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Analytisch orientierte Literaturwissenschaft

2019
978-3-7720-5697-0
A. Francke Verlag 
Rolf Breuer

Der Band versammelt Essays und Aufsätze in deutscher und in englischer Sprache, darunter drei bisher unveröffentlichte Beiträge. Der Obertitel zeigt den gemeinsamen methodischen Nenner der Arbeiten an: sprachliche Klarheit, begriffliche Klärungen, rationale Argumentation, Verzicht auf Wortspiele und Hypostasierung von Metaphern, der Versuch, die innere Logik der sprachlichen Kunstwerke herauszuarbeiten. Mit diesen Mitteln einer "analytisch orientierten Literaturwissenschaft" widmet sich der Autor kulturpolitischen und kulturhistorischen Themen sowie Studien zu Formen von Meta-Literatur, bezogen vor allem auf Jane Austen und Lord Byron. Schließlich legt der Beckett-Experte Breuer fünf neuere Arbeiten über den irischen Nobelpreisträger vor: vergleichende Studien zu anderen Autoren (Flann O'Brien, Peter Ustinov, Peter Handke), die Einordnung Becketts in die Literaturgeschichte (Modernismus oder Postmoderne), die Gestaltung von absence présente in ausgewählten Werken sowie einen biographischen Essay über Begegnungen mit berühmten Beckett-Forschern.

25,2 ISBN 978-3-7720-8697-7 Der Band versammelt Essays und Aufsätze in deutscher und in englischer Sprache, darunter drei bisher unveröffentlichte Beiträge. Der Obertitel zeigt den gemeinsamen methodischen Nenner der Arbeiten an: sprachliche Klarheit, begriffliche Klärungen, rationale Argumentation, Verzicht auf Wortspiele und Hypostasierung von Metaphern, der Versuch, die innere Logik der sprachlichen Kunstwerke herauszuarbeiten. Mit diesen Mitteln einer „analytisch orientierten Literaturwissenschaft“ widmet sich der Autor kulturpolitischen und kulturhistorischen Themen sowie Studien zu Formen von Meta-Literatur, bezogen vor allem auf Jane Austen und Lord Byron. Schließlich legt der Beckett-Experte Breuer fünf neuere Arbeiten über den irischen Nobelpreisträger vor: vergleichende Studien zu anderen Autoren (Flann O’Brien, Peter Ustinov, Peter Handke), die Einordnung Becketts in die Literaturgeschichte (Modernismus oder Postmoderne), die Gestaltung von absence présente in ausgewählten Werken sowie einen biographischen Essay über Begegnungen mit berühmten Beckett-Forschern. Rolf Breuer Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Rolf Breuer Essays und Aufsätze 38697_Umschlag3.indd Alle Seiten 14.10.2019 10: 42: 16 Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Rolf Breuer Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Essays und Aufsätze Die Drucklegung wurde freundlicherweise unterstützt durch das Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Paderborn. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8697-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5697-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0210-6 (ePub) Umschlagabbildung: Baum und Spiegelbild. Aquarell von Stephan Rothe (Augsburg). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 I 9 11 25 31 II 45 47 67 79 III 91 93 109 IV 123 125 137 149 155 165 177 179 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lob der Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . From Theories of Deviation to Theories of Fictionality . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen . . . . . . . . . . . . . . Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans . . . . . . . . . Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivismus bei Jonathan Swift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradox in Oscar Wilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samuel Beckett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flann O’Brien and Samuel Beckett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samuel Beckett’s Krapp’s Last Tape, Peter Ustinov’s Photo Finish and Peter Handke’s Bis daß der Tag euch scheidet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nothingness and absence présente in Beckett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? Lucky Days: Begegnungen, die ich Beckett verdanke . . . . . . . . . . . . . Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographische Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hier gedenke ich meines verehrten akademischen Lehrers Günther Patzig (1926-2018), der mich stärker beeinflusst hat als bei einem Philosophie-Studenten im Nebenfach zu erwarten ist. 2 Hier und im folgenden sind stets beide Geschlechter gemeint. Vorwort Der vorliegende Band versammelt dreizehn Aufsätze und Essays der letzten Jahre, einige unveröffentlicht, andere verstreut und zum Teil an entlegenen Orten publiziert. Alle betreffen vier Themenbereiche: (1) Kulturpolitik, Kultur‐ geschichte und Literaturtheorie, (2) verschiedene Formen von Folgeromanen und literarischen Adaptionen, (3) irische Literatur (in englischer Sprache) und speziell (4) Samuel Beckett. Wenn es in den Artikeln zu Beckett Wiederholungen gibt, so ist zu bedenken, dass sie als eigenständige Aufsätze konzipiert sind, nicht als Buchkapitel. Die ursprünglichen Publikationsorte der bereits veröffent‐ lichten Essays sind am Ende des Bandes verzeichnet. Den Inhabern der Rechte danke ich für die Erlaubnis zum Wiederabdruck. Der Obertitel der Sammlung verweist auf den gemeinsamen philosophischen und methodischen Nenner der Aufsätze und meiner Arbeit als Literaturwissen‐ schaftler allgemein. Das analytisch soll anzeigen, dass es mir - in der Tradition der Analytischen Philosophie - auf begriffliche Klärung ankommt, auf Klarheit des Ausdrucks, rationale Argumentation, Akzeptanz des Fallibilismus, auf den Verzicht auf Wortspiele und auf den Verzicht, Metaphern zu hypostasieren, auf die Differenzierung von Objekt- und Beschreibungssprache. Ein wichtiges Ziel ist mir dabei die Herausarbeitung der inneren Logik der diskutierten Werke. 1 Orientiert heißt es, weil ich keineswegs alle Theorien und Interessen der Ana‐ lytischen Philosophie teile - oder verstehe. (Zum Beispiel neige ich einem le‐ bensweltlichen erkenntnistheoretischen Realismus zu.) Auch die Überschrift Theorie und Praxis hätte gepasst, mit der Betonung auf dem und, da in den Auf‐ sätzen stets eine Verbindung von Literaturtheorie und interpretatorischer Praxis angestrebt wird. Letztlich schien die Formel aber zu abgegriffen. Viele der Arbeiten sind − direkt oder indirekt − aus meinen Paderborner Oberseminaren hervorgegangen. Ich danke den Teilnehmern 2 von über 25 Jahren für die anregenden Diskussionen und ihre Freundschaft und Verbun‐ denheit. Das Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Paderborn hat mir einen Druckkostenzuschuss gewährt, eine Geste, die ich sehr zu schätzen weiß. Die Grundlage des Umschlagbildes ist ein Aquarell von Stephan Rothe (Augs‐ burg): Baum und Spiegelbild. Für ihre große Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage danke ich Serap Cɪǧ. Bei der Herstellung des Bandes waren dreizehn Texte sehr verschiedener Herkunft zusammenzufügen. Mit großer Aufmerksamkeit und liebenswürdiger Langmut hat mich meine Lektorin, Dr. Valeska Lembke, auf zahlreiche Unge‐ reimtheiten und Versehen hingewiesen. Ihr schulde ich besonderen Dank. Paderborn, im Juli 2019 8 Vorwort I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte Lob der Distanz Ein kulturpolitischer Essay Anders als in den Naturwissenschaften müssen die Forscher und Interpreten in den Geisteswissenschaften ihrem Gegenstand mit Einfühlung und mensch‐ lichem Interesse begegnen, sonst können sie nicht verstehen, was sie erforschen und deuten wollen. Ebenso wichtig jedoch ist eine gewisse Distanz zwischen Forscher und Gegenstand, sonst können die Forscher nicht kritisieren, was sie vorfinden und zu verstehen suchen, und ohne Distanz zum Gegenstand dürfte es ihnen auch schwerfallen, sich selbst, ihre Vorannahmen, ihre Methode, ihr Erkenntnisinteresse zu reflektieren. Nur wenn diese Bedingungen gegeben sind, kann man von Wissenschaftlern sprechen, in Unterscheidung von Künstlern, Interessenvertretern, Politikern oder Gläubigen. Nun hat sich aber in den letzten Jahrzehnten in den Geisteswissenschaften - und vor allem in ihren Leitdisziplinen - eine Entwicklung angebahnt, die dieses aufklärerisch-romantische Gleichgewicht von kritischer Energie und Empathie deutlich zu stören beginnt. Einflussreiche Theoretiker vertreten einen erkennt‐ nistheoretischen Subjektivismus und nehmen an, dass jeder Wissenschaftler die zu erkennende Wirklichkeit nach seinem Bild konstruiert. Wenn das so ist, dann gibt es zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis natürlich keine Distanz. Die Sprache der Beschreibung und Interpretation der „Tatsachen“ erlangt in dieser Sicht der Dinge eine überragende Bedeutung, weil die Wirklichkeit, die die For‐ scher in früheren, naiveren Zeiten zu beobachten und deuten glaubten, tatsäch‐ lich nur ein sprachliches Konstrukt ist, ähnlich den Fiktionen der Dichter. Vielleicht klingt das dramatischer als sich die tägliche Wissenschaftspraxis realiter darstellt. Die meisten Literaturwissenschaftler, Historiker oder Sozio‐ logen interviewen weiterhin Gesprächspartner, durchsuchen Archive nach Quellen, entziffern alte Handschriften, versuchen, Fälschungen aufzudecken, verlässliche Editionen zu machen, das Werk eines Autors zu verstehen usw. In der Theorie jedoch dominiert der Subjektivismus die Debatten zu einem erheb‐ lichen Ausmaß, vor allem in den USA, aber ebenfalls in Großbritannien und zunehmend auch in Deutschland. Da mag es angebracht sein, wieder einmal eine Lanze für die alte Tugend der Distanz zu brechen. Advokaten der These, dass Subjekt und Objekt in den Geisteswissenschaften zusammenfallen, finden sich im Moment allerorten, vor allem in den Fächern, die durch die schiere Größe ihrer Repräsentanz an den Universitäten den Ton an‐ geben: Psychologie, Soziologie, Geschichte, Literaturwissenschaft. So verschieden die Dinge im einzelnen auch liegen, viele Vertreter dieser Fächer stimmen in der Annahme überein, die jeweilige Realität - sei es die psychologische, die gesell‐ schaftliche, die historische oder die literarische - werde von den Forschern bei ihren Untersuchungen erzeugt und existiere unabhängig von ihnen nicht. In der Geschichtswissenschaft beispielsweise lautet die These: Der Historiker wählt aus der überwältigenden Fülle der Daten aus, er gliedert, er tönt die Fakten durch narrative Strukturen, er gibt den Tatsachen Sinn, er schafft „seinen“ Nero, „sein“ Heiliges Römisches Reich, „seine“ Entdeckung Amerikas, nicht viel anders oder sogar genau wie Stendhal seinen Julien Sorel, Karl May seinen Wilden Westen, Shakespeare seine Entstehungsgeschichte einer Eifersucht erschafften: Das inter‐ pretierende Subjekt schafft das Objekt nach seinem Bilde. Ein noch größeres Ein‐ fallstor für den erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Nihilismus sind die Literaturwissenschaft und ihr nahestehende Disziplinen wie Women’s Studies, Black Studies oder Gay and Lesbian Studies. Nur Frauen können Frauen ver‐ stehen, nur Homosexuelle Homosexuelle. Nur das Objekt der Erkenntnis kann sein Subjekt sein. Immer wieder läuft die Theorie auf die Identifizierung von Sub‐ jekt und Objekt im Erkenntnisprozess hinaus. Selbstverständlich ist diese Position nicht einfach falsch, sondern im Gegen‐ teil in vielen Fällen richtig, in anderen partiell richtig. In einer naturwissen‐ schaftlich dominierten Epoche geisteswissenschaftlicher Theoriebildung könnte ich mit Überzeugung ein Lob der Empathie verfassen. Aber das ist nicht das Gebot der Stunde, und so möchte ich zeigen, wie nützlich ein Wissen‐ schaftsverständnis ist, das in den Geisteswissenschaften auch zergliedernde Analyse, begriffliche Differenzierung, das Auseinanderhalten der logischen Ebenen von Theorie und Praxis, von Beobachter und Beobachtetem, von Kom‐ mentar und Kommentiertem achtet, das neben der Empathie auch die Distanz zwischen Forschern und ihrem Gegenstand zu schätzen weiß. Subjektivismus und Distanzlosigkeit in den Geisteswissenschaften sind keine Neuheit. Von der nationalistischen Geschichtsschreibung deutscher Historiker bis zur misogynen Psychologie männlicher Psychologen ist die Liste der pro domo argumentierenden Wissenschaftler endlos. Bisher jedoch musste die sub‐ jektivistische Praxis unter dem Deckmantel Objektivität operieren, denn nur so waren die Argumente für die Menschen überzeugend „wissenschaftlich“. Und wenn katholische Theologie nur von katholischen Theologen gelehrt werden darf, die mit der Missio des Bischofs ausgestattet sind, dann ist das eben Dog‐ matik und nicht Wissenschaft. Es blieb dem „Poststrukturalismus“ vorbehalten, dass sich wohlbestallte Wis‐ senschaftler offen zum Prinzip der Subjektivität bekennen können, sie sogar zum Signum einer auf der Höhe der zeitgenössischen Einsichten stehenden Wissen‐ schaftlichkeit zu machen wagen. Die philosophische Begründung stammt weitge‐ 12 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte hend aus Paris, die Praxis aus den USA. Dort wurden von Schwarzen Black Stu‐ dies, von Feministinnen Women’s Studies, von Homosexuellen Gay and Lesbian Studies zur Selbstverständigung sowie zur Formulierung und Durchsetzung poli‐ tischer Ziele etabliert, und dabei konnte man kritische Distanz zur je eigenen Sache und Person natürlich nicht brauchen. Für die Vereinigten Staaten als junge und zunehmend multirassische, multikulturelle, multisprachliche Gesellschaft ist die Entwicklung verständlich, vielleicht sogar eine notwendige Etappe in der Ent‐ wicklung ihrer Geisteswissenschaften und ihres Bildungssystems. Man holt dort unter den Gegebenheiten des Landes nach, was Europa bei der Herausbildung seiner Nationalstaaten, seiner Religionen und Kulturen - mehr schlecht als recht - vorgeführt hat. Die Frage ist aber, ob die starke Wirkung aus den USA zurück nach Europa wünschenswert sein kann, denn hier ist die praktische Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren nach fürchterlichen rassistischen, chauvinistischen und nicht zuletzt religiösen Bürgerkriegen endlich in Richtung auf ein ausgewo‐ generes Verhältnis von Betroffenheit (Selbstgerechtigkeit) und Distanz (Fremdge‐ rechtigkeit) in den Geisteswissenschaften gegangen, nachdem die entsprechenden Theorien schon lange bereitstanden. Dabei ist die Emanzipation der Frauen und der Schwarzen sowie die Legalisierung der Homosexualität als Fortsetzung des Programms der Aufklärung und der Demokratie begrüßenswert; schließlich sind Aufklärung, Demokratie, Gewaltenteilung, Rationalität, Kritik, Meinungsfreiheit gerade der Impetus für meine Kritik am drohenden Verlust des Prinzips Distanz in den Geisteswissenschaften, zumindest in der Theorie der Geisteswissen‐ schaften. In dieser Hinsicht ist Mangel an Distanz zum Gegenstand und zu sich selbst, auch wenn er politisch aufklärerische Ziele fördern soll, antiaufklärerisch und vordemokratisch. Und außerdem wird eine linke Identitätspolitik im Gewand von Wissenschaft den Fluch einer rechten Identitätspolitik wieder salonfähig ma‐ chen: Nationalismus, Ethnozentrismus usw. Wir sind alle immer Angehörige von Gruppen innerhalb größerer Populati‐ onen, wenn man will also von Minderheiten: Menschen, Deutsche, Erwachsene, Linkshänder, Führerscheinbesitzer, Gärtner, Krebskranke usw. Und in die geis‐ teswissenschaftliche Forschung kann, ja muss der lebensweltliche Kontext ein‐ gehen. Es darf nur nicht so weit kommen, dass man nur als Gruppenangehöriger forscht, beziehungsweise dass man seine Ergebnisse als prinzipiell überlegen ansieht, weil man dem Text gegenüber ein privilegiertes Verhältnis zu haben glaubt. Eine Theorie der Frauenforschung, die beansprucht, nur Frauen könnten Frauen verstehen, vielleicht sogar nur lesbische Frauen („Frauen-Frauen“), lässt sich leicht ad absurdum führen. Wenn die These nämlich stimmte, dann müsste es auch so sein, dass nur eine Mutter eine Mutter versteht, nur ein Rentner einen Rentner, nur ein Moslem einen Moslem, und dann natürlich weiter nur ein mos‐ 13 Lob der Distanz lemischer Rentner einen moslemischen Rentner usw. Letztlich könnte jeder nur sich selbst verstehen, und tatsächlich ist auch schon so argumentiert worden: die Sprache sei ein Gefängnis, und jeder sitze als Monade ohne die Möglichkeit der Verständigung (und des Verstehens) in seiner jeweiligen Zelle. Aber erstens ist das eine selbstzerstörerische Argumentation, denn wie sollte jemand, der glaubt, dass man sich nicht verständigen kann, jemand anderem verständlich machen wollen, dass man sich nicht verständlich machen kann? Und zweitens ist die These, dass wir uns (alle immer) nicht verstehen, völlig unplausibel. Nicht als ob gegenseitiges Verständnis immer ganz einfach wäre, im Gegenteil. Des‐ wegen ist der Philosophie von den großen Anwälten der Klarheit die Rolle zu‐ gewiesen worden, „die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen“ (Frege), „die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ zu bekämpfen (Wittgenstein). Und auch die Fachwissenschaften sind unter anderem dafür da. Wenn aber die Gefängnismetapher („the prison-house of language“) stimmte, dann wären die Mauern überall anzunehmen, ja wir wären die Mauern, wir wären Mauern. Im Gegensatz zu Gefängnisinsassen sind Gefängnisse jedoch frei, womit ich nur sagen will, dass es töricht ist, dialektische Verhältnisse wie das zwischen Freiheit und Gefangensein oder Subjekt und Ob‐ jekt zugunsten nur einer Komponente zu radikalisieren. So töricht aber auch die These ist, wir könnten uns untereinander nicht ver‐ stehen, sie hat im Moment Konjunktur, vielleicht weil viele Gruppen, die eine Sache zu vertreten haben, glauben, es sei für die Durchsetzung ihrer Sache vor‐ teilhaft, wenn man bei Dissens sagen kann, die Gegenseite verstehe einen eben nicht, könne einen auch gar nicht verstehen, weil sie ein Mann, ein Weißer, ein Intellektueller, kinderlos, alt, kein Alkoholiker usw. sei. Für das Verstehen ist es häufig jedoch gerade hilfreich, nicht persönlich betroffen, nicht nah zur Sache zu sein. Manche Details sieht man besser aus der Nähe, manche Strukturen besser aus der Ferne. Welcher Regisseur lässt einen Dementen einen Dementen spielen, welcher Richter verlässt sich allein auf die Aussagen des Angeklagten? Dass ein Forscher über magische Vorstellungen der Azande eine Zeitlang bei den Azande lebt und sich erzählen lässt, warum nach ihrer Meinung Orakel und Magie wirken, ist klar. Zugleich muss sich der Forscher aber die Distanz des Fremden bewahren, denn sonst kann er die magischen Vorstellungen ja nicht mehr mit anderen Praktiken der Wirklichkeitsbewältigung vergleichen. Cha‐ rakteristischerweise hat kein Azande seinen Orakelglauben kritisch reflektiert, sondern Evans-Pritchard, und wir können daher nicht wünschen, er wäre ein Azande gewesen oder geworden. Das hat unter anderem damit zu tun, dass kritische Wissenschaft in der Lage ist, nicht nur andere Verfahren zu reflek‐ tieren, sondern auch sich selbst. Dass es dabei prinzipielle Grenzen der Refle‐ 14 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte xionsfähigkeit gibt, ist unbestritten, aber die Grenzen sind doch deutlich weiter hinausgeschoben als in unkritischen Verfahren. Politisch sieht die Sache allerdings anders aus. Niemand wird den in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitern theoretisch bestreiten wollen, dass sie berechtigt sind, ihre Interessen selbst zu definieren und zu vertreten, ebenso bei Lesbierinnen oder bei der Standesorganisation der Makler. Die Möglichkeit, die eigenen Interessen zu vertreten, sei es als Gruppe oder als Individuum, gehört sogar ganz elementar zur Demokratie, im Unterschied zu einer paternalistischen oder gar diktatorischen Gesellschaftsverfassung. Aber Interessenvertretung ist eben gerade nicht Wissenschaft, und insofern gehört - da auch Wissenschaftler sich ihre Interessenvertretungen geschaffen haben - die Kontrolle der Wissen‐ schaftler durch die Gesellschaft der Laien zum Prinzip der Demokratie. Nun können Feministinnen einwenden, dass Männer früher aber kaum Frau‐ enforschung betrieben hätten, dass Männer - charakteristischerweise oder zu‐ fälligerweise - die Leistungen von Frauen vernachlässigt hätten, und Gleiches gilt für andere Gruppen, die als Gruppen oder Individuen von der Gleichbe‐ rechtigung und Macht ausgeschlossen waren oder sind. Das ist richtig, aber auch hier zeigt sich, dass kritische Wissenschaftlichkeit viel flexibler reagiert als un‐ kritische Verfahren: denn nach nur einigen Jahrzehnten gibt es die Fächer al‐ lenthalben. Nur ist es so, dass die Vertreter der neuen Disziplinen diese nicht zuletzt deshalb durchgesetzt haben, um - bewaffnet mit der Theorie, dass nur die Objekte der Forschung ihre Subjekte sein können - den jeweiligen Grup‐ penmitgliedern die Türen zu Karrieren zu öffnen. Weil jedem männlichen Nach‐ wuchsforscher klar ist, dass Women’s Studies für Frauen reserviert sind, um den Anteil von Frauen an der Professorenschaft zu erhöhen, dass er also niemals eine Chance auf eine Stelle haben wird, vermeidet er das Fach. So entstehen Wissenschaftsghettos und Anhänger der Theorie, dass sich Menschengruppen untereinander nicht verstehen können. Man kann auch einwenden, dass Wissenschaft nicht so hehr sei, wie es oben geschienen haben könnte, nämlich allein oder vornehmlich der Wahrheitssuche gewidmet, während Interessenvertretung in den Niederungen der Alltagspraxis angesiedelt sei. Auch wissenschaftliche Forschung selbst - nicht nur Standes‐ politik der Wissenschaftler - geht in der Tat unter erkenntnisleitenden Inte‐ ressen vor sich, ist also immer auch Interessenvertretung, ganz deutlich in der ingenieurswissenschaftlichen Drittmittelforschung, aber auch in den Geistes‐ wissenschaften, was man schon daran zu erkennen vermag, dass jede Seite in jedem pädagogischen Richtungskampf einen Professor mobilisieren kann, dass für jede Feier, für jeden Festtag positive und negative Reden aus der Feder von Wissenschaftlern zu haben sind, für jedes psychologisch strittige Gerichtsver‐ 15 Lob der Distanz fahren konträre Gutachten. Die Antwort darauf kann nur sein: Gerade weil alle Wissenschaft - wie jede menschliche Tätigkeit - interessengeleitet ist, muss sie im Prinzip kritisch sein, und das heißt unter anderem, sie muss allen offenstehen, die sich äußern wollen und können. Gerade weil Wissenschaft nicht nur, viel‐ leicht nicht einmal überwiegend rational geleitet ist, müssen sich Wissen‐ schaftler gegenseitig kontrollieren können. Eine Theorie, die das prinzipiell be‐ streitet, ist wissenschaftsfeindlich und demokratiefeindlich. Die Behauptung, nur Frauen könnten Frauen verstehen usw., lautet in nur leicht verschobener Akzentuierung: Bei einer Aussage kommt es weniger auf den Inhalt an und mehr darauf, wer sie macht. Das ist keineswegs völlig falsch. Wenn mir mein Hausarzt sagt, ich hätte Pocken, nicht Windpocken, so reagiere ich an‐ ders, als wenn mir das mein kleiner Sohn sagt. Wenn ein jüdischer Dramatiker das Thema Hitler als Farce auf die Bühne bringt, so ist das etwas anderes, als wenn es ein Deutscher tut. Wenn ein berühmter Musikwissenschaftler einen Vortrag über Beethoven ankündigt, gehe ich wahrscheinlich eher hin, als wenn es der mir unbekannte Musiklehrer des Nachbardorfes tut. Vertrauen ist auch in den Wis‐ senschaften wichtig, jedenfalls in praxi, weil sonst jeder vor lauter Nachprüfen bisheriger Ergebnisse nie über den Stand der vorigen Generation hinauskäme. Aber prinzipiell lautet die Devise: Traue niemandem, und schon gar nicht dem, der methodisch von Vertrauen redet! Aussagen müssen so gemacht sein, dass sie überprüfbar sind, und natürlich kommt es letztlich doch auf die Aussagen an und nicht auf den, der sie macht, denn sonst würde man das Kriterium der Wahrheit durch das der Betroffenheit ersetzen. Wahrhaftigkeit ist nicht gleich Wahrheit. Statt Nachprüfbarkeit hätte man das Kriterium der Autorität. Wieder ergibt sich, dass die poststrukturalistische Theorie des Vorrangs des Subjekts vor dem Objekt in Wirklichkeit vormodern ist. Politisch steht sie auf dem Stand einer aristokratisch-paternalistischen Gesellschaft, in der die Besten wissen, was gut und richtig ist. „Quod licet Jovi, non licet bovi“ ist jedenfalls nicht das Motto der Wissenschaften im Zeitalter der pluralistischen Demokratie. (Das heißt übrigens nicht, dass Wissenschaft demokratisch wäre, sondern nur, dass beiden Institutionen das Prinzip des Misstrauens beziehungsweise des Falli‐ bilismus zentral ist.) Auch die Literaturtheorie kennt ähnliche Tendenzen, vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach dem ontologischen Status von Literatur und nach dem Ort seiner Bedeutung. Die früheren Literaturtheoretiker waren meist die Autoren selbst, und bezeichnenderweise vertraten sie eine au‐ torenzentrierte Theorie der Bedeutung: die Autorenintention ist die Bedeutung. Nachdem die heutigen Literaturwissenschaften längst professionalisiert sind, ist die Kluft zwischen Autor und Kritiker so tief geworden, dass viele Theoretiker der Ansicht sind, der Leser-Kritiker generiere im Akt des Lesens die Bedeutung 16 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte des Texts, das Subjekt erzeuge das Objekt. Waren die Literaturwissenschaftler im Zeitalter der Dominanz der Autoren meist Philologen, also Diener der Au‐ torenintention, oft wohl auch mehr Museumswärter als echte Vermittler, so wären die Kritiker heute gern Autoren, wie wir es aus der Welt der Bühne mit dem Phänomen des „Regietheaters“ kennen. Die frühere historisierende Me‐ thode droht einer präsentistischen Methode Platz zu machen. Auch hier muss man wiederholen, dass die These, der Rezipient gebe einem Zeichen erst seine Bedeutung, nicht gänzlich falsch ist. In der Tat wird in Alltags‐ kommunikation und im Kunstwerk die Autorenintention in dem Maße weniger wichtig, in dem der Text von uns weiter entfernt ist, sei es zeitlich, sei es geogra‐ phisch. Die Autorenintention ist entscheidend für meine Reaktion (Interpreta‐ tion), wenn ich direkt angesprochen bin, etwa wenn ich auf der Straße angerem‐ pelt werde und wissen möchte, ob das Absicht war oder Versehen. Sie ist wichtig, aber nicht allesentscheidend, wenn ich mich angesprochen fühlen darf oder muss, aber nur indirekt, etwa bei der Lektüre eines Artikels über männliches Sexualver‐ halten im viktorianischen England. Im Falle jedoch einer alten Tontafel mit Rechts‐ vorschriften für Priester aus dem Zweistromland fühle ich mich nicht mehr ange‐ sprochen, und insofern sind mir die Intention des Verfassers und damit der ganze Text gleichgültig (außer als Dokument, wenn ich Spezialist für die Sache bin). Man könnte sagen, dass ein Text mit zunehmender Entfernung von mir zum bloßen Naturereignis wird, Intention als Kategorie also entfällt. Borges hat in seiner Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel so etwas wie eine Illustration des Sachverhalts geschaffen. Der Inhalt der Bücher dieser Bib‐ liothek besteht aus allen möglichen Kombinationen von 25 Zeichen. Jedes der Bücher hat Platz für zirka 1,3 Millionen Zeichen, was bedeutet, dass es 25 1300000 verschiedene Bücher gibt, darunter eines, das nur aus a’s besteht, darunter aber auch eines, das den Text von Kants Kritik der reinen Vernunft enthält, eines, das eine Grammatik der litauischen Sprache enthält usw. Hier haben wir Texte vor uns, bei denen es keinerlei Autorenintention gibt, bei denen die Last der Auf‐ gabe, einen Text mit Bedeutung zu versehen, tatsächlich ganz beim Leser-Bib‐ liothekar liegt. Von praktischer Bedeutung ist der Fall jedoch nicht, denn selbst wenn das ganze Universum mit Büchern vollgepackt wäre, ergäbe das bei einem Liter Volumen pro Buch und einem Weltall von zehn Milliarden Lichtjahren Kantenlänge nur eine Bibliothek mit zirka 10 80 Bänden (ohne Regale! ) Und so viel Impraktikabilität schlägt sogar noch auf die Theorie durch: Eine solche Bi‐ bliothek kann es nicht geben, weil man nicht genug Atome im ganzen Weltall auch nur für die Druckerschwärze hätte, vom Papier ganz zu schweigen. Aber auch rein prinzipiell: Wie sollte man Kants Kritik finden, wenn man kein Kant ist und nicht weiß, wonach man suchen soll? Und wenn man ein Kant ist, dann 17 Lob der Distanz spart es viel Zeit, die Kritik zu denken, anstatt sie unter 25 1300000 Büchern zu suchen. Der vielberedete „Tod des Autors“ ist letztlich nur eine hintergründige Paradoxie, die die Dialektik des Verstehensprozesses zwischen Sender und Re‐ zipient außer Acht lässt. Tatsächlich besteht unsere Kommunikation überwie‐ gend aus direkter Interaktion, und jede vernünftige Bedeutungstheorie wird daher intentional sein (und ist es in der Fachphilosophie auch). Bei Kunstwerken liegt die Sache etwas anders, allerdings nicht diametral entgegengesetzt. Und zwar liegt ein Unterschied darin, dass man bei den Werken, über die man spricht, offenbar davon ausgeht, dass es lohnt, sie dem Verschwinden im Abgrund der Zeit zu entreißen, weil sie unersetzlich sind, was so viel heißt wie: sie sind durch leichter zugängliche Werke der Gegenwart nicht zu ersetzen. Bei Alltagskommunikation trifft das fast nie zu. Wie soll man die unersetzlichen Werke der Literatur aber verständlich erhalten? Man kann nicht beim Autor nachfragen, was er meinte, und es wäre auch gar nicht sinnvoll, denn man ist nicht direkt von ihm angesprochen. Insofern hat der „Dekon‐ struktionismus“ recht, wenn er zeigen möchte, dass die Werke für die heutigen Leser oft eine andere Bedeutung haben als der Autor vermutlich beabsichtigte. Das ist sogar eine ganz alte Einsicht, denn die Verfahren der Literaturwissen‐ schaft sind entwickelt worden, weil die Autorenintention oft nicht (mehr) ein‐ deutig zutage liegt, das Werk also zum Problem geworden, andererseits inter‐ essant geblieben ist. Kunstwerke sind, gerade wenn sie interessant sind, reicher als der Autor wusste, und das gilt sogar bei Alltagskommunikation, wo ebenfalls jede Äußerung mehr sagt als gemeint ist. Nur darf das Fremde, das Unzugäng‐ liche, die Distanz eben gerade nicht eingeebnet werden, denn warum sollte ich Shakespeare lesen, wenn ich doch immer nur wieder mich selbst auffände? All die Hilfstätigkeiten und Hilfswissenschaften - Handschriftenkunde, Archivstu‐ dien, Kenntnisse der Periode, des Autors, der Gattungskonventionen usw. - er‐ gäben keinen Sinn, wenn wirklich der Interpret oder auch nur kollektive Ver‐ stehenstraditionen die Bedeutung des Werks (ganz) erschüfen. Ein weiteres Beispiel für die in bestimmten Kreisen so beliebte Einebnung der Distanz zwischen Subjekt und Objekt in der Literaturwissenschaft ist die Theorie, Literatur und Literaturtheorie beziehungsweise Literaturkritik hätten denselben ontologischen Status und seien ununterscheidbar. Auch diese These ist nicht ganz falsch. Angesichts einer humorlosen Abhandlung über den Witz oder einer tro‐ ckenen Statistik über die Liebe unter Jugendlichen heute hat sicher schon man‐ cher die Grenzen einer naturwissenschaftlich distanzierenden Geisteswissen‐ schaft gespürt. In diesem Sinne sagte Friedrich Schlegel, Poesie könne nur durch Poesie kritisiert werden. Für das Verhältnis zwischen Beobachter und Welt ist die These (aus dem Neuplatonismus stammend) vielleicht am schönsten in Goethes 18 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte Xenie ausgedrückt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken“. Aber selbst ein philosophischer Laie erkennt schnell, dass das nur ziemlich vage stimmen kann. Augenhaft muss Goethes Auge auch gewesen sein, denn um die Aussage machen zu können, dass Augen sonnenhaft sind, um die Sonne erblicken zu können, musste er vorher Augen erblickt haben, was nach seiner Aussage nur gelingt, wenn sie - auch - augenhaft sind. Wie alles andere, was Augen sonst noch sehen können, müssten Augen aber auch sein. Man er‐ kennt, dass die Aussage letztlich ziemlich nichtssagend ist. Tatsächlich ist es mit unseren Augen so, dass sie besonders gut in dem Bereich der elektromagneti‐ schen Wellen sehen können, in dem die Sonne besonders intensiv abstrahlt. Un‐ sere Augen sind entstanden unter dem jahrmillionenlangen Einfluss des Lichts der Sonne. Wenn man das auf das Verhältnis zwischen Sprache und bespro‐ chener Welt übertragen darf, so heißt es: Von der Objektsprache (Dichtung) muss ein Einfluss ausgehen auf die Beschreibungssprache (Literaturwissenschaft), sonst kann diese jener nicht gerecht werden. Aber die Beschreibungssprache braucht nicht zu werden wie die Objektsprache - sie darf es sogar nicht, denn die Sonne kann sich ja gerade nicht sehen (und sogar das Auge kann sich selbst nicht sehen). Und: Die Sonne ist das Primäre, das Auge das Sekundäre. Nun wird in der Praxis meistens nicht so heiß gegessen wie in der Theorie gekocht. Noch habe ich keine Dissertation gesehen, die ich für einen Roman hätte halten können, auch wenn die Wissenschaftsprosa mancher neuerer Au‐ toren nicht dem Ideal durchsichtiger Klärung von Sachverhalten folgt, sondern Eigenwert zu beanspruchen scheint. Aber ich habe immerhin schon eine Habi‐ litationsschrift in der Hand gehabt, deren Verfasserin sich weigerte, in der Bib‐ liographie zwischen Primär- und Sekundärliteratur zu unterscheiden, weil das nicht auf der Höhe der Theorie gewesen wäre, und das in einer Arbeit, die bisher vernachlässigte und in Vergessenheit geratene Romane erschließen will, wo also jeder Leser gerne auf einen Blick sehen würde, welche Romane denn da wie‐ derentdeckt werden. Da die Theorie aber besagt, dass es keine Wahrheit gibt, Tarskis Differenzierung zwischen Objektsprache und Metasprache aber ge‐ troffen wurde, um Aussagen Wahrheit zusprechen zu können, ist es tatsächlich widerspruchsfrei, nicht zwischen logischen Ebenen zu unterscheiden. Da kann man dann nur sagen: Hat es auch Methode, so ist es doch Wahnsinn. Und man sieht, wie wichtig der Grundsatz der Fremdkontrolle ist, denn Auswüchse wie diese sind nur in einer Situation des Ingroup-Provinzialismus verstehbar. Und wieder zeigt sich das Autoritäre der Theorie, Literatur und Literatur‐ wissenschaft seien ununterscheidbar. Eine Studie, die durch ihren Stil verlangt, dass sich der Leser ganz auf sie einlassen muss, um sie nachvollziehen zu können - etwas, das das Kunstwerk verlangen darf -, will nicht durch Argumente einen 19 Lob der Distanz freien Leser überzeugen, sondern durch imperiale Gesten beeindrucken. Der Ornithologe will fliegen. Im Zusammenhang der Theorie, Literatur und Literaturwissenschaft seien untrennbar, wird auf Einwände hin gelegentlich geantwortet, die traditionelle Differenzierung zwischen den logischen Ebenen des Kommentierten und des Kommentars sei vielleicht bei traditioneller Literatur angebracht gewesen, etwa bei realistischen Romanen des vorigen Jahrhunderts, die ihrerseits von einer objektivistischen Konzeption der Wirklichkeit, vom Glauben an Wahrheit, vom Gedanken an die Trennung von Subjekt und Objekt usw. durchdrungen seien; sie sei aber auf jeden Fall unangebracht bei literarischen Werken, die selbst die Trennung von Subjekt und Objekt der Beschreibung in Frage stellen. Tatsächlich gibt es ja seit einigen Jahrzehnten, vor allem im angelsächsischen Sprachraum, eine umfangreiche Tradition von Erzählliteratur dieser Art. Meta-Literatur ist ein Beispiel, also Literatur, deren Gegenstand die Niederschrift des Werks selbst ist, etwa Becketts Malone stirbt. Sodann gibt es Romane, die wie Literaturkritik aussehen, etwa Julian Barnes’ Flauberts Papagei. Und schließlich gibt es eine Vielzahl fiktiver Autobiographien und Biographien, bei denen die Darstellung objektiv gegebener Realität und fiktionale Dichtung ineinander übergehen, früh schon Virginia Woolfs Orlando und kürzlich Robert Nyes Memoirs of Lord Byron oder Peter Ackroyds Chatterton. Solche Literatur kann in Beziehung gesetzt werden zu der zunehmenden Tendenz des allgegenwärtigen Mediums Fern‐ sehen, die Trennung zwischen Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen. Man denke nur an die stufenlose Linie vom traditionellen Spielfilm über den nachgestellten Kriminalfall bis hin zu Reality-TV und Kriegsberichterstattung aus dem Hotelfenster heraus, und das Ganze vielleicht noch dauernd von Wer‐ bespots und Videoclips unterbrochen, und man wird einsehen, dass die alte Dif‐ ferenzierung mit bloß zwei Kategorien (real oder fiktiv) zu grobschlächtig ist. Aber gerade wenn es für die Menschen de facto immer schwieriger wird zu unterscheiden, muss die begriffliche Differenzierung umso sorgfältiger sein. Bei zunehmender Brutalität an den Schulen sagt der Pädagoge ja auch nicht: Dann geben wir eben die Unterscheidung von Gewalt und Friedfertigkeit auf! Natürlich muss das Handwerkszeug der Literaturwissenschaft, die Begriff‐ lichkeit usw. angesichts neuer Gattungen und Gattungsmischungen geschärft und erweitert werden, aber deswegen müssen nicht etwa die Kategorien auf‐ geweicht werden. Einen Prozess der Aufweichung von Objekten kann ich gerade nur mit einer harten Sprache feststellen, einen geschichtlichen Entwicklungs‐ prozess nur mit statischen Begriffen. Außerdem scheint die Theorie auch hier weiter zu sein als die Praxis. Die fernseherfahrenen Kinder der Gegenwart je‐ denfalls unterscheiden in ihren Reaktionen (zum Beispiel im Grad ihrer Angst) 20 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 1 Aktueller Zusatz. - Tatsachen (Fakten) werden definiert als Sachverhalte, die bestehen, dargestellt in Aussagesätzen. Nun behaupten die linken Pariser Intellektuellen und Poststrukturalisten der 68er-Generation und in ihrem Gefolge die heute die literatur‐ wissenschaftlichen Fächer dominierenden Kulturtheoretiker und -wissenschaftler - Nietzsche folgend -, es gebe keine Tatsachen, sondern - etwa wegen des sprachlichen Anteils - nur Interpretationen. Damit allerdings ebnen sie den Weg für die Populisten auf der rechten Seite des politischen Spektrums und ihre Begriffe „alternative Fakten“ und „fake news“. deutlich zwischen Realität und Fiktion auf dem Bildschirm. Schon Aristoteles baute seine Funktionsbestimmung der Tragödie darauf auf, dass der Zuschauer auf eine auf der Bühne gespielte Gewalttat anders reagiert als auf eine vor un‐ seren Augen auf der Straße. Es braucht den Theoretiker oder Interpreten auch nicht zu beirren, dass ein Autor wie beispielsweise Ackroyd offenbar selbst an die neuen Theorien glaubt, die er seinen Romanen zugrunde legt, und sie nicht etwa nur als Spielvorlage betrachtet. Wie man im Sommer 1993 in der Times lesen konnte, hält Ackroyd Einsteins Relativitätstheorie - ganz im Sinn poststrukturalistischer Wissen‐ schaftssoziologie - für einen Mythos. Naturwissenschaftliche Theorien sind ge‐ wiss Modelle, aber deswegen noch keine Fiktionen im Sinne von Dichtungen. Und so hat auch trotz manch kühner allgemeiner Meta-Theorie noch kein Wis‐ senschaftssoziologe ernstlich konkret gesagt, wieso das heliozentrische Weltbild oder die Theorie Harveys vom Blutkreislauf nur fiktionale Erzählungen sein sollen. Als Dichter darf Ackroyd das natürlich denken, und man kann ihn trotzdem schätzen, so wie man ja auch kein mittelalterlicher Katholik sein muss, um Dantes Göttliche Komödie zu bewundern, kein Anhänger der höfischen Liebe, um Chaucers Troilus und Criseyde zu lieben. (Allerdings darf man Dantes oder Chaucers Weltbild auch nicht absurd oder verächtlich finden, sonst wird einem die nötige Empathie fehlen.) Man könnte sogar argumentieren, dass Li‐ teratur gerade da ihre ureigenste Provinz hat, wo sie interessante Gedanken‐ spiele vorführt, die in der Wirklichkeit unmöglich sind, sei es praktisch wie oben bei Borges, sei es logisch wie in Wells’ Zeitmaschine. Einige Geschichtstheoretiker behaupten, Geschichtsschreibung sei Fiktion, habe denselben ontologischen Status wie Dichtung. So hat man im Gefolge von Hayden Whites Thesen argumentiert, dass es keine historischen Tatsachen gebe, sondern dass die Geschichtsschreibung die Tatsachen erschaffe. Der Historiker konstruiere Geschichte, ganz wie der Romancier, der seine literarische Welt im Schreiben entwirft. 1 Tatsächlich geht der Historiker bei seiner Rekonstruktion der Geschichte von einem gewissen Vorverständnis aus, muss entscheiden, was (ihm) wichtig ist und was nicht, muss das Material ordnen, muss Kausalbezie‐ hungen herstellen, dem Verlauf der Ereignisse Bedeutung geben, nicht im Sinn 21 Lob der Distanz eines höheren Ziels, aber doch in dem Sinn, dass wir bei aller zwischenmensch‐ lichen Kommunikation ständig interpretieren, wie uns das Handeln anderer be‐ treffen mag, wie es aufzufassen ist, ob beispielsweise als Bedrohung, als Ange‐ berei oder als gutgemeint. Der Historiker ist zwar ein Spezialist für bestimmte öffentliche Bereiche menschlichen Handelns, vor allem in der Vergangenheit, und er arbeitet seine Darstellung und Deutung genauer aus, geht methodischer vor, macht seine Vorannahmen transparent usw., aber prinzipiell verschieden von der alltäglichen Erklärungsarbeit des Menschen ist sein Tun nicht. So lautet die These der Subjektivisten im Grunde: Alle Denk- und Sprachtätigkeit der Menschen, ob Wissenschaft, Alltag oder Dichtung, ist ontologisch gleich. Die Geschichtskonstruktionen oder -rekonstruktionen erfolgen durch Ver‐ sprachlichung (daher die poststrukturalistische These, alles sei Sprache, alles sei Text), und zwar in Form von Erzählungen, womit die narrativen Verfahren ins Spiel kommen: Erzählstandpunkt, Metapher, Vergleich, Beispiel, Litotes usw. Da auch die Dichter so vorgehen (ihre Welt besteht nur aus der Sprache, die sie konstruiert), seien Geschichtsschreibung und Dichtung auch in diesem Sinne ontologisch gleich. Richtig ist zwar, dass in früherer, dem naturwissenschaftli‐ chen Objektivitätsideal verpflichteter Geisteswissenschaft viele Historiker ernstlich glaubten, ihre Geschichtsschreibung stelle alles so dar, wie es wirklich gewesen sei. Und richtig ist, dass zum Beispiel Vorannahmen die Darstellung der „Tatsachen“ einfärben, sogar bestimmen können, etwa im Fall, dass jemand den Eindruck gewonnen hat, das Dritte Reich sei als Tragödie (für Deutschland) aufzufassen, das heißt, als schuldhaft-unverschuldetes Verhängnis, woraufhin er die ungeheure Fülle des Materials auf diese Vorannahme hin auswählen und interpretieren wird. Wenn aber in der bisherigen Theorie, der ich zuneige, zwi‐ schen fiktionalen und diskursiv-expositorischen Textsorten differenziert wird, dann nicht deshalb, weil die eine narrative Elemente enthielte und die andere nicht, denn in der Tat enthalten beide narrative Elemente; vielmehr differenziert man deshalb, weil fiktionale Texte zu anderen Fragen einladen als expositori‐ sche. Während man bei wissenschaftlichen und alltäglich-diskursiven Texten trotz der erzählerischen Elemente letztlich nach Informationsgehalt, Plausibi‐ lität und Wahrheit fragt, interessiert man sich bei fiktionalen Texten für die Kühnheit der Metaphern, für die rhetorische Brillanz, für magisch-rituelle Qua‐ litäten wie Reim, Metrum und Rhythmus, für den architektonischen Bau, für die Übereinstimmung von Form und Inhalt usw. In Molières Der Bürger als Edelmann erfährt der neureiche Monsieur Jourdain von seinem schmeichlerischen Rhetoriklehrer, dass er Prosa spricht, wenn er spricht, und ist freudig angetan von dieser Auszeichnung. Er kann aber natürlich gar nicht anders als Prosa sprechen, wenn er den Mund auftut, und so ist es auch 22 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte mit den Historikern, mit uns allen: Wir sind noch keine Dichter, weil wir bei einer Dienstbesprechung oder einem Brief an die Versicherung narrative Ver‐ fahren benützen. Vornehmer ausgedrückt: Erzählstrukturen sind kein Diffe‐ renzmerkmal zwischen geisteswissenschaftlicher Forschung und fiktionalen Texten; vielmehr ist Fiktionalität, zumindest zu einem erheblichen Teil, eine pragmatische Kategorie. Wir behandeln fiktionale Texte anders als diskursive, und man kann auch durchaus einen fiktional gemeinten Text (etwa einen his‐ torischen Roman) wie einen diskursiven behandeln und einen diskursiven (Gib‐ bons Geschichte des Verfalls und Untergang des Römischen Reichs beispielsweise) wie einen fiktionalen. Nun haben die Thesen der subjektivistischen Geschichtstheoretiker zwar viel Aufmerksamkeit erregt, sind aber von den Praktikern unter den Historikern ziemlich überwiegend ignoriert oder abgelehnt worden. Viele Literaturwissen‐ schaftler jedoch haben die Auffassung, Geschichte sei nicht Rekonstruktion von Wirklichkeit, sondern vom Historiker konstruierter Text, begrüßt, und psycho‐ logisch kann man die Attraktivität der konstruktivistischen Theorien ja auch gut verstehen, würden sie doch die Literaturwissenschaft zur zentralen geistes‐ wissenschaftlichen Disziplin machen. Tatsächlich aber können Menschen sehr gut unterscheiden zwischen Sinneseindrücken oder Erinnerungen an Sinnes‐ eindrücke auf der einen Seite und Phantasien oder Erinnerungen an Phantasien auf der anderen Seite. Vermutlich ist es ein Selektionsvorteil, wenn man das kann, und deshalb gibt es dazu auch einen Forschungszweig (Self-Awareness Studies, Reality Control Studies). Aber von seiten vieler Romanciers und Dramatiker scheint es Schützenhilfe für die Poststrukturalisten zu geben. Der von manchen als faction bezeichnete, zwischen fiction und fact angesiedelte Roman beispielsweise ist oft als Indiz für die Auflösung der Differenz Kunst / Leben beziehungsweise der Textsorten Fik‐ tion / expositorische Texte gedeutet worden. (Und auch in den anderen Künsten gibt es vergleichbare Tendenzen, von Warhol bis zu konkreter Musik.) Das Thema kann hier nicht ernstlich erörtert werden, aber so viel ist klar: Wenn sich die Objekte (in diesem Fall die Gattungen oder Textsorten) mischen, wenn sie vielleicht sogar zu etwas Neuem fusionieren, dann müssen sich deshalb keines‐ wegs die Kategorien der Beschreibung mischen, dürfen es sogar nicht. Das wäre das Ende der analytischen Chemie, wenn sich, weil Wasserstoff und Sauerstoff eine Verbindung zu H 2 O eingehen, auch die chemischen Bezeichnungen zu etwas Neuem verbinden müssten. In der Kunst und natürlich auch im Spaß kann man das alles machen, aber das hat nichts mit ontologischen oder erkenntnis‐ theoretischen Notwendigkeiten zu tun und braucht nicht, ja darf nicht auf die Literaturwissenschaft abfärben. 23 Lob der Distanz Sie ist eine Wissenschaft und muss insofern zu ihrem Gegenstand in einer gewissen kritischen Distanz mit analytischem Auflösevermögen verbleiben. Das Bekenntnis zu radikaler Subjektivität, die Annäherung der Geisteswissen‐ schaften an die Künste, des Subjekts an das Objekt, führt zu Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit und Narzissmus. 24 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte From Theories of Deviation to Theories of Fictionality: The Definition of Literature This essay focuses on the various ways in which literature has been differenti‐ ated from non-literature. The criteria of differentiation show themselves to be quite heterogeneous, even incommensurable. Older - essentialist - theories, based on epic and lyric poetry, distinguished between poetic and non-poetic forms of language. Later - relational - theories, often based on the novel, have argued that it is the reference of language to reality that distinguishes fiction from non-fiction. Still more recent theories, accompanied by new forms of lite‐ rature, see the difference in the eye of the beholder or, rather, reader - and this is a pragmatic criterion of differentiation. Since each perspective yields valuable insights, the question is how the three criteria - essentialist, relational and pragmatic - relate to one another. 1. Language and form as the distinguishing criterion of poetry Until the 18 th century, epic poetry and certain types of poems - ode, elegy, nature poetry - were the key genres of literature. A poet striving for honour and glory had to excel in these genres, in which Homer and Vergil were considered to be the greatest models, with Dante, Camões, Milton and others as the respective national examples. These epic poems, odes, sonnets, and epistles differed from discursive texts - historiography, homilies, philosophical treatises, laws, or everyday speech etc. - in their use of language, namely in such deviations from everyday speech as verse, metre, rhyme, poetic diction with liberties in vocabulary (archaisms, for instance) and syntax (a freer order of words). Such poetic text-types with their ritualistic and magical elements corre‐ sponded to the world-view of pre-modern times. In a magical conception of language, the speaker is understood to act upon the world in a direct way. Spea‐ king of the devil may make him appear. Ritualistic language usage - as in litanies - points to the fact that sometimes it is not so much the information that counts, but rather the way in which the message is conveyed. This is the original, and proper, province of literature, not only in text-types like charms that are expressly magical, but more generally in all forms of poetry with devices like alliteration and rhythm, metaphor and simile, invocation, burden etc. When more rational, critical conceptions of language superseded these older conceptions, poetry became the reserve of such ancient language usage. Imagery and all rhetorical and formal devices of more modern literary works of art became, as it were, the vanishing grade (“Schwundstufe”) of the former magical practices. As a consequence, poetry became the realm of speech where deviation from the norms of discursive speech is constitutive, and, again as a consequence, deviation from the norms of everyday and discursive usage of language became the decisive criterion of poetics. 2. The reference of language to reality and reader-expectation as the new criteria in defining fictional texts The situation changed with the rise of the novel to the position of literary key genre, if only slowly because at first the new genre had no aesthetic prestige. (This paper will confine itself to prose narratives, but a similar case could be made for drama.) The novel came along like everyday speech, without rhetorical ornamentation and it claimed to be the depiction of real events. An arbitrarily chosen passage taken out of context could not be recognised as poetic, and it was not meant to. The development from epic poem to prose novel is connected with the rise of the bourgeoisie to the position of the economically and, later, politically do‐ minant social class. Concomitant with this political and social revolution was a change in values: from a heroic and aristocratic ideal of life to an unheroic and bourgeois lifestyle, from an emphasis on the public sphere to an emphasis on privacy, from a cyclical conception of time to a conception of time as linear and with an open future, from an oral culture to a civilisation based mainly on wri‐ ting and reading, and, in this process, the conception of language and speech changed dramatically, roughly speaking: from poetry to prose. The rise of the natural sciences played an important role, too. The elimination of God and teleology from the understanding of nature in physics, geology, biology etc. was accompanied by a purification of the language of the natural sciences. Nature was no longer regarded as a book, the meaning of which had to be interpreted, but was taken as pure facticity without meaning. The impor‐ tance of the subject of perception and cognition was, accordingly, reduced, first-person sentences were given up in favour of passive constructions, finite verb-forms given up in favour of nominal constructions; all of this stresses the results rather than the research. Furthermore, rhetorical devices like metaphors, irony, hyperbole etc. are avoided and literal expressions are favoured in order not to draw the reader’s attention to the writer and not to give a chance to a subjective colouring of data, argumentation and conclusions. (The fear is that in being forced to accept the language of a researcher, one is forced to accept ideas that make sense only in the idosyncratic mode of speaking of the writer.) 26 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte Two other famous attempts to purify language of being affected by the object discussed is the introduction of distinctions between logical planes by Bertrand Russell and between semantic planes by Alfred Tarski; according to these dis‐ tinctions, a statement may not refer at the same time to the facts of the case and to its own truth value. (An example is the ancient Liar Paradox, where a state‐ ment is made about a Cretan and, at the same time, about the truth value of the statement itself.) Thus, the language of science attempts, as much as possible, and in direct opposition to the language of poetry, to avoid the subjective co‐ louring of results. It also, and more generally, denies any direct association with the objects discussed, because, if there were an iconic connexion between object and language, the definition of the object, the collection of data, the results of the argumentation would be influenced by the language used; language might even construe the problem which it then must clarify. (At this point, I will not discuss the question of whether this programme is fully possible.) The rise of the novel belongs to this context. If the language of poetry can be defined by deviation from the norm of everyday speech and discursive state‐ ments, then linguistic non-deviation from the norm is equivalent to non-poetry, and the novel, therefore, appears as a discursive text, particularly close to the genre of historiography. Whoever wanted to present a story as history had to forego deviations of language, style, and form. Thus, the modern (realistic) novel belongs to the great movement of disenchantment of the world in Western ci‐ vilisation since the Renaissance. Defoe’s Robinson Crusoe, often called the first modern novel, presents itself as the unadorned autobiographical report of a castaway; Goethe’s epistolary novel, Die Leiden des jungen Werthers, presents itself as the authentic collection of letters between two lovers and their circle of friends. Single passages here and elsewhere in novels cannot be recognised as part of a work of art - with exceptions, it must be admitted: Fielding’s narrator in Tom Jones reveals himself as the creator and legislator of the world of his hero and, thus, reveals the novel as a novel; the grammar of Jane Austen’s passages of free indirect style is clearly not in the way of everyday speech. (The genre of the romance is a different matter: Gothic Novel, Science Fiction, Fantasy etc. are in another literary tradi‐ tion than the novel.) As a consequence, the traditional characteristics lost their importance as the defining criteria of literary works of art. Verse, rhyme or dense imagery which had determined a text as a work of art, showed themselves as mere decoration, as externals. (The case is similar to that of discarding the ancient definition of fish as animals living in water, in favour of a less superficial definition where, for instance, whales and dolphins are grouped as mammals.) This meant that 27 From Theories of Deviation to Theories of Fictionality: The Definition of Literature the relationship between text and reality became the decisive distinguishing mark between discursive texts and literary works of art, now called fictional texts. Broadly speaking, discursive texts refer to a reality existing or presup‐ posed as existing independently of them; their function lies in the description, explanation, elucidation, and criticism of this reality. Fictional texts, in contrast to that, create the world which they seem to describe in the very act of desc‐ ription. And if explanations or argumentations appear in a novel - speech acts typical of discursive texts - then this argumentation is ‘only’ the representation of an argumentation, at least as long as the reader or hearer takes the fiction as fiction. This last remark reminds one of the role the recipient plays in the act of reading. Readers or hearers react differently to what they think is a discursive text than when they think it is a fictional text. When a theatre-goer begins to understand Iago’s treachery, he normally does not jump onto the stage to warn Othello. The appropriate mode of reception of a work of fiction is, in the famous words of S. T. Coleridge, “willing suspension of disbelief ” (Biographia Literaria, Chapter XIV), in other words, the suspension of such critical questions as we normally pose, concerning a discursive text. Most importantly, we suspend our awareness that fictional worlds are worlds that exist only because their existence has been declared by the text, and this is, of course, a petitio principii. We accept the fictional world as it is presented to us, and it is only from there that we proceed with our critical questions. 3. Results and consequences Let us now review our results on a more abstract level. Lyric poetry and epic poetry are recognisable as different from discursive speech by their form, res‐ pectively by their deviation from the form of discursive speech. Their poetic character is a property of the works themselves, and thus the distinguishing mark is an ‘essential’ criterion, and the theory is ‘essentialist’. “Willing suspen‐ sion of disbelief ” is the appropriate mode of reception, but it is not a necessary element of the definition and is, therefore, normally neglected. In contrast, modern types of prose narrative - the novel, but other realistic subgenres, too, the short story, for instance - are not defined by their language, and their “literariness” or “poeticity” is not necessarily recognisable in the text itself. Its distinguishing mark is its fictional status, that is, its special relationship to reality. This criterion is ‘relational’ because it is a relation between objects, not a property of an object. The mode of reception, “willing suspension of dis‐ 28 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte belief ”, is a constitutive element in the framework of this definition and, thus, appears for the first time as a problem. A mode of reception, however, is a ‘prag‐ matic’ category. Thus, there is a combination of two defining categories, one relational, the other pragmatic. Each alone is insufficient as a definition. If the pragmatic ca‐ tegory alone sufficed, the definition of what a work of art is would be entirely a matter of subjective choice. This would clearly not be a useful definition. Most people, in fact, agree in most cases on whether a text is fictional or not. However, there are cases where one can disagree or where, in one context, one can take a text as fiction and, in another, as a report. Historical novels are obvious examples. The categorisation of a literary work of art as fiction is, thus, much more complex than the traditional categorisation as ‘poetry’, because two categories are involved. It is also more difficult, because relational and pragmatic categories are less definite than essential properties. But this is not all. Even when a work of art is defined by its fictionality, a certain share of essential properties remain: a great portion of dialogue, for instance, points to the fictionality of a text and is not expected in a work of astronomy or economics, and the same is true for interior monologue, irony of the narrator, structural symmetries etc. There seems to exist a certain affinity between fiction and certain forms of speech felt to be ‘poetical’. All in all, then, fictionality is a hybrid category: chiefly relational, but requi‐ ring, even promoting, a special way of reception, and with an affinity to certain forms of expression. (This also explains why the craftsman-like aspect of lite‐ rature no longer plays an important role. Fictionality has nothing to do with aesthetic quality. ‘Ugly’ fiction is fiction, too, third-rate fiction is fiction, too.) Arranged in the form of two tables: I ontological status defined by distinguishing criterion type of foregoing category lyric and epic poetry, etc. language deviation from norm essentialist novel, etc. relationship of language to reality (with affinity to certain forms of ex‐ pression) fictionality (with affinity to certain deviations from norm) relational (with af‐ finity to essentialist categories) 29 From Theories of Deviation to Theories of Fictionality: The Definition of Literature II mode of reception defined by type of foregoing category lyric and epic poetry, etc. (“willing suspension of dis‐ belief ” not a necessary ele‐ ment of definition) (neglectable for all prac‐ tical purposes) novel, etc. willing suspension of dis‐ belief pragmatic This survey shows why it is so difficult to differentiate between fiction and discursive texts, between novel and historiography, ultimately between art and life. The distinguishing criteria are quite different, even heterogeneous, perhaps incommensurable.To take an example, a novel is different from a work of his‐ toriography in three ways, distinguished by three characteristics: (1) by the (re‐ lational) criterion of the relation of its language to reality, (2) by remains of the (essentialist) criterion of certain modes of expression, and (3) by the (pragmatic) criterion of certain modes of reception. A definition by three distinguishing marks as heterogeneous as these is a difficult matter. Apples and oranges are famously difficult to compare, but what about comparing apples and distances and main clauses? Is one of the above-mentioned criteria - essentialist, relati‐ onal, pragmatic - more decisive than the others? What about Erasmus Darwin’s The Botanic Garden: is its literary form as epic poem more important than its non-fictional aspect as discursive text? What about Jonathan Swift’s Modest Proposal: is its non-fictional form as discursive text more important than its ‘po‐ etical’ aspects (irony of the author, the author speaking through a persona)? I hope to have shown that there is no general answer to all possible cases. Each case is an individual case. One can use a cannon as a seat and a chair as a weapon. However, it still makes sense to speak of a cannon as a weapon and of a chair as a seat. 30 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens Vorbemerkung In der etwa hundertjährigen Geschichte der Entdeckung der Geschichtlichkeit der Welt spielen England und Schottland in mancher Hinsicht eine Vorreiter‐ rolle, beginnend mit dem kleinen Traktat des anglikanischen Bischofs Richard Hurd bis hin zu der epochemachenden Abstammungslehre von Charles Darwin, und so mag es angemessen sein, dass sich ein Anglist des großen Themas an‐ nimmt. 1. Vor der Entwicklung des historischen Bewusstseins Die Entdeckung, dass viele Dinge und Phänomene, die man bislang für unwan‐ delbar gehalten hatte, tatsächlich der Veränderung unterliegen, geschichtlich geworden sind, hat natürlich mit der zunehmenden Beschleunigung aller Le‐ bensvorgänge seit dem Beginn der Neuzeit zu tun. Früher, im Mittelalter, ver‐ liefen die Veränderungen so langsam, dass sie im Laufe eines Menschenlebens kaum bemerkbar waren, seien es Änderungen der Sprechweise, der Kleidungs‐ vorschriften, der Regierungsformen, der Sitten, der Gefühle. So lag es nahe an‐ zunehmen, die Welt sei unwandelbar. Auf den Morgen folgen Mittag, Abend und Nacht und dann wieder ein Morgen. Auf Ostern folgen Pfingsten und das Kir‐ chenjahr, auf den Sommer folgen der Herbst und dann wieder ein neues Jahr. Auf Geburt folgen Taufe und Heirat, Alter und Tod, davor aber Geburt der Kinder, deren Taufe, Heirat usw.: alles Kreisläufe des ewig Gleichen. Dann, so um die Mitte des 18. Jahrhunderts, holte das Denken die Verände‐ rungen der Wirklichkeit seit etwa 1500 ein. Damals wurde zum ersten Mal die Zeitlichkeit der Welt systematisch bedacht. Dass es bereits in der Antike eine blühende Geschichtsschreibung gab, spricht nicht gegen diese Behauptung. Mit Bewusstsein der Zeitlichkeit oder gar mit Geschichtsbewusstsein ist mehr ge‐ meint als die Kenntnis der historischen Fakten, mehr auch als die Reflexion auf die Prinzipien der geschichtlichen Entwicklung, auf den Sinn der Geschichte. Vielmehr ist historisches Bewusstsein das Verständnis seiner selbst und der Welt, in der man lebt, als geschichtlich geworden. Die Begriffe Vergangenheit und Gegenwart werden dabei zu Komplementärbegriffen. Geschichte gilt einer‐ seits nicht mehr naiv als zurückliegende Gegenwart, aber auch andererseits nicht mehr antiquarisch als von der Gegenwart wie durch einen Abgrund ge‐ trennt; vielmehr gilt Geschichte als Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei die Vergangenheit vor allem wegen ihres Bezugs zur 1 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: Mohr (Siebeck), 2 1965), S. 502. Und wenn gewissen Historikern, etwa Thukydides (ca. 460 - ca. 400 v. Chr.), gelegentlich Geschichtsbewusstsein zugestanden wird, dann blieben sie damit doch Ausnahmeerscheinungen, die kein allgemeines historisches Bewusstsein hervorzurufen vermochten. 2 Siehe den Bildband Die Très Riches Heures des Duc de Berry im Musée Condé Chantilly (München: Prestel, 2 1974). 3 So Millard Meiss im Vorwort des Bildbandes, S. 10. Gegenwart interessiert und die Gegenwart nicht zuletzt in ihrem Bezug zur Vergangenheit verständlich erscheint. Wenn, so sagt Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode, etwa Herodot oder Plutarch das Auf und Ab der menschlichen Geschichte durchaus zu beschreiben wussten, dann doch, ohne auf die Geschichte der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren. 1 Diese naive Distanzlosigkeit gegenüber der Geschichte zeigt sich am sinnfälligsten vielleicht in Gemälden des Mittelalters und der Renaissance. Ein Beispiel ist etwa die Miniatur „Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“ der Brüder Limburg aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (geschaffen von 1413 bis 1416). 2 Die Kunsthistoriker heben durchaus hervor, wie sorgfältig die Brüder Limburg exotisches Kolorit anbrachten, wie ihre Malerei die durch die Kreuzzüge erweiterten Kenntnisse ethnischer und kultureller Verschiedenheit an den Tag legt. 3 Und doch ist Mel‐ chior, der des Jesuskindes Füße küsst, wie der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos gekleidet; die Gefolgsleute der drei Könige tragen Turbane, als seien sie bereits Muslime; die Frauen hinter Maria gleichen hochmittelalterlichen Zofen; und über dem Geschehen des Jahres Eins erhebt sich die Silhouette des gotischen Bourges, der Hauptstadt des Berry, mit der Grosse Tour, der mächtigen Kathedrale und der Turmspitze der Sainte Chapelle. Aber - um in die Literatur und in eine spätere Zeit zu wechseln - noch die Anachronismen William Shakespeares sind berühmt. Da gibt es Hinweise auf Aristoteles in Troilus and Cressida, das doch zur Zeit des Trojanischen Krieges spielt; in Coriolanus, angesiedelt im alten Rom, wird auf die Rosenkriege und auf Brillen angespielt; und in anderen Stücken gibt es im antiken Rom und Ephesus sowie in Altbritannien läutende Glocken, die doch eine Erfindung des 14. Jahr‐ hunderts sind. Selbstverständlich ist das für die Kunst Shakespeares gleichgültig, ja bei genauerem Durchdenken der Sache ist der Anachronismus-Vorwurf sogar geradezu abgründig: man bedenke bloß, dass der wichtigste, weil ganze Werke durchwirkende Anachronismus bei Shakespeare der Gebrauch der frühneueng‐ lischen Sprache durch alte Griechen, Römer und Ägypter ist … Und auch das Wort von der naiven Distanzlosigkeit der Brüder Limburg gegenüber der Ver‐ gangenheit ist nicht als Vorwurf oder gar als ästhetische Kritik gemeint. Ein sol‐ 32 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 4 Nicht behandelt werden Theologie (Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, 1768-1834), Rechtswissenschaft (Friedrich Karl von Savigny, 1779-1861) und Wissenschaftstheorie (Wilhelm Dilthey, 1833-1911). Und außer Acht bleiben muss hier auch das weite Feld der Geschichte im Sinne von story, also die narrative Auffassung menschlicher Wirk‐ lichkeit in der Literatur. 5 Hierfür vgl. ganz allgemein Stephen Toulmin & June Goodfield, Entdeckung der Zeit (München: Goldmann, 1970). cher Vorwurf wäre seinerseits wieder unhistorisch, denn die anachronistische Darstellung der Geburt des Heilands kann interpretiert werden als Zeichen von deren Singularität und Geschichtsenthobenheit. Ist der Anachronismus-Vorwurf letztlich ästhetisch töricht, so ist jedoch in‐ teressant, dass er - mitsamt dem Begriff Anachronismus selbst - charakteristi‐ scherweise zur Zeit der verschiedenen europäischen Neo-Klassiken bzw. Klas‐ sizismen entsteht. In dieser Kulturepoche wird die früher weithin herrschende Distanzlosigkeit gegenüber der Vergangenheit abgelöst durch eine Verabsolu‐ tierung der Gesetze und Regeln der Vergangenheit, sprich der antiken Kultur. Vor allem im Bereich der Literatur werden Homer und Vergil, Pindar und Horaz, Sophokles und Seneca zur Norm. Will man die naive Distanzlosigkeit des europäischen Mittelalters und der englischen Renaissance im Umgang mit der Geschichte mit großen Worten be‐ legen, so könnte man von falscher „Aktualisierung“ und von „Präsentismus“ sprechen; im Fall der gelehrten oder kleinmütigen Verabsolutierung der Antike in der Klassizistik müsste man von „antiquarischem Akademismus“ reden. Beide Richtungen werden der Dialektik von Geschichte und Gegenwart nicht gerecht. Die Herausbildung des Verständnisses dieser Dialektik soll nun im folgenden nachgezeichnet werden, notwendigerweise in Auswahl 4 und in aller Kürze. Es gibt jedoch Wissenschaftstheoretiker, die diesen Prozess die tiefgreifendste Um‐ wandlung im menschlichen Denken überhaupt nennen. 5 2. Richard Hurd und die Historisierung des ästhetischen Geschmacks Das Prinzip des historischen Denkens wurde anhand von Kunstwerken ent‐ deckt, und die Entdeckung verbreitete sich von dort aus in den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften, schließlich auch in wichtige Bereiche der Naturwis‐ senschaften hinein. Wir Deutschen sind geneigt, die Entdeckung Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) zuzuschreiben, und wenn der Vorgang symbolisch auf einen Moment zusammengezogen werden sollte, 33 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 6 Die Entstehung des Historismus, ed. und eingeleitet von C. Hinrichs. Werke, Bd. III (Mün‐ chen: Oldenbourg, 1959), S. 257. 7 Die historische Methode findet sich in England übrigens nicht bei Richard Hurd allein; auch Thomas Blackwell (1701-58), Samuel Johnson (1709-84) oder William Warburton (1698-1779) müssten in einer Vollständigkeit beanspruchenden Abhandlung diskutiert werden. Für die Einzelheiten vgl. G. M. Miller, The Historical Point of View in English Literary Criticism from 1570-1770 (Heidelberg: Winter, 1913), oder D. M. Foerster, Homer in English Criticism: The Historical Approach in the Eighteenth-Century (New Haven: Yale U. P., 1947). dann würden wir wahrscheinlich Goethes Begeisterung für das Straßburger Münster 1770 nennen, als er, in den Worten Friedrich Meineckes, „das Eigen‐ gesetz und den Eigenwert der Gotik entdeckt hat.“ 6 Tatsächlich jedoch war es ein Engländer, der in einer bei uns fast unbekannten Schrift zehn Jahre zuvor zum ersten Mal die Kunstwerke der Gotik und des Mittelalters aus sich heraus zu begreifen unternahm und damit die historische Perspektive in die Literaturwissenschaft und in die Wissenschaften allgemein einführte: Bischof Richard Hurd (1720-1808) in seinen Letters of Chivalry and Romance (1762), einem Traktat in Form von zwölf Briefen an einen nicht näher bezeichneten Freund. 7 - Hurd setzt ein mit der Frage, ob die (von der Aufklärung inaugurierte bzw. geförderte) abschätzige Bewertung des „gotischen“ Mittelal‐ ters gerechtfertigt sei. (Allein aus dem - sachlich ja ganz unzutreffenden - Wort gotisch geht schon hervor, dass man sich diese Zeiten barbarisch und unzivili‐ siert vorstellte.) Wenn man nämlich genauer hinschaue, so Hurd, dann erkenne man auch in diesen auf den ersten Blick so fremden Kulturleistungen Sinn und Zusammenhang. So lässt sich nach Hurd das zunächst tatsächlich fremd anmu‐ tende Ritterwesen mit seinen seltsamen Turnieren vor dem Hintergrund der damaligen Feudalordnung sehr wohl verstehen. In derselben Weise der Ablei‐ tung des kulturellen Überbaus von der materiellen Basis erklärt er im weiteren das, was wir das ‚ritterliche Tugendsystem‘ nennen würden: den Kreuzzugsge‐ danken und die höfische Liebe vor allem. Sodann vergleicht Hurd die Taten der fahrenden Ritter mit denen der Helden Homers, angesichts der Wertschätzung des antiken Griechenlands ein brisanter und herausfordernder Gedanke, der das Mittelalter in den Augen seiner aufgeklärten Zeitgenossen gewissermaßen sa‐ lonfähig machen sollte. Wenn man, so argumentiert der Bischof, über die Riesen und Drachen der mittelalterlichen Literatur hochmütig lächelt, warum dann nicht auch über Homers Götter und Halbgötter? Und wo wirklich Unterschiede zwischen den antiken Heroen und den mittelalterlichen Rittern bestehen, wie zum Beispiel in der Religion und im Kampfverhalten, da erklärt Hurd diese Dif‐ ferenzen mit den unterschiedlichen sozio-politischen Bedingungen der beiden Zeitalter. Dann folgt eine Erörterung von Dichtern wie Homer, Shakespeare, 34 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 8 Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (München: Beck, 1975), S. 688. 9 Ebd., S. 689. Ariost, Tasso, Spenser und Milton, wobei Hurd auch hier versucht, diese von einem „aufgeklärten“ klassizistischen Standpunkt aus gering geachteten Dichter als große Künstler aufzuwerten; ja, er geht sogar noch weiter und legt dar, dass gotisch geradezu ein Synonym für poetisch ist und dass die genannten Autoren in einem höheren Sinn poetisch sind als die kanonischen Autoren des klassizis‐ tischen Geschmacks. Um zusammenzufassen: Alles, was existiert, hat Eigenwert und darf unsere volle Aufmerksamkeit verlangen; dabei bilden die materiellen Bedingungen, aus denen eine Sache entstand, die Grundlage der Deutung; die Kunstwerke der früheren Zeiten, hier speziell des Mittelalters und der Renaissance, folgen ei‐ genen Gesetzen und dürfen nicht mit fremder Elle, sondern müssen mit ihrem eigenen Maßstab gemessen werden; und: es gibt keine allgemein verbindlichen „klassischen“ Maßstäbe. Natürlich war diese Sicht nicht völlig neu. „Wir wissen“, schreibt Arnold Hauser, daß die Aufklärung nicht nur Historiker wie Montesquieu, Hume, Gibbon, Vico, Win‐ ckelmann und Herder aufwies und im Gegensatz zur offenbarungsmäßigen Erklärung der Kulturwerte ihren historischen Ursprung betonte, sondern dass sie auch schon eine Ahnung von der Relativität dieser Werte hatte. 8 Und dennoch, so fährt Hauser fort, sei das 18. Jahrhundert unhistorisch gewesen, weil es die Natur der historischen Entwicklung verkannte und sie als eine grad‐ linige Kontinuität auffasste. Die Idee, dass die Natur des menschlichen Geistes, der politischen Institutionen, des Rechts, der Sprache, der Religion und der Kunst nur aus ihrer Geschichte verständlich sei, und dass das geschichtliche Leben die Sphäre darstelle, in der diese Gebilde am unmittelbarsten, reinsten, wesenhaftesten in Erscheinung treten, wäre vor der Romantik einfach un‐ denkbar gewesen. 9 Dann freilich setzt die Entwicklung mit Macht ein und erfasst in kurzer Zeit die ganze schöne Literatur, die Literaturwissenschaft und - natürlich - die His‐ toriographie. Und wieder ist es England, das zumeist die ersten Schritte tut, wenn die Höhepunkte später auch überwiegend in Deutschland gesetzt werden. Die Literaturgeschichtsschreibung etwa beginnt mit der epochemachenden History of English Poetry (1774-81) von Thomas Warton (1728-90). Und in der Literatur selbst erlangte beispielsweise die noch junge und umstrittene Gattung des Romans Weltgeltung durch die „historischen Romane“ von Walter Scott (1771-1832). Angeregt durch die sich rapide vermehrenden antiquarischen und 35 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 10 Für nähere Einzelheiten vgl. z. B. Heinz-Joachim Müllenbrock, „Die Entstehung des Scottschen historischen Romans als Problem der Literaturgeschichtsschreibung“, Anglia 99 (1981) 355-378. 11 Wie Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, übersetzt von C. Neubaur und K. Kersten (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 3 1980), darlegt, hat diese in Rousseau kul‐ minierende Entwicklung eine Vorgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert. historiographischen Studien im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts und durch eine Vielzahl erster tastender Versuche solcher historischer Romane ab etwa 1790 schuf Scott mit Waverley (1812) das Muster der neuen Gattung. 10 Hier wurde zum ersten Mal erfolgreich versucht, in einer neuen Gattung zwischen Roman und Geschichtsschreibung die Dialektik von Vergangenheit und Gegen‐ wart darzustellen, die Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart zu deuten. 3. Jean-Jacques Rousseau und die Entdeckung der Entwicklung des Menschen aus dem Kind Gleichzeitig mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des ästhetischen Ge‐ schmacks, der Kunstwerke und im besonderen der Literatur wurde die „Ge‐ schichtlichkeit“ des menschlichen Lebens entdeckt, insofern als die Eigenge‐ setzlichkeit der einzelnen Altersstufen, vor allem der Kindheit und des Jugendalters, entdeckt wurde, eine Entdeckung, die gleichbedeutend war mit der Etablierung der neuzeitlichen Pädagogik und die den Weg ebnete für die Psychologie, speziell für die Seelen-„Archäologie“, die spätere Psycho-Analyse. Die epochemachende Schrift ist Jean-Jacques Rousseaus (1712-78) Emile ou de l’éducation von 1762, 11 erschienen also im selben Jahr wie Hurds Letters. Dieser pädagogische Roman ist die Übertragung des Entwicklungsgedankens im ganz wörtlichen Sinn von evolutio auf den Menschen (genauer: auf das Kind und den Heranwachsenden): Rousseaus Erziehungsmethode lässt das im Kind vorhan‐ dene „natürliche“ Potential sich „auswickeln“. Rousseau nennt diese Methode „éducation négative“ (im Zweiten Buch des Emile) und meint damit eine Erzie‐ hung, die störende zivilisatorische Einflüsse fernhält, damit der Keim wachsen kann, wie es seiner Natur entspricht. Im Grunde also wird Emile nicht erzogen, sondern wächst nach seinem Gesetz. Im Suchen nach den echten Bedürfnissen fand Rousseau, dass sich das System der Bedürfnisse im Ablauf des natürlichen Wachstums verändere: das Kind habe andere als der Knabe, der Knabe andere als der Jüngling und dieser andere als der Mann. Jede Stufe aber müsse nach ihrem Eigengesetz leben und sich ent‐ 36 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 12 Fritz Blättner, Geschichte der Pädagogik (Heidelberg: Quelle & Meyer, 12 1966), S. 96. 13 „Geschichtlichkeit und Erziehungswissenschaft“, in: Winfried Böhm / Jürgen Schriewer (Edd.), Geschichte der Pädagogik und systematische Erziehungswissenschaft, Festschrift für Albert Reble (Stuttgart: Klett, 1975), S, 65-89, hier S. 69. 14 Das Buch von Toulmin / Goodfield, Entdeckung der Zeit, beschreibt die Vorgeschichte. 15 Für die gleichwohl interessante Geschichte der Geologie und Kosmologie im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert vgl. Paolo Rossi, The Dark Abyss of Time (Chicago & London: The University of Chicago Press, 1984). falten, weil sonst die nächstfolgende sich nicht naturgemäß richtig werde ent‐ falten können. 12 Parallel also zur Entdeckung der Eigenart und des Eigenwertes des Mittelal‐ ters gegenüber der antiken Klassik durch Hurd entdeckt Rousseau Eigenart und Eigenwert des Kindesalters gegenüber der - sozusagen „klassischen“ - Erwach‐ senenwelt und historisiert damit das menschliche Leben. In den Worten von Rudolf Lasshahn: Erst die Kontinuität der eigenen Erfahrungen, das Bewußtsein von eigenen Erleb‐ nissen, die Einbeziehung dessen, was man einmal war, auch die Kontinuität mit den Handlungen in zurückliegenden Jahren konstituiert das Selbst. 13 Parallel zum Anachronismus bei Shakespeare und den Brüdern Limburg ver‐ stand man vor Rousseau und den zeitgenössischen Pädagogen Kinder als kleine Erwachsene, deren Kleidung beispielsweise auf zahllosen Illustrationen wie die Kleidung der Erwachsenen aussieht, nur eben kleiner. Die entgegengesetzte Entwicklung ist mit Freud erreicht, bei dem das Kind sozusagen der Vater des Menschen ist - um eine Formulierung aus William Wordsworths „Immortality Ode“ aufzugreifen -, wenn auch vor allem seiner Neurosen und Pathologien. 4. Das Alter des Kosmos und der Erde (James Usher, Georges Buffon, Immanuel Kant und Charles Lyell) Natürlich begannen Kosmologie und Geologie nicht erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. So eindrucksvoll aber die Arbeit der früheren Wissenschaftler und Philosophen auch ist: 14 Die Bestimmung des Alters der Welt und des zeitlichen Ablaufs der erdgeschichtlichen Formationsfolgen blieb so lange unmöglich, wie man im Prokrustesbett der von der Bibel gesetzten Zeitspanne verblieb. Das waren ungefähr 6000 Jahre. 15 Den Höhepunkt der Berechnung aufgrund der Angaben im Alten Testament stellt James Usher (1580-1656) dar, anglikanischer Erzbischof in Irland; er schrieb in den Annals of the World (1658): die Schöpfung 37 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 16 Laut dem Oxford Dictionary of Quotations (London: Guild Publishing, 1985), s. v. „Ussher, James“. 17 Principles of Geology … ( 1 1830-33, 12 1875). 18 1750 von T. Wright. fell upon the entrance of the night preceding the twenty third day of Octob. in the year of the Julian Calendar, 710, 16 also auf 6 Uhr abends am 22.10.4004 v. Chr. Das änderte sich um dieselbe Zeit, in der Hurd, Rousseau und die anderen bereits genannten Autoren schrieben. Georges Buffon (1707-88) setzte 1749 in seiner Théorie de la Terre das Alter der Erde erstmals dramatisch höher an. Die von ihm öffentlich genannte Zahl von 70.000 Jahren war allerdings immer noch geleitet von religiöser Rücksichtnahme; privat gab Buffon zu, dass auch diese Zahl noch viel zu niedrig angesetzt sei. Endlich, bereits im 19. Jahrhundert, ge‐ langte die Geologie zu Vorstellungen, wie wir sie heute von der Erdgeschichte haben. Der Name, der hier in erster Linie genannt werden muss, ist Charles Lyell (1797-1875), Schotte und mit mehreren Büchern um die Mitte des 19. Jahrhun‐ derts Begründer der modernen Geologie. Er revolutionierte die Ideen über das Alter der Erde, indem er die alten Katastrophen-Szenarien (Neptunismus oder Vulkanismus) ersetzte durch die Vorstellung eines allmählichen Entwicklungs‐ prozesses, 17 übrigens zum Teil bereits beeinflusst von Darwins Origin of Spe‐ cies. Parallel verlief die Entwicklung der Kosmologie. Der erste, der Zeitspannen in Betracht zog, die der Wirklichkeit nahekamen, war Immanuel Kant (1724-1804). In seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels … (1755) beschrieb er die gesamte Naturordnung nicht als etwas zur Zeit der Schöpfung Vollendetes, sondern als etwas, das noch immer im Entstehen be‐ griffen sei. Diese allmähliche Bildung der Ordnung aus dem Chaos brauchte ganz offensichtlich bisher unvorstellbare Zeiträume, und Kant spricht denn auch von Hunderten von Millionen Jahren. Allerdings blieb seine Schrift bis ins 19. Jahrhundert fast unbeachtet, und vieles war tatsächlich eher Spekulation als gesicherte Erkenntnis und gehört insofern zur Vorgeschichte der wissenschaft‐ lichen Kosmologie. Gleichwohl ist Kants Buch von erstaunlicher Kühnheit und prophetischer Weitsicht. Er erkannte, dass viele bisher als Sterne oder Nebel angesehene Objekte am nächtlichen Himmel vielleicht keine Sterne innerhalb der gerade erst 18 als Galaxie erkannten Milchstraße sind, sondern selbst Gala‐ xien, nur sehr weit entfernt. 38 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 19 Vgl. hierzu Helmut Gipper / Peter Schmitter, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik (Tübingen: Narr, 1979). 20 Die aber ohne Nachhall blieben, weil die dort geübte vergleichende Sprachbetrachtung anhand nicht-indogermanischer Sprachen vorgenommen wurde. 21 Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Inder (1808); Franz Bopp, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache, in Vergleichung mit jenem der griechischen, la‐ teinischen, persischen und germanischen Sprache (1816); Jacob Grimm, Deutsche Gram‐ matik (ab 1819). - Des Dänen Rasmus Kristian Rasks (1787-1832) Schrift Undersøgelse om det gamle Nordiske aller Islandske Sprogs Oprindelse von 1818 lag bereits 1814 im Manuskript vor, so dass ihr die Priorität vor Bopp gebührt. Sie wurde jedoch erst viel später - in Übersetzungen - wirklich bekannt. Bopps Arbeit wirkte vor allem aber wegen des Einbezugs des neu wiederentdeckten Sanskrit stärker. Mein Referat basiert auf den folgenden einführenden Darstellungen: Joseph Schrijnen, Einführung in das Studium der indogermanischen Sprachwissenschaft, übersetzt von W. Fischer, (Heidel‐ berg: Winter, 1921); Hans Krahe, Indogermanische Sprachwissenschaft, 2 Bde. (Berlin: de Gruyter, ³1966/ 1969); Louis Hjelmslev, Die Sprache: Eine Einführung, übersetzt von O. Werner (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968). 5. Die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Sprachen (Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Jacob Grimm) Die Sprachwissenschaft ist eine weitere Disziplin, die in dem Zeitraum zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts die Geschichtlichkeit ihres Gegenstands erkannte, nämlich die der menschlichen Sprache, die vorher als unwandelbar gegolten hatte. (Man erinnere sich an die verschiedenen Experi‐ mente um herauszufinden, welche Sprache Adam und Eva im Paradies gespro‐ chen hatten, und dabei ging man selbstverständlich davon aus, dass das eine bekannte Sprache sein müsse, vielleicht Hebräisch.) Genauer betrachtet lassen sich bei der Entwicklung der Sprachwissenschaft zwei große Richtungen unterscheiden, die damals entstanden: eine mehr sprach‐ philosophische, die zur allgemeinen Sprachwissenschaft führt und die uns hier nicht interessiert, sowie eine sprachhistorische, die zu den Einzeldisziplinen Germanistik, Romanistik usw. führt. 19 Diese eigentliche Sprachwissenschaft - die erste institutionalisierte Sprachwissenschaft im modernen Sinn der Wortes Wissenschaft überhaupt - ist diachronisch ausgerichtet. Nach einigen Anfängen im 18. Jahrhundert 20 beginnt diese vergleichende und historische Sprachwis‐ senschaft mit Friedrich Schlegel (1772-1829), Franz Bopp (1791-1867) sowie Jacob Grimm (1785-1863) und ihren berühmten einschlägigen Werken aus den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts. 21 Das Ziel dieser Sprachwissenschaft ist die Erforschung genetischer Sprachverwandtschaften. Den Sprachwissenschaftlern fiel auf, wie ähnlich sich die grundlegenden Wörter in bestimmten Sprachen 39 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 22 Schrijnen, Einführung, S. 45. 23 Toulmin & Goodfield, Entdeckung der Zeit, S. 112. sind: beispielsweise drei oder ist oder Bruder. Noch wichtiger sind jedoch die Übereinstimmungen der grammatischen Strukturen. Als Ergebnis zahlreicher Detailstudien wurde deutlich, dass die meisten zwi‐ schen Island und Indien gesprochenen Sprachen „verwandt“ sind, zu einer großen „Sprachfamilie“ gehören. Diese Sprachengruppe nannte man Indoger‐ manisch oder Indoeuropäisch. Ihre Verwandtschaft ergibt sich aus der weitgeh‐ enden Übereinstimmung in der gesamten formalen Struktur, d. h. in der Flexion der Nomina und Verba, in der Wortbildung, im Wortschatz, im Lautstand und in der Syntax. Da die Ähnlichkeiten der Sprachen immer größer werden, je weiter man im Vergleich zurückgeht, nahm man an, dass es eine gemeinsame Ursprache gegeben habe, das Urindogermanische. Heute nimmt man an, dass die Indogermanen ursprünglich in Mitteleuropa oder in Osteuropa lokalisiert waren und sich im 4. Jahrtausend von dort ausbreiteten. Nun sind die Ausdrücke verwandt und Sprachfamilie allerdings nur meta‐ phorisch zu verstehen, denn natürlich kann eine Sprache nicht eigentlich von einer anderen „abstammen“, da sie ja nichts Konkretes und unabhängig von den Sprechenden Bestehendes ist. „Verwandte Sprachen sind in Wirklichkeit ein und dieselbe Sprache, die im Laufe der Zeiten im Munde der Sprechenden vielfach verändert wurde.“ 22 Im Grunde also erkannte man, dass Sprachen sich verän‐ dern, historische Gebilde sind, auch wenn sich bei weiteren Forschungen zeigte, dass die Entwicklung komplizierter verlief als man zuerst glaubte. 6. Die Entdeckung gesellschaftlichen Wandels: Die Historiographie Der eine oder andere wird sich vielleicht gefragt haben, wo denn die Geschichts‐ schreibung selbst bleibt, die historische Disziplin par excellence, hier verstanden als die Wissenschaft von der Geschichte der menschlichen Gesellschaft (einge‐ schlossen Politik, Krieg, Kultur). Tatsächlich begann die Entdeckung der Ge‐ schichtlichkeit der Welt nicht auf dem Felde der menschlichen Gesellschaft. Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein war man sich weitgehend nicht klar, „welch tiefe Spuren die Zeit im menschlichen Leben und Wirken hinterlassen hatte.“ 23 Vor allem aber entnahmen frühere Geschichtstheorien - etwa die christ‐ liche Auffassung von der Heilsgeschichte - ihre Kategorien zum Verständnis der Zeitläufe nicht diesen selbst. Geschichte ist aber nicht verständlich aus dem Studium der Bibel, sondern nur aus ihr selbst: und diese reflexive Formulierung ist beabsichtigt, denn, wie die Doppeldeutigkeit des Wortes Geschichte anzeigt, 40 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte ist Geschichte sowohl Geschehen wie auch Beschreibung (und damit Verstehen) des Geschehens. Als Vorläufer einer solchen von historischem Bewusstsein getragenen Ge‐ schichtsphilosophie ist Giambattista Vico (1668-1744) zu nennen. Und dann muss Herder mit seinen vier Bänden Ideen zur Philospohie der Geschichte der Menschheit (1784-91) erwähnt werden; hier wird zum ersten Mal versucht, Na‐ turgeschichte und Menschheitsgeschichte zusammen zu sehen, womit eine Tra‐ dition begründet wird, die dann von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Auguste Comte (1798-1857) und Karl Marx (1818-83) fortgeführt wurde. Ihre Sicht der Geschichte war jedoch noch weitgehend theologisch: säkularisierter Rest der christlichen Idee der Heilsgeschichte. Erst die moderne „bürgerliche“ Geschichtswissenschaft seit Leopold von Ranke (1795-1886) und seiner Ge‐ schichte der germanischen und romanischen Völker von 1494 bis 1535 (1824) glaubt nicht länger, den Gang der Geschichte, ihre Richtung zu kennen, und schreibt Geschichte nicht mehr im Sinne eines solchen Vor-Urteils (wenn auch Ranke als konservativ eingestellter Katholik glaubte, dass es in Gott einen Sinn gebe, nur eben uns unerkennbar.) 7. Die Einführung der Zeit in die Physik: Die Thermodynamik Auf diese Art war um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschichtliches Denken in viele Wissenschaften eingedrungen. Eine große Ausnahme jedoch gab es und zwar diejenige Wissenschaft, die die fortgeschrittenste war und das Modell für Wissenschaftlichkeit abgab: die Physik. Und es ist auch schwer einzusehen, wie die Wissenschaft von den beobachtbaren Naturvorgängen und ihren Gesetz‐ mäßigkeiten historisiert sollte werden können, läuft doch der Begriff der Ge‐ setzmäßigkeit auf zeitlose Gültigkeit hinaus. Zwar hat sich auch in der Physik vieles, das einst als unwandelbar galt - etwa das Molekül -, als der Veränderung unterworfen herausgestellt, aber der Kernbereich - die Naturgesetze - eben nicht. Ihre bis dahin höchste Ausprägung hatte die Physik in der klassischen Me‐ chanik von Isaac Newton (1643-1727) gefunden, dem System der Naturbeschrei‐ bung auf der Basis der Gravitationskräfte. Nach dieser Auffassung ist die Welt eine Maschine, und daher spricht man von „mechanistischem“ Denken. Die Zu‐ kunft ist durch die Gegenwart bzw. jeden beliebigen Moment der Vergangenheit determiniert. Die klassische Mechanik ist zwar nicht „statisch“, denn sie unter‐ sucht ja nicht zuletzt die Bewegungen von Körpern unter dem Einfluss von Gravitationskräften, aber in dieser sogenannten klassischen „Dynamik“ ist die Zeit lediglich ein geometrischer Parameter. Vergangenheit und Zukunft spielen 41 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 24 Für das Folgende stütze ich mich auf Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden: Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften (München & Zürich: Piper, ²1980). 25 Das Fischer Lexikon: Physik, ed. Walter Gerlach (Frankfurt a. M. & Hamburg: Fischer, 1960), s. v. „Thermodynamik“, S. 362. ein und dieselbe Rolle. Insofern kennt dieses Weltbild keine qualitativen und keine unvorhersehbaren Veränderungen, kein echtes ,Werdenʻ. Das änderte sich mit der Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Ther‐ modynamik, der den Begriff der Evolution in die Physik einführte. 24 Dieser Zweite Hauptsatz wurde 1850 von Rudolf Clausius (1822-88) aufgestellt. Die Fassung, die für die Zwecke dieser Argumentation am besten geeignet ist, be‐ sagt, dass Wärme von selbst nur von höherer zu niederer Temperatur übergeht. Man kann den Zweiten Hauptsatz auch den Satz von der Vermehrung der En‐ tropie nennen; er besagt dann, „daß bei einem in einem abgeschlossenen System ablaufenden natürlichen (irreversiblen) Prozeß Zustände wachsender Wahr‐ scheinlichkeit durchlaufen werden, bis der Prozeß schließlich im Gleichgewicht, dem Zustand maximaler Wahrscheinlichkeit, endet.“ 25 Das bedeutet, dass einige Gesetze der Thermodynamik nicht symmetrisch gegenüber Zeitumkehr sind. Zukunft und Vergangenheit spielen verschiedene Rollen. Das Naturgeschehen hat einen Zeitsinn. Bringt man beispielsweise zwei Körper mit verschiedenen Temperaturen in enge Berührung, so stellt sich nach einer bestimmten Zeit ein thermisches Gleichgewicht her; das Umgekehrte hat man noch nie beobachtet. Wenn eine Porzellantasse auf den Küchenboden fällt, zerbricht sie - jedenfalls meistens; das Umgekehrte, dass sich nämlich ein Scherbenhaufen spontan zu einer Tasse zusammenfügt, hat man noch nie beob‐ achtet. Man spricht hier von „irreversiblen Prozessen“, und der Zweite Haupt‐ satz der Thermodynamik drückt die Tatsache aus, dass irreversible Prozesse eine Richtung der Zeit einführen. Und ohne die Richtung der Zeit einzuführen, kann man keine Prozesse, die eine Entwicklung einschließen, auf nicht-triviale Weise beschreiben. Damit erhalten die Phänomene der unbelebten Natur eine ge‐ schichtliche Dimension, erhält der Begriff der Entwicklung einen Sinn auch in der Welt von Masse und Energie. 8. Der Weg zu Darwins Abstammungslehre (Carl von Linné, Johann Wolfgang von Goethe, Erasmus Darwin, Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin) Ansätze zu einem geschichtlichen Denken in der Biologie gibt es seit alters her, aber stets nur als unsystematische Ahnungen. Normalerweise ging man von der Konstanz der Arten aus, und dieses statische Denken in der Biologie feierte im 42 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte 26 Systema naturae (1735, 12 1766). 27 Eine der neueren zusammenfassenden Darstellungen ist: Tore Frängsmyr (Ed.), Lin‐ naeus: The Man and His Work (Berkeley etc.: University of California Press, 1983). 28 Verfolgt seit der Italienreise 1786-88, aber nur in Briefen und autobiographischen Äu‐ ßerungen niedergelegt; weiterentwickelt in dem Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790). 29 Da das Ganze in Versen abgefasst ist, handelt es sich ästhetisch um einen Geschmacks‐ irrtum, der bald in einer Parodie tödlicher Lächerlichkeit preisgegeben wurde. 30 Zu Lamarck s. als Einführung: L. J. Janova, Lamarck (Oxford & New York: OUP, 1984). 31 Hier folge ich im weiteren Wolfgang Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evoluti‐ onstheorie (Berlin: Ullstein, 1984). Zeitalter der Aufklärung gerade noch einmal einen großen Triumph, und zwar im Werk Carl von Linnés (1707-78), 26 dem wir das System der Benennung der Pflanzen und Tiere und überhaupt die Systematisierung der Vielfalt der Lebe‐ wesen verdanken, eine Taxonomie, die von der Unveränderlichkeit der Arten ausgeht. 27 Dann aber setzte sich immer unabweisbarer der Gedanke durch, dass auch die Lebewesen geschichtlich geworden sind, wie der Kosmos und die Erde. Goe‐ thes Idee der „Ur-Pflanze“ 28 gehört hierhin, betrifft allerdings eher die Verände‐ rungen beim Wachstum der einzelnen Pflanzenart, ähnlich wie Rousseaus Denken die Entwicklung des einzelnen Menschen vom Säugling über das Kind zum Erwachsenen. Auch Erasmus Darwins (1731-1802) Zoonomia or the Laws of Organic Life (1794-96) ist zu erwähnen, 29 worin bereits vieles angedeutet ist, was der berühmte Enkel dann, auf breite Datenbasis gestützt, zu einer systemati‐ schen Theorie ausführen sollte. Der erste, der eine echte - wenn auch falsche - Evolutionstheorie aufstellte, war Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829). Seine Philosophie zoologique von 1809 - zu ihrer Zeit übrigens fast gänzlich ignoriert - leitet die Historisierung der Natur ein. 30 Lamarcks Evolutionstheorie ist jedoch keine Deszendenztheorie; 31 vielmehr findet nach Lamarck die spontane Urzeugung von Leben aus unbe‐ lebter Materie immer wieder statt, und diejenigen Arten, deren Urzeugung am längsten zurückliegt, entfalten sich zu den höchsten Individuen. In dieser Sicht ist der Mensch die älteste Spezies; die Würmer etwa gehören zu den jüngsten Arten, was man daran erkennt, dass sie noch nicht Zeit genug hatten, sich wei‐ terzuentwickeln! Eine echte Deszendenztheorie - und damit die Vollendung der Historisierung der belebten Natur - ist dann die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882), vorgelegt in dem Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection …, 1859 publiziert, aber schon seit 1837 in den Grundgedanken konzi‐ 43 Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens 32 Eine gute Darstellung der Entwicklung der Theorie Darwins findet sich bei Peter J. Bowler, Evolution: The History of an Idea (Berkeley etc.: University of California Press, 1984), S. 142 ff. Bekanntlich zögerte Darwin mit der Veröffentlichung, bis die in dieselbe Richtung zielenden Publikationen von Alfred Russel Wallace (1823-1913) seine Priorität bedrohten. - Insgesamt war die Zeit nun reif. Viele Fossilfunde wiesen in dieselbe Richtung. So behauptete z. B. der Lehrer Johann Carl Fuhlrott 1857, das ein Jahr zuvor im Neandertal bei Düsseldorf gefundene Skelett sei der Überrest eines Vorfahren des heutigen Menschen. 33 In der Abhandlung „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ (1917), wieder abgedruckt in den Gesammelten Werken, 18 Bde. (London: Imago Publishing, 1947 u. ö.), Bd. 12, S. 7-11. - Die anderen Kränkungen sind die kosmologische durch Nicolaus Kopernicus (die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Universums) und die psychologische durch Freud selbst (der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Haus). piert. 32 Mit dieser Deszendenztheorie, die hier nicht vorgestellt zu werden braucht, ist die Biologie - auch - eine historische Wissenschaft. Mit Darwins Evolutionstheorie ist der Höhepunkt der Historisierung der Welt und ihrer Phänomene zwischen circa 1760 und 1860 erreicht - Höhepunkt in‐ sofern, als diese Theorie von allen Historisierungen die größten Auswirkungen auf das Weltbild der Menschen hatte. Deswegen kam sie ja auch relativ spät: sie steht dem Wortlaut der Heiligen Schrift entgegen; sie machte die Annahme eines Schöpfergottes unnötig oder verschob den Schöpfungsakt mindestens in den fast unendlich weit entfernten Moment des Urknalls; mit anderen Worten: Sie eliminiert die Teleologie aus den Naturwissenschaften, also die These, dass alles auf ein Ziel hin - von Gott - eingerichtet sei; und sie nimmt dem Menschen seine besondere Stellung im Reich des Lebendigen. So nannte Sigmund Freud Darwins Abstammungslehre eine der großen „Kränkungen“ des Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis in den Jahrhunderten seit Beginn der Neu‐ zeit: Er ist nur mehr ein hochentwickeltes Tier. 33 44 I Kulturpolitik, Literaturtheorie, Kulturgeschichte II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 1 Vgl. z. B. die Sammlung bei Philip Terry (Ed.), Ovid Metamorphosed (London: Chatto and Windus, 2000), mit Erzählungen u. a. von Cees Nooteboom, Joyce Carol Oates, A. S. Byatt, Marina Warner, Gabriel Josopovici, Margaret Atwood. 2 Mister Heracles: After Euripides (London: Faber Paperback, 2000). 3 The Bloody Chamber and Other Stories (London et al.: Penguin, 1981). 4 Sara George, The Journal of Mrs Pepys: Portrait of a Marriage (London: Review, 1998). Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen Abstract Re-writes - that is, the reworking of famous works of literature - have been common literary practice since ancient Greece at least. Nevertheless, re-writes are a characteristic genre of contemporary English and American literature, and the present essay is an attempt at explaining the phenomenon and at connecting it to related types of metafiction, e.g., sequel, ‘prequel’ and adaptation. Several novels are then discussed as examples of the various forms of hybridity: A. Fell's The Mistress of Lilliput (against the foil of Gulliver’s Travels), J. Updike’s Gertrude and Claudius (Hamlet), H. Fieldings’s Bridget Jones’s Diary (Pride and Prejudice), E. Tennant’s The Two Women of London (Dr. Jekyll and Mr. Hyde). I Die letzten zwei oder drei Jahrzehnte sind, vor allem in der englischen und amerikanischen Literatur, die Blütezeit einer Untergattung des Romans bzw. der Erzählliteratur sowie des Dramas, die ich fürs erste mit dem englischen Wort re-write bezeichnen will, erstens, weil sich dieser Terminus in der englischspra‐ chigen Literaturwissenschaft eingebürgert hat, und zweitens, weil er neutraler als andere mögliche Begriffe ist und keine Vor-Urteile transportiert. Ovids Metamorphosen (ca. 10 n. Chr.) werden in zahlreichen Bearbeitungen, Neufassungen und Pastiches wiedererzählt. 1 Der Herakles des Euripides (zwi‐ schen 421 und 415 v. Chr.) erhält eine Neufassung - halb Übersetzung, halb Pa‐ limpsest - von Simon Armitage. 2 Bekannte europäische Märchen werden von Angela Carter in veränderter Form neugestaltet, z. B. Ritter Blaubart oder La Belle et la Bête. 3 Das berühmte Tagebuch, das Samuel Pepys (1659-69) führte, erhält ein Pendant aus der Sicht seiner Frau Elizabeth. 4 Charles Dickens, als Vertreter einer realistischen Romankonzeption ein eher unerwarteter Kandidat für postmoderne Spielereien mit Rückbezüglichkeit, Wirklichkeitsverlust und Pan-Fiktionalismus, hat so viele re-writes inspiriert, dass er „zu den am ergie‐ 5 Annegret Maack, Dickens postmodern? Dickens als Prätext in Romanen von Bird, Reed und Acker, Literatur in Wissenschaft und Unterricht 30 (1997) 17-29, hier 17. 6 (London: Gollancz, 1938). 7 (London: Cape, 1979). 8 (USA, 1978). 9 Z. B. Moisés Kaufman, Gross Indecency: The Three Trials of Oscar Wilde (London: Me‐ thuen, 1998). 10 (London: Methuen, 1998). bigsten geplünderten Autoren der englischen Literatur” gezählt werden kann, 5 vermutlich weil einige seiner Romane so sehr im allgemeinen Bewusstsein Eng‐ lands präsent sind, dass ihr Wiedererkennungswert in den Neugestaltungen besonders hoch ist - eine Voraussetzung dafür, dass ein re-write als solches er‐ kannt wird. Henry James inspirierte mit The Awkward Age (1899) Elizabeth Bo‐ wens The Death of the Heart; 6 mit The Author of Beltraffio (1885) Philip Roths The Ghost Writer  7 und mit The Altar of the Dead (1895) François Truffauts Film La Chambre verte. 8 Oscar Wilde hat Dutzende von Dramen und Romanen in‐ spiriert, viele davon in den letzten Jahren, oft einfach in dem Sinn, dass man sich seiner Aphorismen und Paradoxa bedient, wenn man sein Leben, seine Prozesse, seine Werke darstellt, 9 gelegentlich aber auch im engeren Sinn eines re-write, indem beispielsweise Mark Ravenhills Theaterstück Handbag, or The Importance of Being Someone  10 Wildes The Importance of Being Earnest (1895) in die Gegen‐ wart holt (und dabei weitgehend transformiert). Derart könnte man nun fortfahren und Titel um Titel nennen, und einige werden im folgenden an geeigneter Stelle auch noch erwähnt und genauer er‐ örtert werden. Aber, so wird man vielleicht fragen, ist das denn wirklich ein neues Phänomen? Neugestaltungen mythologischer Stoffe und literarischer Sagen gibt es in der Tat seit Homer und damit von Anfang an. Die Erfindung einer neuen Handlung durch einen Dramatiker oder einer unerhörten Geschichte durch einen Epiker war sogar eher die Ausnahme, bis in der Neuzeit und vor allem seit der Romantik die Hochschätzung des Originalgenies in der Literatur sowie gesamtgesell‐ schaftlich die Zunahme der Individualisierungstendenzen dazu führten, dass die Autoren eigene Stoffe erfanden und thematische oder technische Innovation zu höchsten Werten wurden. Homers Epen (8. Jhd. v. Chr.) sind bekanntlich „nur“ die schriftliche Fixierung tausendfach mündlich tradierter Mythen und Sagen. Die Tragödien von Ais‐ chylos, Sophokles, Euripides (alle 5. Jhd. v. Chr.) oder Seneca (1. Jhd. n. Chr.) sind Neugestaltungen wohlbekannter Stoffe, und zumindest für Euripides gilt bereits die uns Spätgeborenen vertraute Motivation der Wiederbelebung toter Mythen und abgelebter tragischer Gestaltungsmuster. Virgils Aeneis (7-19 n. Chr.) wird 48 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 11 Vgl. Henry James, The Complete Tales, Bd. II und Bd. VIII (London: Hart-Davies, 1963 und 1965). 12 John J. White spricht von Joyces Technik als von „literary prefiguration“; Mythology in the Modern Novel: A Study of Prefiguration Techniques (Princeton, N. J.: Princeton U. P., 1971), S. 11 ff. 13 Für zusätzliche Beispiele aus der Romania vgl. Jürgen von Stackelberg, Gegendich‐ tungen: Fallstudien zum Phänomen der literarischen Replik (Tübingen: Niemeyer, 2000). 14 Für die häufigen Rückgriffe post-kolonialer Reiseschriftsteller auf literarische Prätexte s. die Dissertation von Kati Stammwitz, Travel Writing the Empire doesn’t imply: Studien zum postkolonialen Reisebericht (Trier: WVT, 2000), vor allem S. 73 ff. von den Fachleuten sowohl in zahllosen Details als auch in den Großstrukturen als imitatio Homers bezeichnet, und der später zum Schulbuch-Klassiker avanc‐ ierte Autor konnte von manchen Kritikern zunächst als plagiator gescholten werden. Der oben als Inspirationsquelle angeführte Ovid war mit seinen Meta‐ morphosen selbst der Anverwandler par excellence mythischer Stoffe und lite‐ rarischer Gattungen. Wie hier, so galt auch im mittelalterlichen Epos der künstlerische Gestal‐ tungswille dem Detail, der psychologischen Motivation, der sprachlichen Form, kaum jedoch der Erfndung originaler Geschichten oder Charaktere. Und wenn sich ein mittelalterlicher Dichter doch einmal die Erfindung eigener Abwei‐ chungen gestattete, dann verwies er regelmäßig auf eine Quelle (die es vermut‐ lich nicht gab), etwa Geoffrey Chaucer in seinem Versroman Troilus and Criseyde (1385-90). Selbst noch William Shakespeare, das neuzeitliche literarische Genie, verzichtet weitgehend auf Erfndung der großen Linien der Handlung, und ich meine hier natürlich nicht die history plays, die per definitionem re-writes von Geschichtsquellen sind, sondern Werke wie beispielsweise The Winter’s Tale (1610/ 11), dessen Handlung über weite Strecken recht getreu Robert Greenes Prosaromanze Pandosto (1588) folgt. Und - um den Bogen in die Nähe unserer Gegenwart zu spannen - der ebenfalls oben als Vorlage für re-writes genannte Henry James hat selbst re-writes verfasst, etwa Guest’s Confession (1872, mit The Merchant of Venice (1596-98) als Prä-Text) oder The Marriages (1891, mit George Merediths Emilia in England (1864) als Bezugstext). 11 Diesen Beispielen könnten auch im 20. Jahrhundert Listen über Listen hinzugefügt werden, von James Joyces Ulysses (1922, mit der Odyssee als Folie), den man normalerweise gar nicht als re-write wahrnimmt, 12 bis hin zu zahlreichen Dramen und Romanen mit Bezug auf die Artus- und Gralssagen. 13 Und doch scheint es mir gerechtfertigt, für die letzten Jahre des letzten Jahrhunderts von einer eigenen Blütezeit der Gattung re-write zu sprechen, die unter anderem eng mit politischen Bewe‐ gungen wie dem Feminismus oder der Entkolonisierung verbunden ist. 14 49 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 15 Schöne zusätzliche Konnotationen ergeben sich dadurch, dass engl. counterfeit u. a. auch „Falschgeld“ heißt; André Gides Roman Les Faux-Monnayeurs (1925) heißt in der eng‐ lischen Übersetzung The Counterfeiters. 16 Gegendichtungen, passim. Da es sich also bei re-writes um ein altehrwürdiges Phänomen handelt, gibt es natürlich auch schon eine lange Begriffsgeschichte, die von imitatio und aemulatio bis Parodie, Travestie oder Pastiche reicht. Entsprechend den neuen Entwicklungen im englisch-sprachigen Raum bietet sich jedoch eine neuere Terminologie an, und so wurde hier bisher von re-writes gesprochen. Den charakteristischen revisionistischen und subversiven An‐ spruch vieler re-writes gibt hingegen der alte Terminus Kontrafaktur besser wieder als das neutrale Wort re-write. Mit Kontrafaktur - beziehungsweise den entsprechenden lateinischen oder italienischen Bezeichnungen - wurden im Mittelalter geistliche Umdichtungen eines weltlichen Liedes unter Beibehaltung der Melodie bezeichnet, also die Revision des Textes unter Beibehaltung des Kontextes. In Analogie dazu gab es dann auch die Revision des Kontextes unter Beibehaltung des Textes. 15 Ein bekanntes Beispiel ist das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, dessen von Martin Luther stammender Text (1534) einen früheren Text ersetzte, der da lautete: „Aus fremden Landen komm ich her.“ Allerdings klingt Kontrafaktur im Deutschen sehr fremd. Der schon angeführte Jürgen von Stackelberg schlägt „Replik“ oder „Gegendichtung“ vor. 16 Nicht eingeführt, aber vielleicht einen Versuch wert, ist die Prägung Wi(e)der‐ erzählung, wo Wieder-Erzählung für den neutralen Aspekt - wie re-write - steht und Wider-Erzählung für den subversiven Aspekt - wie Kontrafaktur. Unter‐ scheiden sollte man auf jeden Fall zwischen Wi(e)dererzählung und Nacherzäh‐ lung („re-telling“), auch wenn es zwischen den beiden Bereichen keine genau definierbare Grenze gibt, sondern eine ausgedehnte Grauzone. Re-writes in diesem Sinn beziehen sich in Handlung und Figurenkonstellation - mehr oder weniger offensichtlich und getreu - auf einen bibliographisch genau bestimmbaren älteren literarischen Text. Insofern gehören sie zu der Großgattung Meta-Literatur, also Literatur „über“ Literatur. Mit dieser Zuord‐ nung wird ein Ansatz verfolgt, der den Akzent anders setzt als die vielen Unter‐ suchungen, die mit dem gegenwärtig modischen Begriff Intertextualität ar‐ beiten. Ich tue das, weil der Begriff - von Julia Kristeva eingeführt - Assoziationen an das Theoriegebäude des Poststrukturalismus weckt, was ich gerne vermeiden würde, und weil der Begriff auch in seiner vernünftigen des‐ 50 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 17 Wie etwa bei Ulrich Broich & Manfred Pfister (Edd.)‚ Intertextualität: Formen, Funkti‐ onen, anglistische Fallstudien (Tübingen: Niemeyer, 1985). kriptiven Verwendung 17 eine viel zu breite Bedeutung hat, um das Spezifische von Wi(e)dererzählungen zu treffen. Wenn man die Eigentümlichkeit, dergemäß Meta-Literatur meta ist, zum Kri‐ terium einer Unterteilung der Gattungen macht, so ergibt sich etwa die folgende Klassifikation. 1. Werke, in denen ausschließlich, überwiegend oder jedenfalls an zentraler Stelle, über literarische Konventionen, Inspiration, Fiktionalität und ähn‐ liche Probleme reflektiert wird, vorzugsweise über solche, die für das Werk selbst von Belang sind; poetologische Gedichte, etwa Sonette über das Sonett, wären Beispiele. Hier könnte man von poetologischer Meta-Li‐ teratur sprechen. 2. Werke, in denen die eigene Niederschrift vorgeführt wird, in denen Autor, Erzähler und Figuren sich mischen, oder in denen auf andere ähnliche Weise die logischen Ebenen von Darstellung und Dargestelltem fusioniert werden; Beispiele wären Werke, deren Struktur russischen Puppen ähnelt - Theater auf dem Theater oder Binnenerzählung in einer Rahmener‐ zählung oder C. M. Eschers sich wechselseitig zeichnende Hände, oder die Romanfigur als Verfasser des vorliegenden Romans oder die Roman‐ figur trifft auf ihren Autor. Hier könnte man von ipsoreflexiver Metalite‐ ratur sprechen. 3. Werke, in denen ein literarischer Text die Stelle einnimmt, die in realisti‐ schen Werken von der Welt eingenommen wird. Dieser Typ könnte post‐ textuelle Meta-Literatur genannt werden, weil die Welt, die dargestellt wird, nicht die reale Welt ist, sondern die fiktionale Welt eines (anderen) Buches, weil sich ein Werk dieser Art auf eine literarische Vorlage bezieht. Diese Liste ist sicher nicht vollständig, aber da es im Zusammenhang mit re-writes auf den letzten Typ ankommt, kann ich hier abbrechen. Die Definition des dritten Typs von Meta-Literatur fasst also all diejenigen Texte zu einer Gruppe zusammen, die sich auf andere Texte als ihre vorgängige Realität beziehen. Damit ist Folgendes gemeint. Realistische Literatur ist so an‐ gelegt, als beschriebe sie eine außerhalb ihrer selbst existierende Welt; tatsäch‐ lich erschafft sie die beschriebene Welt allerdings erst im Akt der scheinbaren Beschreibung, die in Wirklichkeit also Darstellung ist. Diese Welt ist im Prinzip meist unsere Welt, wie wir sie unabhängig von ihrer „Beschreibung“ in der Li‐ teratur kennen, aber das muss nicht so sein, wie man am Beispiel von Science 51 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen Fiction oder Fantasy-Literatur sieht, die hier aber dennoch realistisch genannt werden würden, weil sie eine unabhängig vom Text existierende reale Welt zu beschreiben scheinen. Bei dem obigen dritten Typ von Meta-Literatur stammt die dargestellte - scheinbar beschriebene - Welt jedoch selbst wieder (zum Teil) aus einem literarischen Werk. Der Weltbezug ist insofern indirekt, als sich erst die literarische Vorlage auf die Welt außerhalb der Bücher bezieht. Je nach Eigentümlichkeit des Bezugs auf ein anderes Buch kann man folgen‐ dermaßen unterscheiden: a. Folgeromane (sequels, continuations), das heißt Romane - gelegentlich auch Dramen -, die die Handlung und die (Haupt-)Charaktere eines lite‐ rarischen Werks - des Originals, der Vorlage oder des Prä-Textes - fort‐ führen; b. Vervollständigungen (completions), das heißt Romane, die die Handlung eines Romans fortführen, der selbst unvollendet geblieben war; c. Vor-Geschichten (precursors; scherzhaft, wenn auch etymologisch be‐ denklich, neuerdings oft prequels genannt), das heißt Romane, die die Vorgeschichte einer Roman- oder Dramenhandlung erzählen; d. Adaptionen (adaptations), die Transferierung eines Werks in eine andere Gattung oder in ein anderes Medium; e. re-writes, also Romane, in denen ein bekannter Roman neugeschrieben wird, was auf vielfältige Weise geschehen kann, zum Beispiel indem die‐ selbe Handlung aus einer andere Erzählperspektive geschildert wird, indem der Stoff in die Gegenwart transponiert - und entsprechend ver‐ wandelt - wird oder indem dieselbe Handlungslinie von einer anderen Gruppe von Figuren getragen wird, etwa von Frauen statt, wie im Aus‐ gangstext, von Männern. Natürlich sind dies keine gottgegebenen Gattungen oder Arten von Literatur, so wie die Pflanzenarten oder Tierarten in der Natur, die die Biologen identifi‐ zieren als Gruppen von Individuen, die sich miteinander fortpflanzen. Das aber bedeutet, dass die Einteilung in Gruppen keine unabhängig von der Einteilung bestehenden „natürlichen“ Zusammenhänge erhellt, wie das bei der Linnéʼschen Taxonomie beansprucht wird. Ein prequel kann auch - zum Teil - ein sequel sein und - ganz und gar - eine Adaption. Ein Folgeroman kann nur in rudimentärer Weise „meta“ zum vorhergehenden Text sein, etwa wenn ein Conan Doyle seiner ersten Sherlock-Holmes-Erzählung eine zweite und weitere folgen lässt, die die erste nicht eigentlich kommentieren oder fortsetzen, sondern ihr einfach folgen, wie ein Kapitel in einem Roman dem vorherigen folgt. Tatsächlich sind die meisten re-writes Mischformen, und gerade darin liegt ihr Reiz. Die Klassifika‐ 52 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 18 Daher halte ich Gérard Genettes höchst differenzierte „intertextuelle“ Einteilung in Transtexte, Paratexte, Hypotexte und Hypertexte usw. für wenig hilfreich; s. sein Buch Palimpsestes (Paris: Editions du Seuil, 1982). 19 (London: Anchor / Transworld Publishers, 2000); zuerst 1999 bei Doubleday. tion hat daher keinen Erkenntniswert als Klassifikation, sondern soll nur der Analyse des einzelnen Werks dienen. 18 II Die Hybridität der meisten re-writes sowie die verschiedenen Formen der Be‐ zugnahme auf die jeweilige Vorlage sollen nun durch einige Beispielanalysen substantiiert werden. Dabei beschränke ich mich auf Erzählliteratur, obwohl es viele herausragende und stilbildende re-writes im Bereich des Dramas gibt - man denke nur an die Shakespeare-re-writes der letzten Jahrzehnte. Beim The‐ ater jedoch werden allein schon durch die Aufführung aktualisierende und prä‐ sentische Anteile realisiert: die heutigen Gesichter und Gesten der Schauspieler, ihr modernes Englisch, die Kostüme und Requisiten, die Inszenierung usw. In‐ sofern kann man beim Drama aktualisieren, ohne den Text umschreiben zu müssen. Von diesen Beispielen aus dem Bereich der Erzählliteratur soll der erste Bei‐ spieltext zeigen, wie nahe sich in vielen Fällen re-write und Folgeroman sind, und das gilt auch für die nächsten Verwandten der continuation, für completion und prequel. Alison Fells The Mistress of Lilliput, or The Pursuit  19 ist der Lebensbericht von „Lady Mary“, der Lieblingspuppe von Mrs Mary Gulliver, der in Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) nur wenige Male erwähnten Ehefrau von Lemuel Gul‐ liver. Die Puppe - von ihrer Herrin stets mit sich geführt! - erzählt die Jugend der kleinen Mary Burton, die ersten Ehejahre, das Leben in London während der von 1699 bis 1715 dauernden Abwesenheit ihres Mannes, eines Schiffsarztes, auf See, seine Rückkehr und erneute Flucht 1718 in die Südsee sowie die Verfolgungsreise seiner Frau dorthin. Nach langen Irrfahrten und Zwangsaufenthalten, während derer sich eine Romanze mit einem Franzosen anbahnt‚ gelangt Mary Gulliver endlich zu ihrem Lemuel. Der ist jedoch mit absurden Experimenten beschäftigt - dem Destillieren von destilliertem Wasser - und bemerkt sie kaum. Die Be‐ hörden der Spechy-Inseln lassen ihn, der sich offenbar als Forscher versteht, ge‐ währen, aber tatsächlich ist er Patient in einer Anstalt (vermutlich aus dem see‐ lischen Gleichgewicht geraten durch seine uns von Swift her bekannten Erfahrungen mit den Houyhnhnms und Yahoos). So kehrt Lady Marys Herrin zu ihrem französischen Geliebten zurück, der inzwischen durch Kreuzung eine be‐ 53 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 20 Aus den vier Reisen zwischen 1699 und 1715 bei Swift ist bei Fell eine sechzehnjährige Reise geworden. (Die 1718 angetretene erneute Reise in die Südsee bei Fell passt übri‐ gens nicht zu Swifts Darstellung, nach der Gulliver seine früheren Reisen im Jahre 1720 in London bei geistiger Gesundheit niederschreibt.) 21 (New York: Knopf, 2000). sonders leckere Erdbeere hergestellt hat. In die Erzählerin-Puppe eingenäht, ge‐ langt eine kostbare Beere mit Mary Gulliver und ihrem Geliebten nach Europa. Ein re-write ist The Mistress of Lilliput insofern, als einige der aus Gulliver’s Travels bekannten Ereignisse aus anderer Perspektive und mit anderer Akzen‐ tuierung neu erzählt werden, so zum Beispiel die Rückkehr Lemuel Gullivers zu seiner Familie 20 oder die Ereignisse in Lilliput (die in der Zusammenfassung, weil marginal, nicht erwähnt worden waren). In vielerlei Hinsicht ist der Roman allerdings weniger ein re-write als vielmehr ein prequel und ein sequel, eine Vor-Geschichte in der Erzählung von Mary Bur‐ tons Kindheit, ein Folgeroman in dem Bericht von der Reise in die Südsee im Anschluss an das Geschehen bei Swift. Ob nun aber re-write, prequel oder se‐ quel: Leider hat Alison Fell die zentrale - so einfache wie geniale - Grundidee von Swifts Satire nicht aufgegriffen, die Perspektivität aller Erfahrung nämlich. In Teil I von Gulliver’s Travels ist die Welt von Lilliput nur ein Zwölftel so groß wie unsere Wirklichkeit, und alle menschlichen Unternehmungen sind entspre‐ chend kleinlich; in Teil II ist die Welt von Brobdingnag zwölfmal so groß wie unsere Wirklichkeit, und alle menschlichen Leiber sind entsprechend absto‐ ßend; in Teil III geht es um machtpolitisches Oben und Unten sowie wissen‐ schaftliche Verrücktheiten; und in Teil IV geht es um die verkehrte moralische Welt, in der Menschen Tiere sind und Tiere die besseren Menschen. Fast nichts davon findet sich bei Alison Fell und auch nichts von dem Grundgefühl Swifts, dem er mit dem künstlerischen Gestaltungsprinzip der Perspektivität unver‐ gänglichen Ausdruck verlieh: dem Grundgefühl von Fremdheit, Leibfeindlich‐ keit, Misanthropie und saeva indignatio (gegenüber aller superbia). Eine Mischung aus re-write, Vor-Geschichte und Adaption ist John Updikes Roman Gertrude and Claudius, 21 mit Shakespeares Drama Hamlet (1600/ 01) als Vorlage und Bezugspunkt. Die Erzählhaltung ist zwar eine neutrale Berichter‐ stattung in der dritten Person, die Perspektive ist jedoch überwiegend die von Gertrude und in geringerem Maße die von Claudius. Die drei Teile der Erzählung beziehen sich je auf eine andere Quelle der Ereignisse, Saxo Grammaticus, Fran‐ çois de Belleforest und William Shakespeare, und entsprechend verwandeln sich die Namen der Figuren sowie die historische Atmosphäre im Laufe des Romans. Der erste Teil spielt, so zeigt das Umfeld an, um das Jahr 1200. König Rorik von Dänemark befiehlt seiner Tochter Gerutha, den tapferen Krieger Horwendil 54 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 22 A Novel (London: Picador, repr. 1998, 1 1996). zu heiraten. Widerstrebend folgt Gerutha. Nach einiger Zeit wird ihnen ein Junge geboren, Hamlet. Als Rorik stirbt, wählt man Horwendil zum König. Nach vielen Jahren der Abwesenheit in südlichen Ländern kommt Horwendils Bruder Feng an den Hof in Elsinore. Er verliebt sich in die nun 35jährige, noch begeh‐ renswert schöne Gerutha. Der zweite Teil scheint von der Atmosphäre her um das Jahr 1300 zu spielen. Auch die erzählte Zeit ist vorgerückt, denn Hamlet ist nun 29 Jahre alt, Geruthe und Fengon vollziehen ihre leidenschaftliche Liebe. Als Howendile Verdacht schöpft, tötet ihn Fengon mit Gift, das er dem König ins Ohr träufelt. Der dritte Teil spielt um das Jahr 1600. Zwei Monate sind seit dem Tod des Königs, der an einem Schlangenbiss gestorben zu sein scheint, vergangen, und seit einem Monat ist Gertrude die Frau ihres Schwagers Clau‐ dius, der sich mit der Thronbesteigung umbenannt hat. Hamlet, vom Studium aus Wittenberg zur Beerdigung des Vaters zurückgekehrt, ergeht sich in merk‐ würdigen Andeutungen und Wortspielen. Gertrude fühlt sich schuldbewusst, weil sie glaubt, es in der Erziehung ihres Sohnes an Zuneigung fehlen gelassen zu haben. Claudius überlegt, was Hamlet wissen kann. Nach der zeremoniellen Ansprache des Claudius an seine Höflinge, die wir aus Hamlet I, 2 kennen, ist Gertrude sehr stolz auf ihren neuen Gatten. Der ist erfreut, dass er mit dem heimlichen Mord davongekommen zu sein scheint. „All would be well“ (S. 210). Bei Hamlet sehen - bzw. hören - wir die Dinge weitgehend aus Hamlets (und seines Vaters) Perspektive. Ein Beleg für diese bekannte Tatsache ist die Kenn‐ zeichnung der Eheschließung von Gertrude und ihres Schwagers Claudius als „inzestuös“ durch Hamlet senior und junior, die von allen anderen Figuren des Stückes nicht geteilt zu werden scheint, vor allem auch nicht von den Eheleuten selbst. Bei Updike führen der Wechsel der Perspektive zugunsten von Gertrude und Claudius sowie die Darstellung ihrer Jugendliebe dazu, dass sie viel positiver als bei Shakespeare erscheinen, während Hamlet umgekehrt negativ erscheint, nämlich als selbstbezogener, kalt-gescheiter Junge. Diese Revision unseres Bildes des Geschehens erfolgt vermittels der Vorgeschichte und der Sympathie‐ lenkung durch den Erzähler. Prequel und (epische) Adaption addieren sich zum re-write. Ein re-write pur, also ohne auch Vor-Geschichte oder Fortsetzung usw. zu sein, ist Helen Fieldings Bestseller Bridget Jones’s Diary, 22 und zwar indem hier Hand‐ lung und Charaktere eines berühmten Romans - oder jedenfalls entscheidende Konstellationen - in die Gegenwart transponiert werden, nämlich des Klassikers Pride and Prejudice (1813) von Jane Austen. 55 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 23 Und insofern erzähltechnisch viel harmloser als Austens Roman mit seiner epoche‐ machenden Verwendung dramatischer Mittel in der Epik (Dialog, erlebte Rede). Da der Roman von Helen Fielding, wie der Titel sagt, eine Folge von Tage‐ bucheinträgen ist, 23 stellt sich die story-line nicht kontinuierlich, sondern zer‐ rissen dar und kann nur zusammengefasst, nicht chronologisch-kontinuierlich nacherzählt werden. - Bridget Jones, Mittdreißigerin und Single, lebt in London. Für das Jahr 1995 führt sie fast täglich - und manchmal stündlich! - Tagebuch. Die Leitthemen ihres Lebens - oder soll man Leidthemen sagen? - sind die Mengen der konsumierten Zigaretten, Kalorien und Alkoholeinheiten, die Angst vor Zellulitis, vor dem Älterwerden, vor zu viel Nähe, vor Einsamkeit, kurz: all die Sorgen und Nöte der modernen, emanzipierten jungen Frau der Cosmopolitan-Generation. Da Bridget tatsächlich attraktiv und hübsch ist, dazu ihre Obsessionen sowie die Torheit der von ihr verinnerlichten Pop-Psychologie durchschaut, denen sie sich gleichwohl ausliefert, der Ton überdies selbstiro‐ nisch und leicht ist, weiß man nicht, ob man weinen oder lachen soll. Im Laufe des Jahres verdichten sich die Handlungsfäden zu Strängen. Da ist die späte Selbstverwirklichung - oder Parodie einer Selbstverwirklichung - ihrer Mutter mit einem charmanten südländischen Liebhaber; da sind die un‐ verheirateten Freundinnen, wie man sie von den (Pseudo-)Reportagen von Frauenzeitschriften wie Brigitte her kennt, das unkomplizierte Vertrauensver‐ hältnis zum Homo-Freund, die Affäre mit dem Chef (Daniel Cleaver), einem zwanghaften Schürzenjäger, die verschiedenen Abendeinladungen mit drei Ehe‐ paaren und einem freien Junggesellen, darunter einmal ein gewisser Mark Darcy, ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Als sich der graumelierte Liebhaber der Mutter als Betrüger entpuppt, entwirrt Mark Darcy diskret aber kompetent die Verwicklung der naiven Mutter in dessen kriminelle Aktivitäten. Zu Weih‐ nachten, als Bridgets latente Einsamkeitsängste akut zu werden drohen, kommt die märchenhafte Wendung: Von einer Familienparty weg entführt Mark Darcy Bridget in ein erstklassiges Hotel und gesteht ihr seine Liebe und Bewunderung. Fassungslos überlässt sich Bridget ihrem Gefühl, endlich das Geheimnis des Glücks gefunden zu haben. Bridget Jones’s Diary ist ein re-write im engeren Sinn insofern, als der Roman, soweit er Meta-Literatur ist, nur re-write ist und nicht auch prequel oder sequel oder Adaption. Andererseits ist der Roman nur in einem lockeren Sinn re-write insofern, als seine Charakterisierung als re-write weite Teile nicht oder nur pe‐ ripher erfasst. In vorliegendem Kontext betone ich aber die Bezüge zu Pride and Prejudice. 56 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 24 (UK: BBC 1995); Regie Simon Langton und Script Andrew Davies. 25 (London: Picador, 1999); mit Anklängen an Jane Austens Roman Persuasion (1818), aber leider kruder und übertrieben in dem Bemühen, den Erfolg durch Überbieten zu wie‐ derholen. 26 (USA: Miramax, 2001); Regie Sharon Maguire und Skript Richard Curtis und Andrew Davies. 27 (UK & USA: Columbia Pictures and Mirage, 1996); Regie Ang Lee und Script Emma Thompson. 28 Genau genommen seine fellatio interrupta mit einer Prostituierten in Los Angeles; vgl. S. 197 f. Der erste Anknüpfungspunkt ist die Gestalt des Mark Darcy. Wie Mr. Darcy die Familie Bennet und Elizabeth von den Sorgen mit dem Betrüger und Char‐ meur Wickham befreit, so Mark Darcy die Familie Jones von dem portugiesi‐ schen Hochstapler und Bridget von Daniel Cleaver. Jane Austens Mr. Wickham ist also bei Helen Fielding aufgespalten in Daniel Cleaver und den Latin Lover. Der törichten und geschwätzigen Mrs. Bennet entspricht die unaufhaltsame und nervtötende Mrs Jones. Aus dem sich in Ironie und Sarkasmus flüchtenden Mr. Bennet bei Austen ist der Jammerlappen eines Vaters bei Helen Fielding ge‐ worden. Direkte Bezüge zu Pride and Prejudice werden hergestellt, als Bridget die Verfilmung des Romans von 1995 24 am Fernsehen sieht und sich der Paral‐ lelen bewusst ist. In beiden Romanen geht es um die Suche einer jungen Frau - 1995 ist man länger jung als 1796, da Jane Austen ihre Heldin konzipierte - nach einem Mann fürs Leben. Und was bei Lizzie Bennet das aufgrund patriarchali‐ scher Rechtsverhältnisse fehlende Erbe und damit mangelnde finanzielle Si‐ cherheitsgefühl war, das einer unbeschwerten Glückssuche im Wege stand, ist bei Bridget Jones das mangelnde Vertrauen in die eigene Persönlichkeit und At‐ traktivität. Der gesellschaftliche und rechtliche Fortschritt in der Stellung der Frauen hat seinen Preis in der Auflösung des schützenden Familienzusammen‐ halts und in der Vereinsamung des Individuums in der Großstadt mit ihren des‐ orientierenden Folgen. Inzwischen hat Helen Fielding die Entwicklung übrigens in so ziemlich alle Richtungen des obigen dritten Typs von Meta-Literatur weitergetrieben. Zum re-write Bridget Jones’s Diary ist ein Folgeroman erschienen, The Edge of Re‐ ason. 25 Das Diary ist bereits verfilmt worden (Adaption), und zwar mit Colin Firth und Hugh Grant in den Rollen von Mark Darcy und Daniel Cleaver; 26 das ist insofern witzig, als Colin Firth in der erwähnten BBC-Verfilmung von Pride and Prejudice Mr. Darcy verkörpert hatte und Hugh Grant, der Edward Ferrars aus der 1996er Verfilmung von Sense and Sensibility, 27 ein Thema des Einstel‐ lungsinterviews von Bridget Jones bei ihrem Stellungswechsel in Bridget Jones’s Diary war. 28 Und auch die Vermischung der literarischen Gestalt der Bridget 57 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 29 (London: Michael Joseph, 1999). Den Hinweis verdanke ich Heike Haase (Paderborn). 30 (London & Boston: Faber & Faber, 1989). 31 (London: Penguin Books, repr. 1988). Jones mit einer Person der (fiktionalen) Welt des Alltags gibt es inzwischen, insofern nämlich, als Adrian Mole in Sue Townsends Roman The Cappuccino Years  29 sich an Bridget Jones wendet wie an einen Menschen der realen Welt (die der Roman zu beschreiben vorgibt). Als Beispiel für das besondere Potential der Textsorte Kontrafaktur möchte ich abschließend einen Roman von Emma Tennant vorstellen: Two Women of London: The Strange Case of Ms Jekyll and Mrs Hyde. 30 Zunächst handelt es sich um ein „reines“ re-write ohne Anteile anderer Arten von Meta-Literatur; sodann handelt es sich nicht um die - immer etwas problematische - Revision von Geschichte; weiter ist die Vorlage - hier natürlich Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) 31 - aber auch nicht bloße Folie wie im Falle von Bridget Jones’s Diary und Pride and Prejudice; vielmehr stellt Ten‐ nants Wi(e)dererzählung eine Auseinandersetzung mit Stevensons Erzählung dar, weswegen diese auch stärker in die folgende Diskussion einbezogen werden muss als das z. B. bei Fell / Swift nötig war. Wenn man einmal die komplexe Erzählsituation und alle Nebensächlich‐ keiten beiseite lässt, dann geht es bei Stevenson um die Verwandlung des Arztes Dr. Jekyll in den Verbrecher Mr. Hyde. Dr. Jekyll war schon als Jugendlicher von Gefühlen der Persönlichkeitsspaltung geplagt worden, aber bisher hatten Ge‐ wissen und Anstand die Oberhand in seiner aus guten und bösen Eigenschaften zusammengesetzten Persönlichkeit behalten. Nun jedoch hat er eine Droge er‐ funden, die der dunklen Seite seines Ichs zeitweise zum Durchbruch verhilft. Als Mr. Hyde, der durch die Droge in eine affenartige Gestalt verändert ist, verübt er lustvoll Untaten. Eines Tages muss Dr. Jekyll mit Entsetzen feststellen, dass die Rückverwandlung, ebenfalls mit einer Droge induziert, in den zivilisa‐ torisch höher entwickelten Dr. Jekyll nur noch für eine kurze Dauer „hält“. Als er spürt, dass er kurz davor steht, für immer in den Zustand des Mr. Hyde zu regredieren, begeht er Selbstmord. Damit ist Dr. Jekyll and Mr. Hyde eine Parabel über die viktorianische Angst, dass die Sünde, wenn man ihr erst einmal nachgegeben hat, bald die ganze Per‐ sönlichkeit beherrscht. Die berüchtigte viktorianische Ethik der Heuchelei zeigt bei Stevenson ihren rationalen Kern. Der Appetit kommt beim Essen, und für die Viktorianer vor allem beim Sündigen. So lässt ein vorzüglicher Kenner der Materie, Oscar Wilde, den Erzähler in The Picture of Dorian Gray (1890/ 91) über 58 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 32 Complete Works (London & Glasgow: Collins, repr. 1990), S. 103. 33 Zusätzlich eine Erinnerung an die Hausangestellte Grace Poole aus Charlotte Brontës Jane Eyre (1847). seinen lasterhaften Helden sagen: „He had mad hungers that grew more rave‐ nous as he fed them.“ 32 In Tennants Two Women of London geht es bei einer ähnlichen Konstellation um eine ganz andere politische Botschaft. Hier lässt sich Eliza Jekyll Psycho‐ pharmaka und Ecstasy-Tabletten verschreiben, um nach außen hin die erfolg‐ reiche, schöne und jugendliche Galeristin darstellen zu können. Tatsächlich führt sie ein Doppelleben. Als alleinerziehende Mutter, die von ihrem Mann mit den beiden gemeinsamen Kindern sitzengelassen wurde, ist sie zu der früh ge‐ alterten, schlampigen und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Mrs Hyde geworden. (Offenbar ist „Hyde“ der Name ihres verschwundenen Ehemannes „Ed“, den sie bei der Heirat angenommen hatte.) Als sie bei der Jagd auf einen Serienvergewaltiger, der die Nachbarschaft in Angst und Schrecken versetzt, einen Mann erschlägt, muss sie vor der Polizei untertauchen. Two Women of London besteht aus Tagebucheinträgen, Briefen und Ton‐ band-Transkriptionen verschiedener Frauen, die von einem Herausgeber oder einer Herausgeberin zu einem Textkonvolut zusammengestellt worden sind. Das aus dem London der 1880er Jahre bekannte Geschehen bei Stevenson ist in das London der 1980er Jahre versetzt, aus den Männern bei Stevenson sind Frauen geworden: Dr. Henry Jekyll entspricht Ms Eliza Jekyll Mr. Edward Hyde “ Mrs „Ed“ Hyde Mr. John Gabriel Utterson “ Jean Hastie Mr. Richard Enfield “ Mara Kaletsky Dr. Hastie Lanyon “ Dr Frances Crane Der Butler Poole “ der Putzfrau Grace Pool 33 Einige weitere männlichen Personen bei Tennant entsprechen, grob gesagt, dem Mordopfer Sir Danvers Carew bei Stevenson. Die Stoßrichtung der politischen Botschaft sowie die Richtung der Verwand‐ lung sind ins Gegenteil verkehrt. Ging es in Dr. Jekyll and Mr. Hyde um die sehr viktorianische Sorge vor dem Überhandnehmen des Bösen im Menschen, wenn man die Zügel der Selbstkontrolle schleifen lässt, so geht es bei Two Women of London um die Anklage gegen die Doppelbelastung der Frau in der kapitalisti‐ 59 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 34 Vgl. Annegret Maack, Translating 19th Century Classics: Emma Tennant's Intertextual Novels, Anglistik & Englischunterricht 60 (1997) 71-82, und Susanne Schmid, Emma Ten‐ nant's Sister Hyde: Two Strange Cases of the Female Double, ZAA 45 (1997) 20-32. schen Thatcher-Ära und um den Schönheits- und Jugendlichkeitswahn der mo‐ dernen Yuppie-Kultur. 34 Ging es bei Stevenson um den Rückfall des zivilisierten Dr. Jekyll in den atavistischen Mr. Hyde, so geht es bei Tennant darum, dass sich die alleingelassene Mrs Hyde durch Drogen zu der erfolgreich angepassten Ms Jekyll aufputscht. Als Hoffnungsschimmer am Horizont im Sinne von Tennant bleibt Mrs Hyde, untergetaucht, auf freiem Fuß. Was das Personal und seine Konstellation sowie das Grundthema der Ver‐ wandlung des Menschen durch Drogen angeht, entspricht Tennants Roman der Novelle von Stevenson sehr weitgehend. Insofern Two Women of London das Geschehen in Dr. Jekyll and Mr. Hyde in die Gegenwart holt und dabei trans‐ formiert, handelt es sich um ein re-write, insofern aber die inhaltlichen Thesen entgegengesetzt akzentuiert sind, muss man von einer Kontrafaktur sprechen. Das Menschenbild bei Stevenson ist viktorianisch-konservativ, soll heißen: sieht die Aufgabe der Gesellschaft darin, die gefährlichen anarchischen Ten‐ denzen im Menschen zu kontrollieren; das Menschenbild bei Tennant ist femi‐ nistisch-links, soll heißen: sieht die Aufgabe darin, die Unterdrückungsmecha‐ nismen (der Männer) zu zerbrechen, so dass Frauen frei leben können, ohne die Zwänge des Kapitalismus und des Patriarchats. Lassen wir im Kontext dieser Gattungsüberlegungen die Frage nach der Überzeugungskraft der politischen Botschaft des Romans beiseite - in der Phan‐ tasie von Mrs Hyde verschmelzen alle Männer zu Vergewaltigern, tatsächlichen oder potentiellen -, aber literarisch ist es ein Problem, dass Tennant der Über‐ zeugungskraft ihrer Fabel selbst nicht traut, sondern die politische Botschaft mehrfach explizit an den Leser bringt, zum Beispiel durch die Herausgeberin. Außerdem zeugen einige Fehler der internen Logik der Geschichte von zu schneller Arbeit. Und vielleicht hat Tennant auch zu viel auf einmal gewollt: eine soziale Motivation für die Verwandlung, wo Stevenson eine biologische gegeben hatte; eine sozialistische Kritik der Gesellschaft, wo Stevenson eine Warnung aus konservativem Geist vorgelegt hatte; eine feministische Kritik, wo Stevenson eine patriarchalische Gesellschaft gezeichnet hatte. Vielleicht sind drei Filter, durch die hindurch Stevensons Kurzroman verwandelt wurde, zu viel für eine Kontrafaktur. 60 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 35 Vor allem in der Romantrilogie Molloy, Malone Dies und The Unnamable (zuerst 1951-53 auf Französisch). 36 Ob das Wirklich funktioniert, soll hier nicht weiter verfolgt werden; man kann argu‐ mentieren, dass auch wirkliche Wirklichkeit in fiktionaler Darstellung ihren Charakter als Wirklichkeit verliert. 37 Z. B. in Joan Aikens Jane Fairfax (Bath: Chivers Press, 1991). III Weiter oben waren re-writes der Großgattung metafiction zugerechnet worden, und zwar der Gruppe 3 (Posttextuelle Meta-Literatur), also dem Ensemble jener Werke, in denen ein literarischer Text die Stelle einnimmt, die in realistischen Werken von der Welt eingenommen wird. Diese Gruppe lässt sich wie folgt subspezifizieren: a. Folgeromane b. Vervollständigungen c. Vor-Geschichten d. Adaptionen e. Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen Diese Einteilung soll nun differenziert und dabei modifziert werden. Als Ge‐ genbegriff zu Meta-Literatur war realistische Literatur genannt worden, in dem Sinne, dass diese so angelegt ist, als beschriebe sie eine außerhalb ihrer selbst existierende Welt. Tatsächlich aber erschaft auch realistische Literatur die Welt, die sie zu beschreiben scheint, erst im Akt der scheinbaren Beschreibung. Aus dieser Scheinhaftigkeit realistischer Fiktion zog der Übervater der postmo‐ dernen Meta-Literatur, Samuel Beckett, den Schluss, dann lieber gleich den mi‐ metischen Anspruch der Literatur aufzugeben und das Fiktive des Realismus zu ersetzen durch den Realismus der Fiktionalität, also Meta-Literatur im strengs‐ tmöglichen Sinn des Wortes zu schaffen, nämlich Texte, die ihr eigenes Ent‐ stehen sowie ihr Sich-Rückgängig-Machen darstellen. 35 Man hat aber auch den entgegengesetzten Weg beschritten, um der Schein‐ haftigkeit des Realismusprinzips zu begegnen, indem man nämlich dem reali‐ stischen Anspruch der Darstellung die unterstellte Realität des Dargestellten zugesellte. Im traditionellen historischen Roman etwa oder im Doku-Drama wird die dargestellte Wirklichkeit nicht erst - scheinhaft - im Akt ihrer Dar‐ stellung erschaffen, sondern als unabhängig von ihrer Darstellung vorausge‐ setzt. 36 Folgeromane und Wi(e)dererzählungen stehen zwischen diesen Extremen. Einerseits beziehen sie sich auf Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst, etwa auf die aus Jane Austens Roman Emma (1816) bekannte Welt Highburys, 37 andererseits 61 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen 38 Vgl. die fast 200 Titel umfassende Bibliographie, die ich zusammengestellt habe unter Jane Austen etc.: The Completions, Continuations and Adaplations of Her Novels (Erfurt Electronic Studies in English: http: / / webdoc.sub.gwdg.de.edoc/ la/ eese/ breuer/ breuer/ h tml). 39 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp, 1963); zuerst 1936 veröffentlicht. ist diese außertextliche Wirklichkeit von Folgeromanen usw. aber bloß textuell und existiert nur in einem Roman. Der ist zwar ein anderer Roman, aber eben doch ein Roman. Genau genommen gibt es beide Extreme in natura gar nicht. Auch realistische Literatur steht in Gattungstraditionen u. ä. und bezieht sich insofern implizit auf andere literarische Werke. Und streng selbstbezügliche Literatur kann es ebenso wenig geben, denn zwischen Darstellung und Dargestelltem bleibt immer eine - zumindest logische - Differenz. Dennoch ist unbestreitbar, dass ein Doku-Drama oder ein roman à clef eher realistisch wirkt und eine Parodie bei‐ spielsweise eher meta-fiktional. Re-writes stehen in der Mitte, indem sie - mal mehr, mal weniger - Eigenschaften realistischen und Eigenschaften meta-fik‐ tionalen Erzählens annehmen. Warum aber sind Folgeromane, re-writes und verwandte Arten von Meta-Li‐ teratur im Moment so beliebt? Ein schlichter, aber wohl nicht unbeträchtlicher Grund ist sicher kommerzieller Art. Seinen Namen etwa mit Jane Austen in Verbindung zu bringen, 38 kann kaum von Nachteil sein, was Buchbespre‐ chungen und Publikumsinteresse angeht. Darüber hinaus gibt es seit vielen Jahrzehnten den zunehmenden Verlust der Aura des Kunstwerks „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, wie Walter Benjamin konstatierte. 39 Damit einher geht der Verlust des Gefühls seiner Unantastbarkeit und Heiligkeit. Außerdem passt Meta-Literatur ausgezeichnet ins postmoderne intellektuelle Klima (und ist daher übrigens poetologisch in‐ teressant, auch wenn die meisten dieser Werke ästhetisch unbedeutend sind). Meta-Literatur exemplifiziert nämlich die These der in den Geistes- und Kul‐ turwissenschaften noch immer einflussreichen französischen Poststruktura‐ listen, dass die Wirklichkeit ein sprachliches und im weiteren Sinn ein soziales und kulturelles Konstrukt sei, dass es außerhalb der Sprache keine Wirklichkeit gebe. In diesem Theoriegebäude ist die Welt ein Text und alle Erkenntnis daher Interpretation. So macht die Tatsache, dass in Folgeromanen ein Buch den Platz einnimmt, den im realistischen Roman die Welt einnimmt, diese Romane zu Beispielen, ja zum Inbegriff der Theorie (natürlich nicht zu Argumenten, denn Fiktionen können nicht argumentieren, sondern höchstens Argumentationen darstellen). 62 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 40 (New York: William Morrow, 1999). 41 „Ideologische Gründe“ erkennt auch von Stackelberg als das wichtigste Motiv der von ihm vorgestellten Autoren; s. Gegendichtungen, S. 79. 42 (Harmondsworth: Penguin Books, repr. 1968). Ein weiterer Grund für die Beliebtheit von re-writes und ähnlichen Formen von Meta-Literatur bei Autoren und Lesern sind vermutlich Gefühle der Spät‐ zeitlichkeit, Gefühle der Erschöpfung vor allem im Thematischen: Alles ist schon gesagt. Dieser Trend lässt sich sowohl in der Popmusik („cover“) als auch im Film („remake“) und selbstverständlich in der Modebranche (Anleihen bei der Mode früherer Jahrzehnte) erkennen. Der wichtigste Grund, jedenfalls der sachlich interessanteste, scheint mir je‐ doch zu sein, dass sich diese Form der Literatur gut für die Revidierung histo‐ rischer Positionen eignet, sei es, dass der Autor - meist eine Autorin - den Anteil der Frauen am Leben früherer Zeiten dadurch sichtbar machen will, dass die männlichen Helden klassischer Werke durch weibliche Figuren ersetzt werden, oder sei es, dass in feministischer Perspektive auf Ereignisse geblickt wird, für deren Einschätzung bisher eine maskulinistische Sicht vorherrschend war. Mu‐ tatis mutandis gilt dasselbe natürlich für andere benachteiligte Gruppen, vor‐ nehmlich Schwarze etwa und Homosexuelle. Wo, wie in Moby-Dick (1851), der Erzähler über Walfische reflektiert, wird eben nicht über die Emanzipation der Frauen, Sklaven und Homosexuellen nachgedacht; das holt Sena Jeter Naslund mit Ahab’s Wife, or The Star Gazer  40 nach. Dieser Roman gibt sich aus als die Memoiren von Una Spenser, Ehefrau von Kapitän Ahab aus Moby-Dick. Insofern als Una Spenser ihre Kindheit darstellt, über die wir bei Melville nichts erfahren, ist der Roman die Vor-Geschichte eines (kleinen) Teils der Handlung von Moby-Dick; insofern sie Teile der Handlung, die wir aus Melville kennen, aus anderer Perspektive erzählt, ist der Roman ein re-write. Indem Una über Skla‐ verei, Frauenemanzipation und Homosexualität reflektiert, wo Melvilles Er‐ zähler über Cetologie handelte, entfernt sie sich weit von der Vorlage und behält lediglich Strukturzüge des Originals bei. Mit dieser politischen Agenda 41 erklärt sich, warum so viele dieser Romane politically correct sind, und hier liegt sicher ein Problem der Textgattung. Was ich meine, kann ich durch Verweis auf den berühmtesten re-writer der letzten hundert Jahre sagen: Winston Smith, die Hauptfigur des Romans Nineteen Eighty-Four von George Orwell (1949). 42 Winston Smith ist einer der zahllosen Mitarbeiter im Ministry of Truth in Oceania, und seine Aufgabe ist es, die Ver‐ gangenheit je nach den aktuellen Bedürfnissen der Partei umzuschreiben. George Orwells Wörter für diesen Revisionsprozess sind: „to alter“, „to rectify“ 63 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen und „to rewrite“ (S. 34). An dem Tag, an dem die Romanhandlung beginnt, war es beispielsweise nötig, to rewrite a paragraph of Big Brother’s speech, in such a way as to make him predict the thing that had actually happened (ebd.). Wer in der Gegenwart herrschen will, muss die Deutungshoheit über die Ver‐ gangenheit anstreben. Angesichts dieses Aspektes der Gattung re-write bleibt in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit die Revision Kenntlichmachung oder Verfälschung von Ge‐ schichte ist. Auch wenn Geschichte uns weitgehend nur als Geschichtsschrei‐ bung zugänglich ist, kommt nicht jedem re-write von Geschichte der gleiche Grad an Plausibilität und Geltungsanspruch zu. Da re-writes strukturell in der Nähe von Folgeromanen angesiedelt sind, lohnt vielleicht noch ein vergleichender Blick auf die ästhetische Seite dieser Form von Meta-Literatur. Insgesamt scheinen mir re-writes ein höheres Maß an lite‐ rarischer Qualität aufzuweisen als Folgeromane. Da Folgeromane definitions‐ gemäß einen früheren Text fortführen, ergibt sich beim Umgang mit der histo‐ rischen Distanz zwischen Vorlage und Folgeroman ein Dilemma: Entweder verwendet der Autor die entsprechenden historischen Erzählverfahren, die zur Vorlage passen, oder er verwendet heutige. Im ersten Fall steht er in der Gefahr der Epigonalität, im zweiten Fall befindet er sich im Kontrast zur Vorlage und zu der Welt, die diese porträtiert bzw. erschaffen hat. Das ist beim re-write anders. Da re-writes oft Kontrafakturen sind, also revi‐ sionistisch motiviert, sind sie an die literarischen, narrativen, ästhetischen Kon‐ ventionen der Vorlage nicht nur nicht gebunden, sondern würden das inhalt‐ liche Ziel der Subversivität geradezu verfehlen, wenn sie formal traditionell blieben. Da re-writes auf eine Vorlage bezogen sind, dürfen sie sich von dieser zwar nicht so weit entfernen, dass die Wiedererkennung gefährdet ist, aber diese Beschränkung lässt genug Spielraum. Vermutlich ist der Bezug zu einer be‐ kannten Vorlage bzw. das Wiedererkennen dieses Bezugs sogar einer der Gründe für die Beliebtheit von Wi(e)der-Erzählungen. IV Zusammenfassung. - Man kann re-writes („Wiedererzählungen“) und Kontra‐ fakturen („Widererzählungen“) als intertextuelles Spiel betrachten. Hier seien sie als Meta-Literatur angesehen. Dann gehören sie an die folgende Stelle in einer Klassifikation von Meta-Literatur: 64 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 1. poetologische Meta-Literatur 2. ipsoreflexive Meta-Literatur 3. posttextuelle Meta-Literatur Letztere lässt sich wie folgt unterteilen: a. Folgetexte (sequels, continuations) b. Vervollständigungen (completions) c. Vor-Geschichten (precursors, „prequels“) d. Adaptionen (adaptations) e. re-writes und Kontrafakturen Hier wird Wert darauf gelegt, dass diese Klassifikation keinen Erkenntnisge‐ winn als Klassifikation hat (wie in der Biologie die Taxonomie), sondern nur heuristischen Wert, um bei der Analyse der Einzeltexte Akzente zu setzen. Die meisten Texte sind denn auch hybrid, also keine reinen Arten (weswegen die Einteilung nichts an Erkenntnisgewinn bringt). Nun Beispiele für diese Hybridität: • The Mistress of Lilliput ist eine Mischung aus Folgetext und Vor-Ge‐ schichte • Gertude and Claudius … aus Vor-Geschichte und Adaption • Bridget Jones’s Diary ist ein re-write im Sinne von Wiedererzählung • Two Women of London ist ein re-write im Sinne von Widererzählung 65 Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans Mrs. Dalloway trifft - beinahe - Virginia Woolf, Lord Byrons von wohlmein‐ enden Freunden vernichtete Memoiren haben doch in einem Exemplar überlebt, Oscar Wilde hat entgegen landläufiger Meinung ein Testament hinterlassen, Jane Austens Elizabeth aus Stolz und Vorurteil lebt als Bridget Jones im London der Gegenwart, Mrs. Gulliver reist ihrem Mann in die Südsee nach. Seitenlang könnte man so fortfahren und Beispiele für die Hochkonjunktur - oder ist es eine Inflation? - der metafiction in der englischen und amerikanischen Literatur der Gegenwart auflisten, nicht von der „existentialistischen“ Art des Übervaters Beckett, sondern spielerisch in Form von re-write, Kontrafaktur, Parodie oder Pastiche. Neben kommerziellen Gründen ist es offenbar ein Gefühl von Spätzeitlich‐ keit, das für all diese Spielformen von Meta-Literatur verantwortlich ist, und vor allem ein Gefühl der Erschöpfung im Thematischen. (Ähnlich dürften sich die zahllosen Klassiker-Verfilmungen erklären; gute Drehbücher sind eben selten.) Zudem kommen bei solcher metafiction sowohl die Intellektuellen als auch das breite Publikum auf ihre jeweiligen Kosten. Letzteres, eher Gourmand als Gourmet, will bekanntlich immer mehr desselben und kann derart stets neue - wenn auch sekundäre - Primärliteratur seiner Lieblingsautoren lesen. Erstere, meist unfähig, etwas direkt zu genießen, bekommen - wenn auch primäre - Sekundärliteratur zum erlaubten indirekten Wohlbehagen. Historische Welt und Gegenwart Eine besonders beliebte Untergattung solcher Meta-Literatur ist derzeit der Fol‐ geroman, was im ersten Moment erstaunt, wenn man bedenkt, wie problema‐ tisch das Genre ist. Ein Folgeroman - englisch sequel oder continuation - setzt die Handlung eines bereits publizierten Romans fort, meist eines berühmten und von einem anderen Autor stammenden Romans, wobei das vom Original her bekannte Personal durch einige neue Charaktere erweitert wird; gelegentlich zeigt ein Folgeroman auch dieselbe Handlung wie die Vorlage, jedoch aus einer anderen Perspektive, wobei aus einer Nebenfigur der Hauptcharakter wird. Die angesprochene Problematik der Gattung liegt in ihrer Natur begründet, sich auf einen älteren Text - oft „Prä-Text“ genannt - zu beziehen. Dadurch ergibt sich nämlich die Schwierigkeit, wie mit der Diskrepanz zwischen der his‐ torischen Welt des Originals und der Gegenwärtigkeit des Folgeromans umzu‐ gehen ist. Wenn der Autor des Folgeromans die entsprechenden historischen Erzählverfahren verwendet, so befindet er sich zwar in Harmonie mit der Vor‐ lage, steht aber ästhetisch in der Gefahr der Epigonalität. Wenn er aber heutige Erzählverfahren verwendet, so mag das zwar ästhetische Zeitgenossenschaft bedeuten, aber dafür befindet er sich nun im Kontrast zum Original, das sein Werk fortsetzt, und zu der Welt, die es porträtiert bzw. erschafft. Dies war in früheren Zeiten eine geringere Schwierigkeit, denn da folgten die Folgeromane meist recht schnell auf die jeweiligen Originale - man denke an die Robinsonaden, also Folgeromane zu Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) -, mit denen sie daher die Regeln und Konventionen, die Ausdrucksweisen und Erzähl‐ techniken, die philosophischen und sonstigen Überzeugungen teilten. Im 20. Jahr‐ hundert und vor allem in den letzten Jahrzehnten ist das nicht länger der Fall. Die Folgetexte beziehen sich fast immer auf deutlich einer früheren Epoche angehö‐ rende Prä-Texte, und da erhebt sich unabweisbar die Schwierigkeit, Vergangen‐ heit und Gegenwart zu vermitteln. Drei Folgeromane Ehe ich zu den poetologischen Überlegungen komme, seien zunächst drei Fol‐ geromane vorgestellt, alle „Post-Texte“ zu Jane Austen, die sich im Moment bei Schriftstellern und Publikum besonderer Wertschätzung erfreut: Emma Ten‐ nants Elinor and Marianne, Julia Barretts The Third Sister und Joan Aikens Eliza’s Daughter, allesamt Folgeromane zu Sense and Sensibility, dessen erster Entwurf Elinor and Marianne aus dem Jahr 1795 stammt, dessen zweiter Entwurf von 1797 bereits den bekannten Titel hat und 1811 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Emma Tennants Elinor and Marianne entnimmt sowohl seinen Titel als auch die Form des Briefromans Jane Austens erstem Entwurf von Sense and Sensibility (Elinor and Marianne). Der Folgeroman informiert uns darüber, was sich in den Monaten nach der Hochzeit von Marianne Dashwood und Colonel Brandon, mit der Jane Austens Erzählung endete, zutrug. Es ist das Jahr 1812, was voraussetzt, dass sich die Handlung des Originals in den Jahren unmittelbar vor der Publi‐ kation des Originals im Jahre 1811 ereignete. John Willoughby kann Marianne nicht vergessen und kehrt auf seinen Besitz bei Barton Cottage zurück. Zunächst verführt er Margaret, Mariannes gerade fünfzehnjährige jüngere Schwester, wendet aber dann seine Aufmerksamkeit erneut Marianne zu, die seinem Charme erliegt, weil sie sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlt. Obwohl Marianne von Colonel Brandon schwanger ist, stimmt sie Willoughbys Vorschlag zu, mit ihm in die Vereinigten Staaten von Amerika durchzubrennen, um dort eine „pantisokratische“ Gemeinschaft zu gründen. Im Geist der freien Liebe hofft Willoughby, beide Schwestern zu be‐ 68 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur sitzen. Erst als Marianne dieses neue Beispiel von Willoughbys Schuftigkeit durchschaut, entsagt sie ihrem Plan und kehrt in die verzeihenden Arme von Colonel Brandon zurück. Auch die anderen Charaktere müssen unerfreuliche Erfahrungen machen, vor allem der bankrotte Robert Ferrars, der auf einer Tour durch Afrika von den Eingeborenen gekocht und verspeist wird. Die Albernheit dieser Fabel hat ihr Gegenstück in der Belanglosigkeit des Stils. Falls wir es nicht schon wussten, so lehrt uns Elinor and Marianne, wie gut Jane Austen daran tat, die Form ihres Romans von einem Briefroman zu einem personal erzählten Roman mit einem geistreichen und ironischen Erzähler zu ändern. The Third Sister von Julia Barrett spinnt die Lebensgeschichte von Margaret weiter, der jüngsten der drei Dashwood-Schwestern, die jetzt siebzehn Jahre alt ist. Die Handlung spielt in den letzten Monaten des Jahres 1814, nachdem zu Beginn noch einmal die Vorgeschichte, bekannt als Sense and Sensibility, resü‐ miert worden ist. In der Haupthandlung muss sich Margaret zwischen zwei Be‐ werbern entscheiden, Leutnant William du Plessy und George Osborne. Da du Plessy mit einer unbekannten Dame auf vertrautem Fuß zu stehen scheint, nimmt Margaret die Werbung von Mr. Osborne an. Dieser junge Herr ist jedoch ein Heiratsschwindler und Betrüger, wie du Plessy im allerletzten Moment he‐ rausfindet. Daraufhin hält er selbst erfolgreich um Margarets Hand an, und alles wird gut. Chronologisch gesehen mag The Third Sister eine Fortsetzung von Sense and Sensibility sein, inhaltlich handelt es sich jedoch um eine Wiederholung. Mar‐ garet ähnelt nämlich Marianne, Osborne ähnelt Willoughby, Leutnant du Plessy ähnelt Colonel Brandon, wenn auch jeweils um eine Schattierung gröber. In diesem Sinne sind auch der Stil und die Erzählhaltung weit unter Austens Ni‐ veau. The Third Sister ist Sense and Sensibility noch einmal erzählt, sozusagen unter anderen Namen, nur weit weniger elegant und geistreich. Tennants Elinor and Marianne und Barretts The Third Sister erinnern daran, dass die weitaus meisten Folgeromane Trivialliteratur sind und keine poetolo‐ gischen Überlegungen lohnen. Erwähnt wurden sie hier, weil sie der repräsen‐ tative Normalfall sind. Der weit überwiegende Teil aller Folgeromane ist Kitsch. Sie bedienen das Bedürfnis nach der heilen Welt der Vergangenheit, hier des Englands der Regency, dem Biedermeier in Deutschland vergleichbar. Dabei fördert es die Verkaufszahlen, wenn man sich an die nach wie vor ungemein populäre Jane Austen anhängt und auf den Zug der Frauenliteratur aufspringt. (Das ist nicht als prinzipielle Kritik zu verstehen, denn aus solch robusten kom‐ merziellen Gründen können auch Meisterwerke entstehen. Im englischen Be‐ reich denke man nur an Christopher Marlowes Tamburlaine II, 1588/ 90, oder an 69 Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans Daniel Defoes Farther Adventures of Robinson Crusoe, 1719, die nur wegen des Erfolgs der vorhergehenden Geniestreiche geschrieben wurden.) Als Beispiel dafür, dass es auch anspruchsvoller geht, ja dass die Gattung ihr eigenes ästhetisches und philosophisches Potential hat, steht Joan Aikens Eliza’s Daughter. Der Roman ist die Ich-Erzählung von Eliza Williams, der natürlichen Tochter Willoughbys und des Mündels von Colonel Brandon, wie aus Sense and Sensibility bekannt. Diese Eliza, in der Logik des Romans 1793 geboren, wächst in Somerset als Waise auf. (Damit verlegt Aiken die Handlung von Austens Ori‐ ginal in die Jahre 1792 bis 1795, vermutlich weil Austen die erste Fassung 1795 konzipierte.) Im Jahre 1797 macht das kleine Mädchen die Bekanntschaft zweier Herren, die sie sehr beeindrucken und die der Leser als die Dichter William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge erkennt (deren Aufenthalt in der Ge‐ gend historisch ist). Die weiteren Abenteuer ergeben sich aus Elizas Versuch, ihre Eltern zu finden, vor allem ihren treulosen Vater Willoughby. Die Ich-Er‐ zählung endet 1814 in Portugal, wo Eliza auf Marianne Dashwood trifft und auf Willoughby, der seiner immer noch verehrten Marianne nachgereist ist. Das Zusammentreffen mit dem inzwischen mittellosen und heruntergekommenen Vater ist eine furchtbare Enttäuschung. Eliza - von einem uns unbekannten Mann schwanger - wird nach England zurückkehren, wo sie einen Landsitz geerbt hat. Eine platonische Liebesbeziehung Elizas mit dem großzügigen und noblen früheren Geliebten ihrer seit einigen Jahren verstorbenen Mutter sei noch erwähnt. In meinen Augen ist der Roman ein beachtlicher Erfolg. Indem Aiken eine Ich-Erzählerin mit einer ganz eigenen Stimme einführt, vermeidet sie den Ver‐ gleich mit Austens stilistischer Eleganz bzw. mit dem Witz und der Ironie ihrer personalen Erzähler, ein Vergleich, der bisher noch für jeden, der ihn heraus‐ forderte, peinlich geendet hat. Dasselbe gilt für Aikens Führen der Handlungs‐ linie: die ist einerseits eng mit dem Original verbunden, wie es sich für einen Folgeroman per definitionem gehört, aber sie ist andererseits keine witzlose Reduplikation. Das Hauptthema ist das Elizas ganzes Denken und Fühlen durch‐ dringende Gefühl der Heimatlosigkeit, und in dieser Hinsicht zeigt sich Eliza’s Daughter als Fortschreibung von Sense and Sensibility im Sinne von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847). Zunächst einmal sind nämlich beide Romane Ich-Er‐ zählungen weit überdurchschnittlich begabter, sensibler Mädchen bzw. junger Frauen, die von der lieblosen patriarchalischen Gesellschaft unterdrückt werden. Sodann ist Eliza Williams, wie Jane Eyre, Waise, hat übersinnliche Fä‐ higkeiten und ist auf der Suche nach Geborgenheit. Wo aber Jane Eyre im Sinne viktorianischer Ideale nach einem gleichgesinnten Mann als Gefährten sucht, ist Eliza Williams im Sinne unserer Zeit eine überzeugte alleinerziehende 70 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur Mutter, die ihr Schwanken zwischen Gefühlen des Verlustes und der Sehnsucht nach Identität an ihr Kind weitergeben wird, ein weiteres vaterloses Kind, wie es schon ihre Mutter in Sense and Sensibility war. Der Roman mag gelegentlich kolportagehaft wirken mit zuviel an Handlung, aber er ist eine legitime Fortsetzung, insofern er die dem 18. Jahrhundert zu‐ zuordnende Vorlage (Sense and Sensibility) stilistisch ins 19. Jahrhundert (Jane Eyre) und philosophisch ins 20. Jahrhundert (Feminismus) fortschreibt. Auflösung der Kategorien? Was kann angesichts des dem Genre innewohnenden Risikos der Epigonalität die literarische Berechtigung von Folgeromanen sein? - Wenn man sie als Ext‐ rapolationen versteht, also als Offenlegung der Möglichkeiten, die im Prä-Text angelegt sind, dann stellen sich Folgeromane als Kommentare der jeweiligen Vorlagen dar, sozusagen als primäre Sekundärliteratur. Und mit dieser Vermi‐ schung der logischen Ebenen von Beobachter und Beobachtetem bzw. von Sub‐ jekt und Objekt der Erkenntnis sind wir bei einem Punkt, der die Gattung als echtes Kind des gegenwärtigen intellektuellen Klimas erweist und damit auch da poetologisch interessant macht, wo ihre Exemplare ästhetisch problematisch oder sogar indiskutabel sind. Früher hielt man es für ein Zeichen von schlechtem Geschmack und für ein Missverständnis hinsichtlich des ontologischen Status von Literatur, wenn man wissen wollte, wie viele Kinder Lady Macbeth hatte oder ob Scarlett O’Hara ihren Rhett Butler zurückgewinnen würde. Das hat sich aufgrund bestimmter Tendenzen in Kulturkritik und Literatur deutlich geändert. Sowohl in postmo‐ derner Literatur als auch in post-strukturalistischem Denken findet sich eine Vorliebe für Solipsismus, Paradoxie, Meta-Literatur und Intertextualität, für die Einebnung der Differenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Literatur und Literaturkritik. Auch wenn man dieses Programm als Philosophie nicht ernst nimmt, kann man es in der Literatur durchaus schätzen. (Man kann Dantes Comedia lesen, ohne Katholik zu sein.) Die Gattung „Folgeroman“ gibt in diesem Zusammenhang Anlass zu Fragen, die interessant sind und eine genauere Ana‐ lyse verdienen. Vom Gesichtspunkt der Kommunikationstheorie aus können im System „Li‐ teratur“ die folgenden Elemente unterschieden werden: Werk (Text), Welt (Kon‐ text), Autor, Leser (oder Zuhörer), Kanal und Code. Die beiden letzten Elemente können im Zusammenhang des Folgeromans ignoriert werden, da Original und Folgeroman denselben Gattungsgesetzen unterliegen. Die Beziehungen zwi‐ schen den anderen Elementen kann man grob wie folgt darstellen: 71 Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans Die Entwicklung der Literatur, speziell der Erzählliteratur, in Westeuropa und Nordamerika in den letzten einhundert Jahren ist charakterisiert durch vielfäl‐ tige Versuche, die Kategorie Werk (Text) dadurch zu dehnen oder aufzulösen, dass die Kategorien Autor, Welt oder Leser - oder auch mehrere gleichzeitig - in das Werk hineingenommen werden. Samuel Beckett war vermutlich der pro‐ minenteste Autor, der die Kategorie Autor in seine Werke einbrachte. Seine Ro‐ mantrilogie - Molloy (1947), Malone meurt (1948) und L’innommable (1948) - ist so organisiert, als ob sich die Texte zunehmend selbst erzeugten. Die Betonung liegt hier auf den Worten „als ob“, denn Beckett war klug genug zu wissen, dass dieses Organisationsprinzip nicht wirklich funktioniert, und bestand immer wieder darauf, dass seinen Werken kein philosophischer Wahrheitswert eigne. Viele postmoderne Schriftsteller und poststrukturalistische Theoretiker haben die Implikationen von Becketts Kunst jedoch wörtlich genommen. Andere Autoren haben versucht, die Grenze zwischen Text und Kontext bzw. zwischen Kunst und Leben zu beseitigen. Truman Capotes In Cold Blood ist faction genannt worden, weil das Werk eine Mischung aus fact und fiction ist. In jüngerer Zeit sind neue Formen von „meta-historiographischer“ Literatur, die in der englischsprachigen Welt im Augenblick ebenfalls sehr beliebt ist, mit den Thesen von Hayden White in Verbindung gebracht worden, nach denen Histo‐ riker genauso mit fiktionalen Verfahren arbeiten wie Romanciers, so dass zwi‐ schen beiden Professionen kein Unterschied bestehe. Im Bereich der Malerei denkt man an Andy Warhol, der den Unterschied zwischen Kunstwerk und Leben zu nivellieren versuchte. Und schließlich ist die Differenz zwischen den Kategorien Werk und Leser in Frage gestellt worden. Etliche Künstler, Schriftsteller und Komponisten haben versucht, den Rezeptionsvorgang in ihre Werke einzubeziehen, in Übereinstim‐ mung mit bestimmten postmodernen intellektuellen Entwicklungen, zum Bei‐ spiel den verschiedenen Formen von Subjektivismus und Konstruktivismus, in denen behauptet wird, dass das beobachtende Subjekt das Objekt der Beobach‐ tung überhaupt erst konstruiere, wodurch die Rezeption zur Produktion des Werks wird. Um ein Beispiel aus der Musik zu nehmen: Hans Zenders Schuberts „Winterreise“ (1993) lässt Schuberts Musik für die menschliche Stimme (fast) unangetastet, ändert aber Schuberts Klavierbegleitung zu einer Orchesterbe‐ 72 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur gleitung, in die die musikalische Tradition, die von Schubert ausgeht, die Schub‐ ertrezeption sozusagen, hineinkomponiert ist. Indem er Wagner, Bruckner und vor allem Mahler und Berg in Schuberts Musik hineinkomponiert, will Zender zeigen, dass wir Die Winterreise heute nicht mehr so hören können wie Schub‐ erts Zeitgenossen. Indem er Schubert modernisiert, möchte Zender uns ihn neu hören lassen, ebenso neu, wie er 1828 erschien. Ross und Reiter als Zentaur Es gibt demnach keine Wirklichkeit an und für sich, keine nackte Wahrheit. Die Bedeutung eines Textes, ja der Text selbst wird vom Leser konstruiert. Wenn aber ein Werk einen Rezipienten braucht, um Bedeutung zu haben, gewisser‐ maßen also ein Pferd einen Reiter braucht, um zu wissen, wohin es laufen soll, dann ist es nur konsequent, diese untrennbare Einheit als Zentaur darzustellen statt als je Pferd und Reiter. Die Darstellung der Einheit von Pferd und Reiter als Zentaur ist der Triumph des Analogieprinzips der Kunst. Aber natürlich ist ein Zentaur „nur“ ein Symbol und existiert nicht in Wirklichkeit. Ein Satz kann seinen eigenen Wahrheitswert nicht enthalten. Nichts kann sich selbst enthalten. Eine Aussage kann sich nicht selbst kommentieren, kann mit anderen Worten nicht seine eigene Rezeption kontrollieren. Der Erzähler eines Romans kann sich nicht selbst erschaffen. Ein Text kann sich nicht selbst erschaffen. Eine Figur in einem Roman kann sich nicht selbst ungeschaffen ma‐ chen. Jede Einführung in die Logik lehrt dies, aber Versuche, es doch darzu‐ stellen, können zu interessanten, sogar bewegenden Kunstwerken führen. In‐ teressant - und witzig - im Falle etwa von Flann O’Briens At Swim-Two-Birds (1939) oder The Third Policeman (1940/ 1967); bewegend im Fall von Beckett, der allerdings die logische Unmöglichkeit seines literarischen Programms begriff und seine Werke daher als „failures“ organisierte. Der Versuch der Vermischung und damit der Auflösung der Kategorien führt sachlich zwar zu neuen Textformen, aber logisch bleiben die Kategorien natür‐ lich intakt, wenn auch auf einer höheren Ebene. Nicht nur brauchen die Be‐ schreibungen von Auflösungserscheinungen nicht selbst Auflösungserschei‐ nungen zu sein - sie dürfen es sogar gerade nicht, jedenfalls nicht in der Welt kritischer Argumentation. Anders liegt die Sache jedoch in der Welt der Dar‐ stellung, also der Kunst. Da es bei der Diskussion von Folgeromanen um Rezeptionsfragen geht, be‐ schränke ich mich im folgenden auf diesen Fall der Kategorienverschmelzung, aber mutatis mutandis gilt dasselbe für die Vermischung der Kategorien Werk und Autor bzw. Werk und Welt (Text und Kontext), und natürlich auch für Ver‐ 73 Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans suche, mehrere Kategorien als nur zwei zu vermischen, etwa Welt und Rezeption zugleich ins Werk hineinzunehmen. Die Welt als Roman Wenn ein Schriftsteller also versucht, die Rezeption oder Wirkung eines Werks in eine Neufassung dieses Werks hineinzuschreiben, so löst er damit nicht etwa die Kategorie Werk auf, sondern es entsteht (lediglich) auf einer höheren logi‐ schen Ebene eine neue Art von Werk: Wenn man in diese Graphik - den Normalfall - Austens Sense and Sensiblity einsetzt, so ergibt sich: Und wenn man nun in die zweite Graphik - den Sonderfall der Verschmelzung von Werk und Wirkung - Aikens Eliza’s Daughter einsetzt, als den Versuch nämlich, Austens Sense and Sensibility fortzuschreiben und damit Werk und Wirkung zu vereinigen, so ergibt sich: Diese Modelle sind reduktionistisch, denn natürlich ist Jane Austens Bezugs‐ punkt nicht nur Regency-England, sondern umfasst auch anderes Wissen, an‐ 74 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur dere Romane, ihre Gattungskonventionen usw., und ebenso bezieht sich Joan Aiken nicht bloß auf Sense and Sensibility, sondern auch auf andere Romane (etwa Jane Eyre), und wir Leser haben bei der Lektüre ebenfalls mehr Bezugs‐ punkte für Eliza’s Daughter als nur Sense and Sensibility. Aber um so deutlicher machen die Modelle den Hauptunterschied zwischen den beiden Romanen sichtbar: Austens Roman ist prinzipiell ein realistischer Roman mit der seiner‐ zeitigen Welt als dem Hauptbezugspunkt, wohingegen Aikens Roman Meta-Li‐ teratur ist, also Literatur mit einem vorgängigen Roman als Hauptbezugspunkt. Indem die Welt, auf die sich jeder Folgeroman bezieht, ein Roman ist, exemp‐ lifiziert die Gattung Folgeroman die poststrukturalistische These, dass die Wirk‐ lichkeit ein sprachliches und dann im weiteren ein soziales und kulturelles Kon‐ strukt sei, ja dass es außerhalb der Sprache keine Wirklichkeit gebe. In diesem Theoriegebäude ist die Welt ein Buch und alle Erkenntnis Interpretation (von Texten). Diese geisteswissenschaftliche Erkenntnistheorie kann von einer na‐ turwissenschaftlich orientierten Epistemologie - etwa in der Tradition der Ana‐ lytischen Philosophie - kritisiert werden, aber das würde die Berechtigung sol‐ cher Romane nicht berühren. Jedenfalls macht die Tatsache, dass in Folgeromanen ein Buch den Platz einnimmt, den in realistischen Romanen die Welt einnimmt, verständlich, warum Poststrukturalisten diese Literatur so lieben. Ich nenne nur die Stichworte Selbstreferenz, self-fashioning, Autopoiesis. Intertextualität? Spätestens hier wird sich mancher Leser fragen, warum die Diskussion des Fol‐ geromans ohne Rückgriff auf die Begrifflichkeit der neueren Intertextualitäts‐ theorie erfolgt. Folgeromane sind schließlich durch ihre Beziehung zu anderen Romanen charakterisiert und insofern Inbegriff von „Intertextualität“. Warum verwendet dieser Essay dann die traditionelle Begrifflichkeit und spricht von „Vorlagen“ oder „Originalen“ statt etwa von „Prä-Texten“, und das obwohl Fol‐ geromane „Post-Texte“ genannt wurden? Ich tue es deshalb nicht, weil die Theorie der Intertextualität Teil des post‐ strukturalistischen Theoriegebäudes ist, jedenfalls die von Julia Kristeva ent‐ wickelte Fassung, die besonders einflussreich, aber in meinen Augen auch be‐ sonders abwegig ist. Da diese Fragen im Zusammenhang mit Folgeromanen jedoch interessant sind, gehe ich in der Form eines Exkurses kurz auf sie ein. Kristeva, die den Begriff Intertextualität prägte, ging von Michail Bachtins Gedanken eines Dialogs zwischen Texten aus und erweiterte ihn zu einer typisch postmodernen Theorie der Textbeziehungen ohne Autorenintention. (Die Affi‐ nität zu Roland Barthes’ These vom „Tod des Autors“ und zu Jacques Derridas 75 Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans Ansicht, dass alle Sprache Zitat sei, ist offenkundig.) Tatsächlich ist es aber eine Metonymie, wenn man davon spricht, dass Texte aufeinander reagieren, denn natürlich reagieren Autoren (Textproduzenten) aufeinander (vermittels Äuße‐ rungen). Da die Poststrukturalisten jedoch die Differenzierung zwischen wört‐ lichem und übertragenem Sprachgebrauch nicht akzeptieren, ist es für sie eine Tugend, sich von der Kraft ihrer Metaphern und Metonymien forttragen zu lassen. In diesem Sinne kann dann nicht nur ein früherer Text (Autor) einen späteren Text (Autor) beeinflussen, sondern auch ein späterer Text einen früheren. Das Wort Intertextualität zeigt es schon an: die Kausalbeziehung wird gleichgesetzt mit dem, was in meiner traditionellen Terminologie zum Beispiel „etwas im Lichte von etwas anderem sehen“ genannt wird. Widerspruchsfrei ist Kristevas Auffassung von Intertextualität, wenn man weiter annimmt, dass die Beobach‐ tung das beobachtete Objekt konstruiert, dass die Rezeption das literarische Werk und seine Bedeutung schafft. Und genau das behaupten die Poststruktu‐ ralisten. (Der erste, der das für die Literaturrezeption behauptet hat, war meiner Kenntnis nach Jorge Luis Borges in seinem Essay Kafka y sus precursores, 1952.) Wenn man aber mit Berkeley annimmt, dass die Beobachtung das Beobachtete erschafft (esse est percipi), dann kann man sagen, dass die durch die Lektüre von Eliza’s Daughter hindurchgegangene Lektüre von Sense and Sensibility diesen letzteren Roman verändert, konstruiert. Da ist dann Eliza’s Daughter (Ausgangs-) Text und Sense and Sensibility (nur) Prä-Text. Substanz gibt es nicht, auch keine Unterscheidung von Primärtexten und Sekundärtexten, und Wag‐ ners Lohengrin ist (unter anderem) dadurch konstituiert, dass es Hitlers Lieb‐ lingsoper war. Wenn man das auf Jesu Botschaft überträgt, dann ist das in etwa die Position der Katholischen Kirche zur Rolle der Tradition gegenüber den heiligen Texten. Die Rezeption ersetzt im Extremfall die Bibel. Nun ist das die typische Theorie einer Priesterkaste, die ihre Herrschaft legitimieren möchte, und unabweisbar folgt eines Tages eine „evangelische“ Reaktion: zurück zu den Quellen, nieder mit der Herrschaft der Hüter der Tradition! Literaturprofessoren sollten daher mit Theorien vorsichtig sein, die die Rezeption zum integralen Bestandteil des Werkes machen wollen, direktes Verstehen für unmöglich erklären, Sekundär‐ literatur mit Primärliteratur gleichsetzen und manches ähnliche mehr. Daher spreche ich weiterhin von Jane Austens Roman als dem Original und von Joan Aikens Roman als einem Sekundärtext und davon, dass der spätere Text auf den älteren zwar neues Licht wirft, ihn aber nicht verändert. Ich diffe‐ renziere also weiterhin zwischen Kausalbeziehungen zwischen Gegenständen und Beziehungen zwischen Beobachtungen. 76 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur Original + Wirkung = Folgeroman Noch einmal sei allerdings betont, dass Künstler dürfen, was heteronom ar‐ gumentierenden Philosophen und Wissenschaftlern verwehrt ist, nämlich Ross und Reiter als Zentauren darzustellen. Das Problem mit den meisten Folgeromanen ist freilich, dass ihnen ihr Status als Meta-Literatur äußerlich bleibt, dass ihre Gestaltungsmittel ihrem Charakter nicht entsprechen. Sein Charakter scheint den Folgeroman zum Inbegriff von Meta-Literatur zu ma‐ chen, aber die meisten Folgeromane bleiben epigonal dem Konzept des reali‐ stischen Romans verhaftet. Auch Aikens Eliza’s Daughter ist in dieser Hinsicht nur halbwegs erfolgreich. Inhaltlich schreibt ihr Roman Austens Vorlage zwar ins 19. und sogar ins 20. Jahrhundert fort, bezieht also die von Austen - und anderen - angestoßenen Entwicklungen in ihren Folgeroman ein, und insofern ist Eliza’s Daughter eine überzeugende Extrapolation des in Sense and Sensibility enthaltenen Potentials. Stilistisch-strukturell jedoch bleibt der Roman im 19. Jahrhundert stehen, etwa auf dem Stand von Jane Eyre. Dabei gibt es durchaus Vorbilder, die zeigen, wie man einen Roman anlegen kann, der seine eigene Rezeption enthält, und die dies auch ästhetisch darstellen. Ich denke etwa an John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman (1969). Das ist zwar kein Folgeroman im strengen Sinn des Wortes - Folgeroman eines ein‐ zelnen Romans -, aber etwas ganz ähnliches, nämlich der Abgesang auf eine ganze Romantradition, den viktorianischen Roman, den realistischen Roman. Einerseits ist The French Lieutenant’s Woman ein realistischer Roman, dessen Handlung im England des Jahres 1867 spielt und die bekannten Versatzstücke viktorianischer Romane enthält: bedrückende gesellschaftliche Konventionen und Aufbegehren, sexuelle Tabus und Tabubrüche, Klassengegensätze und Auf‐ stieg, Broterwerb gegen Erbschaft, Ehe gegen Leidenschaft und vieles mehr. Andererseits ist The French Lieutenant’s Woman ein zeitgenössischer Roman, dessen Niederschriftsdatum - 1967 - deutlich markiert ist durch einen Erzähler, der in Kommentaren (und Fußnoten) moderne Sensibilität verrät, souverän über die hundert Jahre zwischen seinen Figuren und sich - und uns - schweift und über sich als Erzähler reflektiert. Vor allem bietet er uns drei verschiedene Schlüsse an: zunächst einen konventionellen, demgemäß Charles Smithson seine Verlobte Ernestina Freeman heiratet (Kapitel 44), dann zwei modernere, in denen es nach der Lösung der Verlobung und einer zweijährigen Suche nach Sarah Woodruff, seiner Geliebten für eine leidenschaftliche Begegnung, zu einer Aussprache mit Sarah kommt, die einmal zu einer Annäherung zwischen den beiden führt (Kapitel 60), einmal zu einer bitteren Trennung (Kapitel 61). 77 Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans Derart ist der Roman ähnlich hybrid wie alles Verstehen, in dem sich Fremdes und Eigenes mischen. The French Lieutenant’s Woman ist ein Roman, der einer‐ seits einen viktorianischen Roman enthält, andererseits aber auch die Erwar‐ tung der modernen Leser an einen viktorianischen Roman enthält, somit ein Zentaur, ein Folgeroman par excellence. 78 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye Ehe im folgenden Robert Nyes fiktionale Autobiographie Lord Byrons diskutiert werden wird - die echte ist verloren -, soll in einem ersten Abschnitt die Ver‐ bindung von Byrons Persönlichkeit und seinem literarischen Werk skizziert werden. I Zwischen Narzissmus und Distanz: Byrons Persönlichkeit und sein literarisches Werk Es ist allseits bekannt, dass bei Byron (1788-1824) Leben und Werk zusammen gesehen werden müssen, da einerseits seine Lebenserfahrungen immer und häufig ganz direkt in seine Dichtungen eingegangen sind und da andererseits die Werke nicht ohne Bezug zum Autor verstanden werden können, was sowohl ihren Reiz als auch ihre Begrenztheit ausmacht. Ich werde im folgenden diese Bezüge en passant referieren, gleichzeitig aber einen Schritt über die traditio‐ nelle Inbeziehungsetzung von Leben und Werk hinaus machen und zeigen, dass die künstlerische Reifung Byrons aufs engste mit der Art und Weise verbunden ist, wie er mit dem biographischen Element im Einzelwerk umgeht, wie er sich selbst in den Werken je anders konstruiert. (Im englischen Sprachraum würde man das heutzutage „self-fashioning“ nennen.) *** Das erste größere Werk, das in diesem Zusammenhang interessiert, ist Childe Harold’s Pilgrimage. Das epische Gedicht ist das poetische Tagebuch der Mit‐ telmeer-Reise, die Byron nach Erreichen der Großjährigkeit Mitte 1809 begann und die ihn über Lissabon, Gibraltar und Malta zunächst nach Westgriechenland und Albanien führte, dann nach Athen und über die türkische Ägäisküste nach Konstantinopel, schließlich zurück nach Griechenland. Erst nach zwei Jahren Abwesenheit betrat Byron Mitte 1811 wieder englischen Boden. Mit sich brachte er das Manuskript der ersten beiden Gesänge von Childe Harold (später wurden es insgesamt vier). Die Veröffentlichung machte Byron über Nacht berühmt, wie er selbst gesagt haben soll. Das lag zum einen an der Schilderung der Landschaften, deren Exotik die zu Hause gebliebenen Engländer faszinierte, bzw. an der Landschaftsschilderung, die die „impressionistische“ Naturauffassung der Romantik aufgriff, also den Akzent auf das subjektive Er‐ leben legte, weniger auf die objektiven Gegebenheiten. Zum anderen - und das interessiert hier mehr - lag der Erfolg im Helden begründet: Junker Harold ist der erste in der Reihe der typischen „Byronic heroes“, biographisch eng ver‐ wandt mit dem Autor, ein vom Leben desillusionierter und übersättigter junger Mann voll innerer Unrast, in dem sich die Jugend der Zeit wiedererkannte, der Zeit des Niedergangs Napoleons seit 1812 und der folgenden Restauration nach dem Wiener Kongress 1815. Während Byron in der Londoner Gesellschaft zum Salonlöwen avancierte, zahlreiche Amouren mit zum Teil hochstehenden Damen hatte, seine leiden‐ schaftliche Liebe zur Halbschwester Augusta entdeckte, eine Konvenienz-Ehe einging, um die entstehenden Gerüchte zum Schweigen zu bringen - während‐ dessen ließ Byron in schneller Folge die Reihe seiner „Oriental tales“ erscheinen: The Giaour (1813), The Bride of Abydos (1813), The Corsair und Lara (beide 1814) sowie The Siege of Corinth (1816). Was die Verwendung autobiographischen Materials angeht, so liegt zwischen Childe Harold und den Orienterzählungen ein Schritt, den man mit der Formel kennzeichnen kann: Vom Glückstreffer zum kalkulierten Erfolg. Byron er‐ kannte, worin die Wirkung des Childe Harold begründet war, nämlich in den exotischen Schauplätzen und im „Byronic hero“, und er ging nun daran, die beim Publikum so erfolgreiche Mischung zum Rezept zu machen. Uns interessiert der Held als Träger des biographischen Materials, und hier ist Byrons Fortschritt auch am größten: Die Protagonisten der Orienterzählungen beherrschen die Bühne des Geschehens weit mehr als es der Junker Harold getan hatte, und es werden die Umrisse dieses Helden immer markanter. Es ist - ich fasse die Pro‐ tagonisten der verschiedenen Erzählungen zusammen - ein von einer geheim‐ nisvollen Schuld durch die Welt getriebener junger Mann, ein einsamer und stolzer Aristokrat des Individualismus, der radikalen Subjektivität, schön, düster, das bleiche Antlitz und die hohe, edle Stirn von dunklen Locken um‐ rahmt, gezeichnet von Weltschmerz und Lebensüberdruss. Dabei sind diese Helden - anders als im Childe Harold - nicht wortwörtlich autobiographisch, denn natürlich war Byron kein Seeräuber gewesen wie der Korsar und hatte keine türkischen Haremsbesitzer getötet wie der Giaur; aber sie sind indirekt autobiographisch, weil deutlich als Wunschbilder und als die Erfüllung von Tagträumen erkennbar, und vielleicht als solche im Sinne von Selbstentwürfen noch aufschlussreicher als das Spiegelbild Harold. Als Grundelemente der Handlung und der Protagonisten lassen sich heraus‐ destillieren: Liebe und Sexualität, Schuld und Geheimnis. Tatsächlich lässt sich auch Byrons Leben mit eben diesen Worten kennzeichnen. Zwei Faktoren greife ich beispielhaft heraus: den verkrüppelten Fuß und die als lasterhaft empfun‐ dene Sexualität. 80 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur Byron wurde mit einem verkürzten und nach innen gedrehten Fuß geboren, der sich durch einen lebenslangen Schmerz in steter Erinnerung hielt und durch keinerlei Verfahren in Ordnung zu bringen war. Der schöne, eitle, arrogant-ver‐ letzliche Mann empfand die Verkrüppelung als fürchterlichen Makel, oder viel‐ leicht gilt es auch anders herum: Der als Makel empfundene Fuß machte ihn arrogant-verletzlich. Noch auf dem Totenbett sagte Byron zu seinem Arzt, nie werde je ein Mensch diesen Fuß sehen, solange er lebe. Byron kompensierte die Behinderung, indem er ein guter Boxer und ein ausgezeichneter Schwimmer wurde. (Als erster Mensch seit mythischer Zeit, da Leander seine Hero auf diesem Weg besuchte, durchschwamm er - mit einem Bekannten - den Helles‐ pont.) Gefühle der Scham und Schande mit dem Zwang zur Überkompensation beherrschten auch seine Sexualität. Seit das schottische Kindermädchen den Achtjährigen regelmäßig missbraucht, später der adelige Pächter von Newstead Abbey, Stammsitz der Familie Byron, den Fünfzehnjährigen verführt hatte, spä‐ testens jedoch seit der Fünfundzwanzigjährige für kurze Zeit ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Halbschwester Augusta unterhielt, fühlte sich Byron als Verworfener, ist dieser Bereich gekennzeichnet durch zwanghafte und als Laster empfundene Ausschweifung mit Prostituierten, Strichjungen, verheirateten Gräfinnen und jungen Reisebegleitern. Die „Oriental tales“ und ihr Markenzeichnen, der „Byronic hero“, verbreiteten in kürzester Zeit Byrons Ruhm in ganz Europa. In England allerdings war seine gesellschaftliche Stellung unhaltbar geworden, und so begab er sich 1816 auf den Kontinent, erst in die Schweiz, dann nach Italien. Dort ließ er sich in Venedig nieder, wo er sich erneut in zahllosen Liebschaften bis zur Erschöpfung verlor, ehe ihm dann in Ravenna die Beziehung zu Teresa Guiccioli einen gewissen Halt gab. Die Erschöpfung war physisch und psychisch: Zum einen war Byron auf‐ geschwollen und dick geworden, sah, kaum dreißig, aus wie vierzig; zum an‐ deren litt er zunehmend an seinem hektischen Don-Juanismus und wurde sich - nachdem er seine Selbstverliebtheit und Selbstinszenierung erfolgreich zu Markte getragen hatte - der Krankhaftigkeit dieser Egomanie bewusst und be‐ gann, nach größerer Selbstdistanzierung zu streben. Dies gelang im Ansatz, als er auf den befreienden Gedanken kam, nicht länger narzisstisch in Tagträumen zu schwelgen, sondern seinen Narzissmus und das Leiden daran zum Gegenstand seiner Kunst zu machen. Mit diesem nächsten Schritt in seiner persönlichen und künstlerischen Entwicklung gelangte Byron zum ersten Mal in die Nähe menschlicher Wahrhaftigkeit und literarischer In‐ tegrität. Der Schritt weg vom Schwelgen in narzisstischen Wunschphantasien hin zu einer Auseinandersetzung mit diesem Schwelgen führte ihn zur Gattung des Dramas, das aufgrund seiner „un-vermittelten“ Darstellungsweise objek‐ 81 Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye tiver und neutraler ist als Lyrik und Erzählliteratur. Einige Jahre lang beschäf‐ tigte sich Byron nun hauptsächlich mit dramatischen Arbeiten, acht insgesamt, von denen unter dem Gesichtspunkt des autobiographischen Selbstentwurfs vier besonders interessieren: Manfred (1817), Sardanapalus (1821), Cain (1821) und das unvollendete The Deformed Transformed (1822). Ich greife Manfred he‐ raus, auch wenn das als „dramatic poem“ (so der Untertitel) noch zwischen Epik und Dramatik steht. In seiner Burg in den Alpen beschwört Graf Manfred die Geister des Univer‐ sums; sie können ihm jedoch seinen Wunsch nach Selbstvergessenheit nicht erfüllen. Als er vom Gipfel der Jungfrau springen will, rettet ihn ein Jäger, dem er von seiner schuldigen Liebe zu einer Frau erzählt. Später erfahren wir, dass sie Astarte hieß und ihm in allem glich, nur sanfter und milder war, und dass er sie mit seiner Liebe zerstörte. Nun muss er mit der Schuld an ihrem Tod leben. Der Geist Arimanes hilft Manfred, Astarte erscheinen zu lassen, aber während er fragt, ob ihm vergeben sei und ob er geliebt werde, kündigt sie nur seine baldige Auflösung an und versinkt. Am folgenden Tag - nachdem er einerseits böse Geister, die ihn mit sich führen wollen, andererseits einen Abt, der ihn mit der Kirche aussöhnen will, zurückgewiesen hat - stirbt Manfred stolz und einsam. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei Manfreds Ebenbild Astarte mit Byrons Schwester Augusta gleichzusetzen, als ginge es also um die unaus‐ sprechliche und doch immer wieder nach Aussprache drängende Sünde des In‐ zests. Ein zweiter Blick aber zeigt, dass Astarte der in eine makellose Frauen‐ gestalt projizierte Selbstentwurf Byrons ist, der gelernt hat, den Inzest als Metapher und vielleicht sogar als Äquivalent seines Narzissmus zu sehen. Der reifere Byron hatte es endlich verstanden und damit frühere Koketterie und Theatralik hinter sich gelassen: Die Hölle ist, nie und nimmer von sich los‐ kommen, stets auf sich fixiert sein, kein Du, sondern immer nur Ich. Mit Manfreds Tod lässt Byron dieses Stadium hinter sich, nicht ganz und nicht unwiderruflich, wie man sehen wird, aber doch tendenziell, und die folgenden Dramen sind der Versuch, durch die objektivere Form des Theaterstücks und durch die Wahl historischer Stoffe die Fixierung auf die eigene Person zu ver‐ ringern. Überwunden hat Byron sein narzisstisches Selbstbild samt seiner literari‐ schen Stilisierung im „Byronic hero“ jedoch erst in den satirischen Werken der letzten Lebensjahre, vor allem im Don Juan, an dem er zwischen 1818 und 1823 arbeitete, also in etwa parallel zu den Dramen. Erst in der klassizistischen Gat‐ tung der Satire fand sein Genius den ihm entsprechenden Ausdruck, und erst hier gelang es ihm, den unreifen „romantischen“ Umgang mit sich selbst in 82 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur künstlerisch meisterlicher Form „aufzuheben“ (um einen Schlüsselbegriff aus Hegels fast gleichzeitiger Phänomenologie des Geistes zu benützen), also gleich‐ zeitig zu negieren und zu bewahren, was in diesem Fall heißt, einerseits sich kritisch nach dem Realitätsprinzip einzuschätzen und doch andererseits die neurotischen Zwänge als Antrieb für seine Kunst nicht zu verwerfen, sondern fruchtbar zu machen. Das gelingt Byron dadurch, dass dem weiterhin gefühl‐ voll-romantischen Inhalt eine satirisch-klassizistische Form entgegengestellt wird, wodurch sich dieser Inhalt als das zu erkennen gibt, was er immer schon war, was Byron vorher aber nicht hatte wahrhaben wollen: als falsche Romantik. Der Titelheld erinnert nur vage an den aus der Tradition bekannten Don Juan. Byrons Protagonist ist stets passives, wenngleich williges Opfer weiblicher Ver‐ führung und Hingabebereitschaft. Die Handlung folgt in locker verknüpften Szenen Don Juans Schicksal. Die überstürzte Abreise des Jünglings aus Spanien wegen des Verhältnisses zu einer verheirateten Frau mündet in eine mit schock‐ ierendem Realismus erzählte Schiffbruchsepisode, gefolgt von einer Zeit idealer Liebe auf einer einsamen Insel, welche abrupt durch den Verkauf in die Sklaverei und üppige Haremsabenteuer beendet wird; nach der desillusionierenden Teil‐ nahme am Russisch-Türkischen Krieg ergibt sich eine Episode als Gesandter und Geliebter bei Katharina der Großen, an die sich eine Geheimmission nach England anschließt - und hier, da Byron zu einer Gesellschaftssatire auf seine ehemalige Heimat ansetzt, bricht das Werk ab. Wenn man sich dem Erzähler zuwendet, so ist gleich der erste Satz entschei‐ dend: I want a hero (Canto I, 1. Strophe), und mit dieser Klage des Erzählers, dass seinem Werk ein Held fehlt, ist ein Ton der Subjektivität angeschlagen, der zur Gattung des Epos passt wie die Faust aufs Auge. Nun ist aber das Epos im Zeitalter der bürgerlichen Subjektivität ohnedies ein Anachronismus, wie gerade erst Wordsworth anhand seines Pre‐ lude erfahren und gestaltet hatte. Byrons Erzähler weiß das jedoch - wie der erste Satz zeigt - schon vor Beginn seines Unternehmens und macht aus der Ironie des Schicksals, keinen Helden zu haben, seinen Beginn. Dieser subjektiv-ironische Ton setzt sich fort in den witzigen und ausgefal‐ lenen Reimen und Halbreimen, die gleichfalls bezeugen, dass es würdig und seriös nicht mehr geht: Ungrateful, perjured, barbarous Don Alfonso, How dare you think your lady would go on so? (I, 146) 83 Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye Oder es wird mit den literarischen Mitteln, etwa des Reims, gespielt und damit die logische Ebene des Textes mit der des Kommentars über den Text vermischt: I only say suppose it - inter nos. (This should be entre nous, for Julia thought In French, but then the rhyme would go for nought.) (I, 84) Parodistisch - im Sinne der verspottenden Nachahmung der literarischen Kon‐ ventionen - ist auch der Anfang von Canto III: Hail, Muse! et caetera. - We left Juan sleeping …, die Deflationierung des Musenanrufs und des ganzen mythologischen Apparats des klassischen Epos. Der romantisch-exotische Inhalt (repräsentiert durch den Helden) wird also gebrochen durch die Beleuchtung des Inhalts (repräsentiert durch den ironi‐ schen Erzähler), und beide - Held und Erzähler - haben Züge Byrons. (Übrigens hatte natürlich auch Childe Harold’s Pilgrimage einen Erzähler, aber der hob sich kaum vom Helden ab und konnte in unserer knappen Analyse vernachlässigt werden.) Beim Helden Don Juan ist es offensichtlich, dass er Byron ähnelt. Beim namenlosen Erzähler gilt das aber ebenfalls: So lebt der Erzähler zur Zeit des ersten Gesanges an der Brenta (I, 212), genau wie der damals in Venedig resi‐ dierende Byron; er ist 30 Jahre alt (I, 213), wie Byron im Jahre 1818, als die Worte zu Papier gebracht wurden; er hat einst, wie Byron, den Hellespont durch‐ schwommen (II, 105); er hatte in früher Jugend eine Geliebte namens Mary (V, 4), wie Byron (Mary Chaworth). Aber dies ist nun endlich ein freier, reifer und unpathetischer Umgang mit sich selbst. Allerdings war es kein stabiles Gleichgewicht. Die über Hunderte von Seiten durchgehaltene Ironie wirkt - wenn man einmal darauf aufmerksam geworden ist - auf die Dauer maskenhaft, zeigt, dass hier eine Wunde bedeckt wird. Und auf der biographischen Ebene ist das Griechenland-Abenteuer - Byron reiste 1824 nach Griechenland, um beim Aufstand gegen das Osmanische Reich zu helfen - ebenfalls doppeldeutig; einmal zeigt es einen Mann der Tat, der zu sich und seinen Idealen gefunden hat, zum anderen jedoch zeigen die todessüchtigen Anteile an der Unternehmung, dass es noch andere Motive gab als sich einfach für den Befreiungskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich zu begeistern. *** Zum Phänomen Byron gehört die Wirkungsgeschichte. In England war er beim breiten Publikum zu seiner Zeit konkurrenzlos populär, trotz Walter Scott und 84 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 1 Die Bemerkung findet sich als Digression in „Shakespeares Mädchen und Frauen“, hier zitiert nach den Gesammelten Werken in 9 Bänden (Berlin: Grote’sche Verlagsbuch‐ handlung, 1893), Bd. IV, S. 212. 2 London, Abacus / Sphere Books, 1991 (zuerst 1989 bei Hamish Hamilton). 3 Ich folge hier Annegret Maack, „Charaktere als Echo: Zur Poetologie fiktiver Biogra‐ phien“, in: Martin Brunkhorst et al. (Edd.), Klassiker-Renaissance: Modelle der Gegen‐ wartsliteratur (Tübingen: Stauffenburg, 1991), S. 249 f. Thomas Moore, wenn auch umstritten. Außerhalb Englands galt er zu seinen Lebzeiten als der englische Dichter, und in Deutschland beispielsweise war er kaum weniger berühmt als in der englischen Heimat. Mit dem „Byronism“ gab es sogar eine nach ihm benannte europäische Stil- und Lebenshaltung, deren Torheiten in aller Kürze vielleicht am besten in Heinrich Heines Spott zusam‐ mengefasst werden können: Die rosigsten Knäbchen, die gesundesten Gelbschnäbel, behaupteten damals, ihre Ge‐ nussfähigkeit sei erschöpft, sie erheuchelten eine greisenhafte Erkältung des Gemüts und gaben sich ein zerstörtes und gähnendes Aussehen. 1 Zu dieser Kultfigur avancierte charakteristischerweise der frühe, der unreife Byron. Angesichts seiner eigenen persönlichen und künstlerischen Weiterent‐ wicklung hätte Byron zu dem eher retardierten Bild seiner Anhänger sagen können: „Ich bin kein Byronist.“ (In Anlehnung an Marx avant la lettre.) Im Ge‐ gensatz zu seinen Verehrern war Byron - trotz aller Selbstverliebtheit - nie mit sich zufrieden. Das, so scheint mir, ist die Vorbedingung seiner persönlichen und literarischen Bedeutung. II Robert Nye: The Memoirs of Lord Byron - A Novel 2 Bis weit in die Nachkriegszeit hinein war der englische Roman hinsichtlich Er‐ zähltechnik und Wirklichkeitsbezug relativ traditionell, weit traditioneller als etwa der französische, (anglo-)irische oder US-amerikanische Roman. Das über‐ mächtige Vorbild der großen Viktorianer von Charles Dickens bis Thomas Hardy wirkte hier besonders stark nach. Seit den sechziger Jahren jedoch ist auch der englische Roman experimenteller geworden, der Bezug zur Wirklich‐ keit problematischer, mit dem Ergebnis etwa, dass die Charaktere oft deutlich als imaginär gekennzeichnet sind und dass Individualität oder psychologische Tiefe kaum interessiert. 3 Gleichzeitig ist in England eine Inflation biographischer Literatur zu beob‐ achten, und vielleicht besteht hier sogar ein Zusammenhang dergestalt, dass die Biographie das offenbar weiterbestehende Bedürfnis des breiten Lesepublikums 85 Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye nach ,Welthaltigkeit‘ und ‚runden Charakteren‘ befriedigt, das der zeitgenössi‐ sche Roman (wenn man einmal von der blühenden Trivialliteratur absieht) oft verweigert. Darauf reagieren nun seit einigen Jahren wiederum die Romanautoren, indem sie vielfach reale Personen, darunter häufig Dichter, zu Romanfiguren machen, so Anthony Burgess mit ABBA ABBA (1977, über John Keats), Andrew Sinclair mit The Facts in the Case of E. A. Poe (1979), D. M. Thomas mit The White Hotel (1981, über Sigmund Freud), Peter Ackroyd mit The Last Testament of Oscar Wilde (1983) und Chatterton (1987), Julian Barnes mit Flaubert’s Parrot (1984) oder Angela Carter mit Black Venus (1985, über Charles Baudelaire). Einzelne Autoren haben sich geradezu auf das Genre des biographischen Romans spezi‐ alisiert, etwa der frühere John Banville oder Robert Nye. Vor allem der englische Romantiker George Noël Gordon Lord Byron und die Literaten in seinem Umkreis haben es den zeitgenössischen britischen Schrift‐ stellern angetan. Allein in den achtziger Jahren erschienen mehrere Werke, so die Romane Conversations with Lord Byron on Perversion, 163 Years after His Lordship’s Death (1987) von Amanda Prantera oder Mab’s Daughters (1991) von Judith Chernaik, die Theaterstücke Bloody Poetry (1985) von Howard Brenton oder Blood and Ice (1985) von Liz Lochhead sowie der Film Gothic (1986) von Ken Russell. Zum 200. Geburtstag von Percy Bysshe Shelley im Jahre 1992 ist noch einmal ein Schub von Romanen erschienen, beispielsweise Margaret Mor‐ leys Wild Spirit: The Story of Percy Bysshe Shelley and Harriet Grove sowie Jane Blumbergs Byron and the Shelleys: The Story of a Friendship. Allerdings konterkarieren viele dieser biographischen Romane die Leserer‐ wartung einer konventionellen Erzählung, da sie nicht zum Konzept des psy‐ chologisch glaubhaften, realistisch dargestellten Individuums zurückkehren, sondern poetologische Fragen nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Lite‐ ratur aufwerfen. Hierhin gehören auch Robert Nyes Memoirs of Lord Byron. Robert Nye (1939 in London geboren, Herausgeber mehrerer Gedichtantho‐ logien und Verfasser einer Vielzahl von Dramen, Kurzgeschichten- und Ge‐ dichtbänden sowie Kinderbüchern) ist vor allem als Romancier bekanntge‐ worden. Seine Spezialität ist die fiktionale Rekonstruktion literarischer Gestalten. Falstaff (1976), Merlin (1979), Faust (1981), The Voyage of Destiny (1982, über den Höfling, Entdecker und Poeten Sir Walter Raleigh) und als letzter Roman in dieser Reihe The Memoirs of Lord Byron. Gleich der Titel samt Untertitel führt mitten hinein in das Vexierspiel der biographisch-faktischen und der fiktionalen Aspekte. Natürlich weiß jeder Byron-Kenner - und bei Byrons politisch und vor allem amourös regem Leben sind nach wie vor viele Engländer interessierte Kenner -, dass Byron seinem 86 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 4 Thomas Moore, The Life, Letters and Journals of Lord Byron (London: John Murray, 2 1860, 1 1830), S. 654. 5 So jedenfalls behauptete es Byrons Freund John Cam Hobhouse; für eine wenige dra‐ matische Schilderung der Ereignisse vgl. Karl Elze, Lord Byron (Straßburg: Trübner, 1886), S. 238-240 und 511-515. Dichterfreund Thomas Moore das Manuskript einer Art Autobiographie hin‐ terlassen hatte, die Moore „Memoranda“ oder „Memoirs“ nannte 4 , und dass dieses Manuskript von den Nachlassverwaltern - neben dem biederen Moore Byrons Halbschwester Augusta Leigh und andere - nach Byrons Tod im Jahre 1824 vernichtet wurde, weil sie es als tödliche Gefahr für Byrons Reputation ansahen und überdies für in alle Zeiten unpublizierbar. 5 (Für den Fall aber, dass die Vorgänge doch jemandem nicht geläufig sind, informiert ein Epilog am Ende der Memoirs über die Manuskript-Vernichtung.) Kurioserweise hat man die ver‐ lorenen Memoiren aber trotzdem soeben lesen können, abgedruckt auf 215 (in römischen Ziffern numerierten! ) Seiten, allerdings als Roman von Robert Nye. Die (fiktive) Autobiographie besteht, von der Erzählperspektive her gesehen, aus drei Abschnitten. Der erste, der Hauptabschnitt, besteht aus 16 Kapiteln und ist - in der Logik dieser Textebene - von Byron zwischen Sommer 1818 und Herbst 1819 niedergeschrieben werden; darin erzählt er in chronologischer Rei‐ henfolge die wichtigen Ereignisse seines Lebens, sich immer wieder mit Erzäh‐ leinschüben aus der Gegenwart der Niederschrift unterbrechend, bis er sich zu‐ letzt eingeholt hat, seinen Lebensbericht also bis an die Schreibgegenwart herangeführt hat. Dann folgt als 17. Kapitel ein Postskript vom 22.4.1822, in dem Byron die letzten zweieinhalb Jahre rekapituliert, vor allem den Tod seiner Tochter Allegra, der ihn bewogen hat, das schon versiegelte Manuskript wieder zu öffnen und zu ergänzen. Und schließlich folgt noch ein 18. Kapitel, ein zweites Postskript, diesmal vom 31.8.1822, in dem der Tod seines Freundes und Dich‐ terkollegen - des einzigen, den er unter den Zeitgenossen als ebenbürtig aner‐ kannte - Percy Bysshe Shelley berichtet wird. Man kann die Memoirs als Autobiographie (von Lord Byron) lesen oder als Roman (von Robert Nye) oder natürlich als Mischung, als biographischen Roman. Die Lektüre als Roman ist allerdings unergiebig. Wenn der Erzähler und Protagonist nicht Byron wäre / hieße, so würde das Buch kaum beachtet werden; dafür ist es stilistisch, künstlerisch zu gleichgültig. Interessant ist der Text aber durch seine Anlage und wegen seines Helden, eines berühmten Dichters, der tatsächlich gelebt hat. 87 Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye 6 So liest die Memoirs auch der Rezensent des Byron Journal, Vincent Newey; vgl. The Byron Journal 18 (1990), S. 103 f. 7 So sprach Byron seinen eigenen Namen [baien] aus, nicht [baieren], wie es normal ist. 8 Ähnlich denkt Neil Berry in seiner Rezension der Memoirs (The Times Literary Supple‐ ment vom 17.11.1989, S. 1271). 9 Vgl. Hartmut Müller, Lord Byron in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbeck: Rowohlt, 1981), S. 21-23. Die Lektüre des Werks als Autobiographie dürfte der Normalfall sein 6 und bietet sich an, da es ja vermutlich kein Zufall ist, dass Nye seinem Ich-Erzähler den Namen „Byron“ gegeben hat und nicht etwa „Miller“ oder „N.“ Diese Lesart wird auch belohnt, denn Nye ist ausgezeichnet informiert: es ,stimmt‘ fast alles, soweit ich sehe. Andererseits gibt es keine ‚Überraschungen‘, denn Nye kann die Autobiographie Byrons ja nur aus den bekannten Dokumenten rekonstru‐ ieren; Unbekanntes könnte uns nur Byron selbst mitteilen; Unbekanntes aus der Feder Nyes wäre Fälschung bzw. Bruch der fiktionalen Logik. Es ist wie mit der Auffüllung eines weißen Flecks auf der Landkarte der Rückseite des Mondes beispielsweise, wenn die Funkbilder eines bestimmten Quadrats verlorenge‐ gangen sind. Man wird dann - wenn es denn nicht anders geht - die Daten der anderen Bilder in einen Computer geben und sich daraus eine Extrapolation machen lassen. Dann ist unser horror vacui befriedigt; sachlich wird das Ver‐ fahren nichts erbringen können, denn es wird uns nur ein statistisches Mittel dessen komponieren können, was man aus den anderen Funkbildern über den Mond schon weiß. Dennoch: Wer sich in unterhaltsamer Weise über Byrons Leben informieren will, wird bei Nye gut bedient. Faktengetreu wiedergegeben sind die wohlbekannten Ereignisse, etwa die trostlose Ehe mit Annabelle Mil‐ banke, die große Liebe zur Halbschwester Augusta, die Beziehung zu Shelley, aber auch zahlreiche Kleinigkeiten, zum Beispiel die Beerdigung des treuen Boatswain (seines Hundes), die Durchschwimmung des Hellespont, die Marotte, bei der Aussprache die „r’s“ auszulassen. 7 Nur psychologisch stimmt der Text für mich nicht immer ganz. Die dunklen, düsteren Seiten Byrons, das, was die Zeitgenossen als ,satanisch‘ empfanden, fehlt. Byrons Sexualität funktioniert in diesen Memoirs als Genuss ohne Reue, während es doch so war, dass er auf seine homo- und heterosexuellen Aus‐ schweifungen - beispielsweise im venezianischen Karneval - immer wieder mit Ekel und Selbsthass reagierte. 8 Über seinen verkrüppelten Fuß spricht der Byron Robert Nyes frei und locker, wohingegen Byron den wirklichen verkrüppelten Fuß niemals jemanden sehen ließ, nicht einmal den Arzt am Totenbett, Zeichen eines überwältigenden und geheimen Gefühls der Scham, der Schande, der Schmach. 9 Vielleicht war es Nyes Absicht, der Tradition der dämonisierenden 88 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur 10 In der Kurzgeschichte „Pierre Menard, autor del Quijote“ stellt Borges (oder sein Er‐ zähler) einen Romancier vor, der sich so sehr in die Zeit des Miguel de Cervantes hi‐ neingelebt hat, dass es ihm gelungen ist, einzelne Kapitel des Don Quijote Wort für Wort nachzuschaffen (nicht etwa abzuschreiben! ). 11 Mit Ausnahme einiger netter stilistischer Anachronismen und sonstiger Verweise aus der Autobiographie heraus in unsere Gegenwart. Künstlerbiographie entgegenzuarbeiten, ähnlich wie es Peter Shaffer in Ama‐ deus für Mozart versuchte, aber der Preis ist eine gewisse Nivellierung. Dabei zeigt sich ein generelles Problem des Vorhabens, verloren gegangene Memoiren aus den Jahren um 1820 im Jahr 1989 nachzuschaffen. Die vielen notierten sexuellen ,Perversionen‘ Bisexualität, Ehebruch, Fellatio zwischen „consenting adults“, Inzest mit der erwachsenen Halbschwester etc. - waren 1820 tatsächlich Perversionen, sowohl für Byron als auch für seine Umwelt, und sie waren riskant; heute haben sie viel von ihrer Stigmatisierung und ihrem Wagnis verloren. Es steht mit den Memoirs so wie mit Jorge Luis Borges’ erfun‐ denem Fall des Don Quijote des Pierre Menard: 10 Auch da, wo der Text Menards aus den Jahren um 1930 identisch ist mit dem Original von Cervantes aus den Jahren um 1610, ist es ein anderer Text. So wären Nyes Memoirs selbst dann nicht „Memoranda“ Byrons, wenn doch noch ein Manuskript dieser „Memo‐ randa“ auftauchte und sich herausstellte, dass sie wortgleich mit Nyes Text sind. Was aber bei der Kurzgeschichte von Borges nur die Besprechung einer Abstru‐ sität mit interessanten Weiterungen ist, wird hier auf zweihundert Seiten durch‐ geführt - und verliert dabei seine Dämonie. Der Witz der Memoirs of Lord Byron liegt also weder in ihren Qualitäten als Roman noch in ihren Qualitäten als Byrons Autobiographie, sondern in ihrer Anlage als hybride Mischung beider Elemente, also der biographischen (‚fakti‐ schen‘) und der romanhaften (‚fiktionalen‘) Komponente. Der Roman als Ge‐ schichtsschreibung und die (Auto-)Biographie als Roman schlagen ineinander um und erinnern uns daran, dass beide Gattungen nicht so disjunkt sind, wie es von den Geschichtswissenschaftlern vor Beginn der Narrativik-Debatte in den siebziger Jahren angenommen wurde. Allerdings ist der Umschlag nicht im Text selbst angelegt, 11 sondern einfach durch die Ausgangslage gegeben, also da‐ durch, dass wir wissen, dass Byrons Autobiographie verloren ist, die vorliegende Schrift folglich nicht echt sein kann. Es ist bei den Memoirs wie bei einem Vexierbild, bei dem man einmal die schwarze Fläche als zwei Gesichter sehen kann, das andere Mal die weiße Fläche als Pokal. Hier kommt es auch nicht darauf an, ob die Darstellung der Gesichter bzw. des Pokals künstlerisch bedeutend ist, sondern nur darauf, ob das Bild als Auslöser eines visuellen Umschlagprozesses funktioniert. Mit anderen Worten: 89 Byrons verlorene Autobiographie - wiedergefunden als Roman von Robert Nye Die kunsttheoretischen Fragen, die Nyes Memoirs aufwerfen, sind interessanter als der Text selbst. Oder positiv gewendet: Der Text Nyes ist weder als Roman noch als fiktive Autobiographie bedeutend, wirft aber höchst aktuelle Fragen des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit auf. 90 II Re-Writes, Folgeromane‚ Meta-Literatur III Irische Literatur 1 Die Standard-Biographie ist: Irvin Ehrenpreis, Swift: The Man, His Works and the Age, 3 Bde. (Cambridge, MA: Cambridge University Press, 1962, 1967, 1983). Eine kleine Übersicht auf Deutsch (leider vergriffen) bietet: Justus F. Wittkop, Swift (Reinbeck: Ro‐ wohlt, 1976). Zur Rezeptionsgeschichte s. Donald M. Berwick, The Reputation of Jonathan Swift, 1781-1882 (Philadelphia: Princeton, 1941), und Kathleen Williams (Ed.), Swift: The Cri‐ tical Heritage (London: Routledge & Kegan Paul, 1970). Zur Forschungsgeschichte s. K. Schumann & J. Möller, Swift (Erträge der Forschung) (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981). Perspektivismus bei Jonathan Swift Auch wenn viele Studenten bei der Absprache von Prüfungsthemen - und an‐ dere Leser sicher auch - von Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) wie selbstverständlich als von einem Roman sprechen: die vier Reiseberichte / Sa‐ tiren sind natürlich kein Roman, weder eine romance und noch viel weniger eine novel. Für eine romance fehlt mindestens ein durchgängiger plot und für eine novel darüber hinaus der Realismus der Darstellung, ebenso ein dreidimensio‐ naler Held / Erzähler, der die uneinheitliche Figur des Lemuel Gulliver nicht ist. (Trotzdem ist Gulliver’s Travels ohne die neue Gattung, ihren autobiographi‐ schen Gestus und den Anspruch eines detailgetreuen Tatsachenberichtes nicht denkbar.) Da Swift die vier Teile jedoch als ein Buch zum Druck gab, muss er einen gemeinsamen Nenner, ein einigendes Band gesehen haben, wenn auch offenbar weniger greifbar als Handlung, Held usw. bei der von ihm verachteten neuen Gattung des Romans, etwa bei dem soeben (1719) erschienenen Robinson Crusoe. Dieser gemeinsame Nenner, der Gulliver’s Travels zu einer künstlerischen Einheit macht, ist - so soll hier argumentiert werden - der Perspektivismus, also der das ganze Werk durchziehende Grundgedanke, dass unsere Wahrnehmung, ja sogar unsere Urteile von der Perspektive beeinflusst sind, von der aus beob‐ achtet oder gewertet wird. Da dieser Leitgedanke von Gulliver’s Travels mit Swifts Biographie verbunden werden soll und auch in anderer Form in seinen weiteren Satiren eine Rolle spielt, sind der Diskussion von Gulliver’s Travels kurze Kapitel über das Leben Swifts und seine wichtigsten anderen Satiren vo‐ rangestellt. I Jonathan Swift wurde 1667 in Dublin geboren. 1 Sein Vater war bereits acht Mo‐ nate vor seiner Geburt gestorben. Seine Mutter ging zurück nach England, woher beide Elternteile stammten, und überließ den Knaben einer Amme. Ver‐ wandte schickten ihn auf ein Gymnasium in Kilkenny. Anschließend besuchte er das Trinity College Dublin, die damals einzige Universität Irlands. Als 1688 die Glorious Revolution ausbrach, der Kampf zwischen Parlament und dem re‐ aktionären König James II, ging Swift zu seiner Mutter nach Leicester, die ihn bei einem weitläufigen Verwandten unterbrachte, dem Diplomaten und Grand‐ seigneur Sir William Temple. Schon damals begann sich eine Krankheit zu zeigen, deren Hauptsymptome Schwindel, Erbrechen und Ohrensausen waren, vermutlich die heute so genannte „Menière’sche Krankheit“. 1694 wurde Swift zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht. Gleichzeitig begann er seine Karriere als Literat und politischer Schriftsteller. Sein Gönner hatte sich unklug auf eine Parteinahme in der „querelle des an‐ ciens et des modernes“ eingelassen, in der die Intellektuellen jahrzehntelang darüber stritten, wer vorzuziehen sei: die antiken oder die zeitgenössischen Au‐ toren. Swift verfasste The Battle of the Books (1697/ 1704), in der er Sir William Temple zu Hilfe eilte, der eine Fälschung als antikes Meisterwerk gepriesen hatte. Sir William aber verhinderte den Druck, der erst Jahre später erfolgte und dann zusammen mit einer weiteren Satire, A Tale of a Tub (1696/ 1704). 1699 starb Swifts Arbeitgeber, und der nun 32-Jährige ging zurück nach Dublin, wo er den Doktorgrad in Theologie erwarb. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich Swift in den nächsten Jahren mit kleineren kirchlichen Ämtern. Politisch stand er den Whigs nahe, der Parlamentspartei des aufstrebenden großstädtischen Bürger‐ tums. Mehrfach verbrachte Swift längere Zeit in London, wo er einflussreiche Freunde hatte. 1710 schloss er sich den Tories an, den Verfechtern der Interessen der Grundbesitzer und der monarchistisch-anglikanisch Gesinnten, und er‐ reichte den Höhepunkt seiner politischen Wirkung. Allerdings war Swift kein Konservativer im Stil bürgerlichen Biedersinns, sondern ein anarchischer, un‐ bequemer konservativer Radikaler. 1713 wurde er Dean an der anglikanischen Kathedrale St. Patrick in Dublin. Als jedoch 1714 der Hannoveraner Kurfürst als George I den englischen Thron bestieg und die Whigs für die nächsten 60 Jahre den „Premierminister“ stellten, fand sich Swift für den Rest seines Lebens im irischen Abseits, das er als seiner unwürdiges Exil empfand. Trotzdem begann er nun, sich stärker für die politischen und sozialen Ver‐ hältnisse in seiner Zwangsheimat zu interessieren. Literarische Folgen dieser Parteinahme für die unter den sogenannten penal laws des 17. und des 18. Jahr‐ hunderts leidende einheimische Bevölkerung - sie hatten in den Kämpfen der Glorreichen Revolution von 1688 und 1689 auf das falsche Pferd James II gesetzt 94 III Irische Literatur 2 Stella (lat.) = „Esther“ (pers.). - waren die Drapier’s Letters (1724) und einige Jahre später die fürchterliche Satire A Modest Proposal (1729). 1726, 58-jährig, verbrachte Swift noch einmal einige Monate bei seinen lite‐ rarischen Freunden in London. Im Gepäck hatte er das Manuskript einer Satire, Gulliver’s Travels (1721-25/ 1726). Allmählich machten sich nun die Symptome seines Gebrechens immer stärker bemerkbar. 1740 setzte Swift sein Testament auf; einen Großteil seines Vermögens verfügte er für die Gründung eines Irren‐ hauses in Dublin. Danach begann ein schrecklicher körperlicher und geistiger Verfall, der 1745 mit seinem Tod endete. Für seinen Grabstein hatte Swift ein Epitaph verfasst, auf dem es in berühmten Worten heißt, dass in diesem Grabe einer ruht, dessen Herz nun endlich nicht mehr von „saeva indignatio“ zer‐ fleischt wird, von „wilder Wut“ (gegen Heuchelei, Hochmut und Unterdrü‐ ckung). (Der mentale Verfall der letzten drei Jahre hat nach heutiger Auffassung nichts mit Swifts Menièreʼscher Krankheit zu tun, sondern dürfte die Folge mehrerer unidentifizierter Hirnschläge gewesen sein.) Swifts Charakter war schwierig: Koprophilie (exkrementale Obsession), pa‐ thologische Ordnungsliebe und Reinlichkeit, Geiz. Freudianer sprechen von „analer Fixierung“. Einmal war Swift bei einem Essen in gehobener Gesellschaft. Da entdeckte er im Tischtuch ein Loch, fing an, mit dem Finger darin herum‐ zubohren und schließlich in einem Anfall von Jähzorn die Suppe durch das ver‐ größerte Loch hindurch zu essen. In den letzten Jahren seines Lebens konnte er Nahrung nur noch im Stehen zu sich nehmen und nur, wenn er allein im Zimmer gelassen wurde. Kompliziert waren auch Swifts Beziehungen zu Frauen, die bisher nicht er‐ wähnt wurden. Abgesehen von einer frühen Verlobten, die er bald vergraulte, gab es zwei Frauen in seinem Leben: Esther Johnson (die er „Stella“ nannte 2 ) und Esther Vanhomrigh (die er „Vanessa“ nannte). Stella - 14 Jahre jünger - hatte er als junges Mädchen im Haushalt von Sir William kennengelernt und später eingeladen, sich in Dublin niederzulassen. Aber er achtete sorgsam darauf, sie nie unter vier Augen zu sehen. Vanessa - 23 Jahre jünger als Swift - verliebte sich in ihn im Hause ihrer Eltern. Als sie ein Gut in der Nähe Dublins erbte, zog sie dorthin, von Swift frostig empfangen, aber es gibt Briefe an sie, in denen er von den Freuden des gemeinsamen Kaffeetrinkens spricht, ohne dessen wö‐ chentlichen Vollzug er nicht schreiben könne. Als Vanessa 1723 an Tuberkulose starb, hatte sie, wie Stella, viele Jahre in Swifts Nähe gelebt, ohne dass die beiden Frauen sich je begegnet wären. Nach Vanessas Tod flüchtete sich Swift in eine Reise durch Südirland, während derer er den bittersten Teil von Gulliverʼs Travels 95 Perspektivismus bei Jonathan Swift 3 4 Bde., ed. J. Mittelstraß (Stuttgart: Metzler, 1980/ 1995, 1984/ 1995, 1995, 1996), Bd. III, S. 96f. 4 In seiner „Monadologie“ (1720 dt., 1721 lat.); dass Swift davon Kenntnis hatte, ist un‐ wahrscheinlich, wenn man die beiden Verweise auf Leibniz in Ehrenpreis’ Swift (II 238 und III 477) als Indiz nimmt. 5 Siehe Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, übers. H. Jatho (München: Fink, 2002); die amerikanische Originalausgabe stammt aus dem Jahr 1975. schrieb, den Aufenthalt Gullivers bei den Yahoos und Houyhnhnms. 1728 starb Stella an den Folgen ihres langjährigen Asthmas, ohne dass es je zu einer sexu‐ ellen Begegnung gekommen sein dürfte. Eine in den letzten Jahrzehnten vieldiskutierte Frage ist die nach Swifts eng‐ lischer oder irischer Identität, und da sie den Übergang von der Biographie zur Werkbeschreibung bildet, sei diese Frage hier kurz erörtert. Jonathan Swift ist derjenige Schriftsteller, der mit einigem Recht an den Anfang einer irischen Nationalliteratur in englischer Sprache gestellt werden kann - allerdings nur mit einigem Recht, denn die irische Nationalität bedeutete ihm nichts, der An‐ spruch Irlands auf eine eigene Geschichte rief in ihm nur Verachtung hervor, und die Katholische Religion hielt er für Aberglauben. Aber sein Gerechtig‐ keitssinn ließ ihn zum Verteidiger der Rechte der Iren werden, unter denen er sich gleichwohl wie in der Verbannung fühlte. Vor allem seine politischen Pamphlete verschafften ihm den Ruf, ein irisches Nationalbewusstsein über‐ haupt erst geschaffen zu haben. Jedoch war Swift nicht der Mann, der Irland eine Nationalkultur hätte geben können; dafür war er zu sehr in der englischen Kultur verwurzelt - und im übrigen war er ja auch von den Eltern her biologisch ein reiner Engländer. Andererseits haben seine Schriften eine irische Seite, und schließlich lebte er von den fast 78 Jahren seines Lebens 58 in Irland. II In den Worten der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie  3 be‐ zeichnet „Perspektivismus“ Standpunkte, in denen die Geltung von Aussagen abhängig vom Standort des Betrachters gemacht wird, und als der erste Philo‐ soph, in dessen Lehre der Begriff der Perspektivität zentrale Bedeutung hat, wird G. W. Leibniz genannt. 4 Da der Begriff der Perspektive für Bereiche wie Er‐ kenntnis eine Metapher ist, aus der Malerei entnommen, soll noch daran erin‐ nert werden, dass die (Linear-)Perspektive für die Malerei um 1425 in Italien entdeckt wurde („wiederentdeckt“, wenn man das antike Griechenland und die geometrische Perspektivierung von Landkarten hinzunimmt). 5 96 III Irische Literatur 6 Das wichtigste Buch zum Thema ist immer noch: W. B. Ewald, The Masks of Jonathan Swift (repr. New York: Russell & Russell, 1967; zuerst 1954 bei Harvard University Press). 7 Zur Satire allgemein s. H. Kämmerer & U. Lindemann, Satire: Text und Tendenz (Berlin: Cornelsen, 2004); zu Swift im besonderen s. W. Weiß, Swift und die Satire des 18. Jahr‐ hunderts: Epoche - Werke - Wirkung (München: Beck, 1992). 8 Abgedruckt in der Lese-Ausgabe A Tale of a Tub and Other Works, ed. H. Ross & D. Woolley (World’s Classics) (Oxford & New York: OUP, 1986 u. ö.), S. 104-125. Was nun als Perspektivismus in Gulliver’s Travels zu voller Entfaltung kommt und im nächsten Kapitel erörtert werden soll, stellt sich in den anderen - er‐ zähltechnisch weniger komplexen - Satiren Swifts als Verwendung von Maske / persona dar. 6 Damit ist folgendes gemeint: Swift benützt eine Erzählerfigur, die einen Standpunkt einnimmt, der Swifts tatsächlicher Sicht der Dinge diametral entgegensteht. Der Autor Swift stellt die Dinge durch eine Maske hindurch aus einem Blickwinkel dar, den der Leser als völlig unberechtigt, ja inhuman er‐ kennen soll. Es handelt sich um eine Form der Ironie, um die indirekte Darstel‐ lung der Wahrheit. Allerdings findet Swift dieses literarische Mittel nicht so‐ gleich. Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war in England die Blütezeit der (poli‐ tischen) Satire und der (literarischen) Parodie. Man denke an die Versdichtungen The Rape of the Lock (1712-14) und The Dunciad (1728) von Alexander Pope, im Bereich des Dramas an die Beggar’s Opera (1728) von John Gay und in der neuen Gattung des Romans an Henry Fieldings Shamela (1741) und Joseph Andrews (1742). Der kraftvollste Satiriker von allen aber war Jonathan Swift. 7 Swifts, was die Erzählerfigur angeht, am wenigsten komplexe Satire ist The Battle of the Books (1697). 8 Wie schon gesagt, griff der junge Swift mit dieser etwa 20-seitigen Schrift in die „querelle des anciens et des modernes“ ein, zu der sein Arbeitgeber William Temple soeben eine Stellungnahme zugunsten der Alten publiziert hatte. Bei Swift findet der Kampf eines Freitags nachts in der St. James’s Library (King’s Library) statt, wobei die Modernen die Alten vom höchsten Gipfel des Parnassus vertreiben wollen. Auf Seiten der Modernen kämpft die große Übermacht, dauernd von Lebenden verstärkt, auf der Seite der antiken Autoren kämpfen nur wenige, aber was für Namen: Homer, Pindar, Euklid, Aristoteles und Platon! Diese ehrfurchtgebietenden Gestalten behalten in jedem Gefecht die Oberhand, aber vor der Entscheidung bricht der Bericht unvermittelt ab. Genau genommen: das Manuskript endet mit Pünktchen - der Rest ist verlorengegangen … Berichtet wird die Schlacht von einem Erzähler, der vorgibt unparteiisch zu sein (S. 108), tatsächlich jedoch - mit kleineren Ausnahmen - Sprachrohr Swifts ist, durch das hindurch dieser seiner Geringschätzung der Zeitgenossen im Ver‐ 97 Perspektivismus bei Jonathan Swift 9 „(A) malignant deity called criticism“, die in „Nova Zembla“ (! ) wohnt (S. 115). 10 Abgedruckt in der angeführten Lese-Ausgabe, S. 1-103. gleich zu den Dichtern, Philosophen oder Gelehrten der Antike Ausdruck ver‐ leiht. Homer alleine haut die Feinde in Massen aus dem Sattel, und es gibt einen Seitenhieb auf die moderne Gattung der Kritiker, 9 die assoziiert werden mit Ignorance, Pride, Opinion, Noise, Impudence usw. (S. 115). Auch für Vergil oder Platon gilt: Swifts Erzähler arrangiert seinen Bericht so, dass die antiken Heroen quasi für sich selbst sprechen; Vermittler („Interpret“) sein zu wollen, wäre lä‐ cherliche Anmaßung. Für kanonische Texte gilt: eine historische Perspektivie‐ rung ist vollkommen unnötig und daher unberechtigt. Insgesamt spielt der Er‐ zähler jedoch keine eigene Rolle und tritt meist hinter der Handlung zurück. Komplexer - und im Sinne des Perspektivismus fortschrittlicher - ist die Er‐ zählerfigur in A Tale of a Tub (1696). 10 Das „Tonnenmärchen“ ist eine Parabel über die Entwicklung des Christentums in Europa, unterbrochen von einer Reihe von Digressionen, darunter eine Digression über Digressionen. Ein Vater hinterlässt seinen drei Söhnen ein Testament und ein Überkleid. Die drei Söhne beginnen bald, den letzten Willen des Vaters so auszulegen, dass sie ihre Wün‐ sche nach Verzierungen am Überrock rechtfertigen können. Besonders tut sich zunächst Peter hervor - der die Katholische Kirche repräsentiert −, die Heilige Schrift des Letzten Willens des Vaters nach Lust und Laune zu interpretieren, wenn der Wortlaut eine Rechtfertigung für seine Gelüste nach Macht und Reichtum nicht hergibt. Martin, der Vertreter der Anglikanischen Kirche, und Jack, der Repräsentant der Dissenters, beschließen endlich, ihren Bruder zu ver‐ lassen. Während Martin moderat bleibt, schnappt Jack völlig über und zerstört, indem er die Verzierungen abreißt, gleich den ganzen Rock. Jack steht dabei für radikale Dissenters, etwa die Quäker, die sich in individualistischem Furor zu einer extremistischen Subjektivität hin entwickeln. (Der Titel des Werks spielt übrigens auf die Praxis von Matrosen an, einem das Schiff bedrohenden Wal eine Tonne zur Ablenkung ins Wasser zu werfen. Das Märchen soll derart In‐ tellektuellen etwas zum Kritisieren vorwerfen, um sie von Angriffen auf Kirche und Staat abzulenken. Tatsächlich trat Swift ironischerweise gerade bei den Verteidigern von Staat und Church of England in große Fettnäpfe, und das, ob‐ wohl er ihren Repräsentanten Martin (Luther) sehr glimpflich hatte davon‐ kommen lassen.) A Tale of a Tub ist der Traktat eines Ich-Erzählers in Form einer satirischen Parabel gegen die Freiheiten, die sich in Swifts Augen die Katholische Kirche, aber auch die zahllosen aus der Reformation hervorgegangenen dissenters in der Interpretation von Christi Lehre und des Neuen Testaments erlauben. Konse‐ 98 III Irische Literatur 11 Siehe auch das Verbot im vorbildlichen Brobdingnag, zu Gesetzen Kommentare zu schreiben (Gulliver’s Travels, Part II, Chapter 7). 12 The Masks of Jonathan Swift, S. 13-39. 13 Der ganze Titel lautet: A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People in Ireland from Being a Burden to their Parents or Country, and for making them Beneficial to the Public. Ich beziehe mich auf den Abdruck in: Satires and Personal Writings, ed. W. A. Eddy (London et al.: OUP, 1932 u. ö.), S. 19-31. quenterweise ist die erste der Digressionen gegen die Zunft der Kritiker ge‐ richtet (und insofern nicht wirklich eine „Abschweifung“). Interessanterweise ist Swift dabei nicht nur gegen die Beliebigkeit von Interpretationen, sondern überhaupt gegen jede Interpretation und insofern ein Literalist und Fundamen‐ talist im Hinblick auf Bibelauslegung. 11 Er steht auf dem Standpunkt, dass der Wortlaut die Richtschnur ist. Was christliche Doktrin und Neues Testament an‐ geht, so sind sie für Swift unantastbar, die Intention des Verfassers (Gott! ) ist eindeutig und daher ohne Interpretation - das heißt: Vermittlung - erkennbar. Der Erzähler freilich arbeitet mit Mitteln der Indirektion, der Sympathielen‐ kung, und dazu benützt der Autor Swift das Mittel der Ironie. Mit anderen Worten: An zahlreichen Stellen lässt Swift seinen Erzähler Dinge sagen, die Swifts Meinung diametral entgegenstehen. Diese - wie Swift offenbar glaubt: offensichtlichen - Torheiten dienen dazu, die Wahrheit umso deutlicher her‐ vortreten zu lassen. So ist es im Widmungsbrief an den Fürsten Posterity, so im Preface und so in der Introduction mit der scheinernsten Erörterung der ver‐ schiedenen Vorrichtungen für wichtigtuerische Redner, mit gelehrte Traktate verspottenden lacunae und Fußnoten, mit einer lächerlichen Liste der eigenen Publikationen usw. Wie Ewald 12 dargelegt hat, parodiert Swift hier - fast wie ein Stimmenimitator - zahlreiche zeitgenössische Autoren. Anders ist es im Haupttext und in den meisten Digressionen. Hier ist der Erzähler zweifellos Swifts Sprachrohr, manchmal sogar vom Autor gar nicht zu unterscheiden. Die Damen, deren Charme die drei Söhne alsbald verfallen, heißen „the Duchess d’Argent, Madame de Grands Titres, and the Countess d’Orgueil“ (S. 35). Hier ist es offensichtlich der Autor Swift selbst, der diese sprechenden Namen nach seinem moralischen Geschmack erfunden hat. Und das gleiche gilt, wenn der Erzähler / Autor sagt, dass ein Tier mit Goldkette, rotem Gewand und weißem Amtsstab Oberbürgermeister heißt, eine Ansammlung von Hermelin und Pelzen Richter usw., woraus folgt, dass die Kleidung die Person ist (S. 37). Wenn aber - ironisch! - behauptet wird, die Maske sei das Gesicht, dann schlägt Swift Lüge, Geltungssucht und Hochmut mit ihren eigenen Waffen. Eine ähnliche, allerdings weitaus härtere Form der Erzählerpersona findet sich in A Modest Proposal (1729). 13 Ein würdiger, ökonomisch-wissenschaftlich 99 Perspektivismus bei Jonathan Swift 14 Hierzu wieder Ewald, The Masks of Jonathan Swift, S. 163-175, der auch auf andere vergleichbare Schriften hinweist und auf einige Ökonomen, die Swift mit A Modest Proposal parodierte und angriff. argumentierender Gentleman-Autor macht sich Gedanken über die furchtbare Lage der irischen Bevölkerung. In der nüchternen Sprache der Wissenschaft, in der Menschen wie Gegenstände behandelt werden (müssen), spricht er über das Leid der Mütter und ihrer Kinder, viel zu vielen angesichts der regelmäßigen Hungersnöte. Dieser Projektemacher hat sich in langem Nachdenken einen Plan ausgedacht, den er nun der Öffentlichkeit vorlegt. Er geht davon aus, dass die Bevölkerung Irlands etwa 1,5 Millionen beträgt, von denen ca. 200.000 Frauen im gebärfähigen Alter sein mögen. Pro Jahr werden etwa 120.000 Kinder armer Eltern geboren, die ihre Kinder nicht selbst ernähren können. Da sich diese Kinder erst ab einem Alter von sechs Jahren selbst durch Stehlen durchbringen können, ist zu fragen, was hier volkswirtschaftlich zu tun ist. I shall now therefore humbly propose my own Thoughts, which I hope will not be liable to the least Objection. I have been assured by a very knowing American of my acquaintance in London, that a young healthy Child well Nursed is at a year Old a most delicious nourishing and wholesome Food, whether Stewed, Roasted, Baked, or Boiled; and I make no doubt that it will equally serve in a Fricasie, or Ragoust (S. 23). Und der Wissenschaftler fährt fort, dass das die angemessenste Weise sei, die Oberschicht in Irland zu ernähren, da sie ja ohnedies das Land verzehre. Abge‐ sehen davon würde durch ein solches Vorgehen die Zahl der Papisten vermin‐ dert. Außerdem könne man mit den Leichen der Kinder noch andere nützliche Dinge tun, z. B. ihre Haut zu leichten Schuhen für die Damen und Herren der Aristokratie verarbeiten. Weiterhin erhofft er sich durch diese Maßnahme eine größere Hochschätzung der Ehe und zunehmende Liebe der Männer für ihre Gattinnen. In der Tradition der Argumentation des um Objektivität bemühten Wissenschaftlers versichert der Sprecher zuletzt, dass er selbst von unlauteren Motiven frei sei, weil seine Frau jenseits des Alters sei, da sie noch Kinder er‐ warten könne. Um Swifts furchtbare Anklage nicht durch zu viel Kommentar zu entwerten, sei nur festgehalten, dass der Autor sich hier der Technik der Ironie bedient. Er spricht durch seine persona hindurch in der Sprache und in der Denkweise derer, die er der Inhumanität überführen will 14 , und indem er ihre Gedanken, ihre Denkweise und ihren Sprachgebrauch zum logischen Endpunkt bringt, führt er sie ad absurdum und gibt sie der Lächerlichkeit preis, freilich einer Lächerlich‐ keit, zu der kein frohes Lachen passen will, sondern ein Erschrecken über die 100 III Irische Literatur 15 Der Originaltitel 1726 lautete: Travels into several Remote Nations of the World. In Four Parts. By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of several Ships. Ich zitiere im folgenden nach der Ausgabe: Gulliver’s Travels, ed. P. Dixon and J. Chalker (Har‐ mondsworth: Penguin Books, repr. 1987, 1 1967). Deutsche Lese-Ausgaben gibt es bei Beck, Diogenes, Insel, Reclam oder Winkler. Besonders schön - mit Anmerkungen von Roland Arnold und den bekannten Illustrationen von Grandville - ist die Ausgabe: Gullivers Reisen, übers. Fr. Kottenkamp (Frankfurt a. M.: Insel, 1974). 16 Man assoziiert gullible, „leichtgläubig“, oder gull in vero, „wahrhafter Tölpel“. 17 1: 12 ist das Verhältnis zwischen inch und foot im alten vor-metrischen englischen System der Längenmessung. desperate Grausamkeit, mit der hier Inhumanität entlarvt wird. Narratologisch gesprochen: Swifts „Erzähler“ argumentiert aus der Swift entgegengesetzten Perspektive. Nicht jede Perspektive ist also laut Swift berechtigt, Perspekti‐ vismus bedeutet keineswegs erkenntnistheoretischen oder ethischen Relati‐ vismus, jedenfalls bei Themen wie Christentum / Anglikanismus, Gerechtigkeit, Wahrheit. III Was in den bisher diskutierten Satiren die Maske oder persona ist, hinter der Swift mit seinen festen Ansichten steht, das ist in Gulliver’s Travels die jeweilige Perspektive, deren Fremdheit die verschiedenen menschlichen Schwächen deut‐ licher zu Tage treten lässt, als das aus der üblichen Sicht möglich wäre. Gulliver’s Travels  15 wurde in den Jahren 1721-25 geschrieben und 1726 anonym gedruckt, wobei Swift jedoch sogleich als Autor identifiziert wurde. Die erste Reise des fiktionalen Reiseberichts führt den Schiffsarzt Lemuel Gulliver 16 von London nach Lilliput, wo die Bewohner und ihre Welt nur ein Zwölftel so groß sind wie die Welt in England. 17 (Im dreidimensionalen Raum haben Körper also nur 1 / 1728 des Volumens.) Die zweite Reise führt ihn nach Brobdingnag, wo nun alles zwölfmal so groß ist wie zu Hause. Auf der dritten Reise nach Laputa und zu anderen Orten geht es um Wissenschaft, die Royal Society und das Verhältnis Englands zu Irland, das in der Beziehung Oben-Unten gesehen wird. Die vierte Reise schließlich führt Gulliver in eine verkehrte Welt, wo die Menschen - die Yahoos - abstoßend wie Tiere (Affen) sind und die Tiere (Pferde) vernünftig wie ideale Menschen - die Houyhnhnms. Dabei lässt sich aus dem Text folgender zeitlicher Lebensweg Gullivers er‐ schließen: 101 Perspektivismus bei Jonathan Swift 18 Zwei herausragende Bücher aus der zahlreichen Sekundärliteratur seien genannt: A. E. Case, Four Essays on Gulliver’s Travels (Gloucester/ MA: Smith, repr. 1958, 1 1945), und H. J. Real & H. J. Vienken, Jonathan Swift: „Gulliver’s Travels“ (München: Fink, 1984). 19 Lilliput = little put = „kleiner Tropf “. 1660 Geburt 1687 Heirat 1699-1702 Erste Reise (nach Lilliput) 1702 Zwei Monate zu Hause in London 1702-06 Zweite Reise (nach Brobdingnag) 1706 Zwei Monate zu Hause 1706-10 Dritte Reise (nach Laputa usw.) 1710 Fünf Monate zu Hause 1710-15 Vierte Reise (zu den Houyhnhnms) 1715 Endgültige Rückkehr nach Hause 1720 Niederschrift der Reise-Erlebnisse Gulliver’s Travels  18 richtet sich als Satire einerseits gegen Einzelpersonen, an‐ dererseits gegen mächtige Institutionen und Traditionen. Da es hier um den gemeinsamen Nenner des oft in seiner Einheit bezweifelten Werks geht, seien zur Erinnerung zunächst nur einige satirische Details aus Buch I angeführt. Was Einzelpersonen angeht, so ist mit Flimnap, dem Finanzminister und Seiltänzer am Hof des Königs von Lilliput, 19 Robert Walpole gemeint, der damalige engli‐ sche „Premierminister“ und Exponent der Whig-Geldoligarchie, dessen politi‐ sche Wendigkeit Swift verabscheute. Als Flimnap einmal vom Hochseil abstürzt, wird er nur vom Ruhekissen des Königs, auf das er fällt, vor dem Tode gerettet; dieses Ruhekissen ist - wie die Zeitgenossen sogleich erkannten - die Duchess of Kendall, des Königs Mätresse. Was die allgemeinere Satire angeht, so sei der Streit über die Frage angeführt, ob man gekochte Eier besser am dicken Ende aufschlägt oder am spitzen; das karikiert die bitteren, aus Swifts Sicht absurd spitzfindigen theologischen Dispute zwischen Katholischer Kirche und den pro‐ testantischen Glaubensgemeinschaften über die Frage der Transsubstantialität (also die Frage, was genau bei der Wandlung während der Eucharistiefeier mit Brot und Wein bzw. der Hostie geschieht). Und die Episode, als Gulliver den Brand in den königlichen Gemächern mit seinem Urin löscht und dafür nur wenig Dank erntet, bedeutet die Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges 102 III Irische Literatur 20 Die bisher vorgetragenen Ideen eines gemeinsamen Nenners der vier Teile von Gulli‐ ver’s Travels sind nicht sehr präzise (Kontraste und Echos als Konstruktionsprinzip z. B.) und desavouieren sich z. T. gegenseitig (das Buch als Bildungsroman, das Buch als invertierter Bildungsroman, Gullivers Entwicklung hin zu psychischer und moralischer Reife bzw. hin zu Desintegration). - Ein ausgezeichneter Artikel über Wahrnehmung, Beobachtung und Perspektiven in Gulliver’s Travels ist: David Oakleaf, „Trompe l’Oeil: Gulliver and the Distortions of the Observing Eye“, University of Toronto Quarterly 53 (1983) 166-180; allerdings sieht Oakleaf diese nicht als einheitsstiftendes Element. Bei aller Kürze sehr nahe meiner Argumentation kommt J. Paul Hunter, „Gulliver’s Travels and the Later Writings“, in: Christopher Fox (Ed.), The Cambridge Companion to Jona‐ than Swift (Cambridge: Cambridge University Press, 2003), S. 216-240, speziell S. 229-232. von seiten Englands durch unkonventionelle Mittel, nämlich Geheimdiplomatie, was von vielen mächtigen Whig-Politikern sehr ungern gesehen wurde. Diese und viele andere Stellen erschließen sich dem heutigen Leser nur mit einer annotierten Ausgabe. Unvergänglich, nämlich profund und zugleich ein‐ fach, jedoch ist die Großanlage des Werks. Zum ersten Mal wird hier - so die folgende Argumentation - ein ganzes Buch der Darstellung der Perspektivität gewidmet, also der Einsicht, dass unsere Beobachtungen und Wahrnehmungen, unsere Erkenntnisse und Urteile weitgehend unter einer Perspektive erfolgen und nicht etwa die Dinge an und für sich beobachten, erkennen usw. In dieser Leitidee des Perspektivismus wird hier die oft in Abrede gestellte Einheit der Satire gesehen. 20 In Teil I also sind die Lilliputaner und ihre Welt nur ein Zwölftel so groß wie Gulliver und die vertraute Welt Englands. Entsprechend wirken die Probleme und politischen sowie militärischen Aktivitäten der Lilliputaner auf den Leser „klein“ und kleinkariert, zum Beispiel die kriegerischen Auseinandersetzungen Liliputs mit Blefuscu, sprich: Englands mit Frankreich. So werden Englands Re‐ gierung, Königshaus und adligen Machthaber auf das richtige Maß gestutzt: sie sind eitel, selbstisch, korrupt, engstirnig, heimtückisch: small ist petty. Um ein Beispiel zu geben, vielleicht das geistreichste und zugleich lächer‐ lichste Beispiel zur Entlarvung von kleingeistigem Größenwahn vor der Folie des wirklich großen Gulliver: der Name, den sich der Herrscher von Lilliput gegeben hat und der am Kopf einer jeden Proklamation steht: Golbasto Momaren Evlame Gurdilo Shefin Mully Ully Gue, most mighty Emperor of Lilliput, Delight and Terror of the Universe, whose dominions extend five thousand blustrugs (about twelve miles in circumference), to the extremities of the globe; Mo‐ narch of all Monarchs, taller than the sons of men; whose feet press down to the centre, and whose head strikes against the sun: at whose nod the princes of the earth shake 103 Perspektivismus bei Jonathan Swift 21 Warum die Teile I und II so oft zu Kinderbüchern verändert wurden, ist klar: Es geht um die Größenverhältnisse zwischen Kindern und Puppen einerseits sowie zwischen Kindern und Erwachsenen andererseits. Deutsche Kinderbuch-Ausgaben von Gullivers Reisen gibt es z. B. bei Arena, Gerstenberg, Patmos oder Ueberreuter. Eine bekannte englischsprachige Ausgabe für Kinder ist: Gulliver’s Travels. Illustrated Junior Library. Ed. Aldren Watson („Revised & slightly abridged for readers of our time.“) (New York: Grosset & Dunlap, 1947). Für eine Übersichtsdarstellung von Gulliver’s Travels als Kinderbuch s. z. B. M. Sarah Smedman, „Like Me, Like Me Not: Gulliver’s Travels as Children’s Book“, in: Frederik N. Smith (Ed.) The Genres of Gulliver’s Travels (Newark: University of Delaware Press, 1990), S. 75-100. their knees; pleasant as the spring, comfortable as the summer, fruitful as autumn, dreadful as winter (S. 79). Vom bombastischen Golbasto über das herzzerreißend komische Mully Ully Gue zum deflationierenden twelve miles in circumference, das Golbastos Reich in Perspektive setzt! In Teil II, der Reise ins Land der riesenhaften Brobdingnagians, 21 wird Größe zweifach, ja sogar widersprüchlich konnotiert. Politisch entspricht der Größe - im Vergleich zur Zwergenhaftigkeit Gullivers - Großzügigkeit, körperlich ruft die Größe bei Gulliver Ekel hervor und zeigt die Hässlichkeit von uns Menschen wie im Vergrößerungsglas. Nachdem Gulliver das Regierungssystem und die Regierungsrealität auf den beiden Britischen Inseln auf Wunsch des Königs von Brobdingnag erklärt und dabei möglichst vorteilhaft dargestellt hat, sagt dieser: I cannot but conclude the bulk of your natives, to be the most pernicious race of little odious vermins that Nature ever suffered to crawl upon the surface of the earth (S. 173). Wieder erscheint England klein, aber diesmal nicht als aus größerer Perspektive gesehenes Lilliput, sondern als aus der größeren Perspektive Brobdingnags ge‐ sehenes England. Hier ist Gulliver sozusagen der Lilliputaner und sein Land wirkt klein, kleinlich, bösartig, Brobdingnag dagegen groß und großmütig. Andererseits wirken die Bewohner von Brobdingnag mit ihren zwölfmal bzw. siebzehnhundertachtundzwanzigmal größeren Körpern auf Gulliver und auf uns abstoßend, ihre Sexualität und sonstigen körperlichen Funktionen wider‐ wärtig. Man denke an das junge Mädchen, dessen Brüste Gulliver beim Säugen eines Babys sieht und deren Größe, die riesigen Nippel, die Hautporen ganz allgemein ihn anekeln. Eine Amme beruhigt ein Baby, indem sie ihm die Brust gibt: 104 III Irische Literatur 22 la puta (span.), „die Hure“. 23 double lin = Dublin; offenbar wusste Swift nicht, daß der Name Dublins von gäl. dubh linn, „black pool“, herrührt. I must confess no object ever disgusted me so much as the sight of her monstrous breast … It stood prominent six foot, and could not be less than sixteen in circumfe‐ rence. The nipple was about half the bigness of my head, and the hue both of that and the dug so varified with spots, pimples and freckles, that nothing could appear more nauseous (S. 130). Anschließend reflektiert Gulliver über Proportionen und ihre Bedeutung für unsere Wahrnehmung und - in diesem Fall: ästhetischen - Urteile: This made me reflect upon the fair skins of our English ladies, who appear so beautiful to us, only because they are of our own size, and their defects not to be seen but through a magnifying glass, where we find by experiment that the smoothest and whitest skins look rough and coarse, and ill coloured (S. 130). Teil III - zuletzt geschrieben - ist, wie alle Kritiker bemängelt haben, lockerer gefügt, und die Satiren - im Plural! - sind nur schwer auf einen Nenner zu bringen, sind außerdem nicht immer überzeugend. Die äußere Entsprechung dieser fehlenden gedanklichen Einheit ist die Vielzahl der Örtlichkeiten. Nachdem Lemuel Gulliver - wie schon in den Teilen I und II - das ursprüngliche Ziel seiner Reise aufgeben musste, langt er zuerst in Laputa an, einer bei oder über der Insel Balnibarbi schwebenden Fliegenden Insel; die größten Städte Bal‐ nibarbis sind Lagado und Lindalino. Später gelangt er zu den Inseln Glubb‐ dubdrib und Luggnagg, ehe er nach vier Jahren über Japan wieder zurück nach England reist. Auf der Schiffsreise von London aus gibt es eine Kritik an Hol‐ ländern, in Laputa folgt eine Satire auf die Cartesianer, dann auf die Engländer, die mit der Herrschaftsinsel Laputa 22 den Menschen in Lindalino 23 die Lebens‐ grundlage entziehen können, indem sie die fliegende Insel über sie dirigieren und so des Sonnenlichts berauben. Hierauf folgt eine Satire gegen die Projek‐ temacher in Lagado, später eine Attacke gegen die „modernes“ in Glubbdubdrib und schließlich ein Angriff gegen die Hoffnungen der Menschen auf Unsterb‐ lichkeit in Luggnagg. Die These von der Perspektivität als dem gemeinsamen Nenner der vier Teile von Gulliver’s Travels gilt hier nur teilweise. Was in Teil I die Proportion Groß / Klein war und in Teil II die Proportion Klein / Groß, stellt sich nun dar als das Verhältnis von Oben zu Unten und als Zerrspiegel bzw. Verkehrte Welt, aber eben nur teilweise. Verkehrte Welt ist zunächst der Schlüssel zum Verständnis der Episode mit dem bösartigen Holländer, der zu Christen unchristlicher ist als 105 Perspektivismus bei Jonathan Swift 24 Hierzu Thomas Metscher, „The Radicalism of Swift: Gulliver’s Travels and the Irish Point of View“, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 30: 4 (1982) 293-310. 25 Z. B. Satiren auf das Gravitationsgesetz und auf jede nicht-anwendungsorientierte Ma‐ thematik wie in Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von 1687, für deren Veröffentlichung in ihrer Schriftenreihe der Royal Society ewiger Ruhm gebührt. Zur Geschichte der Royal Society: H. Lyons, The Royal Society 1660-1940 (New York: Greenwood Press, 1968). 26 Abgeleitet von whinny, „(leises freudiges) Wiehern“. die Nicht-Christen. Das Verhältnis Oben / Unten liegt der Beziehung von Laputa (England) zu Balnibarbis Lindalino (Irland / Dublin) zugrunde; es ist nach Swift die Beziehung des Kolonisten und Ausbeuters zu den Unterdrückten. 24 Der Zerrspiegel hingegen ist die Perspektive bei der Kritik an den Bewohnern (Car‐ tesianern) von Laputa, die in ihren Körpern und Körperhaltungen wie geomet‐ rische Figuren aussehen, geometrisch geformte Mahlzeiten zu sich nehmen usw., sowie bei der Kritik an den unsterblichen Struldbruggs von der Insel Luggnagg, die im Alter von 100 oder erst recht 200 Jahren wie Zerrbilder menschlicher Wesen aussehen. Gedanklich diffuser und weniger gelungen sind hingegen andere Satiren - etwa die Attacke auf die Projektemacher und damit auf die Royal Society sowie ihren Präsidenten seit 1703, Sir Isaac Newton - in denen Swift Dinge verspottet, von denen er nichts verstand. 25 Teil IV, die Reise Gullivers ins Land der Yahoos und Houyhnhnms, ist eine Reise in eine in mehrerer Hinsicht verkehrte Welt. Die Perspektive ist die In‐ version, um die Perversionen des Menschengeschlechts hervorzuheben. Die Ya‐ hoos und die Houyhnhnms sind - ähnlich wie Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde - die in zwei Anteile aufgespaltene Ganzheit des Menschen. Die affenähnlichen Yahoos sind dabei die auf ihre Triebe reduzierten Menschen, deren Rachsucht, Geilheit und allgemeine Bösartigkeit hier ohne zivilisatori‐ schen Firnis offen zu Tage treten. Die Houyhnhnms, 26 die Herren des Landes in Form edler Pferde, sind die Verkörperung von Rationalität und Gutartigkeit; für die menschlichen Laster wie Lüge, Gier, Unsauberkeit usw. haben sie keine Wörter, wie sich in langen Gesprächen herausstellt, die Gulliver mit seinem Pferdeherrn führt. Aus der Sicht der Pferde ist Gulliver - objektiv in der Mitte zwischen Yahoo und Houyhnhnm stehend - ein Yahoo, und ebenso aus der Sicht der Yahoos, wie er schmachvoll erlebt, als ein junges brünstiges Yahoo-Weibchen sich voll sexueller Begierde auf ihn stürzt - der Höhepunkt der Perversion, weil hier das weibliche Geschlecht die Rolle des in der Sicht von Swifts Zeit aktiven männlichen Geschlechts übernimmt. Verkehrte Welt ist das Darstellungsprinzip dieses Teils von Gulliver’s Travels insofern, als der Mensch sich seit Aristoteles ja gerne als animal rationale vom Tier unterscheidet, während es hier entgegengesetzt ist: die Tiere - hier ver‐ 106 III Irische Literatur 27 Siehe U. Stadler, Der technisierte Blick: Optische Instrumente und der Status von Literatur (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003), S. 91 ff. körpert durch Pferde - sind durch Rationalität und ‘Menschlichkeit’ gekenn‐ zeichnet, die Menschen - als Yahoos - durch „Bestialität“. Gulliver wird unter diesen Eindrücken zum Menschenfeind, der nach seiner Rückkehr die Gesellschaft seinesgleichen nicht mehr erträgt, nicht einmal die seiner Frau, deren Geruch schon ihn abstößt. So verbringt er viele Stunden des Tages bei seinen Pferden, wo er auch seine Mahlzeiten alleine zu sich nimmt - eine furchtbare Ahnung Swifts seines eigenen späteren Schicksals. IV Die Welt wird in Gulliver’s Travels also aus verschiedener Perspektive darge‐ stellt: (1) von groß zu klein, (2) von klein zu groß, (3) von oben nach unten und umgekehrt, (4) als verkehrte Welt. Man könnte auch sagen: Einmal sieht Gulliver die Welt durch ein umgekehrtes Fernrohr, dann durch ein Mikroskop, 27 drittens durch einen Zerrspiegel (der unter anderem oben und unten verkehrt) und schließlich als (moralisch) verkehrte Welt. In den ersten beiden Teilen scheint ihm, als sehe er je nach den Voraussetzungen seiner Wahrnehmung die Dinge größer oder kleiner. In den letzten beiden Teilen steigert sich diese quantitative Relativierung: Gulliver erkennt, dass selbst die kognitive Erkenntnis relativ ist und dass die unterschiedlichen Voraussetzungen der Erkenntnis und des Urteils sogar die Qualität der Gegenstände modifizieren. Diese vier satirischen Erzählungen von unvergleichlicher Eindrücklichkeit sind aus Swifts Neurosen und Obsessionen hervorgegangen. Die Darstellung der Perspektivität unserer Wahrnehmungen und Urteile ist das ästhetische Ve‐ hikel zur Objektivierung seiner Körperfeindlichkeit, seiner Misanthropie, seiner Wissenschaftsfeindlichkeit, seiner saeva indignatio gegen jede superbia. Seine Werke, vor allem Gulliver’s Travels und A Modest Proposal, sind die künstlerische, die sprachliche Gestaltung der Ursituation des Kindes Swift: vaterlos, mutterlos, in einem fremden Land, folglich ewig in Distanz zu sich selbst, zu allem um ihn herum, unfähig zu festen Bindungen. Hinter seinem Gebrauch von Masken und Perspektivismus steht als gemeinsamer psychologischer Nenner, so scheint es mir, ein überwältigendes Gefühl der Fremdheit: fremd in Irland, fremd gegen‐ über seiner Anglikanischen Kirche, fremd als Tory unter einer Whig-Regierung, fremd gegenüber Frauen, fremd in seinem Körper. Aber was hat da einer aus seinen Obsessionen gemacht! 107 Perspektivismus bei Jonathan Swift 1 See the review of research in Norbert Kohl’s monumental Oscar Wilde: Das literarische Werk zwischen Provokation and Anpassung (Heidelberg: Winter, 1980), pp. 15 ff. There is an English version: Oscar Wilde: The Works of a Conformist Rebel (Cambridge et al.: CUP, 1989), translated by D. H. Wilson. Paradox in Oscar Wilde A paper on paradoxes and the spirit of paradox in the works of Oscar Wilde probably does not arouse great expectations - indeed, the issue is an obvious one in Wilde and, naturally enough, has been discussed by many critics. Ho‐ wever, by looking at it from a specific perspective I hope to illustrate several new aspects of the topic. This will be done in the following steps. First, I will give a very brief survey of pertinent previous criticism; then I will introduce a notion of paradox that is at the same time broader and yet more precise than the common usage of the term; and lastly, I will use this more technical conception of paradox to take a fresh look at Wilde’s most important works. Not all of the results can be new. Given the high standard of Wilde criticism, achieved in the last decades after unsatisfactory beginnings, 1 decisive corrections to the picture, revolutionary findings or radically deviant judgements are improbable. Nevertheless, the pre‐ sent approach achieves two things: first, it reveals a development in Wilde’s understanding and artistic use of paradox not yet realised before; secondly, it qualifies the image of Wilde as a mere supplier of brilliant epigrams and places him firmly in the tradition of other Irish authors of early and high modernism such as, for instance, George Bernard Shaw, William Butler Yeats or Samuel Beckett. I Paradoxes in Oscar Wilde are an obvious phenomenon in the works written between 1887 and 1895, not however in the earlier works (the rather unoriginal poems, the tragedies, the literary fairy tales), nor in the few works written after the trials. But since it is the works between 1887 and 1895 on which Wilde’s fame chiefly rests, paradoxes are a central topic in any discussion of Wilde. This was seen from the very beginning of critical reception. The first con‐ temporary reviewers of The Picture of Dorian Gray and the society comedies as well as the witnesses of Wilde’s conversational genius - friend and foe alike -, all emphasised the witty aphorisms, the epigrammatic aperçus, the surprising 2 See Karl Beckson (editor), Oscar Wilde: The Critical Heritage (London: Routledge and Kegan Paul, 1970), where the term paradox or its contents is touched upon on almost every page, and where there is even a whole article on the question, dating from 1895. 3 All subsequent references are to the following edition: Oscar Wilde, The Complete Works (London and Glasgow: Collins, repr. 1990). 4 Cf. Alvin Redman The Epigrarns of Oscar Wilde: An Anthology (London and Sidney: Redman, 1952), and Derek Stanford (editor), The Witticisms of Oscar Wilde (London: Garnstone Press, 1971) - Wilde himself helped his wife with such a collection of Osca‐ riana (finished 1895, first published 1910); see Richard Ellmann, Oscar Wilde (Har‐ mondsworth: Penguin Books, 1988), p. 401. absurdities, by which they meant Wilde’s rhetorical paradoxes. 2 These Wilde was able to formulate with inimitable facility and in such numbers that they determine the tone, the style, indeed the whole atmosphere of his best works. I can believe anything, provided that it is quite incredible (says Lord Henry to the painter Basil Hallward in The Picture of Dorian Gray, p. 21). 3 It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery of the world is the visible, not the invisible (Lord Henry to the young model of the painter, Dorian Gray, p. 32). A cigarette is the perfect type of a perfect pleasure. It is exquisite, and it leaves one unsatisfied. What more can one want? (Once more Lord Henry, p. 70). Two more examples can be given from The Importance of Being Earnest. Towards the end of the play Jack runs upstairs to search for a hand-bag which might have been the one containing him when he was lost as an infant. When “noises are heard as if some one was throwing trunks about” (p. 379), Gwendolen, his fi‐ ancée, exclaims: This suspense is terrible. I hope it will last (p. 379). A little later, when Jack’s identity is about to be discovered, Lady Bracknell tries to recall the Christian name of his father - her brother-in-law -, a general. She meditates: The General was essentially a man of peace, except in his domestic life (p. 382). It is characteristic of these witticisms that they function almost without context, and thus it is appropriate that there should be whole anthologies of such Wildean paradoxes. 4 On the other hand, this could be their weakness, namely that they are mere witticisms, not integrated into the works artistically and structurally. I will come to that in a moment, but before doing so the common understanding of paradox as a rhetorical device, as anti-orthodoxy, must be differentiated. 110 III Irische Literatur 5 I have consulted the following comprehensive studies of the topic: Erwin Ihrig, Das Paradoxon bei Oscar Wilde (Marburg: Diss. phil., 1934), the first attempt to analyse the different types of paradoxes in Wilde; George Woodcock, The Paradox of Oscar Wilde (London and New York: Boardman, 1949), an attempt to relate the contradictions in Wilde’s life to the paradoxes in his works; Earl Delbert Bader, The Self-Reflexive Lang‐ uage: Uses of Paradox in Wilde, Shaw, and Chesterton (Indiana University: Diss. phil., 1969), an interesting discussion of Wilde’s works with the thesis that his rhetorical paradoxes are an attempt to demonstrate that it is not superficial to concentrate on the surface of things; Klaus-Dieter Herlemann, Oscar Wildes ironischer Witz als Ausdrucks‐ form seines Dandysmus (Freiburg: Diss. phil., 1972), chiefly a stylistic-rhetorical analysis of Wilde's epigrammatic - and paradoxical - wit; Rainer Gocke, Dramenfiguren zwi‐ schen Paradoxie and Pathos: Ein Versuch über Oscar Wildes Gesellschaftskomödien (Münster: Diss. phil., 1973), another rhetorically orientated interpretation of Wilde’s first three comedies and their vacillation between dandyism and Victorianism; Helene Catsiapis, “Ironie et paradoxes dans les comédies d’Oscar Wilde: Une interpretation”, Thalia: Studies in Literary Humour 1: 2 (1978), 35-53, an analysis of Wilde’s “bons mots” as an expression of his social criticism and - ultimately - tragic world-view; even Kohl, Oscar Wilde, sees Wilde’s paradoxes almost exclusively from a rhetorical point of view, as a covert attack on the values of society, as a mask that would enable Wilde to decline responsibility should society take offence. To recapitulate, what struck the first reviewers and commentators in Wilde and what has remained his trade-mark as dandy, aesthete, décadent and writer is paradoxy in the sense of its etymology: pará dóxan means ‘contrary to what everybody expects’ or ‘contrary to received wisdom’. A statement, therefore, is said to be paradoxical if it seems to be absurd at first sight but gains in plausibility the closer one looks at the matter. “The earth revolves around the sun” once was such a provocative paradox until it became a truism. Obviously, this conception of paradox is particularly suited for a discussion of Wilde, and it is no surprise that it should have been at the basis of practically all literary criticism dealing with Wilde. 5 II The rhetorical understanding of paradox, then, is the oldest and most universal. In the past 150 years, however, the concept of paradox has been differentiated by philosophers, mathematicians, logicians and science-theoreticians. During the process of ever more precise definition, one type has emerged as the most disturbing: the so-called “(logical) antinomies”. Antinomies are contradictory statements both of which can be deduced according to accepted rules of infe‐ rence from obviously true premises. The most famous antinomy is the Liar paradox by Eubulides: Epimenides, a Cretan, says that all Cretans (always) lie. If it is true to say that all Cretans always 111 Paradox in Oscar Wilde 6 Quoted from the “Arden Shakespeare”: Macbeth, ed. K. Muir (London: Methuen, repr. 1979), p. 4. lie, Epimenides also lies in saying so and his statement, therefore, is not true; if it is wrong to say that all Cretans always lie, Epimenides speaks the truth in saying so and his statement, therefore, is true. His statement is true if and only if it is false. The difficulty - a disturbing riddle for centuries - here arises from the fact that the statement refers to itself, to its own truth value. Antinomies pertain to the sphere of statements and, thus, to classical logic. Analogous to them are certain paradoxes in the realm of action and reality. “Pa‐ radoxes of reality” must be differentiated from logical antinomies because there is no truth in the realm of action and reality; however, paradoxes of reality are structurally analogous to logical paradoxes, as will be shown presently, and therefore have always rightly been called paradoxes. To give two or three examples. - Karl Popper’s “critical (that is, non-ratio‐ nalistic) rationalism” is the result of the insight that a rationalistic rationalism would be pure positing, in other words: irrational. - Absolute freedom would be arbitrary rule and that is why there must be laws to restrict freedom in order to save the principle of freedom. - Powerlessness can be stronger than power as has been shown by Jesus or Mahatma Gandhi. We speak, then, of antinomies (paradoxes of logic) if - in a given system - contradictory statements can both be deduced, that is, are both true. We speak of paradoxes of reality if - in a given world - opposites are both justified, perhaps even ‘ultimately’ identical, in the sense of the words pronounced by the three witches in Shakespeare’s Macbeth: Fair is foul, and foul is fair (II.ii.11). 6 Let us now examine whether Wilde’s rhetorical paradoxes are an isolated phe‐ nomenon or whether their spirit pervades Wilde’s art, view of the world and of human nature as a whole, be it as antinomies or paradoxes of reality. III Wilde is so closely associated with the spirit of paradox that it may come as a surprise to learn that the earliest ‘paradoxical’ works date from 1887, when their author - by no means a late starter - was almost thirty-three. And the assump‐ tion may be added even at this point that Wilde’s turn to paradoxes is connected with his sexual reorientation after 1886, which implied a double-life and, as a 112 III Irische Literatur 7 Wilde: Epigone, Ästhet und Wit (Heidelberg: Winter, 1978), p. 53. 8 For the date of composition, see Horst Schroeder, Oscar Wilde, The Portrait of Mr W. H. - Its Composition, Publication and Reception (Braunschweig: Technische Universität, 1984), pp. 8-11. 9 For “The Portrait” and paradox, see also Omasreiter, Oscar Wilde, pp. 25 ff. For the pa‐ radoxes of presence as absence in “The Portrait”, see Linda Dowling, “Imposture and Absence in Wilde’s 'Portrait of Mr. W.H.'”, Victorian Newsletter 58 (1980), 26-29. For a discussion of the subversive paradoxies of “The Portrait” and their connection with the theme of homosexuality, see Lawrence Danson, “Oscar Wilde, W. H., and the Unspoken Name of Love”, ELH 58 (1991), 979-1000. consequence, a growing personal understanding of ambivalence, contradiction, irony and paradox. *** Wilde begins with paradoxes of contents, or action. - The first relevant text here is the short story “Lord Arthur Savile’s Crime” (1887), termed “paradoxical” by Ria Omasreiter, 7 presumably because its plot develops along the pattern of a self-fulfilling prophecy. A prophecy is made to a young man that he will commit a murder, and in the end, to have it over with, he murders - the prophet! An action is born, as it were, out of nothing, is its own cause: a paradox. Then there is “The Decay of Lying” (written in 1888), in which Wilde holds that it is life that imitates art rather than the other way round as the naturalistic movement (and of course common sense) imagines. The essay itself, however, a somewhat staid and formal dialogue between two friends, remains untouched by its own paradoxical thesis. The essay-narrative “The Portrait of Mr. W. H.” (written in 1889) 8 is a great step forward. Erskine tells the nameless first-person narrator about his former friend Cyril Graham who, long ago, had developed a theory concerning the identity of the famous “onlie begetter” of Shakespeare’s sonnets. Since Cyril could not convince Erskine of his theory, in fact was caught having forged evi‐ dence (a picture) to support his hypothesis, he killed himself. As it happens, the narrator is fascinated by Cyril’s theory. However, after he has summed up all arguments for it in a letter to Erskine, his faith deserts him. But now Erskine is at last convinced. In order to convince the narrator too, Erskine, fatally ill, pre‐ sents his death as suicide and the suicide as testimony of the theory’s truth. When the narrator finds out about the fraud, he in turn begins to develop a new taste for the theory. 9 One is reminded of Søren Kierkegaard’s example of irony, where a Catholic and a Protestant, trying to convince each other of their res‐ pective creeds, are both so successful that the Catholic turns Protestant and the 113 Paradox in Oscar Wilde 10 Cf. his Concept of Irony with constant reference to Socrates, translated L. M. Capel (Bloo‐ mington: Indiana UP, 1965), p. 93. - Wilde’s unfinished play La Sainte Courtisane (1894) is built around the same motif. 11 In his Poems in Prose (1894), however, Wilde once more takes up paradoxes of content. Protestant Catholic. 10 Wilde’s ironic ‘plot’, however, has an anti-Victorian im‐ petus, his contempt for “sincerity”. “Sincerity”, a key concept of moralistic Victorians, was directed against ever‐ ything that was considered frivolous, lighthearted and artistic. In “The Portrait” everybody proceeds from the Victorian assumption (widespread even today, and I include myself) that a theory, a belief, is convincing only if he who propounds it believes in it himself and is prepared to attest it, if necessary with his life. (Compare Christianity and its “martyrs” (‘witnesses’).) But they proceed from a wrong assumption: the other characters are ready to be convinced by ma‐ noeuvres rather than by sincerity. In “The Portrait” lying and sincerity are interrelated but not in the usual way, namely as opposites. The appropriate metaphor of the relation between sincerity and lying would normally be a pair of scales: when the scale of lying gains weight and sinks, the scale of sincerity rises. But here, paradoxically, the appropriate metaphor is communicating tubes: when you add to the content of the box of lies, the level in the box of sincerity rises too. Lying and sincerity, in other words, are inter-related and in-different, that is, identical. “The Portrait” does not yet maintain that truth and falsity are identical and, therefore, does not maintain that the logic of the world is paradoxical; it ’only’ maintains that sincerity and lying are identical. To summarise, the paradoxes discussed so far are a phenomenon of content and plot which has almost no equivalent in the sphere of artistic structure. This state of affairs changes radically with The Picture of Dorian Gray. 11 *** Wilde’s only novel, The Picture of Dorian Gray (first published in a journal in 1890, then republished in 1891 in slightly extended bookformat), takes up the idea that sincerity and lying are identical. But what was a (hidden) paradox of action in “The Portrait”, is turned into one of the many (open) verbal paradoxes in The Picture; I mean the aperçu by Lord Henry already quoted earlier: I can believe anything, provided that it is quite incredible (p. 21). For one thing, this is a joke. Whenever we lie we try particularly hard to appear credible so that what appears to be credible will often be a lie, the incredible thus being probably true. Next, the sentence might have a theological meaning, 114 III Irische Literatur 12 Wilde himself recognised this later when he wrote that the novel was “far too parado‐ xical in style” (quoted from Ellmann, Oscar Wilde, p. 302). 13 For a more detailed and slightly differently accentuated discussion, see Manfred Pfister, Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray“ (Munich: Fink, 1986), pp. 87-105, who inter‐ prets Dorian as a mixture of traditional and modern conceptions of identity. following Tertullian’s dictum “credo quia impossibile” (De carne Christi, 5). Since the innermost province of faith lies where rationality does not reach, the pro‐ vince of what cannot be demonstrated is precisely the area where an act of faith is appropriate. The problem here is that this paradox and all the many other rhetorical pa‐ radoxes in The Picture of Dorian Gray have no equivalent on the plane of the novel’s artistic structure and of its view of human character and identity. 12 Dorian Gray remains young on the surface although he ages deep inside. His ugliness within correlates with his beauty without. The correlating opposites, however, are never fused but remain intact. That is made quite clear at the end when Dorian, trying to destroy his portrait, destroys himself; immediately the portrait regains its original beauty whereas his wickedness now shows itself in his dead features. The novel, thus, recognises both planes, that of beauty / in‐ nocence and that of ugliness / wickedness as separate. The relation between the two planes is one of contradiction. But contradiction is the opposite of paradox. Man in The Picture of Dorian Gray consists of an inner core, the sum total of his actions, and a surface, the role - or roles - played in society. 13 If one throws this truth out of the front door - as Dorian does, seduced by Mephistophelian Lord Henry - it returns through the back door and destroys one unawares. Dorian recognises this at last, too late: “The soul is a terrible reality” (p. 161). This view of the human self is also taken vis-à-vis Sybil Vane. Sybil, a young and innocent actress, is loved by Dorian only as long as she is the perfect actress, merely a role, without personal identity. The very moment his love changes her into a person and makes her conscious of herself so that she cannot act any longer, he leaves her. Dorian, at this stage of his life, cannot accept Sybil’s iden‐ tity and the idea of substance in general. But if Dorian does not, the novel does. This is indicated by the first changes in Dorian’s portrait which occur after Sybil’s suicide. Obviously the novel - represented by its central metaphor, the portrait - holds him responsible for her suicide, for not loving her as a person. The famous Preface to The Picture of Dorian Gray (written after the event to divert critical attention from a biographical interpretation) does not fit the novel in this respect, as has been noticed by many readers. The Preface claims that the novel, indeed all art, is amoralistic. But in reality it is moralistic in as far as Dorian’s double life is an image of the rotten state of affairs of Victorian society. 115 Paradox in Oscar Wilde 14 Kohl sums it all up in the subtitle of his Oscar Wilde: “a Conformist Rebel” (English version). 15 Arthur Ganz speaks of the “dichotomy between plot and dialogue which mars the so‐ ciety comedies” (in “The Divided Self in the Society Comedies of Oscar Wilde”, Modern Drama 3 (1960), 16-23, here 16). Cf. also Kohl, Oscar Wilde, pp. 368-78. Even more de‐ tailed is Gocke’s analysis of these aspects in his dissertation Dramenfiguren zwischen Paradoxie and Pathos, pp. 16-98. Apropos “double life”, Wilde of course led one himself, being the critic as well as the representative of Victorianism, as all experts have always recognised. 14 In revealing the contrast between inner and outer life the novel is anti-Victorian. In its view of human personality, however, it is Christian and Victorian, and I do not want this to sound negative; simply, it is not paradoxical. A really para‐ doxical concept of identity and personality would have to use a different meta‐ phor than the novel does, perhaps that of an onion which one can peel until nothing is left. Only then would the concepts of substance and accidence lose their meaning, one being the other and vice versa. A Truth in art is that whose contradiction is also true (p. 1078), Wilde says in his essay “The Truth of Masks”, written at the same time (1891). In The Picture of Dorian Gray, however, this insight is not yet ʻrealised’. The novel’s logic is still Aristotelian: of two contradictory statements only one is true, the other false, there is no third way. The next five years saw Wilde at the peak of his life and reputation. From a literary point of view it is the time of the four comedies. Lady Windermere’s Fan (staged in early 1892), the first of these society comedies, is still full of serious matters, as was The Picture of Dorian Gray. Some of the motifs, however, point in the direction of pure comedy, the lost fan for instance that seems to prove Lady Windermere’s infidelity. The lost fan reminds one of course of Desdemo‐ na’s lost handkerchief in Othello, but what was deadly serious in Shakespeare is only half-seriously invoked by Wilde and remains without consequence, al‐ most a blind motif. Unfortunately, the playful dealings with literary motifs and the many para‐ doxes in the dialogues - for which Lord Darlington, the ‘seducer’ of the play, is chiefly responsible - stand in awkward contrast to the seriousness of the general plot. 15 After all, Lady Windermere’s Fan is about a marriage on the verge of breaking up. The world of the play is characterised by ambivalence, irony and contradiction, not however by paradox. This is clearly visible in the play’s basic problem, the relationship between Good and Evil. At the beginning, Lady Wind‐ ermere seems to be the Good Woman promised by the subtitle (“A Play About 116 III Irische Literatur a Good Woman”). Mrs Erlynne, in contrast to her, seems to be a bad woman. But later, after Mrs Erlynne has saved Lady Windermere from social ruin by sacri‐ ficing her own reputation, we realise that the truth is diametrically different: Mrs Erlynne, altruistically solicitous about her daughter’s happiness (Lady Windermere is Mrs Erlynne’s daughter), is a Good Woman whereas Lady Wind‐ ermere, opportunistic in keeping back from her husband the truth about the fan and her near-lover, reveals herself as egotistical. Good and Evil have changed places but remain intact as categories.The equation is not: Good is Evil, and Evil is Good (the ‘stronger’ interpretation of the line from Macbeth quoted earlier), but merely: What seems Good is really Evil and vice versa (the ‘weaker’ interpretation). And yet Lady Windermere’s Fan goes a little further in the direction of paradox than The Picture of Dorian Gray. Lady Windermere can continue to seem good only because Mrs Erlynne seems to be bad. Social appearances and truth are contraries but dependent on each other. And Lady Windermere, the represen‐ tative here of moralistic and substantialistic thinking, is wrong whereas in the logic of The Picture of Dorian Gray she would have been right. Thus the play goes a step further on the way to a paradoxical fusion of categories. It is also paradoxical that the future marriage between Lady and Lord Wind‐ ermere, apparently meant to be happy, should be built on lies. Lady Windermere must never know what Lord Windermere knows, namely that Mrs Erlynne is her mother; Lord Windermere must never know that his wife was near leaving him because of Lord Darlington. If they knew the truth they could not be happy with each other. These paradoxes and half-paradoxes question the premises of a substantialist view of the human self, namely that love presupposes a mutual opening of one’s innermost doors to grant the beloved a view of the truth. From this question it is only one further step towards the question whether human beings have an innermost truth to show. *** This step is taken by Wilde in his last and best play, The Importance of Being Earnest (1895). (I leave out A Woman of No Importance (1893) and An Ideal Hus‐ 117 Paradox in Oscar Wilde 16 Cf. the discussion in Gocke, Dramenfiguren zwischen Paradoxie and Pathos, pp. 99-142 and 143-87. 17 For a relevant interpretation, cf. Horst Breuer, “Oscar Wildes ‘The Importance of Being Earnest’ als modernes Drama“, GRM NF 38 (1988), 444-54, especially 450. 18 Cf. Bader, The Self-Reflexive Language: “His favourite phrase about his female characters is that they are ‘sphinxes without secrets.’ Wilde’s Sphinx has no secret, no ‘profundity’, and that is his secret” (p. 29). It might be interesting to note that Bismarck in 1855 is said to have used this formula as a characterisation of Napoleon III who had previously been called “the sphinx of Europe”; see Hans-Joachim Schoeps (ed.), Bismarck über Zeitgenossen - Zeitgenossen über Bismarck (Frankfurt a. M. & Berlin: Ullstein, 1981), p. 65. 19 Quoted from Werke, ed. K. Schlechta (Frankfurt on the Main: Ullstein, 1976-77), Vol. II, second part, p. 15. 20 This point is well argued in Franz Zaic’s interpretation of the play: „Oscar Wilde: The Importance of Being Earnest“, in H. Oppel (editor), Das moderne englische Drama (Berlin: Schmidt, 1966), pp. 42-59. band (1895) because they add nothing new to our topic.) 16 Never were Wilde’s epigrams and paradoxes wittier and funnier than here, but what is important is that they are artistically integrated so that a unity of rhetoric and structure, of form and content is achieved. 17 Seriousness and play, profundity and superfici‐ ality are perfectly fused, just as the subtitle promises: “A Trivial Comedy for Serious People”. Here at last Wilde draws the artistic and psycho-philosophical conclusions from Lord Henry’s cynical paradoxes in The Picture of Dorian Gray: there is no distinction made any longer between face and mask. Face and mask are the same, well - we have no word for covering both concepts. The four main characters in The Importance of Being Earnest hide no face beneath their sur-face, they are merely surface, 18 not however in the sense of ‘lack of depth’ but in the sense that there is nothing to hide. Friedrich Nietzsche, in his “Vorrede zur zweiten Ausgabe” (1896) to his Fröhliche Wissenschaft said the same about the ancient Greeks: Die Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe! 19 Having gone so far, it is only consistent to drop the dichotomy of truth and falsehood, too. Both are paradoxically identical in The Importance of Being Ear‐ nest. 20 Jack, who has been leading a double life and had assumed the name of Ernest in addition to Jack, finds out - the scene was mentioned earlier in this paper - that his real name is indeed Ernest and his second name presumably John (that is, Jack), since those are the two names of his father, the General. Jack, then, is Ernest as well as Jack; both lives of his double life are ‘true’. The double life, appearing at first as the embodiment of contradiction, is revealed to be a 118 III Irische Literatur 21 There are several passages in the play where the problematical nature of truth is dis‐ cussed. 22 Not counting the marriage of Miss Prism and Dr. Chasuble. 23 Cf. Pfister, Oscar Wilde, p. 38. paradox, that is, the fusion or identity of opposites. The concept of truth of course dissolves in the process. 21 The structure of The Importance of Being Ear‐ nest, then, follows the pattern of “coincidentia oppositorum“. Various symmet‐ ries in plot and dialogue correspond to this structure. Like Jack, Algernon has a second identity, his “Bunburying“. The two friends turn out to be brothers. Al‐ gernon goes into town for his second life, Jack into the country. Each falls in love with a relative of the other. The dialogue often runs parallel, sometimes is even identical for both speakers as if they were a chorus. Both weddings will take place at the same time. 22 The earlier marriage prohibitions, pronounced by Lady Bracknell and Jack respectively, also ran parallel. These symmetries are the expression of the secret identity of opposites. At the same time they show the superiority of form over content, respectively of style over sincerity as Wilde has Gwendolen say (p. 371). Wilde only plays with his motifs - that of the foundling, for instance, or that of the rich heiress, of exchanged identity −, adduces them as a kind of literary refuse. 23 Gwendolen loves the name Ernest, not the man, prefers as it were the menu card to the menu: nonsense. Cecily can love Algernon only if his name is Ernest but when, in the end, this is not the case it does not matter really and she marries him anyway: higher nonsense. Oedipus the King by Sophocles is the tragedy of lost identity found again; Heinrich von Kleist’s Zerbrochener Krug is the comedy of disowned identity exposed; Harold Pinter’s Caretaker is the tragic treatment of identity irretrie‐ vably lost. Obviously, the theme of lost identity is all-pervasive in Western drama. But Wilde adds a new chapter: The Importance of Being Earnest is the comedy of non-existent identity not missed. Wilde de-substantialises his dra‐ matis personae; they have no inner core and, consequently, no outer layers, or rather, these notions have lost all significance. All is in-different. Of course many will perceive this break-down of categories as the destruction of all that is dear and holy to them. And I include myself, as this essay with its reliance on logical differentiation shows. But one can also perceive this breakdown of categories as a great liberation and as a higher truth. Wilde himself obviously did. By not fleeing from England after the charge of homosexual practices had been brought against him - something that would have been easily possible, something that 119 Paradox in Oscar Wilde 24 See Ellmann’s description of the crucial hours in his Oscar Wilde, pp. 428f. 25 For the year 1886 as a turning point in Wilde's life and art, see, for instance, Christopher S. Nassaar, Into the Demon Universe: A Literary Exploration of Oscar Wilde (New Haven and London: Yale U. P., 1974), p. 1, or Ellmann, Oscar Wilde, p. 270. it was perhaps even hoped he would do -, he seems to have wanted to own up to his ‘other’ life at last. 24 IV Until now critics have noticed Wilde’s verbal and stylistic paradoxes only. The more comprehensive understanding of paradoxy attempted here shows that at first Wilde constructed paradoxes of content and subject matter only. Next came a phase when he understood paradoxy as a matter of rhetoric and style, and that became the most prominent manifestation of paradox in his works. Thirdly and lastly, he conceived of it as a synthesis of all these aspects. Only then did he reach a unified - if limited - view of the world and an appropriate expression of it in literature. This development is almost certainly connected with the break-through of his homosexuality in 1886, 25 which resulted in a double life. For many years Wilde saw his second and private life to be in contradiction to his first and official life, whereas later he recognised it to be equally ’true’ and justified. Wilde the exhibitionist wanted everybody to know him. After 1886 this became more and more of a dilemma: everybody should know him but nobody should know him really. Around 1895 he dissolved the contradiction between his two lives by turning it into a paradox: both lives are one. On the one hand, this step from contradiction to paradox was felt as a great liberation and The Importance of Being Earnest is its legacy. On the other hand, the in-difference of paradox, its fusion of opposites defines the limits of Wilde’s art, its lack of social and political edge, its lack of radicality, also in the sphere of art itself. Rhetorical paradoxy needs the recognition of the very society it rejects in order to maintain itself as anti-orthodoxy. To approach Wilde, as this essay does, with a broader and yet more precise concept of paradox has yet another result. It helps to place him more accurately in the tradition of Anglo-Irish literature and in the modernist movement. As long as Wilde is seen as a mere deliveryman of paradoxical witticisms, his affi‐ liation with the tradition reaching from Jonathan Swift to Samuel Beckett re‐ mains unrecognisable. The very moment, however, that one understands the all-pervasive importance of paradox and antinomy in Wilde - paradoxes not only of style, but also of content and world-view, and, most important of all, the spirit of paradox applied to Wilde’s own art - one sees many significant con‐ 120 III Irische Literatur 26 Josef W. Pesch’s dissertation, Wilde, About Joyce: Zur Umsetzung ästhetizistischer Kunst‐ theorie in der literarischen Moderne (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1992), is an investigation of the influence of Wilde’s life and work on Joyce, not however on Joyce as an Irishman but as a modernist. nections. These include the affinity of Wilde’s art with Yeats’s theory of masks, Patrick Pearse’s philosophy of triumph in failure, Beckett’s equations between end and beginning, tears and laughter or silence and words, the fusion of dancer and dance in Yeats, or narrator and his characters in Flann O’Brien and Beckett. I can merely hint at these affinities here, but I hope to have perhaps opened the way to such a comparative investigation. 26 121 Paradox in Oscar Wilde IV Samuel Beckett 1 On the subject of bicycles, see: Hugh Kenner, “The Cartesian Centaur”, Perspective 11 (1959), 132-41; Janet Menzies, “Beckett’s Bicycles”, Journal of Beckett Studies, No. 6 (Au‐ tumn 1980), 97-105; M. Keith Booker, “The Bicycles and Descartes: Epistemology in the Fiction of Beckett and O’Brien”, Eire / Ireland 26 (1991), 76-84; Daniel Gunn, “La bicyc‐ lette irlandaise: Flann O’Brien et Samuel Beckett”, L’Errance. Tropismes 5. Paris: Uni‐ versité de Paris X (1991), 143-71. For the importance of the first-person narrator, see: Lene Yding Pedersen, “A Subject After All - Rethinking the ‘Personalized Narrator’ of the Self-Reflexive First-person Novels of O’Brien, Beckett and Banville”, Orbis Litterarum 58 (2003), 219-38. Flann O’Brien and Samuel Beckett Samuel Beckett’s literary career is usually divided into three phases: the early Beckett with poems and prose works, dating from 1930 ff., the mature Beckett with novels like Molloy and plays like Waiting for Godot, dating from the late 1940s, and the late Beckett with ever shorter ‘dramaticules’ and prose pieces like Not I, Company, or Stirrings Still, dating from 1965 ff. In this context, much attention has been paid to the transition from the first to the second phase because this shift marked the change from a clever young writer in the tradition of James Joyce to the world-famous author of black hu‐ mour and absurdist existentialism (as he was perceived in the 1950s). It was a transformation from a witty satirist using all the resources of his native English to a writer treating themes of intellectual poverty and impotence who turned to French as a means of conveying these subjects adequately. Many critics have claimed that this change was the result of a supposed revelation experience dating from early 1946. I want to suggest that this is not the whole truth but that an important factor was the influence of Flann O’Brien’s novel At Swim-Two-Birds, which Beckett read in 1939, a crucial time during which he did not know what to do with himself as a writer. The parallels between Beckett and O’Brien have, of course, not gone unno‐ ticed. The novels of Beckett’s middle period - roughly speaking, from Watt to The Unnamable - and the novels of O’Brien have much in common: the dead-pan tone of voice of the first-person narrators, the wry humour, important leitmotivs such as bicycles, and certain structural characteristics like repetition, circularity, and regressus ad infinitum or Chinese-box framing. Nevertheless, it took the critics a long time to recognize and compare these features in detail. Since 1990 however, several dissertations and articles have studied the similarities. 1 All of these scholars assume that they are due to a common Irish background and this is true to a large extent. In the following essay, however, I want to show that Flann O’Brien had a direct literary influence on Samuel Beckett. This will be done in two steps. First, 2 For reasons of uniformity, all of Beckett’s works are here referred to in their English versions, the translation from French being by the author himself, with the exception of Molloy. For details of Beckett’s life, see James Knowlson, Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett (New York: Simon & Schuster, 1996). Particularly good accounts of Beckett and Ireland are Anthony Cronin, Samuel Beckett: The Last Modernist (London: Flamingo / HarperCollins, 1996), and Eoin O’Brien, The Beckett Country: Samuel Be‐ ckett’s Ireland. With Photographs by David H. Davison (Monk’s Town: The Black Cat Press; London: Faber and Faber, 1986). 3 For the details of O’Nolan’s life, see Anthony Cronin, No Laughing Matter: The Life and Times of Flann O’Brien (1989; London: Grafton, reprinted 1990) and Myles: Portraits of Brian O’Nolan, edited by Timothy O’Keeffe (London: Martin Brian & O’Keeffe, 1973). 4 Cronin, born in Co. Wexford in 1928, a noted poet, critic, and novelist, belonged to the literary scene that included Flann O’Brien, his friends, and Patrick Kavanagh. His novel The Life of Riley (1964) is a roman à clef about Dublin’s literary life. His best-known volume of literary criticism is A Question of Modernity (1966). He knew Beckett perso‐ nally, if only superficially. 5 No Laughing Matter, p. 55. I will briefly juxtapose Beckett’s and O’Brien’s biographies and, then, I will discuss the influence of O’Brien’s At Swim-Two-Birds on some of Beckett’s works, particularly Watt, Molloy, and Malone Dies. Beckett and O’Brien came from very different, almost opposing backgrounds. Beckett’s parents were upper-middle-class Protestants; he went to befitting schools and universities, soon travelled and lived on the Continent and made international friends. He was a late developer who did not know how to shake off the influence of James Joyce whom he had met in Paris; his breakthrough to fame came in 1953, with En attendant Godot (Waiting for Godot). 2 ‘Flann O’Brien’, one of the many pseudonyms of Brian O’Nolan, was born of lower-middle-class, Catholic, and Gaelic-speaking parents. He was a local celebrity in Dublin’s li‐ terary circles but became something of a cult-figure only after his death in 1966. 3 As a consequence of these social and literary differences both writers moved in different circles, although they both spent quite a few years together in Dublin, O’Brien uninterruptedly from 1923, Beckett from birth until 1937, but with long absences in Paris, Germany, and London. Proceeding from the several voluminous biographies of Beckett, one gets the impression that the two writers never met nor even took notice of each other’s work. With respect to Anthony Cronin this seems to close the case because he is also O’Brien’s biographer and belonged to the inner circle of Dublin’s literati. 4 When one moves to O’Brien scholarship, the picture changes, if only slightly. In his biography of Flann O’Brien, No Laughing Matter, Cronin states that “O’‐ Nolan knew [Beckett]”, 5 but this does not make it clear that they knew each other personally before Beckett left Ireland for France in 1937. However, a mee‐ 126 IV Samuel Beckett 6 See Niall Sheridan, Myles: Portraits of Brian O’Nolan, p. 48. Niall Sheridan was an old friend of O’Brien. 7 See Sheridan, quoted in Cronin, No Laughing Matter, pp. 93 f. 8 See Anne Clissmann, Flann O’Brien: A Critical Introduction to His Writings (New York: Barnes & Noble; Dublin: Gill and Macmillan, 1975), p. 310. 9 For more information about Leventhal, see Knowlson’s and Cronin’s biographies, cited above. There was a correspondence between Beckett and Leventhal which may perhaps yield further results. The same may be true of the material held in the Beckett Archive at Reading University. 10 See Cronin, Samuel Beckett, p. 265. ting did take place in 1939, after the publication of At Swim-Two-Birds. Beckett had read the novel with enthusiastic approval 6 and had recommended it to Joyce who found it “a really funny book”. 7 But when Beckett met O’Brien in the house of Niall Montgomery - a friend of O’Brien - shortly afterwards and told him how much Joyce had liked the book, O’Brien disqualified himself in Beckett’s eyes because he called Joyce “that refurbisher of skivvies stories”. 8 (O’Brien’s ambivalence about his relationship to Joyce and his sometimes obsessive bit‐ terness are due to the fact that he was often considered to be Joyce’s disciple). After World War Two, neither writer seems ever to have taken notice of the other's work, even though it is improbable that O’Brien would have missed Beckett’s rise to world fame after 1953 and that Beckett would never have en‐ quired after O’Brien when they both had a common friend in A. J. (‘Con’) Le‐ venthal. 9 But, in any case, personal contact before the War seems to have been rare, probably because of Beckett’s reluctance to get involved in the closely-knit network of Dublin’s intellectuals. After all, one of the reasons why he left Ireland for good in 1937 was a fear of squandering his life in pubs and in literary and personal animosities. 10 One way to understand Krapp’s Last Tape (1958), Be‐ ckett’s most autobiographical play, is to see the sixty-nine-year-old Krapp on stage as a version of Beckett himself if he had remained in Dublin: an alcoholic, lonely, bitter, and a failure as a human being and as a writer. In fact, in some respects, Krapp bears a certain resemblance to O’Brien in later years. But the picture changes completely if we do not look for personal contacts but rather for literary influence, and I hope to show that Beckett's conversion experience, dated March 1946 and referred to above, is not the only reason why his work took a different turn after Murphy. As I want to argue in the following pages, At Swim-Two-Birds exerted consi‐ derable, even crucial influence on some of Beckett’s best-known works. This influence shows itself, first, in structural designs like framing, Chinese box structures, the (con-)fusing of narrative levels and, second, in the use of first-person narrators. Thus, a brief summary of At Swim-Two-Birds seems de‐ 127 Flann O’Brien and Samuel Beckett 11 As shown in Booker, “The Bicycle and Descartes”. 12 One of the localities is “Swim-Two-Birds”, which O’Brien used in the title of his novel. 13 All references are to the following edition: At Swim-Two-Birds (1967; Harmondsworth: Penguin Books, reprinted 1978), p. 11. For the details, see Clissmann, Flann O’Brien, p. 95. Other influences are Laurence Sterne, James Stephens, James Joyce, and James Branch Cabell. 14 For more comprehensive general introductions to At Swim-Two-Birds, see Clissmann, Flann O’Brien, pp. 76-150, and Cronin, No Laughing Matter, pp. 82-99. sirable. But before this is done, a few words on The Third Policeman and The Poor Mouth are necessary. Neither novel, in fact, could have exerted any influence on Beckett. The Third Policeman, although similar in tone, leitmotivs, and structure to Beckett’s works, 11 was published as late as 1967 when Beckett had moved on to an aesthetic quite different from O’Brien’s and his own of the 1940s and 1950s. And The Poor Mouth was published in English as late as 1973. In both these cases, the simila‐ rities must indeed rest in a common Irish background. The nameless first-person narrator of At Swim-Two-Birds is a student of Uni‐ versity College, Dublin, who is writing a novel. The protagonist of this novel-within-the-novel, Dermot Trellis, is also writing a novel. In this novel-within-the-novel-within-the-novel he gathers figures from other novels and from Irish mythology, for instance the legendary hero Finn McCool, who, in turn, presents another character from Irish folklore, Mad King Sweeny. 12 Thus we have frames within frames, a kind of Chinese-box structure, which O’Brien took from Aldous Huxley’s novel Point Counter Point, as indicated by the student narrator himself. 13 Although the several narrative and ontological levels on which At Swim-Two-Birds operates may be difficult to follow at times, they pose no logical problems. What is more confusing, however, is that the levels are not always kept as separate as they should be from a logical point of view; rather they are fused, or better, confused. At some stage in the story, the characters created by Dermot Trellis rebel against their creator / author and conduct a lawsuit against him. In other words, they live in the same universe, on the same ontological plane. Moreover, Dermot Trellis has had an affair with one of his creations and the result is a son, Orlick Trellis, who is also a writer from the moment of his birth. This Orlick Trellis begins to re-write his father’s novel in which he is a character. Finally, the novel by Dermot Trellis and his son comes to an end when a servant girl throws the pages into the fire. And the nameless UCD-student’s autobiographical report ends when he passes his final examina‐ tion. This plot summary emphasizes the structural design of At Swim-Two-Birds while ignoring most of the details of the story. 14 This is because Beckett was 128 IV Samuel Beckett 15 All quotations from Beckett’s Trilogy refer to the following edition: Molloy - Malone Dies - The Unnamable (1959; London: Calder and Boyars, reprinted 1966). 16 See Biographia Literaria, edited by G. Watson (1956; London: Dent; New York: Dutton, reprinted 1971), p. 169. Coleridge also has interesting things to say about the regressus ad infinitum (in Chapter XII). influenced only by the structure of the novel and was not interested in the plot or the Gaelic folklore elements. As all critics have noted, At Swim-Two-Birds consists of three stories on three different narrative planes: • the nameless UCD-student's book about himself and his world in Dublin, including a fictional novelist, Dermot Trellis. • Dermot Trellis’s book about characters taken from Irish mythology and Wild-West romances plus some characters made up by himself, including his son, Orlick Trellis. • Orlick Trellis’s book, the re-writing of his father’s novel. The situation is further complicated by short passages on yet other narrative levels. Within plane one there is, for example, a short paragraph containing a theory of the novel, a theory, therefore, also of this novel, and thus a commentary on At Swim-Two-Birds. On plane two there is a sub-narrator created by Dermot Trellis, Finn McCool, who tells a tale of King Sweeny. Furthermore, a fourth ontological level can be added if the narrator of Flann O’Brien, the author of all the books mentioned, is taken into consideration. These different narrative - and ontological - planes are often juxtaposed in At Swim-Two-Birds by way of the chief narrator interrupting his story-telling with comments on his story-telling. Parallels of this procedure can be found in Beckett, for instance in Malone Dies, where some almost verbatim echoes can be found. The narrator of At Swim-Two-Birds, apparently having re-read his text, repeatedly interrupts his narrative by calling it ‘tedious’ (pp. 59 f., for example). Malone, in Malone Dies, frequently does the same, saying ‘What tedium’ (p. 187, p. 189, p. 216) 15 or “This is awful” (p. 191). In At Swim-Two-Birds the narrator sometimes ends a paragraph with the phrase “Conclusion of the foregoing” (p. 22, for instance), which corresponds to Molloy’s “End of recall” (p. 66). Of course, this is meant to counteract the prerequisite of representational art, which Sa‐ muel Taylor Coleridge famously called “suspension of disbelief ”. 16 In other words, fiction is here exposed as fiction. Beckett’s first major work for many years was Watt, begun in 1943, and it can be no accident that its framing structure is similar to that of At Swim-Two-Birds. To my knowledge, John Pilling was the first to speak of 129 Flann O’Brien and Samuel Beckett 17 Samuel Beckett (London: Routledge, 1976), p. 41. The present writer, in a book of the same year, spoke of the ʻinvolved structureʼ (Schachtelung). See Die Kunst der Paradoxie: Sinnsuche and Scheitern bei Samuel Beckett (München: Fink, 1976), pp. 72 f. 18 Watt (London: Calder, 1963), p. 70. 19 Warten auf Godot - En attendant Godot - Waiting for Godot (Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp, 1975). Watt’s ‘Chinese-box structure’. 17 Apart from the first of the four parts of the novel, where Beckett seems not yet to know how to present his material, the novel’s chief narrator is Sam who reports the story of Watt’s search for Mr Knott. However, it is actually Wattʼs report, and Sam is only an intermediary. So there are two narrative planes so far. Additionally, inside Watt’s report we have nar‐ ratives by Arsene and Arthur, for example. The latter tells the story of a certain Mr Louit, who once presented a mathematical genius, Mr Nackybal, to a com‐ mittee of experts, who, in turn, exchange their views on yet another narrative plane. The situation is further complicated by the fact that Sam is hard of hearing and Watt continually changes his syntax. The narrative situation is, thus, like the children’s game ‘Chinese Whispers’ and symbolic of Beckett’s communica‐ tional scepticism: all could have been quite different. To give a second example, this time from a later phase in Beckett’s writing: In Krapp’s Last Tape we hear and see the sixty-nine-year-old Krapp on stage who ‘celebrates’ his birthday, alone, as usual, in his den, listening to old tapes in order to get himself in the mood for recording his reflections of today. The tape he accidentally chooses dates back thirty years. This tape, which brings the thirty-nine-year-old Krapp onto the stage as a voice, was made after listening to yet another tape of some twelve years before. Through Krapp’s reaction to this older tape we get an indirect impression of the twenty-seven-year-old Krapp. The three stages of Krappʼs life, presented in frames within frames, func‐ tion as comments working both backward and forward; they are comments on his former selves, ‘comment commenting comment’, to use a phrase from Watt. 18 The function of the framing here is to give expression to the idea that the self is a succession of selves, not a fixed and immutable substance. Such instances of regressus ad infinitum and Chinese-box structures are ubi‐ quitous in Beckett. What is interesting in this context is that Beckett started to use this narrative principle and its inherent symbolism of epistemological scep‐ ticism after having read the similarly constructed At Swim-Two-Birds. A particularly moving example of the Chinese-box structure can be found in Waiting for Godot. 19 Vladimir and Estragon are two tramps waiting for someone who will give them shelter and food, or, more generally, existential and trans‐ cendental shelter, someone who will give meaning to their lives. As the closing 130 IV Samuel Beckett tableaux of the two acts show, this saviour-figure will never come, but as long as they continue to wait for him, they will remain caught in their illusory hope. Then, towards the end of the play, when Estragon has again fallen asleep, Vla‐ dimir has a sudden moment of insight into their situation. Looking at Estragon, he says: At me too someone is looking, of me too someone is saying, He is sleeping, he knows nothing, let him sleep on. Pause. I can’t go on! Pause. What have I said (p. 224)? But when, a moment later, a little boy enters, as he did at the end of the first act, and tells him that Mr Godot cannot come today but will come tomorrow, Vla‐ dimir’s need to be deluded into hope gains the upperhand again. (The moment of tragic anagnorisis passes and the spirit of tragicomedy prevails again.) The little scene, however, reaches beyond itself, due to the principle of the Chinese-box, self-generating its own extension. After all, there is someone loo‐ king at Vladimir, namely the audience. Perhaps they will say to themselves: Vladimir is sleeping too, he knows nothing, although on a higher plane of awa‐ reness. But the audience may also be looked at, from a higher perspective, by a critic for instance. He may say: You think, you have seen through illusions; but, seen from my perspective, you are asleep too in your complacency. In the logic of the play, however, the critic’s perspicacity may be seen as nothing but self-complacency of an advanced and nihilistic variety. In At Swim-Two-Birds the regressus-ad-infinitum structure, in view of the comic nature of the novel, gives the impression of playful, even quirky anar‐ chism. When Beckett appropriated the structure to his more existential con‐ cerns, it became the vehicle for the representation of the abysmal insecurity of human affairs. An obvious intensification of the framing of different elements is the framing of identical elements. Of course, this is illogical; a box may contain another box but no box can contain itself. This is the Chinese-box structure, or mise-en-abîme structure, taken to its absurd extreme. Both writers felt compelled to go this way in their art, O’Brien in The Third Policeman and Beckett in Molloy and in Waiting for Godot. As this was independent of, and unknown to, each other, I can be brief here when the main question is one of influence. The Third Policeman abounds in mise-en-abîme structures. There are, for ins‐ tance, the chests of Policeman MacCruiskeen; the mother-chests contain thirty-one smaller but otherwise identical replicas, the last ones invisible. Ano‐ ther example is de Selby’s “arrangement of parallel mirrors, each reflecting di‐ 131 Flann O’Brien and Samuel Beckett 20 See The Third Policeman (1967; London: MacGibbon & Kee, reprinted 1967), p. 65. 21 See Booker, “The Bicycle and Descartes”, who is particularly perceptive about this; pp. 84 f. minishing images of an interposed object indefinitely”. 20 In Waiting for Godot the doggerel (originally a German children’s song) quoted by Vladimir is of this kind of regressus ad infinitum: A dog came in the kitchen And stole a crust of bread. Then cook up with a ladle And beat him till he was dead. And all the dogs came running And dug the dog a tomb And wrote upon the tombstone For the eyes of dogs to come: A dog came in the kitchen (p. 142 and p. 144). A story is told that leads to its own continuation by repetition. It generates its own existence, as it were. A more profound use of the same structure can be found in Molloy, where the second part of the novel ends with almost the same words as it began: It is midnight. The rain is beating on the windows (p. 92). Only this time the words are a quotation: Then I went back into the house and wrote, It is midnight. The rain is beating on the windows (p. 176). Now the text could start all over again, however on a higher plane, indefinitely. But it does not, because the two last sentences follow: It was not midnight. It was not raining (p. 176). The claim by the writer of fiction to be able to fuse the process of representation with the events represented is exposed as fictitious. The same text on a higher plane is different, if only logically and not materially. Thinking and being can never become identical. As such, the three-level - or even four-level - structure of At Swim-Two-Birds may seem complex enough, but from a logical point of view it poses no problems, because the different planes remain identifiable. Things, however, are really more confusing, in fact, paradoxical, because the boundaries between the nar‐ rative, ontological, and logical levels are not respected in the novel. 21 Dermot 132 IV Samuel Beckett 22 Whether Jesus is God and man or not was the subject of a long and bitter controversy among early Christians in doctrines such as Arianism or Monarchianism. 23 See Collected Shorter Prose, 1945-1980 (London: Calder, 1984), p. 74. 24 The subsequent paragraphs follow an article of the present writer; see Rolf Breuer, “Pa‐ radox in Beckett”, The Modern Language Review 88 (1993), 559-580, here pp. 568 f. Trellis rapes one of the characters in his novel - one of his creations - and becomes father of a son. This creature, then, is a hybrid of an impossible trans‐ gression, a being out of two spheres, the plane of the author and the plane of his creation. (Did O’Brien - and later Beckett - see the blasphemous parallel to Jesus Christ who, according to the teaching of the Church, is just such a being, God and man, creator and creature? ) 22 The most succinct expression of this transgression of ontological planes can be found in one of the Gospels, where Jesus says: “I and the father are one” ( John 10: 30). In At Swim-Two-Birds we have the same idea in a slightly different form: “I am my own father and my son“ (p. 19). And in one of Beckettʼs Texts for Nothing (1950/ 1954), the first-person narrator says: “I was my father and I was my son”. 23 The most important and profound of such confusions of narrative levels can be found in Malone Dies. 24 The dying Malone lies in his room. Among his few possessions are an exer‐ cise-book and a pencil. What he writes is, first, an autobiographical report and, secondly, a fictional story. These two are initially kept apart, even if they alter‐ nate constantly. In the course of the novel, however, they become mixed. On the one hand, this is due to Malone getting more and more confused in the process of dying; on the other hand, autobiographical report and fictional story become indistinguishable because Malone’s story of Macmann resembles more and more Malone’s autobiographical report until, finally, both come to an end together with their author. At the hour of his death Malone, the author, makes a fictional warden of the asylum in which Macmann lives kill the inmates, and with their death (first they are killed with a hatchet, later with a pencil) Malone’s narrative dies and with it Malone himself. Narrator and main character, Malone (‘man alone’) and Macmann (‘son of man’), have become indistinguishable: that is, for all practical purposes, identical. The novel as a whole, then, is the attempt to bring to coincidence represen‐ tation and represented, and this is repeated on a smaller scale in several episodes. There are passages in which Malone writes about himself as a writer, even about the writing of the very passage. These passages are the attempt not only to catch up with himself but to constitute himself: Malone exists only as a writer. He creates a text that creates itself and, with it, creates Malone: something impos‐ sible, of course, as Beckett well knew. At one point we read: 133 Flann O’Brien and Samuel Beckett I fear I must have fallen asleep again. In vain I grope, I cannot find my exercise-book. But I still have the pencil in my hand. I shall have to wait for day to break. God knows what I am going to do. I have just written, I fear I must have fallen etc. (p. 209). But this text is an impossibility because it tells us that the exercise-book in which the pencil is supposed to write has been lost and that Malone cannot find it. Writing with a pencil in a lost exercise-book is as absurd as the sound of clapping with only one hand (an old Buddhist paradox). At the end of the novel, when Malone dies the autobiographical report dies with him, and on the plane of the author the novel dies. Of course, the fiction of self-creation or self-annihilation is only the fiction of self-creation or self-an‐ nihilation. Beckett has composed a text that seems to create itself and then to destroy itself as it reports its own composition and self-destruction. Structurally, this resembles the attempt to lift oneself out of the morass. Beckett’s endeavour can never be accomplished because the text presupposes the existence of the text that it describes. Thus the novel stands in analogy to the literary work of art in general because the latter is traditionally based on the assumption that something is represented as real that is only created in the act of representing. The novel’s failure at creating itself, therefore, points to the fictitiousness of all art, not only of the traditional realistic type but also of the new aesthetic of non-mimetic literature. Beckett’s project to replace traditional realistic art with a non-mimetic, non-representational art was first announced in Three Dialogues with Georges Duthuit (written between 1946 and 1948, published in 1949). In his writings after the Second World War, this programme took the form of exposing the fictionality of fiction, of making the process of writing the topic of his writing, of concent‐ rating on the observer rather than on ‘things’ and, consequently, on the observer of the observer. This led him to the identification of narrator and protagonist, to the blurring of the limits of narrative planes, to structures of infinite regress and, quite naturally, to the first-person perspective. When we consider that his earlier works - More Pricks than Kicks and Murphy, and also shorter pieces like Assumption (1929/ 1929) or A Case in a Thousand (1934/ 1934) - are all third-person narratives, and that from Watt onwards all his novels are first-person narratives, then it seems plausible again that At Swim-Two-Birds played a crucial role in this new development. In Watt (1943-45/ 1953), the first text he wrote after reading At Swim-Two-Birds in 1939, Beckett began in the old third-person perspective, but then the novel changes in tone and point of view. Parts II to IV are told by Sam who is, actually, only a spokesman for Watt, into whose narrative other narratives are incorpo‐ 134 IV Samuel Beckett 25 Mercier and Camier (London: Calder & Boyars, 1974), p. 7. rated. Watt is a first step only: it is mostly first-person narrative, but the narrator is not quite the protagonist. As a witness-narrator with a certain share in the transmission-process between Watt and the reader, Sam is situated somewhere between a detached, neutral third-person narrator and a first-person nar‐ rator-as-protagonist. The four Stories (“First Love”, “The Expelled”, “The Calmative”, and “The End”) (1945/ 1954, 1970) are first-person narratives pure and simple. The problem, ho‐ wever, which shows that Beckett had not quite thought his new form through, is that it is never made clear when and how and why these first-person narrators write down their reports (probably he is one and the same narrator in all four stories). This changes only with the Trilogy (1947-48/ 1951-53) when it is made clear that Molloy and Moran write for money for someone who collects their sheets and that Malone writes to pass the time before he dies. Mercier and Camier (1946-47/ 1970) is yet another departure in narrative per‐ spective. At first sight the short novel seems to be a first-person narrative: I was with them all the time. 25 But on closer inspection the narrator seems to be an omniscient narrator, more precisely, a heterodiegetic overt narrator - telling the story from a superior stand-point. However, towards the end, the true nature of the narrator is re‐ vealed when Mercier says: … strange impression sometimes that we are not alone. You not? I am not sure I understand, said Camier. Now quick, now slow, that is Camier all over. Like the presence of a third party, said Mercier. Enveloping us. I have felt it from the start (p. 100). Clearly, the ‘third party’ is the narrator, the author-creator of Mercier and Ca‐ mier. Here, then, for the first time in Beckett, we have the exposure of the nar‐ rator as the creator, the exposure of the fiction as made up by an author. This is one step further in the direction of the equation of narrator and protagonist. In the Trilogy, then, as already discussed above, we find first-person narra‐ tives of the type that became Beckett’s trademark. This narrative point of view is the objective correlative of Beckett’s epistemological scepticism. He wanted to find literary equivalents to his conviction that one cannot know the truth and cannot see reality objectively. What remains to be done in this situation is only to observe the observer, and the observer of the observer of the observer. 135 Flann O’Brien and Samuel Beckett This epistemological scepticism led O’Brien to use Chinese-box structures and to fuse the planes of narration and the narrated, but in a playful way with quirky humour and absurd contents. Beckett, when he took over the structures, changed them to suit his more “existentialist” concerns. 136 IV Samuel Beckett 1 Written, premiered and published in 1958; the French translation by Beckett (La dernière bande) dates from l959. All subsequent quotations refer to the following edition: Krapp’s Last Tape and Embers, London 1966 (reprint of the first edition 1965). 2 Written, premiered and published in 1962. The edition used here is the first edition: Photo Finish - An Adventure in Biography in Three Acts, London 1962. 3 Written in French in 2007, German version in 2008. Premiered and published in 2009. All subsequent references are to the first edition: Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts - Ein Monolog, Frankfurt/ M. 2009. 4 The authoritative biography is: James Knowlson: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, New York 1996. Samuel Beckett’s Krapp’s Last Tape, Peter Ustinov’s Photo Finish and Peter Handke’s Bis daß der Tag euch scheidet The topic of my essay will be three plays: Samuel Beckett’s Krapp’s Last Tape, 1 Peter Ustinov’s Photo Finish  2 and Peter Handke’s Bis daß der Tag euch scheidet. 3 The relationship between the first two plays is thematic, not one of influence. Handke’s “Monolog” is a kind of companion piece to Beckett’s monodrama. I Samuel Beckett (1906-89), born in Dublin, began his literary career with poems, stories and novels, written under the influence of James Joyce, whom he had met in Paris while teaching as an exchange lecturer of Trinity College, Dublin, at the École Normale Supérieure. In 1937, he moved to Paris after difficult and depressing years in Dublin and London and many stays in Germany, often in Kassel, where he fell in love with Peggy Sinclair, his cousin. When the War reached Paris, he went to the south of France, but returned to Paris after German capitulation. During the next few years, after a kind of revelatory vision that enabled him to shake off Joyce’s infuence and to find his own voice, he wrote his most important works, thereby changing to the French language: stories, novels and the play that made him famous when it was staged and published in 1952 resp. early 1953: Waiting for Godot. (Since Beckett translated his French works into English, and his English works into French, we have two originals; for the sake of uniformity, I will always use the English versions.) His next plays were Endgame (written 1954-56, first published 1957), All that Fall (1956/ 1957) and Krapp’s Last Tape (1958/ 1958), followed by a great many “dramaticules” with a growing tendency to reduction, concerning plot as well as length and dramatis personae. His fame, however, increased year by year and reached its climax in 1969 when Beckett was awarded the Nobel Prize. 4 5 The following discussions of Krapp’s Last Tape and Photo Finish were first published - in a slightly different context - in an essay of mine in: Anja Müller-Wood (ed.): Texting Culture - Culturing Texts, Trier 2008, with more critical literature. 6 A “crap-artist” is a ‘liar’ or a ‘boaster’ (OED), but of course the meaning excrement is obvious, too. Krapp’s Last Tape is a monodrama whose text comprises only 12 pages but whose performance lasts about 40 minutes because there is quite a lot of stage business: eating bananas, drinking whiskey backstage, musing, reminiscing about the past, handling the tape recorder, the “spools” and the ledgers in which the contents of the tapes are described. 5 When the curtain rises, we see a 69-year-old man, Krapp, 6 in his “den” (p. 9). It’s his birthday and, as always on these occasions, he prepares to tape his re‐ flexions on and memories of the previous year. In order to get himself in the right mood, he first, as always, listens to an older tape. In this older recording, the 39-year-old Krapp speaks of a revelation he had “at the end of the jetty, in the howling wind, never to be forgotten, when suddenly I saw the whole thing. The vision at last” (p. 15). Further memorable events were the death of his mo‐ ther and his “farewell to love” (p. 11). He also reports that he has just been lis‐ tening to an even older tape of some years ago when he was around 27, full of aspirations and resolutions, living with a girl with green eyes called Bianca. (A fourth plane - Krapp as a child - is only hinted at once.) So, it is three Krapps that we have in Krapp’s Last Tape: 1. the 69-year-old Krapp on stage: weary, disillusioned, alcoholic, having read Effi Briest recently, a failure as a writer, having sex now and then with Fanny, a “bony old ghost of a whore” (p. 18); 2. the 39-year-old Krapp on tape: pompous, full of ideas of an opus magnum, whose mother died recently and who tells his girlfriend on a boat-trip that their relationship is hopeless, and who will live, from now on, com‐ pletely alone; 3. the 27-year-old Krapp referred to on the tape: living, on and off, with Bianca, full of aspirations and resolutions, whose father has just died. The memories of the boat-trip and the last day with his girlfriend are so over‐ whelming that the old Krapp on stage does not continue his present recording session. He will never record anything anymore and perhaps die soon. Krapp’s Last Tape is the grotesque tragedy of the autonomous subject of mo‐ dern times, free of all human bonds, that is: lonely. The tape is his diary. The first modern diary was kept by Daniel Defoe’s Robinson Crusoe on his island, a testimony of modern man’s earlier optimistic self-assertion in a hostile world. 138 IV Samuel Beckett 7 Apart from Ustinov’s autobiography Dear Me (first published London 1977, repr. 1998), I would like to mention: John Miller: Peter Ustinov: The Gift of Laughter, London 2003. Krapp’s diary, however, is testimony to the final stage of the process of indivi‐ dualisation, a development from autonomy to loneliness, from freedom to uprootedness. So, this is Krapp’s last tape. What began pompously as an auto‐ biography ends in despair and silence. II Since Peter Ustinov’s many works - plays, short stories, novels and essays - are far less known than Beckett’s oeuvre, a few remarks on Ustinov, in general, are perhaps in order. Peter Ustinov (l921-2004) 7 was an all-rounder: actor and di‐ rector for stage and film, entertainer and raconteur, comedian and writer, and, thus, academic critics didn’t take him seriously. There are several books on Us‐ tinov, but they are all biographically orientated and popular at that, lacking in critical distance. And it is true that Ustinov wrote too quickly, suffering from a compulsion to be funny. But he was a great actor, won two Oscars, and his Nero in Quo vadis? (1951) is unforgettable. He himself, however, wanted to be re‐ membered primarily as a playwright, and as such he had indeed many successes as a writer of West-End comedies, but is almost never staged today. Peter Ustinov was born in London in 1921 of parents with a multi-ethnic background and he always understood himself as a cosmopolitan and abhorred chauvinism and stereotypical thinking about nations. His works were all written in English, which he spoke as his mother tongue, but he had excellent German and French. After the War he began a career as an actor, director, entertainer and playwright. From 1968 onwards he worked as a goodwill ambassador for Unicef, travelled extensively and received many awards and prizes over the years. He died in Geneva in 2004, having moved to Switzerland in the early 1960s (to evade high taxation in Britain). His best-known plays are: The Banbury Nose (1944), The Love of Four Colonels (1951), Romanoff and Juliet (1956) and Photo Finish (1962). Photo Finish was Ustinov’s first play after several years of absence from the theatre. The rehearsals took place in London but the premiere had to be trans‐ ferred to Dublin because Ustinov, who played the leading role, had used up the 90 days per year which he, as a tax exile, was allowed to stay in Britain. The play, although considered too long by everybody, was a great success in London, 139 Beckett - Ustinov - Handke 8 In Berlin, Martin Held played the leading role, just as he would do, incidentally, in the case of Krapp’s Last Tape in 1969. For Held in Das letzte Band (Schiller-Theater, Berlin, directed by Beckett himself), see Knowlson: Damned to Fame, p. 503; for Held in End‐ spurt, see Miller: Peter Ustinov, p. 129. 9 “Peter Ustinov”, in: Horst W. Drescher (ed.): Englische Literatur der Gegenwart in Ein‐ zeldarstellungen, Stuttgart 1970, pp. 513-26. 10 “Peter Ustinov”, p. 513. 11 Peter Ustinov: The Banbury Nose - A Play in Four Acts, London 1945. In a later play, Beethoven’s Tenth (1985), Ustinov returned once again to the motif of bringing a dead person back to life on stage. This time, it’s a historical character, the composer Beet‐ hoven, who confronts a family of musicologists and composers who quote him in sup‐ port of their diverging interests. 12 This famous dictum is no. IV A 164 in the “Tagebuch aus der zweiten Berlinreise” (1842/ 44). The German translation by Hayo Gerdes runs as follows: “Es ist völlig wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rücklings verstanden werden müsse. Aber darüber vergißt man den anderen Satz, daß es vorlings gelebt werden muß” (quoted from Søren Kierkegaard: Die Tagebücher, vol. I, Düsseldorf & Köln 1962, p. 318). Boston, New York, Paris and Berlin. 8 One of the few serious discussions of Us‐ tinov’s work is a survey by a German drama specialist, Siegfried Kienzle, pub‐ lished as early and as long ago as 1970. 9 He states that in the case of Peter Ustinov the playwright and the actor are inseparable. This leads to a central role in all of Ustinov’s plays, and this leading role, always played by Ustinov himself, is “the old man”: “Für Ustinov ist diese bevorzugte Mittelpunktsfigur der Greis, unermüdlich abgewandelt in einem Panoptikum der Sechzigbis Neunzigjäh‐ rigen.“ 10 Kienzle discusses several of Ustinov’s plays, among them The Banbury Nose  11 and Photo Finish. The Banbury Nose is particularly interesting in the present context because it is something of a preliminary study of Photo Finish. In The Banbury Nose the time-flow is reversed between the acts: the action takes place, first in 1943, next in 1920, then in 1900, and ultimately in 1884. The play shows the attempts of four generations of the Hume-Banburys to free themselves of obsolete and un‐ natural traditions. Because of the reverse time-flow, the play is all the more poignant: the disappointing outcome, presented first - the military tradition of the family proves to be very strong - is a satirical comment on the high hopes with which the play ends, 60 years earlier. The title-page of the first edition contains an apt motto from Kierkegaard: Life can only be understood backwards, But it must be lived forwards. 12 In Photo Finish, Ustinov developed the idea further. This time, by way of con‐ centration, it is one person only who is confronted with himself, or “his selves”, 140 IV Samuel Beckett and again the time-flow is reversed. At first we encounter Samuel (“Sam”) Bar‐ nett Kinsale on stage when he is eighty and a frail, bed-ridden invalid, perhaps close to death, trying to write his autobiography. This brings back to him me‐ mories of his past life. The past appears on stage in the shape of his former selves. First, the 60-year-old writer of highly successful ambitious kitsch novels; then the 40-year-old idealist who prides himself on being an unappreciated genius; last the 20-year-old would-be-poet whose effusions have just been published as his first book. The main topic of the conversations - often very funny - is Sam’s love life, respectively his marriage to Stella (Chough) and his attempts at infidelities. When Sam-at-60 enters and meets Sam-at-80, he is repulsed by his older self ’s body and state of health, whereas 80 is horrified at 60’s amorous stupidity and recklessness. 60 is just trying to seduce the 23-year-old Clarice with an expensive necklace while Stella is away with their son Tommy. 80 tries to dissuade 60 because he knows that 60’s love-making in bed with Clarice will result in a near fatal heart-attack and that Clarice will anyway soon prefer a much richer suitor. But 60 cannot be persuaded. Sam-at-40 enters. He plans at last to leave Stella for Miriam, the great love of his life, but 60 tells him he won’t because Stella will soon tell him that she is pregnant. Next, at the end of Act I, Sam-at-20 appears. (The room at this stage of Sam’s life is now his father’s study.) With him is Stella, young and lovely. Now, almost 80 years old, she nurses Sam-at-80: he never managed to leave her, nor she him. Act II consists of conversations between the main characters in various com‐ binations. First, Clarice arrives and 60 tries to seduce her while 80, 40 and 20 are watching, in various degrees of shame or cynicism. When 60 and Clarice have left, 40 and Stella-at-40 are having a bitter argument. After a conversation bet‐ ween Sam-at-80 and 20, there is a long discussion between 20 and his father. 20 wants his father’s consent to marry Stella. Sam-at-20’s father - who, as we learn from Sam’s older self, will soon die - refuses his consent, pontificating on (Vic‐ torian) morals. However, in the next scene, Sam-at-20 surprises his father with his secretary. A long and increasingly sympathetic conversation between 80 and his father follows. Act III opens with 40 and Stella-at-40 celebrating her pregnancy and trying to make a new start in their worn-out relationship. Their son Tommy arrives, now 20 years old - later joined by Alice (Montego), his fiancée - to tell Sam-at-60 that they will marry the next day. Sam-at-60’s objection to his future daughter-in-law, his extra-marital affairs: all this is strongly reminiscent of Sam’s father’s reaction to him 40 years ago. But as history repeats itself and the frailty of all human affairs is revealed, the play ends on a note of forgiveness. 141 Beckett - Ustinov - Handke 13 And - in one line - to Krapp as a child: “[Krapp-at-27: ] Sneers at what he calls his youth and thanks to God that’s over” (p. 13). 14 In addition, he is shown as an infant in his mother’s arms in one short scene (p. 88). His former selves and his father in particular urge Sam-at-80 to finish his auto‐ biography, his reckoning with himself, and to be prepared for the end. Sam, remaining alone at his desk, takes up his pen. *** The many similarities between Krapp’s Last Tape and Photo Finish might lead one to assume some sort of genetic influence. However, that was not the case. Beckett and Ustinov never met nor took much notice of each other’s work. And indeed both writers were extremely different in practically every respect. Since Beckett’s play was published earlier than Ustinov’s, one might still assume an unconscious influence on Ustinov’s side. However, the basic structural pattern - developing a character on stage by confronting him with former versions of himself - can already be found in The Banbury Nose, first published in 1945. Beckett, for his part, had developed his ideas about time and the self as early as 1930 when he wrote his essay Proust. So, it seems that both playwrights deve‐ loped their theme and its realisation independently of each other. Obviously, Krapp’s Last Tape and Photo Finish have the main theme and many interesting details in common, but there are some revealing and characteristic differences, too. The most conspicuous similarity between the two plays is, of course, the basic situation: In each play an old man on stage, close to death, is confronted - or perhaps better: confronts himself - with earlier versions of himself, and the confrontation goes back in time from middle age to youth; Krapp-at-69 listens to and reacts to Krapp-at-39 and to Krapp-at-27, 13 Sam-at-80 faces Sam-at-60, Sam-at-40 and Sam-at-20. 14 The confrontations are different, however, in that Krapp listens to his former selves on tape whereas Sam sees his former selves as ‘real presences’. This means that in Krapp’s case his former selves are present on stage only in a mediated way: indirectly as the 39-year-old Krapp and implicitly indirectly as the 27-year-old Krapp, whereas Sam’s earlier selves are directly available to his investigation into who he was and is. Ustinov’s mode of presentation is more dramatic and works well as a vehicle for comic effects, as, for instance, when the older Sam tells the younger what will happen next and how certain plans will come to nothing. Beckett's mode of presentation is more realistic as to how memory works: to some memories one has direct access while others are buried under later memories so that often one doesn’t know which remembrance is the result of a direct experience and which is the result of a tale often told, of hearsay, of experience not properly understood at 142 IV Samuel Beckett the time and so on. And this realism of Beckett is the vehicle for the seriousness of his purpose. These differences in the mode of presentation have further consequences. In Krapp’s Last Tape there is no communication between the various Krapps. The influence goes in one direction only, old Krapp reacting to the younger Krapps and not vice versa. In Photo Finish the several Sams interact with each other but all efforts of Sam-at-80 to talk Sam-at-60 out of his sex affair are in vain, as, of course, they must be for the sake of logic. This also implies that Beckett’s play consists of monologues, whereas Ustinov’s consists of dialogues, and again this is in keeping with Beckett’s serious tone, respectively Ustinov’s atmosphere of comedy. The central memories of both, Krapp and Sam, concern love and sex. Both had love affairs as middle-aged men that came to nothing: with the nameless girlfriend in the case of Krapp-at-39, with Miriam in the case of Sam-at-40. Both have had sex affairs in later life: with Fanny in the case of Krapp-at-69, with Clarice in the case of Sam-at-60. But again, the tone and atmosphere of these memories are very different, and moreover, Krapp is an unmarried loner, whe‐ reas Sam is a married man with a son and a daughter-in-law (and prospective children, as the many structures of repetition seem to imply). *** One of the most interesting side issues of the question how the past and the present are related, is the question how to understand the self. In fact, in both plays it is the main issue. Does the self have an inner core or does it consist of layers? Is the self a substance or merely a succession of roles? Beckett in Krapp’s Last Tape is ambivalent. The three Krapps are both a suc‐ cession of three different selves and three versions of the same person. Some‐ times Krapp addresses his former self as an other, with third-person pronouns (p. 13), sometimes he addresses his former self with the first-person pronoun (p. 12). And indeed there are continuities (alcohol, bananas, memories) and dis‐ continuities (he doesn’t understand words he formerly used) in his life. The framing of the monologues is particularly interesting in this context. The 27-year-old Krapp is, as it were, ‘contained’ in the 39-year-old Krapp, and he again in the Krapp-on-stage. (Chinese box structures are omnipresent in Be‐ ckett’s oeuvre.) And this is indeed how things are in real life: all previous selves are contained in the present person, who is the sum of his / her earlier experi‐ ences. In Ustinov’s Photo Finish the topic of the unity of the self appears in the form of the repetitiveness of life. But there are structures of both repetition (conti‐ 143 Beckett - Ustinov - Handke 15 In an almost uncanny coincidence. Krapp’s opus magnum sold 17 copies, “of which eleven at trade price to circulating libraries” (18), while Sam-at-20’s poems sold 18 co‐ pies, “eleven of them to libraries, the rest to relatives” (29). 16 See Nadia Benois Ustinov: Klop and the Ustinov Family, London 1973; Nadia Benois Ustinov was Peter Ustinov’s mother, and Klop was the pet-name of his father. 17 See Ustinov: Dear Me, p. 307. Isolde Denham’s father, Ustinov’s father-in-law, as it hap‐ pens, was called “Reginald”! nuity) and of change (discontinuity). The changes regard society and its mores from Victorian times to the early sixties. The continuities regard character and family life. Sam repeats his father Reginald in many ways; Sam’s son Tommy repeats his father Sam-at-20. Stella resembles - both physically and psycholo‐ gically - Auntie Alice, Reginald’s sister, and Alice Montego, Tommy’s fiancée, looks like her mother-in-law Stella-at-20; Clarice, Sam’s mistress, resembles Ada (Cooney), his father Reginald’s “secretary”. The great unfulfilled loves of both Sam and Reginald were each called Miriam. It is remarkable, furthermore, that both main protagonists, Krapp and Sam, are writers 15 and both are taping, respectively writing, their autobiographies. In fact, each play is a form of autobiography. This finds its counterpoint in that both Ustinov and Beckett used autobiographical material for their respective play. In Ustinov’s case the correspondences are rather general. The relationship between Sam and his father Reginald is modelled on Ustinov’s and his father’s, Jona Ustinov’s, relationship: strained during their lifetime, sympathetic after the father’s death. 16 And the grim picture of Sam’s and Stella’s marriage was influ‐ enced by Ustinov’s difficult separation from his first wife, Isolde Denham. 17 In Beckett’s case the autobiographical echoes are so numerous that, together with the late prose text Company (1980), Krapp’s Last Tape can be considered to be his most personal work, as the following examples illustrate: The death of Be‐ ckett’s father and mother have their equivalents in Krapp’s Last Tape and the places of Beckett’s early years in Dublin ditto. The 27-year-old Krapp’s Bianca is modelled on Beckett’s cousin Peggy Sinclair from Kassel, whom he visited many times when he was about 27. Krapp is a keen reader of Theodor Fontane’s Effi Briest, as was Beckett. The vision of the 39-year-old Krapp is a sarcastic caricature of Beckett’s revelation experience in Dublin in March 1946, when he was 39. More generally, it has been argued that Krapp is like Beckett if he had stayed in Ireland instead of emigrating to Paris. *** In spite of the many similarities between both plays, the impression they make on the audience or reader is rather different, if not contrary. Tone and atmo‐ 144 IV Samuel Beckett 18 There is no indication that Ustinov was thinking of Sam Beckett. 19 Subsequent references are to the following edition: A. C. Cawley (ed.): Everyman, Man‐ chester 1961. 20 Ustinov: Dear Me, p. 307. sphere of Krapp’s Last Tape is tragic, and where single incidents are funny, the comedy is grotesque, grim, Krapp’s humour is sarcastic, even cynical. The mo‐ nodrama with Krapp’s failure as a writer, his loneliness, ends in silence and despair. Photo Finish is a comedy, even if Sam 18 has never been a happy man, has led a joyless marriage and, during the last years, has been a bed-ridden invalid. The ending is in a pensive mood but it is positive in spirit. Sam’s “reckoning” (p. 66) will end in an acquittal. After all, the play that the spectators have just finished seeing is the autobiography that Sam is beginning to finish at the end of the play. The tone here is reminiscent of the mediaeval Everyman. 19 When Everyman gives up his refusal to accept death and prepares himself to face God at the Last Judgement, he is left by all whom he considered his friends, except Good Dedes. But this one friend is enough to make his “rekenynge crystal-clere” (p. 27), as the Aungell tells the spectators. Likewise, Sam-at-80 is left by everybody when it comes to the final reckoning. He has only his honesty in confronting his shortcomings as a redeeming feature when he faces his God, his judge: himself. Ustinov himself understood Photo Finish in this way when he said: “It is a play about forgiveness, about understanding, and finally about courage.” 20 In this context, the titles of the two plays are significant. Both explain themselves at the end of each play. Sam will have to hurry in order to finish his autobiography. It will be a “photo finish” (p. 90), but he will reach the goal in time. The tape Krapp has been listening to will be his last tape because its emotional impact on him is so devastating that he does not realise his original intention, namely to record his reflexions on the occasion of his 69th birthday. Rather, the old tape “runs on in silence” with “Krapp motionless staring before him” (p. 20). III Photo Finish can be fruitfully compared to Krapp’s Last Tape because of the si‐ milarities of theme and structure, but there is no genetic influence. Peter Hand‐ ke’s Bis daß der Tag euch scheidet is different from Krapp’s Last Tape as to theme and structure, but there exists a genetic influence insofar as Handke’s “Monolog” is meant as a kind of supplement to Beckett’s monodrama. Peter Handke (* 1942), born in Carinthia, became famous for a provocative statement made at the annual meeting in 1966 of the “Gruppe 47”, a loose but 145 Beckett - Ustinov - Handke 21 An easily available biography is: Hans Holler: Peter Handke, Reinbek nr. Hamburg 2007. 22 The title is of course a variation of the German wedding formula “bis daß der Tod euch scheidet” (‘till death do you part’); see also p. 23 of the monologue. I will confine my brief discussion to the German version although the French version seems richer to me. Unfortunately, there are quite a few errors, or misprints, in the first edition: “ge‐ schloßen” (p. 7) should be “geschlossen”, “tat’s” (p. 11) should be “tatst” (short for “ta‐ test”), “ai” (p. 31) should be “ait”, “arrières-pensées” (p. 35) should be “arrière-pen‐ sées”, “Baltische See” (p. 25) is not the German equivalent of “la Baltique” (p. 47), the roaring of the Mississippi (p. 48) cannot be translated as “Röhren” (p. 27) because water never “röhrt” but “braust” or “tost”. 23 However, she (or Handke? ) misremembers the scene: according to Krapp it took place in the “sun blazing down” (p. 16), but she speaks of a starry night (p. 10). influential gathering of German, Austrian and Swiss writers. The 23-year-old nobody attacked the bigwigs of post-war German literature for their “impotent realism” and followed, in the same year, with an equally provocative play, ent‐ itled Publikumsbeschimpfung. The early works owe a lot to Beckett, particularly to his critique of language. Later he moved to Germany and finally, after years of travel and unrest, settled in Paris (1990). Other important titles are, for ins‐ tance, Die Stunde der wahren Empfindung (1975) and Mein Jahr in der Niemands‐ bucht (1994). In recent years (since 1996) many, even his admirers, have become alienated by Handke’s support for Serbia and, more especially, for Slobodan Milošević in the wars of the Yugoslavian succession. 21 Bis daß der Tag euch scheidet  22 is the monologue of a woman, framed by two brief tableau-like descriptions. The woman is - let us be plain even though this must come as a shock to all Beckettians - Krapp’s lover Bianca. The name is never given but it must be Bianca because she was present at the scene on the lake, 23 and now that he is dead (p. 14) she addresses Krapp almost like a mourning widow. It remains unclear how long they lived together. In Krapp’s Last Tape the affair started before Krapp was 27 and may have lasted until Krapp was almost 39; in this case, one assumes that the nameless girlfriend Krapp mentions on his 39th-birthday tape is identical with Bianca, the “girl in a shabby green coat” (pp. 12 f.). However, this remains open in Beckett. Krapp-at-39’s farewell to love may refer to another woman or girl than Bianca. In Bis daß der Tag euch scheidet the relationship seems to have continued well beyond Krapp-at-39 be‐ cause the woman speaks of Effi (Briest) (p. 9) and the Baltic Sea (p. 25), and both names occur only in the monologue of the 69-year-old Krapp. In the French version of Handke’s text Bianca even has (or had) a child by Krapp. She also knows Samuel Beckett’s works (! ) well because her monologue is replete with 146 IV Samuel Beckett 24 Hamm’s “Me to play” from Endgame is echoed on p. 9. Pozzo’s “They give birth astride of a grave” from Waiting for Godot is alluded to on p. 19; Breath is indirectly referred to on p. 19; the motif of the foetal position so prominent in Beckett is mentioned on p. 21; Der Verwaiser / Le dépeupleur is mentioned on p. 22, resp. 45; the three questions with which L’innommable begins are echoed at the end of the French version (“Et mainte‐ nant? ” repeated three times) on p. 49. reminiscences of his plays and prose texts. 24 (This implies that Handtke equates Krapp with Beckett; in knowing Krapp and his work Bianca knows Beckett and his oeuvre.) The woman speaks about Krapp’s pauses and silences, his loneliness and remoteness, but it is clear that her love for him never ended: “Nie wird es in mir und zwischen uns auf solch eine Weise Tag werden. Indem du mich in meiner dunklen Nacht gelassen hast, bist du für mich, die unbekannte Frau, ein guter Mann gewesen …” (pp. 23 f.). In a postscript Handke calls his monologue - not really a play - “ein Echo” (p. 51) of Krapp’s Last Tape and reminds us that Echo was a nymph in Greek mythology, the voice of a woman. However, Bis daß der Tag euch scheidet is not an echo in the normal sense of the word. It is not a repetition of the last words or passages of Beckett's play. On the contrary, Handke’s Krapp is unrecognisably different from Beckett’s Krapp, or perhaps I should have said: from Be‐ ckett’s ‘Krapps’, because the problem of identity, of the relationship between past and present, of the continuities and discontinuities between the three Krapps are at the core of Beckett’s play, and nothing of this can be found in Handke’s (Bianca’s) Krapp. And no constipation (bananas! ), no alcoholic prob‐ lems, no revelation experience (the vision! ), no hint of Krapp the writer with his ambitions and later disillusionment (17 copies sold! ). And the structure of Be‐ ckett’s play - the framing, the mise-en-abîme, repetition - is in no way taken up, or echoed in Handke’s monologue. (Even though it is true that Beckett once considered the possibility of a sequel about “Mrs. Krapp”.) But of course the question is: would we really want such a re-write? Would it, could it possibly add to Beckett’s art? Do we want a Krapp who inspired lifelong love in a woman who had a child? Is he a character who seems to live outside of the text so that one can “take” him and make him the character in another text? Handke understands Krapp’s Last Tape as a realistic play, and by “a realistic play” I mean a play that is organised in such a way that it seems to mirror the world outside of itself, even though of course it ‘only’ creates the world that it seems to mirror. Realistic literature presupposes an essentialist view of the human personality, and its characters are, therefore, persons with a core identity. This view is only partly true of Krapp. There may be continuities between the three Krapps but the emphasis is on the discontinuities, as was 147 Beckett - Ustinov - Handke discussed earlier. The most important feature of the play pointing in that direc‐ tion is its structure. The framing, with its allusion to a Chinese-box structure and ad-infinitum repetition, stresses form rather than content and fragmentises Krapp’s personality, thereby emptying it of a core identity. Contrary to Beckett, Handke and Handke’s female speaker stress the conti‐ nuities of Krapp’s life and character, his silences and loneliness when he was most himself (“nur allein hattest du ein Zentrum,” p. 20). Accordingly, she never expected a response from him, not even an echo, was content with just observing him over a period of more than forty years, from when he was younger than 27 to his death soon after 69. To take Beckett’s Krapp’s Last Tape as a realistic play, is, I think, an aberration running against the grain of Beckett’s non-mimetic aesthetic. 148 IV Samuel Beckett 1 Written in 1948, published in late 1952. 2 Very influential was Martin Esslin’s The Theatre of the Absurd (New York: Doubleday, 1961); German edition 1964, then 1965 as a Rowohlt best-seller. For more details see: P. J. Murphy, Werner Huber, Rolf Breuer and Konrad Schoell, Critique of Beckett Criticism: A Guide to Research in English, French, and German (Columbia/ SC: Camden House, 1994). 3 As an anglicist I quote from Beckett’s own translations into English. Warten auf Godot / En attendant Godot / Waiting for Godot (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975), p. 26 and p. 232. 4 Molloy, Malone meurt, L'innommable (written 1947-51 / published 1951-53). 5 Endgame (London: Faber and Faber, repr. 1976, 1 1958), p. 12. Nothingness and absence présente in Beckett I Samuel Beckett, already in his forties, became famous - or notorious - with the première in early 1953 of En attendant Godot, 1 first in Paris, his home town since 1937, soon afterwards in West-Germany, then internationally, eventually in his native Ireland. At that time, he was seen as an “existentialist” and “nihilist”, writing in the tradition of the philosophy of “absurdism”, with Sartre and Camus as the best-known intellectuals and writers of that movement. 2 Contrary to what one has a right to expect from a play - “drama” after all means action in Greek - Waiting for Godot begins with Estragon’s words Nothing to be done, and ends with his invation to Vladimir Yes, let’s go, followed by the stage direction They do not move. 3 This view was confirmed when Beckett’s earlier prose works became better known - his trilogy of novels in particular 4 - and when Fin de partie (written 1954-56 / published 1957) created another succès de scandal. Here the anti-be‐ ginning of Waiting for Godot is even more “anti-dramatic” when Clov opens the play by saying Finished, it’s finished, nearly finished, it must be nearly finished. 5 The view of Beckett as nihilist became less fashionable in later years when he was considered as either the last modernist or the father-figure of postmoder‐ 6 Watt (London: Calder: 1963), p. 247. 7 Proust / Three Dialogues (London: Calder, 1965), p. 103; a similar statement can be found on p. 120. 8 For the source, see: H. Diels and W. Kranz (eds.), Die Fragmente der Vorsokratiker, vol. II (Dublin & Zurich, 1966), p. 174. 9 For more details, see: Rolf Breuer, Die Kunst der Paradoxie: Sinnsuche und Scheitern bei Samuel Beckett (Munich: Fink, 1976), pp. 76 f. 10 Molloy, Malone Dies, The Unnamable (London: Calder and Boyars, repr. 1966, 1 1959), p. 193. nism, but it has still much to speak for, not least because of Beckett's own pro‐ nouncements about nothingness as the centre of his art. A few selected citations must suffice in the context of this short essay. - In one of the “Addenda” to the early novel Watt (1943-45/ 1953), Beckett’s narrator Sam (! ) reflects on the story he has just tried to tell: Who may … weigh absence in a scale? mete out want with span? nothingness in words enclose? 6 In one of the so-called - highly stylised - Three Dialogues with Georges Duthuit (published 1949), Beckett has this to say about the objective of up-to-date con‐ temporary painters, and implicitly about his own writing: The expression that there is nothing to express, nothing with which to express, not‐ hing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express. 7 Much quoted in this context by the critics is a dictum by Democritus: Nothing [or: Naught] is more real than nothing, 8 because Beckett himself repeatedly called it central to his work, for instance in interviews with Sighle Kennedy and J. Gruen in the late 1960s, 9 a phrase he had already given to the first-person narrator in Malone Dies. 10 That Beckett took the Nothing, “das Nichts”, as Something is even more ob‐ vious in the following pronouncement. During a conversation with Gottfried Büttner in 1969, Beckett recited by heart an extremely difficult poem by Höl‐ derlin, the first stanza of the hymn “Mnemosyne”, and then, after a long pause, exclaimed: 150 IV Samuel Beckett 11 Reported by Büttner in his autobiography Unterwegs im 20. Jahrhundert (Dornach: Verlag am Goetheanum, 1997), p. 371. 12 Sein oder Nichts: Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin (Munich: Beck, 2016). Particularly interesting for Beckett critics are the first 50 pages on Beckett’s knowledge of Hölderlin and on Krapp’s Last Tape. 13 L’imposture (1927) (Paris: Plon, 1958), p. 34. Und dann - das Nichts. 11 This statement was taken by Dieter Henrich, the noted German philosopher, as the starting point of a 500-page-long study of Beckett and Hölderlin under the key concepts of das Nichts and das Sein. 12 II However, at least since Frege and his introduction of quantifiers to logic, it is no longer possible to speak of nothing as if it were something. In German and in many other languages it is indeed possible to turn adjectives into nouns, and this is logically unproblematic in many cases, for instance with red and red‐ ness, but not in the case of nothing. In the statement There is nothing in my wallet, nothing is an existential quantifier and, strictly speaking, the sentence means: There is no object of which it is true to say that it is in my wallet. And if there is no object of which one can say that it is in my wallet, then this “no object” is obviously not an object. III These critical remarks, however, do not really affect Beckett’s art. In his theo‐ retical and philosophical statements he may have called nothingness the centre of his writing, but in his actual literary practice he attempted something else, logically unproblematic: the representation of absence presénte. The difference may seem slight but it is decisive. In the pertinent words of the narrator in a novel by Georges Bernanos: … ce qui distingue l’absence du néant. La place n’est pas vide, il n’y a place du tout, il n’y a rien. 13 And indeed, in Beckett’s works the problem is not that there is no place but that the place is empty and the emptiness a felt absence. This I want to show in the following paragraphs. 151 Nothingness and absence présente in Beckett Watt is Beckett’s first attempt to “weigh absence in a scale”. Its leitmotif is the search or quest. Watt, the personified question “What? ”, undertakes a journey to the house of Mr. Knott, whom he tries to meet. His hopes, however, are doomed from the beginning because the object of his quest is the personified negation “Not! ” or “Naught! ” and does not exist, or better: eludes him. The elu‐ siveness is expressed in Mr. Knott’s everchanging furniture, clothes, etc., pre‐ sented in linguistic catalogues, combinations, and permutations. The failure of his questioning drives Watt insane and he ends up in some unspecified institu‐ tions where, in ever newly inverted words, sentences and paragraphs, he talks about his futile quest to Sam, his fellow inmate, who then passes the report on to us. The elusive Mr. Knott is, for Watt, a felt absence, not just a nonentity. Nevertheless, this artistic procedure is a tour de force, recognizable as a first attempt at solving a difficult problem. More elegant is the solution of the problem in Waiting for Godot. Here, the question of whether Mr. Godot exists or not is left open. Vladimir and Estragon are waiting for a Mr. Godot, who twice - at the end of both acts - does not appear and, by extension, will never appear. Their waiting, however, fulfils an important purpose. By waiting they structure their days and give mea‐ ning to their lives. It may always be only tomorrow that Mr. Godot will come, but it is everyday certainly tomorrow that he will come. From Waiting for Godot onwards, the quintessence of Beckett’s development as a writer is to say more and more by saying less and less, ultimately not to say something in such a manner that this very something is said. With Not I (written 1972) Beckett reached the end of the road towards the goal of saying something by not saying it. The main “character” is Mouth, an old woman reduced to her mouth, from whose lips a torrent of words issues, which report the fragments of the life story of a woman. It is her story, but she refuses to say “I” and always speaks of herself as “she”. Her saying “not I” means not saying “I”. In Watt, Waiting for Godot and Not I the presence of an absence is realised in words and literary structures. A visual realisation of the topos can be found in Film (screenplay written 1963, film 1963). An old man suffering from an irre‐ pressible fear of being perceived, has fled into his room. In his obsession to remove all objects with eyes that could possibly look at him, he tears down from the wall a print showing the face of God the Father with large, severe black eyes. But now a white square reminds him of what he hoped to do away with. A similar situation occurs in A Piece of Monologue (written 1980, published 1982), the monologue of an old man, the Speaker. At one point, he speaks of someone - himself presumably - standing in front of a blank wall in his room, 152 IV Samuel Beckett 14 Collected Shorter Plays (London / Boston: Faber and Faber, 1984), p. 266. 15 (London: Faber and Faber, repr. 1976, 1 1958), p. 38. 16 “Letter to Menoeceus,” Vincent Cook, Epicurus and Epicurean Philosophy Web-site <http: / / www.epicurus.net/ en/ menoeceus.html> [accessed 01December2016]. to which once pictures were pinned, pictures of his parents and himself. Over several years he had ripped all of them from the wall, but to no avail. There was father. That grey void. There mother. That other. […]. There all three. That grey blot. There alone. He alone. 14 A particularly striking example of a felt absence can be found in Endgame (Fin de parti), particularly striking because here the situation is condensed in an exclamation. It is Hamm’s outbreak The bastard! He doesn’t exist! 15 He abuses God because - although! - He doesn’t exist. So it is certainly true that Beckett was intellectually fascinated by (the idea of) nothingness, but what he actually tried to represent in his works was the presence of certain absences, more precisely the power of illusions and repressed memories, respectively the failure to give up futile hope or annihilate self-con‐ sciousness. Thus, the impossibility of annihilating self-consciousness, the impossibility of witnessing one’s own death, is a more important topic in Beckett than anni‐ hilation, death or nothingness. Life, for Beckett’s protagonists, is a long process of dying that never ends, at least not to one’s consciousness. Therefore, death is a non-event in the mature Beckett. It can only be approached asymptotically but can never be reached because it is beyond the perception of the first-person narrators. So a dictum by Epicurus might be more pertinent to Beckett’s art than the one by Democritus, favoured by Beckett himself. In a letter to Menoeceus Epicurus wrote: Death […] is nothing to us, seeing that, when we are, death is not to come, and, when death is come, we are not. 16 Movement towards “nothingness” certainly is a major topic in Beckett, but not “nothingness” itself. If there is something similar to “nothingness” in life, it is absence presénte. 153 Nothingness and absence présente in Beckett Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? Gehört Samuel Beckett mit seinem Werk noch in die Epoche der literarischen Moderne oder schon in die Epoche der Postmoderne? Die Moderne wird hier verstanden als eine Bewegung, in der sich seit etwa 1910 Komponisten, Literaten und Künstler von den im 19. Jahrhundert dominierenden Richtungen wie etwa Naturalismus, Viktorianismus usw. absetzen wollten. Man will nun nicht mehr die Natur nachahmen, sondern Inhalte neu gestalten, darunter auch das Häss‐ liche; Stichworte für die Schriftsteller sind „anti-mimetisch“; Darstellung des Bewusstseins im „stream of consciousness“ und „interior monologue“, Ver‐ schmelzung von Außen- und Innenwelt; Betonung der Form gegenüber dem Inhalt, der Strukturen gegenüber der Handlung; Betonung der Fiktionalität der Texte; die Bedeutung des Augenblicks. In Deutschland spricht man statt von Moderne übrigens von Expressio‐ nismus, Dada, Futurismus, Zwölftonmusik oder Bauhaus. Was Schriftsteller an‐ geht, so denkt man in Deutschland an Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka oder Bertolt Brecht; in Frankreich an Marcel Proust, André Gide oder Jean-Paul Sartre; im englischsprachigen Raum denkt man an Ezra Pound, T. S. Eliot, W. B. Yeats, James Joyce, Virginia Woolf oder Ernest Hemingway. Der Begriff der Postmoderne bezeichnete bestimmte kulturelle Tendenzen der letzten Jahrzehnte in der westlichen Welt: spielerische, den Rezipienten einbe‐ ziehende Kunstformen wie Collage, Parodie und Pastiche mit Zitat und Inter‐ textualität als besonderen Kennzeichen; die Einbeziehung von Minoritäten- und Popkultur, von Subkulturen, von Kitsch. Besonders ausgeprägt finden sich post‐ moderne Tendenzen in der Architektur, in der bildenden Kunst (Andy Warhol, Installationen) und im Roman (Thomas Pynchon oder John Fowles). Kulturkri‐ tische und kulturtheoretische Parallelen fnden sich im sogenannten Poststruk‐ turalismus, der als Kulturtheorie in der Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten dominiert. Insofern bedeutet die Frage, ob Beckett ein moderner oder ein post‐ moderner Autor ist, unter anderem nicht zuletzt, in wessen Lager dieser bedeu‐ tendste Schriftsteller der Nachkriegszeit gehört und wer die Deutungshoheit über ihn besitzt. Es ist nicht nur ein Streit um Worte. Samuel Beckett wurde 1906 in Foxrock südlich von Dublin geboren. Von 1923 bis 1927 studierte er mit so großem Erfolg Französisch und Italienisch am Trinity College in Dublin, dass er für den Posten eines Austauschlektors für Englisch an der Pariser École Normale Supérieure ausgewählt wurde. Als er 1930 nach zwei Jahren zurückkam und Lektor für Französisch am Trinity College wurde, auch eine kleine Schrift über Marcel Proust veröffentlichte, schien eine Pro‐ fessur nur noch eine Frage der Zeit. Da kündigte der junge Dozent die Stelle, um freier Schriftsteller zu werden. In Paris hatte Beckett nämlich James Joyce und dessen Kreis kennengelernt, war bald Helfer, Schüler, ja Freund des Meisters geworden und hatte in den folgenden Jahren erste literarische Texte veröffentlicht und einen Roman be‐ gonnen, dessen Material er dann zu einem Band von zehn Kurzgeschichten um‐ arbeitete, der 1934 unter dem provokanten Titel More Pricks than Kicks erschien. Diese Geschichten mit Dublin als Hintergrund kreisen um einen jungen Mann, der sich allen bürgerlichen Zwängen zur Ein- und Unterordnung durch Ver‐ weigerung entzieht, und man kann bereits einige Motive des späteren Beckett erkennen, aber insgesamt ist der sprachliche und künstlerische Duktus grund‐ verschieden, nämlich gelehrt-parodistisch, possenhaft und karikierend, iro‐ nisch-witzig, ja leichtfertig. Auch Murphy, Becketts 1938 erschienener erster Roman, geht noch in diese Richtung und gehört insofern ebenfalls der Frühphase an. Aber dann verfiel Beckett in eine mehrjährige Schreibpause. Er hatte seit 1937 Paris zu seinem Wohnsitz gemacht und war wieder unter den Einfluss von Joyce und seinen Kreis gekommen. So war seine Situation als Künstler äußerst heikel. Er hatte in Joyce ein literarisches Vorbild vor Augen, das ihn tief beeindruckte, von dem er jedoch wusste, dass es für ihn unerreichbar war: Joyce hatte eine bestimmte Art von Literatur zur höchsten Perfektion gebracht, nämlich Realismus und Natu‐ ralismus mit Methoden des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt. Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann und 1940 Frankreich zu weiten Teilen von deutschen Truppen besetzt wurde, floh Beckett ins unbesetzte Südfrank‐ reich. Hier schrieb er ab 1943 den Roman Watt. Watt ist die Weiterentwicklung des Helden der Frühwerke, ein akademisch gebildeter, nun heruntergekom‐ mener Außenseiter, Landstreicher und Tramp. Alle Ingredienzien der Kunst, für die Becketts Name synonym geworden ist, sind vorhanden: der Sprachpessi‐ mismus, der schwarze Humor, der Protagonist als Krüppel, Tramp oder Irren‐ hausinsasse, die Offenlegung der Fiktion als Fiktion - alles jedoch erst in An‐ sätzen und nicht zu der ökonomischen Eleganz der späteren Werke gereinigt, gerade deswegen aber sehr interessant und liebenswert. Nach der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung kehrte Beckett nach Paris zurück. Hier zog er sich in sein Zimmer zurück und schrieb fast wie in Trance den Roman Mercier et Camier, das Drama Eleutheria‚ einige Kurzge‐ schichten und sodann die Werke, die seinen Ruhm begründeten: Molloy, Malone meurt und L’Innommable, eine Art Romantrilogie, sowie das Drama En attendant Godot, sämtlich zunächst auf Französisch. Der Wechsel der Sprache markiert den Wandel, ja die Wandlung von einem geistreichen, wortgewaltigen, bil‐ 156 IV Samuel Beckett dungsgelehrten, anspielungsreichen Autor zu einem Schriftsteller der Kargheit, der Einfachheit, der Strenge, der Abwesenheit allen rhetorischen Glanzes. Anfang 1946 hatte sich in einer stürmischen Winternacht in Irland ein durch lange Jahre der Lähmung vorbereitetes großes Konversionserlebnis ereignet. Beckett war fast vierzig Jahre alt. Nachdem er jahrelang an schweren neuroti‐ schen Störungen gelitten hatte, die sich in schmerzhaften Furunkeln, in Herz‐ phobien und in Alkoholismus geäußert hatten und Ausdruck von Gefühlen der Angst und der Gefühllosigkeit waren, erkannte Beckett nun mit der befreienden Radikalität eines lang vorbereiteten Umbruchs, dass er zwar nicht das konnte, was Joyce konnte, ja, dass er als Schriftsteller in gewisser Weise überhaupt nichts konnte, dieses aber vielleicht besser als irgend jemand vor ihm. Beckett er‐ kannte, dass seine Schwäche seine Stärke war, dass er der Dichter der Ohnmacht, der Angst, entgleister Außenseiter und entstellter menschlicher Wracks sein würde und auf diese Weise nicht nur den Gefühlen der Angst Gestalt geben, sondern dem übermächtigen Vorbild Joyce einen Entwurf gegenüberstellen und damit seine eigene künstlerische Mission finden konnte. Die größte Leistung dieser Jahre ist die Romantrilogie, in ihrer Bedeutung für die Literatur des 20. Jahrhunderts zu vergleichen mit Franz Kafkas Proceß, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu und James Joyce’ Ulysses. Der Roman Molloy, 1947 zunächst ohne den Gedanken an eine Fortsetzung konzi‐ piert, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist die Ich-Erzählung von Molloy, der von seiner Suche nach der Mutter berichtet. Bei dieser Suche wird er ihr immer ähnlicher, und wenn sie unterdessen nicht gestorben wäre, hätte er sie schließlich eingeholt, denn er schreibt seinen Bericht über die Suche nach ihr in ihrem Zimmer. Der zweite Teil ist die Ich-Erzählung von Moran, einem De‐ tektiv, der sich auf Geheiß eines gewissen Youdi auf die Suche nach Molloy macht, im Verlauf dieser Suche ähnliche Erlebnisse hat wie Molloy vorher und diesem überhaupt immer ähnlicher wird. Das Fortbewegungsmittel sowohl Molloys als auch Morans ist das Fahrrad („bi-cycle“), und auch der Roman be‐ wegt sich zweimal kreisförmig voran. Mit Malone meurt, 1948 geschrieben, knüpft Beckett an die aufgeworfenen Probleme an: Wie kann man sich selbst einholen? In einer Institution liegt Ma‐ lone in seinem Bett und wartet auf den Tod. Unterdessen vertreibt er sich die Zeit mit der Niederschrift von Geschichten sowie - im Verlauf des Romans immer mehr - mit der Beschreibung der Schreibsituation. Was in Molloy nur strukturell angelegt war, wird in Malone meurt explizit, nämlich der Roman als Meta-Roman. Immer wieder nämlich bringt Beckett Darstellung und Darge‐ stelltes zur Deckung, indem er seinen Ich-Erzähler Malone davon schreiben lässt, wie und was er gerade schreibt. Und am Schluss, als Malone stirbt, stirbt 157 Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? mit ihm der autobiographische Bericht, und auf der Ebene Becketts stirbt der Roman. In einer letzten Anstrengung ließ Beckett, an den Tod des Romans anknüp‐ fend, einen dritten Text folgen, L’Innommable, der folglich kein Roman mehr sein kann und wo sich konsequenterweise Charaktere und die realistisch und psychologisch überzeugende Fabel - der Stolz früherer Autorengenerationen - fast völlig aufgelöst haben. Der bewegungslos in einer Tonne sitzende Rumpf des Namenlosen versucht, sich mit einem logorrhöartigen autobiographischen Bericht ins Schweigen zu schreiben. Während der Arbeit an der Trilogie hatte ihr Autor 1948 ein Theaterstück geschrieben, En attendant Godot, das Anfang 1953 uraufgeführt wurde und einen solchen Skandal verursachte, dass Beckett innerhalb kürzester Zeit bekannt und dann berühmt wurde. Warten auf Godot ist Becketts Durchbruch beim Publikum und bei der Kritik, und wenn die meisten Literaturwissenschaftler auch die Prosa für kühner, innovativer, radikaler und bedeutender halten - ohne seine Thea‐ terstücke hätten viele von ihnen diese Prosa wahrscheinlich nie in die Hand genommen. Auf freier Landstraße warten Vladimir und Estragon auf einen gewissen Monsieur Godot. Unterdessen vertreiben sie sich die Zeit mit Reden. Ein zweites Paar tritt auf, Pozzo sowie Lucky, den Pozzo an einer Leine führt. Pozzo lässt Lucky tanzen und laut denken. Nach ihrem Abgang kommt ein kleiner Junge und bestellt, dass Herr Godot heute nicht kommen könne, morgen jedoch be‐ stimmt kommen werde. Im zweiten Akt wiederholt sich das Geschehen mit ei‐ nigen geringen Veränderungen. Pozzo ist jetzt blind, Lucky stumm. Vergeblich versuchen Vladimir und Estragon sich zu erhängen. Wieder kommt der kleiner Junge mit seiner Botschaft: heute nicht, morgen aber bestimmt. Wir erkennen, dass Godot jedoch auch morgen, in einem denkbaren dritten Akt, nicht kommen wird. Er existiert nur als Projektion der beiden Landstreicher, die auf ihn warten, um dergestalt ihrem Leben Struktur, ja Sinn geben zu können. Aus heutiger Sicht ist das alles recht klar, aber 1953 wirkte es provozierend und verstörend. So ziemlich alle Vorannahmen, mit denen man ins Theater ging, um ein Drama anzuschauen, wurden hier negiert oder zerstört: der architekto‐ nische Bau, die sinnvolle Fabel, Kausalität, der Zusammenhang von Gestern, Heute und Morgen, die Einheit der Person. Zunächst gab es mit den Theaterstücken Fin de partie und Krapp’s Last Tape, mit dem „Roman“ Comment c’est und einigen kleineren Arbeiten Variationen auf Thematik und Ausdrucksformen der Werke der späten vierziger Jahre, aber dann, in den sechziger Jahren, veränderten sich Themen und Atmosphäre der Werke noch einmal. Die wichtigste Tendenz ist die zu immer radikalerer Re‐ 158 IV Samuel Beckett duktion, was Länge, Anzahl des Personals und thematische Vielfalt angeht; damit einher geht eine gewisse Tendenz zur Hermetik, zu einem Verlust an Komik und grimmigem Humor; weiter ist zu beobachten eine Erweiterung des Spektrums an Medien beziehungsweise Textgattungen: Neben Prosa und The‐ aterstücken finden sich nun häufiger Hörspiele, Fernsehstücke, oft praktisch ohne Text, ein Filmskript. Die Prosatexte umfassen in normalem Druck nur jeweils zehn bis zwanzig Seiten. Sie sind wie Exerzitien, und das Wort soll ihre Strenge andeuten, ihre Askese, ihren rituellen Charakter, ja eine gewisse Rigidität. Es ist keine Frage, dass diese Werke bei weitem nicht die Resonanz gefunden haben wie die Werke der vierziger und fünfziger Jahre. Aber unter ihnen sind Texte von großer In‐ tensität, etwa Not I, Company oder Quad. Biographisch ist zu erwähnen, dass Beckett seit den sechziger Jahren immer wieder bei eigenen Theaterstücken Regie geführt hat, unter anderem in der Ab‐ sicht, so etwas wie Musterinszenierungen zu schaffen, die meisten am Schiller-Theater in Berlin (Beckett sprach gut deutsch). Berühmt geworden sind die Inszenierungen von Endspiel (1967), Das letzte Band (1969), Glückliche Tage (1971) und Warten auf Godot (1974/ 75). Ein einschneidendes Ereignis jener Jahre war die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1969, die Beckett eine dramatische Zunahme des Interesses an seiner Person wie an seinen Werken brachte. Ab Mitte der achtziger Jahre verschlechterte sich seine Gesundheit. Nachdem seine Frau im Juli 1989 verstorben war, zog sich Beckett, schon sehr geschwächt, in ein Pariser Altersheim zurück, wo er am 22. Dezember an Lun‐ genversagen starb. Wenn wir uns unserer Fragestellung zuwenden, so ist der frühe Beckett im Bannkreis von Joyce eindeutig der literarischen Moderne zuzurechnen. Wie aber steht es mit dern Beckett nach 1946? Für die frühe Rezeption war das keine Frage, der Begriff der Postmoderne wurde erst seit etwa 1980 auf Beckett angewendet. Zunächst wurde Beckett - vor allem in Nachkriegsdeutschland - als Nihilist, Existentialist und wichtigster Vertreter des „Theaters des Absurden“ angesehen. In Frankreich wurde er dem Nouveau Roman zugerechnet. Dann verschob sich das Interesse auf politische Deutungen, Stichworte waren „spätbürgerlich“ und „Entfremdung“, und Becketts Werke wurden für die westeuropäische Linke zum künstlerischen Bezugspunkt für den Niedergang des Kapitalismus und das Ende der bürgerlichen Epoche. Beginnen wir mit dem Strukturzug der „absence présente“. Mit diesem aus der Romanistik stammenden Terminus ist eine Abwesenheit gemeint, die eine gefühlte Präsenz ist. Beckett hat sich in fast allen seiner Werke damit beschäftigt, wie man das Nichtexistente oder das Abwesende sinnfällig machen kann. Mon‐ 159 Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? sieur Godot ist ein Beispiel. Er erscheint nie auf der Bühne: Im Sinne von George Berkeleys „esse est percipi“, das Beckett in Film zitiert, gibt es ihn nicht, denn er erscheint ja nicht, und dennoch ist er im Leben der beiden Tramps eine stets gegenwärtige Präsenz. In Film nimmt der Protagonist ein Bild Gottes von der Wand, aber der zurückbleibende weiße Fleck erinnert daran, dass hier einmal das Bild Gottes hing. Ganz ähnlich ist es mit dem Foto der Eltern in A Piece of Monologue. Ein besonders paradoxes Beispiel findet sich in Endgame, wenn Hamm nach einem vergeblichen Versuch des Gebets ausruft: „The bastard! He doesn’t exist! “ Er beschimpft den Gott, dessen Existenz er verneint, dafür, dass er nicht existiert. Viele weitere Beispiele wären möglich. Ein anderes allgegenwärtiges Thema sind Sprachzweifel und damit zusam‐ menhängend Verstummen. Im Roman Watt berichtet der gleichnamige Prota‐ gonist einem gewissen Sam und dieser uns von seiner Reise zum Haus von Mr. Knott in immer neuen sprachlichen Verdrehungen: Erst vertauscht er die Rei‐ henfolge der Laute in den Wörtern, dann - als Sam sich daran gewöhnt hat - die Reihenfolge der Wörter im Satz, dann beides, und als wäre das der Kompli‐ kationen noch nicht genug, ist Sam auch noch schwerhörig. Zum Hauptthema wird der Versuch des Verstummens im letzten Roman der Trilogie, in The Un‐ namable. Von vielen anderen möglichen Beispielen sei noch Film erwähnt: ein Stumm‐ film, aber nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes, dass er nämlich keine Ton‐ spur hätte, sondern in dem Sinn, dass in dem Film geschwiegen wird. Denn nur da kann ja von Schweigen gesprochen werden, wo Reden möglich wäre. Wie kann man nun aber erkennen, dass geschwiegen wird und nicht einfach die Tonspur fehlt? In einer Szene lässt Beckett eine Frau zu ihrem Mann „Sssh! “ sagen; indem die Stille durch einen Laut unterbrochen wird, macht sich die Stille als Schweigen kenntlich. Subtilerweise ist dieser Laut eine Aufforderung zum Schweigen: Näher kann man ans beredte Schweigen nicht kommen, besser kann man Schweigen nicht realisieren. Charakteristisch für Becketts Werke sind ferner Strukturen der Wiederkehr, der Zyklik, Zirkularität und Wiederholung. Der zweite Akt von Waiting for Godot ist - mit Variationen - die Wiederholung des ersten Aktes. In Endgame steht der Diener Clov am Ende in derselben Haltung neben seinem Herrn Hamm in der Absicht, ihn zu verlassen, wie zu Beginn des Stückes. Wir stehen wieder am Anfang. Ähnlich sehen und hören wir in Happy Days, Play, Not I oder Quad Ausschnitte aus einer endlosen Folge von Wiederholungen. Oft verdichten sich diese Strukturen der Wiederkehr zu Formen der Verschachtelung des Gleichen wie bei russischen Puppen. 160 IV Samuel Beckett Mit einem französischen Terminus spricht man von „mise en abîme“ und meint damit ein aus der Heraldik stammendes Verfahren, bei dem sich das Wappen des Ritters auf seinem Schild in verkleinerter Form im Wappen wie‐ derholt. Die Romantrilogie ist voller solcher Strukturen der Wiederholung ad infinitum, Zeichen der inhaltlichen Entleerung und damit der Betonung der (leeren) Form. Was wiederholt wird, ist weniger interessant, als dass wiederholt wird. Das ist die literarische Umsetzung des Gedankens, dass wir die Dinge nicht direkt wahrnehmen und erkennen können, sondern nur perspektivisch. Um das Prinzipielle dieser Perspektivität aller Erkenntnis darzustellen, entleerte Beckett seine Darstellung im Laufe seines Schaffens immer mehr von Inhalten. So ge‐ langte er zur Darstellung nicht länger der perspektivierten Dinge, sondern der Perspektivität aller Beobachtung. Statt der Darstellung der Dinge interessierte ihn mehr und mehr die Darstellung des Beobachtens und damit des Beobachters. Allerdings: Wenn man die Dinge nicht direkt beobachten kann, dann kann man auch den Beobachter nicht direkt beobachten. Das führt einen zum Beob‐ achter des Beobachters. Und so weiter. So gelangte Beckett zum infiniten Re‐ gress, zur „mise en abîme“ und zur Meta-Literatur als den wichtigsten Struk‐ turformen seiner Kunst. Meta-Literatur ist ja Vermischung und Verschachtelung der ontologischen Ebenen des Textes, etwa als Beschreibung des Vorgangs der Beschreibung. Dem entspricht, was die menschliche Persönlichkeit angeht, deren Auflösung in Rollen, Masken, Schalen. Krapp’s Last Tape ist hier das beste Beispiel. Der neunundsechzigjährige Krapp sitzt einsam an seinem Geburtstag in seinem Zimmer und hört ein altes Tonband ab, das er an seinem neununddreißigsten Geburtstag diktiert hatte, nachdem er vorher ein Tonband des Siebenundzwan‐ zigjährigen abgehört hatte; er möchte sich einstimmen auf seine heutige Auf‐ nahme, in der er sein vergangenes Jahr kommentieren will. Drei Krapps sind also vorhanden: Direkt der auf der Bühne, indirekt der als Stimme vom Tonband und implizit indirekt der abgehörte junge. Wir haben zwar drei Krapps vor uns, aber nicht eine Person in drei Etappen ihres Lebens, sondern drei ineinander verschachtelte Krapps, der letzte die vorherigen „umfassend“, in sich enthaltend, ganz so wie es ja auch im wirklichen Leben ist. Eine weitere Eigentümlichkeit des Beckettʼschen Œuvres ist kein Struktur‐ element einzelner Werke, sondern ein Strukturzug des Gesamtwerks: die Ten‐ denz zu immer stärkerer Reduktion und Konzentration. In den Romanen von Murphy bis zu The Unnamable und darüber hinaus verringern sich Personal und Handlung immer mehr, bis schließlich allein schon vom Textumfang her nicht mehr von Romanen gesprochen werden kann. Ähnlich ist es bei den Dramen: 161 Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? Eleutheria und Waiting for Godot sind noch abendfüllende Stücke, Endgame kann mit Act Without Words schon ein Vorspiel gebrauchen, und bei Breath oder Come and Go beziffert sich die Dauer nur mehr nach Minuten oder gar Sekunden. Viele der späten Werke zeigen die Kürze als Bestimmungsmerkmal schon im Titel an: Lessness, Immobile, For to End Yet Again and Other Fizzles, Stirrings Still. Der durch Joyce beeinflusste junge Beckett mit den Werken der dreißiger Jahre ist offensichtlich ein Autor der Moderne. Wie steht es jedoch mit dem mittleren und späten Beckett, dem Beckett seit Watt oder jedenfalls seit der Konversion im Jahre 1946? Die „absence présente“ stammt als Begriff und der Sache nach von den fran‐ zösischen Symbolisten des 19. Jahrhunderts. Joyce spricht in einem Brief des Jahres 1935 davon, dass die „assenza“ die höchste Form der „presenza“ sei. Schon im Roman Watt, 1943 konzipiert, spielt die Gegenwärtigkeit des Mr. Knott eine entscheidende Rolle. Sein Name - „nought! “ -, aber auch der Verlauf der Hand‐ lung weist ihn als Nichtexistenz aus, der gleichwohl Watts - „what? “ - ganzes Fragen gilt. So ist die „absence présente“ bereits ein Motiv der Moderne, und ihre Verwendung kann Beckett nicht zu einem postmodernen Autor machen. Ähnlich ist es mit dem bei Beckett allgegenwärtigen Thema des Sprachzwei‐ fels und Verstummens. Mag das auch ein wichtiges Thema der Postmodernen und Poststrukturalisten sein, die an objektiver Erkenntnis, an Substanz, Essenz, Wesenskern usw. zweifeln: Es ist doch schon ein weitverbreitetes Thema der Modernen. Man denke nur an Hugo von Hofmannsthal und seine vielzitierte Erzählung Ein Brief von 1902, in der der Autor Lord Chandos sagen lässt, dass ihm die Fähigkeit abhandengekommen sei, zusammenhängend zu sprechen und zu denken, und dass ihm die Worte wie Pilze im Munde zerfielen (allerdings anders als bei Beckett noch formuliert in differenziertester Ausdrucksweise). Diesem zu Anfang des 20. Jahrhunderts unter Literaten weitverbreiteten Gefühl gab Fritz Mauthner systematischen Ausdruck. Sein dreibändiges Werk, Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen unter dem Titel Beiträge zu einer Kritik der Sprache, las Beckett 1932. Auch die sein ganzes Werk durchziehende Sprach‐ skepsis macht Beckett also nicht zu einem Postmodernen. Becketts Skepsis gegenüber Sprache als Mittel der Erkenntnis und gegenüber den Sinnen als Mitteln der Wahrnehmung, das heißt gegenüber einem beobach‐ terunabhängigen objektiven Zugriff auf die Welt, führten ihn zu dem Motiv‐ komplex Zyklik / Zirkularität / Wiederholung und zu ihrer Verschärfung in Strukturen von „mise en abîme“ und paradoxer Verschachtelung. Ihr Ausdruck, was literarische Großformen angeht, ist die Meta-Literatur, und was die Cha‐ rakterdarstellung angeht die Auflösung der Person in Rollen. Allgemein ge‐ sprochen: Alle Substanz löst sich in Akzidenz auf, aller Essentialismus in Rela‐ 162 IV Samuel Beckett tionalismus. Dies spielt in der Tat sowohl in postmoderner Literatur als auch in poststrukturalistischer Theorie eine zentrale Rolle, und so hat Jacques Derrida auch einmal gesagt, Beckett habe schon alles gewusst. Aber dennoch müsste man zögern, Beckett deswegen zu einem postmodernen Autor avant la lettre zu erklären, denn dies alles ist auch Teil des Programms der literarischen Moderne. Schon Ibsens Peer Gynt überlegt, ob seine Person nicht einer Zwiebel gleiche, von der man Schale um Schale entfernen könne, bis nichts mehr übrigbleibe. Und Oscar Wilde in The Importance of Being Earnest findet bereits die geniale literarische Umsetzung des Gedankens, dass es zwi‐ schen Maske und Gesicht keinen Unterschied gebe, sondern dass unter der Maske eine weitere Maske stecke und immer so weiter. Flann O’Brien mit seinen Romanen At Swim-Two-Birds und The Third Policeman vom Ende der dreißiger Jahre könnte genannt werden. Was Frankreich angeht, so muss man an Sartre denken, der in L’être et le néant eine relationistische Sicht der menschlichen Person entwarf (und in seinen Romanen und Theaterstücken popularisierte): Ich bin derjenige, als den mich der andere sieht. Auch Becketts schon erwähnte Tätigkeit als Regisseur ist in diesem Zusam‐ menhang aufschlussreich. Das Pendant auf dem Theater zu literarischer Inter‐ textualität, Einbeziehung des Rezipienten in den Text sowie Auflösung der Werksubstanz ist das Regietheater, also die Dominanz des Regisseurs gegenüber dem Autor. Hier steht Beckett ganz eindeutig auf Seiten des Autorentheaters früherer Zeiten, denn erstens hat er selbst äußerst werktreu gearbeitet und zweitens anderen Regisseuren untersagt, seine Werke dramaturgisch zu mo‐ dernisieren, in unseren Zusammenhang: zu postmodernisieren. Was die Tendenz zur Reduktion, zur Konzentration im Œuvre Becketts an‐ geht, so existieren Parallelen zu Minimal Art und Minimal Music, amerikani‐ schen Richtungen der Kunst und der Musik seit den sechziger Jahren, aber ob man sie zur Postmoderne zählen kann oder sollte, ist nicht klar. Auch ein Blick auf Becketts Kunstgeschmack ergibt kein postmodernes Bild. In Philosophie, Theologie und Literatur fühlte er sich der Tradition europäischer Hochkultur verbunden; Haydn und Schubert waren seine Lieblingskompo‐ nisten. Und trotz der Liebe zum Film, zu Komikern wie Buster Keaton oder Charlie Chaplin, spielen Popkultur und Popmusik keine Rolle für Beckett. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht scheint also folgendes Fazit korrekt: Man könnte Beckett mit dem Untertitel von Anthony Cronins Biographie „the last modernist“ nennen, wohl auch den „Vater der Postmodernen“, denn sein Einfluss auf das zeitgenössische britische Theater ist enorm. Ihm fehlt jedoch die spielerische Note im Umgang mit den genannten Positionen; bei ihm geht es um sehr ernste Dinge. Nicht umsonst verstand man ihn anfangs - bei allem 163 Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? schwarzen Humor - als Existentialisten, Pessimisten und Nihilisten, der die Welt als „mess“ darstellte und den Menschen als scheiternden Sucher. Letztlich muss man konstatieren, dass Beckett in seinen Werken ja gerade die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit solipsistischer philosophischer Posi‐ tionen darstellt und den Narzissmus des vereinzelten Menschen als autistische Fehlentwicklung: Nicht nur seine Protagonisten scheitern auf ihrer Suche nach Sinn, auch die Werke sind vom Autor angelegt als scheiternd im Versuch der Darstellung dieses Scheiterns. Das ist eine Verschärfung des Programms der Moderne, aber kein neues Programm. 164 IV Samuel Beckett 1 Die beste Biographie stammt von James Knowlson: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett (New York: Simon & Schuster, 1996 u. ö.). Lucky Days Begegnungen, die ich Beckett verdanke Der Ire Beckett, am 13. April 1906 in Dublin geboren, Nobelpreisträger für Li‐ teratur des Jahres 1969, 1989 in Paris gestorben, ist vor allem als Dramatiker berühmt: En attendant Godot / Waiting for Godot (niedergeschrieben 1948), Fin de partie / Endgame (1954-56), La dernière bande / Krapp’s Last Tape (1958) und Happy Days / Oh les beaux jours (1961) sind die bekanntesten Titel. Manche Kenner halten seine Prosa für noch kühner; vor allem die Romantrilogie sei genannt: Molloy/ Molloy (1947), Malone meurt / Malone Dies (1948), L’Innom‐ mable / The Unnamable (1948). 1 Sicher war er einer der stärksten Nobelpreis‐ träger seit 1945. Die Vereinigung der englischen Theaterkritiker wählte Waiting for Godot vor einigen Jahren zum wichtigsten und einflussreichsten Theater‐ stück des 20. Jahrhunderts. Dabei sah es zunächst gar nicht nach einer literarischen, sondern nach einer akademischen Karriere des jungen Samuel Beckett aus. Von 1923-27 studierte er mit so großem Erfolg Französisch und Italienisch am Trinity College Dublin, dass er für den Posten eines Austauschlektors für Englisch an der École Normale Supérieure in Paris ausgewählt wurde. Nachdem er dann, zurückgekehrt, seinen B. A. gemacht und auch eine kleine Monographie über Marcel Proust veröf‐ fentlicht hatte, schien eine Professur nur eine Frage der Zeit. Da kündigte der junge Dozent die Stelle, um freier Schriftsteller zu werden. In Paris hatte Beckett nämlich James Joyce und seinen Kreis kennengelernt und war bald Helfer und Freund des Meisters geworden. Aber die Texte, die er in den folgenden Jahren schrieb, zum Teil auch veröffentlichte, waren kein großer Erfolg. Wegen des Einflusses von Joyce auf diese frühen Texte sprach ein Fachmann von „Beckett vor Beckett“. Seit 1937 lebte Beckett dann in Paris. Als Frankreich 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, musste er sich im Süden des Landes verstecken, weil die Zelle der Résistance, für die er arbeitete, verraten worden war. Nach dem Krieg kehrte Beckett nach Paris zurück, und in den fol‐ genden Jahren schrieb er in völliger Zurückgezogenheit die Werke, die ihn später berühmt machten und die zum Teil bereits eben erwähnt wurden. In den sechziger Jahren veränderten sich Themen und Atmosphäre der Werke noch einmal, wenn auch nicht so deutlich wie zwischen Frühwerk und der mitt‐ leren Phase. Die wichtigste Tendenz ist die zu immer radikalerer Reduktion, 2 Dies ist die schriftliche Fassung eines Vortrags an der Paderborner Universität zu Be‐ cketts 110. Geburtstag im April 2016. sowohl was Länge der Texte, Anzahl des Personals als auch thematische Vielfalt angeht. Damit einher geht ein Verlust des früheren grimmigen - sehr irischen - Humors und eine Erweiterung der Medien bzw. Textgattungen: neben Prosa und Theaterstücken finden sich nun häufiger als früher Hörspiele, Fernseh‐ stücke, ein Filmskript. Aus der durchaus großen Vielfalt der Werke seien ge‐ nannt: Not I (1972), Company (1977-79) und Quad (1980-82). Ab Mitte der acht‐ ziger Jahre verschlechterte sich die Gesundheit des starken Rauchers und Whiskey-Trinkers. In einer Pariser maison de retraite starb Beckett am 22. De‐ zember 1989. Jetzt werden Sie vielleicht fragen: Und warum erinnern wir an Beckett aus‐ gerechnet in Paderborn, in Paderborn of all places? 2 Nun, wir haben hier eine nicht ganz unbeachtliche Tradition der Beckett-Forschung, und insofern ist mein Vortrag auch eine kleine Geschichtsstunde über unser Institut. Hier könnte ich aus dem Kreis meiner früheren Mitarbeiter an Werner Huber erinnern, bis zu seinem kürzlichen, viel zu frühen Tod Professor of Irish Studies in Wien, der beste Irland-Kenner seiner Generation im deutschsprachigen Raum, oder an Martin Middeke, Professor in Augsburg, demnächst Visiting Professor am Trinity College Dublin. Auch einige Paderborner Promotionen und Publikationen wären zu erwähnen. Die Beckett-Abteilung unserer UB - über Jahrzehnte aufgebaut - dürfte eine der umfangreichsten in Deutschland sein. Und vielleicht kommt eines Tages meine ganz nette private Sammlung von Beckettiana noch dazu. I Meine erste Bekanntschaft mit einem Werk Becketts datiert vom März 1959. Ich war 18. Mein Deutschlehrer am Düsseldorfer Comenius-Gymnasium wollte gegen das skandalöse neue Stück Warten auf Godot eines gewissen Samuel Be‐ ckett protestieren und suchte unter seinen Schülern einen Mitempörer. Man hatte gehört und gelesen, dass zwei heruntergekommene Tramps - Repräsen‐ tanten des Menschengeschlechts! - auf einen Herrn Godot warten - den blas‐ phemisch gezeichneten Gott des Christentums! -‚ der nicht kommt. Die Form des Stückes - keine richtige Handlung, kein ordentlicher dramatischer Aufbau! - sei ebenso absurd wie die Botschaft nihilistisch. Mein Lehrer - er war gläubiger katholischer Konvertit - vermutete in mir offenbar einen Glaubensbruder, und so begaben wir uns mit Trillerpfeifen bewaffnet in eine Aufführung, um das Abendland vor dem weiteren Verfall zu bewahren. Es kam dann allerdings ganz 166 IV Samuel Beckett 3 Karl-Heinz Stroux (1908-85), Regisseur, Generalintendant des Düsseldorfer Schauspiel‐ hauses von 1955 bis 1972. Walter Schmidinger (1933-2013), Schauspieler, von 1954 bis 1969 bei den Bühnen der Stadt Bonn, dazwischen in Düsseldorf. Friedrich Kienecker (1920-97), Oberstudienrat, Rektor der Pädagogischen Hochschule in Paderborn, dann Germanistik-Professor an der 1972 gegründeten Gesamthochschule, später Universität Paderborn. anders, und wir ließen unsere Pfeifen in der Tasche. Ich hätte zwar nicht sagen können, wovon das Stück, inszeniert von Karl-Heinz Stroux, handelte, so fremd war alles, aber Luckys Netztanz und Monolog, gespielt von Walter Schmidinger, machten einen tiefen und verstörenden Eindruck auf mich. Und ebenso auf meinen Lehrer, Friedrich Kienecker. 3 Den traf ich 1979 nach meiner Berufung auf eine Professur an die Universität Paderborn als germanistischen Kollegen wieder, der sich inzwischen habilitiert hatte und als Rektor einer Vorgängerins‐ titution der Universität eine wichtige Rolle bei der Gründung der Gesamthoch‐ schule gespielt hatte. Für die Geschichte des früheren Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften - jetzt Teil der Philosophischen Fakultät - ist vielleicht noch von Interesse, dass Kienecker die Studiobühne gründete und den Anstoß gab zur Beschäftigung mit einigen vernachlässigten aus Paderborn stammenden Autoren, darunter Jenny Aloni. Aus der Beschäftigung mit deren Werk und Nachlass wurde eines der größten Projekte der hiesigen Germanistik. II In diesem zweiten Abschnitt erlaube ich mir, ziemlich persönlich zu werden. Vielleicht könnte man sogar sagen: unziemlich persönlich. Aber vielleicht ist das Persönliche für manche der studentischen Zuhörer ja doch interessant, möglicherweise sogar tröstlich, denn es handelt sich um die Verzweiflung an‐ gesichts einer großen Qualifikationsschrift, die einfach nicht vorangehen wollte. Zehn Jahre nach dem Theaterbesuch in Düsseldorf - ich war inzwischen promovierter Assistent im Fach Englische Literaturwissenschaft und suchte nach einem Thema für die Habilitationsschrift - erinnerte ich mich wieder an Beckett. Nach der ersten Seite Lektüre der Erzählung „The End“ (1945) wusste ich: Das war ein Ton, den ich mein Leben lang vermisst hatte, den ich unbewusst immer gesucht hatte. Und als ich danach noch den Roman Watt (1943-45) gelesen hatte, stand fest: Das war mein Mann! Doch dann musste 1969 erst noch das Staatsexamen nachgeholt und danach ein anderes Buchprojekt - ein altenglisches Lesebuch - zu Ende geführt und zum Druck gebracht werden. Aber nach der Jahreswende 1971/ 72 wurde es höchste Zeit, endlich die Arbeit über Beckett zu schreiben, denn in drei Jahren lief mein 167 Lucky Days 4 Die deutschsprachigen Fassungen der hier erwähnten Titel von Paul Watzlawick (1921-2007) sind: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien (zus. mit J. H. Beavin & Don D. Jackson) (Bern u. a.: Hans Huber, 1969 u. ö.); Die erfundene Wirk‐ lichkeit: Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? (Herausgeber) (München & Zürich: Piper, 1981 u. ö.); Anleitung zum Unglücklichsein (München & Zürich: Piper, 1983 u. ö.). Vertrag als Assistent aus, und vorher musste ich mich habilitiert haben. Zwei Mo‐ nate saß ich in den Semesterferien im Lesesaal des Britischen Museums in London, sechs Wochen verbrachte ich anschließend in einem Hotel auf der Dingle-Halb‐ insel in Irland. Dort, so dachte ich, würde ich mit einem College-Block und meiner Reiseschreibmaschine in den Dünen sitzen, durch die irische Umgebung inspiriert werden, denken und schreiben. Tatsächlich wurde ich jeden Tag deprimierter. Ich wusste nicht genau, worüber ich schreiben sollte, hatte im Grunde kein Thema, fand keinen roten Faden für eine zusammenhängende Argumentation. Mit dem Sohn des Hoteliers und seinem Labrador machte ich lange Spaziergänge am Strand. Einige Male ritten wir den herrlichen Sandstrand entlang, mit Mount Brandon im Hintergrund, ich auf dem Pferd, das in David Leans Film Ryan’s Daughter (1971) einen Karren mit einer Leiche zu einem Brunnen zieht. In der letzten Nacht vor der Rückreise lag ich schlaflos im Bett. Übermorgen, am Tag nach der Rückkehr, musste das Buch begonnen werden. Und es begab sich in jenen Tagen, dass ein Wunder geschah. Ich hatte wäh‐ rend meiner Abwesenheit die Wohnung einem neuen amerikanischen Assis‐ tenten überlassen, damit er sich in Ruhe vom Ort aus ein eigenes Appartement suchen konnte. Als Dank fand ich bei der Rückkehr das Buch Menschliche Kom‐ munikation von Paul Watzlawick et al. auf dem Schreibtisch. Ich kannte seinen Namen bis dahin nicht, obwohl der in Kalifornien lebende Österreicher Watz‐ lawick damals - wie ich dann schnell merkte - zum Star der nachfreudianischen Psychologie und Psychotherapie geworden war. Später wurde er mit Titeln wie Anleitung zum Unglücklichsein sogar zum Bestseller-Autor. 4 Nach einer Seite Lektüre war ich elektrisiert, nach zwei Seiten wusste ich, hier würde alles, was mich je philosophisch, semiotisch, kommunikationswissenschaftlich interes‐ siert hatte, in eine kohärente Terminologie und einen inneren Zusammenhang gebracht werden: Objekt- und Meta-Ebene, analoge und digitale Kommunika‐ tion, Ironie, Paradoxie, symmetrische und komplementäre Kommunikation usw. It all fell into place. Nach ein paar weiteren Seiten wusste ich, dass alles, was mir bisher in meinem Denken bloß wie eine Ansammlung von Bruchstü‐ cken erschienen war, tatsächlich ein kohärentes Mosaik ergab. Nach einigen Tagen hatte ich die These und die Gliederung der Habilitationsschrift konzipiert. Jetzt musste ich die Sache nur noch im Hinschreiben entwickeln. Nach der Fertigstellung eines anglistischen Einführungsbandes, den ein Kollege und ich 168 IV Samuel Beckett unvorsichtigerweise dem Beck-Verlag versprochen hatten, schrieb ich von Mitte 1973 bis Ende 1974 die 300 Schreibmaschinenseiten relativ schnell nieder. Der Grundgedanke war, dass Becketts Werken bis etwa 1975 als gemeinsamer Nenner das Motiv der Sinnsuche oder Quest zugrunde liegt, allerdings nicht mit dem traditionellen Happy End der mittelalterlichen höfischen Romane oder der deutschen Bildungs- und Entwicklungsromane, sondern mit dem Ergebnis ver‐ schiedener Formen des Scheiterns. Dieses Scheitern der Protagonisten ist nicht die Folge äußerer oder äußerlicher Hindernisse, sondern in der Ausgangslage begründet. Um ein Beispiel zu geben: In Waiting for Godot warten Vladimir und Estragon auf Mr. Godot, wobei ihr Warten, ihre Erwartung, als eine Art passive Quest verstanden wird. Anders als die beiden Tramps hoffen, wird in dieser Interpretation Godot so lange nicht kommen, wie sie warten. Godot ist nämlich nur eine Projektion, die ihrem Leben - ihrem Warten - Sinn gibt. Die Lösung ihres Problems wäre, das Warten abzubrechen, aufzugeben: eine Lösung also auf einer höheren Ebene, auf einer Meta-Ebene. Nun wirft heute jeder Psychologe, Didaktiker und Kulturtheoretiker mit Be‐ griffen wie meta oder analog / digital nur so um sich. Vielleicht war ich ein Spätentwickler, aber 1972 musste ich mir diese Konzepte und ihre Anwendung auf die Interpretation literarischer Texte ganz eigenständig erarbeiten. So waren die Ergebnisse der Beschäftigung mit Beckett für mich richtige Entdeckungen, und erst diese Arbeit machte mich zu einem eigenständigen Literaturwissen‐ schaftler. Vielleicht ist das auch der richtige Moment, um an meinen alten Chef, Karl Heinz Göller, zu erinnern, der zwar mit Beckett nicht allzu viel anfangen konnte, mir jedoch alle Freiräume ließ, zum Beispiel indem er mir ein Freisemester er‐ möglichte, um die bewussten Monate in England und Irland zuzubringen. Ich schickte Watzlawick das publizierte Buch 1976 zu, worauf eine freundliche Reaktion erfolgte und bald darauf die Einladung zu einem Beitrag in dem Es‐ sayband Die erfundene Wirklichkeit, der 1981 zum ersten Mal erschien, bis heute - und in mehreren Übersetzungen - nachgedruckt wird und mir über die Jahre richtig Honorar eingebracht hat. Als ich Watzlawick später persönlich kennen‐ lernte, war die Begegnung allerdings enttäuschend. Er lebte und arbeitete ja in Palo Alto in Kalifornien, kam aber jeden Sommer zu ausgedehnten Vortrags‐ reisen nach Europa. Ich lud ihn nach Paderborn ein, und so hielt er im Oktober 1995 einen Vortrag im überfüllten AudiMax: korrekt zwar, aber doch unbefrie‐ digend, denn man kannte alles aus seinen Büchern. Nachher stellte ich ihn zu Hause dem Oberseminar vor, aber er war merkwürdig unzugänglich, ja starr, und wollte bald schon zum Hotel zurückgefahren werden. Eine Führung am nächsten Morgen durch die schöne Innenstadt mit ihren romanischen und go‐ 169 Lucky Days 5 Edith Gentner Kern (1918-2005): “Drama Stripped for Inaction,” Yale French Studies 14 (1954/ 55) 41-47; “Moran-Molloy: The Hero as Author,” Perspective 11 (1959) 183-93; Existential Thought and Fictional Technique: Kierkegaard, Sartre, Beckett (New Haven / Connecticut & London: Yale U. P., 1970). tischen Kirchen sowie profanen Gebäuden aus der Zeit des Barock und der Weser-Renaissance lehnte er ab. Kurz darauf erfuhr ich die Ursache: Es waren die ersten Anzeichen seiner Erkrankung an Alzheimer. III Eine weitere wichtige Begegnung, die ich indirekt Beckett verdanke, hat mich menschlich besonders bewegt. Das akademische Jahr 1976/ 77 verbrachte ich als Gastprofessor an der University of Massachusetts im Städtchen Amherst west‐ lich von Boston. Zu meinem Erstaunen hörte ich, dass am renommierten Smith College in Northampton, kaum mehr als zehn Meilen entfernt, Edith Kern lehrte. Jeder Beckett scholar kannte ihren Namen. Bereits 1954/ 55 hatte sie einen bahn‐ brechenden Aufsatz über Warten auf Godot veröffentlicht, dann 1959 einen vor‐ züglichen Essay über Molloy. Mit Hugh Kenner und Raymond Federman gehörte sie zu den besten frühen Kennern Becketts und half, ihn in der akademischen Romanistik und Anglistik durchzusetzen. Ich erwähne noch ihr Buch Existential Thought and Fictional Technique von 1970. 1976/ 77 war sie die Präsidentin der Modern Language Association of America, des größten sprach- und literatur‐ wissenschaftlichen Fachverbandes der Welt. 5 Ich besuchte sie in Northampton, wir blieben auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland in Kontakt, und während eines ihrer jährlichen Aufenthalte in den Sommerferien in Frankreich kam sie zum Gastvortag nach Paderborn, wohin ich inzwischen berufen worden war. Was ich eben „menschlich bewegend“ nannte, bezieht sich auf ihren biogra‐ phischen Hintergrund. Edith Kern wurde 1918 in Düsseldorf geboren, wo sie, die Jüdin, noch 1937 an der Luisen-Schule ihr Abitur machen konnte. Schon als Schülerin lernte sie ihren späteren Mann kennen - kein Jude übrigens -, der als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten nach Todesdrohungen auswan‐ derte. Edith Kern folgte ihm, erst nach Holland, dann in die USA. Ihre Eltern und ein Bruder wurden im Konzentrationslager ums Leben gebracht. 1946 er‐ warb Edith Kern einen Ph. D. an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, wo kein Geringerer als Leo Spitzer ihr Doktorvater war, und lehrte in den folgenden Jahrzehnten als Romanistin an einigen der besten Universi‐ täten der Vereinigten Staaten. Nach ihrer Emeritierung lebte sie in New York, umgeben von einem großen Freundeskreis, kannte zum Beispiel René Wellek 170 IV Samuel Beckett 6 James Knowlson (geb. 1933), Emeritus Professor of French Studies at the University of Reading. Seine Beckett-Biographie wurde bereits weiter oben angeführt. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl wichtiger biographischer und literaturwissenschaftlicher Bücher und Aufsätze aus seiner Feder. gut, den berühmten Literaturhistoriker und -theoretiker, ursprünglich aus Wien stammend. 1981 also lud ich Edith zum Gastvortrag ein. Von Frankreich kommend, lan‐ dete sie abends auf dem Flughafen Köln-Bonn, wo ich sie abholte. Da es zu spät für die Fahrt nach Paderborn war, übernachteten wir in meinem Elternhaus in Büderich bei Düsseldorf. Die ernsten spätabendlichen Gespräche mit meinen Eltern kann man sich vielleicht vorstellen. Sie war nach 43 Jahren zum ersten Mal seit 1938 wieder in Deutschland und ihrer Heimatstadt. Als ich sie am nächsten Morgen durch Düsseldorf fahren wollte, lehnte sie ab: zu schmerzlich, die Stadt ihrer Kindheit, die alte Schule wiederzusehen. Die Reisen aber zu meh‐ reren Gastvorträgen, die ich vermittelt hatte und auf denen ich sie begleitete, wurden der Beginn einer Freundschaft, auch mit meiner Frau und unseren da‐ mals noch kleinen Kindern, bis zu ihrem Tod im Jahr 2005. Damals hatten Peter Freese - auch er gerade neu als Amerikanist nach Paderborn berufen - und ich ein Oberseminar eingerichtet, zunächst noch gemeinsam, denn die Zahl der Anglistik- und Amerikanistik-Hörer an der neuen Universität war noch viel geringer als heute. Vor allem die Studentinnen waren tief beeindruckt: es fehlten ja noch weibliche full professors als Rollenvorbilder. IV Natürlich sind die meisten der Bekanntschaften, die man als Anglist im Zusam‐ menhang mit der Arbeit macht, Kontakte zu Fachkollegen. Als Beispiel sei James Knowlson genannt, sicher der bedeutendste lebende Beckett-Forscher. 6 Anfang der siebziger Jahre begann er in der University Library der University of Reading mit dem Aufbau eines Beckett-Archivs, lernte bald Beckett persönlich kennen und wurde während dessen letzten 15 Jahren ein enger Vertrauter. 1996 erschien nach Jahrzehnten der Forschung die autoritative - man kann wohl fast sagen: die autorisierte - Biographie: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett. Nachdem ich Jim auf einer Konferenz kennengelernt hatte, kam es im Lauf der Jahre zu mehreren Besuchen in Reading. Es war die Zeit, als Werner Huber und ich an dem Forschungsbericht über die deutschsprachige Beckett-Kritik arbeiteten. Wir schlossen einen Vertrag, demgemäß wir dem Beckett-Archiv Kopien und Zweitexemplare unserer Sammlung von Büchern und Aufsätzen übergaben und dafür im Gegenzug zwei Stipendien für Paderborner Nachwuchswissenschaftler 171 Lucky Days 7 Drei Titel von Erika Tophoven (geb. 1931) aus den letzten Jahren seien genannt: Zu‐ nächst Becketts Berlin (Berlin: Nicolai, 2005) sowie Glückliche Jahre: Ubersetzerleben in Paris (Berlin: Matthes & Seitz, 2011). Sodann kürzlich: Godot hinter Gittern: Eine Hoch‐ staplergeschichte (Berlin: Verbrecher Verlag [! ], 2015). Der Hochstapler ist Karl Franz Lembke, der 1953 in der einzigen Sternstunde seines Lebens aus dem Zuchthaus Lütt‐ ringhausen bei Wuppertal heraus die erste unautorisierte (und leider verlorengegan‐ gene) Übersetzung von En attendant Godot („Man wartet auf Godot“) anfertigte und allda mit anderen Insassen zur Aufführung brachte. Endlessly fascinating. erhielten. So verbrachte Martin Middeke einmal drei Monate im Archiv der inzwi‐ schen gegründeten Beckett International Foundation. Zusammen mit meiner Frau nutzte ich Reading einige Male als Ausgangs‐ punkt für Ausflüge in die geschichtsträchtige Umgebung, etwa die Themse flussaufwärts nach Oxford oder den River Kennet flüsschenaufwärts nach Marl‐ borough mit seiner renommierten Public School. In dessen Nähe liegen die be‐ rühmten präkeltischen historic sites Avebury und Silburg Hill. Einmal kamen wir in Sichtweite vorbei am Highclere Castle, dem riesigen Herrenhaus im Neo-Renaissance-Stil des 19. Jahrhunderts, heute Sitz des Grafen von Carnarvon und Schauplatz von Evelyn Waughs Brideshead Revisited, später dann der Fern‐ sehserie Downton Abbey. V Die nächste Persönlichkeit, von der ich sprechen möchte, deren Bekanntschaft ich Beckett verdanke, ist Erika Tophoven-Schöningh. Auf einer Konferenz in Kassel lernte ich 1986 Elmar Tophoven kennen, den hochgeachteten deutschen Übersetzer der meisten französischen Werke Becketts, und dann auch seine Frau, die vor allem die Übersetzungen der englischen Originale verantwortete - abgesehen von ihrer sonstigen vielfältigen Tätigkeit als Übersetzerin franzö‐ sischer Romane. Die Übersetzungen der beiden Tophovens gelten fast als dritte Originale - neben den englischen und französischen und ihren Übersetzungen durch den Autor selbst -‚ denn sie entstanden in enger Zusammenarbeit mit Beckett. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1989 und dem Tod Becketts noch im selben Jahr trat Erika Tophoven auch mit eigenen Veröffentlichungen hervor, so über Becketts Beziehungen zu Deutschland sowie über ihre langjährige enge Zusammenarbeit mit ihm. 7 Über diese vielen Jahre hin hatten Elmar und Erika Tophoven in dem von ihnen gegründeten Europäischen Übersetzer-Kolleg im niederrheinischen Straelen ein Beckett-Archiv angelegt. Bei der Frage, wie es nach Elmar Tophovens Tod mit dem Archiv weitergehen sollte, wurde ich zu Erika Tophovens Berater, und so kam es zu vielen Gesprächen, Besuchen, einer umfänglichen Korrespondenz und - so darf ich sagen - zu einer freundschaft‐ 172 IV Samuel Beckett lichen Beziehung, auch mit der Familie - unsere jüngste Tochter hat als kleines Mädchen noch auf Erika Tophovens Schoß gesessen. Auch Erika Tophoven kam einmal zum Vortrag nach Paderborn. lm Gästehaus der Universität - jetzt Jenny-Aloni-Haus - sprach sie im Oktober 1992 über Frauenfiguren in Becketts Werk. Der Nachlass der Tophovens, ein ganzes Zimmer voll Beckettiana, wird einst ins Straelener Archiv gehen. Beide beteiligten wir uns dann an der Gründung der Samuel Beckett Gesell‐ schaft in Kassel, deren Initiatoren die anglistischen und romanistischen Kol‐ legen an der dortigen Universität waren. Kassel war für eine Beckett-Gesell‐ schaft aus folgendem Grund der in Deutschland bestgeeignete Ort. Seit dem Ende der 1920er Jahre stattete der junge Beckett der Stadt immer wieder längere Besuche ab und lernte bei diesen und anderen Deutschland-Besuchen sein vor‐ zügliches Deutsch. Der Grund war eine mit ihren Eltern in Kassel lebende Ku‐ sine, Peggy Sinclair, seine erste große Liebe. In dem Theaterstück Krapp’s Last Tape setzte er Peggy ein literarisches Denkmal. Als der einsam und zynisch gewordene Krapp anlässlich seines 69. Geburtstages alte Tonbänder abhört, spult er eine Szene von vor dreißig Jahren mehrmals ab: auf einem im Schilf eines Sees sich wiegenden Boot erklärt er seiner jungen Begleiterin das Ende ihrer Liebesbeziehung. Es war, wie er jetzt konstatiert, sein letzter enger Kontakt zu einem lebenden Menschen. Noch einmal sieht Krapp sie aus dem Zug, als der den Bahnhof - es ist der alte Hauptbahnhof von Kassel - verlässt: „a girl in a shabby green coat, on a railway-station platform.“ Das Gemälde von Peggy Sinclair in grünem Rock und mit grüner Mütze hängt im Wohnzimmer eines Mitglieds der Gesellschaft. VI Seit einigen Jahren bin ich nun kein aktiver Beckett-Forscher mehr, habe mich vielmehr wieder der Literatur der englischen Romantik zugewandt, wie zu Be‐ ginn des Studiums in Bonn. Und - wie einige vielleicht wissen - ich habe auch mehrfach literarische Prosabände veröffentlicht. Trotzdem verfolge ich natür‐ lich wichtige Entwicklungen der Beckett-Philologie, etwa das Erscheinen der auf vier Bände angelegten Edition der Briefe oder die Anstöße, die der Fund der German Diaries der Beckett-Kritik gegeben hat. Außerdem werde ich ab und zu um Tips oder Auskunft gebeten. Ein solcher Kontakt hat seit einiger Zeit zu einem für mich höchst interessanten Austausch mit dem Philosophen Dieter Henrich geführt, und hiervon will ich abschließend berichten. Henrich, Schüler von Hans-Georg Gadamer, philosophischer Enkel sozu‐ sagen von Martin Heidegger, allerdings kritischer Enkel, Professor in Berlin, 173 Lucky Days 8 Zwei einschlägige Titel aus der imponierenden Reihe von Büchern von Dieter Henrich (geb. 1927) seien hier aufgeführt: Der Grund im Bewußtsein: Untersuchungen zu Hölder‐ lins Denken (Stuttgart: Klett-Cotta, 1. Auflage 1992, 2. Auflage 2004) und Grundlegung aus dem Ich: Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus (Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp, 2004). Heidelberg und München, ist einer der bedeutendsten lebenden deutschen Phi‐ losophen, wahrscheinlich der beste Kenner der Philosophie Immanuel Kants und des deutschen Idealismus. 8 Von Manfred Frank, dem Tübinger Philosophen, erfuhr ich, dass Henrich - damals immerhin schon 89 - an einem Buch über Beckett und Hölderlin schreibe. Ich war begeistert: Hölderlins Lyrik verehre und liebe ich seit Schülertagen, und ich hatte bei der Arbeit an der Habilitations‐ schrift entdeckt, dass Beckett Hölderlin offenbar gut kannte, zum Beispiel in Watt „Hyperions Schicksalslied“ anzitiert. So schrieb ich Henrich in dem Glauben, vielleicht helfen zu können. Seine liebenswürdigen und ausführlichen Briefe - genau genommen Briefe in der Form von E-Mails - beschämten mich jedoch insofern, als sie zeigten, dass er eigentlich alles über Beckett und Höl‐ derlin wusste und auch mit der Beckett-Forschung bestens vertraut war. Der Ausgangspunkt für Henrichs „Erkundungen“ - so nennt er sein Projekt - ist die Bedeutung des Nichts für Beckett gegenüber der des Seyns für Hölderlin. Ich - philosophisch von Günther Patzig in Göttingen und durch ihn von Gottlob Frege und der Analytischen Philosophie beeinflusst - erklärte, ich hätte Be‐ denken bei der Ontologisierung des Nichts, also der Substantivierung des Pro‐ nomens nichts. Daher fände ich zum Beispiel den Roman Watt zwar menschlich bewegend, aber philosophisch problematisch, weil dort mit Mr. Knott etwas, das nicht existiert, als real, wenn auch unerkennber, dargestellt sei. Das sei kurz erläutert. Watt - eine Art Quester - begibt sich als Diener ins Haus von Mr. Knott, um sein Bedürfnis nach Erkenntnis, Dauerhaftigkeit und Geborgenheit zu stillen: „What? “ Mr. Knott jedoch entzieht sich der sprachlichen Fixierung, ändert unentwegt seine Kleidung, die Möblierung seines Zimmers usw., was sprachlich in seitenlangen Listen, Folgen, Kombinationen und Per‐ mutationen von Worten widergegeben wird. Das kann man als Metapher für Nicht-Existenz interpretieren, und so lautet sein Name ja auch: „Not! “ oder „Nought! “ Künstlerisch eleganter, schrieb ich Henrich, und philosophisch we‐ niger heikel fände ich die Lösung des Problems in En attendant Godot gelungen, wo M. Godot als absence présente dargestellt sei. Die Darstellung von absences présentes sei dann für den reifen Beckett eine Triebfeder seines Schreibens ge‐ worden. Ein Beispiel sei das weiße Viereck, das als Menetekel an der Wand sichtbar bleibt, nachdem der Protagonist in dem Film mit dem Titel Film (1964) das Bild des streng blickenden Gottvaters abgerissen hat. Und eine ähnliche 174 IV Samuel Beckett 9 Inzwischen erschienen als Sein oder Nichts: Erkundungen um Samuel Beckett und Höl‐ derlin (München: Beck, 2016). Ein Review-Essay des Verfassers wurde von der Zeit‐ schrift Anglia publiziert. Szene gebe es in dem späten Piece of Monologue (1980), wo der Sprecher die Fotografien seiner Eltern von der Wand reißt, was aber nichts nützt, denn sie bleiben als grauer Fleck an der Wand präsent. Henrichs Antworten waren verständnisvoll und liebenswürdig, aber er meinte weiterhin, es gebe eine verantwortbare Art, vom Nichts zu sprechen, und das Nichts sei mehr als eine absence présente, und bei Henrichs philosophi‐ scher Argumentationskraft dürfen alle Freunde des Werks von Beckett sehr ge‐ spannt auf sein Buch sein, und es stimmt ja auch, dass Beckett sich zu dem Diktum des Demokrit bekannt hat: „Nothing is more real than nothing“ (zitiert in Malone Dies), obwohl man dann wieder entgegnen könnte, dass Demokrits Wortbildung τò δέν scherzhaft ist, und es daher eigentlich heißen müsste: „Othing does not exist more than does nothing“. Nun - wir werden sehen, was Henrich daraus macht. In diesen Tagen erscheint sein Buch im Beck-Verlag. 9 175 Lucky Days Über den Autor Rolf Breuer wurde 1940 in Wien geboren, verbrachte seine Schulzeit in Düssel‐ dorf, wo er am Comenius-Gymnasium 1961 das Abitur ablegte, und studierte in Bonn und Göttingen Anglistik, Romanistik und Philosophie. 1967 wurde er mit einer Arbeit über die mittelenglischen Versromanzen promoviert. Nach Assis‐ tentenjahren in Regensburg habilitierte er sich 1975 mit einer Monographie über Samuel Beckett. Gast- und Vertretungsprofessuren in Bamberg, Marburg und an der University of Massachusetts. 1979 nach Paderborn berufen, dort 2009 emeritiert. Verheiratet mit Cordula Breuer, vier Kinder. Auswahlbibliographie wissenschaftlicher Bücher Die Kunst der Paradoxie: Sinnsuche und Scheitern bei Samuel Beckett (München: Fink, 1976). Critique of Beckett Criticism: A Guide to Research in English, French, and German (zus. mit P. J. Murphy, Konrad Schoell und W. Huber) (Columbia, S. C.: Camden House, 1994). Samuel Beckett - Eine Einführung (München: Fink, 2005). Englische Romantik: Literatur und Kultur 1760-1830 (München: Fink, 2012). Bibliographische Nachweise „Lob der Distanz - Ein wissenschaftspolitischer Essay“, Merkur 48 (1994) 189-210. „From Theories of Deviation to Theories of Fictionality: The Definition of Literature“, The European English Messenger 24 (2015) 42-46. „Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens“: Erweiterte und anders akzentuierte Fassung eines Kapitels aus Englische Romantik (München: Fink, 2012). „Re-writes / Kontrafakturen / Wi(e)dererzählungen“, Germanisch-Romanische Monats‐ schrift 53 (2003) 95-110. „Jane Austen und kein Ende: Zur Poetik des Folgeromans“, Sinn und Form 51 (1999) 673-681. „Byrons verlorengegangene Autobiographie …“: Zum Teil unveröffentlicht, zum Teil als Rezension von Robert Nye The Memoirs of Lord Byron - A Novel, in Athenäum 3 (1993) 320-324. „Perspektivismus bei Jonathan Swift“, in: M. Szczekalla (Ed.), Britannien und Europa: Stu‐ dien zur Literatur-, Geistes- und Kulturgeschichte (Frankfurt a. M.: Peter Lang et al., 2010), S. 113-125. „Paradox in Oscar Wilde“, Irish University Review 23 (1993) 224-235. „Samuel Beckett and Flann O’Brien“, Irish University Review 37 (2007) 340-351. „Samuel Beckett’s Krapp’s Last Tape, Peter Ustinov’s Photo Finish and Peter Handke’s Bis daß der Tag euch scheidet“, Comparatio 2 (2010) 155-165. „Nothingness and absence présente in Beckett“: Zum Teil unveröffentlicht, zum Teil als Rezension von Dieter Henrich, Sein oder Nichts: Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, in: Anglia 135 (2017) 208-215. „Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne? “ Merkur 65 (2011) 89-96. „Lucky Days: Begegnungen, die ich Beckett verdanke“: Vortrag an der Universität Pa‐ derborn zum 110. Geburtstag Samuel Becketts, gehalten im April 2016. 25,2 ISBN 978-3-7720-8697-7 Der Band versammelt Essays und Aufsätze in deutscher und in englischer Sprache, darunter drei bisher unveröffentlichte Beiträge. Der Obertitel zeigt den gemeinsamen methodischen Nenner der Arbeiten an: sprachliche Klarheit, begriffliche Klärungen, rationale Argumentation, Verzicht auf Wortspiele und Hypostasierung von Metaphern, der Versuch, die innere Logik der sprachlichen Kunstwerke herauszuarbeiten. Mit diesen Mitteln einer „analytisch orientierten Literaturwissenschaft“ widmet sich der Autor kulturpolitischen und kulturhistorischen Themen sowie Studien zu Formen von Meta-Literatur, bezogen vor allem auf Jane Austen und Lord Byron. Schließlich legt der Beckett-Experte Breuer fünf neuere Arbeiten über den irischen Nobelpreisträger vor: vergleichende Studien zu anderen Autoren (Flann O’Brien, Peter Ustinov, Peter Handke), die Einordnung Becketts in die Literaturgeschichte (Modernismus oder Postmoderne), die Gestaltung von absence présente in ausgewählten Werken sowie einen biographischen Essay über Begegnungen mit berühmten Beckett-Forschern. Rolf Breuer Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Analytisch orientierte Literaturwissenschaft Rolf Breuer Essays und Aufsätze 38697_Umschlag3.indd Alle Seiten 14.10.2019 10: 42: 16