie) 424-425 Haller, Bartholomäus 421 Haller, Ruprecht 420-421 Handschriften Basel, Universitätsbibliothek, Cod. A X 137 124 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 282 253 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1278 265 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. quart. 266 124, 134 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Grimm 127,2 27-28 Büdingen, Fürstl. Ysenburg- und Büdingensches Archiv, Fragment o. S. (1) 124 Düsseldorf, Universitätsbibliothek, MS. D-9 140 Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 1500,12 309 Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A-3 268 Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A 584 226-227 Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 361 27-29 Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 368 226-227 Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848 409 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 189 168, 174, 176 Kassel, Universitätsbibliothek, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, 2 o Ms. poet. et roman. 35 124 Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgq 1412 124 Laubach, Graf zu Solms-Laubach’sche Bibliothek, Fragm. T 124 Leiden, Universiteitsbibliotheek, BPL 1215 206 London, British Library, MS Additional 37049 150 London, British Library, MS Royal 16 E VIII 346 Marburg, Stadtarchiv, Best. 147 Hr 1 Nr. 12/ 13 227 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 37 27-29 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 57 226-227 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 273 168, 173-174 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 514 168, 174 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8440 124 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 311 170, 172 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 2714 170 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 9558 170 466 Register Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22067 27, 29 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. II 86 289 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. V, App. 99 139 Nürnberg, Stadtbibliothek, Solg. Ms. 15.2 o 122, 124-135 Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 972 138-139 Oxford, Bodleian Library, MS Douce 367 289-292, 294-297 Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 141, 143, 147-152 Straßburg, Bibliothèque Nationale et Universitaire, Ms. 2119 288 Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, Q3/ 36b Bü 1218 414 Trier, Stadtbibliothek, Hs. 1935/ 1432 4 o 124 Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 3822 416 Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 8570 441 Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276 25-29, 31-39 Washington DC, National Gallery of Art, Rosenwald Collection, 1943.3.4408-4582 435, 441-444, 446, 448-449 Wien, Albertina, DG2012/ 129/ 162 441 Wien, Kunsthistorisches Museum/ Kunstkammer, Inv.-Nr. 5073 437-438, 443, 445, 447 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2685 26, 31-39 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2779 26, 31-39 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2831* 439-441, 449 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2835 437 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2846 168, 174 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2861 227 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3032 441 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13006 27, 29 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2 o 267 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.6.1 Aug. 2 o 309, 314 Hartmann von Aue 227, 265 Erec 250 Iwein 194, 268 Hawich der Kellner Sankt Stephans Leben 17, 265-282 Heidegger, Martin 456 Heidelberg 26, 67 Heinrich III. (röm-dt. Kaiser) 59, 221 Heinrich IV. (röm.-dt. Kaiser) 329, 406 Heinrich VI. (röm.-dt. Kaiser) 408-409, 416-417 Heinrich I., Graf von Lothringen 329 Heinrich III. der Löwe, Herzog von Sachsen 410, 413 Heinrich VIII., König von England 148 Heinrich von Morungen 362, 368 Heinrich von Mügeln 169, 367 Heinrich von München Weltchronik 266-268, 289 Heinrich von Neustadt Apollonius von Tyrland 237 Gottes Zukunft 140-141, 145 Heinrich von Ofterdingen 367 Heinrich von Schlettstadt 384 Heinrich von Veldeke Eneasroman 13, 17, 115, 205-227, 412 Lieder 208 Sente Servas 17, 205-227 Heliand 43, 156, 158-159 Helmold von Bosau Chronica Slavorum 190 Heraklit 286-287, 294-295 Heraklius (röm. Kaiser) 50, 58-59, 63-65 Herbort von Fritzlar Liet von Troye 226 Pilatus 227 Heriger von Lobbes 208 Hermann I., Landgraf von Thüringen 206, 373 Herodes (bibl. Figur) 124, 126-127, 155-156, 159-164, 277, 280, 386 Herodias 155, 159, 163 Herzog Ernst 213 Hessel, Stiftsküster in Maastricht 206 Heuss, Jörg 420 Hieronymus, hl. Commentarii in Danielem prophetam 47-48 Hildesheim Dom 238 Hildolf, Erzbischof von Köln 330 Register 467 Hilkerode 333 Hinderbach, Johannes, Bischof von Trient 380-381, 384-386, 390-393, 399 Hiob (bibl. Figur) 129 Hippocrates 295 Historia Welforum 410 Historien der alden e 302 Historienbibel 309-312, 314, 317-319 Hoffmann, E. T. A. 376-377 Der Kämpf der Sänger 377 Meister Martin der Küfner und seine Gesellen 377 Hohenstaufen, Burg 405-407 Holofernes (bibl. Figur) 306-307, 311, 313-314, 319 Homer Ilias 241 Honorius (röm. Kaiser) 272 Horaz 287 Hornburg, Lupold 365 Hosea (bibl. Figur) 126, 432 Hugo von St. Viktor De tribus maximis circumstantiis gestorum 449 Didascalicon 187, 201-202 Husserl, Edmund 456 Hysmine und Hysminias 236 Ibn al-Moqafa 113 Imhoff (Nürnberger Familie) 421 Inkunabeldrucke Ackermann aus Böhmen (Bamberg: Albrecht Pfister, c.1463; GW 194, ISTC ia00039000) 303-304, 315-316 Ackermann aus Böhmen (Bamberg: unbekannter Drucker mit Typen des Albrecht Pfister, c.1470; GW 193, ISTC ia00039040) 304 Biblia pauperum, deutsch (Bamberg: Albrecht Pfister, 1461/ 1462; GW 4325, ISTC ib00652700) 303, 308, 315-316 Biblia pauperum, deutsch (Bamberg: Albrecht Pfister, c.1463; GW 4327, ISTC ib00652800) 303, 308 Biblia pauperum, lateinisch (Bamberg: Albrecht Pfister, 1461/ 1463; GW 4326, ISTC ib00652750) 303, 308 Boner, Der Edelstein (Bamberg: Albrecht Pfister, 1461; GW 4839, ISTC ib00974500) 303, 308-309 Boner, Der Edelstein (Bamberg: Albrecht Pfister, c.1463/ 1464; GW 4840, ISTC ib00974550) 304, 308-309 Chronik (Köln: Johannes Koelhoff d. J., 1499; GW 06688, ISTC ic00476000) 337 Hystorie von 1475 (Trient: Albrecht Kunne, 1475; GW M42239, ISTC is00528800) 393-396 Jacobus de Theramo, Belial (Bamberg: Albrecht Pfister, c.1464; GW M11085, ISTC ij00073800) 304, 309 Küng, Matthias, Lied von Simon von Trient (Santorso: Johannes Renensis, 1475; GW M16478, ISTC ik00040900) 390-392 Plenarium (Lübeck: Mohnkopf, 1492; GW M34208, ISTC ie00088600) 302 Tiberinus, Johannes Matthias, De Simone pueri Tridentino, deutsch (Augsburg: Günther Zainer, 1476; GW M47722, ISTC it00489000) 390 Tiberinus, Johannes Matthias, De Simone pueri Tridentino, deutsch (Ulm: Friedrich Creussner, 1476; GW M47725, ISTC it00489100) 390 Tiberinus, Johannes Matthias, De Simone pueri Tridentino, lateinisch (Brescia Sant’Orso [Vicenza]: Hans vom Rin, 1475; GW M47703, ISTC it 00484000) 381-382, 386-390 Tiberinus, Johannes Matthias, Epitaphium gloriosi pueri Symonis Tridentini noui martiris (Trient: Albrecht Kunne, c.1476; GW M4223910, ISTC it00479500) 397 Tiberinus, Johannes Matthias, Historia completa de passione et obitu pueri Simonis (Trient: Albrecht Kunne, 1476; GW M47718, ISTC it00481000) 390, 393, 397 Vier Historien (Bamberg: Albrecht Pfister, 1462; GW 12591, ISTC ih00286500) 299-320 Innozenz III. (Papst) 415 Innozenz IV. (Papst) 384, 415 Innsbruck 435 Innsbrucker Osterspiel 142 Irad (bibl. Figur) 262 Isaak (bibl. Figur) 129, 253-254, 257, 262, 419 Isidor von Sevilla 175, 286-287 De summo bono 174, 180 Etymologiae 167, 287, 290-291, 295 Ismael (bibl. Figur) 252, 257, 261 Israel, Jude in Trient 391 Jacobus de Sporo 380, 384 Jacobus de Voragine Legenda aurea 157-158, 160-161, 271-274, 279, 282 468 Register Jahn, Ludwig 403 Jakob (bibl. Figur) 129, 258-259, 261-262, 309-310, 312, 314-315, 317-318, 320 Jakobus, hl. 138 Jean de Mandeville Reisen 148, 226 Jeremias (bibl. Figur) 126, 432 Jericho 64, 347 Jerusalem 43, 49-50, 59, 64, 127, 132, 138-140, 142, 208, 215, 219-221, 223, 233, 271, 276-277, 280, 290, 310, 346, 350, 354, 416-418, 420, 429-430, 432 Gethsemane am Ölberg 175, 236-237 Golgatha, Kirche vom hl. Grab 138 Kalvarienberg 148-149 Jesaja (bibl. Figur) 126, 129, 145-146, 432 Jesse (bibl. Figur) 146, 223 Joab (bibl. Figur) 260 Joachim (bibl. Figur) 309 Joachim von Fiore 416-417 Jocundus Actus sancti Servatii 210 Johann, Herzog in Bayern 429 Johannes der Evangelist, hl. 140, 144, 176-179, 272-273 Johannes der Täufer, hl. 16, 127, 129, 140, 143, 153-166, 212 Johannes XXII. (Papst) 182-183 Johannes Damascenus 175 Johannes de Belna 182 Johannes von Paderborn 124 Johannes von Salisbury Historia pontificalis 63 Johannes von Tepl Der Ackermann aus Böhmen 315 Jonas (bibl. Figur) 126 Jonathan (bibl. Figur) 259-260, 262 Jorg von Elrbach 227 Joseph (bibl. Figur, AT) 258-260, 299-301, 305, 308-315, 317-318, 320 Joseph (bibl. Figur, NT) 17, 162 Joseph von Arimathäa (bibl. Figur) 150-151 Josephus, Flavius Antiquitates Iudaicae 159-160 Josua (bibl. Figur) 254, 290, 432 Juda (bibl. Figur) 310 Judas (bibl. Figur) 273 Judas Makkabäus 148, 290, 432 Judith (bibl. Figur) 17, 299-302, 305-306, 308-309, 311-315, 317, 319 Judith-Deutschordensfassung 312-313 Julianus (röm. Kaiser) 59 Julius Caesar (röm. Kaiser) 15, 24, 43-49, 52, 54-58, 60, 69-79, 85, 87, 210, 285, 408, 432 Jüngerer Titurel 114-115, 238 Justinian (röm. Kaiser) 59, 408 Kain (bibl. Figur) 148 Kaiphas (bibl. Figur) 267-269, 273-274, 276-277, 280 Kaiserchronik 12, 14-16, 18-19, 23-39, 41-52, 53-65, 67-88, 89-99, 104-106, 107-117, 192, 195-198, 208, 212-213, 216, 219, 226, 244, 246, 248, 250-251, 281, 292, 299, 403, 412, 454, 456 bairische Fortsetzung 24, 30, 407 schwäbische Fortsetzung 24, 30 lateinische Übersetzung 24 Prosabearbeitungen 25 Kalila wa Dimna 109-110, 113-114, 117 Kammermeister, Sebastian 426 Kana 141 Karl der Große (röm.-frk. Kaiser) 24, 43, 45, 47, 56-59, 212, 221, 239, 341-357, 408-409, 411, 428, 430-432 Karl II. der Kahle (röm.-frk. Kaiser) 58-59 Karl IV. (röm.-dt. Kaiser) 18-19, 419-434 Goldene Bulle 420, 425, 430, 432, 434 Karl Martell 221 Karl von Anjou 414-415 Karl der Kühne, Herzog von Burgund 441, 447-448 Karlstein, Burg 425, 428 Karthago 214, 217-221, 223 Katharina, hl. 138, 428 Kingston-upon-Hull Kartause 147 Kleve 207 Klopstock, Friedrich Gottlieb 121 Kluge, Alexander Deutschland im Herbst 405 Die Menschen, die das Staufer-Jahr vorbereiten 405 Nachrichten von den Staufern 405 Koelhoffsche Chronik 337 Kollam 138 Köln 138, 220, 223, 323, 327-339, 387, 413 St. Pantaleon 411 Ulrepforte 334 Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten 456 König Rother 213, 411 König, Herbert 406 Register 469 Pfaffe Konrad Rolandslied 25, 254, 342, 344-345, 411 Konrad II. (röm.-dt. Kaiser) 410 Konrad III. (röm.-dt. Kaiser) 24, 54, 407 Konrad IV. (röm.-dt. Kaiser) 245, 247, 251, 261, 412 Konrad von Fußesbrunnen Kindheit Jesu 128 Konrad von Heideck 424 Konrad von Heimesfurt Diu urstende 266, 274, 276 Konrad von Würzburg 457 Der Welt Lohn 365 Partonopier und Meliur 194, 235 Silvester 281-282 Trojanerkrieg 13, 15, 17, 89-92, 99-106, 229-242 Konradin 414-415 Konstantinopel 236, 275, 278-280, 346-347, 350-351, 356, 379 Konzilsdekrete Lateran V. 172 Koran 338 Krems 171 Kress, Wilhelm 421 Küng, Matthias 390-393 Kunne, Albrecht 393 Kuno von Siegburg 72 Kyffhäuser 403-405, 418 Kyros (pers. König) 289 Pfaffe Lambrecht Tobias 227 Lampert von Hersfeld Annales 330 Lauda 384 Lauf an der Pegnitz 433 Laurentius, hl. 279, 281 Lazarus, hl. 346 Lazarus, jüdischer Sklave in Trient 391 Leo III. (Papst) 428 Libistros und Rhodamne 236 Ligurinus 409, 411 Lienz 383 Limburg 335 Lindenast, Sebastian, d. Ä. 420 Liutprand von Cremona 236 Livius 30, 83-84, 94-95, 97-98 Ab urbe condita 84, 93 London 441 Longinus (bibl. Figur) 275, 280 Lorch, Benediktinerkloster 412 Lot (bibl. Figur) 252, 256 Lothar I. (röm.-frk. Kaiser) 58-59 Lübeck 190, 302-303 Ludus de Antichristo 417 Ludwig I. der Fromme (röm.-frk. Kaiser) 58 Ludwig II. (röm.-frk. Kaiser) 58-59 Ludwig IV. das Kind (röm.-frk. Kaiser) 58-59 Ludwig IV. der Bayer (röm.-dt. Kaiser) 182, 423-424 Ludwig VII., König von Frankreich 345 Ludwig, Graf von Öttingen 429 Lukas, hl. 154-155, 162 Luther, Martin 170, 215, 403, 415 Lutz, Johann Jeremias 316 Maastricht 211-213, 215, 218, 221 Machaerus 159 Mai und Beaflor 226 Mainz 79, 207, 213, 304, 411-412 Maius, Junianus 421 Manasses (bibl. Figur) 311, 317 Manchester 316 Mann, Thomas 309, 376 Mantua 387 Marburg 26 Mardocheus (bibl. Figur) 312, 319-320 Margarete, Gräfin von Kleve 207, 226 Margarete von Savoyen 308 Maria (bibl. Figur) 122, 124, 127-128, 130-131, 140, 144-146, 154-155, 158, 162-164, 205, 212, 214, 347, 387, 425-426 Maria Magdalena, hl. 140, 143, 150, 157, 161, 164-165 Maria von Burgund 440-441 Marlianus, Raymundus 421 Der Marner 367 Martin V. (Papst) 384 Martin von Braga (Martinus Dumiensis) Formula honestae vitae 125 Martin von Troppau 287, 291-292, 421 Maßmann, Hans Ferdinand 403-404, 415, 418 Maternus, hl. 220, 226 Matthias von Neuenburg Chronica 421 Maugérard, Jean-Baptiste 316 Mauritius, hl. 428 Maximilian I. (röm.-dt. Kaiser) 435-443, 447-451 470 Register Freydal 19, 435-451 Gedenkbüchern 435, 437 Theuerdank 435-437, 440, 448, 450 Weisskunig 435, 437, 440-441 Meisterlin, Sigmund 293 Augsburger Chronik 422 Nürnberger Chronik 18, 419-427, 433-434 Memmingen 393 Mennel, Jakob Fürstliche Chronik 435 Micha (bibl. Figur) 126 Michael, hl. 138, 157 Mohar, Jude in Trient 391 Molinet, Jean 448 Mont St. Michel 138 Montpellier 170 Moringerballade 362-363, 368-369, 371 Moses (bibl. Figur) 126, 129, 246-247, 253-254, 258, 260, 285, 310, 432 Moses, Jude in Trient 387, 391 Muffel (Nürnberger Familie) 424 von der Mühlenpforte, gen. Weisen (Kölner Familie) 332, 335 München 403 Nabuchodonosor (bibl. Figur) 44, 126, 308, 310-311, 313-315, 318-319 Napoleon I. 403, 430 Nazareth 163 Neapel 414 Neidhart 359, 361-362, 365-366 Neidhart Fuchs 366 Nero (röm. Kaiser) 30, 55, 59, 80, 97 Nero Claudius Drusus 427 Nerva (röm. Kaiser) 59 Neubauer, Wolf 427 Nibelungenlied 209, 363, 367-368, 372-374, 376 Niddeggen, Burg 332 Nikodemus, hl. 271-272, 274-275 Nikomachos 431 Nikolaus V. (Papst) 384 Nivelles 224 Noah (bibl. Figur) 78, 129, 148, 246-247, 249, 252 Nördlingen 429 Notker 49 Nürnberg 18-19, 283, 285, 387, 419-434, 456 Dominikanerinnenkloster St. Katharina 425 Franziskanerkloster 425 Frauenkirche 420, 426, 429-431, 433 Germanisches Nationalmuseum 434 Heilig-Geist-Spital 425 Kaiserburg 433 Klarissenkloster 425 ‚Männleinlaufen‘ 420, 430-431, 433-434 Rathaus 423, 433 St. Lorenz 433 St. Sebaldus 421, 433 ‚Schöner Brunnen‘ 420, 431-434 Synagoge 420, 426 Nürnberger Gerichtsbuch 429 Oberdeutsche Servatius 211-212 Ölhafen, Sixt 421 Orleans 170 Orosius, Paulus 291 Historiarum adversus Paganos 291 Österreichische Chronik der 95 Herrschaften 189-191 Österreichischer Bibelübersetzer Vom Antichrist 16, 168-183 Alttestamentarisches Werk 169 Vorreden zur Verteidigung der deutschen Bibel 170-171 Oswald von Wolkenstein 361 Otfrid von Weißenburg 261 Evangelienbuch 156, 164 Otte Eraclius 226 Otto I. (röm.-dt. Kaiser) 59, 364-365, 367, 372-373, 430 Otto II. (röm.-dt. Kaiser) 59 Otto III. (röm.-dt. Kaiser) 59 Otto von Diemeringen 226 Otto von Freising 45, 187, 410 Gesta Friderici imperatoris 407, 410-411 Historia de duabus civitatibus 168, 189-190, 216-217, 411 Ottokar von der Geul Österreichische Reimchronik 16, 188, 191, 194-195 Overstolz (Kölner Familie) 332-333, 335-336, 338 Ovid 30, 33, 55, 83-84, 97 Fasti 93-95 Paderborn 428 Padua 170 Palermo 413 Panschatantra 109-113, 117 Paradies bei Soest, Dominikanerinnenkloster 140 Paris 170-171, 371, 372 Register 471 Passau 275, 383 Stift St. Stephan 265 Passauer Anonymus 170-72, 175-180, 182 Passional 16, 156-161, 165 Paul III. (Papst) 384 Paul, Jean 377 Paulus, hl. 176, 181, 242, 270-272, 274, 453 Pertinax (röm. Kaiser) 59 Petrus, hl. 113, 138, 182, 214, 219, 226, 344, 347 Pfinzing, Konrad 424 Pfinzing, Melchior 435, 438 Pfister, Albrecht 17, 299-317 Pfullendorf 383-384 Bruder Philipp Marienleben 140 Philipp von Schwaben 413, 415-417 Philippus (röm. Kaiser) 59 Piccolomini, Enea Silvio (s. auch Pius II. (Papst)) Historia Bohemica 421 Piso (röm. Kaiser) 97 Pius II. (Papst; s. auch Piccolomini, Enea Silvio) 292 Platon Politeia 236 Timaios 236 Platterberger, Johannes und Dietrich Truchseß Excerpta chronicarum 17, 283-297 Pleydenwurff, Wilhelm 427 Polheimer Forst 333 Pompeius 73-74 Pontius Pilatus (bibl. Figur) 142, 265-269, 275, 277, 280, 282 Pösing 383 Potiphar (bibl. Figur) 308, 312, 317 Prag 431 Dom 431 Parler-Bauhütte 431 Prosalancelot 281 Ptolemaios 431 Puschman, Adam Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs 365, 367, 371-372 Pythagoras 287, 295, 431 Quedlinburg 214 Rainald von Dassel 217, 409 Raphael, hl. 164, 312 von Raumer, Friedrich 404 Ravensburg 383-384 Ravenna San Vitale 430 Rebekka (bibl. Figur) 257 Regensburg 23, 72, 107, 383, 422 Reginbert, Bibliothekar im Kloster Reichenau 238 Regino von Prüm 45 Reichenau 238-239 Reinmar von Brennenberg 362, 368-369 Reinmar von Zweter 365 Rhetorica ad Herennium 173, 180 Roland von Cenomanien 343 Rolevinck, Werner Fasciculus temporum 147 Rom 28, 32-34, 43-45, 47-50, 71-87, 97, 108, 111, 138, 208, 212-213, 215, 217-222, 225- 226, 231, 240, 272, 278-281, 288, 290, 292, 296, 341, 385, 387, 407-408, 420, 424, 427-428, 430 Roman d’Enéas 210-212 Rosengarten C 238 Rotenburg 383 Rothe, Johannes Thüringische Chronik 418 Rovereto 385 Rückert, Friedrich Barbarossa 404, 418 Rudolf von Ems 206, 227 Weltchronik 17, 188, 190, 199-201, 243-264, 412 Willehalm von Orlens 194 Rylands, Enriqueta 316 Rytliz, Johannes 380 Sachsenspiegel 403 Sächsische Weltchronik 25, 198-199, 202, 412-413 Der Saelden hort 16, 140-145, 156, 161-165 Saint-Denis 196, 348, 411 Salerno 170 Salimbene degli Adami Chronica 416, 418 Salis de Brescia, Johannes 380 Salomon (bibl. Figur) 129, 132, 171-172, 196, 261 Samuel (bibl. Figur) 254 Samuel, Jude in Trient 380-381, 385-387, 390-391, 395 Santiago de Compostela 138 Sappenfeld 383 Sara (bibl. Figur) 252-255, 257, 261, 419 Saulus (bibl. Figur, AT) 259-260 Saulus (bibl. Figur, NT) 270-271, 274, 281 472 Register Schedel, Hartmann 421 Liber chronicarum 18, 292, 399-400, 419-420, 426-429, 433-434 Scheffein, Götz 424 Schönwald, Ina Kaiser Karl IV. in Nürnberg 433-434 Was machte Karl IV. in Lauf? 433 Schopper (Nürnberger Familie) 424 Schreyer (Nürnberger Familie) 421 Schreyer, Sebald 421, 426-427 Schürstab, Konrad 424 Schwabenspiegel 25 Schwäbisch Gmünd 406 Schweizer, Johannes 386-387 Schweizer, Zanesius 385, 392 Sem (bibl. Figur) 253 Seneca 125, 189 Sentlinger, Heinz 266-267 Septimius Severus (röm. Kaiser) 15, 59, 70, 107-108, 111-112, 117 Servas/ Servatius, hl. 210-225 Seuse, Heinrich Hundert Betrachtungen 148 Siegburg, Benediktinerkloster 328 Sigenot 308 Sigewin, Erzbischof von Köln 330 Sigismund (röm.-dt. Kaiser) 428-429 Sigismund, Herzog von Tirol 380, 384, 392 Silvester, hl. 43, 281 Simeon (bibl. Figur, AT) 258-259 Simeon (bibl. Figur, NT) 126-129 Simon, hl. 346 Simon von Trient 379-400 Sixtus IV. (Papst) 384-385 Sixtus V. (Papst) 386 Sokrates 296, 431 Spangenberg, Cyriakus Von der Musica und den Meistersängern 376 Spencer, George John, Earl 316 Speyer 412-413 St. Gallen 238-239 St. Galler Weltchronik 288 St. Pölten 171 Stefan von Sulen 336 vom Stein, Heinrich Friedrich Karl, Freiherr 403 Steiner, Matthias Jakob Adam 316 Stephan, hl. 17, 265-282, 346 Steyr 171 Der Stricker Daniel von dem blühenden Tal 115-117 Karl der Große 25, 342 Stromer (Nürnberger Familie) 421, 424 Stromer, Friedrich 424 Stromer, Konrad 424 Stromer, Ulman 425-426 Stromer, Ulrich 424 Stuler, Jörg Historienbuch 301-302 Stuttgart 18, 405, 410, 418 Sueton De vita Caesarum 54 Suger von Saint-Denis 196 Susanna (bibl. Figur) 310 Talmud 388 Tamar (bibl. Figur) 310, 312 Der Tannhäuser 359, 362-363, 368-369, 371, 373, 376-377 Tannhäuserballade 362-363, 368, 371, 374, 376 Tarquinius Superbus (röm. König) 30, 79-80, 296 Tatian 121 Tauler, Johannes Predigten 140 Tertullian 294 Tetzel, Joachim 421 Theoderich der Große 42 Theodosius I. (röm. Kaiser) 59, 272, 408 Theodosius II. (röm. Kaiser) 272, 278-279 Thermutis (bibl. Figur) 260 Thomas, hl. 138 Thomas von Aquin 454 Thomas von England Tristan 194, 237 Tiberinus, Johannes Matthias 381-382, 386-395, 397 Tiberius (röm. Kaiser) 57, 59, 268, 275, 277-278 Tiberius Claudius Nero 422, 427 Tieck, Ludwig 376 Titus (röm. Kaiser) 49-50, 57-59, 63 Tobias (bibl. Figur) 224, 312 Tobias, judischer Arzt in Trient 380-381, 387-388, 391-392 Tongern 211, 215, 218-221, 226 Tortellius, Johannes 421 Tractatus de purgatorio S. Patricii 224 Trajan (röm. Kaiser) 59, 63 Translatio Romam, BHL 7878 278-279 Treitzsaurwein, Marx 437-438, 441-442, 448 Trient 18, 379-400, 456 St. Peter 380, 389 Register 473 Trier 29-30, 32-33, 35-37, 39, 44, 69, 73, 75, 79-84, 86-87, 97, 448 Trierer Silvester 188, 195-196, 198 Truchseß, Dietrich: s. Platterberger, Johannes Trummer, Martin 436 Tyrnau 383 Ulm 426 Ulrich von Liechtenstein 359, 361, 366 Frauendienst 202 Unverdorben (Trienter Familie) 380 Unverdorben, Andreas, von Trient 380 Unverdorben, Maria, von Trient 380 Urban IV. (Papst) 368 Ursula, hl. 336 Valentinian I. (röm. Kaiser) 408 Valerius, hl. 226 Valerius Maximus 287, 294 Factorum et dictorum memorabilium libri IX 295-296 Venedig 385, 387, 415 Vergil 126, 130, 211-212, 387 Aeneis 210, 213, 387-389 Eclogae 141 Veronika, hl. 43, 59, 266-268, 274-275, 277, 280 Vespasian (röm. Kaiser) 49-50, 55, 58-59 Victorinus, Lucius Marius 421 Vindicta salvatoris 59 Vinzenz von Beauvais 287, 289-292 Speculum doctrinale 287, 294 Speculum historiale 285, 288 Visio Pauli 224 Visio Tnugdali 224 Vita Adae et Evae 288 Vita beatae virginis Mariae et Salvatoris rhythmica 128 Vita sancti Servatii 210-211 Vitalis, Jude in Trient 391 Vitellius (röm. Kaiser) 59 Viterbo 27, 31-33, 36-37, 39, 80-81, 83-84, 87 Volkamer (Nürnberger Familie) 421 Vorchtel (Nürnberger Familie) 424 Vom Streit der vier Töchter Gottes 132 Le Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Constantinople 18, 341, 345-357 Wagenseil, Johann Christoph De civitate Noribergensi commentatio 377 Wagner, Richard 376-377 Die Meistersinger von Nürnberg 377 Tannhäuser 377 Waiblingen 407 Walburga, hl. 301 Waldecker Alexander 227 Waldkirch 383 Waldströmer (Nürnberger Familie) 425 Walther von der Vogelweide 362, 365, 367, 416-417 Wartburg 359, 369, 377, 403 Wartburgkrieg 364, 366-367, 369, 371, 374-376 Wäscherschloss im Beutetal 406 Weihenstephaner Chronik 227 Weingarten 410 Wenzel (röm.-dt. Kaiser) 421, 423, 429 Priester Wernher Marienleben (Driu liet von der maget) 140, 146 Wernher der Schweizer Marienleben 128 Wien 171, 265, 282, 414, 430 Wilhelm IV., Graf von Jülich 332 Wilhelm von Kirrweiler 226 Wilhelm von Moerbeke 295 Wipo Gesta Chuonradi II. imperatoris 411 Wirnt von Grafenberg Wigalois 365 Wolf von Fürstenberg 442 Wolfger von Erla, Bischof von Passau 373 Wolfhagen 384 Wölflein, Meinwart 424 Wolfram von Eschenbach 114-115, 169, 206, 227, 365, 367 Parzival 194, 255 Willehalm 246, 342, 344 Wolfgang von Polheim 438, 442 Wolgemut, Michael 427 Würzburg 316 Karmelitenkloster St. Barbara 315-316 Xanten 212, 225 Xerxes, König von Persien 62 Zacharias (bibl. Figur) 122, 125, 127, 129, 144, 154, 158, 162 Zainer, Johann 397 Zeno (röm. Kaiser) 60 Zollern (Adelsfamilie) 423 Zülpich 332 Zwickau 365 474 Register