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Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

2020
978-3-7720-5702-1
A. Francke Verlag 
Koku G. Nonoa

Aufgrund ihrer verwandten Störstrategien sind Hermann Nitsch und Christoph Schlingensief wie "zwei Zwillingsbrüder" zu betrachten, die individualisierte Künstlerpersönlichkeiten aufweisen.Sie sind zudem von der institutionskritischen Inszenierung theatraler, körperzentrierter Präsenz und Erfahrung des Realen bis zur Fusionierung ritueller, religiöser und politischer Elemente verwandt und sehr gute compagnons de route. Diese Publikation widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung in Nitschs und Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungs- sowie Störstrategien im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater.

Koku G. Nonoa Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater Koku G. Nonoa Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater Umschlagabbildung: Aus den Voice Performances (2018) von Dr. Karina Lemma / Department of Drama and Film / Faculty of Art / TUT / Pretoria Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens . Institution Kunst: vom Kultzum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik TEIL II: Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien- Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Nitsch: eine kommentierte Biografie . . . . . . . . . . . . Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien- Mysterien-Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. 86 2.1.4. 92 2.1.5. 94 2.1.6. 109 2.1.7. 139 2.1.8. 168 2.1.9. 170 2.1.10. 175 2.1.11. 177 2.1.12. 192 2.2. 201 2.2.1. 201 2.2.2. 208 2.2.3. 226 2.2.4. 230 2.2.5. 247 2.2.6. 255 2.2.7. 260 2.2.8. 263 Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Orgien- Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performativ-zeremonielles Reflektieren über den Körper im Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zivilisationskritik und ästhetisch-transformative Erfahrung im Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederherstellung fremdgewordener, ritueller und theatraler Kulturpraktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung . . . . . . . Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “: postdramatische Ästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis . . . Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie . . . . . . Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktion 18, „tötet Politik! “: ein grenzenloser Theaterschauplatz Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlingensiefs politisches Theater: Betonung realer Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika . . . . 6 Inhalt 283 3.1. 285 3.1.1. 287 3.2. 305 3.2.1. 305 3.2.2. 307 3.2.3. 313 3.3. 319 3.3.1. 324 3.3.2. 327 3.4. 331 337 357 359 TEIL III: Theater als Kunst sowie Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief . . . . . . Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Interferenzphänomene: von Transkulturalität bis zum kulturellen Synkretismus im Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Interferenzphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkulturalitätskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus . . . . . . . Zum postdramatischen Theatersynkretismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postdramatischer Theatersynkretismus: Wahrnehmung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postdramatischer Theatersynkretismus und rituell-religiöse Praxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen in dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater ( 3. Veränderte Auflage 2005). Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1999, S. 6. 2 Ebd., S. 31. Vorwort Das Forschungsinteresse und der thematische Anstoß zu der vorliegenden Arbeit gehen von der sozialkritischen, rituellen und politischen sowie von der institutions- und zivilisationskritischen Dimension von Kunst (im Allgemeinen) und des Theaters (im Besonderen) in der Gesellschaft aus. Diesbezüglich fokus‐ siert die Untersuchung auf solche künstlerische bzw. theatrale Erscheinungs‐ formen und Schauplätze, die sich nicht nur durch Interferenzen (ur-)alter und zeitgenösischer, europäischer und außereuropäischer bzw. afrikanischer Aus‐ druckselemente auszeichnen. Zugleich richtet diese Arbeit auch ihr Augenmerk auf theatrale Gestaltungformen, die eine körperzentrierte Präsenz und eine Erfahrung des zeiträumlichen Realen sowie eine performative und ästhetische Fusionierung von rituellen bzw. religiösen, politischen Praxen - und somit von Kunst und Realität - aufweisen. Der Zugang zum Gegenstandsbereich dieses Forschungsinteresses gründet auf dem postdramatischen Theater, das gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Theaterforschung und -praxis kaum wegzudenken ist: 1999 prägte Hans-Thies Lehmann mit seinem gleichnamigen Buch den Begriff postdramatisches Theater als einen Versuch, bestimmte Thea‐ terformen, die „zugleich Live-Situationen des Theaters und die Möglichkeiten der ‚Ästhetik des Performativen’ (Erika Fischer-Lichte) ins Spiel bringen“, 1 deskriptiv und theoretisch darzustellen. In seiner Studie geht er auf vielfältige ästhetische Merkmale unterschiedlicher theatraler Ausdrucksformen ein und liefert eine Fülle beispielhafter Materialien aus der zeitgenössischen sowie internationalen Theaterpraxis. Dabei geht Lehmann schon von einem sehr um‐ fassenden Konzept des postdramatischen Theaters aus, wenn er schreibt: „Das postdramatische Theater schließt also die Gegenwart / die Wiederaufnahme / das Weiterwirken älterer Ästhetiken ein, auch solcher, die schon früher der dramatischen Idee auf der Ebene des Textes oder des Theaters den Abschied gegeben haben.“ 2 In ihrem Buch Ästhetik des Performativen (2004), das fünf Jahre später nach dem Erscheinen von Lehmanns postdramatisches Theater analysiert auch Erika Fischer-Lichte aus der erreignishaften sowie prozessualen Perspektive ähnliche Theaterphänomene der performativen Wende. Hierzu geht es nicht darum, den Unterschied zwischen Theater und Performance zu analysieren, sondern die wirkunsgsästhetischen Möglichkeiten der Realer‐ 3 Ebd., S. 241. fahrung im „Feld dazwischen“ des postdramatischen Theaterkonzeptes bilden die Grundlage der vorliegenden Untersuchung: In Anlehnung an Lehmanns Argumenation fokussiert diese Analyse auf die „fießenden Grenzen“ und den „Grenzbereich zwischen Performance und Theater“ in Verknüpfung mit dem prozessualen Erreignischarakter und „der Geste der Selbstdarstellung des Per‐ formance-Künstlers.“ 3 Ausgehend von diesen Beobachtungen wird in dieser Analyse das Thema „Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater“ behandelt, um am Beispiel von Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlin‐ gensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ aktuelle Merkmale postdramatischen Theaters zu veranschaulichen. Die Wiederaufnahme älterer Theaterformen und Ästhetik - als Wirkungspotentiale von Performance und ästischem Ritual, als Verflech‐ tung von Kunst und realem Leben - lässt sich bei den beiden angeführten Künst‐ lern erörtern: Konkret untersucht diese Arbeit, wie die theatralen Schauplätze bei Nitsch und bei Schlingensief auf voraristotelische sowie mittelalterliche Theaterformen zurückgreifen und strukturelle sowie transkulturelle Parallelen zu außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterpraxen aufweisen. Ein wissenschaftlich analytischer Zugang zum Orgien-Mysterien-Theater und zu der Aktion 18, „tötet Politik! “ geht aber mit vielen Herausforderungen Hand in Hand. Beide Theaterentwürfe weisen eine praktische, offene Gestaltungs‐ form auf, die reale soziokulturelle und politische Alltagsgeschehnisse direkt miteinbezieht. Dabei erschüttern sie in vielerlei Hinsicht gegenwärtige beste‐ hende institutionelle und kulturelle Rahmenbedingungen des künstlerischen Schaffens, das zwischen realer und fiktionaler Erfahrung von Zeit, Raum und Körper ständig oszilliert. So ist in beiden Theateraktionen nicht eindeutig, ob es um Fiktion oder Realität geht. Insofern lassen sie sich nicht anhand des dramatischen bzw. klassischen Theatermaßstabs erfassen: Zunächst fehlt es an einem konventionellen Werk bzw. Theatertext als Grundlage für eine mehr oder minder werkanaloge Aufführung. Dann erwecken sie auf den ersten Blick angesichts ihrer jeweiligen Inhalte sowie Gestaltungsformen den Eindruck, als ob es sich um chaotische Theaterphänomene handelt, die nur darauf abzielen würden, zu irritieren und Skandale zu erzeugen. Dieser Eindruck erscheint einigermaßen und zum Teil berechtigt zu sein, denn im Gegensatz zum engen und konventionell dominanten Theaterverständnis lenken Nitschs Orgien-Mys‐ terien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ das Augenmerk auf eine andere Form theatraler Praxis und erfordern eine andere Wahrnehmungsbzw. Zugangsweise. Als Beispielformen postdramatischen Theaters entgehen 10 Vorwort 4 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 15-16. 5 Susanne Hochreiter: „„Den Skandal erzeugen immer die anderen“. Überlegungen zu künstlerischen und politischen Strategien Christoph Schlingensiefs“, in Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.) Der Gesamtküntler. Christoph Schlingensief. Wien: Praesens Verlag 2011, S. 435-459, hier S. 435. 6 Ebd., S. 444. 7 Vgl. Hans-Matthias Kepplinger: Mechanismen der Skandalisierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen. München : Olzog 2005, S. 20-22. 8 Susanne Hochreiter: „Den Skandal erzeugen immer die anderen“. Überlegungen zu künst‐ lerischen und politischen Strategien Christoph Schlingensiefs“, a. a. O., S. 449. 9 Ebd., S. 436. beide den Beschreibungs- und Analysekategorien des dramatischen Theaters. Außerdem sind sie prägnante Beispiele künstlerischer Aktivitäten, „die sich weder der Tradition einer Kunst zuordnen lassen noch überhaupt sich auf die traditionellen künstlerischen Medien beschränken […]. Überdies geben die Werke, oftmals nicht mehr zu erkennen, wo die Grenze zu ihrem nicht-künstleri‐ schen Außen verläuft; vielmehr destabilisieren sie diese gezielt.“ 4 In der Tat geht es um eine Form künstlerischer Gegenkultur, die bezüglich der Produktions- und Rezeptionsverhältnisse von Kunst normabweichend ist und soziokulturelle Normen sowie entsprechende gewöhnliche Erwartungshaltungen erschüttern. Nicht nur „‚Schlingensief ‛ und ‚Skandal‛ sind“, wie Susanne Hochreiter in die‐ sem Zusammenhang konstatiert, „in einer bestimmten medialen Wahrnehmung und Kommunikation zum semantischen Minimalpaar geworden […]“, sondern auch Nitsch „steht für viele [ebenso] als Garant für Aufregung, für Provokation, aber auch für fragwürdige künstlerische Produktivität.“ 5 Werden Begriffe wie Skandal und Provokation sowie andere ähnliche negativ konnotierte Aussagen verwendet und in Verbindung mit bestimmten Künstler_in‐ nen gebracht, so handelt sich nicht nur um wertende Blickregime, 6 die sich an der Beharrung auf dominanten Wahrnehmungsschemata entzünden. Zugleich stehen solche Blickregime durch ihre „Mechanismen der Skandalisierung“ im Welchsel‐ verhältnis zum Skandal und tragen zur Erzeugung von Aufregungen auf der Basis eigener Gruppennormen bei, die dadurch bestätigt werden. 7 Auch „Provokation gilt ihren Gegner_innen als etwas Anstößiges, Unseriöses, Unerlaubtes und wird als Urteil über Kunst, die sich verdächtig macht, „nur“ provozieren zu wollen, abwer‐ tend verstanden.“ 8 In Anlehnung an Hochreiters These, die besagt, „der Skandal im Modus der Kunst […] ermöglicht (potential) Raum für eine kritische Öffentlichkeit, die Skandalisierung wirkt diesem Raum entgegen […]“, 9 konzentriert sich diese Untersuchung auf einige gegenkulturelle und institutionskritische Möglichkeiten von postdramatischem Theater in diesem Kontext. 11 Vorwort 10 Joachim Fiebach: Die Toten als die Macht der Lebenden: zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika. Berlin-DDR: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1986, S. 18. 11 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, a. a. O., S. 25-26. Für das Anliegen dieser Arbeit lassen sich das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ nicht nur als Verschmelzung sowie Radikalisierung von Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst zuordnen. Beide Theateransätze eignen sich auch andere soziokulturelle und politische Dimensionen in ihrem Sosein für das Theater an. Darüber hinaus sind sie postdramatische Theaterentwürfe, „die, an die vorkoloniale Tradition oder im internationalen Maßstab gesehen an vorbürgerliche Kulturen anknüpfend, als […] Phänomene exemplarisch erscheinen für heutige internationale Tenden‐ zen, bisherige Strukturen von Theater und verfestigte enge Grenzen von Kunst gegenüber anderen kulturellen [sowie politischen] Tätigkeiten aufzubrechen und fließender zu machen.“ 10 Dabei handelt es sich um die Kategorien der Entgrenzung und der Erfahrung im Prozess künstlerischen Schaffens und Rezipierens: In Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung stellt Juliane Rebentisch Folgendes fest: „Während sich für die in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen hin zu intermedialen und offenen Werken der Begriff der Entgrenzung durchgesetzt hat“, sei in der ästhetischen Theorie auch 1970, besonders in der deutschsprachigen philosophischen Ästhetik, parallel dazu ein weiterer Begriff wichtig geworden: die Erfahrung. Die Entgrenzung betrifft die neuartigen Kunstformen, die sich seit den 1960er-Jahren auf pro‐ duktionsästhetische Gestaltungsformen beziehen. Der Begriff der Erfahrung fokussiere eher auf rezeptionsästhetische Wirkungsformen der Kunst. Die Produktions- und rezeptionsästhetischen Erfassungskategorien beziehen sich wie folgt aufeinander: Die Kategorie der Erfahrung ist als eine kunstpraktische Reaktion auf die Entgrenzungstendenzen in der Kunst zu verstehen. Dadurch wird ein besonderes Verhältnis zwischen dem rezipierenden Subjekt und dem zu rezipierenden Objekt erfahrungs- und wirkungsästhetisch hergestellt. 11 Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen theater- und kulturwissen‐ schafltichen und transkulturellen sowie einen kunst- und kulturgeschichtlichen bzw. interdiszplinären Ansatz, der eine enge Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Diskurs aufweist. Diese Arbeit baut hauptsächlich auf einem komparatistischen methodischen Verfahren auf und gliedert sich in drei Teile. Der erst Teil „Begriffsbestimmungen und theo‐ retische Überlegungen“ geht auf zentrale Konzepte und Paradigmen sowie grundlegende theoretische Überlegungen der Untersuchung ein: Gegenkultur, postdramatisches Theater, cultural performance bzw. cultural celabration und Institutionskritik. Zum anderen werden der Untersuchungsgegenstand und 12 Vorwort den Forschungsstand zum Thema dargestellt. Der zweite Teil „Das Orgien- Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! ““ setzt sich mit der konkreten Analyse des angeführten Forschungsgegenstands auseinander. Als Ausgangs- und Orientierungspunkt zum allgemeinen Erfassen des künstlerischen Wer‐ degangs von Nitsch und Schlingensief bilden ihre jeweiligen künstlerischen Biographien in diesem Arbeitsteil. Dann zeigt die Analyse, wie sich das Orgien- Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ zum einen vom klassischen Theaterverständnis distanzieren und zum anderen mit performativen sowie rituellen Strategien Grenzüberschreitungen bzw. Transgressionen postdrama‐ tischer Gestaltungsformen bewerkstelligen. Dabei wird zusätzlich erörtert, welche expliziten und/ oder impliziten Ähnlichkeiten und Wechselbeziehungen beide Theaterpraktiken mit mittelalterlichen oder afrikanischen vorkolonialen Theaterformen zeigen und wie dabei religiöse Handlungen transkulturelle bzw. synkretistische Merkmale aufweisen. In diesem Zusammenhang wird zudem veranschaulicht, wie Performativität und Ritualität je nach den zeit‐ räumlichen, soziokulturellen und politischen Bedingungen unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen haben. Hierbei wird in Betracht gezogen, wie mit der Akzentuierung performativ, rituell, gegenkulturell und institutionskritisch geprägter Strategien paradoxe Störkonstellationen im Rahmen dieser beiden Theateraktionen in den Vordergrund gerückt werden. Der dritte und letzte Teil widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung, der künstlerischen Behrührungspunkte in Nitschs und Schlingensiefs Inszenierungssowie Störstrategien, der Dyna‐ mik der Ordnungen im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater, des postdramatischen Theatersynkretismus sowie der Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung. 13 Vorwort TEIL I: Begriffserklärungen und theoretische Überlegungen 12 Vgl. Milton J. Yinger: „Presidential address: countercultures and social change“. In: American Sociological Review. Vol. 42., 1977, S. 833-853, hier S. 833. 13 Vgl. Theodore Roszak: Gegenkultur. Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend. Düsseldorf/ Wien: Econ 1971, S. 76. 14 Vgl. ebd. 1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen 1.1.1. Postdramatisches Theater und Gegenkultur als Alternative Gegenkultur ist ein wiederkehrender Untersuchungsgegenstand der Kultur‐ wissenschaften. Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf bestimmte postdramatische Theaterschauplätze, die sich durch eine durchlässige Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst und somit durch ein Eindringen der äußeren Wirklichkeit in die Kunstsphäre und umgekehrt auszeichnen. Diese Verschie‐ bung von der auschließlich textzentrierten Theaterform hin zur Entgrenzung sowie Verlagerung des theatralen Schauplatzes in den real gelebten Alltag soll in dieser Arbeit mit einer Revision des Konzepts Gegenkultur konkret diskutiert werden. Ausgehend von gesellschaftlicher und sozialer Interaktion definiert der amerikanische Soziologe J. Milton Yinger Gegenkultur als aktive Infragestellung geltender Normen und Werte eines bestehenden Mainstreams durch eine Minderheit derselben Gesellschaft in einer ausgelebten Form von Nonkonformität. Vorausgesetzt wird das Ziel, die dominante Gruppe bzw. ihre Regeln zu ersetzen. 12 Für den amerikanischen Sozialkritiker Theodore Roszak ist Gegenkultur eine kulturelle Erscheinungsform, die von den entscheiden‐ den Grundsätzen einer Gesellschaft so stark abweiche, dass sie von vielen nicht als Kultur, sondern als eine barbarische Strömung empfunden werde. 13 Roszak zufolge entspringt Gegenkultur einer radikalen Unzufriedenheit und einem Erneuerungswillen jener Menschen, die mit den bestehenden Werten, Regeln und Lebensweisen der dominanten Kultur in Widerstreit stehen und nach alternativen Wegen suchen. 14 Diese Arbeit knüpft an das Verständnis von Gegenkultur als Alternative an. In einer spezifischen Ausprägungsform von Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ lässt sich 15 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S. 13. 16 Vgl. Doris Bachmann-Medick: „Performative Turn“. In: Dies.: Cultural Turns. Neuorien‐ tierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg: Reinbek 2009, S. 104-143, hier S. 104. 17 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 22. eine Art von Gegenkultur beobachten, die eine andere Bedeutung als lediglich die Idee des Aufbegehrens gegen die Normen und Regeln des klassischen Thea‐ terverständnisses vermittelt. Gegenkultur ist im postdramatischen Theaterver‐ ständnis mit experimentellen Zielen und mit einer Wandlung des theatralen Ausdrucksverhaltens verbunden. In diesem Sinne sind einige postdramatische Theaterformen gegenkulturell, nicht weil sie gegen die Textzentriertheit des dramatischen bzw. klassischen Theaters gerichtet sind oder es aufzulösen beab‐ sichtigen, sondern weil sie eben ihre ästhetischen Ausdrucksmittel erweitern. Sie schaffen innovative theatrale Gestaltungsformen, die in den meisten Fällen keinen (fertigen) Theatertext zum Ausgangspunkt einer Aufführung haben. Sie sind gegenkulturell, weil sie in ihren experimentellen und innovativen Prozes‐ sen z. B. nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen europäischen Kultur entsprechen, die „sich überwiegend in Texten artikuliert und repräsentiert“. 15 Sie entsprechen dem performative turn: Sie fokussieren auf aktionssowie interventionsorientierte Ausdrucksdimensionen von Handlungsereignissen bis hin zur Inszenierungskultur und der praktischen Herstellung von Erfahrungen im Alltagsleben. 16 So geht die performative Wende seit den 1960er-Jahren nicht nur in den einzelnen Künsten mit einem Performativierungsschub, sondern auch mit der Herausbildung einer neuen Kunstgattung einher, die zu fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten führt und Ereignisse statt Werke schafft. 17 Diesbezüglich zielt gegenkulturell - wie später mit dem Begriff Insti‐ tutionskritik veranschaulicht wird - in der hier vorgeschlagenen Verwendung nicht mehr primär auf den expliziten Widerstand gegen etwas ab, weil das textzentrierte Theater immerhin bestehen bleibt. So soll bei Gegenkultur über die a priori vorliegende gedankliche Verknüpfung mit Kontra, wider, Widerstand gegen hinaus auch Wert auf (je nach Kontext) die Idee oder das Potential von alternativ, innovativ, experimentell, tabubrechend, gesellschafts- und ideologiekri‐ tisch, institutionskritisch und/ oder nebeneinander gelegt werden. 18 1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen 18 Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas: 1880-1954. 18. Auflage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 74. 19 Vgl. Andrzej Wirth: „Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrecht‐ schen Theaterkonzepte“. In: Theater Heute 1., 1980, S. 16-19, hier S. 19. 1.1.2. Dramatisches und postdramatisches Theater: ein Nebeneinander Es ist notwendig, auf den ersten Seiten dieser Arbeit das Verhältnis zwischen dem textzentriert-dramatischen und dem körperzentriert-postdramatischen Theater erneut zu verdeutlichen. Bereits ab dem 19. Jahrhundert werden kennzeichnende Merkmale des Dramas ins Wanken gebracht und abgelehnt. In der Theorie des modernen Dramas: 1880-1950 schreibt Peter Szondi 1954, dass die thematische Wandlung für die Krise des Dramas gegen Ende des 19. Jahrhunderts verantwort‐ lich sei und dass die alte dramatische Form mit entsprechenden Gegenbegriffen ersetzt werden sollte. 18 Er führt deshalb das Epische als Gegenmodell ein. Die entscheidende Innovation dabei ist Bertolt Brechts episches Theater, das den traditionellen Bühnendialog ansatzweise in die Form des Diskurses oder Monologs transformierte. Mit Brechts Theorie wird eine Aussage im Theater durch eine gleichwertige Beteiligung von verbalen und kinetischen Elementen vermittelt und ist nicht ausschließlich literarischer Natur. 19 Heutzutage bestehen Formen dramatischen und postdramatischen Theaters nebeneinander. Eines der großen Missverständnisse, das es zu überwinden gilt, ist die Annahme, dass postdramatisches Theater Formen der literarisch-drama‐ tischen Theatertradition aufgelöst hat oder aufzulösen versucht. Mit Gegenkul‐ tur im Verhältnis zur Institution des klassischen Theaters wird das Augenmerk darauf gelenkt, dass das textzentrierte Theaterverständnis im Sinne von Bettine und Christoph Menke nur eine der Erscheinungsformen des Theaters sei. Die postdramatische Perspektive ist in diesem Kontext als gegenkulturell und institutionskritisch aufzufassen - sie ermöglicht mindestens zwei emanzipato‐ rische Betrachtungsweisen: erstens das stärker gewordene Bewusstsein des erweiterten Theaterbegriffs, der aktionistische, performative, installativ-expe‐ rimentelle theatrale Ausdrucksformen - inklusive ritueller Bezüge - ins Theater einschließt; zweitens verweist diese Betrachtungsweise auf das antike Theater als voraristotelisch, aber auch auf mittelalterliche und außereuropäische Thea‐ terformen. Beide Ansichten veranschaulichen zugleich, dass das Drama oder das dramatische Theaterverständnis für „eine historisch spezifische, vor allem 19 1.1.2. Dramatisches und postdramatisches Theater 20 Bettine Menke, Christoph Menke (Hg.) Tragödie - Trauerspiel - Spektakel. Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 6. 21 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin: Alexander Verlag 2013, S. 31. und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters“ 20 steht. Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater heißen demnach ganz und gar nicht: Theater ohne oder gar gegen Text. […] Postdramatisch aber heißt die gegenwärtige Theaterlandschaft nicht, weil es darin keinerlei Dramen und keinerlei dramatische Elemente mehr gäbe, sondern weil das Dramatische seine Bedeutung als Norm des theatralen Vorgangs eingebüßt und das in der frühen Neuzeit entwickelte Dispositiv des Theaters der Repräsentation sich aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt wegen der inflationären Fülle von dramatisierenden Repräsentationen im Alltag der Medienkultur, erschöpft hat. Soviel jedenfalls beweist die enorme Ausweitung, die Begriff und Praxis des Theaters im Zeitalter der Medienkultur erfahren haben. Theater ist in keiner Weise mehr auf das dramatische Paradigma festzulegen, das in Europa zwischen Renaissance und dem Aufbruch der historischen Avantgarden in Europa theoretisch und weiterhin praktisch beherrschend gewesen ist. 21 Im Folgenden soll nun auf die Verwechslung von postdramatischem Theater mit dem Begriff Postdramatik ausdifferenzierend eingegangen werden. 1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik? Nachdem veranschaulicht worden ist, dass Formen des dramatischen und post‐ dramatischen Theaters unter sich stetig weiterentwickelnden Ausdrucksformen nebeneinander fortbestehen, möchte die folgende Argumentation auf ein ande‐ res Missverständnis eingehen, das zwischen postdramatischem Theater und Postdramatik besteht. Eingangs ist anzumerken, dass der Begriff Postdramatik nicht direkt auf Lehmann zurückzuführen ist. Jedoch verwendet Lehmann das Adjektiv postdramatisch und fallweise das Substantiv „das Postdramatische“ im Zeitalter der Medienkultur zur Beschreibung der vielfältigen künstlerischen sowie ästhetischen Mittel in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, in der das Dramatische nicht mehr als zentrale Norm und führendes Paradigma theatralen Schaffens gilt: Unter postdramatisches Theater fallen für Lehmann nomadische Produktionsstrukturen, Networks, neue Formen flüchtiger Gemeinschaften und gemeinsamer Kreation, intermediale Aktivitäten, welche die elektronische Kommunikation ästhetisch und pragmatisch nutzen, Projekte zwischen Aus‐ stellung, Installation und Performance, Aktions- und Projektformen im urbanen 20 1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen 22 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 4-5. 23 Bernd Stegemann: „Nach Postdramatik“. In: Die süßen Versprechen der Postdramatik. Seit 10 Jahren beherrscht das Schlagwort die Debatte - pro und contra. Theater heute 10/ 08, Berlin: Friedrich Berlin Verlag 2008, S. 14-21, hier S. 14. Raum, dokumentarisch interessiertes Theater mit Laien, Verschaltungen von politischen und ästhetischen, künstlerischen und didaktischen Prozessen (lec‐ ture performance) in und mit unterschiedlichen Institutionen. All diese Formen scheinen Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste zu sein. 22 In seinem Artikel „Nach der Postdramatik“ (2008) und Buch Kritik des Theaters (2013) kritisiert der Dramaturg und Professor für Schauspielgeschichte Bernd Stegemann mit Rückgriff auf Lehmanns Buch Postdramatisches Theater die Spielformen im Gegenwartstheater, das großteils von Formen postdramatischen Theaters dominiert zu sein scheint. Bereits im Jahr 2008 verwendet Stegemann in seinem in der Theaterzeitschrift Theater heute veröffentlichten Artikel „Nach der Postdramatik“ den Begriff Posdramatik u. a. mit folgenden kritischen Ausle‐ gungen: Vor knapp zehn Jahren erschien das „Postdramatische Theater“ von Hans-Thies Lehmann und wurde in kurzer Zeit zum Standardwerk. […] Der Reiz des Titels, der zum Schlagwort einer ästhetischen Position geworden ist, ist offensichtlich. Das Buch verspricht ein neues ästhetisches Paradigma und liefert gleich eine ganze Anzahl neuer Beschreibungsvokabeln. Zugleich verspricht es die lang ersehnte Befreiung des Theaters aus der Vorherrschaft des Dramas. Was heute mit Postdramatik gemeint ist, glaubt jeder Zuschauer oder Theatermacher zu wissen. Für die einen ist es das ästhetische Experiment, ohne nachvollziehbare Geschichte einen Theaterabend erfinden und inszenieren zu können. Für den anderen ist es die Aufforderung zur Mitarbeit am theatralischen Geschehen: Erzähl´ Dir Deine eigene Geschichte, wenn Du denn unbedingt eine brauchst! Und für den dritten, den Theaterwissenschaftler, ist es die Erfüllung eines Traums vom Theater, das sich endlich mit dem Vokabular der eigenen Profession beschreiben lässt. Doch was meint „postdramatisch“ und welche theatralischen Ereignisse lassen sich damit beschreiben? 23 Fünf Jahre später bemängelt er in seinem Buch Kritik des Theaters - indem er neben der Bezeichnung „postdramatisches Theater“ immer noch den Begriff Postdramatik gebraucht -, dass Performance, Präsenz und Selbstreferenz die Tradition von Mimesis, Schauspiel und Bedeutung ersetzt haben. Alle Ereignisse seien selbstreferenziell und würden eine Authentizität beanspruchen; außerdem 21 1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik? 24 Vgl. Bernd Stegemann: Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit 2013, S. 240 und 273-275. 25 Vgl. Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): Einleitung zu „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens 2015, S. 9-14. 26 Nota bene: nicht „Postdramatisches Theater“. 27 „‚Für jeden Text das Theater neu erfinden‘: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs-Mumby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision, a. a. O., S. 33-45, hier S. 34. 28 „‚Postdramatik als Label? ‘: Gespräch mit Carl Hegemann, Katja Jung, Patrick Primavesi, Stefan Tigges, moderiert von Teresa Kovacs“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision, a. a. O., S. 61-73, hier S. 61. 29 Vgl. ebd. bezeichne - ihm zufolge - der Begriff Postdramatik von seiner Bedeutung her zuerst eine Theaterform nach dem Drama. 24 Angeregt durch die 2013 an der Universität Wien gegründete Forschungs‐ plattform „Elfriede Jelinek: Texte - Kontexte - Rezeption“ wurde aber im Zeit‐ raum von Oktober 2013 bis März 2014 die Postdramatik, unter deren Gesichts‐ punkt mittlerweile zunehmend Theatertexte von Elfriede Jelinek analysiert werden, kritisch hinterfragt. In dieser Zeit konnten die Pro- und Antagonisten (ausschließlich aus Europa) des postdramatischen Theaters und der Postdrama‐ tik über die Problematik und die Implikationen der jeweiligen Begrifflichkeiten in unterschiedlichen interdisziplinären Arbeitsgruppen mit verschiedenen The‐ menschwerpunkten zunächst per E-Mail sowie anhand von Videokonferenzen miteinander kommunizieren. Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen und Themenschwerpunkte trafen dann vom 14. bis 18. Mai 2014 im Rahmen des Symposiums „Sinn egal. Körper zwecklos“. Postdramatik - Reflexion & Revision in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier zusammen. 25 Als Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen kam überwiegend zum Vorschein, dass Postdramatik  26 ein problematischer Begriff ist, weil der Begriff - abgesehen davon, dass er nicht dasselbe bezeichnet, was Lehmann unter postdramatischem Theater subsumiert hat - etwas besonders Problematisches konnotiert: An der Postdramatik findet selbst Lehmann die gedankliche Querverbindung störend, dass es einst Drama‐ tik gegeben habe und dass danach etwas anderes gekommen sei, das nichts mehr damit zu tun habe. „Ich habe den Begriff postdramatisches Theater aber gerade gewählt“, so Lehmann, „um zu zeigen, dass es eine Situation vor dem Hinter‐ grund und Echoraum der dramatischen Tradition gibt. Ich betone das deshalb, um den Verdacht der Text- und Dramafeindlichkeit zurückzuweisen.“ 27 Obgleich Carl Hegemann kein Befürworter des postdramatischen Theaters ist, findet er den Begriff Postdramatik ebenfalls problematisch, da dieser seiner Meinung nach „etwas völlig anderes als ‚postdramatisches‘ Theater“ 28 bezeichnet. Für Patrick Primavesi stiftet Postdramatik Verwirrungen. 29 Außerdem tauchen bei diesem 22 1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen 30 Vgl. „‚Wann ist ein Text ein Theatertext? Über Flächen, Rhizome und die Grenzen wissenschaftlicher Beschreibungen.‘ Gespräch zwischen Evelyn Deutsch-Schreiner und Alexandra Millner“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision, a. a. O., S. 77-83, hier S. 80-81. Begriff im Sinne von Alexandra Millner drei Hauptprobleme auf: 1) Während Lehmanns Begriff des Postdramatischen eine Kategorie zur Beschreibung der Vielfalt zeige, erscheine Postdramatik nicht als deskriptiv, sondern als normativ. Dadurch werde gefragt, ob die Aufführung postdramatisch sei, anstatt zu fragen, ob sie postdramatische Züge aufweise. Millner zufolge erfasst eine solche Kategorisierung ein bestimmtes Phänomen in seiner Reinkultur, während aber das, was beschrieben werden solle, nur in Hybridform existiere. 2) Millner findet das Verstehen des Präfixes „Post“ in Postdramatik als eine chronologische Abfolge aus den gleichen Gründen problematisch, die bereits Lehmann ange‐ sprochen hat. 3) Dem Begriff Postdramatik hafte ein Paradox an, weil seine Aspekte anhand der Theaterstücke von Elfriede Jelinek entwickelt worden seien und nun auf ihre neueren Stücke mit der Frage projiziert werden, ob diese denn postdramatisch genannt werden könnten. Dieses Verfahren sei nach Millner nicht nur hermetisch-selbstreferenziell, sondern bilde zugleich einen unproduktiven Teufelskreis, weil dadurch die Individualität und „Idiosynkrasie“ - als wortwörtlich je eigenständige bzw. eigenartige Zusammensetzung oder Mischung - jedes einzelnen Kunstwerks missachtet werde. 30 Das Interesse der vorliegenden Arbeit gilt demnach dem Begriff postdramati‐ sches Theater als eine Beschreibungskategorie vielfältiger Erscheinungsformen des Theaters mit transkulturellen und synkretischen Zügen, die in einer Zeit ästhetisch-koexistierender Elemente und Formen aus verschiedenen zeiträum‐ lichen Kulturen der Welt Interferenzfiguren hervorbringen. 23 1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik? 1.2. Forschungsgegenstand Im Zentrum dieser Arbeit stehen Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “. Beide Theaterformen weisen rituelle, kunstreligiöse, synkretistische, performative, politische und künstlerisch grenzüberschreitende Vorgehensweisen auf. Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit darauf detaillierter eingegangen wird, erfolgt eine Kurzzusammen‐ fassung des gesamten Forschungsgegenstands. In Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater geht es um die Begegnung von antiken griechischen bzw. dionysischen Kultpraxen und katholisch-christ‐ lichem Ritual. Das angestrebte Ziel ist eine psychologische und spirituell-see‐ lische Transformation, die über Abreaktion und Katharsis hinausgeht. Auch Christoph Schlingensief geht es in seiner Aktion 18, „tötet Politik! “ um eine Transformation bzw. um eine Reinigung der sozialen und politischen Begeben‐ heiten mit Rückgriff auf afrikanische Voodoo-Rituale. Diesbezüglich macht er sich z. B. auf eine symbolische Deutschlandtour durch das Rheinland und das Ruhrgebiet. Währenddessen operiert er im Grenzbereich ästhetischer und realpolitischer Wirklichkeit: Dadurch kann er in der Rolle eines Voodoo-Pries‐ ters auftreten und die politische Lage in Bezug auf die politischen Tätigkeiten des damaligen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann enthüllen - mit Beteiligung unterschiedlicher Menschen unter anderem aus den Medien, der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Wie in einem authentischen rituellen Prozess fungiert diese Aktion als eine liminale Phase, in deren Folge eine ästhetische „Neugeburt“ der Politik stattfinden soll. Somit weisen beide - das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ - sozial-, instituti‐ ons- und zivilisationskritische Merkmale auf, indem sie besondere ästhetische Störstrategien einsetzen, um die Zuschauer_innen im Brechtschen Sinne zu aktivieren und als Mitwirkende in die Inszenierung mit einzubeziehen. Darüber hinaus liefern das strukturelle und das funktionelle Ritualmotiv praktische Beispiele für einen kulturellen Synkretismus im postdramatischen Theater, der antike griechische und außereuropäische bzw. afrikanische Kul‐ turelemente einschließt. So lässt sich in dieser Studie zu analysierenden Theaterformen Folgendes beobachten: Sie operieren im Zwischenbereich von Ritual-(Theater-)Kunst-Realität. Insofern geht diese Studie über das postdrama‐ tische Theater hinaus, um aufzuzeigen, wie bei Nitsch und Schlingensief Theater als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus fungiert, wo Elemente unterschiedlicher kultureller Epochen und Räume ineinander greifen bzw. inter‐ 31 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction. Cambridge: University Press 2000, S. 26. 32 „Wir verstehen unter dem Begriff des Theaters hier keineswegs nur das autonome Theater der westlichen und fernöstlichen Kulturen, sondern auch theatralische Aktivi‐ täten, die in Rituale eingebunden sind. Von Theater sprechen wir immer dann, wenn folgende Bedingung gegeben ist: A verkörpert X, während S zuschaut. Diese Bedingung wird jedoch nicht nur vom autonomen Theater erfüllt, sondern ebenso von den thea‐ tralischen Aktivitäten der Naturvölker, in denen sie zum Teil als magische Praktiken im Zusammenhang von Ritualen durchgeführt werden“ (Erika Fischer-Lichte: Semiotik des ferieren. Die in dieser Arbeit infrage kommenden Interferenzelemente beziehen sich folglich auf antike griechische, mittelalterliche, außereuropäische bzw. afrikanische Theaterformen sowie auf solche Theaterpraxen, die explizite und/ oder implizite Ähnlichkeiten mit Nitschs und Schlingensiefs Theateransätzen aufweisen: beispielsweise Antonin Artauds Theaterkonzept, mittelalterliche geistliche Spiele, Opferrituale und Dionysos-Kult in der griechischen Antike, Kote-tlon der Bamana im alten Mali und Alarinjo der Yoruba in Nigeria. Einer der Vorläufer der postdramatischen Theaterästhetik mit rituellen Be‐ zügen ist Antonin Artaud. David Willes bemerkt: „Artaud expressed more passionately and forcefully than anyone else in the twentieth century the idea that psychological theatre is physically inert and spiritually sterile.“ 31 Das Interesse dieser Arbeit liegt an Artauds Theaterkonzept in Bezug auf die Verwendung der Sprache als Beschwörungsformel, um mit Lautmalerei, Assonanzen und Dissonanzen auf die Emotionen und das Unbewusste der Zuschauer_innen einzuwirken. Nach Artaud soll die Sensibilität gesteigert, betäubt, bestrickt und abgeschaltet werden, um Schockwirkung zu erreichen. Die Entdeckung von Theaterformen anderer Kulturen bzw. des balinesischen Theaters - im Jahr 1931 während der kolonialen Ausstellung in Paris - hat Artaud in seiner Theaterreformidee der Loslösung vom dramatischen Text bekräftigt: Artauds Konzept markiert den nicht zu übersehenden Entwick‐ lungsschnitt im Theater, das sich vom eurozentrischen bzw. textzentrierten Maßstab emanzipiert. Die Aufmerksamkeit wird damit zunehmend auf körper‐ zentrierte und rituelle Rollendarstellungen gerichtet. Mit dem performative turn lässt sich das internationale Theaterverständnis aus postdramatischer und transkultureller Betrachtungsweise auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner bringen: auf die körperzentrierte Aufführung. Die aufgelöste (ehemals klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt des Verhältnisses zwischen dem Theater und allen anderen Lebensbereichen im postdramatischen Kontext. In vielen Formen internationalen Theaters im erweiterten Sinn 32 kommt dies klar zum Ausdruck - bei performativen Akten, 26 1.2. Forschungsgegenstand Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Band 1, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1983, S. 198). 33 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1991, S. 25. 34 Vgl. David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day. James Curry (Oxford), Heinemann (Portsmouth N. H.), EAEP (Nairobi), David Philip (Cape Town), Baobab (Harare) 1995, S. 1-15. 35 Vgl. ebd. 36 Ebd., S. 6. bei körperlichen Handlungen oder bei der Leibzentriertheit der kulturellen Rollendarstellungen, wie etwa die Opferrituale und der Dionysos-Kult in der griechischen Antike (etwa 500 bzw. 300 vor Chr.) zeigen. Die Opferrituale und der Dionysos-Kult haben eine sehr wichtige Rolle für die Entwicklung des europäischen Theaters gespielt. Heute sind Begriffe wie Theater oder Performance mit anderen Bedeutungen beladen, als dies der Fall in der griechischen Antike war. Blut, Tod und Opferrituale sind der Bindestrich zwischen antiker Traditions- und Kulturtätigkeit von Theater - vor allem im Rahmen des Dionysos-Kults, wo körperzentrierte Rollendarstellungen entschei‐ dend sind. In der griechischen Antike „rühren die Opferriten an die Grundlagen der menschlichen Existenz“ 33 im Rahmen theatral-performativer Rollendarstel‐ lung - ohne eine Textvorlage im Sinne des klassischen Theaterverständnisses. Das Interesse hierfür liegt in der zeiträumlichen Kontextualisierung, in der Gestaltungsform, den Kommunikationsmitteln sowie den ästhetischen Strate‐ gien dieser theatralen Rollendarstellungen, die außerdem auf afrikanische bzw. vorkoloniale Theaterformen explizit hindeuten: z. B. Kote-tlon der Bamana im alten Mali 34 und Alarinjo der Yoruba in Nigeria. 35 Das Kote-tlon war eine Theaterform aus dem 14./ 15. Jahrhundert im Kö‐ nigreich des Bamana-Stammes im alten Mali. Eine der Besonderheiten des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass die theatralen Performances und die anderen soziokulturellen sowie ökonomischen Tätigkeiten in einem engen Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen. Das Kote-tlon-Theater ist eine vorkoloniale Theaterform, die eine kontrollierende sowie kritische Struktur aufweist und einen soziokulturellen ebenso wie einen politischen Wandel kata‐ lysierte. Die Performer_innen dieser Theaterform beanspruchten wie Christoph Schlingensief ein künstlerisches Recht auf Kritik und spielten eine nonkon‐ formistische sowie sozialkritische Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn behauptet David Kerr: „it is not very surprising to find a sceptical attitude and implicit resistance among performers of Kote-tlon.“ 36 Diese Theaterform wird in Relation zu Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ gesetzt. Da Schlingensief ein Voodoo-Ritual in seiner Aktion vollzieht, wird ein zweites 27 1.2. Forschungsgegenstand 37 Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart/ Weimar: Verlag J. B. Metzler 2003, S. 162. Beispiel einer Theaterform aus dem vorkolonialen afrikanischen Kontext zum Vergleich eingeführt: Es geht um Alarinjo der Yoruba in Nigeria. Alarinjo war eine spezialisierte und professionelle Theaterform, die ihre Ursprünge im Voodoo-Kult Egungun hatte. Es war zudem eine satirische Mas‐ kerade, die sich stets unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasste. Manchmal gerieten die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer. Da Theater im weitesten Sinn des Begriffes ein Kulturphänomen ist, das wiederum je nach den zeiträumlichen Bedingungen auf unterschiedlichen kulturellen Symbolen beruht, wird Aby Warburgs Pathosformel in diese Arbeit eingeführt. Unter diesem Gesichtspunkt werden Ähnlichkeiten zwischen Thea‐ terformen aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen veranschaulicht: „bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich um kulturelle ‚Engramme‘ oder ‚Dynamogramme‘, die ‚mnemische Energie‘ speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen.“ 37 28 1.2. Forschungsgegenstand 38 Vgl. Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2015. 39 Eva Badura-Triska: „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, S. 33-34. 40 Brigitte Marschall: „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theaterge‐ schichte“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 34-35. 1.3. Forschungsstand Zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater wurde und wird noch vieles publiziert - entweder als wissenschaftliche, als künstlerische oder als ausstellungsbzw. kritikorientierte Analysearbeiten; im Rahmen dieses Forschungsstands wird die Aufmerksamkeit auf einige Forschungsarbeiten fokussiert: Es handelt sich nämlich um diejenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die das Orgien-Mysterien- Theater mit dem kultisch-rituellen Theater in der griechischen Antike oder den Opferritualen im Dionysos-Kult, dem Wiener Aktionismus und dem Konzept des Gesamtkunstwerks analytisch in Verbindung bringen. Die Monografie Hermann Nitsch - Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters  38 ist 2015 erschienen. Herausgeber Michael Karrer bezeichnet dieses 968-seitige Buch, das in enger Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch entstanden ist, als ein Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Orgien-Mysterien-Theaters als Gesamtkunstwerk. Dieses Buch thematisiert analytisch in klar gegliederten Kapiteln mit Textbeiträgen jeweils folgende Bereiche: Philosophie, Aktionen, Relikte, Malerei, Architektur, Musik, Inszenierungen, Frühwerk des Orgien- Mysterien-Theaters sowie das Schloss Prinzendorf. Außerdem behandelt das Buch in einem Exkurs Hermann Nitsch in Verbindung mit dem Wiener Aktio‐ nismus. In ihrem Beitrag „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“ 39 verschafft Eva Badura-Triska einen panoramaartigen Blick auf das Grundkon‐ zept und den chronologischen Werdegang des Orgien-Mysterien-Theaters: sie dokumentiert bzw. veranschaulicht vor allem die Verbindung, die zwischen Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als Kult des Seins und der ursprünglichen, kultischen, mythischen sowie therapeutischen Funktion der Kunst besteht, die nicht von der Lebenswelt abgehoben wurde. Brigitte Marschall thematisiert in ihrem Beitrag „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“, 40 wie dieses Theater in die Geschichte des europäischen Theaters eingeschrieben ist. Sie zeigt auf, wie das 41 Aspasia Stephanou: „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“. In: Journal for Cultural Research, Volume 15, Number 4 (October 2011), S. 409-426. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Aaron Levy (Hg.): Blood Origies: Hermann Nitsch in America. Philadelphia: Slought Books 2008. Orgien-Mysterien-Theater klare Rückgriffe auf die Tragödie der griechischen Antike, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud aufweist. Sie ist der Meinung, dass sich Nitschs Theaterkonzept in die Tradition der theatralen Ausdrucksformen einordnen lässt, die den Körper, das physische Handeln und den materiellen Prozess in den Mittelpunkt stellen und dem Theater ein auf das gesellschaftliche Kollektiv gerichtetes, meist utopisches Veränderungspotential zuschreiben. In dem Beitrag „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“ 41 unter‐ sucht Aspasia Stephanou die Performancekunst sowie die Blutrituale von Ron Athey und Hermann Nitsch. Dabei geht sie zunächst davon aus, dass beide Künstler aufgrund ihrer radikalen Kunstform als eine Herausforderung für die moderne Kunst und die Gesellschaft fungieren. Dann argumentiert sie, dass die Verwendung von Blut, das bei den beiden Künstlern im Zentrum steht, die Wirksamkeit besitzt, das patriarchalische System der sozialen Autoritäten anzugreifen und zu destabilisieren. Sie zeigt außerdem auf, dass derartige blutige Performancepraxen popularisiert werden, womit Blut Eingang in den Mainstream der Popkultur findet. In diesem Zusammenhang zeigt sie am Beispiel der Verwendung von Blut in einigen Auftritten der Popkünstlerin Lady Gaga auf, dass Blut seine symbolischen Bedeutungen eingebüßt hat und zu einem kommodifizierten Produkt geworden ist. Anhand ihres Vergleichs (Performancekünstler mit einer Popkünstlerin) veranschaulicht Stephano, wie Blut in unterschiedlicher Art und Weise benutzt wird, um die jeweiligen Projekte der genannten Künstler_innen zu ermöglichen: Während Atheys Performances das Blut als die Realitätsstelle des schmerzempfindenden Körpers unterstreichen und bei Nitsch Blut für das Zelebrieren von Eros und Thanatos steht, trennt Lady Gaga, indem sie künstliches Blut verwendet, das Blut vom Körper und seiner Bedeutung. 42 Der von Aaron Levy herausgegebene Sammelband Blood Orgies: Hermann Nitsch in America  43 ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen mit Bezug auf ein 2008 in Philadelphias „Slought Foundation“ durchgeführtes Projekt über Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Dieser Sammelband, der einen Beitrag zur kritischen englischsprachigen Literatur über Hermann Nitsch darstellt, geht vom gegenkulturellen Charakter von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, von seiner provokativen Verwendung von Blut, Fleisch und Innereien als künstle‐ 30 1.3. Forschungsstand rischem Material sowie von seiner obsessiven Verwendung der Metaphorik der Kreuzigung Christi im Rahmen eines neopaganen Opferrituals aus. Er beschäftigt sich außerdem mit den emotionalen Reflexen der Rezipient_innen und mit deren kritischer Reaktion auf Nitschs Werk: Dieter Ronte untersucht z. B. die einschränkende „sekundäre“ Funktion von Fotografie im Verhältnis zu den auf multiple Sinneswahrnehmung abzielenden Performances, denen die unmittelbare Präsenz der Teilnehmer_innen zugrunde liegt, damit die erwartete Wirksamkeit erreicht wird. Ronte ist der Meinung, dass im Vergleich zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, welches sich nicht auf Dokumentationen reduzieren lässt, die Fotografie Nitschs Kunst unverzüglich abbildet und sie zugleich entstellt. Adrian Daub verfolgt die klangliche Dimension des Orgien- Mysterien-Theaters. Er analysiert die Beziehung zwischen der Performance und den musikalischen, klanglichen und stimmlichen Elementen. Jean-Michel Rabaté befasst sich analytisch mit dem Orgien-Mysterien-Theater als Gesamt‐ kunstwerk und zeigt auf, dass die Gemälde durch den Kontakt von Stoffen mit verschüttetem Blut und anderen Flüssigkeiten entstehen. Er schlussfolgert, dass gerade diese Blutmengen und Flüssigkeiten das wahrhaft Dionysische in Nitschs Kunstfertigkeit konstituieren. Michèle Richman verfolgt den ethnografischen Faden von Nitschs Kunstpraxis in Bezug auf die umfangreichen theoretischen Diskurse im 20. Jahrhundert über Festivals, Rituale und Mythen. Indem sie Nitschs Ikonografie und mit jener von Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, erkennt Susan Jarosi in beiden Kunstwerken komplementäre psychische Ausdrücke geschichtlicher Traumata. Im Gegensatz zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater liegt zurzeit der Entste‐ hung dieser Arbeit noch nicht zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ vor. Abgesehen von Dokumenta‐ tions- und Materialquellen, die zudem künstlerisch oder ausstellungsbzw. kritikorientiert sind und aus Aktionstagebuch, Presseberichten bzw. Pressere‐ portagen, Fotografien, Interviews sowie Videoausschnitten bestehen, fehlt es an einer wissenschaftlich umfangreichen Analyse dieser Aktion. Jedoch gibt es eine Reihe von Forschungen und Publikationen, die Schlingensiefs künstle‐ risches Schaffen unter verschiedenen Vorzeichen untersuchen und in denen sich Abschnitte zu dieser Aktion finden. Im Folgenden kann ein Beispiel angeführt werden: Eva Behrendt bezeichnet in ihrem Aufsatz „Politische Performances zwischen Irritation und Aufklärung“ die Aktion 18, „tötet Politik! “ als einen Klassiker der politischen Performance und betont, dass diesem im Kontrast zum klassischen Theater keine dramatische Textvorlage für die theatrale Aufführung im Sinne von Schauspiel zugrunde liegt. In Analogie zum religiösen Ritual merkt sie 31 1.3. Forschungsstand 44 Vgl. Eva Behrendt: „Politische Performances zwischen Irritation und Aufklärung“. In: Passagen. Das Kulturmagazin von Pro Helvetie, Nr. 57, 3/ 2011, S. 12-16. 45 Der postdramatische Theatersynkretismus wird im dritten Teil dieser Dissertation behandelt. an, dass die Handlung, die vom Darsteller - in diesem Fall Schlingensief - performiert wird, mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Behrendt konzentriert ihre Argumentation auf das zehnminütige Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma Web/ Tech. Außerdem erinnert dies an eine von Joseph Beuys in einer New Yorker Galerie abgehaltene Coyote Performance I like America, and America likes me (1974), die aber mehr als eine esoterische Kunstübung gewesen sei: Behrendt zufolge sei die Performance ein politisches Statement von Beuys gewesen, da er sich mit dem Kojoten so beschäftigt habe, dass eine Verbindung mit Amerikas Ureinwohner_innen versinnbildlicht wurde. Ähnlich habe Schlin‐ gensief, so Behrendt, Bezug auf die parteipolitische Realität der Bundesrepublik genommen, indem auch antisemitisch konnotierte Vorgänge wie die Bücherver‐ brennung aufgegriffen wurden. Solche fast tagesaktuelle Unmittelbarkeit und die Treffsicherheit, mit der Schlingensief anhand seiner Performances in die Schlagzeilen geraten ist, ist nach Behrendt derzeit im Bereich des deutschspra‐ chigen Theaters unerreicht, obschon heute immer noch politisches Theater und politische Performancekunst bestehen. 44 Nitsch und Schlingensief zeichnen sich durch ihre verwandten künstleri‐ schen Störpraktiken und ihre jeweiligen tabubrechenden Theateransätze aus. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von den erwähnten Studien. Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ werden dann als zwei Beispiele von Theater als Ästhetik und Bereich des kulturellen Synkre‐ tismus bzw. des postdramatischen Theatersynkretismus 45 veranschaulicht, in dem verschiedene Interferenzelemente bestehen. Außerdem fungieren sie als Theateraktionen, die kulturelle Selbstveränderungen durch die Hereinnahme des Fremden katalysieren. Somit ermöglichen beide Theateraktionen einen verkehrten, transkulturellen bzw. synkretistischen Blick auf die jeweils kultur‐ spezifischen Theater- oder Rollendarstellungsformen, die über das Eigene weit hinausgehen und stark auf das Fremde (im Eigenen) verweisen. Denn mit der Konzeptualisierung des postdramatischen Theaters als reale Erfahrung von Zeit, Raum, Körper rücken im Zeitalter der weltweiten Migrationsbewegungen die Fremdheitserfahrungen gravierend vorwärts. Dabei geht die Fremdheitser‐ fahrung nicht nur von Fremden (z. B. Ausländer_innen, Migrant_innen) bzw. von sogenannten Flüchtlingen aus, sondern auch von dem durch Vergeistigung und Zivilisationsprozesse verdrängten Fremden im Eigenen: z. B. von den blutigen Opferritualen. Aus dieser komplexen Konstellation des Fremden, das 32 1.3. Forschungsstand 46 Nathalie Bloch, Dieter Heimböckel (Hg.): Theater und Ethnologie. Unter Mitarbeit von Elisabeth Tropper. Tübingen: Narr Franke Attempto Verlag, 2016, S. 7-8, hier S. 8. im Eigenen verwurzelt ist, soll das Fremde nicht mehr bzw. nicht nur in den fernen Kulturen, sondern (auch) im Inneren des synkretistischen sowie unterdrückten Eigenen gesucht werden. Anders formuliert: Zeichnet sich die gegenwärtige Kulturauffassung durch vielfältige kulturelle Interferenzelemente aus und distanziert sie sich folglich von einem Containermodell der Kultur, so ist die Suche nach dem, „was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden“ 46 , sondern bei sich im Eigenen auffindbar. Der transkulturelle bzw. synkretistische Ansatz in dieser Arbeit richtet das Augenmerk auf den kulturellen Synkretismus, den Nitsch und Schlingensief in ihren jeweiligen Theateraktionen über den ästhetischen Funktionsmodus des kulturellen Zelebrierens zum Vorschein bringen. An diesem Punkt geht die Arbeit über das postdramatische Theater hinaus und schlägt die Brücke zu antiken griechischen, mittelalterlichen und außereuropäischen bzw. afrika‐ nischen Theaterformen. Konkret geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ als Inbegriff einer Radikalisierung gegenkultureller sowie institutionskritischer Erscheinungsformen von Kunst - wie z. B. Fluxus, Happening, Installations-, Interventionssowie Aktionskunst - fungieren. Das Orgien-Mysterien-Theater wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Institutions-, Religions- und Zivilisationskritik im Verhältnis zu gegenwärtigen soziokulturellen Begebenheiten untersucht. Dabei wird Nitschs synästhetische Dramaturgie als Kritik- und Transgressionsmittel dargestellt, um dadurch Menschen in synästhetische Wirklichkeitsbereiche seines Orgien-Mysterien- Theaters einzuführen. Es handelt sich dabei vor allem um solche synästhetische Wirklichkeitsbereiche, die in Form einer ästhetischen Ritualisierung bzw. einer selbstreferenziellen Zeremonie aus postdramatischer Sicht auf ein performati‐ ves Reflektieren über den menschlichen Körper im Theater, auf eine funktionelle ästhetisch-transformative Erfahrung, auf die Wiederherstellung fremd gewor‐ dener Erfahrungen und somit auf eine eigenartige kulturelle Praktik abzielen - in Verknüpfung mit der Opferbehandlung voraristotelischer Theaterpraxis. Nitschs theatrale Wiederherstellung voraristotelischer Theaterpraxen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen wird unter dem Begriff Urtheatralisierung subsumiert. Auch die Parallelen des Orgien-Mysterien-Theaters zu spätmittelal‐ terlichen Oster- und Passionsspielen, die bis jetzt in der Nitschs Forschung unterbelichtet sind, werden in dieser Arbeit behandelt. 33 1.3. Forschungsstand Die Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ ist in der vorliegenden Arbeit eine erste umfangreiche Untersuchung dieser Aktion: sie wird zunächst in Relation zur postdramatischen Theaterästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis gebracht, wobei der Akzent auf die sozialkritische und politische Dimension sowie auf die Einordnung in die gesellschaftskritische Theatertradition von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre gelegt wird. Die Produktions- und die Wirkungsästhetik der Aktion 18, „tötet Politik! “ wird auch hinsichtlich ihrer Kontextualisierung von Aktion, Raum und Zeit sowie der politischen Akteure_innen jenseits der Freizeitgat‐ tungen veranschaulicht. Schlingensiefs Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes, sein künstlerisches Schaffen von Ausnahmesituationen sowie -orten und seine störorientierten Strategien als Inszenierungsstil werden analysiert und am Beispiel seines Aufrufs „tötet Möllemann“ diskutiert. Ausge‐ hend vom rituellen Vorgang in Aktion 18, „tötet Politik! “ wird zudem auf die postdramatische Theaterkomposition (vorkolonialer Zeit) in Afrika analytisch eingegangen und in Bezug auf sein Operndorf sowie auf die bereits erwähnten afrikanischen Theaterformen in kulturspezifischer und transkultureller Lesart behandelt. Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird anschließend im dritten Kapitel Theater als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstverän‐ derung behandelt. In diesem Zusammenhang werden die postdramatische Ästhetik bis hin zum postdramatischen Theatersynkretismus sowie die Neuper‐ spektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung beleuchtet. Die zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet: Theater ist eine kulturelle Erscheinungsform des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplat‐ zes. Es ist demnach als künstlerisches und ästhetisches Medium kultureller Kompromisssuche, Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung sowie Selbstverän‐ derung aufzufassen. 34 1.3. Forschungsstand 47 Vgl. Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“. In: Gerda Baumbach, Veronika Darian, Günther Heeg, Patrick Primavesi, Ingo Rekatzky (Hg.): Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leipziger Vorlesungen. Berlin 2014, S. 164-182, hier S. 165. 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes Aufgrund der in dieser Analyse zu behandelnden Theaterformen bzw. -ent‐ würfe, die sich sowohl auf entfernte als auch aktuelle zeiträumliche Kulturen beziehen, lässt sich Theater als Kunst und Ästhetik kultureller Selbstdarstel‐ lung, Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung auffassen. Wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, entspringen alle Theaterformen ihren jeweiligen zeit‐ räumlichen, kulturspezifischen, sozialen und politischen Kontexten. 47 Aus der Perspektive von cultural performance und kulturellem Zelebrieren ist Theater im Allgemeinen ein szenisch-dynamischer Schauplatz sowie ein ästhetisches und künstlerisches Medium kompromissbereiter, performativer Aushandelns- und Erkenntnispraxis. In einer Theatersituation geht es auch darum, die herrschenden Gesellschaftsordnungen auf die Probe zu stellen, um dadurch neue Keime individueller, kollektiver sowie soziokultureller Transformationen treiben zu lassen. Viele postdramatische Theaterformen - z. B. Nitschs Orgien- Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ - machen aber auf eine übertriebene Art und Weise Gebrauch von der Wirkungsästhetik der Theatersituation. Derartige postdramatische Verfahren lassen sich anhand des Begriffs Anagnorisis im Verhältnis zur Tragödie besser beschreiben: Die Tragödie wirkt wie ein Pharmakon, ein Gift, das heftiges Affekt-Fieber auslöst, aber, gemäß dem Doppelsinn des griechischen Begriffs, dadurch zugleich auch Medizin, Heilmittel ist. In den Dienst der Beschreibung dieser Affektwirkung tritt nun auch das Konzept der Anagnorisis. Scheint es sich zunächst nur auf die Dramaturgie zu beziehen und einen Erkenntnisprozess anzuziehen, so kann doch jeder aus der eigenen Theatererinnerung bestätigen, dass Aristoteles präzise erfaßt hat, dass in der Tat die Momente solchen (Wieder-)Erkennens zu den affektiv stärksten Augenblicken einer Theateraufführung gehören - in ungleich höherem Maße als bei der Lektüre. Denn hier spielt das Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine „Zeu‐ genschaft“, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet. „Ja, Du bist es, Orest! Gott, ich bin es, Ödipus, der den König tötet! “. Anagnorisis bedeutet: ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die 48 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 212-214. 49 Ebd, S. 210. 50 Vgl. Johan Callens, Jeroen Coppens, Katharina Pewny (Hg.): Dramaturges in the New Millennium. Relationality, Performativity and Potentiality. Tübingen: Narr Francke Attempto. 2014. 51 Günther Heeg: „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwis‐ senschaft in Zeiten der Globalisierung“. In: Gerda Baumbach / Veronika Darian / Günther Heeg / Patrick Primavesi / Ingo Rekatzky (Hg.): Momentaufnahme Theaterwis‐ senschaft: Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 150-163, hier S. 153-154. 52 Vgl. ebd., S. 150-163. 53 Andreas Wimmer: „Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grund‐ begriffs“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48. Jg., H. 3, 1996, S. 401-425, hier S. 407. wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert […]. Anagnorisis meint nämlich nicht ein für allemal dauerhaft erworbenes Wissen. Vielmehr weist das Wort auf einen Moment hin, auf eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht […]. 48 Die Anagnorisis als der in der Tragödie enthaltene Ausdruck von Wiedererken‐ nen und Wissen ist bereits seit der Antike der Konnex zwischen „Theater und Belehrung, Theater und Wissen, Theater und Erkenntnis […].“ 49 Es geht hierzu um eine prozessuale Fokussierung auf die Performativität und die Po‐ tentialität 50 der Theaterpraxis: Dabei werden einzelne theatrale Verfahren, wie Heeg betont, im Wechselspiel von „aisthetischer Erfahrung und Konstruktion“ derart exponiert, „dass das Exponierte zwischen den Sphären von Kunst und Wissenschaft oszilliert“, 51 womit das Wesen von Theater als künstlerisches und ästhetisches Medium der „Unterbrechung“ und der „Überschreitung“ 52 im Hinblick auf das Experimentieren anderer Erfahrungswege zur Erkenntnis‐ gewinnung in den Vordergrund rückt. So gesehen fungiert und funktioniert Theater im Allgemeinen als ein ästhetisches Medium nach dem Vorbild eines kulturellen Kompromisses, der es ermöglicht, Spielregeln auszuhandeln, anhand derer Wahrnehmungsverhältnisse reflektiert, historische sowie aktuelle Fragen und soziokulturelle, ökonomische sowie politische Dimensionen der Theater‐ praxis hinterfragt und vorangetrieben, Formen sowie Erfahrungen kultureller Begegnungen und Konflikte jeweils experimentiert und (auf-)gelöst werden können. Theater demnach nicht nur als eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch als einen kompromissbereiten Praxis- und Reflexionsschauplatz von Kultur aufzufassen, bezieht sich auf ein Theaterverständnis, welches sich im Mittelpunkt eines dynamischen Prozesses befindet: Theater - im Sinne einer künstlerischen Praxisform von Kultur - als Konsens oder als ein Aushandeln zu verstehen, verweist auf ein Verständnis, das sich mit Kultur als einem „offenen und instabilen Prozess des Aushandelns von Bedeutungen“ 53 für (produktive) 36 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der Theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, Kap. 3, S. 97-121. 56 Andreas Wimmer: „Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grund‐ begriffs“, a. a. O., S. 407. 57 Ebd., S. 408. 58 Ebd., S. 412. Veränderungen auseinandersetzt. In seinem Beitrag „Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs“ zeigt Andreas Wimmer drei Aspekte eines Aushandelns oder einer Kompromissbildung auf: Der erste Aspekt bezieht sich auf die verinnerlichte Kultur. 54 Wimmer greift hier zurück auf Bourdieus Habitus als ein verinnerlichtes Dispositionssystem, das den sozialen, ökonomi‐ schen, politischen und kulturellen Ordnungen entspricht und sich auf Dauer aus einem Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretations‐ mustern sowie -zielen habitualisiert. 55 Dann bringt Wimmer diesen Habitus in Verbindung mit der Schematheorie der kognitiven Ethnologie: Schemata sind Modelle von prototypisch vereinfachten Welten, als Netzwerke mitein‐ ander verknüpfter Bedeutungen organisiert. Sie werden im Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsprozess selektiv aktiviert. Als verinnerlichte Form von Kultur kommen sie dem nahe, was die Annales-Schule als Mentalität bezeichnet. 56 Mit diesen „Handlungs- und Denkschemata“ modifiziert Wimmer den von den einzelnen Individuen internalisierten Bourdieuschen Habitus. Nach Wimmer wirken diese Schemata nicht auf das Individuum als „gesellschaftliche Zumu‐ tungen“ von außen ein. Jedoch verfügen die jeweiligen Individuen - je nach Interessen und Situationen - über eine Entscheidungsfähigkeit und -freiheit. Der zweite Aspekt kommt der „öffentlichen Kultur“ zu, die auf der Grundlage des normativ-kulturellen Aushandlungsprozesses in kollektiven Repräsentatio‐ nen stattfindet. Die verinnerlichte Kultur ist die zwangsläufige Voraussetzung für den kulturellen Kompromiss (auch „symbolischer Gesellschaftsvertrag“ genannt): [Er] gründet auf der Zustimmung aller durch eine gemeinsame Öffentlichkeit aufein‐ ander bezogenen Akteure, da moralische Kategorien und soziale Klassifikationen für gültig befunden und für wahr genommen werden müssen. 57 Bei dem dritten und letzten Aspekt, der zur „sozialen Schließung und kulturellen Distinktion“ führt, verdeutlicht Wimmer, „dass kulturelle Kompromisse auch Grenzen zwischen denen definieren, die sich an ihm beteiligen, und jenen, welche außerhalb seines Geltungsbereiches stehen.“ 58 Da die „kulturelle Kom‐ 37 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes 59 Ebd., S. 413. 60 Ebd., S. 418. 61 Vgl. Charles Segal: „Griechische Tragödie und Gesellschaft“ (Ins Deutsch übertragen von Egon Menz). In: Geschichte der Literatur. Die Welt der Antike. 1200 v.₠Chr.-600n.Chr., Bd. 1, Berlin: Propyläen Verlag 1988, S. 198-217, hier S. 200. 62 Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“, a. a. O., S. 170. promissfindung [einen] Prozess der sozialen Schließung“ impliziert, schluss‐ folgert Wimmer, dass diese „Prozesse sozialer Schließung […] zur Bildung von Klassen, von Nationen, Ethnien, Subkulturen, oder Geschlechtergruppen führen“ 59 können. Wimmer bleibt nicht bei der kulturellen Konsensbildung stehen, die in die soziale Schließung und kulturelle Distinktion mündet, sondern arbeitet das Gemeinsame aller Kulturen heraus. Dieses kulturell Gemeinsame bezeichnet Wimmer als die Pragmatik der kulturellen Produktion - d. h. die Fähigkeit, die „alle Menschen verbindet und es ihnen ermöglicht, die kulturelle Landschaft in Bewegung zu setzen und sich selbst in ihr zu bewegen, […] auf der Suche nach einem Kompromiss, Sinn und Nutzen in Übereinstimmung zu bringen.“ 60 Theater ist der liminale Bereich, in dem auch solche Prozesse kultureller Kompromissbildungen über ästhetische Wege laufen. Die Vielfalt theatraler Erscheinungsformen sowie ihrer religiösen, sozialen, politischen Funktionen und Zielsetzungen bestätigt verschiedenartig diese Sachlage. Wie viele künst‐ lerische Ausdrucksformen bringt auch Theater eine sekundäre bzw. inszenierte Ebene von Wirklichkeit und Bedeutungen hervor: Dabei werden real-vorgege‐ bene oder erfundene Geschehnisse in theatrale Vorgänge umgeformt. 61 Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze bringen diesbezüglich gegenkulturelle und grenzüberschreitende Theaterentwürfe hervor, in denen soziokulturelle und politische Aushandlungs-, Veränderungs- und Stabilisierungsprozesse von in‐ nergesellschaftlichen Wert‐ und Normsetzungen experimentiert werden. Dabei geht es wiederum, wie in vielen postdramatischen Theaterentwürfen um be‐ wusste Überschreitungen von Grenzen kultureller und selbstverständlicher Verhaltensmuster und Erwartungshaltungen, die in der Regel beachtet werden müssen. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um den Spaß eines bloßen soziokulturellen Tabubruchs und Überschreitungswillens von Grenzen. Im Gegenteil: Derartige postdramatische Theaterformen gehen von einer bereits im realen Leben „dargestellten Gewalt zur Gewalt der Darstellung“ 62 aus, um Momente der Anagnorisis hervorzurufen. Patrick Primavesi bemerkt z. B.: Erwartungen zu enttäuschen, ungewohnte Wahrungs- und Denkweisen zu ermög‐ lichen, war einer der wichtigsten jener Impulse, die seit den 1950er Jahren von 38 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes 63 Ebd., S. 176-177. Performances ausgingen […]. Dabei wurde vielfach der Körper der Akteure in den Mittelpunkt gestellt, um die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzubrechen […]. In dieser Perspektive sind die Aktionen von Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Marina Abramović oder auch Orlan und Stelarc bei allen ideologischen Differenzen doch verwandt. Andererseits war es die Arbeit mit solchen Performanceelementen, die seit den 1970er Jahren die Auseinandersetzung mit ritualisierten Verhaltensweisen im Theater produktiv machen und eine verkrustete Ästhetik der Werkinterpretation aufbrechen konnte. Entscheidend dafür ist aber nicht der Tabubruch als solcher. Wenn sich die Doppelmoral eines sensationsgierigen und/ oder kulturpessimistischen Journalismus an Gewaltdarstellung, nackten Körpern und angeblich entwürdigten Symbolen entzündet, ist Theater darin doch zumeist harmloser als viele TV-Pro‐ gramme. 63 Die konsequente Reaktion von vielen postdramatischen Theatermacher_innen besteht in dieser Hinsicht wie folgt darin: den Tabubruch als Katalysator für Anagnorisis zu verwenden. Diesbezüglich handelt es sich um einen dezidiert inszenierten Angriff auf konventionell-verankerte, soziokulturelle Ordnungs‐ systeme und deren Erwartungshaltungen, in welchen bereits Keime von Ta‐ bubrüchen, Skandalen und Provokationen verdrängt existieren. Hierzu sind Nitsch und Schlingensief sehr gute compagnons de route, die mit Störstrategien und theatralen Mitteln gewohnte Erwartungs- und Wahrnehmungshaltungen von Rezipierenden durch die Auflösung beispielsweise der Beobachterposition erschüttern. Ausgehend von den bisher dargestellten Auslegungen lassen sich folgende Hypothesen formulieren: Die Aktivierung des Publikums und seine Einbeziehung in performative Aufführungen im postdramatischen Theater radikalisieren Brechts Konzept des epischen Theaters. Dabei werden deviante Theaterstrategien, die schon lange abweichend vom klassischen Theater praktiziert wurden, um das Publikum zu aktivieren und zu schockieren, wieder aufgenommen. Zu gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater zählen unter anderem die Rückkehr zu voraristotelischen und mittelalterlichen Theater‐ formen, die wiederum Parallelen zu außereuropäischen bzw. vorkolonialen afrikanischen Theaterformen aufweisen. Diese Tendenzen stellen im Theater nicht nur eine Rückkehr von rituellen bzw. religiösen Rollendarstellungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen als Inspirationsquelle, sondern auch eine Herausforderung für Teilhabende dar, da die Begrenzung der Kunst und ihre Unterscheidung von nichtkünstlerischen Aktivitiäten unterlaufen wird. 39 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes Die performativen und rituellen Praktiken im postdramatischen Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ charakterisieren sich durch kulturelle Elemente sowie Symbole, die eine Pluralisierung bzw. Variabilität von Interpretationsmöglichkeiten be‐ wirken und diese durch eine stets erneuerte Formierung steuern. Denn die Aufführungen als ästhetisch-reale Ereignisse sind durchaus offener und hängen stark von variablen Faktoren ab: dem Objekt, der Reaktion der Teilhabenden, der Zeit, dem Raum und dem Kontext. Die Auseindersetzung mit der folgenden Fragestellung bezieht sich die angeführten Hypothesen: Wodurch kennzeichnen sich die gegenkulturellen Tendenzen im postdrama‐ tischen Theater und welche Wirkung haben sie auf Rezipierende und die Ge‐ sellschaft? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle sowie religiöse Rahmenbedingungen? Inwiefern können die Erkenntnisse über voraristotelische, mittelalterliche und vorkoloniale bzw. außereuropäische Rollendarstellungsformen dazu beitra‐ gen, die heutigen fließenden Grenzen zwischen Theater und anderen politischen und soziokulturellen Tätigkeiten theoretisch beschreibbar zu machen? Inwiefern können performative und rituelle Bedeutungsproduktionen unter‐ schiedliche und variable Sinnzusammenhänge aufweisen? 40 1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes 64 Raúl Fornet-Betancourt: Interkulturalität in der Auseinandersetzung. Frankfurt a. M.: IKO-Verlag für interkulturelle Kommunikation 2007, S. 9. 65 Mark Terkessidis: Interkultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 10. 66 Vgl. Alfred Schültz: „Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch“. In: Ders.: Gesam‐ melte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie. Hg. von Arvid Broderson. Den Haag: Martinus Nijhoff 1972, S. 53-69. 67 Vgl. Dieter Heimböckel, Manfred Weinberg: „Interkulturalität als Projekt“. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H2, Bielefeld: transcript 2014, S. 119-144. 68 Vgl. Sybille Krämer: „Performance - Aisthesis. Überlegungen zu einer aisthetischen Akzentuierung im Performancekonzept“. In: Arno Böhler, Susanne Granzer (Hg.): Ereignis Denken. TheatReale - Performanz - Ereignis. Wien: Passagen Verlag 2009, S. 131-155, hier S. 134. 1.5. Theoretische Überlegungen Viele kulturelle Erscheinungsformen lassen mit und in unterschiedlichen Sparten des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst auffassen. In Anbetracht dessen steht Kunst als Oberbegriff für eine besondere Ausdrucksweise kultureller Praktiken und Erkenntnissuche zu verstehen, die sich im klassisch-modernen und konven‐ tionellen Kunstverständnis von der üblichen Lebenspraxis deutlich abhebt. Die Kunst spiegelt am Beispiel von Theaterformen kulturelle Symbolsysteme und -komplexe wider und basiert außerdem auf kulturellen Aushandlungsprozessen: Gegenwärtige transkulturelle Erscheinungsformen von Kultur laden z. B. zu entsprechenden Produktions- und Rezeptionsformen im Theater ein. Dabei geht es um die „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“ 64 in der Theaterforschung und -praxis, welche im postdramatischen Theater die Wider‐ spiegelung der gegenwärtigen Kulturinterferenzen nicht nur als „Kultur-im-Zwi‐ schen“, 65 sondern auch über das „Denken-wie-üblich“ 66 hinaus als „Projekt“ und konsequenterweise als „Prozess“ 67 analysiert. Einige Merkmale postdramatischen Theaters, die für diese Arbeit relevant sind, bauen auf Voraussetzungen von Prozess, Dazwischen, Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit auf. Aufgrund der performativen Infragestellung sowie Dekonstruktion binärer Denkmuster 68 als eine künstlerische Strategie lässt sich zudem beobachten, dass sich tradierte Wahrnehmungskategorien nicht mehr eignen, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. In dieser Hinsicht überzeugt die Annahme im Kontext postdra‐ matischer Ästhetik, dass der Autonomisierung bzw. der Freiheit der Kunst zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. Insofern wird die nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit sowie Entscheidbarkeit, ob es sich bei einem inszenierten Ereignis um Kunst handelt oder nicht, gera‐ 69 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 20. 70 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a.a.O., S. 16. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 31. dezu zu einem Kriterium für Kunst. 69 Viele künstlerische Schauplätze der nicht a priori distraktionsorientierten Gegenwartskunst „scheinen sich nämlich […] dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich […] nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen.“ 70 Folglich ist es in der Auseinandersetzung mit solchen künstlerischen Entwürfen aufschlussreich, sich von dominanten Wahrnehmungsgewohnheiten und Urteils‐ kriterien zu emanzipieren. Durch ihre unklaren Grenzen zur nichtästhetischen Lebenswelt bzw. durch die Unklarheit darüber, welche Elemente überhaupt noch zur Inszenierung zu zählen sind, 71 sind unter anderem Nitschs Orgien-Mysterien- Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ prägnante Beispiele von gegenkulturellen Tendenzen postdramatischer Gestaltungsformen. Im nächsten Schritt wird auf theoretische Überlegungen und Begriffserklärungen, an die sich die Analyse in dieser Arbeit stark anlehnt, eingegangen: cultural performance und cultural celebration, Institution Kunst/ Theater, Institutionskritik, Kultur als Institution, Kult- und Ausstellungswert von Kunst. 1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens In dieser Arbeit wird Theater als künstlerischer Funktionsmodus bzw. als äs‐ thetischer Bereich des kulturellen Zelebrierens und des Synkretismus definiert. Zugleich ist Theater als eine Widerspiegelung von und Reflexion über Kultur zu verstehen. Um diese Sachlage zu veranschaulichen, wird auf das Konzept von Performance rekurriert. Das Konzept der Performance geht, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, auf den Oxforder Linguisten John L. Austin zurück, der 1955 an der Harvard University mit seinen Vorlesungen How to Do Things with Words / Zur Theorie der Sprechakte (1961/ 62 veröffentlicht) das Paradigma der Performance einführte. 72 Im Sinne von Austin bezieht sich das Paradigma der Performance auf den Bereich sprachlicher Äußerungen bzw. auf den ‚performativen Sprechakt‘. Das sind solche Sprech‐ akte, mittels derer durch bestimmte (teilweise formelhafte) Verben/ Ausdrücke Handlungen (wie Taufe, Eheschließung) unter konventionellen Voraussetzungen 42 1.5. Theoretische Überlegungen 73 Vgl. ebd., S. 32-34. 74 Vgl. ebd., S. 32. 75 Sybille Krämer: „Performance - Aisthesis. Überlegungen zu einer aisthetischen Akzen‐ tuierung im Performancekonzept“, a. a. O., S. 134. 76 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 44. vollzogen werden. 73 Die so vollzogenen Handlungen sind „selbstreferenziell“ und „wirklichkeitskonstituierend“. 74 Mit Sybille Krämer wird festgehalten, dass in der sprachtheoretischen Spezifizierung des Performativen drei Gradierun‐ gen unterscheidbar werden: (1) das ‚schwache Performanzkonzept‘ bezieht sich auf die Handlungs- und Gebrauchsdimension aller Rede, insofern diese als propositio‐ nal-performative Doppelstruktur gefasst wird. (2) Das ‚starke Performanzkonzept‘ artikuliert die Konstitutionsleistung symbolischer Handlungen, insofern diese das, was sie bezeichnen, zugleich auch tun. (3) Das ‚radikale Performanzkonzept‘ ist operativ-strategisch zu verstehen: Indem das Performative als die eine Seite eines binären Schemas auftaucht, kann es zur Destabilisierung und Dekonstruktion eben dieses klassifikatorischen Schemas verwendet werden und - als subversive Kraft - auf die Grenzen von dichotomischen Begriffsbildungen verweisen. 75 An dieser Stelle ist es nötig, wichtige Grundannahmen in Bezug auf das Performanzkonzept, das für diese Arbeit von Bedeutung ist, festzuhalten: 1) Performanz als Vollzug bzw. Konstruktion von Wirklichkeit, die auf sich selbst verweist: Unter diesem wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferenziellen Merkmal ist auch bezüglich der Sprechakte die performative Erfindungsbzw. Konstruktionsfähigkeit von Sprache (in allen ihren Varianten) oder Diskursen einzuschließen. Das veranschaulicht Fischer-Lichte, wenn sie formuliert, dass der Begriff des Performativen bestimmte Handlungen bezeichne, „die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken.“ 76 2) Performanz gilt als operativ-strategische Methode, die theoretisch und praktisch konventionelle Grenzen überschreitet. Barbara Kirshenblatt-Gimblett unterstreicht diesen methodischen Aspekt von Performanz in Bezug auf die Performance Studies: The field of Performance Studies takes performance as an organizing concept for the study of a wide range of behaviour. A postdiscipline of inclusions, Performance Studies sets no limit on what can be studied in terms of medium and culture. Nor does it limit 43 1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens 77 Barbara Kirshenblatt-Gimblett: „Performance Studies”. In: Henry Bial (Hg.): The Perfor‐ mance Studies Reader, Second Edition published by Routledge, 2 Park Square, Milton Park, Abingdon, Oxon, OX I4 4RN, 2007, S. 43-54, hier S. 43. 78 Milton Singer: The Great Tradition in a Metropolitan Center: Madras. In: The Journal of American Folklore, Vol. 71, No. 281, 1958, S 347-388, hier S. 351. the range of approaches that can be taken […]. Performance Studies starts from the premise that its objects of study are not to be divided up and parcelled out, medium by medium, to various other disciplines - music, dance, dramatic literature, art history. The prevaluating division of arts by medium is arbitrary, as is the creation of fields and departments devoted to each. 77 Dieses Zitat, das vieles über die operativ strategische Methode von Performanz aussagt, lässt sich auf diese Arbeit übertragen, die sich fachübergreifend und transkulturell mit grenzüberschreitenden Theaterformen auseinandersetzt. Die folgenden beiden letzten Anhaltspunkte des Performanzkonzepts betref‐ fen den sozialen und ästhetischen Auf- und Ausführungscharakter von Kultur in allen ihren Variationen. 3) Performanz im Dienst der Ästhetik des kulturellen Zelebrierens: Die verschie‐ denen Konzeptualisierungen von Kultur (Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität etc.) sind diskursive und abstrakte Perspektivierungen unter‐ schiedlicher kultureller Auffassungen, die zuerst über Aufsowie Ausführungen konstruiert und dann beobachtbar bzw. erfahrbar werden. Das jeweilige inter‐ nalisierte Verständnis von Kultur, Inter-, Trans- oder Multikulturalität wird erst im Zeitverlauf individuell und/ oder kollektiv in der Gesellschaft performativ vorgeführt bzw. weiter übertragen. Ohne die Träger kultureller Aus- und Aufführung sind keine beobachtbaren und erfahrbaren kulturellen Praktiken möglich. Der amerikanische Kulturanthropologe Milton Singer spricht in die‐ sem Zusammenhang von cultural performance in Bezug auf die kulturellen Eigenschaften der indischen Brahmanen: Whenever Madrasi Brahmans (and non-Brahmans, too, for that matter) wished to exhibit to me some feature of Hinduism, they always referred to, or invited me to see, a particular rite or ceremony in the life cycle, in a temple festival, or in the general sphere of religious and cultural performances […]. I found that the more abstract generalizations about Hinduism (my own as well as those I heard) could generally be checked, directly or indirectly, against these observable performances. The idea then occurred to me that these performances could be regarded as the most concrete observable units of Indian culture, the analysis of which might lead to more abstract structures within a comprehensive cultural system. 78 44 1.5. Theoretische Überlegungen 79 Milton Singer: Preface. In: Traditional India: Structure and Change. ed. by Milton Singer. Philadephia: American Folklore Society 1959, S. ix-xxii, hier S. xii-xiii. 80 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 32-33. 81 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 31. Mit dem Begriff cultural performance beschreibt Singer in den ausgehenden 1950er-Jahren „the most concrete observable units of culture“ und „particular instances of cultural organization, e. g. weddings, temple festival, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“ 79 Es ist in dieser Studie festzuhalten, dass die cultural performance unabdingbar ist, damit eine Kultur dynamisch und beschreibbar wird. Die Idee der cultural performance ähnelt einem Theaterereig‐ nis, das nicht ohne performative Aufführung unter gleichzeitiger Anwesenheit von Schauspieler_innen und Zuschauer_innen am selben Ort auskommt. Aus diesem performativen Blickwinkel ist Fischer-Lichte zuzustimmen, dass die cultural performance ein dynamischer Prozess ist, der die Wirklichkeit, auf die er verweist, zuallererst hervorbringt. 80 Außerdem ist hinzuzufügen, dass „Kultur als Text“ von Clifford Geertz und Andreas Wimmers kultureller Kompromiss bzw. kulturelle Aushandlungen ebenso dem Modell dieser performativen Dyna‐ mik folgen wie Singers „concrete observable units of […] culture“. Dies schließt zudem die klassischen, kulturkritischen, essentialistischen, konstruktivistischen usw. Konzeptualisierungen und Konstruktionen von Kultur, Inter-, Multi- und Transkulturalität sowie Gegenkulturen ein: keiner kommt ohne cultural perfor‐ mance aus. Ausgehend von dem theatralen Aufführungsmodell „formuliert eine Kultur in cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie vor ihren Mitgliedern ebenso wie vor Fremden [auch im Sinne von Zuschauenden] dar- und ausstellt.“ 81 Unabhängig davon, ob es sich um glückliche Ereignisse (wie Heirat) oder um traurige Geschehnisse (wie Tod/ Beerdigung) handelt, sieht Peter Brook im performativen Dar- und Ausstellen einer Kultur (das gilt außerdem für alle Kulturauffassungen) eine bewusste Tätigkeit, die in einer cultural celebration individuell und/ oder kollektiv durchgeführt wird: I have asked myself what the word ‘culture’ actually means to me in the light of the different experiences I have lived through, and it gradually becomes clear that this amorphous term in fact covers three broad cultures: one which is basically the culture of the state; another which is basically that of the individual; and then there is a ‘third culture’: It seems to me that each of these cultures stems from an act of celebration. We do not only celebrate good things in the popular sense of the term. We celebrate joy, sexual excitement and all forms of pleasure; but also as an individual or as member of a community through our cultures, we celebrate violence, despair, anxiety and destruction. The wish to make known, to show others, is always in a 45 1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens 82 Peter Brook: „The culture of links”. In: Patrice Pavis (Hg.): The intercultural performance reader. London/ New York: Routledge 1996, S. 63-66, hier S. 63-64. 83 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 13. sense a celebration. When a state genuinely celebrates, it celebrates because it has collectively something to affirm; as happened in ancient Egypt whose knowledge of a world order, in which the material and spiritual were united, could not be described or put easily into words, but could be affirmed by acts of cultural celebration. 82 Peter Brooks cultural celebration ist zu verstehen als eine Form von cultural performance, wobei die performative Verhaltensdifferenz durch Situation und Atmosphäre je nach Kontext (künstlerisch, zeremoniell, religiös, politisch oder einfach kulturell etc.) entsprechend hervorgehoben wird. Mit anderen Worten: Das kulturelle Zelebrieren (cultural celebration) ist eine jeweils kulturimma‐ nente und performative Hervorhebung. Sie geht in bestimmten Situationen mit kultureller Verhaltensdifferenz sowie mit dem Wunsch und der Absicht, anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen, darbzw. auszustellen, Hand in Hand. So findet dieses kulturelle Zelebrieren Ausdruck sowohl in der realen Lebenswelt als auch in der Kunst bzw. im Theater (im weitesten Sinn des Wortes). Aus ästhetischer Perspektive fungiert Theater bzw. Performance als ein spezifischer funktionaler Modus kulturellen Zelebrierens, der sich je nach der Form als Fiktion, Kunst und/ oder Nichtkunst zeigen kann. In diesem Zusammenhang sind die Spielarten des prädramatischen (in dieser Arbeit: voraristotelischen), dramatischen und postdramatischen Theaters als unter‐ schiedliche Funktionsmodi der Hervorhebung kultureller Verhaltensdifferenz zu fassen, die Fiktion und Realität oder eine Mischung sein können. Zudem ist „the wish to make known, to show others“ die conditio sine qua non der theatralen Spielformen in europäischen und außereuropäischen Kulturräumen. In diesem Sinn hat die europäische Theaterkultur über zwei Jahrhunderte eine cultural celebration auf der Basis des geschriebenen und dann werkanalog inszenierten Theatertextes durchgeführt: Die leitende Rolle des geschriebenen bzw. dramatischen Theatertextes lässt sich noch im revolutionären epischen Theater Bertolt Brechts beobachten - in einer epischen oder erzählerischen Form. Die darauffolgenden Theaterformen - wie z. B. das Parabeltheater, das absurde Theater und das Dokumentartheater - stehen gleichermaßen unter dem Primat des geschriebenen bzw. gesprochenen Textes. Dies ist in der Tat eine Art von cultural celebration des „im Laufe des 19. Jahrhunderts in europäischen Gesellschaften durchgesetzten und verfestigten Verständnis[ses] der eigenen Kultur […], das sich im Wesentlichen auf die überlieferten Texte bezog.“ 83 46 1.5. Theoretische Überlegungen 84 Arno Böhler: Vorwort. TheatReales Denken. In: Arno Böhler, Susanne Granzer (Hg.): Ereignis Denken. TheatReale - Performanz - Ereignis, a. a. O., S. 11-31, hier S. 12. 4) Performanz als Funktionsmodus körperzentrierter und ritueller Erfahrung bzw. ästhetischen Transformation: Hier wird davon ausgegangen, dass sich Körperlichkeit und Subjektivität nicht ausschließen, sondern in einem interde‐ pendenten Verhältnis zueinander stehen. Arno Böhler weist auf die Interdepen‐ denz von denkendem Subjekt und agierendem Körper hin: Die These, dass dem Akt des Denkens im konkreten Handlungsvollzug selbst ein theatrales Moment innewohnt, wurde philosophiegeschichtlich in dem Moment virulent, in dem die Philosophie selbst im Begriff war, anzuerkennen, dass handelnde Subjekte ihr eigenes Handeln selbst nicht völlig in der Hand haben. Weder Subjekte in Vollzug ihrer Handlungen von sich aus garantieren, dass die elementare Ausführung ihrer Handlung in der Tat gelingen wird, noch haben sie die weltweite Auswirkung derselben selbst in der Hand. Der Täter, so lautet Nietzsches theatrale Diagnose des Verhältnisses von Tun und Leiden, ist Geschehnissen großteils bloß hinzugedacht. Der Grund für diese Kluft zwischen der Intention einer Handlung und ihrer faktischen Performance liegt strukturell darin, dass ein Subjekt beim Tätigen einer Handlung auf elementare Bedingungen zurückgreifen muss, die es braucht, um seine Handlungen überhaupt realisieren zu können - über die es beim Handeln jedoch niemals gänzlich verfügen kann, weil es sie […] immer schon mit allen anderen weltweit teilt. Ein Denken, das sich die Aufgabe setzt, die theatrale Dimension des Handelns philoso‐ phisch freizulegen, steht folglich vor der Herausforderung, das prekäre Moment der Aushändigung des Subjekts an seine elementaren Vollzugbedingungen in Handlungs‐ vollzügen zu bedenken. Im Anklang an Merleau-Ponty können wir dieses äußerliche Element, auf das ein Subjekt im Vollzug seiner Subjektivität notwendigerweise angewiesen ist, um sein Tun in der Tat realisieren zu können, das Fleisch nennen, das es braucht, um sich im faktischen Gebrauch desselben selbst tatsächlich vollziehen zu können. 84 Diese wechselseitige Angewiesenheit von Körper und Subjekt im Vollzug des Denkprozesses und der faktischen Performance des Gedachten (im produktionsästhetischen Sinne) lässt sich umgekehrt in einer rezeptionsästhetischen Situation bei der Teilnahme an einer körperzentrierten und rituellen Performanz beobachten. Anders formuliert: Wenn Menschen an einer körperzentrierten und rituellen Performanz teilhaben, hat ein solcher performativer Akt Wirkungen auf diesen teilnehmenden Menschen als Körper und Subjekt. Mit Bezug auf Arnold van Gennep erkennt auch Victor Turner bei Übergangs‐ ritualen diese transformative Kraft und Erfahrung. Er legt den Akzent auf die 47 1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens 85 Victor Turner: „Liminality and Communitas”. In: Henry Bial (Hg.): The Performance Studies Reader, a. a. O., S. 89-97, hier S. 89. 86 Ebd., S. 95. Transformationen der inneren und soziokulturellen Werte eines Subjekts oder einer Gruppe von Subjekten in einer Gesellschaft nach einem performativen Übergangsritual. Dies geschieht vor allem nach der körperlichen Trennungs‐ phase (auch Schwellenphase, Isolationsphase oder Liminalität): This theme is in the first place represented by the nature and characteristics of what Arnold van Gennep (1909) has called the “liminal phase” of rites de passage. Van Gennep himself defined rites de passage as “rites” which accompany every change of place, state, social position and age. To point up the contrast between “state” and “tran‐ sition”, I employ “state” to include all his other terms. It is a more inclusive concept than “status” or “office”, and refers to any type of stable or recurrent condition that is culturally recognized. Van Gennep has shown that all rites of passage or “transition” are marked by three phases: separation, margin (or limen, signifying “threshold“ in Latin), and aggregation. The first phase (of separation) comprises symbolic behaviour signifying the detachment of the individual or group either from an earlier fixed point in the social structure, from a set of cultural conditions (a “state”), or from both. During the intervening “liminal” period, the characteristics of the ritual subject (the “passenger”) are ambiguous; he passes through a cultural realm that has few or none of the attributes of the past or coming state. In the third phase (reaggregation or reincorporation), the passage is consummated. The ritual subject, individual or corporate, is in a relatively stable state once more and, by virtue of this, has rights and obligations vis-à-vis others of clearly defined and “structural” type; he is expected to behave in accordance with certain customary norms and ethical standards binding on incumbents of social position in a system of such positions. 85 Es soll hier festgehalten werden, dass bei diesem performativen Übergangsritual das menschliche Wesen als Subjekt individuell oder kollektiv über seinen Körper die Liminalität erlebt und erfährt. Es ist eine nolens volens körperliche Liminalität, die eine transformative Kraft auf das Subjekt ausübt, das nach diesem körperzentrierten und rituellen performativen Akt sichtbare und/ oder spürbare Spuren der erfahrenen Transformation zeigt. Turner erklärt: „The neophyte in liminality must be a tabula rasa, a blank slate, on which is inscribed the knowledge and wisdom of the group.“ 86 Mit Turner wird betont, dass Performanz als Funktionsmodus körperzent‐ rierter und ritueller Erfahrung bzw. Transformation fungiert, wobei Körper und Subjekt interdependent zueinander stehen. Diese transformative Kraft des Performativen, das eine Transformation bewirkt, ist wiederum soziokulturellen 48 1.5. Theoretische Überlegungen 87 Milton Singer: The Great Tradition in a Metropolitan Center: Madras, a. a. O., S. 351. 88 Tasos Zembylas: Kunst oder Nichtkunst. Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung. Wien: WUV-Universitätsverlag 1997, S. 15. 89 Vgl. ebd. S. 23. und vor allem rituellen cultural celebrations immanent und wird in ästhetischen Ausdrucksformen formal oder symbolisch durchgeführt - wie noch im zweiten Kapitel dieser Arbeit am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters aufgezeigt wird. Singer sieht sogar Ähnlichkeiten zwischen performierten Riten und künstleri‐ schen/ ästhetischen Aufführungen in all ihren Ausdrucksformen: Looking at performances from this point of view, it soon becomes evident that rites or ceremonies performed as ritual obligations […] had many elements in common with the most secular cultural performances in the theatre, concert hall, radio programs and films and that these linkages revealed not only the outlines of a cultural structure but many indicators of trends and process of change in that structure. 87 An diesem Punkt wird ein Übergang zum Theater vollzogen. Theater wird in diesem Zusammenhang - wie bereits erwähnt - nicht nur als eine der Ausdrucksformen des kulturellen Zelebrierens gesehen, sondern auch als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus betrachtet. [Theater als Kunst] ist auch Medium für die Konstitution einer kulturellen, natio‐ nalen oder individuellen Identität. Die verschiedenen Erscheinungsorte und Erschei‐ nungsweisen des Kunstbegriffs deuten darauf hin, daß Kunst ein multifunktionales Phänomen in menschlichen Gesellschaften ist. Denn jedes Kunstwerk kann mehrere Funktionen einnehmen und mehrere Zwecke erfüllen. Es erfüllt Funktionen, weil es sich in einem System von kollektiven (ökonomischen, sozialen, politischen, kulturel‐ len) und individuellen Bedürfnissen befindet. 88 Kunst fungiert in dieser Arbeit als Oberbegriff für ein bestimmtes kulturelles Phänomen, in dem sich eine Kultur in Form der bereits angesprochenen cultural performance bzw. cultural celebration vorstellt. Mit Kunst meint z. B. Tasos Zembylas sowohl die Kunstproduktion als auch die Kunstvermittlung und die Rezeption, die ein kulturelles Phänomen sind und verschiedene Funktionen für das einzelne Individuum, für Personengruppen (Berufsgruppen, soziale Klassen) und Institutionen haben. 89 Um diese Auslegung besser nachvollziehen zu können, wird im Folgenden aus ästhetischer Perspektive der Kult- und Ausstellungswert von Kunst im Sinne Walter Benjamins erörtert. In diesem Zusammenhang wird der Akzent verstärkt auf das Theater verschoben. 49 1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens 90 Vgl. Berthold Seewald: „Der Ursprung der Kunst vor 35.000 Jahren“, WeltN24 GmbH, 23.06.2007, abrufbar unter https: / / www.welt.de/ kultur/ article966944/ Der-Ursprung-de r-Kunst-vor-35-000-Jahren.html - letzter Zugriff: 04.01.2017. 91 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Erste Fassung. In: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 431-469, hier S. 441. 1.5.2. Institution Kunst: vom Kultzum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens Etymologisch führen Kunst und Kultur nicht nur auf die gemeinsame lateinische Wurzel cultura zurück. Kulturbzw. kunstgeschichtlich gesehen, bedingen sie beide einander 90 und verweisen zudem ständig aufeinander. Wird - abge‐ sehen vom modernen Kunstverständnis - an den Ursprung von Kunst und Theater gedacht, so wird verständlich, wieso sich Menschen der frühen Antike beinahe gedrängt fühlten, ihre Welterfahrung in künstlerische Ausdrucksfor‐ men zu verwandeln. Der schöpferische Drang zum Kunstschaffen fand seinen Nährboden in magischen, rituellen oder religiösen Umständen - wie z. B. in voraristotelischen theatralen Kulturpraktiken, in deren Mittelpunkt rituelle Opferhandlungen sowie das reziproke Verhältnis zwischen Leben und Tod standen. Die Praxis voraristotelischer theatraler Rollendarstellungen zeichnete sich vor allem durch den Kultwert ihres kulturellen Zelebrierens aus. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hat Walter Benjamin 1936 den Begriff Kultwert geprägt, um die Einbettung von einem Kunstwerk in das Ritual zu bezeichnen. Benjamin geht von der These aus, dass die Rezeption von Kunst durch Fotografie und Film aufgrund der technischen Repro‐ duzierbarkeit in Massen einem Wandel unterzogen sind. Dieser Wandel ist zugleich mit der Veränderung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst einhergegangen. Es ist nicht nur um eine Veränderung sowie um eine Akzentverschiebung der funktionellen Rolle der Kunst im gesamten Kulturgefüge gegangen, sondern auch um die Vergeistigung und Verdrängung blutiger Ritualvorgänge. Die ursprüngliche Rolle der Kunst lässt sich aber durch ihren untrennbaren Zusammenhang mit dem Ritual erschließen: „Die ursprünglichste Art der Ein‐ bettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen.“ 91 Diese Ritualfunk‐ tion verleiht der Kunst bzw. dem Kunstwerk ein besonderes Qualitätsmerkmal, das Benjamin als Aura bezeichnet. Die Aura ist die „Einzigkeit des Kunstwerks“ und bürgt für die Tatsache, dass seine Daseinsweise „identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ ist und „niemals durchaus 50 1.5. Theoretische Überlegungen 92 Ebd. 93 Ebd., S. 440. 94 Ebd., S. 437. 95 Ebd., S. 441. 96 Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag 2012, S. 7-115, hier S. 25-26. von seiner Ritualfunktion“ 92 getrennt werden kann. Für Benjamin ist die Aura „ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ 93 Der Kultwert und das Auratische sichern „das Hier und Jetzt des Originals“, 94 das den einzigartigen „Wert des ‚echten‘ Kunstwerks […] immer theologisch fundiert.“ 95 Diese Merkmale, die im Sinne Benjamins den Kultwert eines Kunstwerkes ausmachen, lassen sich auch auf ästhetische per‐ formative Theaterereignisse am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters übertra‐ gen, welches das Dasein als Ganzes über die kultische bzw. mystische Dimension von Kunst rechtfertigen soll. Der Kultwert setzt somit etwas Spirituelles bzw. Transzendentales voraus, das wiederum auf die philosophische Daseinsfrage des Menschen in der Lebenswelt zurückführt. Es geht bei kultischen performativen Vorgängen um eine spirituelle und seelische Transformation des Menschen, die unter anderem über eine ästhetische Erfahrung zu erlangen ist. Diesbezüglich liefert Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik einige Auslegungen, welche die funktionelle Leistung der Tragödie und der tragischen Erfahrung mit rituellen Zügen veranschaulichen: Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: Um überhaupt leben zu können, musste er vor sich hin die glänzende Traumgeburt des Olympischen stellen […]. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter aus tiefster Notwendigkeit schaffen […]. Wie anderes hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. 96 Der Aufführungscharakter der Tragödie ermöglicht dem Menschen die Empfin‐ dung von Schrecken und Entsetzlichkeiten, die ihn wiederum befähigen, die Probleme des Daseins ästhetisch zu bewältigen. Nietzsche legt den Akzent auf den Kultwert, der über Opferrituale, Übermaß, Rausch, Erlebnis der Ekstase und über die Überwindung des „principium individuationis“ (des Apollinischen, auf dem auch die Entwicklungsbasis des aristotelischen Theaters ruhen soll) entsteht. Benjamin bemängelt den Verlust dieses Kultwertes bzw. der auratischen Da‐ seinsweise am Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 51 1.5.2. Institution Kunst: vom Kultzum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens 97 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar‐ keit“ , a. a. O., S. 441. 98 Ebd., S. 442. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 443. 101 Vgl. ebd., S. 443-444. Der Ausstellungswert ist eine ästhetische Kategorie, die eine Konzeptualisie‐ rung von Kunst als abgehoben von ihrer rituellen Fundierung sowie von der Lebenspraxis definiert und durchführt. Das ist für Benjamin mit dem Verfall der Aura verbunden; er hat den Begriff Ausstellungswert geprägt, um den Funktionswandel der Kunstproduktion zu beschreiben. Dieser Funktionswandel geht mit der Reaktion der Kunst auf das „Aufkommen des ersten wahrhaft revolutionären Reproduktionsmittels - der Photographie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) -“ einher. Eben auf diese Situation antwortet die Kunst „mit der Lehre von l’art pour l’art“, aus der die „Idee einer reinen Kunst“ hervorgegangen ist, „die nicht nur jede soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt.“ 97 Diese Erkenntnis führt somit zu einer entscheidenden Konzeptualisierung und Be‐ trachtungsweise, die „zum ersten Mal in der Weltgeschichte“ die Emanzipation des Kunstwerks „von seinem parasitären Dasein am Ritual“ 98 bewirkt haben soll. Bekräftigend spricht Benjamin auch von der Umwälzung der sozialen Funktion der Kunst, sodass „an die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual […] ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten“ ist: „nämlich ihre Fundierung auf Politik.“ 99 Für Benjamin besteht deshalb die Möglichkeit, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. 100 Während der Kultwert das Kunstwerk hauptsächlich im Verborgenen hält, womit es ausschließlich bestimmten Personen (z. B. Priestern etc.) zugänglich ist, ermöglicht nun der Ausstellungswert dank der technischen Reproduzier‐ barkeit die massenhafte Reproduktion, Ausstellung und Rezeption von Kunst‐ werken. 101 Damit wird die Betrachtung eines Kunstwerks allen zugänglich, die aus rein subjektiver Zweckmäßigkeit im Sinne von Immanuel Kant an Kunst teilhaben. Lange vor Benjamin hat Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Urteil ausschließlich auf das wahrnehmende Subjekt fokussiert. Demnach ist das ästhetische Urteil stark subjektabhängig und findet ausschließ‐ lich in der subjektiven Einbildungskraft statt. In diesem Sinn ist das Subjekt 52 1.5. Theoretische Überlegungen 102 Immanuel Kant: „Kritik der Urteilskraft“. In: Immanuel Kant: Die drei Kritiken. Kritik der reinen Vernunft (1781/ 87); Kritik der praktischen Vernunft (1788); Kritik der Urteilskraft (1790). Köln: Anaconda Verlag 2015, S. 907-1311, hier S. 945-946. als eine autonome Instanz zu verstehen, die aufgrund eigener Kriterien einen subjektiven und autonomen Blick auf ein Kunstwerk wirft. Dabei spielt die eigentliche Funktion des Kunstwerks keine Rolle, da es aus rein formalen bzw. ästhetischen Gründen dem autonomen Subjekt als Projektionsfläche für sein subjektives und „subjektzentriertes“ Geschmacksurteil dient. Der Ausstellungs‐ wert eines Kunstwerks gewinnt in diesem Zusammenhang immer mehr an Bedeutung - jedoch nicht aufgrund der sozialen und rituellen Funktion des Kunstwerks, sondern wegen der ansteigenden Anzahl an autonomen Betrach‐ ter_innen (Subjekten) der Kunstwerke. Da bei Kant das autonome Subjekt und sein Geschmacksurteil zentral sind, verschwindet die gesellschaftliche Funktion des Kunstwerks als Objekt zugunsten des reinen ästhetischen Urteils bzw. der reflektierenden Urteilskraft: Dasjenige Subjective aber an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust; denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung, obgleich sie wohl die Wirkung irgend einer Erkenntnis sein kann. Nun ist die Zweckmäßigkeit eines Dinges, sofern sie in der Wahrnehmung vorgestellt wird, auch keine Beschaffenheit des Objects selbst (denn eine solche kann nicht wahrgenommen werden), ob sie gleich aus einem Erkenntnisse der Dinge gefolgert werden kann. 102 Damit wird deutlich, dass die Ästhetik bei Kant das Schöne nicht in den Kunst‐ werken findet, sondern in den betrachtenden Subjekten. Da es dem Subjekt im Sinne Kants bei der Betrachtung eines Kunstwerks a priori nicht um Erkenntnis geht, ist sein ästhetisches Urteil oder Geschmacksurteil ohne Interesse. Folglich geht die ästhetische Urteilskraft verloren, wenn sie nicht mehr auf das autonome Subjekt, sondern mit Interesse auf ein Objekt gerichtet ist. Erst wenn das autonome Subjekt aus subjektiver Perspektive das Kunstwerk in einer Art von freiem Spiel betrachtet, kann sich das Geschmacksurteil entfalten. Mit Kants Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft werden die gesellschaft‐ lichen Implikationen von Kunstwerken ausgeblendet: Es geht dem Philosophen nicht primär um Objekte oder Kunstwerke, sondern um die Einbildungskraft des autonomen und reflektierenden Subjekts ohne objektivierbares Interesse. Dennoch haben diese ästhetischen Bestimmungen stark dazu beigetragen, die Autonomie von Kunst und den Ausstellungswert von Kunstwerken herauszu‐ bilden. Die autonome ästhetische Urteilskraft, die Autonomie von Kunst und der Ausstellungswert von Kunstwerken bilden somit die Grundlage, um Kunst vom 53 1.5.2. Institution Kunst: vom Kultzum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens 103 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Vorlage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1974, S. 31-32. 104 Vgl. ebd., S. 16-17. 105 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der Theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, Kap. 3, S. 97-121. Ritual und von der Lebenspraxis zu trennen. Peter Bürger stellt diesbezüglich fest: […] Autonome Kunst etabliert sich erst in dem Masse, als, mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische und das politische System vom kulturellen abgekoppelt werden und die traditionalistischen, durch die Basisideologie des gerechten Tausches unterwanderten Weltbilder die Künste aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen […]. Es ist darauf zu insistieren, dass Autonomie hier den Funktionsmodus des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst bezeichnet: dessen (relative) Selbständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen. 103 Damit gewinnt außerdem das kulturelle Zelebrieren einen neuen Funktionsmo‐ dus, der die Kunst in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als eine von der Lebenspraxis abgehobene Tätigkeit umsetzt. 104 Die Institution des klassischen Theaters ist beispielsweise das Produkt eines solchen von der Lebenspraxis abgehobenen Kunstbzw. Theaterverständnisses. 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik Aus der Betrachtungsweise der bereits erörterten cultural performance bzw. cultural celebration steht fest, dass Theater zugleich Reflexion über Kultur ist. Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass Kultur auch einen institutionellen Charakter aufweist, wobei ihre konventionell normativen und performativen Konstruktzüge beobachtbar werden. Kultur mit einer Institution gleichzusetzen, ist insofern nachvollziehbar, weil sie wie eine Institution ein Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationszielen sowie Interpretationsmustern bereitstellt, die habitualisiert 105 werden. Kultur als Insti‐ tution zu lesen, soll die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass zu allen Epochen der Kultur ein zeiträumlich entsprechendes Bündel von Regeln sowie Verhal‐ tens-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsnormen implizit zugrunde liegt. Diese kulturelle Normierung, die einen institutionellen Charakter aufweist, führt auch das Theater vor Augen. Hier steht Theater für ein Medium, das in unterschiedlicher Ausprägung diesen institutionellen Charakter von Kultur 54 1.5. Theoretische Überlegungen bestätigt. So lassen sich verschiedene Kulturauffassungen an vielen Kunstbzw. Theaterformen als kulturgeschichtliche Zeugnisse und Faktoren ablesen. Denn die verschiedenen Sparten von Kunst (Theater, literarische Werke, Kunstwerke, Musik etc.) erfüllen nicht nur Unterhaltungs- und Bildungsfunktionen. Sie sind zudem kulturelle Vermittler, die in einem dafür vorgesehenen institutio‐ nellen Rahmen (wie z. B. in Museen, Galerien, Theaterhäusern, Opernhäusern, Universitäten, Schulen etc.) gesellschaftliche sowie kulturelle Wertsetzungen, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster kommunizieren und konsolidieren. Während sich der Begriff Institution (in der klassischen Moderne) auf institutionelle und künstlerische Einrichtungen wie Museen, Galerien etc. bezieht, erweitert die US-amerikanische Performerin Andrea Fraser den Insti‐ tutionsbegriff auf Museen- und Galeriendirektor_innen, Kunstsammler_innen, Künstler_innen. Damit bringt Fraser vor allem Individuen bzw. Subjekte als institutionalisierte Kulturträger_innen ans Licht, die entweder als Verantwort‐ liche, als Vertreter_innen oder als Akteure_innen an der Gestaltung und der Aufrechterhaltung der Institutionen arbeiten. Ab diesem Punkt wird erstens auf die Begriffsbestimmung der Institution und die Institutionskritik eingegangen, um sie dann auf Kultur und die Institution Theater zu übertragen. Zweitens wird die Institutionskritik im Sinne von Fraser veranschaulicht. Drittens wird konkret die Institution Theater im klassischen Sinn als Widerspiegelung eines entsprechenden kulturellen Tatbestands erör‐ tert. Hier handelt es sich um die Institution des dramatischen bzw. klassischen Theaters, das ein enges bzw. textzentriertes Theaterverständnis vertritt. An‐ schließend werden einige künstlerische Verfahren und Ausdrucksmittel der Institionskritik behandelt. Nitschs und Schlingensiefs Theaterentwürfe stehen diesbezüglich als Beispiele. Deshalb werden im zweiten Teil die Entstehungs‐ kontexte dieser beiden Theateraktionen, ihre soziokulturellen und politischen Hintergründe hervorgehoben, um die funktionelle Dimension von Theater im kulturellen Gefüge herauszuarbeiten. 1.5.3.1. Kultur als Institution am Beispiel der Institution Kunst/ Theater In dieser Arbeit bezieht sich der Institutionsbegriff vor allem auf eine Lesart, die den Funktionsmodus von Kunst als den einer Institution versteht. Dieser Funktionsmodus der Institution Kunst, die auch Theater als eine kulturelle Aus‐ drucksform einschließt, ist ein Beispiel einer institutionellen Form von Kultur. Die Institution Kunst legt also ästhetische Werte als Verhaltensnormen fest, die 55 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 106 Vgl. Tasos Zembylas: Kunst oder Nichtkunst. Über Bedingungen und Instanzen ästheti‐ scher Beurteilung, a. a. O., S. 20. 107 Vgl. ebd., S. 15. 108 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Vorlage, a. a. O., S. 29. 109 Vgl. ebd., S. 15. sowohl an die Künstler_innen als auch an die Betrachter_innen gerichtet sind. 106 Zur Verdeutlichung: Es geht diesbezüglich um gesellschaftliche sowie kulturelle Wertsetzungen, mit denen Teilhabende an den jeweiligen Kulturgefügen über Kunstwerke ihre kulturellen Identitäten erkennen und entsprechend beachten und/ oder hinterfragen. Für Zembylas wären z. B. auch verschiedene soziale, politische und ökonomische Instanzen daran interessiert, Einfluss auf die Produktion und Rezeption von ästhetischen Symbolen bzw. von Kunstwerken zu nehmen. 107 Deshalb kann Peter Bürger zugestimmt werden, wenn er sagt, dass der Begriff Institution Kunst den kunstproduzierenden und kunstdistribuieren‐ den Apparat sowie die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellung über Kunst einschließt. 108 Außerdem stellt die Institution Kunst die Rahmenbe‐ dingungen bereit, innerhalb derer die Einzelwerke produziert und rezipiert werden 109 sollen - wenn nicht: müssen. So kommt der verinnerlichten Kultur und den habitualisierten kulturellen Wertsetzungen eine gewichtige Aufgabe zu: Sie ermöglichen dem Menschen, dem kulturellen Subjekt, anhand seiner kulturellen Semantik an der Produktion oder Rezeption des künstlerischen Schaffens konventionell oder institutionskritisch teilzuhaben. 1.5.3.2. Künstlerische Institutionskritik Obgleich mittlerweilie Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “, wie viele andere Theaterformen dieser Art, zum größten Teil institutionalisiert worden sind, haben sie vor geraumer Zeit für Irritation in mancherlei Hinsicht gesorgt - und sorgen dafür vielleicht heute noch. Die Theater- und Literaturwissenschaften und nicht zuletzt die Institution Theater erproben bzw. erfinden alternative Methoden, um diesen Theaterformen wissenschaftlich und institutionell gerecht zu werden. Als Praxis und Strategie institutionskritischer Theateraktionen sind sie ein dynamisches und herausforderndes Spannungsfeld, in dem experimentelle sowie innovative Theaterpraxen ständig erprobt und die etablierten institutionellen Rahmenbe‐ dingungen institutionskritisch überfordert werden. Rückblickend begann die erste Welle der Institutionskritik Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre. Sie konnte von der Kunstgeschichte anerkannt 56 1.5. Theoretische Überlegungen 110 Vgl. Simon Sheikh: „Notizen zur Institutionskritik“. In: eipcp (europäisches institut für progressive kulturpolitik), http: / / eipcp.net/ transversal/ 0106/ sheikh/ de - letzter Zugriff: 05.03.2015. 111 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Vorlage, a. a. O., S. 35. 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. Andrea Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“. In: Artforum, September 2005, XLIV, No. 1, S. 278-283, hier S. 280. 114 Isabelle Graw: „Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art“. In: Texte zur Kunst, 15. Jg., Heft 59, September 2005, S. 41-53, hier S. 41. werden und ist heute Teil der Kunstgeschichte. Die kritische Methode der Institutionskritik fokussierte sich damals auf eine besondere künstlerische Praxis, die sich kritisch mit Kunstinstitutionen wie Museen und Galerien aus‐ einandersetzte. Institutionskritik nahm auf diese Weise verschiedene Formen an - etwa Kunstwerke und Interventionen, kritische Schriften oder (kunst-)po‐ litische Aktivismen. Die zweite Welle begann in den 1980ern und erlebte die bereits angesprochene Erweiterung des institutionellen Rahmens, um die Rolle des Künstlers oder der Künstlerin sowie der Kurator_innen, Kritiker_innen, Sammler_innen als institutionalisierte ebenso mit einzuschließen. 110 Mit der Institutionskritik wird „die Abgehobenheit von der Lebenspraxis, die immer schon den institutionellen Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht hat, nun zum Gehalt der Werke.“ 111 Das Verdienst der historischen Avantgardebewegung besteht eben darin, dass sie die Selbstkritik der Kunst sowie die Enthüllung der gesellschaftlichen Folgenlosigkeit als Wesen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht hat. 112 So steht die Institutionskritik, die sich sowohl auf eine Methode als auch auf ein soziokul‐ turelles Objekt bezieht, für eine Hinterfragung der Rahmenbedingungen von Kunstproduktion und -rezeption. Dabei kommt der Methode eine besondere künstlerische Praxis zu, welche die Institution Kunst - wie Galerien, Kunst‐ museen, Theaterhäuser etc. - als Objekt der kritischen Auseinandersetzung im Visier hat. Unter Institutionskritik werden also unterschiedliche, dezidiert künstlerische Arbeiten bezeichnet, die sich selbstkritisch bzw. selbstreflexiv mit der kulturellen Institution Kunst befassen. Auch die sich in der Institution Kunst überlappenden sozialen, ökonomischen sowie politischen Faktoren bzw. Machtverhältnisse werden dabei hinterfragt. Fraser betont aber, dass die Praxis der Institutionskritik im Allgemeinen von ihrem inhärenten Objekt „der Institution“ definiert werde, das sich wiederum auf die etablierten und organisierten Orte für die Ausstellung von Kunst be‐ ziehe. 113 Es besteht deshalb eine Definitionsproblematik der Bezeichnung Insti‐ tutionskritik, in der „sich deskriptive und normative Kategorien vermischen.“ 114 Die Methode der Kritik, die dem Begriff der Institutionskritik innewohnt, 57 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 115 Vgl. Andrea Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, a. a. O., S. 280. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. ebd., S. 281. 119 Vgl. Ruth Benedict: Urformen der Kultur. Hamburg: Rowohlt 1955, S. 193. 120 Andrea Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, a. a. O., S. 281. scheint also weniger spezifisch als das Objekt der Institution zu sein: Zum einen schwankt sie zwischen einer eher schüchternen „Darstellung“, „Reflexion“ oder „Enthüllung“, zum anderen führt sie eine Vision vom revolutionären Umsturz der bestehenden Museumsordnung 115 an. Für Fraser ist aber die Idee, dass Institutionskritik Kunst gegen die Institution halte oder dass radikale künstlerische Praxen vor ihrer Institutionalisierung außerhalb der Institution Kunst bestünden, in Abrede zu stellen; für sie sei die Kritik an der Institution Kunst von der Kritik an der künstlerischen Praxis selbst untrennbar. 116 Das bedeutet, dass der gesamte Apparat der Institution Kunst einerseits und die künstlerischen Arbeiten sowie die Künstler_innen andererseits nicht als trenn‐ bare Kategorien bestehen. Sie stehen vielmehr in einem interdependenten und untrennbaren Verhältnis zueinander. 117 Diesbezüglich führt Fraser an, dass die explizite Rolle der Künstler_innen in der Institution Kunst 1974 von Haacke zum Ausdruck gebracht wurde. Haacke schrieb, so zitiert ihn Fraser, dass sowohl Künstler_innen als auch Unterstützer_innen und ihre Gegner_innen ahnungs‐ lose Partner_innen seien. Sie nehmen gemeinsam an der Aufrechterhaltung und/ oder Entwicklung der ideologischen Konstruktion ihrer Gesellschaft teil. 118 Denn jede Positionierung findet innerhalb der Gesellschaft - also der Kultur - statt. So wie die Institution Kunst ohne die Rolle der Künstler_innen und ohne ihre Werke undenkbar wäre, wäre auch die Kultur in diesem Sinne ohne die kul‐ turellen Schöpfer und Träger nicht vorstellbar. Ruth Benedict hat bereits darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft tatsächlich niemals eine von den Individuen, aus denen sie sich zusammensetze, trennbare Einheit sei: zum einen könne kein Individuum ohne Kultur seine Fähigkeiten zur Geltung bringen, zum anderen verfüge eine Kultur über Elemente, die bei genauer Untersuchung Beiträge eines jeden einzelnen Menschen seien. 119 So lässt sich jenseits der umfassenden Liste der Räume, Orte, Menschen und Objekte die Begriffsbestimmung von Institution am besten als Netzwerk sozialer und ökonomischer Beziehungen erschließen. 120 In diesem Zusammenhang hat sich das sachliche Verständnis von Institution oder die Institution von spezifischen Räumen, Organisationen und Individuen zu einer Konzeption ihres Sozialfeldes hinbewegt. Die Erweiterung des institutionellen Verständnisses hat zur Folge, dass das Wesen der Institution 58 1.5. Theoretische Überlegungen 121 Ebd. 122 Ebd., S. 278. 123 Julia Bryan-Wilson: „A Curriculum for Institutional Critique, or the Professionalization of Conceptual Art“. In: Jonas Ekeberg, Ute Meta Bauer: New Institutionalism. Office of Contemporary Art Norway, Oslo, Berlin: Peter Cripps 2003, S. 89-109, hier S. 91. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Andrea Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, a. a. O., S. 281. alles und jeden einschließt: Museen, Galerien, Kunstmarkt, Künstler_innen, Ku‐ rator_innen, Sammler_innen, Betrachter_innen, Käufer_innen, Kritiker_innen, Kunsthistoriker_innen, Ateliers, Schauspieler_innen, Kultur, Politik, Ökonomie, Wissenschaftler_innen etc. Deshalb ist für Fraser die Beantwortung der Frage, was innerhalb und was außerhalb ist, umso komplexer geworden. „It's not a question of inside or outside. […] It's not a question of being against the institution: We are the institution.” 121 Dies scheint die Herausforderung in der Begriffsbestimmung und der Praxis der Institutionskritik zu sein, weil selbst diese Kritik bereits vereinnahmt worden ist. 1.5.3.3. Künstlerische Institutionskritik institutionalisiert Fraser bemerkt, dass die Praxis, die mit der Institutionskritik assoziiert werde, bereits institutionalisiert worden sei. 122 Julia Bryan-Wilson ist der Meinung, dass die Sprache der Institutionskritik erst von den Künstler_innen erfunden und dann von Kritiker_innen übernommen wurde; letztendlich wird diese Sprache in einer Bewegung der Kooptierung von der Institution selbst heuchlerisch gesprochen. 123 Für Bryan-Wilson entwickelt sich die Syntax dieser institutionskritischen Sprache in multiple Richtungen weiter - innerhalb eines komplexen Identifikationsnetzes, da Künstler_in, Kritiker_in und Kurator_in keine distinkten Positionen sind. 124 Sie betont deshalb, dass Künstler_innen öfters der Führung des innovativen akademi‐ schen Schreibens folgen. Sie setzt fort, dass das Museum z. B. nicht nur Endziel einer interpretativen Kette sei, sondern auch ein produktives, Druck ausübendes sowie ein Förderungsgelegenheiten leistendes System sei, auf das die Künstler_innen antworten. 125 Dies gilt für die Institution Kunst im Allgemeinen. Sich an Duchamps „Readymade“ und Ashers „Installation Münster (Caravan)“ anlehnend, geht Fraser davon aus, dass Kunst nicht deswegen Kunst sei, weil sie von einem Künstler oder einer Künstlerin unterschrieben oder in einem Museum oder in anderen institutio‐ nellen Räumen ausgestellt worden sei. Kunst sei erst Kunst, wenn sie für Diskurse und Praktiken existiere, die sie als Kunst anerkennen, sie als Kunst schätzen und beurteilen, sie als Kunst konsumieren - ob als Objekt, Geste, Repräsentation oder als bloße Idee. 126 Diese Tatsache impliziert, dass die Institution Kunst nicht nur 59 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 127 Ebd. 128 Simon Sheikh: „Notizen zur Institutionskritik“, a. a. O. 129 Andrea Fraser: „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, a. a. O., S. 281. in Organisationen wie Museen institutionalisiert und in Kunstwerken materiali‐ siert, sondern auch von Menschen internalisiert und verkörpert wird. Für Fraser ermöglicht die Institution Kunst - in Form von Kompetenzen sowie konzeptuellen Modellen und Rezeptionsweisen - Künstler_innen, Kritiker_innen, Kurator_innen, Kunsthistoriker_innen, Sammler_innen oder Museumsbesucher_innen und Aka‐ demiker_innen, Kunst zu produzieren, über Kunst zu schreiben, Kunst zu verstehen oder einfach Kunst zu erkennen. Fraser betont, dass diese Kompetenzen und Dispositionen unsere eigene Institutionalisierung als Mitglieder der Kunstszene determinieren. 127 Das impliziert die Kooptierung aller Akteur_innen, die sich in irgendeiner Form mit Kunst umgeben oder befassen. In diesem Zusammenhang schreibt Simon Sheikh: „Institutionskritik als kooptierte wäre wie ein Bakterium, das den Patienten - die Institution - zeitweilig geschwächt haben mag, aber nur um das Immunsystem dieses Patienten auf lange Sicht zu stärken.“ 128 In diesem Sinne behauptet Fraser: „It's a question of what kind of institution we are, what kind of values we institutionalize, what forms of practice we reward, and what kinds of rewards we aspire to.” 129 An diesem Punkt kann Frasers Aussage auf Nitsch und Schlingensief übertragen werden, die in ihren jeweiligen Theateraktionen institutionskritisch vorgehen. Welche Art von Institution bzw. Institution Theater vertreten die beiden Künstler? Bevor auf diese Frage im zweiten Teil in Hinblick auf ihre jeweiligen Theateransätze geantwortet wird, wird im Folgenden zunächst auf Happenings, Performance-, Aktions- und Installationskünste sowie auf Fluxus als institutionskritische Kunstausdrucksformen eingegangen, auf die Nitsch und Schlingensief radikalisierend zurückgreifen. 1.5.3.4. Institutionskritische Ausdrucksformen von Kunst Happenings, Performance-, Aktions- und Installationskünste sowie Fluxus sind beliebte Praxen und Strategien jener Künstler_innen, die institutionskritisch vorgehen. 1.5.3.4.1. Performancekunst Performance oder Performancekunst ist die Bezeichnung für eine praktische Durchführung künstlerischer Aufführung oder Darstellung mit einer überwie‐ genden Einbeziehung des menschlichen Körpers - sei es der eigene Körper des Künstlers oder der Künstlerin oder noch der anderer Teilnehmer_innen. Seit den 1950er- und 1960er-Jahren ist das Bewusstsein zunehmend stärker 60 1.5. Theoretische Überlegungen 130 Michael Lüthy: „Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst“. In: Martin Vöhler, Dirck Linck: Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2009, S. 199-230, hier S. 203. 131 Ebd. 132 Vgl. ebd. geworden, dass die Performance der Durchführung allen soziokulturellen sowie künstlerischen Aktivitäten inhärent ist, die mit Body Art, Fluxus, Happening, Ak‐ tionismus, Theateraufführungen etc. assoziiert werden. Als künstlerische Praxis ist sie zum größten Teil eine institutionskritische Ausdrucksform, die versucht, etablierte Institutions- und Gattungsgrenzen des klassischen Kunstverständnisses zu überschreiten. Die Performance ist aber „nicht das Andere der modernen Kunst, sondern mit dieser auf vielfältige Weise verbunden, sei es durch die Radikalisierung von avantgardistischen Ansätzen des 19. und 20. Jahrhunderts, sei es durch die absichtsvolle Negierung der bisherigen Grundlagen künstlerischen Selbstverständnisses.“ 130 Eine Wirkung der Performance kann ausschließlich in‐ nerhalb der bestehenden autonomisierten Institution Kunst erfolgen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts wegen des kulturellen und politischen Willens der bürgerli‐ chen Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht hat. Inmitten der autonomisierten Institution Kunst machen Formen der Performancekünste darauf aufmerksam, dass die Kategorie der Autonomie als „eine andere Form repressiver Normie‐ rung zu begreifen war: als Sanktionierung künstlerischer Freiheit unter der Bedingung, dass die Kunst den ihr zugestandenen Bereich nicht überschreite.“ 131 Als Reaktion darauf duldet die Institution Kunst nach und nach die von der Performance in ihre Domäne Kunst übertragenen banalen Alltagshandlungen sowie Alltagsgegenstände (Duchamp Urinoir). Dadurch wird die Institution Kunst nicht aufgelöst, vielmehr werden die Semantik, die Syntax sowie die Pragmatik der Alltagshandlungen und Alltagsgegenstände grundlegend gewandelt. 132 Die schwerfallende Distinktion zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Handlungen sowie Objekten prägt daher die Formen der Performancekunst. Diese Prägung lässt sich mit feinen Unterschieden bei anderen künstlerischen Praktiken beobachten, die im Rahmen dieser Arbeit als institutionskritische Praxen und Strategien aufzufassen sind: Fluxus, Happening, Installations- und Aktionskunst. 1.5.3.4.2. Fluxus Fluxus ist eine Kunstbewegung, die sich schwer bestimmen lässt. Die künstlerische Vorgehensweise von Fluxus hat aber sehr viel mit dem etablierten Produktionssowie Rezeptionsapparat von Kunst im Allgemeinen zu tun. Im Kontext dieser Arbeit ist Fluxus als eine institutionskritische Kunstbewegung zu verstehen. 61 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 133 Vgl. Louwrien Wijers: „Fluxus Yesterday and Tomorrow. An Artist's Impression“. In: Johan Pijnappel (ed.): Fluxus Today and Yesterday. Art & Design Profile, No. 28 (special issue), London: Academy Editions 1993, S. 7-13, hier S. 9. 134 Vgl. Dick Higgins: „In a Minesweeper Around the World. Some Remarks on Fluxus“ In: Johan Pijnappel (Hg.): Fluxus Today and Yesterday. Art & Design Profile, No. 28 (special issue), London: Academy Editions 1993, S. 31-35. Der vom lateinischen Verb fluere abgeleitete Name Fluxus vermittelt die Be‐ deutung der Verben fließen, strömen, rinnen etc. Fluxus ist eine Künstlergruppe, die sich 1961 durch das Auftreten George Maciunas’ gruppierte und gegen die Verschwendung von materiellen und humanen Ressourcen vorgeht. Als institutionskritische Praxis und Methode weist Fluxus im Sinne von Maciunas soziale Ziele und antiprofessionelle Züge auf. 133 Die Ursprünge von Fluxus gehen aber auf John Cages Klasse an der New School for Social Research zurück: Von 1956 bis 1960 nahmen unter anderem Al Hansen, Jackson MacLow, George Brecht, Allan Kaprow und Dick Higgins an wöchentlichen experimentellen Kunst- und Musikkursen unter der Leitung von Cage teil. Neben anderen Materialien wie Münzen, Kämmen etc. stand das Klavier als einziges wirkliches Musikinstrument im Zentrum der künstlerischen Aktivitäten. Cages Klasse hat zu einer künstlerischen Praxis beigetragen, die das Wesen der Institution Kunst im Allgemeinen kritisch erkundet. George Maciunas stellte aber den Künstler_innen die Galerie, die er in New York betrieb, zur Verfügung. Auf seine Anregung hin sammelten Künstler_innen Material für eine unter dem Namen Fluxus zu veröffentlichende Anthologie. Allerdings emigrierte Maciunas mit dem gesammelten Material nach Europa. Kurz vor der Veröffentlichung des Fluxus-Magazins 1962 organisierte Maciunas im Museum von Wiesbaden das Festival Fluxus. Internationale Festspiele Neuester Musik. Entscheidende Unterstützung bekam Maciunas dabei von den Künstlern Dick Higgins und Alison Knowles. So fanden diese Festspiele vom 1. bis zum 23. September 1962 im Museum Wiesbaden statt. Sie gelten als die Geburtsstunde der Fluxus-Bewegung. Es ist festzuhalten, dass Fluxus aus John Cages Kompositionsphilosophie in New York ausgegangen ist, um dann erstmalig in Wiesbaden an die Öffentlichkeit zu gelangen. Das Klavier, das weiterhin als Statussymbol der Bourgeoisie galt, wurde von einer Gruppe junger Komponisten mit Hammer, Sägen und Brecheisen zerstört. Auch Konzertflügel wurden zerstört und Abendroben besudelt. Der Akt der Zerstörung und der Besudelung dieser Elemente drückte die kritische Haltung bzw. die Kritik der Künstler_innen an den damaligen Lebenskonzepten der bestehenden Bourgeoisie aus. 134 Die Aktionen von Fluxus sind somit institutionskritischer Natur. Vor allem sorgten sie für heftige Reak‐ 62 1.5. Theoretische Überlegungen 135 Vgl. Elisabeth Jappe: Performance, Ritual, Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa. München/ New York: Prestel Verlag 1993, S. 20. 136 Vgl. Astrid Schmidt-Burkhardt: Maciunas’ Learning Machines. From Art History to a Chronology of Fluxus. With a chart poem by Jon Hendricks. Detroit: Vice Versa Verlag. The Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection Foundation 2003, S. 8-10. 137 Vgl. Hannah Higgins: Fluxus Experience. Berkeley: University of California Press 2002, S. 33-37. 138 Vgl. Michael Kirby: „Happenings. An Introduction“. In: Mariellen Sanford (Hg.): Happe‐ nings and other Acts. New York: Routledge 1995, S. 1-24, hier S. 9-10. tionen und irritierten umso mehr, wenn sie in einem institutionellen Rahmen wie in einem Konzertraum stattfanden, in dem dann der geachtete Flügel zerstört oder die schöne Abendrobe mit Tinte bespritzt wurde. Dabei zeigten die Künstler_innen kein aggressives Verhalten, sondern traten eher clownesk auf. 135 Eine Fluxus-Veranstaltung lässt sich nicht auf ein Medium beschränken: Diese gleicht eher einem Treffpunkt und einer Mischform von Performance, Musik, Tanz, Literatur etc., sodass der Begriff Intermedialität am besten passen würde, um die künstlerische Praxis von Fluxus zu beschreiben. Außerdem stehen Events und Luxuskits für die beiden Stränge von Fluxus, 136 welche menschliche Sinneswahrnehmungen stark hervorrufen. Das Fluxkit bezeichnet eine mit Alltagsgegenständen gefüllte Box. Dabei geht es um die sinnliche Erfahrung aller menschlichen Sinneswahrnehmungen, die über das Fluxkit zwangsläufig ungefiltert erfolgen müssen. 137 Eine übliche Event-Aufführung hat viele Affinitäten zum Fluxkit: Sie besteht aus normalen alltäglichen Handlungen und gründet auf allen sinnlichen Wahrnehmungen, wie noch bei Schlingensief und Nitsch zu sehen sein wird. 1.5.3.4.3. Happening In seinem Artikel Happenings. An Introduction befasst sich Michael Kirby mit der Entwicklungsgeschichte dieser Kunstform. In seinem Sinne ist Happening wie eine Theaterform, die mit der Malerei und der Plastik verwandt ist. Visuelle, auditive, olfaktorische und andere nonverbale Elemente sind überwiegende Kom‐ munikationswege im Happening. Im Vergleich zum dramatischen Theater weist Happening eine sehr reduzierte Verwendung verbaler Kommunikationsmittel sowie eine nicht lineare und nicht nachvollziehbare Erzählentwicklung und -struktur auf. 138 Der besondere Übergang von Malerei zu Happening als einer be‐ sonderen Theaterform jenseits des textzentrierten Theaterverständnisses erfolgte durch eine Weiterentwicklung der New Yorker Malerschule der 1950er-Jahre: Während neben Farbe und Leinwand andere Materialien eingesetzt wurden, begannen Gemälde und Bilder in der Tat monumentale Ausmaße anzunehmen. Dies führte zu einer Mischform von Malerei, Skulptur und Collage, welche die 63 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 139 Vgl. Hubert Klocker: Der Wiener Aktionismus - Das Orgien-Mysterien-Theater - eine performancetheoretische Studie. Diss. Wien 1983, S. 184 140 Juliane Rebentisch: Die Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 15. 141 Vgl. ebd., S. 103. 142 Mark Rosenthal: Understanding Installation Art. From Duchamp to Holze. „Installations‐ kunst verstehen“. Eine Zusammenfassung und Übersetzung des Buches von Mark Rosenthal von Karin Bühler. St. Gallen. München: Prestel 2005, S. 3. Anwendung unterschiedlicher Alltagsstoffe wie Autokennzeichen, Glasstücke, Ausschnitte aus Zeitungen oder Kleidungsstücke benötigte. Im Sinne von Hu‐ bert Klocker kennzeichnen sich Happenings im Grunde durch eine radikale Abwendung vom akademischen sowie vom klassischen Werkbegriff in allen Künsten. Während sie den Prozess in nicht prozessualen Künsten - wie z. B. in der Malerei - betonen, lösen sie bei performativen Künsten - wie z. B. Theater, Tanz etc. - das strenge Zeitraumgefüge auf und setzen den Akzent auf die aktive Einbeziehung der anwesenden Teilhabenden und auf die Autonomisierung des Materials. Außerdem gehen sie antirepräsentativ sowie antimimetisch vor und fordern pragmatisch eine Unwiederholbarkeit. 139 Diese Merkmale zeichnen, wie bereits angemerkt, viele Formen postdramatischen Theaters aus. 1.5.3.4.4. Installationskunst Juliane Rebentisch stellt in ihrer Ästhetik der Installation fest: „was unter dem Begriff der Installation entsteht, sind weniger Werke denn Modelle ihrer Möglichkeiten, weniger Beispiele einer neuen Gattung denn immer neue Gat‐ tungen.“ 140 Ein Merkmal von Unbestimmbarkeit wohnt der Installationskunst grundlegend inne. Dieser Unbestimmbarkeitsfaktor drückt sich vor allem in Form eines Überschreitens von Gattungsgrenzen sowie Kunstgrenzen aus und entkommt jeglicher allgemeingültigen Differenzierung von Kunst und Nicht‐ kunst. Nach Rebentisch stellt Installation nachdrücklich den jeweiligen Kontext ästhetischer Erwartungen infrage, der über das entscheidet, was Kunst ist, und widersetzt sich paradigmatisch der Idee ästhetischer Werkautonomie. 141 Die Installation kann eine institutionskritische Selbstbefragung und Selbstreflexion ermöglichen, weil die Beobachterperspektive dabei aufgelöst ist, weil jedermann eine gesellschaftliche Positionierung bzw. Institutionalisierung vertritt: Installation ist ein Medium mit ausgedehnten Möglichkeiten für Ausdruck und Ermitt‐ lungen. Da ist kein Rahmen, der die Kunst vom Betrachter trennt; das Werk und der Raum schmelzen zur Annäherung an eine Lebenserfahrung zusammen […]. Die Installation spielt eine wichtige Rolle in der Kunstgeschichte und dem Charakterwechsel des Museums von heute. Dieser Kunstbereich erhält durch ihre weltweite Bedeutung universellen Sinn und ist dadurch demokratisiert. 142 64 1.5. Theoretische Überlegungen 143 In: Lexikon: Aktionskunst ab 1960, http: / / www.kettererkunst.de/ lexikon/ aktionskunst .php - letzter Zugriff: 12.10.2017. 1.5.3.4.5. Aktionskunst oder Aktionismus Die Aktionskunst entsteht mit dem Bestreben, die Kunst nicht mehr als eine Aktivität zu verstehen, die autonom und von der Lebenspraxis abgehoben bzw. isoliert ist. Die Idee oder das Programm der Aktionskunst besteht darin, einer‐ seits neue bzw. andere künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen und andererseits die etablierten Gattungsgrenzen zu destabilisieren und zu erweitern. Einer der zentralen Punkte der Aktionskunst liegt darin, dass kein Kunstwerk am Ende der Aktion als fertiges und nachvollziehbares Kunstobjekt geschaffen wird. Der Flüchtigkeitscharakter wohnt der Aktionskunst inne, die nur im Augenblick bzw. im Prozess des realen Geschehens eine Existenz beansprucht. Dabei ist von besonderer Wichtigkeit, dass Künstler_innen und Publikum an dem Vorankommen des künstlerischen Ereignisses in bestimmter Art und Weise aktiv beteiligt sind. Da keine (klare) Trennungsgrenze zwischen Künstler_in und dem teilnehmenden Publikum definiert wird, sind alle An‐ wesenden in den Entstehungsprozess des Kunstwerkes, das als gemeinsam geschaffenes Kunstwerk gilt, involviert. „Verfolgt man die Entwicklungslinie der Aktionskunst, dann sind wichtige Voraussetzungen im Dadaismus, in der ‚serata‘ der Futuristen, im Bauhaustheater, im surrealistischen Film sowie in den subjektiv-gestischen Entäußerungen von Informel und Action Painting zu finden.“ 143 Die Nachkriegszeit ist für diese institutionskritische Aktionskunst entscheidend gewesen. Die Aktionskunst oder der Aktionismus bezeichnet Handlungen, die sich an kritischen Absichten ohne klare Verständnissowie Zielorientierung ausrichten. Festzuhalten ist jedoch, dass die Aktionskunst eine Kritik an jenen politischen, soziokulturellen und ökonomischen Verhältnissen übt, die eine unmittelbare Aktualität in der Gegenwart haben. Aktionismus ist vom lateinischen Begriff actio abgeleitet und bedeutet „Handlung“ - nicht im aristotelischen Sinn, sondern performativ handlungsorientiertes Tun. Aktio‐ nismus reduziert die zu vermittelnde Botschaft auf das Wesentliche, das in dramatisierender, irritierender sowie provokativer Form mediengerecht darge‐ boten wird. Dadurch bestreben die Künstler_innen des Aktionismus, aktuelle Zustände in Gesellschaft, Kunst oder Literatur durch gezielte Aktionen zu verändern. 65 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik 144 Vgl. Hannah Higgins: Fluxus Experience, a. a. O., S. 111. 1.5.3.5. Unterscheidungsversuch der institutionskritischen Kunstformen Performance, Happening, Fluxus, Aktionismus und Installation entstanden in den 1950er- und 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts und sind von institutions‐ kritischen Vorgehensweisen gegenüber dem Mainstreamverständnis von Kunst und dem Kunstproduktions- und Rezeptionsapparat geprägt. Es ist deshalb nicht leicht, sie voneinander zu unterscheiden. Ein künstlerisches Ereignis könnte in einer Aufführung (siehe Orgien-Mysterien-Theater und Aktion 18, „tötet Politik! “) Merkmale von allen angeführten Kunstrichtungen aufweisen. So entspringen Fluxus und Happening den gleichen Wurzeln der John-Cage-Klasse in New York, in der sowohl Allan Kaprow (Happening-Künstler) als auch Dick Higgins (einer der Vertreter der Fluxus-Bewegung) Schüler waren. Darüber hinaus wirkten Künstler_innen der Fluxus-Bewegung in Happening-Gruppen mit - wie z. B. Dick Higgins, der sich bei Allan Kaprows 18 Happenings in 6 Parts beteiligt hatte. Dennoch kann man anmerken, dass man diese Kunstrich‐ tungen einigermaßen voneinander ausdifferenzieren könnte. Das entspräche einem akademischen sowie verwirrenden Unterfangen: Für Sarah Higgins ist Happening eine expressive und symbolhafte Ausformung der Aktionskunst und steht dem Action Painting nahe. Ihr zufolge ist Fluxus eine nicht symbolhafte, antiexpressionistische und formfreie Kunst 144 sowie im Sinne George Maciunas eine antiprofessionelle Kunst. In Gegensatz zu Fluxus, der mit Fluxkit und Events auf alle menschlichen Sinneswahrnehmungen fokussiert, ist die Form von Happening eine prozessual theaterhafte Kunstform, die sich dennoch vom klassischen Theaterverständnis distanziert: so wird etwa beim Happening das Publikum, dessen Reaktion erwünscht ist, ins Geschehen involviert. In Fluxus-Events wird das Publikum nicht einbezogen, da eine Trennlinie zwischen Künstler_innen und Zuschauer_innen besteht. Während sich die Fluxus-Events vorwiegend an Alltagshandlungen und Zufällen anlehnen, laufen Happenings nach einem bestehenden Plan. Die Performance wiederum vereint hier beides: kalkulierte Alltagshandlungen, die während der Durchführung unvorhersehbar werden können. Fluxus und Happening weisen in ihrer Durchführung einen performativen Charakter auf. In einer Performance - zum Teil im Aktionismus (man denke in diesem Zusammenhang an den Wiener Aktionismus) - ist der Körper der Künstler_innen und/ oder der Körper von anderen als künstlerisches Arbeitsmaterial zentral, das je nach Prägung in ein Kunstobjekt verwandelt wird. Wird der künstlerische Umgang mit dem menschlichen Körper so weit getrieben, dass ihm Schmerzen, Verletzungen etc. zugefügt werden, balanciert 66 1.5. Theoretische Überlegungen die Performance in Richtung Body Art. In diesem Zusammenhang wird das Publikum nicht involviert, aber es kann - wie in Abramovics Performance - in‐ tervenieren, um die Performance zu beenden. Genauso wie die Performance lässt sich der Raster von der Installationskunst nicht deutlich definieren. Installation dehnt vor allem die künstlerischen Ausdrucks- und Ermittlungsmöglichkeiten, löst die Beobachterperspektive auf, bringt Betrachter_in, Raum und Objekte prozessual zusammen, sodass sie verschmelzen. Die Strategien der institutions- und sozialkritisch künstlerischen Ausdrucks‐ formen von Fluxus, Installation, Aktionismus, Happening und Performance werden im Orgien-Mysterien-Theater und in der Aktion 18, „tötet Politik! “ auf radikalisierte Art und Weise eingesetzt, wie es in vielen gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theaterverständnis auszumachen ist. 67 1.5.3. Institution Kunst/ Theater und künstlerische Institutionskritik TEIL II: Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ 145 Wieland Schmied: „Ein Kosmos unter der Erde. Gedanken zu Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 676-685, hier S. 678. 146 Wieland Schmied: „Ein Kosmos unter der Erde. Gedanken zu Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater, a. a. O., S. 676. 147 Vgl. Eva Badura-Triska, Kazuo Kandutsch: „Kunst und Ordnungsmacht. Strafrechtliche und polizeiliche Verfolgung der Wiener Aktionisten“. In: Eva Badura-Triska, Hubert 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 2.1.1. Hermann Nitsch: eine kommentierte Biografie Begleitet sowohl von Faszination als auch von Irritation hat sich Hermann Nitsch längst mit seinem institutionssowie zivilisationskritischen Orgien- Mysterien-Theater in der internationalen Kunstszene einen Platz geschaffen. Nitsch und das Orgien-Mysterien-Theater sind wie der Ausdruck einer „Einheit von Kunst und Leben […], eine unendliche Geschichte“: 145 Sein Leben und seine Kunst greifen ineinander und schließen einander nicht aus. Wenn vorausgesetzt wird, dass man weiß, was Leben ist und was Kunst ist, dann sollte man in Bezug auf Nitsch und sein Theater die Trennung von Leben und Kunst überdenken. Geboren am 29. August 1938 in Wien, wurde Hermann Nitsch ab dem fünften Lebensjahr von seiner Mutter allein erzogen, nachdem sein Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Von 1953 bis 1958 machte er eine Ausbildung für Gebrauchsgrafik an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Schon 1957 fing er an, die Konzeption seines Orgien-Mysterien-Theaters zu entwickeln, welches ihn von diesem Zeitpunkt an unablässig beschäftigte. Zugleich ist das Orgien-Mysterien-Theater bis heute „der Idee nach schon lange vollendet und dennoch nicht abgeschlossen, vielleicht sogar niemals abschließbar […], in vollem Wortsinn ein Lebenswerk.“ 146 Von Anfang an verstand sich seine aktionistische Kunsttätigkeit als institutionskritisches Ausdrucksmittel sowohl gegen herkömmliche Darstellungs- und Abbildungsästhetik als auch gegen Verdrängungen der damaligen konservativen Kulturpolitik in Österreich. Dies alles ging mit lebensbezogenen Konsequenzen Hand in Hand: Von 1960 bis 1968 zog seine Aktions- und Ausstellungstätigkeit in Wien mehrere strafrechtliche sowie polizeiliche Verfolgungen und Gefängnisstrafen nach sich. 147 In der Tat Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 188-189. 148 Vgl. Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters. , a. a. O., S. 941-948, hier S. 941. 149 In Otto Muehls Wohnung in Wien mit Nitsch als passivem und Muehl als aktivem Akteur. Vgl. Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 950. 150 Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“, a. a. O., S. 942. 151 Vgl. Kristine Stiles: „The Story of the Destruction in Art Symposium and the “DIAS af‐ fect”“. In: Sabina Breitwieser (Hg.): Gustav Metzger. Geschichte Geschichte. Vienna/ Ost‐ fildern-Ruit: Generali Foundation and Hatje Cantz Verlag 2005, S. 41-65. 152 Eva Badura-Triska, Kazuo Kandutsch: „Kunst und Ordnungsmacht. Strafrechtliche und polizeiliche Verfolgung der Wiener Aktionisten“, a. a. O., S. 189. lag es nahe, Nitsch und sein Theater mit der Vermutung einer „Mordmotivation“ zu assoziieren. In Anspielung auf den Wiener Opernmord an einem Ballettmäd‐ chen, der damals mit der Nitsch-Aktion in Verbindung gebracht wurde, behaup‐ tete Nitsch, dass wer Aktionen mit Fleisch, Gedärmen und Blut durchführe, dürfe sich nicht wundern, wenn die Polizei ihm des Mordes für fähig halte. 148 Dass er sich bei der Verwirklichung seines Theaters große Schwierigkeiten einhandeln würde, war ihm bereits am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn bewusst. Seine erste Aktion, die am 19.12.1962 stattgefundene „Kreuzigung und Beschüttung eines menschlichen Körpers“, 149 hatte für ihn Konsequenzen: Er fing damit an, seine Aktionen systematisch zu nummerieren, als ob er sehen möchte, wie viele Aktionen ihm trotz der bevorstehenden Hürden gelingen würden. Mit seinem aktiven Mitwirken am Wiener Aktionismus steckte Nitsch zudem in einem realen Spannungsbogen: Er und die anderen Protagonisten des Wie‐ ner Aktionismus, die sich mit Tabus, erotischen/ sexuellen Extremzuständen, Verletzungen und Tod künstlerisch auseinandersetzten, 150 setzten sich einer gesetzlichen Strafe aus. Dies bezeugen die strafrechtlichen Verfolgungen und Exile nach der Aktion „Kunst und Revolution“ (1968) sowie das Ende des Wiener Aktionismus. Hingegen nahm die Zahl der Aktionen sowie Malaktionen von Nitsch zu, mit denen er rasch international berühmt wurde. Im September 1966 nahm er an dem „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 151 teil. Auch dort betrat kurz vor Ende von Nitschs 21. Aktion die Polizei mit zehn Mann den Raum, brach die Veranstaltung ab und forderte die Herausgabe des während der Aktion projizierten Filmes, der eine Penisbespülung zeigte. Nitsch wurde einer Leibesvisitation unterzogen. 152 Doch hatte ihm seine Teilnahme an DIAS Türen für weitere internationale Auftritte geöffnet: Seine 25. und 26. Aktion hielt er 1968 in der Film-Makers‘ Cinematheque in New York City, wo er 72 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 153 Ende der 1970er-Jahre, am 03.06.1979, fand seine 65. Aktion am Pfingstfest im Schloss Prinzendorf und Umgebung statt. 154 Seit 2007 widmet sich das „nitsch museum“ in Mistelbach dem Schaffen Nitschs. Ein weiteres monografisches Museum erfolgte 2008 mit dem „Museo Nitsch der Fondazione Morra“ in Neapel. Seine Ausstellungen, Aktionen, Konzerte und Vorträge fanden unter anderem in Österreich, Deutschland, Italtie, in der Schweiz, Frankreich, England, USA, Brasilien, China, Japan, Kanada und Südkorea statt. Seine Werke befinden sich in vielen Museen und Sammlungen unter anderem in MoMA, New York; Guggenheim Collection, New York; Gallery of Ontario, Toronto; Tate Gallery, London; Centre Georges Pompidou, Paris; Stedelijk van Abbe Museum, Eindhoven; Stedelijk Museum, Amsterdam; Museo Capodimonte, Neapel; Museo Nitsch, Neapel; Galleria d’arte moderna, Bologna; Mar, Mu‐ seo d’arte della città di Ravenna; Castello di RivoliMuseum Ludwig, Köln; Nationalgalerie Berlin; Lenbachhaus, München; Staatsgemäldesammlung München; Museum Brandhorst, München; Graphische Sammlung, München; Staatsgalerie Stuttgart; Kunsthalle Hamburg; Museum Neue Galerie, Saarbrücken; Kunstmuseum Bern; Kunstmuseum Winterthur; Albertina, Wien; Mumok, Wien; Österreichische Galerie Belvedere, Wien. selber auftrat. Seitdem erfolgten weitere internationale Aktionen in New York, München und Köln. Sein internationaler Erfolg ermöglichte es ihm, 1971 das Schloss Prinzendorf anzukaufen, das zum Zentrum der weiteren Entwicklung seines Theaters wurde. Bei genauerer Betrachtung stehen die Jahre von 1968 bis 1971 für die Periode, in der der Wiener Aktionismus sowohl seinen Höhe‐ punkt als auch sein Ende erlebte. Zugleich entspricht auch diese Periode dem entscheidenden Startpunkt des Erfolgs und der Weltberühmtheit von Nitsch und seinem Orgien-Mysterien-Theater. 153 Ab diesem Zeitpunkt hat sich Nitsch nachhaltig mit zahlreichen Auszeichnungen im internationalen Kunstbetrieb etabliert. 154 Trotz dieser Auszeichnungen und seines internationalen Ranges in der Kunstszene scheiden sich bis heute noch weiterhin die Meinungen über sein Theaterkonzept. So stößt Nitsch nach wie vor auf Kritik und Erregung der Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb von Österreich - vor allem wegen seines Umgangs mit christlich-religiösen Symbolen und wegen der Verwendung von Tierkadavern. Es gilt in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Nitsch in seinem Theater nicht nur Gebrauch von allen grundlegenden Praxen der bereits geschilderten Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst sowie von Fluxus macht. Er radikalisiert sie zugleich. Seines Erachtens sind z. B. die Möglichkeiten der unter dem Begriff Happening zusam‐ mengefassten Aktionen in den 1960er-Jahren zu wenig genützt worden. Ihm zufolge sei die Konfrontation mit unserer eigenen existentiellen Wirklichkeit zu oberflächlich geschehen und alles habe eine spielerische Leichtigkeit gehabt. Mit Rückgriff auf diese Kunstformen institutionskritischen Ausdrucks geht es ihm darum, durch intensives Erleben andere ästhetische Wirklichkeitsbereiche 73 2.1.1. Hermann Nitsch: eine kommentierte Biografie 155 Vgl. Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 114-129, hier S. 129. 156 Gerhard Jaschke: von der täglichen umdichtung des lebens alleingelassener singvögel in geschlossenen literaturapotheken am offenen mehr. Innsbrucker poetik-vorlesungen 1990. Innsbruck: Institut für Germanistik 1992, S. 93. 157 Vgl. Hermann Nitsch: „ritual als ausdrucksform der kunst“. In: Florian Uhl, Artur R. Boelderl (Hg.): Rituale. Zugänge zu einem Phänomen. Parerga: Düsseldorf und Bonn 1999, S. 103-118, hier S. 111. zu erfinden, die auf die Weite unserer mystischen Existenzmöglichkeit hinwei‐ sen sollten. 155 Diese Analyse beschränkt sich überwiegend auf die institutions- und zi‐ vilisationskritischen Aspekte von Nitschs Theaterkonzept, das alle bisher institutionell sowie konventionell tradierten Rahmenbedingungen der Kunst erschüttert hat: „das direkte gestalten mit der wirklichkeit wurde nitsch zum obersten gebot“, 156 um eine andere Dimension der gesellschaftlichen Rolle der (Theater-)Kunst zu schaffen - durch die prozessuale Hervorbringung und reale Erfahrung emotionsgeladenen und affektiven Ausdrucks, der sich einer sinnlich überladenen Sprache sowie eines Geschmacks- und Geruchsrituals 157 bedient. Nitschs Theater ist umfangreich und geht entsprechend mit der Aufforderung zu anderen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen Hand in Hand. Der nun folgende Teil widmet sich eingehender dem Verhältnis zwischen Nitschs Theaterkonzept und den spätmittelalterischen geistlichen Spielen sowie dem institutionssowie zivilisationskritischen Anteil des Orgien-Mysterien- Theaters. Da sein Theateransatz als Gesamtkunstwerk sehr umfangreich ist, wird aus postdramatischer Perspektive die Beziehung zur Institution Theater sowie zur christlichen Religion sowie den christlich-religiösen Bräuchen und der Zivilisation, zur Lebenswelt und zu tragischer Erfahrung erörtert. Es geht erstens darum, das Orgien-Mysterien-Theater mit der aktuellen soziokulturellen Situation in Verbindung zu bringen. Dadurch wird gezeigt, dass der Anteil der Institutions- und Zivilisationskritik eine zentrale Rolle spielt. Zweitens wird in diesem Teil der Arbeit auf institutionskritische Teilentwicklungen des Orgien-Mysterien-Theaters eingegangen: von der klassischen Malerei bis zum Aktionstheater, vom klassischen/ dramatischen bis zum aktionistischen Theatermodell. Drittens wird Nitschs Kritik am Modell des klassischen Theaters diskutiert. Dabei wird seine Synästhesie als Kritiksowie Transgressionsmittel und als Weg zu Wirklichkeitsbereichen seines Theaters verdeutlicht. Viertens befasst sich diese Analyse mit Nitschs szenisch-performativer institutionskri‐ tischer Reaktion auf die christliche Religion bzw. die Passion Christi, die er zur Passion des Gegenwartsmenschen macht. In diesem Zusammenhang 74 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater wird sein Theater als ästhetische und selbstreferenzielle Zeremonie kulturellen Zelebrierens aus postdramatischer Sicht veranschaulicht. Dabei analysiert diese Studie, wie Nitsch mit dem performativ-zeremoniellen Reflektieren über den menschlichen Körper umgeht. Fünftens geht die Untersuchung auf das Verhält‐ nis des Orgien-Mysterien-Theaters zu den spätmittelalterlichen Passionsspielen ein. Sechstens untersucht diese Dissertation den Anteil der Zivilisationskritik und der ästhetisch transformativen Erfahrung in Nitschs Theater, das fremd gewordene Erfahrungen ritueller theatraler Kulturpraktiken der griechischen Antike wiederherstellt. Diesbezüglich wird in dieser Arbeit der Begriff Urtheat‐ ralisierung eingeführt, um eine Vorgehensweise zu bezeichnen, die im Verhältnis mit dem Sinn der performativen Opferhandlung in voraristotelischer Theater‐ praxis steht. Im Anschluss daran wird auf die literarische Transformation voraristotelischer Theaterpraxen eingegangen. Siebtens behandelt dieser Teil die Verstrickung des menschlichen Körpers mit Tierkadavern und der Dingwelt als Mittel zur transformativen Körpererfahrung im Orgien-Mysterien-Theater. 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters Während Nitsch seit Anfang der 1960er-Jahre an seinem Theaterkonzept performativ arbeitet, findet erst ab dem Sommer 1998 die erste vollständige Aufführung seines Sechstagespiels in seinem Schloss in Prinzendorf statt. Seit 1971 bildet das Schloss den zentralen Schauplatz sowie das Zentrum der vollständigen Entwicklung und performativen Durchführung seines Thea‐ ters. Parallel zur praktischen Ausführung hat Nitsch an einer umfassenden Theorie seines Theaterkonzepts beständig gearbeitet, die stets die performa‐ tive Entwicklung seiner Theatervision begleitet und eine historische, kultur- und kunstgeschichtliche Einbettung hervorgehoben hat. Die Gestaltungsform mit betonter synästhetischer Dramaturgie soll nach Nitschs Intentionen die direkte Teilnahme an den Geschehnissen sowie das Ausleben des Exzesses, der Aggression, der Abreaktion und der Katharsis ermöglichen - im Zerreißen, Schmieren, Schütten und Besudeln, Zerstampfen, Zerdrücken und Zerwühlen, um wiederum die Erfahrung und Überwindung des Tragischen, des Todes erlebbar und erfahrbar zu machen. Dabei beansprucht die gesamte Realisierung seines Theaters die meisten grundlegenden Kunstformen - Malerei, Musik, Theater, Architektur etc. -, die sich Nitsch unkonventionell aneignet, die er per‐ sonalisiert und grundlegend transformiert, sodass jede interessierte universitäre Wissenschaft oder Disziplin einen bestimmten Aspekt seines Theaters zum 75 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters 158 Hermann Nitsch: „die architektur des orgien mysterien theater“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 174-675, hier S. 674. Forschungsgegenstand machen kann. In dieser Arbeit wird der Akzent stärker auf den Theateraspekt gelegt. Im Folgenden werden der Schauplatz, die Zeit/ Dauer, die Vorgänge/ Aktionen, die Materialien/ Struktur und die Organisation der vollständigen Aufführung des Sechstagespiels im Sommer 1998 dargestellt. 2.1.2.1. Raum, Architektur und Schauplatz Im Vergleich zu Kirchenbauten ist das Schlossgebäude Prinzendorf bzw. die Architekturkonzeption eine Analogie zum menschlichen Leib bzw. Körper. Zu‐ gleich heißt es, dass das sich dort ereignende Theatergeschehen für den Inbegriff des Seins, der Schöpfung bzw. der Weltwerdung steht. Dabei drückt sich die Gebundenheit des Seins an einen bestimmten Bezugsort/ Bezugsraum - wie z. B. an Kultstätten, Tempel, Kirchen, Arenen - aus, wo, wie Nitsch selbst formuliert, „hochämter des theatralischen, dramatischen geschehens aufgeführt werden.“ 158 So gesehen ist das niederösterreichische Schloss Prinzendorf, das 1971 durch die Initiative seiner Frau Beate Nitsch der Kirche abgekauft wurde, Wohn- und Schaffensort und vor allem Schauplatz und Herz des Orgien-Mysterien-Theaters. Abbildung 1: Schloss in Prinzendorf, © Julia Schrenk 76 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 159 Vgl. Frank Gassner: „Schloss Prinzendorf “. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 930-931. Für zusätzliche Informationen über das Schloss siehe: Rudi Fuchs: „Prinzendorf “ (1983). In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., 912-919; Danielle Spera: „Auszug aus einem Interview mit Hermann Nitsch“ (1999). In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 922-925. 160 Hermann Nitsch: „die architektur des orgien mysterien theater“, a. a. O., S. 675. Frank Gassner schreibt, dass urkundlich 1120 ein Schloss in Prinzendorf er‐ wähnt wurde, das vermutlich an einer anderen Stelle lag. Nachdem 1631 die Camaldulenser vom Josefsberg die Herrschaft übernommen hatten, wurde 1645 der Vorgängerbau in den Schwedenkriegen stark beschädigt. Der jetzige Bau datiert auf die Jahre 1729/ 30 und ist von Franz Jänggl und Franz Anton Pilgram geplant worden. Aufgrund von Geldmangel hatte sich der Bau bis in die Jahrhundertmitte verzögert. Gassner zufolge ist dieser Bau im Zuge der Religionsreformen Josephs II. als kontemplativer Orden aufgehoben worden. Das jetzige Landgut Schloss Prinzendorf befindet sich im Süden am Rand des Dorfes, das von etwa 1200 Menschen bewohnt wird. 159 Nun sind der gesamte Schlossbau und die umliegende Landschaft zum performativen Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters geworden. Es gibt sogar einen umweltfreundlichen bzw. ökologischen Aspekt: „die gegend von prinzendorf soll durch den theaterbau nicht verändert werden.“ 160 Das Schloss liegt in Prinzendorf an der Zaya im Weinviertel und ist umgeben von Weinsowie Obstgärten, Wiesen und Feldern. In der christlichen bzw. kunst‐ historischen Ikonografie deutet der Hinweis auf Vegetation und Weintrauben auf Leben, Neuschöpfung des Lebens, Freude und Energie hin. In der Eucharistie wird z. B. das Blutopfer durch Wein symbolisch ersetzt. Im Christentum ist der Weinstock ein Christussymbol. Darüber hinaus ist der Garten ein symbolischer Ort, wo unterschiedliche Lebewesen zusammentreffen: Pflanzen, Insekten, Fliegen, Vögel und andere Tiere - dabei ist der Mensch Gärtner, der Leben sät. Die Weingärten deuten zudem auf Dionysos, den antiken griechischen Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase hin. In der römischen Antike ist er unter dem Namen Bacchus bekannt. Rund um die Symbolik des Weins gibt es das Weinlaub bzw. die Weinblätter, die in der Antike als Glückssowie Fruchtbarkeitssymbol vor allem mit dem griechischen Dionysos-Kult oder dem römischen Bacchus-Kult in Verbindung gebracht werden. Im März zu Beginn der Vegetation wurde er mit den großen Dionysien als Fruchtbarkeitsgott verehrt, bei denen auch der Phallus-Kult eine wichtige Rolle spielte. Zur Zeit der Weinlese im Oktober wurde Dionysos mit 77 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters 161 Das grosse Kunstlexikon von P.W. Hartmann: Dionysos, http: / / www.beyars.com/ kuns tlexikon/ lexikon_2102.html - letzter Zugriff: 12.10.2017. den kleinen Dionysien gefeiert. 161 Insofern wird Dionysos mit Existenzfest, Lebensfreude, Ekstase, Rausch, Energie, Sexualität und Fruchtbarkeit assoziiert. Abbildung 2: Prinzendorf. Luftbildaufnahme des Schlosses von S (2004), © Gabriele Scharrer-Liška 78 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 162 Wieland Schmied: „Ein Kosmos unter der Erde. Gedanken zu Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater“, a. a. O., S. 684. Zugleich geht es aber in diesem Zusammenhang nicht nur um den einen Aspekt oder um die eine Seite der Existenz. Es besteht ein beständiges Wechselspiel von Leben, Tod, Landschaft und Architektur, welches die inneren und äußeren Zustände der Menschen auf diesem ästhetischen Schauplatz des Theaters kenn‐ zeichnet. Die Architektur des Schlosses ist eine Art symbolische Einführung in die äußeren und inneren Bereiche des Gebäudekörpers, der an den des Menschen erinnert: Am Beginn war das Gebäude ein dreigeschossiger Bau mit Seitenflügeln, einem dreiachsigen Mittelrisalit, einer Kapelle mit ovaler Kuppel, mit gewölbten Räumen mit einfachem Stuck und Schüttboden im dritten Stock. Dann baute Nitsch für sein Theater das Gebäude in der Erde zumindest konzeptionell weiter. Konzeptionell zeichnerisch und szenisch-performativ hat Nitsch mit seinen Architekturzeichnungen und durchgeführten Aktionen das Biologische, das Anatomische des menschlichen Körpers zur Schau gestellt. Nitschs Architektur‐ konzept für die Realisation seines Orgien-Mysterien-Theaters ist nach Wieland Schmied nicht nur ein Kosmos unter der Erde, sondern auch ein Entwurf von höchster Komplexität: Sechs, sieben Stockwerke tief will er hinabsteigen in den Schoß der Erde. In seinen Gedanken projiziert sich ein Labyrinth unter das andere, […] unter dem Hauptraum und seinen Nebenzellen, den Weinkellern, den Schlafsälen, den Ställen, dem Rosen‐ treibhaus, dem Schlachthaus und dem Kühlhaus und den sie verbindenden Blutrinnen, Blutkanälen, Blutadern, soll die Krypta liegen, unter der Krypta die „Ganggruppe Herzgebilde“ und schließlich ganz unten, auf dem Grund des untersten Labyrinths, vielleicht das verborgene Ziel des Orgien Mysterien Theaters, der Graltempel. 162 79 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters Abbildung 3: „die architektur des orgien mysterien theaters. architektur unter der erde“, © Atelier Nitsch Diese konzeptionelle und zeichnerische Ansiedlung der Architektur unter der Erde zeigt eine Analogie zum Umgang mit dem menschlichen Körper, der im Zentrum seines Orgien-Mysterien-Theaters steht. So sind organische Formen in seinen kon‐ zeptionellen Architekturzeichnungen deutlich erkennbar. Wie der menschliche Körper lässt sich das Innere der Architektur von außen nicht begreifen. Es benötigt eine Besichtigung des Inneren, um zu erfahren bzw. zu erleben, wie jedes Stockwerk unter der Erde ein Labyrinth für sich ist - und, wie Wieland Schmied sagt, mit verwinkelten, verschlungenen, irritierenden Gängen. Eine solche architektonische Konzeption ist wie eine Einleitung in die realen performativen Aufführungsvorgänge des Orgien-Mysterien-Theaters zu lesen - vor allem, wenn Nitsch seine Architektur „wie Querschnitte oder Längsschnitte in den Umriss des menschlichen Körpers, in die Kontur eines Kopfes, in anatomische Tafeln“ schreibe. Um „in diesem Körper wirklich zu Hause zu sein, zu wohnen im Herz, in der 80 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 163 Ebd. 164 Vgl. ebd., S. 683. Lunge, in der Leber, wechselnd in allen Organen, zu treiben im Blutkreislauf, ein- und auszugehen mit dem Atem“, hat sich Nitsch so unwiderstehlich angezogen gefühlt, dass er aus dieser Anziehungskraft „die Grundrisse seines inwendigen Schlosses“ 163 gezeichnet hat. Allein in der konzeptionell zeichnerischen Darstellung der Architektur spielen sich die performativen Vorgänge des Orgien-Mysterien- Theaters ab, das eine radikal anatomische Behandlung des menschlichen Körpers in seinem Sosein präsentiert. Wieland Schmied schreibt, dass die Architektur bei Nitsch zweifach in Erscheinung trete: in realer Gestalt des Schlosses Prinzendorf mit seinen weit verzweigten Anlagen und als Entwurf, als Zeichnung, Lithografie, Radierung, als grafischer Zusammendruck. Ihm zufolge haben diese Entwürfe einen doppelten Charakter. Zum einen gäben sie in allen labyrinthischen Verschlingungen einen Plan der sechs oder sieben Stockwerke, die sich unter dem Gelände des Schlosses nach Nitschs Konzept einmal erstrecken sollen. Zum anderen berücksichtigen sie stets die Dimension der Zeit und deuten auf das Spiel hin, das dereinst in diesen sieben Labyrinthen unter der Erde stattfinden solle. In diesem Sinn seien sie als provisorische Skizze jenes Theaterablaufs zu lesen. Dieser Doppelcharakter der grafischen Blätter stehe nach Schmied u. a. für die Grundrisse sowie für die Struktur kommender ritueller Handlungen und Ereignisse. 164 Bereits aus diesen Zusammenhängen wird ersichtlich, dass Nitschs Theaterbau die konventionelle Infrastruktur eines klassischen modernen Theatergebäudes sprengt. Hinzu kommen alle regelbrechenden Gestaltungsformen direkter Wirklichkeit. 2.1.2.2. Elemente und Organisation des Sechstagespiels Damit die Durchführung des Sechstagespiels gelingt, wird eine sorgfältige Struktur und Organisation festgelegt. In diesem Zusammenhang ist Folgendes anzumerken: Obgleich sich Nitsch von den Regeln des konventionellen Theaters distanziert, hält er an konventionellen Organisationskriterien fest, welche die erfolgreiche und reibungslose Aufführung seiner ersten vollständigen Verwirk‐ lichung des Orgien-Mysterien-Theaters garantieren sollen. Das Sechstagespiel ist eine theatrale Ästhetisierung des täglichen Lebens, die gesellschaftliche Alltagshandlungen in allen Erscheinungsformen präsentiert: essen, trinken, feiern, Sexualität, Leben sowie die Polarität der Daseinsfrage mit extremen Glücks-, Verzückungs- und Erregungszuständen, religiösen Praxen, opferrituellen Vorgängen, mit Hang zur Tötung und Destruktion, Verdrän‐ gungsmechanismen. Dafür stehen die Schlossanlagen in Prinzendorf als geeig‐ 81 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters neter Schauplatz. Die Aktionen des Sechstagespiels wurden mit vorbereiteten Geschmacks- und Geruchswerten möglichst synchron in Verbindung gebracht und so übermittelt, dass sie von den Zuschauer_innen registriert wurden. Wie noch gezeigt wird, ist das Orgien-Mysterien-Theater voller Anspielungen auf Elemente bzw. Vorgänge der christlichen Religion. Die Realisation des Sechstagespiels geschah sechs Tage lang wie im realen Alltagszeitablauf - nicht im Sinne der aristotelischen Zeit. Es ereignete sich in realer gelebter Zeit - in Tagsowie Nachtstunden - und fand bei jedem Wetter statt. Alle Alltagsaktivitäten begannen etwa um 04: 45 Uhr oder 05: 00 Uhr vor dem Sonnenaufgang oder währenddessen und gingen mit Sonnenuntergang oder nachts gegen 02: 00 Uhr oder 03: 00 Uhr zu Ende. Außerdem sollte diese Zeitdimension an die Schöpfungsgeschichte erinnern, in der erzählt wird, Gott habe sechs Tage lang ohne Ruhe die Welt geschaffen, bevor er das Wort Fleisch - sprich Realität - werden ließ. Das Sechstagespiel, das zum ersten Mal im Sommer 1998 vom 3. bis zum 9. August vollständig aufgeführt wurde, sammelte alle seit Beginn der 1960er-Jahre im Rahmen des Wiener Aktionismus duchr‐ geführten Aktionen des Orgien-Mysterien-Theaters. Alle früheren Aktivitäten stehen für Teilverwirklichungen des gesamten Sechstagespiels. Dass das Schauspiel keine Rolle im Orgien-Mysterien-Theater spielt, ist an der Gestaltungsform erkennbar. Irritierend ist, dass Nitsch keine künstlerische Repräsentation, sondern eine radikale ästhetische Präsentation von Vorgängen schafft. Dabei bedient er sich der klassischen Gattungen der Malerei, der Musik und des Theaters - von denen er ausgeht -, bevor er sie nicht nur gattungsüber‐ schreitend vermischt sowie transformiert, sondern den Wirkungsintentionen seines Theateransatzes entsprechend auf eine institutionskritische Art und Weise neu schöpft. 2.1.2.3. Interaktion zwischen Musik und Aktionen Das Element Musik im Orgien-Mysterien-Theater ist eine Lärmmusik im wah‐ ren Sinn des Wortes und wirkt wie eine überwältigende Kakofonie. Nitschs Lärmmusik führt auch auf Dionysos zurück, auf den er häufig rekurriert - obgleich nicht explizit im Zusammenhang mit der Musik. In der Tat nannten die Griechen und Römer Dionysos wegen des Lärmes, für den sein Gefolge sorgte, auch Bromios und Lärmer. Im Orgien-Mysterien-Theater wird eine einstudierte Lärmmusik veranstaltet. Anthropologisch betrachtet, liegt der Schrei vor dem gesprochenen Wort, von dem sich Nitschs Theaterkonzept löst. Die Lärmmusik des Orgien-Mysterien-Theaters geschieht in einer Art Wechselwirkung mit den Aktionen. In diesem Sinne intensiviert sie die Aktionen und umgekehrt 82 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 165 Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, 4. durchgesehene Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008, S. 167. 166 Vgl. Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 318-341. 167 Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Thea‐ ters Hermann Nitsch: „gesamtkonzeptionen des 6-tage-spiels“. In: „Gerhard Jaschkte (Hg.): HERMANN NITSCH. O.M. THEATER. LESEBUCH, 1. Auflage, Wien: Freibord 1983, insgesamt 939 Seiten, hier: 294-621 und Vgl. Hermann Nitsch: „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prinzendorf geplante 6-tage-spiel“, a. a. O., S. 150-157. wird die Musik stets von den Vorgängen aktiviert. Neben dieser funktionellen Musik sind die Gattungen der Malerei und des Theaters, die ebenso einer radikalen Umwandlung bei Nitsch unterzogen werden, im Orgien-Mysterien- Theater am wichtigsten, wobei beide während des Schüttens von Farben und Blut, der Ausweidung von Tierkadavern und des direkten Umgangs mit Fleisch, Gedärmen etc. in ästhetischen Vorgängen verschmelzen. 2.1.2.4. Beschreibung des Sechstagespiels Neben der Verwendung von Film- und Textquellen (z. B. Inszenierungs- und Aufführungstext) liefert die theaterikonographische Perspektive auch reichliche Informationen über vergangene Theatervorgänge. Als einer der Disziplinzweige der Theaterwissenschaft befasst sich die Theaterikonografphie mit der Bildfor‐ schung. Ihre Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage z. B. von Vasenmalerei (Antike), illustrierten Manuskripten (Mittelalter), „Skizzen, […] Karikatur und Fotografie“ etc. „Bildquellen (im Gegensatz zu schriftlichen oder mündlichen Quellen)“ zu erfassen bzw. zu erschließen, „die über die Theaterkultur einer Epoche Aufschluss geben.“ 165 Die folgende Beschreibung des Sechstagespiels sowie die gesamte Analyse von Nitschs Theaterkonzept beruht demnach auf einer Kombination von Inhalten aus schriftlichen Quellen (Nitschs theoreti‐ schen Texten und Inzenierungstext) und dem Bildmaterial. Den Bildquellen der 100. Aktion (des Sechstagespiels) 166 und Dokumenten „gesamtkonzeptionen des 6-tage-spiels“ und „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prinzendorf geplante 6-tage-spiel“ 167 ist die nachstehende Beschreibung aufgrund der Übersichtlichkeit entnommen worden. Als szenisch-performativer Schauplatz des Sechstagespiels waren alle Ecken des Schlosses in Prinzendorf vom 3. bis zum 9. August durchgehend in Aktion: Hof, Park, Stallung, Schüttboden, Weinkeller, Obstgarten, Presshaus, Umge‐ bung, Kellergasse der Eselsstadt. Tische und Bänke wurden entsprechend auf‐ gestellt. Wanderungen und Spaziergänge wurden dabei beliebig unternommen. 83 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters Abbildung 4 & 5: Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schauplatz des Sechstagespiels Nach Sonnenaufgangsmusik fand bereits am ersten Tag die Schlachtung und Ausweidung eines Stieres statt. Die Motive von Ursowie Grundexzess, Uran‐ fang, Mutter-, Vater-, Brudermord sowie Mord am Kreuz, Erbsünde, Sünden‐ fall, Entstehung der Urschuld und der Zeit standen im Mittelpunkt. Dabei wurden die genannten Motive in einem Wechselspiel von Schöpfung, Sein, Exzess, Ereignis und Mord in Verbindung gebracht und erfahrbar gemacht. Auch die ewige Vergegenwärtigung des Opfers Christi durch Messopfer wurde in den Aktionen exponiert. So wurden vor dem Mittagessen Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen mit Fleisch, Blut, Tierkadavern und menschlichen Körpern szenisch-dynamisch durchgeführt. Nach dem Mittagessen wurden die Aktionen in Form von Prozessionen mit Tragbahren fortgesetzt: Passive Akteur_innen und Tierkadaver von Stier, Schwein und Schaf wurden mit Tragegeräten transportiert. Der erste Tag erreichte mit dem Hochziehen eines geschlachteten Stieres an der Schlossmauer in Begleitung aller Orchester und Blaskapellen seinen Höhepunkt. Der zweite Tag begann ebenfalls mit einer Sonnenaufgangsmusik. Im Anschluss umrundeten die Blasmusikkapellen in entgegengesetzter Richtung das Schloss. Danach fanden am Schüttboden im 84 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater dritten Stock des Schlosses Mal- und Ausweidungsaktionen statt, bei welchen Nitsch und Akteur_innen weiße Flächen mit Blut beschütteten und ein ge‐ schlachtetes Schwein ausweideten. Nach dem Mittagessen wurden drei weitere Schweine geschlachtet, womit die Ausweidungssowie Beschüttungsaktionen unter dem mystischen Leitmotiv fortgesetzt wurden. Nach Beschüttungs-, Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen fanden als Finale des zweiten Tages Spaziergänge sowie Wanderungen zum Presshaus des Schlosses und zur Esels‐ stadt statt. Darauf folgten das Abendessen und bei Sonnenuntergang die zweite Malaktion: Blutige Leinwandflächen wurden von Nitsch und den Akteur_innen zusätzlich mit roter Farbe beschüttet, bespritzt und beschmiert. Es folgten Ausweidungsaktionen mit einem geschlachteten Schwein. Wie die beiden vorangegangenen Tage startete der dritte Tag mit Sonnenaufgangsmusik. Dieser Tag war auf den Mythos des Gottes Dionysos mit der Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ ausgerichtet: Der Gekreuzigte wurde mit einem verdrängten Dionysos assoziiert, der zum einen als Prinzip des ekstatischen Werdens und zum anderen als das der Zerstörung sowie als Gott der Weltenauflösung und der Wiedergeburt feierlich zelebriert werden sollte. In diese Richtung tranken und feierten alle Spielteilnehmer_innen hemmungslos, exzessiv und rauschhaft. Es fand zudem ekstatisches Trampeln auf Weintrauben, Obst und Tomaten, auf Tierlungen, Fleisch, Gedärmen, Tierlebern etc. in den mit Blut und Wein gefüllten Sautrögen, begleitet von einem extremen Lärmorchester, statt. Nach Sonnenuntergang wurden ein Stier und ein Mann, der vor dem Stier ans Kreuz gebunden und auf einem Tragegerüst befestigt worden war, von vielen Akteur_innen zur Eselsstadt getragen, wo auf den Wiesen der Rausch seine Kulmination erreichen sollte. Die ganze Aktion wurde von Musik begleitet. Der vierte Tag verlief mehr oder minder so wie die vergangenen Tage mit Ak‐ tionenfolgen des mystischen Leitmotives: Installationen mit Fleisch, Gedärmen, Blut, geschlachteten Tierorganen, Tierkadavern und nackten menschlichen Körpern. Zur Schau gestellt wurden außerdem einige sakrale sowie medizini‐ sche Geräte in den vielen Räumen des Schlosses und der Stallungen. Nach der üblichen Sonnenaufgangsmusik erwiesen sich die Aktivitäten am fünften Tag des Sechstagespiels als der Höhepunkt des mystischen Leitmotivs mit Erreichung des Grundexzesserlebnisses. Nach Prozessionen wurde eine Messe abgehalten, die während der Eucharistie in ein orgiastisches Fest umschlug: Das mystische Leitmotiv, das dabei die Orgie und den Exzess als bittere Da‐ seinsessenz und explosives Aufeinanderprallen von Energiegefügen offenbarte, bedingte das chaotische Grundexzessereignis als ebenso unkontrollierbaren wie unvorhersehbaren Kräftestrudel. Diese Sachlage drückte sich mehrfach durch Schlachtungen von einem Stier und zwei Schweinen aus, die auch an diesem Tag 85 2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters 168 Vgl. Hubert Klocker (Hg.): Der zertrümmerte Spiegel : Wien 1960 - 1971. Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler. Klagenfurt: Ritter Verlag 1989, S. 14. exzesshaft sowie aktionistisch ausgeweidet wurden. Dabei balgten sich die Ak‐ teur_innen in Blut, Fleisch und Gedärmen. Sie zerrissen Fleisch und Tierkadaver als Steigerungszeichen des vergangenen dritten Tages. Ein bombastischer Lärm wurde von allen Orchestern als Höhepunkt des orgiastischen Abreaktionsfests veranstaltet. Der sechste und letzte Tag war folglich der Auferstehungstag und wurde durch festliche Prozessionen bestimmt. So geriet das Orgien-Mysterien- Theater zu einem Volksfest. Die gesamte Anlage des Schlosses wurde mit Blumen aller Farben geschmückt. Die Spielteilnehmer_innen wurden fröhlich und feierlich gestimmt. Nach Sonnenuntergang kehrte wieder Ruhe ein. Der nächste Sonnenaufgang wurde in Ruhe erwartet. Erst dann konnten sich die Spielteilnehmer_innen umarmen und küssen. Mit dem ersten, vollständig verwirklichten Sechstagespiel hat Nitsch nicht nur die innewohnende Destruktion seines Orgien-Mysterien-Theaters gebän‐ digt. 168 Er hat sich zugleich in einer stark normativen Ordnung der Gesellschaft durchgesetzt und weist bis heute eine gewisse Dauerhaftigkeit auf. 2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus Das Orgien-Mysterien-Theater und der Wiener Aktionismus sind im Zusammen‐ hang mit internationalen Praxen institutionskritischer Kunst zu denken, die sich gegen Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre zunehmend ausgebreitet haben. Zur gleichen Zeit legte Nitsch die Grundstrukturen seines Orgien-Myste‐ rien-Theaters fest: Überwindung der Sprache, reales Registrieren von Gerüchen, Geschmackswerten, Temperaturen sowie Tastempfindungen und Inszenierung realer Geschehnisse, wie die Beschreibung des Sechtagespiels zeigt. Parallel dazu befassten sich die österreichischen Künstler Otto Muehl, Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler mit ungewöhnlichen sowie irritierenden theatralen Vor‐ gängen. Die vier Künstler (Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler) lernten sich schließlich kennen, befruchteten sich gegenseitig, lernten viel voneinander und wurden vor allem von der Psychoanalyse beeinflusst. Während ihre künstleri‐ schen Aktivitäten noch nicht unter dem Namen „Wiener Aktionismus“ bekannt waren, wiesen die vier Protagonisten jedoch einen gemeinsamen Nenner auf: die Inszenierung sinnlich intensiver und exzessiver Realgeschehnisse. 86 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 169 Vgl. Peter Gorsen: „Der Wiener Aktionismus: Begriff und Theorie“. In: Patrick Werkner (Hg.): Kunst in Österreich 1945-1995. Ein Symposion der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Wien: WUV-Universitätsverlag 1996, S. 140-154, hier S. 141. 170 Vgl. Malcolm Green: Brus, Mühl, Nitsch, Schwarzkogler. Writings of the Vienna Actionists. London: Atlas Press 1999, S. 11. 171 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“, In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 114-129, hier S. 129. Die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ ist jünger als die jeweiligen Aktivi‐ täten von Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler. Im Juni 1965 soll der Name „Wiener Aktionismus“ von Brus in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Le Marais 169 verwendet worden sein, in der die vier Protagonisten Erwähnung fanden. In seinem 1970 veröffentlichten Artikel „Wien. Bildkompendium Wie‐ ner Aktionismus und Film“ geht Peter Weibel von den frühen 1940er- und 1950er-Jahren über die künstlerischen Arbeiten Arnulf Rainers und der Wiener Gruppe aus. Danach befasst er sich mit den Wiener Aktionisten, ohne zu einer Definition zu kommen. Rüdiger Ergerths Artikel „Wiener Aktionismus“ wurde ebenfalls 1970 im Kunstmagazin veröffentlicht. Er setzt sich mit dem Wiener Aktionismus auseinander, ohne ihn begrifflich zu bestimmen. 170 Es steht fest, dass sich die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ Anfang der 1970er-Jahre etablierte, ohne jedoch eine allgemeingültige Definition angesichts der Vielfalt der zu fassenden künstlerischen Realgeschehnisse anzuführen. „Wiener Aktio‐ nismus“ als Begriff lässt sich eher in einer ausdifferenzierten Vorgehensweise beschreiben: Während die vier Protagonisten des Wiener Aktionismus von der Sprache als Kommunikationsmittel ihres künstlerischen Tuns Abstand nehmen, sind sie auf die verbale Sprache angewiesen, um ihre theoretischen Grundgedanken zu vermitteln: es geht darum, durch intensives erleben neue wirklichkeiten zu finden und zu schaffen, damit unser lebensbereich erweitert wird. der staat, das erlaubte, die abgebrauchten regeln setzen fest, was wirklichkeit ist. so kann die aktion als reaktion auf den wirklichkeitsverlust begriffen werden, dem wir ausgesetzt sind. sie ist der ausbruch aus der umschnürung in richtung lebendigkeit und existenz. die aktion stellt unsere verlorene sinnlichkeit wieder her, indem sie die zu erfassende wirklichheit de‐ monstrativ vor unsere sinne stellt. unsere wirklichkeit zeigt sich als etwas ständig sich veränderndes. wir stossen uns ab von wirklichkeitsbereich zu wirklichkeitsbereich, leben uns stets in eine wirklichkeit hinein, die wir uns schaffen. die futuristen, die dadaisten, die surrealisten mussten ausbrechen aus den ordnungen, aus der sprache, aus einer festgefahrenen wirklichkeit. immer geschah ein ausbruch zu einer neuen wirklichkeit. 171 87 2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus 172 Hubert Klocker: Der Wiener Aktionismus - Das Orgien-Mysterien-Theater - eine perfor‐ mancetheoretische Studie, a. a. O., S. 44. 173 Ebd., S. 45. 174 Ebd. 175 Hermann Nitsch anlässlich seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung in der Galerie Krinzinger, Freibord Nr. 80, 1992, S. 25. In dieser Hinsicht ist der Wiener Aktionismus in der gesamten Zeit seines Bestehens im Gegensatz zu den bereits erwähnten institutionskritischen Kunst‐ praxen ein Spannungsbogen gewesen - für die Aktionisten selbst sowie die gesamte, einschließlich der staatlichen sowie internationalen Öffentlichkeit. Ohne Vergleich ist der Wiener Aktionismus als eine drastische Reaktion auf die soziokulturellen sowie politischen Tatbestände der österreichischen Nach‐ kriegszeit zu verstehen. Er ist wiederum je nach Prägung und Künstlerperson ausdifferenzierend aufzufassen. Im Sinne von Klocker bezieht sich das Verständ‐ nis des Terminus Aktionismus als „politisch, agitativ“ auf die künstlerische Arbeit von Muehl, Oswald Wiener und teilweise auf die Arbeit von Brus. Eine andere Ausdifferenzierung ist nach Klocker die formale Qualität, die von der gestischen Malerei (Action Painting) der ersten Nachkriegsavantgarde ausgeht; hier geht es um das Werk Nitschs und Schwarzkoglers, um den frühen Brus und um Teilaspekte der Arbeit Muehls. Für Klocker treffe Aktionismus auf die gesamte Spannweite des Wiener Aktionismus zu, wenn dieser als psycho‐ analytischer Begriff - abgeleitet von ausagieren, abreagieren - verstanden werde. Klocker schlussfolgert, dass der Begriff im weitesten Sinne auf den performativen Charakter dieser Bewegung hinweise und so die gesamte Breite ihrer Entwicklung umschließe. 172 Es ist festzuhalten, dass sich der Wiener Aktionismus ursprünglich in der Wiener Nachkriegszeit an „den literarisch, performativen Experimenten der Wiener Gruppe und des Wiener Literarischen Kabaretts der 50er Jahre“ 173 direkt entzündete. Die Wurzeln des Wiener Aktio‐ nismus weisen vielseitige Einflussrichtungen auf: z. B. die sich „auf die expres‐ sionistische, dadaistische und surrealistische Sprachbehandlung“ 174 beziehende Wiener Gruppe. Die politische Verdrängung der österreichischen Verwicklung im Zweiten Weltkrieg gilt als unmittelbarer Entstehungskatalysator des Wiener Aktionismus; 1992 erinnerte Nitsch in seiner Rede zur Eröffnung der Galerie Krinzinger an die Entstehungsgeschichte des Wiener Aktionismus: „Der Wiener Aktionismus ergab sich, weil vier verschiedene Künstler, die verschiedene Ausgangspunkte und verschiedene Ziele hatten, aber doch viel gemeinsames aufwiesen, ähnlich auf ihre Gegenwart reagierten, die sie vorfanden und zu verändern suchten.“ 175 88 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 176 Auch wenn dies bereits bei den Futuristen, Surrealisten sowie Dadaisten der Fall war. 177 Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“ , a. a. O., S. 943. 178 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 114-129, hier S. 143. 179 Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“ , a. a. O., S. 943. Peter Gorsen zufolge hat der Wiener Aktionismus in den 1960er-Jahren versucht, den Gegensatz von Kunst und Leben aufzuheben. 176 Seiner Meinung nach hat z. B. Nitsch den Wiener Aktionismus so definiert, dass er mit den Intentionen des Orgien-Mysterien-Theaters zur Deckung gekommen sei. 177 In der Tat hatte Nitsch 1971 in seinem Vortrag „Versuche zur Geschichte der Aktion“ an der Frankfurter Kunstakademie behauptet, dass die Kunst zum Leben durchgedrungen sei, weil nichts gespielt, simuliert oder interpretiert werde. Farben seien weder in abbildendem Sinn noch auf einer Bildfläche angeordnet. Alles sei Leben und ereigne sich tatsächlich, wobei das Leben selbst zu einem intensiveren Ereignis gebracht und die ästhetische Verdichtung vollkommen neu und weit ausholend verstanden sowie erhöht werde - in den Lebensprozess beschleunigt und vertieft. 178 Tatsächlich hat sich der Wiener Aktionismus nicht nur von der herkömmlichen Malerei distanziert. Er ist zugleich im Sinne von Peter Gorsen die Verabschiedung der Ausstellungs- und Abbildungsästhetik, die „nur der Endpunkt einer kunsthistorischen Entwicklung“ sei, „die mit Braques Collages, Picassos Reliefkonstruktionen begann und über Schwitters ‚Merzbau‘, Rauschenbergs Combine Paintings und die Assemblages des ‚Nou‐ veau Realisme‘ bis zur ‚Entformung‘ und Verzeitlichung der Materialien in der Prozesskunst führte.“ 179 Die malerischen Aktivitäten fanden öfters außerhalb der vorgesehenen Malateliers statt. Andere Räume wurden dafür gänzlich erobert, indem Mal‐ vorgänge vor dem Publikum prozessual durchgeführt wurden. Dabei wurden Menschenkörper sowie Materialien aus dem Alltagsleben aktionistisch, situ‐ ationsbezogen und provozierend einbezogen: Provozierend und skandalös waren bei diesen Aktionen die besondere Ansprache sowie die Erweiterung aller menschlichen Sinneswahrnehmung zur Befreiung von soziokulturellen sowie künstlerischen Zwängen, die angeblich nicht nur auf den jeweiligen Protagonisten unterschiedlich lasteten, sondern auch auf der Gesellschaft. Die einzelnen künstlerischen Aktivitäten der Protagonisten, die als Vehikel zur Selbstbefreiung und zur (Selbst-)Erkenntnis eingesetzt wurden, erreichten die Öffentlichkeit - sei es direkt oder vermittelt durch die Presse: z. B. folgte dem Manifest „Die Blutorgel“, das für Nitsch als gedanklicher Anfang des Wiener 89 2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Stern vom 17. Juni 1962. In: Gerhard Jaschke (Hg.): Das Rote Tuch - der Mensch das unappetitlichste Vieh: Hermann Nitsch - Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1960-1988. Freibord Sonderreihe Nr. 25. Wien: Edition Freibord 1988. Aktionismus gilt, 180 eine skandalträchtige Malaktion. Gemeinsam mit Muehl, Adolf Frohner, Fritz Graf und dem Tiefenpsychologen Josef Dvorak hatte Nitsch anlässlich seiner Malaktion von 1962 „Die Blutorgel“ verfasst. Darauf erfolgte der aktionistische Umsetzungsgestus der Ablehnung herkömmlicher Darstellungs- und Abbildungsästhetik. Ihre aktionistischen Intentionen führten sie schließlich in einem gemieteten Keller in der Perinetgasse 1 im 20. Bezirk in Wien durch: Die Akteure hatten sich für drei Tage im Kellergewölbe der Galerie einmauern lassen, um in einer Art Exerzitium sich vom Tafelbild, dem Hauptrequisit der traditionellen Darstellungsästhetik, zu verabschieden. Nitsch vollzog den Ausbruch aus der Fläche durch das gekreuzigte Schaf; Muehl und Frohner schufen „Gerümpelplastiken“ aus herumliegendem Schrott, den sie mit Farbe beschütteten. Es entstanden jene typischen „Materialaktionen“, die den Vernichtungsprozess von Form und Inhalt, das Informal, zum Thema erhoben. 181 Aus dieser Aktion entstanden Gemälde und Plastiken, die den fixierten Gestus der Befreiung dokumentieren. Vermittelt durch vermeintliche Augenzeugen (kein Publikum soll im Aktionskeller gewesen sein) und durch die Presse machte sich dieses künstlerische Realereignis in der Öffentlichkeit breit. Diesbezüglich berichtete der Stern: „zentrales Ereignis der Drei-Tage-Klausur wäre die Schlach‐ tung eines Lammes gewesen, mit dessen Blut man ein Bild an die Wand gemalt hätte.“ 182 In der Kronen Zeitung stand: Drei Tage und Nächte war die Perinetgasse im 20. Wiener Gemeindebezirk der Aus‐ gangspunkt wilder Gerüchte. Die Polizei intervenierte, der Tierschutzverein schickte einen Inspektor. Der Grund: Passanten wollten bemerkt haben, dass im Keller des Hauses Perinetgasse 1 wüste Orgien veranstaltet werden, bei denen Tiere gequält und geschlachtet worden sein sollen […]. Einem Inspektor war zu Ohren gekommen, dass bei der „Kellerpartie“ ein geschlachtetes Lamm eine nicht unwesentliche Rolle spielen sollte. Doch da gab es nichts, was gegen das Tierschutzgesetz verstieß. Sonntags stellten sich zwei Inspektoren der Kriminalpolizei ein. Sie erkundigten sich bei den drei „Kellerkindern“, ob sie überhaupt Österreicher seien. Was bejaht wurde. Dann sahen sie sich das Geleistete an: Draht- und Blechplastiken hingen von der Decke, 90 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 183 Kronen Zeitung vom 6. Juni 1962, In: Gerhard Jaschke (Hrg.): Das Rote Tuch - der Mensch das unappetitlichste Vieh: Her-mann Nitsch - Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1960-1988. Freibord Sonderreihe Nr. 25. Wien: Edition Freibord 1988. 184 Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Disposi‐ tionierung des Bewußtseins. München: Fink 2001, S. 24. 185 Vgl. ebd. 186 Vgl. Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“, a. a. O., S. 941. 187 Vgl. Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., Siehe Liste aller Aktionen: S. 950-955; Liste aller Malaktionen: S. 956- 957. 188 Vgl. Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“ , a. a. O., S. 945. riesengroße für den Normalverbraucher nicht ganz verständliche Gemälde zierten die Kellerwände. 183 Aus diesen Auszügen aus der Presse wird ersichtlich, dass die Reaktionen der Öffentlichkeit mehrheitlich unterschiedlich waren. Diese als skandalös und rechtswidrig gesehene Malaktion markierte den ersten Meilenstein aller bevorstehenden, radikaleren Aktivitäten des Wiener Aktionismus. 1968 fanden diese Aktionen in der Gemeinschaftsaktion „Kunst und Revolution“ ihren Höhepunkt. […] der Einsatz des Körpers als Material, körperbezogene Aktionen, der aktionistische Einsatz von Sprache und der Einbezug des begleitenden sprachlichen Kommunikationsaufwands in die Aktion. Damit erhält die Aktion Kunst und Revolution einen paradigmatischen Charakter für den WA als Ganzes. 184 „Kunst und Revolution“ schien alle bestehenden Grenzen überschritten bzw. ausgereizt zu haben, sodass die gesamte Aktion verurteilt wurde, während Brus, Muehl sowie Wiener verhaftet wurden. Die Gruppe zerfiel nach dieser gemeinsamen drastischen Aktion. 185 Nitsch gelang es aber 1970, seine 32. Aktion im „Aktionsraum I“ in München durchzuführen, die seiner Ansicht nach zu diesem Zeitpunkt die vielleicht am besten verwirklichte Aktion 186 gewesen sei. Seitdem führte Nitsch fortwährend Aktionen sowie Malaktionen durch: Die 144. Aktion fand am 25. März 2015 im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „Exis‐ tenzFest - Hermann Nitsch und das Theater“ im Wiener Theatermuseum statt, während die 70. Malaktion vom 17. bis zum 19. November 2014 in der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman, ebenfalls in Wien, zu verfolgen war. 187 Somit hat das nicht nur institutionskritische, sondern auch zivilisationskritische 188 Orgien- Mysterien-Theater den beendeten Spannungsbogen des Wiener Aktionismus überlebt. 91 2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus 189 Eva Badura-Triska: „Die kulturelle Ausgangslage: Rahmenbedingungen und Referenz‐ punkte des Wiener Aktionismus in Österreich“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 15-30. 190 Vgl. Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“. , a. a. O., S. 129. 191 Vgl. Hubert Klocker: Der Wiener Aktionismus - Das Orgien-Mysterien-Theater - eine performancetheoretische Studie, a. a. O., S. 104. 192 Vgl. Brigitte Marschall: „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theaterge‐ schichte“, a. a. O., S. 34. 193 Hermann Nitsch: Das O.M. Theater Lesebuch. Wien: Freibord 1983, S. 124. 2.1.4. Das Orgien-Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation Das Orgien-Mysterien-Theater ist innerhalb der aktuellen soziokulturellen Um‐ stände für die Mehrheit ein tabubrechendes und somit hochproblematisches Gesamtkunstwerk, das Verdrängtes in der Lebenswelt mit extremen, künstle‐ risch-devianten Ausdrucksmitteln aktionistisch vor Augen führt. Abgesehen von der kulturellen Ausgangslage bezüglich der „Rahmenbedingungen und Referenzpunkte des Wiener Aktionismus in Österreich“ 189 sowie der neoavant‐ gardistischen künstlerischen Strömungen der 1950er- und 1960er-Jahre (wie Fluxus, Happening, Action Painting etc.) wurzelt Nitschs Orgien-Mysterien- Theater auch im Tachismus. Durch den Surrealismus und Dadaismus bedingt, lässt sich der Tachismus als eine andere künstlerische Schaffensweise auffassen - mit dem Ziel, nichts zu reproduzieren oder abzubilden, was bereits in der Natur vorhanden ist. Für Nitsch bedeutet dies künstlerisches Schaffen und intensives Erleben neuer Wirklichkeitsbereiche. 190 Dieses besondere Verständnis des Ta‐ chismus verbindet er mit dramatischen sowie aktionistischen Arbeitsweisen, um die Grundrisse seines Orgien-Mysterien-Theaters festzulegen. 191 Dies führt ihn nicht nur zum Rückgriff auf die Tragödie der griechischen Antike und auf deren kultisch-religiöse Vorstufen, sondern auch auf das Gesamtkunstwerk von Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud. 192 Zugleich distanziert er sich vom dramatischen/ klassischen Theater Europas wegen des für ihn wichtigen, intensiven Erlebens neuer Wirklichkeitsräume mit der einhergehenden tragischen Erfahrung: mich störte die trennung zwischen drama und lyrik, ich wollte letztere wesentlich stärker als bisher in den spielablauf bringen, aber ohne seine dramatische kraft zu vermindern. dies führte zu einer fast barock wuchernden, dem expressiv surrealen nahestehenden wortschöpferischen sinnlichen intensität, welche die sprache durch‐ brechen musste, um zum gestalten mit der wirklichkeit zu gelangen. 193 92 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 194 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 463. 195 Vgl. ebd., S. 480. 196 Ebd., S. 23. 197 Vgl. Anton Bierl: „Postdramatic Theater and Politics: The Oresteia today“. In: Atene E. Roma/ Rassegna dell´Associazione Italiana di Cultura Classica. PERIODICI LE MONNIER Nuova Serie Seconda, VI - Fasc. 3-4, 2012, S. 283-296, hier S. 285-286. Nitschs Theaterkonzept als Kritik an der Form des klassischen Theaters kommt in diesem Zitat zum Ausdruck, indem er sich, wie im nächsten Punkt ausführlich aufgezeigt wird, mit der europäischen Theatergeschichte auseinanderersetzt. Dies bewegt ihn gleichzeitig zur intensiven Beschäftigung mit dem Wesen der Tragödie und der kultisch-religiösen Vorstufen in der griechischen Antike sowie mit der Opferhandlung in der christlichen Religion. In diesem Zusammenhang steht das Orgien-Mysterien-Theater der Institution der christlichen Religion institutionskritisch gegenüber. Von Anfang an werden Nitschs ekstatische Ak‐ tionen mit Fleisch, Blut und Gedärmen aus einer in die Tiefe der menschlichen Psyche lotenden, bewusstmachenden Abreaktion vollzogen. Das Ziel sei dahin‐ gehend gewesen, Verdrängtes nach außen zu bewegen und bewusst zu machen. An den alten religiösen Opfern interessiert Nitsch ihr Abreaktionscharakter, die instinktive Suche nach sinnlich intensiven Erlebnissen, welche die Opfervor‐ gänge einst charakterisiert haben. Das Orgien-Mysterien-Theater ist außerdem ein Beispiel postdramatischer Theaterpraxen, die das adäquate Darstellungsme‐ dium des Entsetzens 194 bestätigen, welches im Sinne von Lehmann wiederum das Theater brauche und das Drama aber hinter sich lassen müsse. 195 Für die entsetzlichen Gegebenheiten, die zu Wiederaufnahmen der Grundmotive sowie Strukturen der Tragödie und ihrer religiösen Vorstufen in der griechischen Antike bewegen, fallen - z. B. in der aktuellen Lebenswelt - die fortwährenden Auseinandersetzungen mit ebenso tragischen „Unfällen, Katastrophen in der Natur und Technik, Terrorattacken, Amoklauf, […] «Schicksalsschlägen» wie Krankheiten, schweren Verlusten und Sterben“ an. „Tragödie und mit ihr die Erfahrung von Niederlage, Scheitern, Zusammenbruch wird öffentlich nach Kräften verleugnet, bleibt aber im seelischen Erleben virulent.“ 196 1989 ist nach dem Fall der Berliner Mauer die Lebenswelt erneut in Konflikte gestürzt, die unter anderem auf den Trojanischen Krieg rückprojiziert werden könnten. Währenddessen wird in der aktuellen Theaterpraxis die rituelle, soziokulturelle sowie politische Dimension blutiger Opfer sowie tragischer Erfahrungen in der antiken griechischen Tragödie wiedergewonnen - wegen ihrer öffentlichen Aushandlung und Darstellung von Gewalt, Terror, Rache und Machtverhältnis‐ sen etc. 197 Hierfür werden z. B. ungewohnte und fremd gewordene künstlerische 93 2.1.4. Das Orgien-Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation 198 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 31-95, hier S. 31. 199 Vgl. ebd. S. 32. sowie ästhetische Ausdrucksmittel verwendet, die bestehende institutionelle und kulturelle Konventionen erschüttern. 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 2.1.5.1. Von der klassischen Malerei zum Aktionstheater Wie bereits angedeutet, bezieht sich Nitsch in den ersten Entwicklungsphasen seines Orgien-Mysterien-Theaters explizit auf traditionelle Ausdrucksmittel der Malerei und der klassischen Gattung des Theaters. Die traditionellen Parameter des Tafelbildes in der Malerei und der Struktur im dramatischen Theater erweitert er sogleich. 198 Fünf entscheidende Schritte markieren die gesamte Entwicklung seines Theaterkonzepts - von der Idee bis zur Realisation des Sechstagespiels. In Eva Badura-Triskas Artikel „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“ kann der erste Schritt in der traditionellen Malerei verortet werden: Während seines Studiums 1957 an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt ist Nitschs Idee des Orgien-Mysterien-Theaters ent‐ standen. Bereits seine frühesten figürlichen Malereien, in denen er Werke alter Meister teilweise reproduziert hat, zeigen religiöse Themen - vor allem das Leid und Kreuz Christi. Diese religiösen Motive werden seiner Theatervision ent‐ sprechend auf den Kult des Seinsmysteriums erweitert: Die Intensivierung der Lebenserfahrung durch die künstlerische Übernahme kultischer und religiöser Funktionen soll in Form eines Gesamtkunstwerks konkretisiert werden. Um das Hauptanliegen seines Theaterentwurfs - Katharsis, Abreaktion, intensives Er‐ leben, Schaffen neuer Wirklichkeitsbereiche, äußerst sinnliche Beanspruchung, exzessive Orgiastik - hervorrufen zu können, nimmt er Bezug auf die Psycho‐ analysearbeiten von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Außerdem sieht Nitsch in religiösen performativen Ausführungen die prägnante Manifestation seiner künstlerischen Vision. 199 Auf dieser Basis sucht Nitsch ab der zweiten Teilentwicklungsphase die passende künstlerische Formulierung: Das Kennenlernen des Tachismus im Jahr 1959 während einer Ausstellung im Wiener Künstlerhaus bewegt Nitsch 1960 zur Wiederaufnahme der malerischen Tätigkeit, mit der er zwischenzeitig 94 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 200 Vgl. ebd. 201 Ebd. S. 32-41. 202 Ebd., S. 41. aufgehört hatte. Den Tachismus habe Nitsch als Möglichkeit begriffen, um sein Anliegen der Vermittlung intensiver sinnlicher und psychischer Erfahrung in diesem Medium zu realisieren. Für Nitsch selbst habe das innerste, vielleicht gar nicht erkannte Anliegen des Tachismus im Dionysisch-Dynamischen gelegen: die Erregung, die Lustaufwallung, die Enthemmung, die Ekstase, die Lösung tief liegender Stauungen sollten gezeigt werden. 200 Seine malerische Aktivität betont ab diesem Zeitpunkt die sinnlichen Qualitäten des verwendeten Materi‐ als und den Entstehungsprozess seiner abstrakten Bilder: Wie Badura-Triska feststellt, trägt er Ölfarbe und manchmal Wachs in zahlreichen Schichten auf bzw. lässt sie vom oberen Bildrand nach unten rinnen. So gelangt er zu rahmenüberschreitenden Schüttbildern, die den Malprozess mit Schütten von Farben - mit dünnem Farbauftrag und Konzentration auf rote Farbe - über‐ wiegend hervorheben, indem die Farbe in einem Schwall und explosionsartig spritzend auf die Leinwand aufschlägt. Für Badura-Triska markierte Nitsch mit diesen beiden, letztlich diametral entgegengesetzten Gestaltungsmodi „jene polar einander gegenüberstehenden elementaren psychischen Erfahrungspole, die beide in seinem Schaffen immer eine Rolle spielen: das Ekstatische und das Kontemplative.“ 201 In der dritten Teilentwicklungsphase geht es Nitsch stärker um eine theatrale Inszenierung des sich motorisch bewegenden menschlichen Körpers bei den bildgenerierenden Vorgängen in malaktionistischer Form, die überwiegend aus Bewegung, Schütten und Rinnenlassen von Farben besteht. Bis zu diesem dritten Entwicklungspunkt verwendete Nitsch ausschließlich traditionelles Arbeitsma‐ terial der Malerei. Nur den Gestaltungsmodus und das Ausmaß der Bilder hatte er radikal verändert: Auf riesige Malgründe spritzt und schüttet er rote Farbe. Er arbeitet mit Pinseln und Schwämmen ebenso wie mit den Fingern und schüttet die Farbe auch direkt aus verschiedenen Gefäßen. Wesentlich ist ihm der üppige Umgang mit Farbmaterie als ins Extrem gesteigerte sinnliche Erfahrung, aber auch die zunehmend raumgreifende Di‐ mension der Malerei wie des Malaktes als Möglichkeit körperlichen beziehungsweise psychischen Ausagierens und Abreagierens. Erstmals bei seiner 4. Malaktion - wie dann auch bei der 5. und 6. - agiert Nitsch an allen vier, mit weißem Packpapier be‐ spannten Wänden des Raumes. Er ist dabei erstmals mit einem weißen, kuttenartigen Gewand bekleidet, das er und seine Akteure in der Folge oft bei Aktionen tragen sollen. 202 95 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 203 Vgl. Hermann Nitsch: „Aus der Theorie des O. M. Theaters“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 132-135, hier S. 134. 204 Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“ , a. a. O., S. 41. 205 Vgl. ebd. Hier hat sich Nitsch deutlich zur informellen Aktionsmalerei hinbewegt, die auf dem Tachismus beruht. Dabei wurde das Malen selbst zum anschaubaren Prozess, wie das Action Painting zum Schaumalen wurde. Für Nitsch wird somit die Malerei zum Theaterereignis, weil eben die Malerei einen Zeitablauf beansprucht. Aber nicht nur das: Bei dieser theaterereignishaften Aktionsma‐ lerei bzw. informellen Malerei werden triebhafte, elementare sinnliche Inten‐ tionen, unbewusste Energien, Begierden und Empfindungswünsche besonders in die Form umgesetzt. 203 Um dieses Anliegen zu erreichen, lässt Nitsch seine informelle Triebbefriedigungsmalerei mit provoziertem, sinnlich exzessivem Genießen zunehmend konkreter werden, sodass er die gesamten Produktionssowie Rahmenbedingungen der Malerei ins Reale erweitert. Die rasch hinter‐ einander durchgeführten vierten und fünften Schritte haben zum Meilenstein das Manifest Die Blutorgel. Wurden in den vorherigen Entwicklungsphasen trotz der radikal veränderten Gestaltungsmodi nur Arbeitsmaterialien aus der traditionellen Malerei benutzt, bezieht Nitsch von nun an nicht nur reale Tiersowie Menschenkörper, sondern auch unterschiedliche Gegenstände, Objekte sowie allerlei mögliche Substanzen in seine Kunst mit ein. Die als Blutorgel bezeichnete dreitägige Arbeitsklausur hat in diesem Sinne alle malerischen Produktionskonventionen sowie bestehenden künstlerisch-institutionellen und soziokulturellen Normen definitiv hinter sich gelassen und den Weg zur Ver‐ wirklichung seiner Theatervision geebnet: [Schritt für Schritt] entsteht zunächst eine Aktionsmalerei mit roter Farbe auf einer zwei mal neun Meter großen, weiß grundierten Bildfläche […]. Danach spannt Nitsch weißen Stoff an eine Wand und hängt davor ein abgehäutetes totes Lamm, wie gekreuzigt, mit dem Kopf nach unten. Unter dieses wird ein mit einem weißen Tuch bedeckter Tisch gestellt, auf den Nitsch blutige Innereien und Gedärme legt, die mit Blut und heißem Wasser beschüttet werden. Die Malerei wird so in ein Agieren mit Objekten und Substanzen ausgeweitet. 204 Auch wenn es in diesem Zusammenhang, wie Badura-Triska Nitschs Meinung wiederholt, um die Zurschaustellung der konkreten Objekte geht, 205 möchte Nitsch Einblicke in verdrängte Wirklichkeiten der Lebenswelt verschaffen. Dies bestätigt Nitschs Betrachtungsweise der bis heute noch laufenden Tätigkeiten 96 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 206 Ebd. 207 Hermann Nitsch zitiert nach: Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“ , a. a. O., S. 41-42. 208 Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 42. in Schlachthäusern - eine Betrachtung, die besonders mit seiner Vision des Aktionstheaters übereinstimmt: In der Tat hatte sich Nitsch bei einem Besuch des Wiener Schlachthofes stark ergriffen gefühlt und diesen als eigentliche Werkstatt der tragischen Erfahrung bezeichnet. 206 Er ließ sich auf die Faszina‐ tion, das Ekstatische und Kontemplative dieses intensiven Erlebnisses ein - wie er es sich für sein Orgien-Mysterien-Theater wünscht: ich sah im schlachthaus wunderbare farben, farben wie von blumen. das blut floss und spritzte überall warm, heiss, hellrot herum; die frisch abgehäuteten, geöffneten kadaver dampften, heisser körperwarmer dunst stieg auf. die farben des fleisches waren abgestuft von rosarot über blutrot zu violettrot, zu einer perlmuttrigen farb‐ kette. wurde ein tierleib geöffnet, aufgehackt, so war das, als würde man in volle weiche rosenhaufen greifen. rosenfarbiges fleisch zeigte sich, die gedärme quollen bläulich-grünlich, warm, schleimig aus den aufgehackten leibern; alle handlungen, alle objekte und substanzen im schlachthaus forderten zu sinnlich-intensivem regis‐ trieren auf. das rohe fleisch, die gedärme und blutlachen wurden aus schläuchen mit kaltem wasser bespritzt. die lachen von warmem, heissem, farbigem purpurbis scharlachrotem blut wurden vom kalten wasserstrahl weggefegt, hin zu abfluss. ich sah, dass ich mit meinen partituren recht hatte. die aktion, das aktionstheater schien mir das richtige zu sein; nur in diese richtung wollte ich in zukunft meine arbeit verwirklichen. alle informelle malerei schien mir blass, meine eigene malerei schien mir nur ein vehikel zu sein, welches nur unzulänglich all diese lebendigkeit ausdrückt, die sich hier ins tragische wendet und mit dem tod vermischt. das leben selbst, das volles, gesundes leben vernichten muss, um bestehen zu können, demonstriert sich. die dionysische lebensaufwallung tötet leben, damit leben nahrung erhält. das tragische […] veranschaulicht sich. 207 Diese Eindrücke aus dem Wiener Schlachthof sind entscheidend für Nitschs künstlerische Laufbahn gewesen. Er hat mehrfach Schlachthöfe besucht, um dort unter seiner Anleitung fotografieren zu lassen und dies jeweils als Aktion zu begreifen. 208 Diese Einsicht infolge der Besuche der Schlachthöfe lässt vermuten, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater vielleicht nur eine Fantasie geblieben wäre, wenn seine Grundgedanken keine Übereinstimmung mit der lebenswelt‐ lichen Realität erfahren hätten. Im Grunde genommen ist die permanente Präsenz von Tierkadavern und Blut, die Nitsch zur Darstellung des mystischen 97 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 209 Vgl. Hermann Nitsch: „über die raubtierhaftigkeit“ , a. a. O., S. 50-53. 210 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 42. 211 Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 42. 212 Vgl. ebd. Leitmotivs verwendet, eine performative Problematisierung der sinnlichen und tragischen Erfahrung, die auf eine ausgeblendete und verdrängte Art und Weise als Bestandteil der modernen zivilisierten Lebenswelt fortbesteht. Die Tiere werden beispielsweise für die Befriedigung von Grundbedürfnissen oder wegen kapitalistischer Geschäftsgier und menschlicher Raubtierhaftigkeit massenhaft immer wieder geschlachtet. 209 Das Blut, das Nitsch erstmals während der Blutorgel-Klausur als Malfarbe eingesetzt hat, 210 geht auf diese gleichzeitige Ergriffenheit und Faszination von Farben in allen ihren Variationen im besuch‐ ten Schlachthof zurück. Der Einbezug des menschlichen Körpers im Dezember 1962 hat die Konstruktion des Fundaments seines Orgien-Mysterien-Theaters abgeschlossen: „Wie gekreuzigt, lässt er sich selbst mit Ringen an die Wand eines Raumes fesseln und mit Farbe beschütten.“ 211 Am 8. März 1963 findet anlässlich der Eröffnung der Galerie des Psychoanalytikers Josef Dvorak die entscheidende Aktion statt, die zugleich als die erste öffentliche Veranstaltung des Wiener Aktionismus gilt und den Übergang zum Aktionstheater sowie die intensive Beschäftigung mit dem Theater markiert. In diesem Konnex steht Theater für Nitsch als ein lebendiger und geeigneter Bereich, die tragische Erfahrung, die dionysische Lebensaufwallung, wiederzubeleben. Für sein Theaterkonzept hat er von nun an die wesentlichen Elemente und Motive zusammengetragen: Gestaltungsmodi der Rinn- und Schüttvorgänge, Einsatz von Blut, Substanzen, Innereien und Gedärmen, Hereinnahme des menschlichen Körpers sowie das Opfertier Lamm. 212 Diese Elemente und Motive bilden zugleich das Fundament seiner im Orgien-Mysterien-Theater kritischen Auseinandersetzung mit der Institution des dramatischen Theaters, mit der christlichen Religion sowie mit dem Wesen der Zivilisation. Angesichts der prozessualen Entwicklung des Orgien-Mysterien-Theaters, das wiederum Akzent auf künstlerische prozessuale Produktionsvorgänge und nicht auf das Kunstwerk als Endprodukt legt, würde es gerade in der gegenwärtigen Rezeption aufschlussreich sein, wenn das Orgien-Mysterien-Theater auch aus der Perspektive eines wirkungs- und erfah‐ rungsästhetischen Prozesses, eines immerwährenden Prozesses von intensiven Realitätserlebnissen betrachtet werden könnte. 98 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 213 Frank Gassner: „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Architektur“. In: Hermann Nitsch: „über die raubtierhaftigkeit“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters., a. a. O., hier 686-689, hier S. 686. 214 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 32. 2.1.5.2. Vom dramatischen/ klassischen bis zum aktionistischen Theatermodell Auch die konventionellen Produktionsbedingungen des klassischen Theaters hat Nitsch schrittweise hinter sich gelassen: Von 1957 bis Mitte der 1960er-Jahre wandeln sich die Ausdrucksmittel des Orgien-Mysterien-Theaters radikal. Seine ersten Entwürfe lehnen sich an die Strukturen der klassischen Gattung des dramatischen Theaters an, obgleich Nitsch bereits damals das Theater reformie‐ ren und erneuern wollte. In seinem Aufsatz „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Architektur“ stellt Frank Gassner fest, dass Nitschs frühere Aktionen - wie z. B. die „Abreaktionsspiele I, II und III“ oder das „Brust‐ stück“ - ihrer Struktur nach als Theaterstücke konzipiert worden seien. 213 In seinen Theatertexten wolle Nitsch, die gesamte Schöpfungs- und Menschheits‐ geschichte durchlaufend, die Entwicklung der Psyche und des Bewusstseins, in welchem sich zahlreiche Schichten überlagern, ausloten. 214 Nicht nur die frühen Ergebnisse seiner informellen Malaktionen haben Nitsch zum Aktionstheater bewogen. Von 1957 bis 1962 gibt es in diesen früheren Texten Bemühungen, mit dem geschriebenen sowie gesprochenen Wort - der klassischen Gattung des dramatischen Theaters entsprechend - das dramatische Fest des Orgien- Mysterien-Theaters zu entwerfen. Dies sei missglückt - Nitsch habe 1962 die Texte beiseitegelegt und sich dem reinen Aktionstheater zugewandt. aber schon ein jahr später erkannte ich den entwicklungsgeschichtlichen wert meiner verbalen versuche. ihre veröffentlichung zeigt die wurzeln des o. m. theaters. die frühen dichtungen enthalten durchaus unzulänglichkeiten, andererseits habe ich von der entstehungszeit bis zur drucklegung ständig versucht, die texte zu überarbeiten, zu verbessern, ohne aber ihre grundsubstanz zu verfälschen oder zu verleugnen. der sprung vom darstellungstheater (innerhalb welchem ereignisse gespielt, dargestellt werden) zur aktion, durch welche sich alles tatsächlich ereignet und nichts mehr gespielt wird, war mit jenem vergleichbar, den kandinsky von der gegenständlichen zur abstrakten malerei tat, und jenem, welcher schönberg von der tonalen zur atonalen musik brachte […]. einen ähnlichen entwicklungsweg hatte ich zu gehen. ich missbrauchte und strapazierte das wort, um etwas auszudrücken, was hinter dem wort lag, was sich mit dem wort nicht mehr bewältigen liess, und gelangte dadurch 99 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 215 Hermann Nitsch: „die wortdichtung II“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 39-47, hier S. 39-40. 216 Vgl. Frank Gassner: „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Archi‐ tektur“, a. a. O., S. 686-689, hier S. 686. 217 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 32. 218 Vgl. Hermann Nitsch: „1. - 3. Abreaktionenspiel (Urfassungen)“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 81-113, hier S. 83. 219 Vgl. Frank Gassner: „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Archi‐ tektur“, a. a. O., S. 686. zum gestalten mit der wirklichkeit. es ging einfach nicht mehr, meine sprache noch mehr vollzupferchen mit bildhaften, intensiven, sinnlichen eindrücken. hauptwörter waren mit eigenschaftswörtern überhäuft, sinnliche assoziationen wurden immer differenzierter dargestellt und drängten zu wirklichkeit. 215 Als Beispiel sei die Handlung seines Stückes „Bruststück“ wie ein unmittel‐ bares Geschehen konzipiert, das nicht als So-als-ob, sondern als So-sein zu begreifen ist. 216 Außerdem schwingen in seinen dichterischen Arbeiten bzw. Theaterstücken die Themen und Motive seiner frühen (während des Studiums an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt entstandenen) Malereien mit: religiöse, figürlich thematische Zeichnungen, Opfer, Leiden, Kreuz Christi etc. 217 Diese Texte deuten zugleich auf die bereits behandelten tabuisierten Elemente und auf die prozessualen bildgenerierenden Gestaltungsmodi seiner Malaktionen deutlich hin. Gleich am Anfang der Urfassungen der ersten „Abreaktionsspiele“ merkt er z. B. in Klammern an, dass der jeweils eingefügte theoretische Text eine erweiterte Regieanweisung darstelle. Sie solle die jeweils vom Spiel geforderte Expression der Schreie und Aktionen verständlich machen. 218 In der Folge ent‐ wickelt sich Nitschs Theater in Umfang und Dauer derart, dass es den Rahmen der denkbaren vorhandenen Aufführungsräume sprengen würde. Daher habe Nitsch begonnen, die Räume für seine Aktionen zu entwerfen. Außerdem sollen die damaligen gesellschaftlichen Gegebenheiten wenig günstig gewesen sein, damit eines seiner Stücke in einem Theaterhaus gezeigt werden könnte. Es sei nicht nötig gewesen, sich den architektonischen Gegebenheiten der bestehen‐ den Theatergebäude anzupassen. Daher habe Nitsch in seinen Konzeptionen auf den konventionellen Theaterraum rasch verzichtet. Als alternativen Ort der Aufführung seiner Aktionen habe er z. B. Saal, Turnsaal, Veranstaltungshalle etc. erwähnt und dabei auch mit jedem unmittelbar narrativen Inhalt gebrochen. 219 Bei Nitschs Suche nach geeigneten Räumen und Theaterreferenzen für die Verwirklichung seines Gesamtkunstwerks erscheinen ihm Richard Wagners so‐ 100 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 220 Vgl. Brigitte Marschall: „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theater‐ geschichte“, a. a. O" S. 34. 221 Ebd. S. 35. 222 Vgl. ebd. 223 Ebd. 224 Vgl. Ebd. 225 Frank Gassner: „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Architektur“, a. a. O., S. 686. wie Antonin Artauds Theaterentwürfe und die antiken griechischen Ursprünge der Theaterereignisse als Sprungbrett. Die Wurzeln des antiken griechischen Theaters liegen zum einen, wie Brigitte Marschall in „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“ schreibt, in zahlreichen reli‐ giösen Kulten. Zum anderen halten wiederum diese kultischen praktizierten Riten die menschliche Gesellschaft zusammen, regulieren das Ordnungsgleich‐ gewicht zwischen privatem und öffentlichem Leben und halten schließlich das Verhältnis des Menschen zum Universum strukturierend aufrecht. Sie seien deswegen an der Schnittstelle von Religion, Politik und Kunst angesiedelt. 220 In dieser Hinsicht ist für Nitsch Richard Wagners „Parteinahme für eine Revolutionierung von Staat und Gesellschaft“ 221 ein Bezugspunkt. Wagner setzt sich in seinem Gesamtkunstwerkkonzept mit der altgriechischen Polis sowie mit ihren öffentlichen Theaterfesten auseinander. Daraus hat er sein Musikdrama entwickelt, in dem Kunst und Gesellschaftsutopie eng miteinander verbunden sind. 222 Nitsch sieht bei Wagner eine Übereinstimmung mit vielen Punkten sei‐ ner künstlerischen Idee „der ästhetischen Dimension eines gigantischen, zeitlich ausgedehnten und alle Sinne ansprechenden episch-weihevollen Kollektiverleb‐ nisses, das Läuterung bewirken soll.“ 223 Bei Wagners Schaffung des mystischen Musikdramas als akustische, optische und sprachliche Ausdrucksformen sowie beim zusammenführenden Gesamtkunstwerk mit seiner Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer Rückkehr zum Naturzustand 224 bleibt Nitsch jedoch nicht stehen: Wagners Theaterbau in Bay‐ reuth, „der strikt zwischen Publikum und Bühne trennt“, so Frank Gassner, „und einer klassischen Guckkastenbühne entspricht“, 225 stellt Nitsch nicht zufrieden. Auch die wagnerische Zeitdimension - fünf Stunden Spieldauer - erscheint ihm als sehr gering, wenn man eine Analogie zu dem bereits beschriebenen Sechstagespiel zieht: angeregt durch die musikdramen richard wagners, die griechische tragödie und die lyrik georg trakls, wollte ich, sicherlich bestimmt durch jugendlichen überschwang, alles bisher am theater dagewesene übertreffen. ich wollte die tatsache drama ins epische ausweiten. ich kannte die monumentalmalereien der alten meister des 16. 101 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 226 Hermann Nitsch: „die wortdichtung II“, a. a. O., S. 39. 227 Vgl. Frank Gassner: „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Archi‐ tektur“, a. a. O., S. 686. 228 Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. München: Matthes & Seitz Verlag 1996, S. 95-107, S. 102-103. 229 Vgl. Małgorzata Sugiera: „Artaud und Witkiewicz. Zwei Theatermodelle des 20. Jahr‐ hunderts“. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübingen/ Basel: Francke 1995, S. 369-398, hier S. 373. 230 Vgl. Brigitte Marschall: „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theater‐ geschichte“, a. a. O., S. 35. 231 Ebd. und 17. jahrhunderts. lebensgrosse darstellung, auch auf dem theater, interessierte mich. ich fragte mich, warum das von richard wagner gesetzte mass von 5 stunden spieldauer nicht überschritten werden könnte. ich trug mich mit dem gedanken, ein drama zu schreiben, dessen aufführungsdauer tage beanspruchen sollte. es entstand der entwurf zu einem drama, dessen ablauf 6 tage benötigt, dies in analogie zur alttestamentarischen schöpfungsgeschichte. 226 In dieser Hinsicht ist Antonin Artauds visionäres Theaterkonzept für Nitsch in vielfältiger Weise produktiver sowie weiterführend. Und wie Gassner es auf den Punkt bringt, ist Nitsch den Ideen von Artaud nicht nur zeitlich näher. 227 In seinem ersten Manifest „Das Theater der Grausamkeit“ plädiert Artaud für ein Theater der Aktion, in dem die Abschaffung des Zuschauerraums wie der Bühne und die Ersetzung beider „durch eine Art von einem einzigen Ort ohne Abzäunung oder Barriere irgendwelcher Art […]“ 228 erfolgen soll. Zugleich sprechen Artaud und Nitsch mit nur wenigen Ausnahmen von dem gleichen Theateransatz: Einerseits geht es darum, mit einem anderen Theater Kritik an der bestehenden Institution des dramatischen Theaters, an der Zivilisation sowie Kultur zu üben und das Scheitern der Logik und des Wortes als rationale Ausdrucksmittel aufzuzeigen sowie die Kluft zwischen Körper und Geist 229 zu füllen. Andererseits handelt es sich darum, Theater in ein magisches Ritual zurückzuwandeln, das an Zuschauer_innen - besser: an Teilnehmer_innen - einen Übergangsritus („rite de passage“) vollziehe. 230 Obschon das Orgien-Mysterien-Theater „unabhängig von Artauds Theater‐ konzept entstanden ist und [Nitsch] erst in den späten 1960er-Jahren dessen Schriften gelesen hat“, 231 zeigt Nitschs Theateransatz deutliche Parallelen zu Artauds Schriften: „Das Theater und sein Double“ und „Pour finir avec le jugement de Dieu“. Ungeachtet seiner Originalität und Eigenartigkeit kann der institutionssowie zivilisationskritische Anteil des Orgien-Mysterien-Theaters anhand einiger Schriften bzw. unverwirklichter oder utopisch gebliebener Thea‐ 102 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 232 Hermann Nitsch: „Die Blutorgel“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 163-165, hier S. 164. 233 Hermann Nitsch: .o. m. theater. lesebuch. 1. Auflage, herausgegeben von Gerhard Jaschke, Wien: Freibord 1983, S. 119-120. 234 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die kulturelle Ausgangslage: Rahmenbedingungen und Refe‐ renzpunkte des Wiener Aktionismus in Österreich“, a. a. O., S. 21. 235 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 113-114. tervisionen Artauds aus postdramatischer sowie transkultureller Perspektive größtenteils veranschaulicht werden. 2.1.5.3. Hermann Nitschs Kritik am klassischen Theatermodell „Das o.m.-theater hat nichts mit der landläufigen form des theaters zu tun […]“, 232 schreibt Nitsch bereits 1960. Für ihn hat sich das Theater innerhalb der letzten 2 000 Jahre seinem innersten Wesen nach nicht weiter entwickelt: nach dem griechischen drama ist alle entwicklung des theaters, abgesehen von einigen ausnahmen, in richtung zur literatur ausgewichen, was aber keineswegs heißt, dass den nachgriechischen produkten der wert abgesprochen wird. aber ich bezweifle ihre brauchbarkeit für das theater 233 Seine Theaterversion erweist sich deswegen als nicht kompatibel mit der Institu‐ tion des dramatischen Theaters. Nitsch geht es um ein völlig anderes Verstehen von Rolle und Funktion des künstlerischen Schaffens in der Gesellschaft. Das ist „eine kritische [bzw. eine institutionskritische] Einstellung zu gängigen, durch gesellschaftliche Konventionen eingeengten Wirklichkeitskonzeptionen“, de‐ nen ein „kompromisslose[r] Einbezug gesellschaftlicher tabuisierter Materialien wie Inhalte“ 234 entgegengebracht wird. Damit bestätigt Nitsch mit seinem aus der informellen Aktionsmalerei herausentwickelten Orgien-Mysterien-Theater Lehmanns Behauptung in Bezug auf den künstlerischen Background vieler postdramatischer Künstler_innen: Es sei kein Zufall, dass viele von ihnen von der bildenden Kunst hergekommen seien. Postdramatisches Theater sei ein Theater der Zustände und der szenisch-dynamischen Gebilde. Das sei eine Involvierung von inneren und äußeren Zuständen, welche die Maler_innen als Bildzustände im Prozess des Schaffens bezeichnen, in denen die Dynamik der Bildwerdung kristallisiert werde und in denen die für den_ie Betrachter_in wie‐ der unsichtbar gewordenen Momente des Malvorgangs aufgehoben seien. 235 Mit seinen bildgenerierenden Gestaltungsmodi der Schüttvorgänge sowie mit dem Einsatz von Blut, Substanzen, Innereien, Gedärmen, sich motorisch bewegenden menschlichen Körpern und mit dem Umgang mit dem Lamm als Opfertier will 103 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 236 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“, a. a. O., S. 117. 237 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 20. 238 Ebd. 239 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“, a. a. O., S. 115. 240 Ebd. Nitsch eben dieses szenisch-dynamische Theatergebilde so betonen, dass die Involvierung innerer und äußerer Zustände ohne Hemmungen - synästhetisch hervorgerufen - zum Ausdruck kommt. Wenn darüber hinaus Nitsch behauptet, das Theater sei im Allgemeinen unbedingt als Vorstufe der Aktion anzusehen, dann spricht er das etablierte dramatische Theater an, das ein Spiel voraussetzt. Nach Nitsch sei die Aktion, die sich vielfach nicht zuletzt aus dem Theater herausentwickelt habe, im Hinblick auf ihre Zielsetzung gerade das Gegenteil vom Theater als Spiel, als Nachahmung bzw. Schauspiel. Seines Erachtens wolle die Aktion leben - und alles ereigne sich tatsächlich. Ohne sich auf Artauds „Theater der Grausamkeit“ explizit zu beziehen, betont Nitsch: „theater braucht grausamkeit, es zeigt grausamkeit, mord, totschlag, sado-masochistische exzesse. theater will seinem innersten wesen nach den zuschauer schockieren, muss ihn intensiv treffen.“ 236 In Anbetracht seiner ästhetischen Gestaltungssowie Artikulations‐ modi erzeugt das Orgien-Mysterien-Theater eine theatrale Grausamkeit, die mit einer tragischen Erfahrung einhergeht. Lehmann bemerkt in dieser Hinsicht: „was ‚tragische Erfahrung‘ ist, so mag manchmal der Eindruck entstehen, sei fast nicht unterscheidbar von ästhetischer Erfahrung überhaupt.“ 237 Wenn aber die tragische Erfahrung für die Gegenwart als Unterbrechung nicht nur der Darstellung oder Vorstellung, sondern als Zäsur des Ästhetischen selbst definiert werde, so sei dies etwas anderes als ein lediglich innerästhetisches Zäsurverfahren. 238 Mit seinem ästhetischen Verfahren geht es Nitsch weder um eine innerästhetische Zäsur noch um eine in theatraler Vorstellung beschränkte tragische Erfahrung. Sonst wäre sein Aktionstheater - ihm zufolge - mit den aus der realen Lebenswelt heraustretenden besonderen Ereignissen vergleichbar gewesen, „die zur nahezu künstlerischen konsumierbarkeit bestimmt“ gewesen seien. 239 Ihm geht es vor allem um „kunstergebnisse, die jeweils demonstrativ ihre grenzen sprengen, wo kunst in richtung der wirklichkeitsfindung der aktion ihre bereiche erweitert.“ 240 Wie das Orgien-Mysterien-Theater haben heutzutage viele künstlerische For‐ mulierungen die Unterbrechung des Ästhetischen zur Voraussetzung. Sich an Lehmanns Formulierung anlehnend, kann argumentiert werden, dass Nitschs Theateransatz seit Langem und immer noch in den konventionellen Rahmen‐ bedingungen von Kunst „den Grenzgang im Schwellenterrain des gerade noch 104 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 241 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 20. 242 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“, a. a. O., S. 115. 243 Online-Enzyklopädie für Psychologie und Pädagogik - abrufbar unter: http: / / lexikon. stangl.eu/ 28/ synaesthesie/ - letzter Zugriff: 30.12.2016. oder nicht als ästhetisch Approbierten“ auf die Probe stellt und „zuinnerst das tragische Motiv selbst“ betont. Das institutionskritische Orgien-Mysterien- Theater ruft umso mehr die Frage erneut hervor, „ob eine Überschreitung noch im Bereich des (nur) Dargestellten zu suchen“ sei, „oder ob sie vielmehr [mit den] Mechanismen der Darstellung, des Theaters selbst, seiner Form und seiner Praxis“ 241 zu tun hat. Die die aktionistischen Grenzen sprengende Wirklichkeitsfindung des Or‐ gien-Mysterien-Theaters operiert mit dem menschlichen und tierischen Körper als zentralem Arbeitsmaterial. Der Körper wird nicht nur bezüglich visueller sowie taktiler Sinneswahrnehmungen vielseitig eingesetzt. Das Orgien-Myste‐ rien-Theater ruft zudem Geruchs-, Geschmacks- und Gehörwahrnehmungen sowie innere und äußere Zustände vielfältig hervor. Diese facettenreiche Wahr‐ nehmungserzeugung ist eine sinnliche wie produktionsästhetische Gestaltungs‐ form, die Nitsch selber als „synästhetische Bemühungen“ 242 bezeichnet und sie wirkungsästhetisch intensiv einsetzt. 2.1.5.4. Synästhesie als Kritik- und Transgressionsmittel Der Begriff Synästhesie wird aus dem Altgriechischen „synaisthanomai“ abge‐ leitet und bedeutet „gleichzeitig wahrnehmen“ oder „mitempfinden“. Laut der „Enzyklopädie für Psychologie und Pädagogik“ handelt es sich bei der Synäs‐ thesie um das gleichzeitige Vermitteln mehrerer Sinneseindrücke sowie um das gleichzeitige Anklingen eines Sinneserlebnisses in einem anderen Sinnesgebiet. So kann es beim Tasten zu Geruchsempfindungen kommen, bei schrillen Tönen zu einem stumpfen Gefühl in den Zähnen oder zu einem Rieseln über den Rücken. Ist die sekundäre Empfindung optisch, so spricht man von Synopsien oder Photis‐ men: Bei vielen Personen werden Töne von sekundären optischen Erscheinungen begleitet (farbiges Hören, audition colorée). Auch Vokale, Monate, Namen können mit Farbenerlebnissen verbunden auftreten. Das farbige Hören kann so weit gehen, daß tonspezifisch verschiedene kreisartige Farbgebilde gesehen werden (Strahlungen, Figuren, Szenen). Die umgekehrten Vorgänge (sekundäre Gehörerlebnisse bei opt. Wahrnehmungen) heißen Phonismen. Die S. verschiedener Personen stimmen selten überein; die individuellen Unterschiede sind groß. 243 105 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 244 Vgl. Nitsch Foundation: Presseinformation anlässlich der Ausstellung „Riechen“ vom 4. November 2010 in 245 Ebd. 246 Ebd. 247 Vgl. ebd. Die Synästhesie des Orgien-Mysterien-Theaters ist jedoch ein konsequentes Er‐ gebnis von Nitschs jahrelanger Beschäftigung mit Gerüchen und Ausdünstun‐ gen in Verbindung mit seiner Auseinandersetzung mit Lyrik, Musik und Malerei. In seiner Logik und entsprechend seiner Umdeutung von der psychologischen Bedeutung der Synästhesie meint Nitsch z. B., „bei wagners parzifal farben zu hören.“ 244 In der Tat ermöglichen synästhetische Wahrnehmungen sowohl sinnliche Variationen als auch eine Steigerung sowie Erweiterung der inneren und äußeren Zustandsempfindungen, die im Gedächtnis gespeichert und als Erinnerung abgerufen werden können. In diesem Sinne steht die Synästhesie im Verhältnis zum Gedächtnis sowie zur Erinnerung wie ein Katalysator, der imstande ist, im Gedächtnis bestimmte Erinnerungen hervorzurufen. Im Orgien- Mysterien-Theater ist die Synästhesie keine bloße rhetorische Figur, bei der verschiedene Sinneseindrücke miteinander vermischt werden. Sie ist ein aktio‐ nistisch performatives Produktions- und Wirkungsmittel, das Nitsch seinen schlechten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg entnimmt und funktionell und sinnlich theatralisiert: nach den beiden fürchterlichen weltkriegen, die uns umgaben, wollen wir, die künstler, keine erinnerungen an dieses erfahren zitieren. wir wollten durch reale ge‐ schehnisse kunst verwirklichen. ein reales geschehnis ist durch alle 5 sinne erfahrbar, es ist tastbar, schmeckbar, riechbar, sichtbar und hörbar. das gesamtkunstwerk ist uns in den schoß gefallen. 245 Im Kern steht die Synästhesie im Orgien-Mysterien-Theater für ein performa‐ tiv-sinnliches Erregungsmittel. Sie ist weder eine Reproduktion noch ein Zitie‐ ren auf der mentalen oder intellektuellen Ebene. Das tatsächliche Geschehen, das Menschen hier und jetzt synästhetisch erfahren, wird Kunst. 246 Nitsch hat auf diese Art und Weise die Synästhesie mehr als multifunktionelles Kritik- und Grenzüberschreitungsmittel umgedeutet, das vor allem das Tabuisierte, das Verdrängte als Teil der jeweiligen Kulturen sowie der menschlichen Gesellschaft vor Augen führt. Er merkt z. B. an, dass es bereits bei Kant eine Einteilung in positive und negative Gerüche bzw. dass es auch moralisch abstoßende Gerüche gegeben habe. Der Gestank sei für den Menschen etwas Abstoßendes. Meistens stehe dies mit Fäulnis und Verwesung in Zusammenhang. Ihm zufolge seien Gerüche jedenfalls Offenbarungen der Natur. 247 Die Synästhesie des Orgien- 106 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 248 Vgl. Danièle Perrier: Hermann Nitsch, ORLAN, Anke Röhrscheid. Physis der Seele - inszenierte Rituale. Kuratiert von Dr. Danièle Perrier, Kunstraum Dreieich, 22. März - 23. Mai 2014, S. 4. 249 Vgl. Eva Badura-Triska: „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“, a. a. O., S. 136. 250 Vgl. Danièle Perrier: Hermann Nitsch, ORLAN, Anke Röhrscheid. Physis der Seele - inszenierte Rituale, a. a. O., S. 4. Mysterien-Theaters ist eine Einladung zur unmittelbaren Registrierung gewisser sinnlicher Empfindungen sowie verdrängter Wirklichkeitsbereiche. 2.1.5.5. Synästhetische Wirklichkeitsbereiche in Nitschs Theater Die Erregungszustände und die Triebsphäre sind Grundelemente sowie privile‐ gierte Wirklichkeitsbereiche des Orgien-Mysterien-Theaters. Die synästhetische Atmosphäre ist mit einer besonderen Körperzentriertheit bzw. Körperlichkeit, Stimmlichkeit, Räumlichkeit sowie mit inneren und äußeren Zuständen sinnlich verbunden. Der Körper sei der Ort des Geschehens par excellence. 248 Die Skala der existenziell-affektvollen Ausdrucksweisen, die im Orgien-Mysterien-Theater aus musikalischer Konzeption mit Schrei, Exzess der Schreichöre und Lärmor‐ chester, mit lauten sowie leisen Tönen bestehen, entspringen alle dem mensch‐ lichen Körper. Im Sechstagespiel, in den „Abreaktionsspielen I, II, und III“ sowie im Aktionsdrama „Der Knabe“ wird der menschliche Körper zentrales Kunst- und Untersuchungsobjekt für das Schaffen synästhetischer Wirklichkeitsberei‐ che sowie affektvoller sinnlicher Wahrnehmungen. Das Aktionsdrama „Der Knabe“ 249 illustriert diese Sachlage in Anlehnung an ein szenisch-dynamisches, synästhetisch-körperzentriertes und performatives Theatergebilde. Beim genauen und distanzierten Betrachten präsentiert und beschreibt der Text des Aktionsdramas „Der Knabe“, der auch als Didaskalien oder Regieanweisungen des Sechstagespiels gelesen werden kann, das Fundament, auf dem sich Nitschs Orgien-Mysterien-Theater großteils aufbaut. Dabei ist die nach wie vor im Mittel‐ punkt stehende Präsenz des Menschsowie Tierkörpers die Körperzentriertheit. Der Körper sei in seiner Leiblichkeit als Organ und Organismus der Sensor, der den Kontakt mit der Außenwelt halte. An ihm entspringen alle subjektiven Sinneswahr‐ nehmungen von Schmerz und Lust, die bis in die eigenen Eingeweide reichen. 250 Der Text drückt auch zum Teil Nitschs Kompromisslosigkeit beim performativen und praktischen Aufgreifen synästhetischer Konzeptionen aus. Dadurch stellt das Orgien-Mysterien-Theater den Körper nicht nur in seiner biologischen Anatomie mit allen Substanzen wie Blut, Innereien, Gedärmen etc. bloß. Der Text lässt außerdem ahnen, wie sein (Aktions-)Theater, sein Malprozess der Rinn- und Schüttbilder und 107 2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz 251 Antonin Artaud: «Pour finir avec le jugement de Dieu», November 1947. http: / / ar chives.skafka.net/ alice69/ doc/ Artaud%20Antonin%20-%20Pour%20en%20finir%20avec %20le%20jugement%20de%20dieu.pdf - letzter Zugriff: 30.12.2016. 252 Interview mit Cathrin Pichler vom 21. Februar 2008: „Die Kuratorin und Theoretikerin Cathrin Pichler hat gemeinsam mit Hans-Peter Litscher eine umfassende Ausstellung zu Antonin Artaud kuratiert. In ‚Hommage à Antonin Artaud‘ (Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 7. September bis 17. November 2002) war auch ‚Pour en finir avec le jugement de dieu‘ in seiner Originalfassung zu hören. Ausgehend von dem Stück, sprach Anna Soucek mit Cathrin Pichler über das Leben der mythischen vor allem im Sechstagespiel der Bindestrich zwischen diesem beseelten Körper und dem mystischen Leitmotiv in religiösen Praxen, in blutigen Opferritualen, in der Passion Christi mit dem Kreuz und mit dem Kult von Dionysos hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang steht die Musik im Orgien-Mysterien-Theater für akustische Reize, die in Verbindung mit der anatomisch-performativen Untersu‐ chung Farbenund/ oder Formenwahrnehmungen, Gerüche, Tastenempfindungen, Erlebnisse sowie Erfahrungen innerer und äußerer Zustände prozessual auslöst und intensiviert. Das Abreaktionsdrama „Der Knabe“ repräsentiert eine Evokation der verschiedenen aktionistischen und prozessualen Abläufe, sinnlichen Empfindungen sowie Wahrnehmungen mit besonderen einhergehenden Variationen von Farben, Formen, Gerüchen sowie inneren und äußeren Zuständen. Außerdem konkretisiert und/ oder illustriert Nitschs Orgien-Mysterien-Thea‐ ter bzw. Umgang mit tabuisierten sowie ekelhaften Substanzen viele Punkte von Artauds skandalträchtigem Hörstück „Pour en finir avec le jugement de Dieu“ („Schluss mit dem Gottesgericht“). 251 Beauftragt vom französischen Rundfunk hatte Artaud kurz vor seinem Tod dieses Stück produziert. Dennoch wurde die Ausstrahlung dieses 40-minütigen, sieben Tage lang im November 1947 in den Studios des französischen Rundfunks produzierten Hörstücks wegen des damals als skandalös angesehenen Inhalts untersagt. Erst 1973, lange nach Artauds Tod 1948, wurde es erstmals im Radio ausgestrahlt. In einem Interview vom 21. Februar 2008 erklärte Cathrin Pichler: Der Inhalt des Stückes ist - im ersten Teil - deutlich antikapitalistisch und antiameri‐ kanisch - der Hauptgrund für die Absetzung war jedoch sicherlich Artauds Angriff auf die Katholische Kirche, so wurde das auch offiziell argumentiert. In einem Abschnitt des Stückes, der „La Recherche de la Fecalité“ betitelt ist, also „Streben nach Fäkalität“, wird mit Begriffen operiert, die in einem bürgerlichen Verständnis durchaus anstößig sind. Andererseits gibt es verschiedene Aspekte in den einzelnen Texten, die ganz erstaunlich hellsichtig sind, oder weitsichtig, die also Entwicklungen betreffen, die sich erst später ergeben haben. Aber der Hauptaspekt der Kritik war wirklich der Angriff gegen die Kirche und die Verwendung dieser unflätigen Worte. 252 108 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater Persönlichkeit Antonin Artaud, über sein Theater der Grausamkeit und über Wahn und Wahrnehmung.“ http: / / kunstradio.at/ 2008A/ artaud.html - letzter Zugriff: 30.12.2016. 253 Hermann Nitsch: „über die verwendung sakraler gegenstände“, a. a. O., S. 62. 254 Vgl. Gerhard Jaschke (Hg.): hermann nitsch. das orgien mysterien theater im spiegel der presse 1960-1988. DAS ROTE TUCH: der mensch das unappetitlichste vieh. Wien: Edition Freibord, Sonderreihe Nr. 25, 1988. Nicht nur Antonin Artauds Theaterauffassung und seinen Angriff auf die katholische Kirche findet Nitsch inspirierend. Zugleich bilden religiöse Symbol‐ handlungen (z. B. der Ritus der Messe, Eucharistie und andere Vorgänge am und rund um den Altar) sowie andere Motive der katholischen Kirche die ersten Grundlagen des Orgien-Mysterien-Theaters: Nitsch dekontextualisiert aber all diese religiösen Glaubensinhalte, die er mit vielen schockierenden Elementen (z. B. das oben erwähnte Aktionsdrama „Der Knabe“) und mit dem Dionysischen vermengt. In Anbetracht der Sachlage, dass sich Nitsch für die performative Konzeptualisierung und Durchführung seines Theaters viele weltlich-kultische und katholisch-religiöse Glaubensinhalte sowie deren theatrale Ausdrucksfor‐ men angeeignet hat, liegt es unzweifelhaft nahe, dass auch die Oster- und Passionsspiele der katholischen Kirche Gegenstand seiner Rückgriffe sind. Was wird aber unter Oster- und Passionsspiele subsumiert? Wie lässt sich eine Relation von Nitschs Theaterkonzept zu den Passionsspielen herstellen? 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele Ungeachtet seines Potentials, als Blasphemie bzw. Religions- oder Gotteslästerung beurteilt zu werden, ist das Orgien-Mysterien-Theater als eine bewusste, performa‐ tiv-kritische Umkehrung christlicher Glaubensinhalte sowie als Umgestaltung der katholisch-christlichen Charakterform der Oster- und Passionsspiele zu begreifen. Obwohl sein Theateransatz viele Grenzen bestehender soziokultureller Normen - auch die der Blasphemie und des Tabus - ertastet und testet, bemüht sich Nitsch, Beschuldigungen zurückzuweisen: Er behauptet beispielsweise, die bei seinen „aktionen verwendeten messgewänder, die dann blutbefleckt als relikte ausgestellt werden, erleiden oft eine fehlinterpretation“, wenn geglaubt wird, bei seinen „relikten handelt es sich um eine bewusste blasphemische befleckung […]. nein […].“ 253 Diese Behauptung wirft die Frage nach der Künstler- und Werkintention auf. Gerhard Jaschke dokumentiert in zwei von ihm herausgegebenen Büchern - hermann nitsch. das orgien mysterien theater im spiegel der presse 1960-1988. DAS ROTE TUCH: der mensch das unappetitlichste vieh (1988) 254 und Reizwort Nitsch. 109 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 255 Vgl. Gerhard Jaschke (Hg.): Reizwort Nitsch. Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1988-1995. Wien: Sonderzahl Verlagsgesellschaft m. b. H. 1995. 256 Vgl. Adolf Pichler: Über das mittelalterliche Drama in Tirol. Innsbruck: Wagner 1850. 257 Vgl. Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhand‐ lungen über ihre Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und litterarhisto‐ rische Stellung. Graz: K. K. Universitäts-Buchdruckerei und Verlags-Buchhandlung „Styria“ 1897. 258 Vgl. Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Band II, Literatur. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1966, S. 197. Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1988-1995 (1995) 255 - Nitschs Intention sowie die mehrheitliche Position in der Öffentlichkeit zu ihm und seinem Theaterkonzept: Was Nitsch mit seinem tabubrechenden Theaterkonzept intendiert - das Existenzfest - und wie sein entsprechend verwirklichtes Theatergebilde auf Rezipierende wirkt - schockerregend, abstoßend, skandalträchtig, ärgerlich, obszön -, findet keine Zustimmung in der gesellschaftlichen Mehrheit: Dieses Theaterereignis erhitzt nicht nur die Gemüter und greift die Erwartungshaltung der Rezipierenden an, sondern destabilisiert und stellt ihre kulturell, ethisch und moralisch geltenden Werte auf den Kopf. Während Nitsch selbst seinen Rückgriff auf alte, kultisch-religiöse Praktiken aus der griechischen Antike beteuert, lässt sein Theaterphänomen an mittelalterliche sowie gegenwärtige Oster- und Passions‐ spiele denken. Die nachstehende Analyse greift auf mittelalterliche Passionsspiele in Österreich und Deutschland zurück, um herauszufinden, wie Nitschs Theater zu diesen geistlichen Spielen steht. Zu den vielfältigen Erscheinungsformen der Passionsspiele in Österreich und Deutschland sind bereits umfangreiche Forschungsarbeiten geleistet worden: Als Pionierarbeit zu diesem Punkt gilt z. B. in Österreich Adolf Pichlers Buch Über das Drama des Mittelalters in Tirol (1850), das zum ers‐ ten Mal eine schriftliche Dokumentation über die Tiroler Spiele liefert. 256 Jedoch ist es der Philologe Josef Eduard Wackernell, der mit seinem 1897 publizierten Buch Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhandlungen über ihre Entwicklung, Composition, Quellen, Aufführungen und litterarhistorische Stellung ein historisch und grundlegendes Nachschlagewerk über die Tiroler Passionsspiele zur Verfügung gestellt hat. 257 In seinen Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur geht auch Hennig Brinkmann unter anderem auf das mittelalterliche geistliche Schauspiel hinsichtlich seiner Bedeutung und seiner Erscheinungsformen ein. 258 Norbert Hölzls Theaterge‐ schichte Österreichs. Theatergeschichte des östlichen Tirol. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1966) erweitert und vertieft die Entwicklung der Tiroler 110 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 259 Vgl. Norbert Hölzl: Theatergeschichte Österreichs. Theatergeschichte des östlichen Tirol. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien: Kommissionsverlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1966. 260 Vgl. Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, Halle: Verlag von Max Niemeyer 1889. theatralen Spieltradition. 259 In Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas legt Ludwig Wirth die Entstehung, die Entwicklung und die Zusammenhänge sowie die wechsel‐ seitigen Abhängigkeitsverhältnisse der Oster- und Passionsspiele im deutsch‐ sprachigem Raum dar. 260 Die nachstehende Auseinandersetzung lehnt sich an diese sowie an andere Arbeiten an und geht auf die Bozner siebentägige Passionsaufführung von 1514 ein. Darüber hinaus geht es zunächst um eine Orientierungsfunktion anhand einer beschreibenden Wiedergabe von grund‐ legenden Ansichten über die Entstehung, die Entwicklung und die Charakte‐ risierung sowie die Transformationen der Passionsspiele. Hier wird der Fokus darauf gerichtet, wie die religiöse Eigentümlichkeit der Aufführungspraxis entstanden ist und funktioniert sowie aufgrund welcher Motivationen es Abweichungen davon gegeben hat. Auf der beschriebenen Grundlage soll die anschließende Analyse beruhen, die sich von anderen Forschungsarbeiten vor allem einerseits durch den Vergleich mit dem Orgien- Mysterien- Theater und andererseits durch die postdramatische Theaterperspektive unterscheiden soll. Der Vergleich mit Nitschs Theaterkonzept dient dazu, die Parallelen, die das Orgien- Mysterien- Theater zu den Passionsspielen aufweist, zu eruieren. Nach einer kurzen kunsthistorischen Skizze über den Umgang mit der Passion Christi in der Kunst wird die mittelalterlich-religiöse, sinnliche und bildgene‐ rierende Gestaltungsform der geistlichen Spiele als eine Inspirationsquelle für postdramatische Künstler_innen, die mit rituellen sowie biblischen Motiven und Symbolen umgehen, angeführt. Diesbezüglich wird Romeo Castelluccis postdramatische Inszenierung von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion (2016) als Beispiel herangezogen. 2.1.6.1. Zur Bozner siebentägigen Passionsaufführung von 1514 Auf der Grundlage der Tiroler Passionsspiele am Beispiel der Bozner Inszenie‐ rung von 1514 wird veranschaulicht, was die religiöse Charakterform einer Passionsinszenierung ausmacht. Die folgende Beschreibung ist dem bereits angesprochenen Buch von Josef Eduard Wackernell über die altdeutschen 111 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 261 Vgl. Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol Vgl. Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O. 262 Vgl. ebd., S. CCXCIII 263 Vgl. ebd., S. XIX. 264 Vgl. ebd., S. XXIV-XXX. 265 Vgl. ebd., S. XXX-XXXI. 266 Vgl. ebd., S. CCXXXV. 267 Vgl. ebd., S. XXXVI-XL und CCXXXVII. Das erwähnt Vigil Raber selbst in seinen Handschriften, wie Wackernell anführt: „Dits spil hab ich vigili raber zu Stertzingen abgschriben in der vasstn und Solichs zu Bot zen dem rat furtragn, das es da selbs mit sambt dem gantzen passion gehallten worden im 1514 jar […].“ (Vi gil Raber: zitiert nach Josef Eduard Wackernell (Hg.): ebd., S. CCXXXVI.) Passionsspiele aus Tirol entnommen. 261 Die „Tiroler Passions“ ist Wackernells Bezeichnung für ein heute nicht mehr erhaltenes Urmanuskript eines Passions‐ spieles aus Tirol, aus welchem sich alle zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert stammenden Spielhandschriften entwickelt haben - all diese Handschriften haben einen religiösen Ursprung. 262 Die Stadt Bozen in Südtirol ist einer der berühmtesten mittelalterlichen Standorte in Tirol, wo Passionsspiele zu Beginn des 16. Jahrhunderts - wie die Inszenierung von 1514 - ihre große Blütezeit hatten. Jedoch kann bis heute nicht mit Sicherheit gesagt werden, welche Spiel‐ handschrift als Grundlage für diese Inszenierung diente: Bekanntlich besteht das Textmaterial zu Bozner Passionsinszenierungen aus folgenden erhaltenen Handschriften: „Bozner Passion“ und „Amerikaner Passion“. „Die Bozner Pas‐ sion“ als Spielvorlage führt auf eine „Papierhandschrift im Besitze des Francis‐ canerkloster zu Bozen“ 263 zurück, die als Grundlage für die Inszenierungen verwendet wurde. 264 Die Handschrift „Amerikaner Passion“ kommt ebenfalls aus Bozen und ist nach ihrem erstaunlichen Fundort in Salt Lake City in USA benannt worden. 265 Beide Handschriften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie, Wackernell zufolge, vom selben Abschreiber verfasst worden seien, dessen Spur auf den Maler und Spielorganisator Vigil Raber 266 in Sterzing führe. 267 In der Tat stehen die Anfänge der Bozner Passionsspiele mit dem Namen des Schulmeisters Benedict Debs und dem des Malers Vigil Raber in enger Verbindung, die sich um die Sammlung und die Aufbewahrung der geistlichen Spielhandschriften viel bemühten: Wie Wackernell berichtet, ist Benedict Debs vermutlich gegen 1458 aus Ingolstadt gekommen und dann als Lehrer an der Lateinschule in Bozen tätig gewesen. Er verbrachte bis zu seinem Tod 1515 etwa 30 Jahre in Bozen, wo er 1511 Lateinschulmeister der Bozner Stadtpfarre wurde. Als Lateinschulmeister war er der Kirche sehr verbunden und leistete im Bereich der geistlichen Spiele viel. Bei den Bozner Passionsaufführungen der Jahre 1495 und 1514 trat er als Salvator auf. Dies erklärt, warum er Sammler solcher Spiele wurde. 112 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 268 Vgl. ebd., S. VIII-X. 269 Ebd., S. XIII-XIV. 270 Walther Lipphardt, Hans-Gert Roloff (Hg.): Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielar‐ chivs. Bern: Peter Lang 1996, S. 403. 271 Vigil Raber: zitiert nach Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele in Tirol, a. a. O., S. CCXXXVI. 272 Vgl. ebd., S. XLVII und S. CCXXXVII. Vgl. Wolfgang F. Michael: Frühformen der deutschen Bühne. Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte 1963, S. 38. 273 Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. XLIX. 274 Vigil Raber: zitiert nach Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. CCXL. Seine Spielsammlung erbte Vigil Raber nach seinem Tod. Der Maler Raber stammte aus Sterzing, lebte jedoch zwischen Sterzing und Bozen im Rahmen seiner Tätigkeiten als Anreger, Vorbereiter, Dekorationsmaler, Hersteller von Bühnensowie Spielrequisiten, Abschreiber bzw. Verfasser, Ausbreiter und Leiter der Oster- und Passionsspiele. Der Ansporn zur Passionsinszenierung von 1514 geht auf ihn zurück: 268 Für die Gruppierung der Handschriften schreibt - den alten Signaturen folgend - z. B. Wackernell: „Nr. III: Passion von 1514 (Raber-Passion, weil von Rabers Hand), enthält zwei Spiele: a) In die Parasceves, b) ludus paschalis.“ 269 Es lässt sich jedoch bezweifeln, dass Rabers Handschrift Nr. III Passion von 1514 tatsächlich der Passionsaufführung von 1514 in Bozen zugrunde liegt. Vermutlich wurde die genannte Handschrift erst im Herbst, am 29. September 1514, von Raber fertiggestellt 270 - sozusagen fünf Monate nach Ostern am 16. April desselben Jahres. Derselbe Raber behauptete zudem: Dits spil hab ich vigili raber zu Stertzingen abgschriben in der vasstn und Solichs zu Botzen dem rat furtragn, das es da selbs mit sambt dem gantzen passion gehallten worden im 1514 jar und also auf 7 tag gspilt, yeds tags ain sundere matheri als namlich: auf den palmsuntag dits Spill, am waich phintztag das abnt mall und vahnug Christi, am Carfreitag das leyden Christi, am tauff Samstag die klag marie mit den prophetn, am Ostertag di urstend Christi, am mantag die Brueder gen Eemaus, Am auffartstag di auffart Christi. 271 Gemäß diesem Zitat steht fest, dass die Aufführung sieben Tage gedauert hat. 272 Sie sei, Wackernell zufolge, sowohl der Höheals auch der Endpunkt solcher Passionsinszenierungen in Bozen. 273 Dass dieses Passionsspiel tatsächlich in der Stadtpfarrkirche stattfand, darüber besteht kein Zweifel, wenn Vigil Raber von den Hilfskräften schreibt, die während der Aufführung von einer Szene zur anderen in der Kirche durchgehend mithalfen, wenn Bühnenveränderungen be‐ nötigt wurden: „Den zimerleiten, alls sy […] dy pün in der khirch zu den Spillen zu geholffen haben […].“ 274 Außerdem bestehen Belege (z. B. die „Kirchprostra‐ 113 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 275 Vgl. Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. XL-L. 276 Vgl. Wolfgang F. Michael: Frühformen der deutschen Bühne. Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte 1963, S. 38. 277 Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. 4. itungen“ 275 ), die - neben einer Rekonstruktion der Passionsinszenierungen von 1476 bis 1514 - bezeugen, dass die Organisation der Aufführungen, die in der Regel in der Stadtpfarrkirche stattfanden, in der Hand der Kirchenpröpste lag. Nach Wolfgang Michael wurde z. B. die gesamte Aufführung so gegliedert, dass entsprechende Vorgänge aus der Bibel an jedem Tag der Osterzeit von 1514 dargeboten wurden: Einzug in Jerusalem fand am Palmsonntag statt; das Abendmahl und die Gefangennahme Christi erfolgten erst am Gründonnerstag; am Karfreitag wurde die eigentliche Passion aufgeführt; am Karsamstag kam es zu der Marienklage und der Apostelszene am Grab; das Osterspiel wurde am Ostersonntag vorgeführt; der Gang nach Emmaus am Ostermontag und die Himmelfahrt Christi am Himmelfahrttag. 276 Die folgende Schilderung der genauen Gehalte eines Passionsspiels wird Wackernells Buch entnommen, da es trotz fehlender Informationen unumgäng‐ lich ist. Außerdem haben spätmittelalterliche Bozner Passionsinszenierungen viele Gemeinsamkeiten mit den gesamten Tiroler Passionsspielen. Abgesehen von der Darstellung der in der Bibel geschilderten Geschichte an den entspre‐ chenden Tagen soll die gesamte Passionsaufführung von 1514 gemäß Inszenie‐ rungstechnik in drei Hauptspiele gegliedert gewesen sein - in Anlehnung an Wackernell: Das erste Spiel hat zehn deutliche Szenen. Während das zweite Spiel aus acht weniger deutlich gegliederten Szenen besteht, ist die Szenengliederung im dritten Spiel verschwommen. In der Regel sind alle vorhandenen Szenen durch Chorgesänge gegliedert worden. Erstes Spiel: Nach der Einführungsrede des Procursors versammelt sich der aus vier Händlern bestehende jüdische Rat in Szene 1, um eine Vergeltung gegen den Salvator zu besprechen: Die Auferweckung des Lazarus ist nach den Worten des Procursors im 15. und 16. Vers der Hassgrund der Juden gegen den Salvator: „Als er Lasarum erbeckt hett, / Darum er von den juden grossen neyd ledt.“ 277 Die vier jüdischen Händler beschweren sich außerdem darüber, dass Jesus ihre Waren verschüttet, sie bedroht, misshandelt und aus dem Tempel getrieben hat. Von der zweiten bis zur sechsten Szene werden das „Abendmahl“, „Jesus am Ölberge“, „Verrat des Judas“ und die „Gefangennahme Christi“ gezeigt. In den Szenen sieben bis zehn kommt es zur Verleugnung des Petrus, zur Führung Christi vor Kaiphas sowie zur Inquisition des Salvators durch Annas und zum Urteil. 114 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 278 Vgl. ebd., S. XXVII. Zweites Spiel: Die acht Szenen folgen anfangs der Reihenfolge wie in den Evangelien. Das Hin-und-her-Schicken des Salvators zwischen Pilatus und Herodes. Dann folgen die Szenen der großen Katastrophe, die durch die Geiße‐ lung bzw. das Leiden des Salvators auf dem Kreuzweg, seine Kreuzigung, die Marienklage, den Kreuzestod und die Grablegung abgeschlossen werden. Drittes Spiel: Wie Wackernell notiert, behandelt dieses dritte Spiel, „was schon vorbereitet, der äussere Sieg und Triumph Christi.“ Nach der Grablegung folgen die Szenen, in welchen die Juden Pilatus um die Bewachung des Grabes bitten, und die darauffolgende Soldatenbetäubung vor dem Grab. Daraufhin steigt der Salvator in die Vorhölle. Die Szene der drei Marien, die zum Grab gehen, und die Gartenszene werden im Anschluss gezeigt. Danach kommt die Apostelszene, in welcher Petrus und Johannes am leeren Grab ankommen und sich aufregen, weil die Leiche des Salvators bereits verschwunden ist. In der abschließenden Szene verführt der Teufel aus dem Volk neue Leute, die im Nachhinein ihre Sünden eingestehen. Die siebentägige Passionsaufführung, deren Bühnenplan von Raber entwor‐ fen und verwirklicht wurde, erwies sich als außergewöhnlich: Die große Anzahl von Frauen in den Frauenrollen, die Männern bis zur Passionsaufführung von 1514 überwiegend vorbehalten wurden, war sowohl eine Ausnahme 278 als auch eine Neuerung. Die Aufführung fand in einer Kirche statt, was seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr üblich war, weil eine solche Aufführung eher draußen vor einer Kirche oder auf dem Marktplatz inszeniert wurde. Die Bozner Pfarrkirche, in gotischem Stil umgebaut, war wie eine große Halle und gegliedert durch zwei Säulenreihen. Insofern war diese Hallenkirche für Rabers Raumgestaltung, insbesondere für seinen Bühnenplan, geräumig genug und geeignet. 115 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 279 Vgl. ebd., S. CXI - CCI. Abbildung 6: Vigil Rabers Originalhandzeichnung des Bühnenplans, Bozner Passionsauf‐ führung von 1514. Quelle: Sterzing, Stadtarchiv, Vigil-Raber-Sammlung, Hs. IX, fol. 1v. Zum Bühnenplan sowie zur Inszenierung dieser siebentägigen Aufführung gibt es unterschiedliche Rekonstruktionen sowie Interpretationen. In diesem Zusammenhang beschränkt sich die Arbeit auf einige wichtige Anmerkungen, um den Fokus möglichst auf die Herausarbeitung der religiösen Charakterisie‐ rung der mittelalterlichen Passionsspiele zu legen. Zunächst bietet Wackernell im zwölften Kapitel über die Tiroler Passionsspiele unter anderem eine ausführ‐ liche und tiefgehende Szenenanalyse, die sich allerdings nicht ausschließlich auf die Bozner Passionsaufführung von 1514 beschränkt, sondern scheinbar für alle Tiroler Spiele zu gelten scheint. Dabei verweist er auf viele Bibelbzw. Evange‐ lienbezüge. 279 Ihrerseits geht M. A. Katritzky 2004 in ihrem Aufsatz „What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in 116 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 280 M. A. Katritzky: „What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in medieval theatre iconography“. In: Michael Gebhardt, Max Siller: Vigil Raber. Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres. Akten des 4. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (25.-27.03.2002), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2004, S. 85-116. 281 Im Zusatz ihres Aufsatzes gibt M. A. Katritzky einen Überblick über die genauen Quellen und Daten all dieser Rekonstruktionen: siehe M. A. Katritzky: „What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in medieval theatre iconography”, a. a. O., S. 110. 282 Vgl. Adolf Pichler: Über das mittelalterliche Drama in Tirol a. a. O. 283 Ludwig Traube: „Zur Entwicklung der Mysterienbühne“. In: Johannes Lepsius, Ludwig Traube (Hg.): Schauspiel und Bühne. Beiträge zur Erkenntnis der dramatischen Kunst, Hefte 1. München: 1880, S. 49-73. 284 Vgl. Hans Heinrich Borcherdt: Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance. Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber, 1935. 285 Vgl. Reinhold Nordsieck: „Der Bühnenplan des Vigil Raber“, In: Monatshefte für deutschen Unterricht XXXVII 1945, Nr. 4/ 5, S. 114-129. 286 Vgl. Walther Lipphardt, Hans-Gert Roloff (Hg.): Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs, a. a. O. 287 Vgl. Wolfgang F. Michael: „The Staging of the Bozen Passion Play“, In: The Germanic Review 25, 1950, S. 178-195. 288 Wolfgang F. Michael: Frühformen der deutschen Bühne, a. a. O. medieval theatre iconography“ 280 Rekonstruktionen des Bühnenplans von Raber sowie entsprechenden Interpretationen dieser Passionsinszenierung theateriko‐ nografisch nach. Dann stellt sie eine Reihe von verschiedenartigen, zum Teil einander infrage stellenden Rekonstruktionen dieser Originalhandzeichnung nebeneinander vergleichend dar, 281 die unter anderem Adolf Pichler 1850, 282 Ludwig Traube 1880, 283 Hans Heinrich Borcherdt 1935, 284 Reinhold Nordsieck 1945, 285 Hans-Bert Roloff und Andrea Straube 1990, 286 und Wolfgang F. Michael 1950 287 sowie 1963 288 angefertigt und bezüglich der Passionsaufführung von 1514 gleichermaßen immer wieder neu bzw. anders interpretiert haben. 117 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele Abbildung 7: Rekonstruktionen dieser Originalhandzeichnung. Quelle: M. A. Kat‐ ritzky: “What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in medieval theatre iconography”, S. 101 118 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater Abbildung 8: Rekonstruktionen dieser Originalhandzeichnung. Quelle: M. A. Kat‐ ritzky: “What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in medieval theatre iconography”, S. 105 119 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 289 M. A. Katritzky: “What did Vigil Raber’s stage really look like? Questions of authenticity and integrity in medieval theatre iconography”, a. a. O., S. 108. Auf Basis ihrer theaterikonografischen vergleichenden Analyse bemängelt Katritzky die Tatsache, dass die Mehrheit der Rekonstruktionen und Interpre‐ tationen des Originalbühnenplans Rabers - und somit der Inszenierung - von der Originalhandzeichnung sowie von der genuin mittelalterlichen Perspektive abweicht. Die Mehrheit der Rekonstruktionen tendiert dazu, die moderne bzw. klassische Auffassung von Theaterdispositiven bzw. -komponenten zu privilegieren, die dann auf die mittelalterliche Theaterkultur projiziert werden. Zum Schluss vertritt sie folgende Ansicht in Form eines Appells an die wissen‐ schaftliche Befassung mit der spätmittelalterlichen Spieltradition: „Our fragile understanding of late medieval staging would be significantly advanced if research in the field were underpinned by reference not to modern phantoms, but to the authentic late medieval theatre iconography of which Raber´s sketch of 1514 is a magnificent example.“ 289 Dieser Standpunkt wird hier geteilt. Des Weiteren hält sich diesbezüglich die Erschließung der eigentlichen Charakter‐ form der geistlichen Spiele an die (spät-)mittelalterliche Weltanschauung, die im Grunde genommen vom kultischen oder religiösen Glauben bzw. Aberglauben bedingt war. Betrachten wir aber Rabers Originalhandzeichnung sowie die Rekonstruktio‐ nen des Bühnenplans erneut, so fällt die Vielortsbühne mit Simultanvorgängen auf. Hierbei handelt es sich um das charakteristische Vielorts- oder Simul‐ tanbühne-Konzept, das mittelalterliche Schauplatzgestaltungen für theatrale Aufmachungen typisch kennzeichnet. Dieses Konzept lässt vermuten, dass sich mittelalterliche Zuschauende bei den Oster- und Passionsspielen mitten im theatralen Geschehen befanden oder dass Darstellergruppe und Zuschauer‐ menge manchmal ineinanderflossen, da keine scharfe Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum existierte. Auch bei der Darbietung liegt die Annahme nahe, dass - wie es im Mittelalter üblich war - die Zuschauenden entweder von Schauplatz zu Schauplatz mitgingen oder dass sie sich je nachdem in die Richtung bestimmter laufender Simultanvorgänge drehten und ihre jeweiligen Blickrichtungen entsprechend von Szene zu Szene schwenken mussten: so etwa bei den Simultanvorgängen der Szenen 7 bis 10 bezüglich der dreimaligen „Verleugnung des Petrus und seiner Reue“, bei der „Inquisition Christi“ und der „Führung Christi zu Kaiphas“. Über das Bozner Passionsspiel hinaus werden im nachstehenden Teil die Entwicklung der Passionsspiele und ihre Inszenierungssowie Wirkungsstrategien behandelt. 120 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 290 Vgl. Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 197. 291 Ebd., S. 196. 292 Ebd. 293 Ebd. 294 Für einen Quellenüberblick über die Handlungstexte bis zum 16. Jahrhundert siehe Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, a. a. O., S. 33. 295 Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 196. 2.1.6.2. Die geistlichen Spiele: Entwicklung und Inszenierungssowie Wirkungsstrategien Zur eigentlichen religiösen Charakterform haben sich die Passionsspiele aus dem mittelalterlichen Drama bzw. aus den geistlichen Spielen in der Kirche entwickelt. Die katholisch-christliche Eigentümlichkeit dieser Spiele ist anfangs unzweifelhaft: Der Inhalt ist durch die Bibel und die Liturgie fundiert. 290 Die Sinneigenart steht in engem Zusammenhang mit der Liturgie und „offenbart sich im Ursprung; aus dem Gottesdienst ist es gekommen, Gottesdienst ist es geblieben.“ 291 Der Sinn ergibt sich vor allem aus der gottesdienstlichen Funktion und religiösen Angelegenheit. Dabei drückt sich die strikte religiöse Charakterform der Inhalts- und Sinneigenart in einzelnen Bestandteilen aus, die für eine „religiöse Feier“ 292 stehen und somit das geistliche Spiel zu einer kirch‐ lich-kultischen „Erinnerungsfeier“ 293 erheben. Es lässt sich schlussfolgern, dass die andächtige Erinnerung an das Leiden, den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi den Kern der Oster- und Passionsspiele bildet - insofern als er ( Jesus Christus) laut den Evangelien stellvertretend für die Menschen geopfert wurde. Dies kommt z. B. in Oster- und Passionsspielen als Ausdruck eines Stellvertretungsspiels vor, das als eine sich wiederholende Opferung Christi (am Beispiel der Kreuzigungsszenen 294 ) für eine erneuerbare und gemeinsame Erlösung der Gläubigengemeinschaft gilt. Während des Spielverlaufs bilden hierfür „Mitwirkende und Anwesende […] eine Gemeinschaft [von] Gläubigen“, die „die Erhebung zu Gott begehen.“ 295 Die Bildung einer solchen „Gemeinschaft von Gläubigen“ wird außerdem durch die theatrale Raumgestaltung hervorge‐ hoben: Es besteht keine strenge Trennlinie (im Sinne einer vierten Wand) zwischen Bühnen- und Zuschauerraum. Eine direkte Ansprache des Publikums ist das übliche Spielverhältnis zwischen Darstellenden und Zuschauenden: Die Funktion des Procursors kennzeichnet sich beispielsweise in Vorspielen und manchmal am Ende der Spiele durch Ansprachen an die Zuschauenden. Hier ein Beispiel aus der Haller Passion: 121 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 296 Haller Passion. I. Spiel, in: Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O. S. 279. 297 Heinz Kindermann: Bühne und Zuschauerraum. Ihre Zueinanderordnung seit der Antike, Bd. 242, 1. Abhandlung. Wien: Kommissionsverlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963, S. 16. Der Präcursor mahnt zur Aufmerksamkeit und kündigt die Bedeutung des Spieles an […] Am ersten wirt euch kundt getan, Wie Luciper pringt auf dy pan Aus der hell die gesellen sein. Den hielt er fur sein klag und pein: 5 Wie er nit verstuent die mer, Ob Jhesus mensch oder got wer, So in kainer mocht uber winden; Darum sltn sy ain anderen sin vinden, Dar durch sy wurden under weist, 10 Ob er ain mensch wer oder ain geist; Dan die altväter, so in der vorhell send gesessen, Theten sich grosser freid vermessen, Wie sy erlost wurden in freiden. Das mocht der teufl nit erleiden, 15 Sunder er erdacht ainen list: Ist sach, das er warer got ist, So mag er nit tod leiden noch schmerz; […]. 296 Es geschieht nicht selten, dass Handlungsvorgänge auf Simultanschauplätzen fallweise in sehr unmittelbarer Nähe oder inmitten der Zuschauenden ablaufen: Gruppen von Darstellenden und Zuschauenden verschmelzen, was zu einem dynamischen Gemeinschaftsgefühl der Gläubigen führt. Diesbezüglich ist Heinz Kindermann zuzustimmen, wenn er der Meinung ist, dass das Publikum, aus Familienmitgliedern und Freund_innen bestehend, von Bühnenort zu Bühnen‐ ort mitgezogen sei, während das verlorene Paradies, die Höllennähe und die Notwendigkeit der Entsühnungserringung im Bewusstsein vorhanden gewesen seien. 297 Außerdem soll das christliche Familienbzw. Gemeinschaftsgefühl während der theatralen Darbietung - nach dem Vorbild der Messe - durch die gespielten liturgischen Glaubenslehren sinnlich und mit performativen Bildersequenzen verstärkt werden, die wiederum die Wirkung der gespielten Vorgänge garantieren sollen. Dieses wirkungsorientierte Ziel verfolgend und 122 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 298 Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 197. 299 Ebd. von dem Standpunkt einer „selbstverständlichen Zusammengehörigkeit“ 298 aller Gläubigen sprechend, werden regelmäßig „die dargebotenen Vorgänge als Exempel von vorbildlicher oder abschreckender Bedeutung hingestellt.“ 299 Dies kommt am deutlichsten in den Aussagen des Procursors zum Ausdruck - z. B. in der Bozner Passion nach dem Verrat des Judas, der Gefangennahme Christi, der Verleugnung des Petrus, der Inquisition Christi und seiner Führung vor Kaiphas: In dye Perasceves. […] [I]u nomino ejus, cujus passionem designare intendimus. […] Procursor primo […] intrat et dicit rigmum: […] Nu merckt, ir herren, all geleich, Payd arera und aucli reich, 1195 Frawen und auch man, Was ich euch zw sagen han: Wo wir es nachten haben gelan, Da heb wir es hewt wider an Und sagen, wie Jhesus Crist 1200 Als hewt gemarttert worden ist. Darumb, ir sälgen kindt der krystenhait, Ir sült mit andacht sein peraidt. Zw schreyben in ewer hertz die wort […] 1205 Got selbs gesprochen hat Durch den prophetten an ainer stat. Des nam ist Moyses genant, Das puech levitticus wol erkant. Dar in die wort geschriben stau, 1210 Von den ich willen zw reden han; Si geleichent dissem tag wol, Ain yeder mensch sy mercken sol. Und ist also der wörtter sag: Der mensch, der hewt an dissem tag 1215 Sich nit petrüebt, der wirt verderben Von seinem volk und ewiklichen sterben. „Ich nym in von dem volk mein: “ Dye wort sült ir alle mercken sein, Welt ir von got nit sein vertriben 123 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 1220 Und weit alle werden verschriben In das puech der ewikait, Da ewige frewdt uns ist peraydt. Darumb seydt petrüebt hewt in got Und treybt daraus nit schimpli noch spot, 1225 Als man manigen groben menschen vindt: Alspald er enphindt, Das ainer in ainem reim misredt, So treybt er dar aus sein gespött Und lacht der figur gar. 1230 Des man nicht tuen solt fürwar; Wan es doch zw eren Jliesu Crist Gäntzlich an gefangen ist Und nit aus gespötterej, Noch in sölicher pueberey, 1235 Als ims offt ainer fürnympt, Dem es nit wol tzimpt. Und doch durch got an gefangen ist Und tzw bedencken das leiden Jhiesu Crist, Das durch söliclis spill, 1240 Der es sunst petrachten wil, Vil merr zw andacht wirt bebegt; Wan so man es mit wortten redt. Darumb seydt hewt betriiebt mit got Und bebaint sein marter und sein tot, 1245 Die der herr hewt gelitten hat Von wegen unser grossen missetat: Er gab für unseren tot sein leben, Darumb das uns das leben wurd gegeben. mensch, gedenck der liebe gross! 1250 Wir wären noch des tieffels genos: Sein edels pluet der herr verrert. Damit hat er uns von der hell ernert. Da sült ir hewt gedencken an, Ir lieben kristen, frawen und man, 1255 Und last ewch hewt nit verdryessen, Sunder dye tzächer von den äugen fliessen Pewaint sein heillige martter rain Und seydt nit hertter dan die stain; Dye mochten erleyden nit den tot: 1260 Sy zerkluben sich von rechter not. 124 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 300 Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. 77-81. Sun und man von seiner pein Verluren im liechtten schein: In vinster wardt verkert der tag. Dye erdt erpydmedt von der klag, 1265 Der fan wardt zerrissen in dem tempel. Da pey nempt euch ain exempel Von seines todes pittrikait. sälger mensch, nu piss peraydt Zw tragen seiner marter schein 1270 In klag von gnint des hertzen dein; Und stet mit gantzem hertzen pey Der werden junchf'rawn, magt Marey, Die kläglich und in Jammers not Als hewt pebaint irs heben kindes tot. 1275 Das süll wir hewt mit schmerzen Begraben in unsere hertzen Und Süllen der magt rainen Ir layd helffen pebainen Und Jammer mit ir tragen, 1280 Das uns werdt abgetz wagen Unser sündt und missetat, Das wir kummen an die stat Der statten frewdt und sälikait, Dye uns von got ist beraydt 1285 In seinem fronnen himelreych. Das wir das niessen ewikleich Durch seinen heiligen nammen, Des helf uns gott! Sprecht alle: „Amen! " […]. 300 Auf der Grundlage von derartigen auffordernden und langen Monologen des Procursors werden den Zuschauenden Elemente christlich-charakteristischer Rezeptionshaltung sowie emotionaler Reaktionen zur Verfügung gestellt. Die grundlegende Funktion dieser Procursorfigur, die in diesem Fall als christ‐ lich-autoritäre Instanz auftritt und auf der Seite Gottes steht, liegt darin, den Zielsetzungen (Vergebung, Erlösung, Entsühnung, Gemeinschaftsbildung, Erhöhung zu Gott etc.) der katholischen Kirche folgend eine glaubhafte und wirkungsorientierte Aufführungssituation herzustellen, in welcher über die performativ-sinnliche Wahrnehmung liturgischer Glaubenslehren eine Trans‐ 125 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 301 Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 197. 302 Vgl. ebd. 303 Vgl. Andreas Kotte: „Vom Verstummen der Texte angesichts des Wunders. Wirkungsst‐ rategien im geistlichen Spiel“. In: Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2007: S. 189-200, hier 190. 304 Vgl. Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 196ff. 305 Vgl. ebd., S. 196. formation der Zuschauenden erfolgen soll. Demnach wird z. B. in vielen Auf‐ führungen die Figur der Maria Magdalena hinsichtlich ihrer Abkehr von dem weltlichen Leben, ihrer Bekehrung als Dankbarkeit für den Opfertod Christi und folglich den Zuschauenden als ein nachzuahmendes, vorbildliches Beispiel unmittelbar präsentiert. Wie Brinkmann anmerkt, sei sie „im Alsfelder Passi‐ onsspiel […] dem Publikum […] als Beispiel vorgeführt“ 301 worden. Der Glaube an die gespielten Vorgänge - z. B. an das Leiden und den Opfertod Christi - ist die Voraussetzung für die zu erringende Entsühnung und Transformation. Eine Transformation der Mitwirkenden und Anwesenden wird auf der Grundlage „inniger Anteilnahme am Spiel [vollzogen]. Voraussetzung dafür ist andächtiges Zuhören, Ergriffensein, Mitleiden im eigentlichen Sinn, compassio wird für das Leiden Christi gefordert […]. Tränen sollen sichtbarer Ausdruck des Mitleidens sein.“ 302 Andreas Kotte vermutet z. B., dass die gespielte religiöse Charakterform in der sinnlichen Erfahrung transformiert enthalten sei und nachhaltig wirke. Ihm zufolge sei die „Wirkung des Religiösen als eine dreifache beschreibbar, als die des Geheimnisses, die des Wunders und die der Autorität.“ 303 In der limina‐ len Aufführungssituation wird eben diese Wirkung des Religiösen durch die Einladung zur compassio, zum emotionalen Einswerden mit dem Leiden Christi, gesteuert sowie durch das autoritäre und nicht infrage zu stellende Auferste‐ hungsgeheimnis und -wunder im Hinblick auf die Hoffnung gemeinschaftlicher Erlösung und Erhebung zu Gott verstärkt. In diesem Zusammenhang stehen etwa die Passionsspiele, wie die der Bozner Aufführung, weniger für die imitatio und die Wiederholung des Leidens und des Todes Christi als vielmehr für eine „sittliche Erneuerung“ der „Befreiung von Sünden“ sowie der „Erlösung“ und für die „Erinnerungsfeier“ 304 im Blick auf die triumphierende Auferstehung Christi. Demnach finden Brinkmann zufolge Kreuzesopfer und Erlösung immer wieder statt - „aus lebendigem Glauben an sie haben sich symbolische Bräuche zu Osterfeier und Osterspiel versinnlicht.“ 305 Abgesehen von den bisher behandelten Überlegungen zum katholisch-reli‐ giösen Ursprung und Funktionscharakter der geistlichen Spiele sei zusätzlich 126 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 306 Ernst August Schuler: Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele und Passionen des Mittelal‐ ters, Kassel und Basel: Bärenreiter-Verlag 1951, S. 7. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Wolfgang F. Michael: Frühformen der deutschen Bühne, a. a. O., S. 11. angemerkt, dass der Übergang vom liturgischen Text zur Aufführungspraxis bzw. zur performativ-sinnlichen und bildgenerierenden Darstellung sowie An‐ schauung der christlichen Glaubensinhalte bereits im Verlauf des kirchlichen Ritus theatral vorhanden ist. Es handelt sich um die katholische Messe, deren Verlauf theatrale Elemente aufweist: In Anlehnung an Ernst August Schuler drehen sich derartige beobachtbare, theatrale Elemente um „die äußerlich sichtbare Handlung, die Zeremonie“, 306 und um „das Dialogische des Gesangs […].“ 307 Diese beiden Komponenten haben laut Schuler ein drittes Element benötigt: „die Verkörperung einer darzustellenden Gestalt, eine darstellende Person.“ 308 Anknüpfend an die performativen Vorgänge am und rund um den Altar und seine Funktion (als Ort der Eucharistiefeier), ist aber die performa‐ tiv-darstellende Person bereits latent zugegen - wenngleich noch nicht explizit wie in den begesprochenen performativen Spielen. Aus der Perspektive eines theatralen Standpunkts steht der Altar für „die Wiege des religiösen Dramas. Er stellt das Grab Christi dar; hier wird der dramatische Embryo, die quem queritis-Trope des Ostertages, durch Rollenverteilung, dann durch Personifizie‐ rung aus einem Zwiegesang zum Drama.“ 309 In der Tat handelt es sich hierbei um eine Darstellung des ausschlaggebenden Ereignisses: des Osterwunders. Zu Beginn hört die verbale Durchführung des Gottesdienstes auf. Dann entwickelt sich schnell eine theatral-liminale Situation, in welcher der Altar zum Grab Christi umfunktioniert wird. Borcherdt beschreibt den gesamten Vorgang bis zur Auferstehung wie folgt: Dort wird das Kreuz bis zur Auferstehung bewacht. Seine Wegnahme, die sogenannte Kreuzerhebung „Elevatio“, vollzieht sich gewöhnlich ohne Zeremonie vor der Oster‐ matutin. Erst am Ende dieser Feier entwickelt sich dramatisches Leben. Ein Mönch in der Albe, dem Chorhemd, eine Palme in der Hand, setzt sich neben das Tuch, das vorher das Kreuz bedeckte und nun am Boden liegt. Drei Brüder, die drei Marien darstellend, in der Cappa mit emporgeschlagener Kapuze gehüllt, kommen mit Weihrauchgefäßen in der Hand langsam näher, als ob sie etwas suchten. Damit sind bereits der Engel und die drei Frauen im Gewande unterschieden, die ersten Andeutungen des Kostüms gegeben. Dazu kommt, dass der suchende Gang der Frauen und die Bewegungen des Engels die ersten Ansätze zu einer mimischen Ausdruckskunst entfalten. Nun folgt der Wechselgang des Tropus. Der Engel hebt 127 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 310 Hans Heinrich Borcherdt: Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance, a. a. O., S. 6. 311 Vgl. Ernst August Schuler: Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele und Passionen des Mittelalters, a. a. O., S. 8. 312 Vgl. Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, a. a. O., S. 1. 313 Ebd., S. 35. 314 Für einen Quellenüberblick über die Handlungstexte bis zum 16. Jahrhundert bezüglich der gespielten wichtigen Ereignisse aus dem Leben und Wirken Christi siehe Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, a. a. O., S. 28-34. 315 Ebd. 316 Vgl. ebd., S. 1. hierauf das Tuch auf und zeigt, daß das Kreuz nicht mehr da ist. Die Marien stellen die Weihrauchfässer in das Grab, ergreifen das Tuch, breiten es nach dem Klerus hin, um zu zeigen, daß Christus auferstanden ist. In dem Hymnus „Te deum laudamus“ klingt die heilige Handlung aus. Ihr Sinn ist nicht ein künstlerischer, sondern ein religiöser. 310 Dieser beschriebene szenische Vorgang bildet etwa den Grundriss der zukünfti‐ gen großen Oster- und Passionsspiele: In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass die „Anbetung des Kreuzes“ (Adoratio crucis), die „Grablegung des Kreuzes“ (Depositio) und die „Erhebung des Kreuzes“ (Elevatio crucis) 311 drei wichtige Stützen bilden, auf welchen die Schlüsselszenen sowohl der Osterfeiern als auch der Oster- und Passionsspiele im Laufe der Zeit verschiedenartig ausge‐ baut wurden. In dieser Hinsicht haben die Passionsspiele wie die Osterfeiern und Osterspiele einen ausschließlich religiös-institutionellen Ursprung, zumal „diese in der römisch-katholischen Kirche überall bekannt, also eine allgemeine kirchliche Einrichtung waren.“ 312 Bekanntlich sind die eigentlichen Passionsspiele aus verschiedenen Entwick‐ lungsstufen der Osterfeiern und der Osterspiele mit der dezidierten Absicht entstanden, nun „alle wichtigen Ereignisse aus dem Leben und Wirken Christi in dramatischer Form zur Anschauung“ 313 zu bringen. 314 „Der Beifall, den die Aufführung der Osterfeiern und Osterspiele bei dem Volke fand“, 315 sei die Entstehungsmotivation der Passionspiele gewesen. Hierzu sieht Wirth in der Entwicklung drei Phasen: Ihm zufolge weise die erste Stufe, die älteste, nur die Grabszene auf. Zwei Szenen machen laut Wirth die zweite Entwicklungsstufe aus: die Grab- und die Apostelszene, die den Wettlauf von Petrus und Johannes zum Heiligen Grab darbietet. Die dritte Stufe bestehe aus der Grab- und der Erscheinungsszene, in welcher Christus Maria Magdalena erscheint, und manchmal auch aus der Apostelszene. 316 128 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 317 Unter dem mittelalterlichen Drama wird hier die Osterfeier gemeint. Vgl. Ernst August Schuler: Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele und Passionen des Mittelalters, a. a. O., S. 5. 318 Ebd., S. 6. 319 Vgl. ebd., S. 5-6. 320 Ebd., S. 6. Schuler arbeitet bezüglich der Entwicklung dieser Osterfeier bzw. des mittel‐ alterlichen Dramas 317 drei Typen heraus, die mit den von Wirth erwähnten Entwicklungsphasen mehr oder weniger deckungsgleich sind. Aus lateinischem und gesungenem Text bestehend, stehe der erste Typus laut Schuler in Verbin‐ dung mit der Osterfeier, die etwa im 10. Jahrhundert während der Liturgie innerhalb der Kirche selbst aufgeführt wird. Die Szenen dieses Typus bestehen aus dem „Besuch der Marien und Apostel am Grabe Christi nach seiner Auferste‐ hung, die >Visitatio sepulchri<, der allenfalls noch die Christus-Erscheinungen vor Magdalena hinzugefügt werden.“ 318 Der zweite Typus, das eigentliche Osterspiel, gehe mit der Aufführungspraxis einher und sei das Ergebnis einer Übersetzung der „lateinischen Gesänge […] in die Vulgärsprachen“ und eines „neu hinzugekommenen gesprochenen volkssprachlichen“ Textes. 319 Im Verlauf dieser zweiten Typusentwicklung komme es zu einer zunehmenden Distanzie‐ rung vom liturgischen Kontext - durch die Verlegung des Aufführungsschau‐ platzes vor die Kirche, durch die Heranziehung von Laienmitwirkenden und durch den Ausbausowie durch Erweiterungstendenzen der Spiele: Den Spielen des zweiten Typs gehören folgende Handlungen zu: 1. Die um die Szene beim Salbenkrämer erweiterte Osterfeier, das Osterspiel im engeren Sinne. 2. Die Auferstehung und Höllenfahrt Christi, welche sich in Erlau V und Böhmen III zu selbständigen Spielen entwickelt hat. 3. Die Marienklage: diese umfangreiche, teils völlig gesungene, teils etwa zu gleichen Teilen gesungene und gesprochene, fast vollständig deutsche Szene geht gern eine Verbindung mit den Osterszenen ein. Zuweilen begegnet sie uns auch als selbständiges Spiel, wenn nicht als Fragment. In den Passionen bleibt sie ziemlich unverändert bestehen. 4. Mit der Darstellung des Weltlebens und der Bekehrung der Magdalena wurde eine weitere Handlung in die Spiele aufgenommen, welche sich in Erlau IV sogar zum selbständigen Spiel ausgewachsen hat. 320 Hinsichtlich dieser ausgebauten und erweiterten Handlungen passe, Schuler zufolge, die Bezeichnung Osterspiel bei diesem zweiten Typus. 129 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 321 Ebd., S. 7. 322 Vgl. Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 199. Die großen Passionsspiele des 14. und 16. Jahrhunderts machen den dritten Typus aus und beinhalten die angesprochenen Szenen des ersten und zweiten Typus. Sie kennzeichnen sich vor allem durch überwiegend volkstümlich gesprochene Texte, die neben den in den Hintergrund gerückten Gesängen wichtiger geworden sind. Charakteristisch für die Spiele dieses dritten Typus ist ferner die „ungeheure Ausdehnung des dargestellten Stoffes, welcher alles umfassen kann, was sich zwischen dem Engelsturz und dem jüngsten Gericht abgespielt hat.“ 321 Über die angesprochenen Entwicklungsphasen der geistlichen Spiele hinaus, wie sie Wirth und Schuler beobachtet haben, erweist sich eine stilistische Betrachtung als ebenso aufschlussreich, um erneut die Frage der eingesetz‐ ten Inszenierungs- und Wirkungsstrategien dieser Spiele aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten. In der Tat prägen unterschiedliche Stile die Auffüh‐ rungspraxis im Entwicklungsverlauf dieser geistigen Spielpraktiken. Solche Inszenierungsstile sind auch mit den bereits diskutierten Entwicklungsphasen Hand in Hand gegangen. Unter Stil wird hier die eigenartig ausgeprägte Ausdrucks- und Erscheinungsform dieser Spiele in Relation zu der Aufführungs‐ praxis und zu der performativ-ikonografischen Konsolidierung der christlichen Glaubensinhalte verstanden. Steht die Aufführungspraxis für eine theatrale Darstellung zur sinnlichen Anschauung und Wahrnehmung liturgischer Glau‐ benslehren, so erfolgt die Aufforderung zum Glauben auf der Grundlage einer stilisierten Gestaltung aller charakteristisch-christlichen und somit göttlichen Erscheinungshaltungen: dies kommt erst mittels performativer und sinnlicher sowie bildgenerierender Hervorbringung, Nachahmung sowie Wiederholung zustande. Die Bühne wird so zur imitatio […]. Um den Abbildcharakter des mittelalterlichen Theaters zu verstehen, darf man vielleicht daran erinnern, daß die Kategorie der Imitatio für mittelalterliche Anschauung entscheidende Bedeutung besitzt, denn die Schöpfung selbst ist ja imitatio dei, zu vollkommener Nachbildung Gottes geschaf‐ fen. 322 Der Inszenierungsstil der Passionsspiele steht in enger Relation zu Kategorien der imitatio und der Vollkommenheit alles Göttlichen und Heiligen: Der Stil wird angesichts der intendierten Wirkung von der idealistischen Gestaltungs- und Erscheinungsform bedingt, die sich von der real-irdischen oder weltlichen Umgebung abhebt. Derartige Darstellungsstile lassen sich z. B. sehr früh in 130 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 323 Ebd., S. 204. 324 Ebd., S. 196. 325 Ebd., S. 204. den ersten Entwicklungsphasen der geistlichen Spiele beobachten. Da christli‐ che Glaubensinhalte durch theatral-beispielhafte Vorgänge sittlich-vorbildliche Geltung besitzen und als christlich-charakteristisches Erscheinungsbild sinnlich vermitteln müssen, kommt es in der Aufführungspraxis zu gruppentypisch-ka‐ tegorisierenden, binär-klassifikatorischen, zwischen guten und bösen bzw. christlichen und weltlichen/ teuflischen unterscheidenden Darstellungsformen. Folglich werden beispielsweise darstellende Gestalten von Christus und anderen Heiligen, wie Brinkmann bemerkt, durch „stets gemessene, würdige Haltung“ und „liturgische Feierlichkeit“ 323 modellhaft arrangiert und auf den Spielschau‐ platz übertragen. Das Ziel sei es, anhand der realistischen Inszenierungsstrategie die „Schar von Weltkindern“ 324 und die „widerchristliche Schicht im Drama zu kennzeichnen, während göttliche und gottnahe Personen stilisiert und zugleich typisch dargestellt werden.“ 325 Solche inszenierungsspezifischen Strategien, die bereits im Dienst der frühmittelalterlichen Kirche standen, verwenden die gleichen Mittel, wie wir sie im aristotelischen bzw. klassischen Theaterkonzept kennen, hinsichtlich der Konstruktion von Protagonisten und Antagonisten, guten und bösen Charakteren für eine spannungsvolle Handlung. In den geistlichen Spielen des Mittelalters werden widerchristliche Antagonisten (z. B. Teufel- und Judenfiguren sowie alles Irdische und Weltliche) mit komischen, sündhaften, unzulänglichen und unvollkommenen Zügen im Erscheinungsbild versehen. Sie stehen als funktionaler Gegenpol zur göttlichen Heiligkeit und Vollkommenheit: Die Freude an dem komischen Abbild der umgebenden Welt steht aber nicht etwa im Widerspruch zu der durchaus christlich-kirchlichen Haltung des Mittelalters. Deren Grundgefühl ist die Ehrfurcht vor dem Göttlichen mit ihrer korrespondierenden Verwerfung des Irdischen. „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes“ ist der Sehnsuchtsschrei des mittelalterlichen Nur-Christen. Die Sündhaftigkeit, Unzulänglichkeit, Unvollkommenheit alles Irdischen ist dem Mittelalter Glaubensdogma. Die Komik aber stellt Beispiele dar, die dieses Dogma zu beweisen scheinen, denn sie wählt zu ihrem Abbildungsstoffe gerade die ungöttlichen, reinmenschlichen, triebhafttierischen Seiten des Lebens mit ihren Schwächen, die Unzulänglichkeiten, Unvollkommenheiten des irdischen Menschen. Insofern verrich‐ tet die Komik die Dienste der Kirche. Diese ist ihr auch nicht feindlich gesinnt, wenigstens nicht so lange sie Mittel zum kirchlichen Zwecke bleibt. Der zürnende Eifer der Kirchenväter wende sich lediglich gegen das Übermaß, das die kirchlichen 131 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 326 Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Leipzig: Verlagsbuchhandlung J. J. Weber 1923, S. 4-5. 327 Haller Passion. I. Spiel, in: Josef Eduard Wackernell (Hg.): Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, a. a. O., S. 279. 328 Ebd., S. 4. 329 Die Bezeichnung bedeutet aber nicht, dass das Innsbrucker Osterspiel aus Innsbruck stammt. Es entstammt trotz dieser Bezeichnung einer thüringischen Volkssprache aus Mitteldeutschland im 14. Jahrhundert. Zwecke verdunkelt […]. Zur Erkenntnis und Darstellung des Lugs und Trugs im Weltleben ist die Komik der Kirche willkommen; aus dem Zeugen des Weltleids darf sie aber nicht zum Verkünder der Weltfreude werden. Alles Irdische gibt die Kirche dem Spiele der Komik preis, selbst die eigenen Einrichtungen, soweit sie menschlicher Herkunft sind, selber die eigenen Diener. Doch das Geistige muß unberührt bleiben. Alle Lehren sind heilig und unantastbar. Und die Lehre der Kirche ist es, daß uns erst im Jenseits das Heil und die Freude erwartet, im Diesseits wandeln wir in einem Jammertal. 326 In dem gedanklichen Gehalt dieses Zitats beruht die Wirkungsstrategie der Aufforderung zum Glauben, die folglich der Bewunderung und der Identifika‐ tion mit dem Heiligen/ Göttlichen und der Distanz vom Weltlichen/ Teuflischen entspringt. Neben das inszenierte Erscheinungsbild des Teufels, der nicht erträgt, dass der auferstandene Jesus Christus die Altväter in der Vorhölle rettet, und der sich als Sünder eine List erdenkt, um Jesus davon abzuhalten, werden die Judenfiguren in den Mittelpunkt der geistlichen Inszenierungen gerückt, insofern als sie Jesus wegen seiner Erweckung von Lazarus gehasst haben, sich des Todes Christi freuen und seine Auferweckung mit der Grabbewachung verhindern wollen. Beispiele: In der Haller Passion bezeichnet der Procursor den Teufel als Sünder, der gegen die Rettung der Altväter aus der Vorhölle ist: „Dan die altväter, so in der vorhell send gesessen, / Theten sich grosser freid vermessen, / Wie sy erlost wurden in freiden. / Das mocht der teufl nit erleiden, / Sunder er erdacht ainen list“ (Vers: 11-15). 327 In der Tiroler Passion nennt er den Grund, warum die Juden Jesus hassen: „Als er Lasarum erbeckt hett, / Darum er von den juden grossen neyd ledt.“ (Vers 15 und 16). 328 Im Innsbrucker Osterspiel 329 werden die Juden in der Synagoge komisch singend inszeniert, um dadurch ihre Art zu charakterisieren, wie sie ihren Gott anbeten. Dabei geht es um ein komisches, nicht verstehbares und nichtssagendes Lied, dessen Text nicht übersetzbar ist. Der Liedtext kommt an einer Stelle unübersetzt neben anderen übersetzten Texten vor: 132 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 330 Das Innsbrucker Osterspiel, herausgegeben und übersetzt von Rudolf Meier. Stuttgart: Philipp Reclam 1962, S. 8-9, 10-11 und 14-11 331 Vgl. Elke Koch: „Inszenierungen des Heiligen. Spielspezifische Strategien am Beispiel hessischer Passionsspiele“. In: Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, a. a. O., S. 201-217. 332 Vgl. Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels, a. a. O., S. 4. 333 Hans Heinrich Borcherdt: Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance, a. a. O., S. 1. tunc Judai cantant Judaicum: Nun singen die Juden in ihrer Sprache: Chodus chados adonay Chodus chados adonay sebados sissim sossim sebados sissim sossim chochun yochun or nor chochun yochun or nor 60 yochun or nor gun 60 yochun or nor gun ymbrahel et ysmahel ymbrahel et ysmahel ly ly lancze lare ly ly lancze lare vczerando ate lahu dilando vczerando ate lahu dilando sicut vir melior yesse sicut vir melior yesse 65 ceuca ceuca ceu 65 ceuca ceuca ceu capiasse. amel! capiasse. amel! 330 Als „spielspezifische Strategien“ in dergleichen „Inszenierungen des Heiligen“ 331 geht die Hervorhebung der Vollkommenheit des Göttlichen mit einer unmittel‐ bar-deutlichen Kontrastierung der Unvollkommenheit des Teuflischen einher. Die bezweckte Wirkung erfolgt umso stärker, weil die Autorität der Kirche und ihrer zu vermittelnden christlichen Glaubenslehren im Mittelpunkt des mittel‐ alterlichen Menschen feststand, der nichts anderes konnte, als zu glauben und sich entsprechend zu verhalten. 332 Das Fehlen eines distanziert-kritischen und objektiven Denkens den inszenierten christlichen Glaubensinhalten gegenüber trat bis zum hohen Mittelalter symptomatisch auf: [Die] feste transzendente Ordnung […], der Glaube an die Allmacht und den Allein‐ wert übersinnlicher, geistiger Gewalten ist der Ausgangspunkt […]. In der Kunst, Literatur und Theater des hohen Mittelalters ist darum das Verhältnis des Menschen zur Welt durch den spirituellen und transzendenten Idealismus der religiösen Welt‐ anschauung gebunden. 333 Ab dem Spätmittelalter - vor allem in der dritten Entwicklungsphase der geistlichen Spiele - setzen sich ein geistiger Wandel und somit ein naturalisti‐ scher Inszenierungsstil durch: „Figuren und Szenen werden jetzt überwiegend naturalistisch behandelt, nach der Umwelt, der bürgerlichen Atmosphäre der spätmittelalterlichen Stadt gesehen und gestaltet. Mit Heiligem wird wie mit 133 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 334 Hennig Brinkmann: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, a. a. O., S. 205. 335 Vgl. Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, a. a. O., S. 201-225. 336 Ebd., S. 202. 337 Vgl. Erich Krüger: Die komischen Szenen in den deutschen geistlichen Spielen des Mittelalters, Wertheim a. M.: Buchdruckerei E. Bechstein 1931. einem selbstverständlichen Element [des] Lebens umgegangen und gespielt.“ 334 Seitdem werden die Oster- und Passionsspiele z. B. von komischen Szenen überwuchert: Wirth thematisiert das „Komische in den geistlichen Spielen“ wie „Vermummungen, Masken, Witze, Späße, Spöttereien, Entblößung des Körpers.“ 335 [Abgesehen von] Vermummungen kommen auch Entblößungen des Körpers vor, z. B. Donaueschinger P. Sp. 2103 -7. Malchus weil die Jünger fangen, welche jedoch entwischen; statt deren ergreift er den blinden Marcellus, der [bloß] in ein Leintuch gehüllt bei Seite stand. Marcellus aber [lässt] das Leintuch fahren und entrinnt nackend! NB. Dies geschieht während der Gefangennahme Christi. 336 In Anlehnung an Wirth analysiert auch Erich Krüger in seiner Dissertation Die komischen Szenen in den deutschen geistlichen Spielen des Mittelalters. 337 Dieses Phänomen des Komischen „sabotiert“ einigermaßen das ursprünglich-religiöse Anliegen, anhand der Aufführungspraxis dieser Spiele die christliche Heilsge‐ schichte an Menschen sinnlich zu vermitteln. Der naturalistische Darstellungs‐ stil hat viel dazu beigetragen, dass die ursprüngliche religiöse Charakterform der Oster- und Passionsspiele einer Transformation unterzogen wird. Dennoch, wie bereits erwähnt und im besonderen Fall der Bozner Passionsaufführung, entspringen die Handlungstexte dieser Oster- und Passionsspiele den Evange‐ lien bzw. der Bibel. Das heißt wiederum, dass bestimmte biblische Inhalte als Inspirationsquellen je nach Aufführungsperspektiven entnommen und umge‐ dichtet, umgeordnet und manchmal mit erfundenen oder weltlichen Elementen unterschiedlich ergänzt werden. Außerdem werden alte Textvorlagen für die Verfassung anderer Stücke verwendet. Als Folge weisen z. B. die gleichen Szenen unterschiedlicher Standorte Verschiedenheiten auf. Diese Verschiedenheiten und sogar Abweichungen führen auf die Tatsache zurück, dass „der eine Verfas‐ ser […] alle wichtigen Ereignisse aus dem Leben Christi darstellen [wollte], der andere nur die Hauptbegebenheiten, der dritte folgt bei seiner Auswahl einem bestimmten Evangelium oder einem geistlichen Gedichte oder andern dergl. 134 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 338 Vgl. Ludwig Wirth: Die Oster- und Passionsspiele bis zum XVI. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte des deutschen Dramas, a. a. O., S. 27. 339 Brigitte Marschall: „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theaterge‐ schichte“, a. a. O., S. 34-35. Darstellungen […].“ 338 Die Verschiedenheiten und Abweichungen, um die es in den doch ähnlichen Szenen der verschiedenen Passionsspiele geht, haben für de‐ viante Transformationen bis zu radikalen Umkehrungen und dem Herauslösen vom ursprünglichen christlich-religiösen Kontext den Weg geebnet. Hierbei ist Nitschs grenzüberschreitendes Theaterkonzept beispielhaft: Wie bereits beim Sechstagespiel aufgefallen ist, kennzeichnet sich das Orgien-Mysterien-Theater vor allem durch eine Verwendung katholisch-religiöser, biblischer Motive und Symbole in Hülle und Fülle. 2.1.6.3. Verhältnis des Orgien-Mysterien-Theaters zu den Oster- und Passionsspielen Selbst wenn das Orgien-Mysterien-Theater im Sinne von Brigitte Marschall bereits auf die Tragödie der griechischen Antike in Kombination mit dem dionysischen Kult, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud klar und eindeutig zurückgreift, 339 vertritt die vorliegende Arbeit folgende Position: Das Orgien-Mysterien-Theater ist erstens aus dem Geist der katholisch-christlichen Religion und aus deren Bräuchen am Beispiel der geistlichen Spiele (bezüglich ihrer szenisch-performa‐ tiven und sinnlichen Gestaltungsform) geboren, zweitens daraufhin zu einer religionskritischen, orgiastischen, tabubrechenden Protesttheateraktion (vor allem hinsichtlich des bereits behandelten Entstehungskontexts) entartet. Dies impliziert wiederum, dass Nitsch in einem ersten Schritt auf die religiösen Bräuche der katholischen Kirche hat zurückgreifen müssen, bevor er in einem zweiten Schritt sein Theaterkonzept in Kombination mit der Tragödie der griechischen Antike und dem dionysischen Kult gebracht hat. Überwiegend beruht das Orgien-Mysterien-Theater deswegen auf katholisch-religiösen, bibli‐ schen Glaubenselementen, die Nitsch jedoch dekontextualisiert und in eine rituell-liminale, tabubrechende Theatersituation integriert, in welcher er seine theatrale Protestaktion inszeniert. Wird demnach eine Analogie von Nitschs Theateransatz zu den behandelten Erscheinungsformen der Osterfeiern sowie der Oster- und Passionsdarstellungen gezogen, so lässt sich in dieser Untersu‐ chung schlussfolgern, dass auch die Oster- und Passionsspiele (ob innerhalb oder außerhalb der Kirche) als Bräuche der katholischen Kirche Nitsch als Inspirationsquelle gedient haben: z. B. Rabers Bühnenplan für die Bozner 135 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 340 Hermann Nitsch: „über die raubtierhaftigkeit“, a. a. O., S. 63. Passionsinszenierung von 1514 weist Vielortsvorgänge auf, die - wie schon beim „Abb. 6 & 7: „Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schau‐ platz des Sechstagespiels“ gesehen - auch bei Nitschs Raumgestaltung und Vielortsszenen zu beobachten sind; dazu kommt die sechsbzw. siebentägige Aufführungsdauer. Um es anders zu formulieren: Nicht ursprüngliche religiöse Praktiken der griechischen Antike, sondern katholisch-christliche Religionsri‐ ten und -bräuche sind für Nitsch die unmittelbaren Elemente, anhand derer er, wie er selbst formuliert, „in den bereich der geschichte der mythe, in das sogenannte kollektive unbewusste einsteigen“ 340 kann. Hier besteht auch ein großer Zweifel daran, dass rituelle oder kultische Praktiken der griechischen Antike in dieser Form, wie Nitsch sein rituelles Theaterkonzept vorführt, durch‐ geführt worden waren. Nitsch geht es, wie er selber meint, um den Versuch, eine Art analytischer Religionsarchäologie, die sowohl von der Opferhandlung der christlichen Religion als auch von den Frühformen religiöser Praktiken ausgeht, szenisch-performativ und sinnlich durchzuführen. Wie bereits bezüg‐ lich der außerordentlichen Gestaltung und der tabubrechenden Inszenierung der Wirklichkeitsbereiche seines Theaters aufgezeigt worden ist, bezweckt Nitsch andere Ziele: Seine Version der Opferhandlung erscheint in Form von immerwährenden Variationen des mystischen Leitmotivs, welches das Orgien- Mysterien-Theater durch Ausweidungs-, Mal-, Beschüttungs- und Kreuzigungs‐ aktionen sowie durch einen aktionistischen Umgang mit Blut und Substanzen durchgehend performativ herausarbeitet, exponiert und erfahrbar macht. Auf‐ grund seiner radikalen Umkehrung katholisch-christlicher Glaubensinhalte, die Nitsch als Alibi für den eigenen Theaterzweck verwendet, kennzeichnet sich das Orgien-Mysterien-Theater unter anderem durch unzählige Zitatelemente aus der katholischen Kirche und der Passionsspiele - wie z. B. die Inszenierung einer Messe, die Existenzbzw. Triumphfeier, Prozessionen und Kreuzigungen, Gemeinschaftsbildung während einer sechsbzw. siebentägigen Aufführung. Die Parallele des Nitsch-Theaters zu Passionsspielen liegt darin, dass Nitsch die gleichen Symbolhandlungen und Motive paraphrasierend performiert und/ oder sie zeitgleich radikal umkehrt und subvertiert oder gar sabotiert: so schlug die abgehaltene Messe am fünften Tag der Aufführung nach der Prozession im Sechstagespiel während der Eucharistie, wie bereits beschrieben, in ein or‐ giastisches Fest, in einen chaotischen und unkontrollierbaren Grundexzess um. Die in den Passionsspielen aufgeforderte Identifikation mit Leiden, Opfertod und Auferstehung Christi zur Befreiung von Sünden und zur Erlösung der darstellenden und zuschauenden Gläubigen wird bei Nitsch umgekehrt und 136 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 341 Hermann Nitsch: „versuche zur geschichte der aktion“, In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 114-129, hier S. 121. 342 Vgl. Adrian Daub: „Synästhesie und Gesamtkunstwerk in Hermann Nitschs Musik, In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 752-767. 343 Hermann Nitsch: „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prizendorf geplante 6-tage-spiel“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 150-157, hier S. 150. sabotiert. Die erwartete Identifikation und somit Immersion in Nitschs Theater wird aber zunächst von den inszenierten sinnlichen Leitmotiven „Ursowie Grundexzess, Uranfang, Mutter-, Vater-, Brudermord sowie Mord am Kreuz, Erbsünde“ abgeleitet, die dann durch einfühlende, emotionale und triebhafte Erregungszustände der aktiven Teilhabenden erlebt werden. Letztere lassen sich von hervorgerufenen Trieb- und Erregungssphären zu unkontrollierbar diony‐ sischen und orgiastischen Situationen verleiten - sich folglich gleichermaßen zu Schlachtungs- Ausweidungs-, Zerreißungs-, Kreuzigungs- und Malaktionen transformierend, einhergehend mit ekstatischem Trampeln auf Weintrauben, Obst und Tomaten, auf Tierlungen, Fleisch, Gedärmen und Tierlebern unter Begleitung einer extremen Lärmmusik. Das Element Musik, das aber an die Radikalisierung der künstlerischen Strategien von Fluxus eindeutig erinnert, ist in einer subvertierten Ausdrucks‐ form als Lärmmusik mit einer entsprechenden Partitur vorhanden, die Nitsch selbst am besten versteht: Dem Musikelement, das den Kern der Osterfeiern, Oster- und Passionsspiele bildet und der katholischen Messe bzw. liturgischen Feierlichkeit zugrunde liegt, misst Nitsch im Orgien-Mysterien-Theater auch eine akustische, schockerregende Funktion bei, zur Intensivierung und Hervor‐ rufung dionysischer und orgiastischer Triebsphären. Da die im Sechstagespiel abgehaltene Messe während der Eucharistie zu einem orgiastischen Fest wird, spricht viel dafür, dass es Nitsch im Gegensatz zur katholischen Messe eher um das Inszenieren und Zelebrieren einer von ihm sogenannten „schwarzen Messe“ 341 geht, deren Lärmmusik und die entsprechende Partitur sich ebenfalls als äußerst deviant sowie irritierend erweisen und sich jedem menschlichen rationalen Verstehen entziehen: Das akustisch schockierende Störpotential des Lärmorchesters von Nitsch hat den gleichen Rang wie die visuelle Störung. 342 Auch der Ritus des Abendmahls kommt im selben Spiel vor: Nur ausgewählte Spieldarsteller_innen durften bestimmte Speisen proben, „ähnlich wie bei der kommunion nur einige teilnehmer der messe sich das konsekrierte brot, den leib gottes, zur speise, zur einverleibung nehmen.“ 343 137 2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele 344 Hermann Nitschs Manifest „Die Blutorgel“, In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 46-49, hier S. 46. Außerdem wird die Orgel zu einer Blutorgel, die aber nichts mit einem Musikinstrument zu tun hat. Im Manifest „Die Blutorgel“, das Nitsch anlässlich seiner Malaktion von 1962 verfasst hat, steht eine Reihe von angeeigneten und dann umgekehrten sowie subvertierten Textzitaten aus den Evangelien bzw. der Bibel: Das bekenntnis zur kunstausübung ist priestertum einer neuen existenzauffassung. Die kunst wandelt sich in richtung ihrer innersten aufgabe, sie wird zentrum aller lebensandacht (meditation, gebet, der synthetische gottesdient), ist mittel sich tiefer und intensiver ins leben zu verzücken und muß sich bis zum schamlosen analytischen [Exhibitionismus] steigern, der das opfer einer restlosen selbstpreisgabe verlangt. Ich bin ausdruck aller schuld und wollust der welt. Ich will mich im auferstehungsjubel erkennen […]. Die ORGIE ist existenz-sakrament. 344 Der Inhalt dieses Zitats spricht dafür, dass das Abschreiben und die Umdichtung der Szenen aus den Evangelien bzw. der Bibel zwecks der Inszenierung der Pas‐ sionsspiele, wie bei der Bozner Passionsaufführung von 1514 beobachtet worden ist, auch Nitschs Strategie zugrunde liegen: Dabei radikalisiert er z. B. nicht nur die Strategien des angesprochenen naturalistischen Inszenierungsstils der Passionsspiele hinsichtlich des Komischen, der Insubordination und Umkehrun‐ gen. Vielmehr berührt und greift er zielgerichtet emotionale Empfindlichkeiten sowie Erwartungshaltungen der Rezipierenden an, indem er anhand seiner au‐ ßerordentlichen und transgressionsorientierten Synästhesiekomposition über‐ schreitende Wirklichkeitsbereiche in liminaler Theatersituation hervorbringt. Eine vollständige Liste aller nachweisbaren Parallelen des Orgien-Mysterien- Theaters zu den katholisch-christlichen Bräuchen mit ihren Passionsspielen ließe sich beliebig mit anderen Beispielen ergänzen, jedoch würde ein solches Unterfangen den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die bereits angesprochenen Berührungsaspekte verdeutlichen Nitschs künstlerische Arbeitsstrategie im Verhältnis zu den institutionell-etablierten, katholisch-religiösen Symbolen und Motiven. Es lässt sich aber im Vergleich mit anderen künstlerischen Ausdrucks‐ formen beobachten, dass das Orgien-Mysterien-Theater von der griechischen und römischen Antike bis in die Gegenwart in dieser Hinsicht kein isoliertes Erscheinungsphänomen in der europäischen Theaterbzw. Kunstgeschichte ist, wie im nachstehenden Teil aufgezeigt wird. Die folgenden Beobachtungen lassen sich als vielfältige Erscheinungsformen von cultural performances verste‐ 138 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 345 Vgl. Milton Singer: The Great Tradition in a Metropolitan Center: Madras, a. a. O., S. 351. 346 Vgl. Jan Kopeck´y: „Altägyptische Mysterienspiele als Vorbild eines europäischen Welt‐ theaters: Osiris- Mythos und Hamlet“. In: Peter Scobádi, Gernot Gruber, Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Franz V. Spechtler (Hg.): Welttheater, Mysterienspiel, Rituelles Theater. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Anif/ Salzburg: Verlag Ursula Müller-Speiser 1992, S. 63-74. 347 Vgl. Réné Girard: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen übertragen von Elisabeth Mainberbger-Ruh, Ostfildern: Patmos Verlag 2006. 348 Vgl. Mircea Eliade: Mythen, Träume und Mysterien. Salzburg: Otto Müller Verlag 1961. 349 Vgl. ebd., S. 257. 350 Vgl. ebd., S. 258. 351 Vgl. Will-Erich Peuckert: Geheimkulte. Heidelberg: Pfeffer 1951. 352 Vgl. Hugo Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung. Gesammelte Aufsätze. Zürich: Rhein Vlg. 1945. hen, die wiederum im Sinne von Milton Singer viele Gemeinsamkeiten 345 mit säkularisierten künstlerischen Ausdrucksformen teilen. 346 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 2.1.7.1. Opfertod und Auferstehung: kleiner kultur- und kunsthistorischer Rückblick Die katholisch-christlichen Kulthandlungen des Opfertodes und der Auferste‐ hung Christi haben einen unbestreitbaren Zusammenhang mit anderen kul‐ tisch-mystischen Motiven der Opfertötung - gefolgt von der Geburt eines neuen Lebens. 347 Solche mystischen Motive haben transkulturelle Erscheinungsformen in vielen Kulturräumen und in vergangenen Epochen. 348 Hierbei geht um ein kultisch-mystisches Motiv, welches nicht erst mit dem Christentum anfängt, sondern - kulturgeschichtlich gesehen - bereits zahlreichen Formen religiöser Symbole und Motive zugrunde liegt: Diesbezüglich spricht der Religionskriti‐ ker Mircea Eliade von einem „mystischen Grundriss,“ 349 auf welchem „der Grundgedanke [fußt], daß Leben nur aus der Opferung eines anderen Lebens entspringen kann.“ 350 In Anbetracht dieser Beobachtung bringt auch Monika Schulz in ihrer 1993 publizierten Dissertation Die Oster- und Emmausspiele und das Himmelfahrtspiel im Debs-Codex. Zur Ambivalenz christlicher und paganer Traditionen das Leiden und Sterben Christi mit einer solchen mystischen Form analytisch in Verbindung: In vergleichender Anlehnung an Will-Erich Peuckerts Geheimkulte (1951), 351 Hugo Rahners Griechische Mythen in christlicher Deutung (1945), 352 Wohlfart Pannenbergs Aufsatz „Späthorizonte des Mythos in biblischer 139 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 353 Vgl. Wohlfahrt Pannenberg: „Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung“. In: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenre‐ zeption. München: Fink 1971, S. 473-525. 354 Vgl. Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“. In: Manfred Fuhrmann: (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971, S. 11-66. 355 Monika Schulz: Die Oster- und Emmausspiele und das Himmelfahrtspiel im Debs-Codex. Zur Ambivalenz christlicher und paganer Traditionen, Göppingen: Kümmerle Verlag 1993, S. 24. 356 Vgl. ebd., S. 24-26. 357 Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. I und II, 3. unveränderte Auflage (Grundriss der germanischen Philologie 12, Berlin: De Gruyter 1970, S. 438-439. 358 Hugo Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung, a. a. O., S. 196-197. und christlicher Überlieferung“ 353 sowie an Hans Blumenbergs Artikel „Wirk‐ lichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ 354 schlussfolgert sie: „es gilt zu berücksichtigen, daß das Leiden und Sterben Christi einer mystischen Grund‐ form entspricht, wie sie sich im antiken Mysterienwesen oder in archaischen Religionen als Heldeninitiationen manifestierte.“ 355 In weiterer Folge arbeitet sie die „Assimilationspolitik der Kirche“ des Frühchristentums (etwa vom 1. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr.) heraus, indem sie aufzeigt, wie „die alte Kirche“ Inhalte und Symbolelemente vorgegebener mythischer Grundformen umgedeutet und mit christlichen Glaubensinhalten beladen hat. 356 In Anbetracht dessen lenkt Jan de Vries in Altgermanische Religionsgeschichte (1970) die Aufmerksamkeit z. B. auf die Parallelen in der „katholischen Kulthandlung“. 357 Auch Hugo Rahner interpretiert in Griechische Mythen in christlicher Deutung (1945) das Verhältnis zwischen dem Sonnenkult und der Geburtsfeier Christi: Wie sehr gerade der Tag des Natalis Gelegenheit bot, sich mit den Resten antiken Sonnenkults auch den Christen auseinanderzusetzen, zeigen die Worte, die noch Papst Leo in der Mitte des fünften Jahrhunderts an Weihnachten an die Gläubigen richten muß. Es gibt Leute, so sagt er, nach denen „diese unsere Festfeier nicht so wohl wegen der Geburt Christi als vielmehr wegen des Aufgangs der neuen Sonne ehrwürdig ist.“ Ja, er muß seine Christen rügen, daß sie an diesem Tag die aufgehende Sonne von der Treppe der Petersbasilika aus mit einer Verneigung des Hauptes begrüßen: „Bevor sie nämlich die Basilika des heiligen Apostels Petrus betreten, steigen sie die Stufen hinan, wenden dort ihren Körper nach der aufgehenden Sonne, und mit gesenktem Nacken verbeugen sie sich zur Ehre der glänzenden Scheibe.“ 358 Jan de Vries betont, dass bezüglich der Glaubensinhalte altgermanischer Göt‐ terverehrung die von der „alten Kirche“ aufgenommenen und umgedeuteten Symbolelemente nicht vergessen worden seien: 140 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 359 Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, a. a. O., S. 438. 360 Vgl. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas. Band 1: Antike und Mittelalter. Salzburg: Otto Müller 1957, S. 207. 361 Vgl. ebd., S. 207-208. 362 Vgl. ebd., S. 207. Beim Streit um Christus oder Thor handelt es sich nicht in erster Linie um religiöse Grundgedanken. Der Germane erwartet von seinem Gotte Wohlfahrt, Kraft, reiche Ernte, guten Fischfang, Sieg, mit einem Wort Heil. Geht ein Unternehmen gut aus, nachdem man Christus um Hilfe angerufen hat, so ist damit die Entscheidung gefallen. Wird aber nach dem Übertritt zum Christentum das Volk von Seuchen und Mißwachs heimgesucht, dann spürt man, daß man fehlgegriffen hat, und das Volk kehrt zu seinen heidnischen Göttern zurück. 359 In einem anderen Zusammenhang stand die „Christus-Figur“ - lange vor der offiziellen Institutionalisierung des Christentums als Staatsreligion und somit während der Epoche der Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten - bei theatralen Vorgängen der Mimus-Spiele in der römischen Antike im Mittelpunkt aller möglichen Verspottungen und Herabwürdigungen: In seinem Buch Theatergeschichte Europas (1957) argumentiert Heinz Kindermann, dass die „Christen zur Zeit der Christenverfolgungen“ dem bereits vorhandenen thea‐ tralen Mimus-Spiel als „neue komische Figur“ in „persiflierten Darstellungen des Martyriums“ hinzugefügt wurden. 360 Empört berichtet Gregor von Nazianz, es gebe augenblicklich auf der Bühne keine komische Figur, die vom breiten Publikum mehr beklatscht würde als „der Christ“. Und nichts in diesen Mimus-Spielen ausführliche Travestien auf die Taufzeremonien, ja sogar persiflierte Darstellungen des Martyriums. Aber eben in solchen parodisti‐ schen Mimus-Spielen traten oft Darsteller, denen plötzlich die wirkliche Größe des Christentums aufging und die den inneren „Ruf “ verspürten, mitten aus der Handlung als Bekenner vor das Publikum, ohne Rücksicht darauf, was nun aus ihnen würde. So etwa wurde der Mime Ardalio zum Märtyrer während seiner im Grunde persiflie‐ rend konzipierten, aber gemäß dem „biologischen“ Grundcharakter des Mimus sehr realistisch zu spielenden Darstellung des Märtyrertodes eines Christen […]. 361 In diesen Mimus-Spielen bildeten vor allem die Umstände rund um den Opfertod und die Auferstehung Christi das zentrale Motiv für persiflierte Theaterauffüh‐ rungen. Kindermann berichtet ferner, dass Theatervorgänge vor allem unter der Machtzeit der Kaiser Nero (54-68), Domitian (81-96), Trajan (98-117) und Diokletian (284-305) gegen das „junge Christentum“ programmatisch inszeniert worden seien: 362 Solche Theatervorgänge, wie dem Inhalt des nachstehenden Zi‐ 141 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst tats zu entnehmen ist, erwecken im Zusammenhang dieser Arbeit den Eindruck, als ob es dabei bereits um eine Art „verkehrter Passionsinszenierungen“ ginge, die manchmal bis zum real eintretenden, unvorhergesehenen Märtyrertod von die „Christus-Figur“ darstellenden Personen führten: Noch viel genauer aber wissen wir aus der „Passio Sancti Genesii mimi et martyris“ […] über jenes Mimus-Spiel Bescheid, in dem der Mime Genesius plötzlich zum Bekenner für das Christentum und von da aus zum Märtyrer und zum Schauspieler-Heiligen wurde. Als komische Person, als Dümmling mit glattrasiertem Schädel, angetan mit der bunten römischen Harlekinsjacke, dem „centunculus“, das Prügelholz in den Händen, stürzte Genesius in seiner Rolle auf die Bühne. Er klagt, er sei von einer eigenartig-epileptischen Krankheit befallen; und nun läßt er mit Hilfe von burlesken Grimassen und grotesken Körperbewegungen die Epilepsie zu einem der vielbelachten komischen Dümmlingserlebnisse werden […]. Dann folgen die „mimicae ineptiae“; der Narr erklärt, er fühle sich schwer und würde so gerne sich wieder leicht fühlen. Die mitspielenden Mimen arbeiten nun mit der Komik des Wörtlich-Nehmens: „Wie sollen wir dich leicht machen, sind wir etwa Tischler und sollen dich auf die Hobelbank bringen? “ Der von Genesius gespielte Narr aber antwortet […] „Ihr Toren, ich will als Christ sterben! “ Und auf komisch entsetzte Rückfragen der anderen setzt er fort: „Damit ich an jenem Tag (nämlich des letzten Gerichts) mich zu Gott flüchte“. Der Kranke wird daraufhin zu Bett gebracht; der Presbyter und ein Exorzist treten auf […] und fragen den Narren: „Warum hast du zu uns geschickt, lieber Sohn? “ Der aber antwortet […]: „Weil ich die Gnade Christi zu empfangen wünsche, durch die ich die Wiedergeburt und Befreiung von meinen Sünden erlange.“ Schon rüstet man zur Taufe. Unter allgemeinem Gelächter wird dem Narren das weiße Taufgewand angezogen. Kaum ist dies jedoch geschehen, erfolgt die Anzeige-Szene. Soldaten, ebenfalls komische Figuren, erscheinen und führen nach Absingung mimischer Couplets, in denen das junge Christentum verspottet wird, den Narren in seinem Taufgewand vor das Gericht des Kaisers. Bei dieser Wendung nun unterbrach der Narren-Darsteller Genesius mit einem mal das Spiel und ließ es zur Wirklichkeit werden: denn obwohl oder gerade weil Kaiser Diokletian bei dieser Aufführung anwesend war, bekannte er sich tatsächlich vor all den Tausenden zum Christentum: „Was ich bisher nur darstellte, ist Wahrheit, ich bin wirklich Christ […].“ Und was sich im Rahmen der Handlung nun hätte persiflierend abspielen sollen: Verurteilung und Märtyrertod, wird nun für Genesius bitter erlittene Wirklichkeit. Genesius aber war nicht der erste dieser Bekenner mitten aus dem theatralischen Spiel. Schon 275 n. Chr. erlitt der Mime Porphyrius aus solchen 142 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 363 Vgl. ebd., S. 208-209. Gründen den Märtyrertod, 248 der Mime Philmon, 297 Gelasinus […], 298 Ardalio und nun 303 Genesius […]. 363 Auch bevor das Kreuz zum zentralen Zeichen des Christentums wurde, hatte es verschiedene Bedeutungen und Funktionen: Kulturhistorisch betrachtet existierte das Kreuz lange vor Christus bzw. dem Christentum bei den antiken Völkern in Ägypten, Vorder- und Mittelasien, und Europa etc. als weltliches und religiöses oder sogar heiliges Zeichen. Lange galt es auch als Straf- und Hinrichtungsgegenstand. In vielen römischen Provinzen wurde die Kreuzigung als eine der brutalsten Maßnahmen zur Unterdrückung politischer Aufstände und als Verbrecherstrafe eingesetzt. Jesus war bekanntermaßen Opfer einer solchen Hinrichtung gewesen. Dass das Kreuz bzw. die Kreuzigung vor 2000 Jahren mit Schande oder als Verbrecherstrafe assoziiert wurde, rechtfertigt, warum es während der drei ersten Jahrhunderte des jungen Christentums an Darstellungsbildern der Kreuzigung Christi gefehlt hat. Die frühchristliche Kunst zeigt Christus bevorzugt als den jugendlichen Guten Hirten, als Wunder‐ heiler und Weltenherrscher. Jedoch verschwand die Assoziation des Kreuzes mit der Schande, als Kaiser Konstantin 312 angeblich im Zeichen des Christusmonogramms über seinen Konkurrenten Maxentius an der Milvischen Brücke gesiegt hatte. Danach wurden Kreuzigungen im Laufe des 4. Jahrhunderts verboten. So bekam das Zeichen des Kreuzes im Christentum in Verbindung mit der Kreuzigung Jesu eine besondere Bedeutung und die Christenverfolgungen hörten auch auf. Ab diesem Zeitpunkt versinnbildlichten prachtvolle goldene, edelsteinverzierte Kreuze in den Kuppeln und Apsiden von Kirchen die Weltherrschaft Christi. Zugleich war das Kreuz kaiserliches Zeichen der Herrschaft und diente so zur göttlichen Legitimation der Herrschenden. In diesem Zusammenhang floß sogar die kaiserliche Ikonographie in die Christusdarstellung ein: Das neue entstandene Christusbild grift auf die Ikonographie des Kaiserbildes zurück. In Rom und Ravenna läßt sich dieser Prozeß weiterverfolgen. Die Basilika wird zur Königshalle (aula regis) des himmlischen Kaisers - mit dem Triumphogen des Herrschers und seinem Bild in der Apsis. Christus, in Purpur gekleidet, sitzt auf dem Thron oder dem Globus als Symbol für den Kosmos. An die Stelle des kaiserlichen Hofstaats sind die Engel, Apostel und Heiligen getreten, die in ihrer Haltung den Hofbeamten entsprechen. Auch die Christus bekrönenden oder das Kreuz mit Lorbeer bekränzenden Engel sind aus dem Kaiserkult übernommen. Dort waren es die Niken (Siegesgöttinnen), die dem Kaiser huldigten. Christus und gleichzeitig auch Maria 143 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 364 Horst Schwebel: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München: Verlag C.H.Beck 2002, S. 22. 365 Adolf Smitmans: Kreuz und Gekreuzigter in der europäischen Kunstgeschichte. Evan‐ gelische Akademie Bad Boll, 2005, Onlinetexte der Evangelischen Akademie Bad Boll - abrufbar unter: http: / / www.ev-akademie-boll.de/ fileadmin/ res/ otg/ 641505-Smitman s.pdf - letzter Zugriff: 30.12.2016. werden mit kaiserlichen Attributen ausgestattet und zu herrschaftlichen Personen transformiert. Das Imperiale - in frühchristlicher Zeit als gegengöttlich abgewehrt - ist zum Ausweis christlicher Repräsentation geworden. 364 Auch die Legende um die Auffindung des Kreuzes durch die Kaisermutter Helena (324 n. Chr.) verstärkte die Kreuzesverehrung. Um 340 n. Chr. kam es auf Sarkophagen erstmals zu Passionsdarstellungen. Die Darstellung des Kreuzes und des Gekreuzigten wurde von der christlichen Ikonografie vorgeschrieben und im Rahmen der christlichen Bildkunst in Auftrag gegeben. Jedoch steht z. B. die Periode zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr‐ hunderts für einen besonders kritischen Zeitpunkt in der Weiterentwicklung der Passionsdarstellung. In der Tat haben die Aufklärung im 18. Jahrhundert und die Französische Revolution von 1789 die Säkularisierung der Kunst gefördert - was nicht ohne Folgen für die christliche Ikonografie blieb: Das Thema sprengt Vortrag und Tagung […]: Die These setzt voraus, dass christliche Bildkunst nur als Teil eines geschlossenen weltanschaulichen und gesellschaftlichen Systems entstanden ist und entstehen kann. Das würde aber dem Wesen von Kunst nicht gerecht, die es bis dahin (als Kunst) also nicht gegeben haben könnte (also wären auch christliche Themen bei Cimabue, Grünewald, Michelangelo und Rembrandt keine Kunst). Richtig und an den Werken ablesbar ist allerdings, dass die Bedeutung individueller Entscheidungen jedweder Art, also auch in der Kunst, im 19. Jhdt. größer geworden ist. Die theologische Frage dahinter würde heißen, ob auch eine Existenz, die nicht auf allen Ebenen institutionalisiertem Glauben konform ist, von der christlichen Verkündigung berührt und bewegt werden und in diesem Sinn Christusbilder schaffen kann. 365 Wiederum inspiriert die Opferhandlung zu zahlreichen künstlerischen und wissenschaftlichen bzw. philosophischen Auslegungen, die als kritische Reflexi‐ onstätigkeiten, Blasphemie, Religions- oder Gotteslästerung bebzw. verurteilt werden. Das Kreuz und die Darstellung des Gekreuzigten, die für zentrale Inhalte christlichen Glaubens stehen, sind beliebte Elemente philosophischer und künstlerischer Aneignungen sowie Umdeutungen. So werden Kreuz und Gekreuzigter meistens von gegenwärtigen Verhältnissen aus hinterfragt, anders interpretiert oder aus ihrem ursprünglichen biblischen und theologischen Kon‐ 144 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 366 Vgl. Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, a. a. O., S. 19. 367 Vgl. Hermann Nitsch: „über das christentum“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch, a. a. O., S. 59-61, hier S. 59. 368 Vgl. Hermann Nitsch: „über das opfer“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 55. text herausgelöst und umgekehrt. Der Anstoß hierfür sind die fortwährend tra‐ gischen Gegebenheiten aktueller Lebenswelt sowie die damit einhergehenden psychologischen Erlebnisse: Sie bewegen dazu, die Stellvertretungsfigur Christi zu hinterfragen. In Anbetracht dessen streben viele künstlerische Entwürfe eine ästhetische Bearbeitung der tiefenpsychologischen Gegebenheiten an. Daran knüpfen viele Künstler_innen in ihrem jeweiligen Umgang mit dem Kreuz und mit den Darstellungen von gekreuzigten Menschen an. Dies führt wiederum auf die bereits angesprochene philosophische Daseinsfrage des Menschen zurück, die Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik wie folgt auslegt: Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler“ ist, sei die Voraussetzung aller bildenden Kunst. Der philosophische Mensch habe sogar das Vorgefühl, dass sich unter dieser Wirklichkeit eine zweite verberge. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhalte sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder seien es, die er mit jener Allverständlichkeit an sich erfahre: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, ziehe an ihm vorbei - nicht wie ein Schattenspiel, denn er lebe und leide in diesen Szenen. 366 Nitschs kritischer und grenzüberschreitender Umgang mit der Passion Christi lässt sich u. a. an diesem Punkt und an dem übermittelten Glauben daran anknüpfen, dass Jesus dem Menschen das weltüberwindende tragische Schei‐ tern, die Überwindung des Todes durch die Auferstehung demonstriere und gleichnishaft vorlebe. 367 Diesem Gedanken folgend, bezweifelt Nitsch in seinem Theateransatz den Glauben daran, dass die ersten Menschen einem Sündenfall unterlegen seien, womit allen Menschen eine Kollektivschuld sowie eine Erb‐ sünde auferlegt worden seien. Ebenso kann er nicht nachvollziehen, dass Gott seinen Sohn Jesus Christus Mensch werden ließ, der sich dann zur Erlösung der Menschheit geopfert habe. 368 Mit diesem kritischen Standpunkt bezüglich der Stellvertretungsfigur Christi steht Nitsch Immanuel Kant näher, der mit seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) die aufgebauten Glaubenssäulen des Christentums angriff. 145 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 369 Vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 5. Auflage. Hg. von Karl Vorländer. Die Philosophische Bibliothek, Band 45. Leipzig: Verlag von Felix Meiner 1922, S. 31. 370 Ebd., S. 80. Kants Auslegung erscheint im hintergründigen Kontext der Aufklärung, die mit einem gewandelten Selbstverständnis von Menschen einhergegangen ist. Die Umstände der Aufklärung haben dazu beigetragen, dass sich Kant mit der christlichen Religionsphilosophie im Zusammenhang mit aufgeklärten Menschen befasst. Dabei deutet er christliche Glaubensgehalte, wie aus dem Titel des Werkes hervorgeht, innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft um. Ihm geht es um eine rationale und moralische Vernunftsprojektion auf die christliche Lehrüberlieferung der Opferhandlung im Zusammenhang mit der Verantwortung, der Moral und der praktischen Vernunft des einzelnen Subjekts. Weil der Mensch im Sinne Kants selbst bei gänzlich guten Handlungen von Natur aus böse sei, 369 muss ihm selbst auch das Büßen für seine Taten zuteil werden. Hier werden die klassische theologische Stellvertretungsfigur und das sittlich-religiöse Vorbild direkt kritisiert: Die Schuldbzw. Sündenfrage ist „keine transmissible (übertragbare) Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld […] auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die aller‐ persönlichste Schuld, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, […] übertragen kann.“ 370 Dieses Problem wird angesichts der Unübertragbarkeit der allerpersönlichs‐ ten Schuld für Kant umso dringlicher: Das Leiden, das der gekreuzigte und auferstandene Christus stellvertretend für die Menschen hat erleiden müssen, hinterfragt Kant in Verbindung mit der philosophischen Vernunft. Auch die kunstgeschichtliche Betrachtung der Entwicklung der Darstellung des Kreuzes und des Gekreuzigten vermittelt ein aufschlussreiches Wissen über unterschied‐ liche Neubearbeitungen sowie vielfältige Wahrnehmungskonstruktionen. Darüber hinaus kam es nach der Emanzipation der Kunst im 19. Jahrhundert zur kritischen Thematisierung der Passion Christi. So stehen immer mehr institutionalisierte und normativ gewordene Glaubensinhalte sowie -symbole der christlichen Religion in einem konfliktbeladenen Verhältnis zu Kunst: Im Folgenden wird ein kleiner kunsthistorischer Rückblick auf den Umgang mit dem Kreuz und der Passion Christi in der bildenden und darstellenden Kunst skizziert. Im Anschluss daran wird Nitschs kritische Beschäftigung mit dem Leiden und dem Kreuz Christi als selbstreferenzielle ästhetische Zeremonie und als ein performatives Reflektieren über den menschlichen Körper herangezogen. 146 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 371 Horst Schwebel: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, a. a. O., S. 11. 372 Ebd., S. 92. 373 Diese Identifikation des Künstlers mit Christus findet man auch bei Hermann Nitsch. 2.1.7.2. Das Kreuz und die Passion Christi in der bildenden Kunst In seinem Buch Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts thematisiert und beschreibt Horst Schwebel die Spannung, unter welcher die christliche Religion und bestimmte Kunstäußerungen von Anfang an bis in die Gegenwart hinein stehen. In seiner Analyse legt Schwebel das Hauptgewicht seines Buches auf die Moderne und Postmoderne, die für die Bildkunst des Christentums zu einer besonderen Herausforderung geworden sind: Moderne und Postmoderne stellen eine neue Herausforderung für die Bildwelt des Christentums dar, weil die autonom gewordene Kunst sich nicht länger in den Dienst der Vermittlung christlicher Inhalte stellen läßt. In einzelnen, aber gewichtigen Fällen tritt die Kunst nun sogar mit einem eigenen religiösen Anspruch auf und erweist sich als Konkurrentin der institutionalisierten Religion. Mit „Kunst als Religion“ ist ein neuer Konflikt gegeben, wie er innerhalb der Christentumsgeschichte noch nicht dagewesen war. 371 Schwebel dokumentiert in seinem Buch einige Identifikationstendenzen der Künstler_innen mit Christus am Beispiel des belgischen Malers und Zeichners James Sidney Ensor (1860-1949). 372 In diesem Zusammenhang fungieren Ensors Bilder „Kreuzigung Ensors“ (1886), „Einzug Christi in Brüssel“ (1888) und „Ecce Homo oder Christus und die Kritiker“ (1891) als gute Beispiele, in welchen er sich als Künstler mit Christus identifiziert. 373 Mit einer ikonografischen Neuschöpfung stellt sich Ensor selbst in „Ecce Homo oder Christus und die Kritiker“ in der Christusgestalt dar: Das Gemälde zeigt die Oberkörper dreier Personen in einem ovalen Kreis, der in einem Bil‐ derrahmen (links, rechts, oben und unten) verschwindet. Ensor steht zwischen den beiden Personen in der Bildmitte mit einer Dornenkrone auf dem Kopf. Die beiden Gestalten auf dem Bild sind Ensors Kritiker: Max Sulzberger (rechts) und Edouard Fétis mit dem Zylinderhut (links). Während in diesem Bild das Kreuz als Hinrichtungswerkzeug fehlt, legt Fétis mit seiner linken Hand eine Schlinge um Ensors Hals. Währenddessen reicht er mit seiner rechten Hand dem Chris‐ tus-Ensor eine vordorrte Blume. „Die Verkennung und Missachtung durch seine Kritiker veranlasste Ensor, sich selbst in die Ecce-Homo-Szene einzubeziehen 147 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 374 Horst Schwebel: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, a. a. O., S. 92-93. 375 Ebd., S. 94. […]. Der Christus-Ensor begegnet dem Betrachter mit hochmütigem Blick; auf die beiden Kritiker reagiert der Maler mit Anklage und bissiger Ironie.“ 374 Abbildung 9: James Sidney Ensor: „Ecce Homo oder Christus und die Kritiker“ (1891) Mit den Identifikationen der Künstler_innen mit Christus fängt Schwebel zu‐ folge eine Kunstäußerung an, die sich im 20. Jahrhundert aufgrund bestimmter existentieller Situationen und der zunehmenden Subjektivität der Künstler_in‐ nen weiterentwickelt. 375 Zu den Künstler_innen, die im 20. Jahrhundert die Passion Christi aus dem Blickwinkel ihrer subjektiven Identifikation bearbeitet haben, gehört auch Lovis Corinth (1858-1925). Die Erwähnung von Lovis Corinth in dieser Arbeit ist besonders wichtig, da seine Passionsbilder deutliche thematische Parallelen zu Nitschs Theater‐ konzept aufweisen. Seine Darstellung „Der rote Christus“ (1922) hebt Leiden und Qualen so bildhaft hervor, dass betrachtende Menschen zutiefst schockiert werden. 148 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater Diese ausdrucksstarke und aufregende Darstellung Christi bildet einen Ge‐ genpol zu dem sittlich-religiösen Vorbild und somit zu den Erwartungshaltun‐ gen von vielen Betrachter_innen: Abbildung 10: Lovis Corinth: „Der rote Christus“ (1922), Quelle: Pinakothek der Moderne, München 149 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 376 Ebd., S. 96. 377 Ebd. In einer zeitgenössischen Quelle heißt es „Aber das ist gar kein Christus, das ist eher ein Affenmensch mit schwarzem volligem Bart, vorstehender grober Mundpartie (um nicht fachmännisch zu sagen Schnauze), breitgedrückter Stülpnase, riesigen Orbitalwülsten und tückigen schwarzen Augen. Der Körper zerfetzt, zerschunden, Blut und immer wieder Blut, wohin das Auge schaut. Auch die Sonne ist blutig, und ihre Strahlen scheinen blutig. Das Bild ist ein einziger Blutrausch. ‹Christus in Rot›, ‹Christus im Blut›“. Der Verfasser spricht von „Abscheu und Grauen“, die den Beschauer erfassen, und fragt: „Wie kam Corinth zu dieser Blutorgie, zu dieser Karikatur des Gekreuzigten? Wollte er seinem Entsetzen über das blutige Geschehen des Weltkrieges Ausdruck geben? Ist der Gekreuzigte der in die tierischen Instinkte zurücksinkende Mensch, den der Krieg ans Kreuz schlug? “ 376 Der Gedanke des Zitats erinnert an Nitschs Orgien-Mysterien-Theater - und zwar auf die performativ-inszenierte Ebene. So merkt Schwebel an, dass „nicht nur kein idealistisch gedachtes Göttliches […] in einem solchen Bild aufweisbar“ wird, „sondern auch nichts Menschliches mehr. Christus wird gesehen als Krea‐ tur, die wie «ein Schwein» blutet, er wird zum Exempel für jene Menschen, die wie Tiere geschlachtet werden und dabei ihre Menschenwürde verlieren.“ 377 Da sein Kreuzestod folglich sinn- und hoffnungslos sei, weil Menschen weiterhin dem sinnlosen Schlachten durch Kriegstötungsmaschinen hilflos ausgesetzt sind, wird Jesus selbst z. B. in Ernst Barlachs „Anno Domini MCMXVI post Christum natum“ aus dem Jahr 1916 mit einem Vorwurf bzw. mit einer Anklage konfrontiert. 150 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 378 Ebd., S. 102. Abbildung 11: Ernst Barlach: „Anno Domini MCMXVI Post Christum Natum“ (1916), Quelle: Lithograph National Gallery of Art, Washington D.C. Das Bild zeigt, wie ein anklagender Mann mit einer Armbewegung die Aufmerk‐ samkeit Jesu Christi jenseits der drei Kreuze von Golgotha auf eine grenzenlose Landschaft mit zahllosen Kreuzen lenkt. Diesbezüglich beobachtet Schwebel: „Dem Vorwurf angesichts der vielen Kreuze hat Christus keinen Trost oder gar eine Rettung entgegenzusetzen. Seine Ratlosigkeit ist grenzenlos, sein Kreuzestod hat nichts bewirkt.“ 378 Die Hilflosigkeit im Zusammenhang mit der Kreuzigung Christi kommt auch bei George Grosz auf eine provokante Art und Weise zum Ausdruck: 1927 zeichnete er einen Gekreuzigten mit Gasmaske und Soldatenstiefeln sowie mit einem Kreuz in der linken Hand. 151 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst Abbildung 12: George Grosz: „Gekreuzigter mit Gasmaske und Soldatenstiefeln“ (1927) In einem gegen ihn angestrengten Prozess wegen Gotteslästerung antwortet er auf die Fragen des Gerichtsvorsitzenden wie folgt: Vorsitzender: Nun komme ich zu dem letzten der beschlagnahmten Bilder, zu dem Bild Nr. 10. Das stellt also dar … Grosz: Das ist Christus am Kreuz mit der Gasmaske, und dann hat er Militär‐ schuhe an. Vorsitzender: Die linke Hand ist nicht, wie sonst, mit einem Nagel ans Kreuz geschlagen, sondern mit einem Strick festgebunden; die rechte auch, aber da ist auch ein Nagel. Dann ist da die Überschrift INRI mit dem Heiligenschein, eine Gasmaske in Verbindung mit einer Brille, wie sie auch im Gaskampf zeitweise getragen wurde, nicht wahr? Grosz: Ja. Vorsitzender: Das Kreuz steht etwas schräg, wie wenn es hinstürzt, und darunter stehen die Worte: „Maul halten und weiter dienen! “ Was sollte das zum Ausdruck bringen? Hier kann es doch keinem Menschen entgehen, daß gläubige Christen durch eine solche Darstellung schwer verletzt werden. Grosz: Dieses Blatt ist als eine kleine Randnotiz zu dem Buch von Schweijk entstanden. Da ist in einem Kapitel etwa folgendes geschildert […]. Da liegen zwei Soldaten auf einer Pritsche in einer Zelle […] und erzählen sich beide Kriegserlebnisse. Sie schimpfen auf den Krieg. Da sagt dann der eine ungefähr: Ja, Maul halten und weiter dienen. Als ich diese Schilderung las, entstand das Blatt so ungefähr in meiner Vorstellung. Ich stellte mir vor, dass Christus jetzt kommen würde. Ich darf hier 152 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 379 Clara Reinsdorf, Paul Reinsdorf : „Vom Liebeskonzil um Maria-Syndrom. Ein polemi‐ sches Plätdoyer gegen die selige Zensur“. In: Clara Reinsdorf, Paul Reinsdorf (Hg.): Zensur im Namen des Herrn. Zur Anatomie des Gotteslästerungsparagraphen. Aschaffen‐ burg: Alibri Verlag 1997, S. 7-23, hier S. 20-21. bemerken, dass ich gar nicht eine so besondere Sympathie für Christus habe. Ich sehe ihn hauptsächlich als einen Menschen, der die Liebe predigte. Ich dachte also: wenn Christus plötzlich so ankommen würde! natürlich wird das nicht vorkommen, er wird nicht zurückkehren, und wenn, dann würde er nicht in den Schützengraben kommen. Aber ich bin eben ein altertümlicher Mensch und habe mir so vorgestellt, daß Christus zwischen den Schützengräben herumgeht und verkündet: Liebet euch untereinander. Ich dachte mir: in demselben Moment würde man ihn packen, ihm eine Gasmaske geben und Militärstiefel anziehen, also kurz, man würde ihn überhaupt nicht verstehen. Also hier kommt Christus sogar sehr gut weg. Er wird von einer anderen Macht vergewaltigt. Vorsitzender: Soll „Maul halten und weiter dienen! “ ein Wort sein, das an ihn gerichtet wird, oder eins, das er spricht? Grosz: Das wird an ihn gerichtet. Die tiefere Vision dieses Blattes ist nämlich die: die einfache gekreuzigte Kreatur, die doch im Grunde genommen lebenserhaltend ist. (…) Vernehmung von George Grosz durch den vorsitzenden Richter 379 Jenseits aller religiösen Ansprüche demonstrieren diese Beispiele radikale und subjektive Wahrnehmungs- und Darstellungstransformationen im künstlerischen Umgang mit dem Kreuz und mit dem Gekreuzigten in der Malerei: Identifikation der Künstler_innen mit Christus bei Ensor; Corinths thematische Hervorhebung der verlorenen Menschlichkeit, indem er einen gequälten Christus am Kreuz wie einen aufgehängten blutenden Tierkörper neu schöpft; bei Barlach wird Jesus Christus abseits seines Kreuzes lebendig und gesund dargestellt, um jedoch angesichts der Kreuze der unzähligen Kriegsopfer mit der Frage nach der Stellvertretungsfigur konfrontiert zu werden; bei Grosz werden lebenserhaltende Maßnahmen parado‐ xerweise für Christus vorgenommen. Auch Passionsspiele kennzeichnen sich durch ähnliche Entwicklungen, die nach und nach trotz der christlichen Glaubensinhalte vom religiösen Kontext gelöst werden. Die Emanzipation der Kunst von der kirchlichen Institution, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, ermöglichte es berühmten Künstler_innen, Dar‐ stellungen der Passion Christi mit ikonografischen Neuschöpfungen zu verbin‐ den, die manchmal auch Anstoß erregten. Im 20. Jahrhundert erfährt die Wei‐ terentwicklung der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Passion Christi aufgrund zweier Weltkriege und der damit einhergegangenen Gräueltaten eine neue Wende: Die Kreuzigungsthematik bleibt weiterhin Inspirationsquelle für 153 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 380 Vgl. Stefan Klöckner: „Gott - von Gott verlassen. Gedanken zur Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach“. In: Journal. Das Magazin der Hamburgischen Staatsoper 5, 2015/ 16 S. 8-9, hier S. 9. 381 Dieser Arbeitspunkt über „Romeo Castelluccis Inszenierung La Passione nach Bach” ist eine überarbetete Version meines 2016 publizierten Artikels in Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart und von Daniel Winkler herausgegeben. Vgl. Koku G. Nonoa: „Romeo Castelluccis La Passione nach Bach. Sinnliches Erlebnis und ästhetische Lebensbefragung im postdramatischen Theater“. In: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart 62, 2006, 113-124. 382 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., 113-114. 383 Vgl. auch Elisabeth Wynhoff: „Auf der Suche nach dem Unsichtbaren. Romeo Castel‐ lucci auf der Ruhrtriennale“. In: Zibaldone 59: „Feiern und Festkultur“, S. 131-136, dort auch Abbildungen. die Fantasie einzelner Künstler_innen: Sie bringen ihre Ich-Interpretation 380 ins Spiel und befassen sich eigenständig mit dem Passionsgeschehen - nicht im Sinn eines religiös motivierten Handelns, sondern mit künstlerisch-kritischer Aktivität, die, wie das folgende Beispiel zeigt, einerseits einer existentiellen Welterfahrung entspringt und andererseits Religionskritik impliziert. 2.1.7.3. Die Passion Christi in Romeo Castelluccis Inszenierung La Passione nach Bach 381 Keinen Kunstgenuss, sondern Lebensbefragung intendiert der international berühmte italienische Künstler Romeo Castellucci. Geboren am 4. August 1960 in Cesena in der Emilia-Romagna, ist Castellucci wie viele postdramatische Künstler_innen von der Bildenden Kunst her zum Theater gekommen. 382 Er studierte Malerei und Bühnenbild an der Akademie der Schönen Künste in Bologna. Gemeinsam mit Claudia Castellucci und Chiara Guidi gründete er 1981 die Gruppe Socìetas Raffaello Sanzio. Bald darauf setzte er sich als Dramatiker, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner, sowie Licht- und Klangdesigner mit innovativen künstlerischen Entwürfen im internationalen Kulturbetrieb durch. Zu seinen Arbeiten der jüngst vergangenen Zeit, die im deutschsprachigem Raum produziert worden sind, zählen Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice bei den Wiener Festwochen (2014), Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps und Morton Feldmans Neither bei der Ruhrtriennale (2014), Sophokles Ödipus an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz (2015) und Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion in den Deichtorhallen Hamburg (2016). 383 In letzterer Produktion, die unter dem Titel La Passione im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg in der Halle für aktuelle Kunst präsen‐ tiert wurde und hier im Folgenden behandelt werden soll, interessiert sich Castellucci für ein sinnlich-intensives Erlebnis, szenisch dynamisches Erleben. 154 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 384 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 113-114. 385 Stefan Klöckner: „Gott - von Gott verlassen. Gedanken zur Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach“, a. a. O., S. 8-9. 386 Ebd. Seine postdramatische Theaterform zielt auf die Involvierung innerer sowie äußerer menschlich-körperlicher Prozesse, wie sie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in Analogie zur Malerei als Bild-Zustände bezeichnet hat, in denen die Dynamik der Bildwerdung kristallisiert sei. 384 Letztendlich steht hier Castelluccis Inszenierung als eine Form postdramatischen Theaters im Fokus, das sinnliche Erlebnisse und ästhetische Lebensbefragungen statt Kunstgenuss ins Zentrum rückt. In seinem Essay „Gott - von Gott verlassen. Gedanken zur Matthäus- Passion von Johann Sebastian Bach“ bestätigt und erläutert Stefan Klöckner, dass man den Passionsvertonungen, die - einer alten Tradition folgend, wie bereits bei mittelalterischen Osterfeiern sowie Oster- und Passionsspielen gesehen, - an Sonn- und hohen Feiertagen im Gottesdienst der Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai musiziert wurden, in der Kirchenmusik des 17. bzw. 18. Jahrhunderts besonderen Raum gegeben habe. 385 Habe der reine Bibeltext (am Karfreitag die Passion nach dem Evangelisten Johannes) in der katholischen Liturgie erklungen, so habe sich im evangelischen Bereich die oratorische Passion entwickelt. In dieser werde der biblische Bericht durch Kommentare sowie Erläuterungen unterbrochen und der Erzählstrang gleichsam angehalten, um Platz für die individuelle Betrachtung und Aneignung der Heiligen Schrift zu schaffen. Bachs Matthäus-Passion, uraufgeführt am 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche, bildet die historische Basis dieser Kultur. Heute gehört sie zu den Werken Bachs, die am weitesten verbreitet sind und am meisten aufgeführt werden. Stefan Klöckner betont, dass „die Herauslösung aus dem objektiven biblischen Kontext als Akt der Abstraktion und die neue Verortung im menschlichen Individuum als Akt der Konkretion“ verstanden werden kann; sie „bilden die Eckpfeiler einer Brücke zwischen kollektiver Religion und individueller Religiosität.“ 386 2.1.7.3.1. Castelluccis La Passione als ästhetische Ich-Interpretation Aus Bachs Matthäus-Passion schafft Romeo Castellucci nicht nur eine individuelle Ich-Interpretation des biblischen Textes, sondern auch eine dreistündige theatrale Adaption, die sich jenseits der verbalen Ausdrucksmittel bild- und klangmächtig sowie körperzentriert und sinnlich zeigt. Er greift zu einer postdramatischen An‐ eignung von Bachs Matthäus-Passion, die Vergangenheit und Gegenwart, Religion und Alltagskultur sowie Kunst und Alltagshandlungen verschränkt. So geht er 155 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 387 Vgl. Roman Reisinger: „Laude drammatiche e rappresentazioni sacre. Zu Tradition und regionaler Vielfalt des Geistlichen Spiels in Italie“. In: Wernfried Hofmeister/ Cora Dietl: Das Geistliche Spiel des europäischen Mittelalters. Wiesbaden: Ludwig Reichert Verlag 2015, S. 4-18. für seine überwiegend visuelle und auditive Inszenierung von La Passione von der ursprünglichen Quelle geistlicher Spiele im italienischen Spätmittelalter aus: „dramma liturgico, dramma ecclesiastico, dramma religioso, dramma sacro, Sacra rappresentazione“. 387 Dabei geht es auch, wie in den bereits behandelten Oster- und Passionsinsinszenierungen, um geistliche Spielformen in Italien, in welchen auch Texte aus der Bibel oder den Evangelien im Zeitverlauf mit volkstümlichen Bräuchen und Liedern für religiöse Feierlichkeiten vermischt und sinnlich insze‐ niert werden. Die italienische geistlichen Spiele kennzeichnen sich auch durch ihre performative und stark sinnliche Darstellungsweise, die die Zurschausttellung in den Vordergrund rückt. In Anlehnung an italienische geistliche Spiele verzichtet Castellucci für seine postdramatisch-bildergenerierende sowie raumübergreifende Inszenierung auf die traditionelle Form und die Architektur des gewohnten klas‐ sisch-dramatischen und psychologisierenden Theaters der Gegenwart. Außerdem lassen sich in seiner Inszenierung mehrere Parallelen zu den spätmittelalterlichen Oster- und Passionspielen der zweiten und dritten Enwicklungsphase ziehen: die erwähnte Strategie des naturalistischen Inszenierungsstils, in denen mit heiligen Motiven wie selbstverständlichen Elementen theatral umgegangen werden; das Herauslösen der Inszenierung aus dem religiösen Kontext sowie die Vermischung christlich-religiöser und volkstümlich-weltlicher Elemente und Vorgänge. Er über‐ trägt seinen postdramatischen Inszenierungsansatz, der auf Pausen verzichtet, in den nicht für Theateraufführungen vorgesehenen leeren Raum der Deichtorhallen, die 1911-1914 als Markthallen errichtet wurden und seit 1989 als Ausstellungshäu‐ ser für zeitgenössische Kunst und Fotografie dienen. Dort werden achtzehn unterschiedliche Hauptkapitel mit biblischem Motiven (u. a. mit den Titeln: „Imperium“, „Ammonium“, „Abendmahl“, „Tempel“, „Judas“, „Ölberg“, „Krone“, „Grab“, „Testament“ etc.) vom Passionsgeschehen performativ präsentiert. Der postdramatischen Dramaturgie entsprechend lässt er den ganzen Raum zu einem szenisch-dynamischen Theatergebilde mit einer Betonung weißer Farbe werden: In weißer Kleidung bilden Orchester, Chor und Solisten den Bühnenhintergrund, von dem aus Musik und Gesänge tönen. Alle sitzen auf weißen Stühlen und Bänken in einem Raum mit weißem Boden und weißen Wänden. Im Hamburger Abendblatt berichtet Joachim Mischke nach der Premiere am 21. April 2016: „Alles so schön weiß hier, […] klinisch rein geradezu. […] Selbst die Notenpulte […] sind weiß. Trauerfarbe, leere Leinwand, Wirkungsverstärker, ideal 156 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 388 Joachim Mischke: „La Passione: Man spürt den Bach vor lauter Bäumen nicht“. In: Hambur‐ ger Abendblatt, 23.04.16, http: / / www.abendblatt.de/ kultur-live/ theater/ article207461871/ La -Passione-Man-spuert-den-Bach-vor-lauter-Baeumen-nicht - letzter Zugriff: 20.12.2016. für eine museale Schau-Wert-Präsentation. Nur Ian Bostridge als Evangelist trägt einen himmelblauen Schal.“ 388 Und ein klares Licht erhellt den Raum. Da nichts in dieser Inszenierung dem Zufall überlassen zu sein scheint, sehen wir auch, wie der Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, Kent Nagano, nach einem festgelegten Inszenierungsplan auftritt: Am Rand der für die szenischen Vorgänge vorgesehenen Präsentationsfläche stehen und warten zwei Männer mit Schüssel, Wasserkaraffe und Handtuch. Nagano tritt auf, geht auf beide zu und wäscht sich symbolisch die Hände, bevor er im Bühnenhintergrund seiner Aufgabe als Dirigent der Inszenierung nachgeht. Abbildung 13: Castelluccis La Passione (2016), Weiße Bühne, Chor mit Orchester der Hamburgischen Staatsoper in den Deichtorhallen (Foto: Bernd Uhlig) Das Waschen der Hände und die weiße Farbe sowie die helle Beleuchtung deuten auf ganz sinnliche Weise auf die Unbeflecktheit, die sakrale Heiligkeit und vor allem die christliche Darstellungstradition der Unschuld des Lamms Gottes hin. Im Stil der christlich-ikonographischen Kontrastierung von Gott und Teufel, Schuldigen und Unschuldigen, Gutem und Bösem, wie in Oster- und Passionspielen des Mittelalters, fällt auch hier ein Gegensatz auf: Dem weißen Bühnenhintergrund gegenüber sitzt ein ‹buntes› bzw. dunkles Publikum und zwischen dem lebendigen Weiß aus Orchester, Chor und Solisten und dem 157 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 389 Detlef Brandenburg: „Kreuzestod und Tatortreinigung. Romeo Castellucci: La Passione“. In: Die Deutsche Bühne, 22.04.2016, http: / / www.die-deutsche-buehne.de/ Kriti ken/ Musiktheater/ Romeo+Castellucci/ La+Passione/ Kreuzestod+und+Tatortreinigung - letzter Zugriff: 20.12.2016. Publikum befindet sich die anfangs weiße Bühnenfläche, auf welcher alle Aktionen, Elemente, Bilder als Kontemplationsobjekte nacheinander präsentiert werden. Der Raum, der den musizierenden Bühnenhintergrund von dem betrachten‐ den und hörenden Publikum trennt, wird zu einer dynamisch szenengenerier‐ enden Illustrationsfläche. Er steht im Dienst eines intensiven sinnlich-bildlichen Sichtbarmachens der musikalischen Passion, wobei Castellucci dabei auf diver‐ seste, auf den ersten Blick unvereinbar scheinende religiöse wie alltagskulturelle Elemente zurückgreift. Detlef Brandenburg hat dies in seiner Rezension der Aufführung in Form einer Szenenbeschreibung besonders anschaulich gemacht: Man sieht, wie der Gipskopf von Tiberius Julius Caesar Augustus (42 v. Chr. bis 37 n. Chr.) auf ein Postament gestellt wird. Das ist […] jener Kaiser Augustus, von dem zu jener Zeit ein Gebot ausging, dass alle Welt geschätzet würde. […] Dem Kaiserkopf folgt der Schädel eines Selbstmörders - laut Matthäus erhängte sich jener Judas Ischariot, der Christus verriet. Ein umgestürzter Bus des Personenbeförderungsunter‐ nehmens Lindner gleitet lautlos über die Bühne. Zu Ostern spritzt ein Blutstrahl aus der Brust eines ausgestopften Lamms direkt in einen Kelch und macht diesen zum Gral. Als Tatortreiniger treten anschließend auf: Mitarbeiter der seit 1963 in Hamburg tätigen Firma Seitz GmbH. Und weiter: Während Jesus in Gethsemane mit Gott ringt, ringen auf einer (selbstverständlich weißen) Matte zwei Mitglieder des Wandsbeker Athleten Club e. V. im griechisch-rö‐ mischen Stil. Eine Steineiche wird mittels offenkundig sehr leistungsfähiger Baum‐ scheren entastet und zum Kreuzesbalken aufgerichtet. Komparsen veranstalten einen kleinen Wettbewerb, wie lange sie sich in Kreuzigungspose an einer Reckstange zu halten vermögen. Eine ehemalige Karmelitin und heutige Atheistin steigt in einen Sarkophag in der Pose einer Knienden. Ein Stacheldrahtring wird zur Dornenkrone vergoldet, und Phenolphthalein verwandelt sich in zwei großen Glasröhren von farblos zu rot und wieder zurück zu farblos. 389 158 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater Abbildung 14: Castelluccis La Passione (2016), Lammrequisit und Kunstblut (Foto: Bernd Uhlig) Castelluccis Hervorhebung gestischer, musikalischer, visueller bzw. nonverbaler Elemente geht mit der Erprobung und Hervorbringung hybrider Kunstformen einher: Alles was diese Inszenierung zum Betrachten darbietet, erfolgt in typisch postdramatischer Gestaltung, die Happenings-, Performance-, Aktions- und Installationsausdrucksformen vermengt und den Akzent auf die prozess‐ haft-bildhafte Modulierung der einzelnen von Musik begleiteten Szenen legt. Dabei bestimmt die Musik nicht nur den chronologischen Ablauf, sondern auch den szenischen Rhythmus und die Intensität der jeweiligen Vorgänge, die mittels ikonographischer Neuschöpfungen auf das Evangelium hinweisen: Das ausgestopfte Lammrequisit, aus dem Kunstblut strömt, steht statisch da und ‚besudelt‘ die weiße Bühnenfläche, vielleicht als Einladung zu einer kritischen Hinterfragung des Glaubensdogmas der stellvertretenden Übernahme mensch‐ licher Sünden und Schuld durch Christus. 2.1.7.3.2. Brücke zur Gegenwart in Castelluccis Inszenierung Gleichzeitig schlagen die Szenen aber in Form einer ästhetischen Ich-Neuinter‐ pretation christlicher Symbolik auch eine Brücke zur gegenwärtigen Lebens‐ welt: Das Requisit des vergoldeten Stacheldrahtkranzes erinnert so zwar an 159 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 390 Ebd. die biblische Dornenkrone, aber er wird bewusst nicht dem Kopf des Jesus-Dar‐ stellers aufgesetzt, sondern hängt einfach auf einem Metallstab herunter. In der eigentlichen Kreuzigungsszene lässt Castellucci zudem Statist_innen, die in Alltagskleidung gewandt sind, ohne Fußstütze über einem Trapez herabhängen, bis an die Grenze der Kraft der Darsteller_innen: So sollen sie das Leiden und die Schmerzen unmittelbar am eigenen physischen Körper erleben und anschaulich machen. Die Zuschauer_innen erleben diese deutlich performierten physisch-sinnlichen Vorgänge mit, zumal sie sie aus ihrem Alltagsleben kennen. Brandenburg hat dies in der schon zitierten Rezension für Die Deutsche Bühne wie folgt umrissen: Natürlich wollte Castellucci das Passionsgeschehen nicht narrativ nachbuchstabieren […]. Stattdessen präsentiert Castellucci Objekte, Vorgänge und Aktionen, die er in unserer heutigen Alltagswelt vorgefunden hat, oft ausgeführt von genau denen, die diese Handlungen auch im wirklichen Leben ausführen, von Laien also, Experten ihres Berufs- oder Freizeitalltags, den sie uns nun auf der Bühne in Ausschnitten zeigen. 390 Abbildung 15: Castelluccis La Passione (2016),Statist_ in und Stacheldrahtkranz (Foto: Bernd Uhlig) 160 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 391 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 241. 392 Romeo Castellucci: „Der Zuschauer und sein Schmerz. Ein Gespräch mit dem Regisseur Romeo Castellucci über La Passione“. In: Journal. Das Magazin der Hamburgischen Staatsoper, a. a. O., S. 4- 5, hier S. 4. 393 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek, 2009, S. 104-143, hier S. 104. 394 Vgl. Michael Lüthy: „Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst“, a. a. O., S. 203. Mit dieser Vermengung von Oratorientradition und Alltagskultur gelingt es Castellucci, die direkte Ansprache des Publikums durch die ganze Aufführung hinweg zu garantieren. Indem er die Grenzen zwischen Kunst und Alltag überschreitet, setzt er auf prototypische Verfahren postdramatischer Theater‐ praxis, die auf eine Realerfahrung zielen und die Theateraufführung mit einer unmittelbaren räumlich-körperlichen Erfahrung aufladen. 391 Schmerzen und Leiden, die oft ausschließlich der Stellvertreterfigur Christi zugeschrieben werden, deutet auch Castellucci um: „Ich würde daher sagen“, so Castellucci selbst, „dass durch diesen szenischen Vorgang Jesu’ Passion zur Passion des Zuschauers, des Menschen, wird.“ 392 Seine Inszenierung betont so das sinnliche Erleben menschlicher Schmerzen und Leiden schlechthin, indem bei La Passione neben dem auditiven v. a. der op‐ tische Sinn stark beansprucht wird. Mit seiner postdramatischen Gestaltungs‐ form, die diverse künstlerische Ausdrucksformen vereint, plädiert Castellucci, ganz im Sinn einer ästhetisch-anthropologischen Lebensbefragung, dezidiert für die Überwindung der Trennung von Kunst, Theater und Alltagsleben. 2.1.7.3.3. Sinnliches Erlebnis und ästhetische Lebensbefragung statt Kunstgenuss Castelluccis Blick auf Bachs Mätthäus-Passion legt eine sinnliche Realerfahrung frei, wie sie im Rahmen postdramatischen Theaters inszeniert wird. Als Bevor‐ zugung praktischer Hervorbringung von Bedeutungen und Erfahrungen. 393 So sind auch Castelluccis Theaterentwürfe wesentlich durch eine ästhetische Zäsur in Bezug auf klassische künstlerische Inszenierungsformen des Sprech- und Musiktheaters der Nachkriegszeit bestimmt. Indem er alltägliche Vorgänge und Objekte, aber auch die Populär- und Medienkultur in sein postdramatisches Theaterschaffen miteinbezieht, akzentuiert er die ästhetische Erfahrung im Hier und Jetzt, d. h. er überschreitet die theatralen Praxen eines konventionellen Kunstverständnisses, transformiert aber gleichzeitig auch die Semantik von Handlungen und Gegenständen durch den institutionellen Rahmen der Thea‐ terkunst grundlegend. 394 161 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst Am deutlichsten machen dies etwa die Tatortreiniger, die Mitarbeiter einer in Hamburg tätigen und bekannten Firma sind, und die beiden ringenden Mitglieder des Wandsbeker Athleten Clubs. Gleiches gilt aber auch für einige Szenen und Objekte, die direkt dem Alltag entlehnt sind und bei den Zu‐ schauer_innen sinnliche Erlebnisse sowie tragische Erfahrungen hervorrufen bzw. reaktualisieren können: etwa der Schädel eines Selbstmörders aus der Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, der im Kapitel „Judas“ auf einer Säule präsentiert wird; der im Kapitel „Apostel“ auftretende amputierte Mann, von dem die Zuschauenden erfahren, dass er bei einem Unfall seine Unterschenkel verloren hat; der umgestürzte Reisebus des Personenbeför‐ derungsunternehmens Lindner, der in einer Art Installation lautlos über die Bühne gleitet und aus Bayern stammt. Abbildung 16: Castelluccis La Passione (2016),Umgestürzter bayrischer Reisebus vor dem Ensemble von La Passione (Foto: Bernd Uhlig) Die genannten Beispiele bezeugen, dass Castellucci im Stil einer ästhetischen Lebensbefragung in seine Inszenierung auch unmittelbar alltäglichtragische Realitäten einbaut. So löst er in seiner postdramatischen Theaterpraxis die Grenzen zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Aktionen auf, auch indem er den Fokus des theatralen Geschehens immer wieder auf Erfahrungen von Schmerz, Leid und Tod richtet. In dieser Hinsicht steht auch Castellucci 162 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 395 Ebd., S. 131-132. 396 Ebd., S. 181. 397 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., 31. Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“, einem der Vorläufer des postdra‐ matischen Theaters sehr nahe: Artauds Ideal eines therapeutischen Theaters, das das Publikum wachrüttelt und die menschlichen Affekte trifft, teilt auch Castellucci. Wie Artaud, für den Theater kein Spiel, sondern Teil des Lebens ist, 395 spricht er von einer ästhetischen Lebensbefragung statt von Kunstgenuss. Im Sinn eines postdramatischen Theaters baut er auf die transformative Kraft eines genuin performativ-rituellen Theaterereignisses, das die körperlich-sinn‐ liche Erfahrung stark macht. Castellucci praktiziert ein Theater, das auf alle Sinne zielt und dabei den konventionellen ‚guten‘ Geschmack theatraler Kunst überschreitet. Um im Sinn Artauds die geheimsten und grausamsten Anlagen der Zuschauer_innen sinnlich umzusetzen und zu offenbaren, kombiniert er Körper, Objekte, Blut und Musik. 396 So zielt Castellucci im Stil eines performativ-körperzentrierten, d. h. sinnlichen postdramatischen Theaters darauf ab, sowohl den Darsteller_innen als auch dem Publikum über extreme Affekte eine ästhetische Lebensbefragung näher zu bringen. Die Inszenierung bewegter menschlicher Körper und Objekte zieht sich so im wortwörtlichen wie übertragenen Sinn durch die ganze Pro‐ duktion, sie visualisiert sozusagen die in der Matthäus-Passion musikalisch angelegte affektiv-sinnliche Erfahrung. In diesem Sinn zeigt Castelluccis Theater, das theatrale Geschehen über di‐ verse Objekte und Figuren in Richtung des gesellschaftlichen Alltags öffnet, aber diese gleichzeitig in eine postdramatische Kunstästhetik überführt, neue Möglichkeiten der künstlerischen Bearbeitung soziokultureller Fragen auf, bei gleichzeitiger Akzentuierung der ästhetisch-sinnlichen Erfahrung in der Tradition tragischer Intensität. Ziel dieser Inszenierungsform ist nicht bloß eine kritische Auseinandersetzung mit der Passion Jesu Christi. Sie ist auch eine postdramatische Reaktualisierung älterer performativer Ästhetiken, 397 konkret die der im italieni‐ schen Spätmittelalter: „dramma liturgico, dramma ecclesiastico, dramma religioso, dramma sacro, Sacra rappresentazione“, popularer und hybrider Spielformen aus dem Mittelalter, die bei Castellucci neue Impulse für eine international konzipierte und gesellschaftskritische performative Kunst liefern, die sich jenseits einer text‐ zentriert-psychologisierenden Schauspieltradition verortet. Castelluccis Theaterpraxis, die im Stil des postdramatischen Theaters auf Grundfragen ästhetischer Erfahrung und menschlicher Existenz zielt, steht dem deutschsprachigen Gegenwartstheater deutlich näher als dem italienischen: In seinem Orgien-Mysterien-Theater versteht nämlich Nitsch den Tod Christi 163 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 398 Hermann Nitsch: „über die verwendung sakraler gegenstände“, a. a. O., S. 59. 399 Vgl. ebd. als „den tod aller wesen, die grundsätzlich sterben müssen.“ 398 Wie ein ver‐ drängter Dionysos habe Christus Nitsch zufolge alle zum Erlebnis gelangende Affektbereitschaft und triebhafte Rauschbereitschaft nicht ausgedrückt. 399 Mit dieser Deutung distanziert sich Nitsch von der klassischen theologischen Stell‐ vertretungsfigur. Die Assoziation der Passion Christi mit dem (verdrängten) Dionysos kehrt das sittlich-religiöse Vorbild Christi radikal um und findet sich außerhalb der Grenzen theologischer bzw. christlicher Glaubensinhalte. Au‐ ßerdem entbehrt die Gestaltungsform des Orgien-Mysterien-Theaters jeglicher rationaler Urteilskraft der Vernunft: Die Passion Christi wird in das Dilemma des Gegenwartsmenschen verwandelt. 2.1.7.4. Von der Passion Christi zum Dilemma des Gegenwartmenschen bei Nitsch Aus der performativen Perspektive ist die Auseinandersetzung mit der Passion Christi eine ästhetische Konstruktion und ein Vollzug einer theatralen Protest‐ aktion, die nichts Vorgegebenes zu präsentieren beabsichtigt. Es geht um das prozessuale Schaffen einer ästhetischen Wirklichkeit, die im performativen Sinn auf sich selbst verweist: Ist der performative Akt ausschließlich als ein verkörper‐ ter zu denken, so betont und radikalisiert das Orgien-Mysterien-Theater auf eine irritierende Art und Weise nicht nur die Präsenz des Körpers, sondern reflektiert auch über den Körper. So wird das sittlich-religiöse Vorbild der Passion Christi aus‐ schließlich zur enthüllenden und analytischen Passion des menschlichen Körpers. In diesem Zusammenhang steht die Passion Christi im Orgien-Mysterien-Theater für die Parabel der lebensweltlichen Erfahrung des Menschen mit den inneren und äußeren Zuständen seines Körpers ohne religiösen Anspruch. Hier liegt einer der Unterschiede zur christlichen Religion beim verehrten Kreuz sowie bei der Verwendung der Kreuzigung. Die Verwendung und die Bedeutung der Passions‐ darstellung in der christlichen Religion und im Orgien-Mysterien-Theater haben - abgesehen von den Ähnlichkeiten der verwendeten Elemente (Kreuz, Gekreuzigter etc.) - keinen gemeinsamen Nenner: Die bestehenden institutionellen Rahmenbe‐ dingungen machen den Einsatz der Kreuzigungsdarstellung zur fortdauernden und referenziellen Legitimation des sittlich-religiösen Vorbildbezugspunkts in der christlichen Religion. Im Gegensatz dazu fehlen institutionelle Voraussetzungen im Orgien-Mysterien-Theater, das trotz der Verwendung christlicher Symbole nicht nur für eine wirklichkeitskonstituierende und selbstreferenzielle Theatersituation 164 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 400 Hermann Nitsch: „über das opfer". In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamt‐ kunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 55. 401 Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, a. a. O., S. 18. steht, sondern zudem kein religiöses Legitimationsziel verfolgt - wohl aber eine Form ritueller oder zeremonieller Transformation, indem der Erlebniszustand des Dionysischen gesucht wird. Um diesen Zustand des Dionysischen zu erreichen, werden vor allem rituelle und imaginierte blutige Opferbräuche aufgeführt, die - wie im Orgien-Mysterien-Theater noch aufgezeigt wird - eine Empfindung von Schrecken und Entsetzlichkeiten hervorrufen können. Das Orgien-Mysterien-Theater schafft eine funktionelle Form ästhetisch-performativer Hervorbringung von Ritualvorgängen, „die eine äussere Ähnlichkeit mit frühen [und außereuropäischen] opferkulturen hat.“ 400 Blut, Fleisch, Menschenkörper und Tierkadaver - einschließlich anderer Substanzen - sind in erster Linie Nitschs Arbeitsmaterial für seine synästhetische Kunstkonzeption bzw. Dramaturgie der sinnlichen Wahrnehmung. In zweiter Linie ruft der radikale sowie irritierende Umgang mit den einzelnen Elementen des genannten Arbeitsmateri‐ als schockartige Ekel- oder Abwehrreaktionen, intensives Registrieren, sinnliche sowie tragische Erfahrungen, Übermaß, Rausch und Erlebnis der Ekstase hervor. So zeigt das Orgien-Mysterien-Theater seine künstlerische Nähe zum kulturellen Zelebrieren im Dionysos-Kult, dessen Wirksamkeit erst in einen rituellen Kontext eingebettet bzw. in einer szenisch-performativen Durchführung realisiert werden muss. Beabsichtigt Nitsch den verdrängten Dionysos in Christus bzw. im zivili‐ sierten Gegenwartsmenschen zum realen Erlebnis seiner Affektbereitschaft zu bewegen, so geht es um einen performativen wie dynamischen Versöhnungssowie Ausgleichsakt der Eigenschaftsanteile des Dionysischen und des Apollinischen (principium individuationis, Maß, Form, Ordnung wie im dramatischen Theater) im Menschen. In der Aufführung der Tragödie wird z. B. die apollinische Verklärung des Dionysischen betont, um dem Menschen den rituellen Zugang zur Grunderfahrung des Tragischen zu ermöglichen. In der griechischen Welt besteht ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysos: beide so verschiedene Triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offenen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort „Kunst“ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen„Willens“, mitein‐ ander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen. 401 165 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 402 Ebd., S. 34. 403 Hermann Nitsch. "ritual als ausdruksform der kunst“, a. a. O., S. 111. 404 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 249. 405 Vgl. Ingeborg Reichle: „Vom Ursprung der Bilder und den Anfängen der Kunst. Zur Logik des interkulturellen Bildvergleichs um 1900“. In: Martina Baleva, Ingeborg Reichle, Oliver Denn „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfer‐ tigt“. 402 Aus dieser Perspektive wird die Synthese der beiden Figuren des apollini‐ schen Traumkünstlers und des dionysischen Rauschkünstlers veranschaulicht. In diesem Zusammenhang müssen die Welt und das Dasein wie ein Kunstwerk oder ästhetisches Phänomen in einem liminalen Wirklichkeitsbereich erlebt bzw. erfahren werden, in welchem das Leiden und die Dissonanz des Lebens im Kunstereignis erscheinen. Das Orgien-Mysterien-Theater, das ein Theater der realen Geschehnisse ist, geht in eine ähnliche Richtung: aus diesen intentionen konstituierte sich mein aktionstheater, ein dem happening und aktionismus nahestehendes theater der realen geschehnisse. durch mein theater werden nur reale geschehnisse inszeniert. rituale, welche das dasein sensibilisieren und intensivieren wollen, rituale sinnlichen empfindens, welche uns tiefer in unser dasein bringen. 403 Die Kategorie der Provokation und der Blasphemie im Zusammenhang mit dem Orgien-Mysterien-Theater bezieht sich bei genauer Betrachtung auf die regelbre‐ chende theatrale Gestaltenform sowie auf die synästhetische Konzeption mit tabuisierten Elementen. Dahinter steckt Nitschs Intention, einen wirkungsästheti‐ schen Theateransatz in Form einer Zeremonie in Gang zu bringen. Als Ort einer ästhetischen Zeremonie ist das Orgien-Mysterien-Theater ohne realen Einbezug und überwiegende Präsenz des menschlichen Körpers mit seinen inneren und äußeren Zuständen kaum in dieser Form zu denken - vor allem, wenn es gerade Nitsch nicht lediglich darum geht, wie Lehmann formuliert, eine „oberflächliche Adaption zeremonieller Verhaltensformen künstlerisch objektiv produktiv“ 404 zu erschließen. Die formbestimmende Wirklichkeit im postdramatischen Theater zeichnet sich seit den 1960er-Jahren unter anderem durch reale körperliche Erscheinungen aus, welche wiederum nicht nur das Zeremonielle oder Rituelle im Theater hervorheben. Sie rücken auch das Theater an Ausdrucksformen religiöser Praxen sowie an Mythen immer näher heran und appellieren an die menschliche Psyche. Bekannt‐ lich gibt es Ähnlichkeiten zwischen allen menschlichen Kunstäußerungen sowie religiösen Praxen, die von der Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs aller Menschen ausgehen und auf der Annahme einer psychischen Einheit“ aller Men‐ schen 405 aufbauen. In „Hermann Nitsch/ Pier Paolo Pasolini“ ist Giuseppe Zigaina - 166 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater Lerone Schultz (Hg.): Image Match. Visueller Transfer, ›Imagescapes‹ und Intervisualität in globalen BildkulturenWilhelm. München: Wilhelm Fink 2012, S. 131-150, hier S. 136. 406 Vgl. Giuseppe Zigaina: „Hermann Nitsch, Pier Paolo Pasolini“. In: Arnulf Rohsmann: Hermann Nitsch. O. M. Theater. Klagenfurt: Kärntner Landesgalerie. Internationales Grafik‐ zentrum 1994, S. 11-25, hier S. 11. 407 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 115. 408 Vgl. ebd. nach der Lektüre von Nitschs theoretischen Schriften sowie nach der Sammlung vieler Informationen über seine Lebensweise - zur Überzeugung gelangt, dass ihn (Nitsch) der Bereich des Mythos völlig durchflute - vor allem jener Mythos von Tod und Wiedergeburt, der hinter dem großen kosmogonischen Mythos der (auch künstlerischen) Schöpfung stehe. 406 Die christliche Religion sowie deren Kultgegenstände sind in diesem Zusammenhang vor allem als ein Mittel zum Zweck seines wirkungsästhetischen Orgien-Mysterien-Theaters aufzufassen: das Schaffen einer liminalen Theatersituation, in der Teilhabende wie in einem Ritual zum Ausagieren, zur Abreaktion und zur Katharsis bzw. zu reinigender Transformation bewegt werden sollten. Insofern wird das Theater zu einem ästhetischen Ort der Zeremonie. Das Christentum, das im Sinne Nitschs für eine Massenverdrängung durch Sublimierung, Vergeistigung und Verdrängung blutigen Kultes steht, ist aber das geeignete Sprungbrett zurück zur früheren Dimension der Theaterpraxis als Zeremonie. Da Nitschs Orgien-Mysterien-Theater sehr komplex ist, bedarf es bezüglich der zeremoniellen Dimension einer Präzision und einer Restriktion aus postdrama‐ tischer Betrachtungsweise. In seinem oft zitierten Bezugsbuch Postdramatisches Theater formuliert Lehmann, dass im Gegensatz zur episch-narrativen Weise der Erzählung (Diegesis) Mimesis seit der Antike für das verkörpernde und imitierende Darstellen stehe. Er betont, dass das Wort „mimeithai“ ursprünglich „tänzerisch darstellen“, nicht „abbilden“ bedeute. 407 Dies passt zu den Formen postdramatischen Theaters - wie dem Orgien-Mysterien-Theater als Konzeptu‐ alisierung von Kunst als erlebte Erfahrung der realen Wirklichkeit: Die Fähigkeit der Isolierung des von der ästhetischen Funktion berührten Gegenstandes. Es sei die auszeichnende Möglichkeit des Ästhetischen, eine maximale Konzen‐ tration der Aufmerksamkeit auf einen gegebenen Gegenstand zu erzeugen; die Bedeutsamkeit der ästhetischen Funktion bei jeder Art von Zeremonie, das ästhetisch isolierende Moment, das aller Feierlichkeit innewohne. 408 Diese Argumentation führt zudem die Schwellenphase vor Augen, die im Rahmen der performativen Übergangsrituale mit einer transformativen Kraft im Sinne von Victor Turner zu beobachten ist. Übertragen auf das Theater lässt sich dieses - wie bereits in Nitschs Orgien-Mysterien-Theater aufgezeigt worden 167 2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst 409 Ebd. 410 Ebd. 411 Ebd., S. 86. ist - durch eine besondere wirkungsästhetische Dimension des Zeremoniellen auszeichnen. Die Dimension der Zeremonie „hängt dem Theater als soziales Geschehen von seinen - meist aus dem Bewußtsein geschwundenen - religiösen und kultischen Wurzeln her an.“ 409 Verstanden als eine Form postdramatischen Theaters löst das Orgien-Mysterien-Theater in diesem Kontext „das formal-os‐ tentative Moment der Zeremonie aus seiner [ursprünglichen] Funktion ab und bringt es um seiner selbst willen, fernab von aller religiösen oder kultischen Referenz, als ästhetische Qualität zur Geltung.“ 410 Die Frage zur Funktion der ästhetischen Zeremonie verlangt auch nach einer funktionellen Präzision, die in dieser Arbeit als performativ-zeremonielles Reflektieren über die Passion des menschlichen Körpers aufzufassen ist. 2.1.8. Performativ-zeremonielles Reflektieren über den Körper im Theater Nitschs Orgien-Mysterien-Theater ist die performative Fokussierung auf die Körperlichkeit und Subjektivität eines Menschen als Ausdrucksquelle aller körperzentrierten Erfahrungen. Wie bereits argumentiert, steht das Moment der Zeremonie im Orgien-Mysterien-Theater um seiner selbst willen für eine ästhe‐ tische Geltung, deren Kraft oder Wirksamkeit von der Gestaltungsform und der synästhetischen Komposition gespeist wird. Bereits in der informellen Malerei oder dem Action Painting, das Nitschs Orgien-Mysterien-Theater zugrunde liegt, „ist eine Malzeremonie mit Anklängen an theatrale Situationen, wobei freilich das Werk nach der in ihrem Eigenrecht betonten künstlerischen Aktion […] für sich selbst steht.“ 411 Dabei findet das Moment der Zeremonie seinen Ausdruck in den bildgenerierenden Vorgängen malaktionistischer Form, in der theatralen Inszenierung des sich motorisch bewegenden menschlichen Gesamtkörpers beim Schütten und Rinnenlassen von Farben, Blut und anderen körperlichen Substanzen sowie beim Umgang mit Innereien und Gedärmen. Dieser performativ-zeremonielle Akt dient Nitsch, der sich auf den Tachismus und Dionysos bezieht, nicht bloß zur Vermittlung äußerst intensiver sinnlicher und psychischer Erfahrung sowie dem Exponieren menschlicher Erregung, Lustaufwallung, Enthemmung und Ekstase. Unter diesen Umständen hebt Nitsch die sinnlichen Qualitäten aller verwendeten Elemente mit der Betonung prozessualer, grenzüberschreitender Aktionen hervor, die szenisch-performati‐ 168 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 412 Vgl. ebd., S. 380. 413 Vgl. Antonin Artaud: Le théâtre et son double. Paris: Gallimard 1964, S. 105-113. 414 Vgl. ebd., S. 34-46. 415 Ebd., S. 40-41. 416 Ebd., S. 81. ves und zeremonielles Reflektieren über tabuisierte bzw. verdrängte Wirklich‐ keitsbereiche des Körpers ermöglichen sollen. Wie Lehmann ausformuliert, werde der Körper in diesem Zusammenhang nicht um seiner plastischen Idealität willen ausgestellt, sondern zur schmerzhaften Konfrontation mit dem Unvollkommenen. 412 Der Anteil des performativ-zeremoniellen Reflektierens im Orgien- Myste‐ rien- Theater entspricht außerdem Artauds Theateransatz: Dass Theater durch seinen Kultwert mit religiösen, metaphysischen Funktionen wieder versöhnt wird, ist Artaud wichtig. So erscheint ihm das orientalische Theater ein Beispiel dafür, dass das Theater die Teilhabenden körperlich sowie geistig bewegen und verzaubern kann. Für ihn muss ein Autor, der ausschließlich mit geschriebenen Wörtern umgeht, für Spezialisten dieser handlichen und dynamischen Kunstform Platz machen. 413 In Artauds Le Théâtre et la peste sieht man das Symptom einer Existenzkrise, die nur durch den Tod oder durch Heilung gelöst wird. Wie die Pest soll auch das Theater innere Tiefen der Grausamkeit nach außen treiben, um auf die Massen transformativ einzuwir‐ ken bzw. diese zu einer kollektiven Katharsis zu bewegen. Das Theater hat wie die Pest eine transformative Kraft, die imstande ist, Verdrängtes in der Haltung und im Geist eines Menschen hervorzurufen. 414 Artaud geht davon aus, dass ein Theater die Ruhe der Sinne in Bewegung setzen und die Gemeinde zu einer schwierig zu ertragenden Heldenhaltung führen soll: „Une vraie pièce de théatre bouscule le repos des sens, libère l’inconscient comprimé, pousse à une sorte de révolte virtuelle […], impose aux collectivités rassemblées une attitude héroique et difficile.“ 415 Das für Artaud vorbildliche balinesische Theater in Sur le Théâtre Balinais verweist auf die ursprüngliche Funktion des Theaters aus dem Blickwinkel der Erregung von Halluzination und Angst: „Le […] Théâtre Balinais remet le théâtre à son plan de création autonome et pure, sous l’angle de l’hallu‐ cination et de la peur.“ 416 Ein europäisches Theater jenseits des Wortes, des Logozentrismus, war seine Theatervision. Das Orgien- Mysterien- Theater illustriert in vielerlei Hinsicht Le Théâtre de la cruauté. Artauds Definition der Grausamkeit stimmt nicht nur mit Nitschs Umgang mit Blut, Innereien, Substanzen etc. überein, sondern auch mit der performativen Hervorrufung von schrecklichen, verdrängten inneren Zuständen der menschlichen Exis‐ 169 2.1.8. Performativ-zeremonielles Reflektieren über den Körper im Theater 417 Ebd., S. 123. 418 Vgl. ebd., S. 131-132. 419 Thomas Dreher: „Aktionstheater als Provokation: groteske Körperkonzeption im Wiener Aktionismus“. Onlinedokument http: / / dreher.netzliteratur.net/ 2_Performan ce_Aktionismus.html - letzter Zugriff: 15.12.2016. tenz. Es handelt sich nicht um die Grausamkeit, die Menschen gegeneinander ausüben, sondern um die Hervorrufung der schrecklichen und notwendigen Grausamkeit, die im Theater Menschen widerfährt : „Et sur le plan de la représentation, il ne s’agit pas de cette cruauté que nous pouvons exercer les uns contre les autres […], mais de celle beaucoup plus terrible et nécessaire que les choses peuvent exercer contre nous.“ 417 Es geht dabei vor allem um eine öffentliche Befreiung von den inneren Beklemmungen, Ängsten, Hasszuständen und Verdrängungen im menschlichen Dasein. Artauds Traum eines feierlichen, therapeutischen Theaters, das Menschen wachrütteln soll, findet seine Verwirklichung im Orgien- Mysterien- Theater. Im Sinne von Nitsch muss Theater grausam sein und Grenzen der Kunst sowie der Existenz testen. Für Artaud ist Theater kein Spiel, sondern Leben und Wirklichkeit, 418 um zum Theater als Ort transformativer Körpererfahrung zu gelangen. 2.1.9. Zivilisationskritik und ästhetisch-transformative Erfahrung im Theater Vor ihrer systematischen Vergeistigung und Literarisierung zwischen dem 5. und 3. Jahrhundert vor Chr. waren blutige Kultpraktiken in der antiken griechischen Alltagskultur als Orientierungssystem im Bewusstsein über‐ wiegend präsent. Während in der griechischen Antike die Opferpraktiken in der Öffentlichkeit sinnlich theatral durchgeführt wurden, gingen diese Vorgänge sowie deren funktionelle Notwendigkeit in der zivilisatorischen Sozialisation tabuisiert verloren. In seinem Aufsatz „Aktionstheater als Pro‐ vokation: groteske Körperkonzeption im Wiener Aktionismus“ stellt Thomas Dreher diesbezüglich wie folgt fest: „Durch Schlachthöfe sind [z. B.] Blut und Tiertötung im Alltag nicht mehr wahrnehmbar. Diese religiösen und sozialen Ausgrenzungen verkürzen nicht nur die persönliche Erlebnisfähigkeit, sie erleichtern es auch, den Anteil der Aggression an Zivilisationsprozessen zu verkennen.“ 419 170 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 420 Vgl. Kristine Stiles: „The Story of the Destruction in Art Symposium and the “DIAS af‐ fect”“. In: Sabina Breitwieser (Hg.): Gustav Metzger. Geschichte Geschichte. Vienna/ Ost‐ fildern-Ruit: Generali Foundation and Hatje Cantz Verlag 2005, S. 41-65. 421 Rüdiger Schaper: Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos. München: Siedler Verlag 2014, S. 13. 422 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 14-15. Bereits im September 1966 hat Nitsch während seiner Teilnahme an dem „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 420 in London in Bezug auf das Orgien- Mysterien-Theater über seine Auffassung vom Zusammenhang zwischen De‐ struktion und Sozialisation vorgetragen. In einer heute als zivilisiert geltenden Welt forciert Nitsch eine zivilisationskritische Haltung in ausgerechnet einer - wie Rüdiger Schaper in seinem Buch Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos formuliert - „westlichen Zivilisation, die ihrer Herkunft nach weder sehr westlich ist noch zivilisiert.“ 421 Diese Gedankenfolge erschließt sich uns, wenn die Idee von Zivilisation oder Fortschritt in Verknüp‐ fung z. B. mit den Daten 1945, 1965, 1989 gedacht wird: Die Daten lassen sich mit verschiedenen Krisen moderner Fortschrittserzählungen in Beziehung bringen, die auf je unterschiedliche Weise mit der Geschichte der Kunst verknüpft sind […]. Das erste Datum, 1945, markiert eine Schwelle, nach der es nicht mehr möglich ist, Geschichte nach Hegel´schem Modell unmittelbar als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit zu fassen. Denn es steht für die Erfahrung einer politisch-moralischen Katastrophe […]. Nach Auschwitz, so fasst es Theodor W. Adorno bündig, „der bereits vollzogenen […] Regression, wirkt nicht nur jede positive Fortschrittslehre, sondern jede Behauptung eines Sinnes der Geschichte problema‐ tisch affirmativ“. Dieser Ausschnitt hatte auch Auswirkungen auf den ästhetischen Diskurs. Vor seinem Hintergrund konnte sich die Rede von einer Fortschrittlichkeit der Kunst nur noch auf solche Werke beziehen, die dem falschen Optimismus des idealistischen Fortschrittmodells entgegenarbeiten. Die schlug sich nicht zuletzt in einer künstlerischen Kritik an der von der idealistischen Ästhetik als Ausdruck von Freiheit verherrlichten Schönheitskonvention nieder. So ist bereits für die vielleicht bis heute einflussreichste (nachkriegs-)modernistische Ästhetik - die von Adorno - nicht mehr die Kategorie des Schönen, sondern die des Erhabenen entscheidend: An die Stelle der selbstgerecht über ihr Anderes triumphierenden Schönheit tritt eine Arbeit des Formlosen im Herzen der (dadurch nicht mehr affirmativen schönen) Form. 422 Nitschs Theaterkonzept ist in Anbetracht dessen ein ästhetischer Versuch, aufgrund seiner Zivilisationskritik ein ursprüngliches sowie fremd gewordenes Abreaktions- und Existenzfest wiederherzustellen. 171 2.1.9. Zivilisationskritik und ästhetisch-transformative Erfahrung im Theater 423 Vgl. Rosemarie Brucher: „Abreaktion, Katharsis, Heilung. Wirkungsästhetische Kon‐ zepte im Wiener Aktionismus“. In: Eva Badura-Triska/ Hubert Klocker: Wiener Aktio‐ nismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, a. a. O., S. 36. 424 Hermann Nitsch: o. m. theater lesebuch. Wien: Edition Freibord 1985, S. 48. Die theoretischen Schriften zum Orgien-Mysterien-Theater verdeutlichen Nitschs Verständnis der Abreaktion, die sich von dem ursprünglich in der Psychoanalyse gebrauchten Begriff unterscheidet. In „Abreaktion, Katharsis, Heilung. Wirkungsästhetische Konzepte im Wiener Aktionismus“ betont Rose‐ marie Brucher, dass die Termini Abreaktion und Katharsis bei Nitsch synonym verwendet werden. So bettet er seinen erfahrungs- und wirkungsästhetischen Theateransatz in einen weitreichenden kulturgeschichtlichen Zusammenhang ein; er reaktualisiert und radikalisiert zugleich das Katharsismodell, indem er das kathartische Ursprungspotential des orgiastischen Grundexzesses mit einer bewusst einhergehenden Erschütterung etwaiger moralischer Kontextualisie‐ rung betont. 423 Abreaktion und Katharsis sind bei Nitsch mehr als lediglich Begriffe: Beide stehen zunächst in Zusammenhang mit einer praktischen, erfahrungs- und wirkungsästhetischen Theatersituation. Sie erfolgen nicht wie im klassischen Theaterverständnis auf der mentalen oder intellektuellen Ebene. Bei Nitsch meint Abreaktion ein durch eine körperzentriert-reale Konfliktsi‐ tuation bedingtes, triebhaftes, sinnlich-affektives, performatives Ausagieren. Abreaktion bei Nitsch ist jede art von außernormaler befriedigung, welche gestaute, zusammengeballte ener‐ gien nach außen lässt […]. sie ist keine gewöhnliche, sondern eine in den bahnen der kunst sich abspielende, gebändigte […] abreaktion. sie hat sowohl eine kathartische funktion als auch eine bewußtmachende wirkung aufzuweisen. 424 Anders als bei Aristoteles hat Katharsis bei Nitsch einen szenisch-performativen Charakter und wird von der durch sinnliche Erregungszustände und Trieb‐ sphäre bedingten Abreaktion vorausgesetzt. Katharsis im Orgien-Mysterien- Theater ereignet sich während der performativen Schwellenphase. In dieser liminalen Phase sollen alle verdrängten Energien zum Durchbruch gelangen. Dabei soll das Wort zum Schrei verwandelt werden. Zum Beispiel sollen durch Geschrei und ekstatische Lärmmusik im Sechstagespiel die beteiligten Menschen für den Exzess begeistert werden. Abreaktion wird im Sinne von Nitsch zur automatischen Form der sich umsetzenden Destruktion: z. B. die Zerreißungs- und Ausweidungsaktionen. Aus dieser Argumentation kann geschlussfolgert werden, dass das Orgien- Mysterien-Theater ein Beispiel für wiederkehrende Symbole und Vorbilder von uralten theatralen Rollendarstellungen der antiken griechischen Opferriten 172 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 425 Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart/ Weimar: Verlag J. B. Metzler 2003, S. 162. 426 Sigrid Weigel: „Pathosformel und Oper: Die Bedeutung des Musiktheaters für Aby Warburgs Konzept der Pathosformel“. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschicht‐ liche Literaturwissenschaft, Bd. 6, H. 2, Göttingen: Vandenhoek&Ruprecht 2006, S. 234-253, hier S. 235. darstellt: Rückblickend kann es als Nachwirkung uralter bzw. antiker Theater‐ formen gedeutet werden, bei denen Menschen in Welten sinnlicher Erregungs‐ zustände und der Triebsphäre emotional und affektiv verleitet werden. In Anlehnung an den deutschen Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg (1866-1929) stehen z. B. Pathosformeln für eine paradigmatische Beschreibung des antiken Pathos im Rahmen der Urtheatralisierung, die später behandelt wird. Obgleich Warburg die Wiederkehr antiker Kunstsymbole weniger als Ereignis einer bewussten Aneignung durch Künstler_innen späterer Epochen interpretiert, sondern sie stärker auf die erinnerungsauslösende Kraft kulturel‐ ler Symbole zurückführt, 425 wird hier festgehalten, dass Nitschs Faszination an der Antike einer kultischen und therapeutisch transformativen Kraft des griechischen antiken Theaters entspringt. In seinem Vortrag Dürer und die italienische Antike, den Warburg 1905 auf einem Philologen-Kongress in Hamburg hielt, bewies er, dass es sich bei Dürers Zeichnung „Der Tod des Orpheus“ von 1494 um eine Wiederkehr von „Symbolen antiker Vorbilder“ handelte. Aufgrund der affektiven und emotionalen Hervorbringung menschlichen Ausdrucks, der dem antiken Pa‐ thos innewohnte, bediente sich Warburg der Pathosformel, „um jene erregten Gebärden in der bildenden Kunst zu bezeichnen, die er als eine aus der Antike stammende Ausdrucksweise gesteigerter Affekte untersucht hat.“ 426 Warburg entwickelte die Pathosformel, indem er Spuren antiker Gebärdensprache in der Renaissance oder das „Nachleben der Antike in der Renaissance“ nachverfolgte. Unter dem Titel „Der Tod des Orpheus“ stellte Warburg Bilder von Albrecht Dürer, Andrea Mategna, Antonio Pollaiuolo und anderen unter dem Gesichts‐ punkt einer historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks vor. 173 2.1.9. Zivilisationskritik und ästhetisch-transformative Erfahrung im Theater 427 Ebd. 428 Aby Warburg: „Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929)“. In: Ilsebill Barta Fliedl, Christoph Geissmar (Hg.): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst. Salzburg/ Wien: Residenz Verlag 1992, S. 171-173, S. 171. Abbildung 17: Tod des Orpheus von Albrecht Dürer (1493) Unter Pathosformel subsumiert Warburg in der Tat „Ausdrucksgebärden, die als kulturelle geformte und überlieferte Sprache der páthe, in den körperlichen Bewegungsbildern von mimetischen und darstellenden Künsten verstanden werden.“ 427 Die künstlerische Leistung des Orgien- Mysterien- Theaters als Urtheatralisierung, die auf die voraristotelische antike Kulturproduktion zu‐ rückweist, entspricht durchaus Warburgs Beschreibung pathetischer Gebär‐ densprache sowie gesteigerter körperlicher und seelischer Bewegungsmotive einer leidenschaftlichen und tragischen Erfahrung. Auch wenn sich diese Theorie der Pathosformel, die Warburg in Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929) als „Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst“ 428 beschrieben hat, a 174 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 429 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 44. 430 Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoreti‐ sche Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. , a. a. O., S. 162. 431 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 31. 432 Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“. In: Günter Blamberger, Sebastian Goth: Ökonomie des Opfers. priori auf die grafischen und plastischen Kunstleistungen der Antike und der Renaissance bezieht, ist sie dennoch im Orgien- Mysterien- Theater in mancher Hinsicht anwendbar: Als Gesamtkunstwerk fungiert das Orgien- Mysterien- Theater nicht nur als Treffpunkt der Künste im postdramatischen Kontext. 429 Es ist zugleich eine theatrale performative Ausdrucksform des Pathos par excellence, in der die „‚Superlative‘ menschlichen Ausdrucks - leidenschaftliche Erregung in Gebärde - […], auf die Symbolik antiker Vorbilder zurückweisen.“ 430 In dieser Hinsicht ist Nitschs Zivilisationskritik mit seinem überwiegenden Rückgriff auf die für die Zivilisation fremd ge‐ wordenen Erfahrungen aufschlussreich. Aus postdramatischer Perspektive führt das Orgien- Mysterien- Theater wiederum als Wiederaufnahme älterer performativer Ästhetik 431 auf das antike Theater vor Aristoteles sowie auf bestimmte außereuropäische Theaterformen (z. B. aus Asien und Afrika) zurück. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit werden die Bezeichnungen Urtheatralisierung und voraristotelisches Theater verwendet. 2.1.10. Die Wiederherstellung fremdgewordener, ritueller und theatraler Kulturpraktik Der provokative Anteil des zivilisationskritischen Orgien-Mysterien-Theaters besteht darin, auf der Basis fremd gewordener theatraler sowie ritueller Kulturpraktik der griechischen Antike die Wechselbeziehung zwischen dem Leben und der Notwendigkeit der rituellen Opfertötung bzw. des mystischen Leitmotivs aufzuzeigen. Es ist bemerkbar, dass das Opfer in einem rituellen Kontext einen Verzehr von Fleisch einschließt. Das heißt, dass der Konsum von Fleisch, wie Martin Treml bemerkt, „in der Antike fast immer nur auf diesem Weg möglich“ gewesen sei: „unter verschiedenen Formen öffentlicher Anteilnahme und Beteiligung (taktile, konkrete mitwirkende Anteilnahme), die von den großen, ›öffentlichen‹ Polisfesten über Essen in Kultvereinen zu ›privaten‹, symposionsartigen Zusammenkünften“ gereicht haben sollen. Für Treml bleibt festzuhalten, „dass die griechische Küche insgesamt ›Opferküche‹ war […].“ 432 Wie in den meisten Opferriten ist ein geopfertes Tier stellvertretend 175 2.1.10. Die Wiederherstellung fremdgewordener, ritueller und theatraler Kulturpraktik Literatur im Zeichen des Suizids. Band 14, München: Wilhelm Fink 2013, S. 39-61, hier S. 40-41. 433 Ebd., S. 42. 434 Ebd., S. 43. 435 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., , S. 20. 436 Vgl. Antonin Artaud: Le théâtre et son double, a. a. O. für den Menschen, der sich nicht nur über den Verzehr des Opferfleisches freut. Das ist vor allem auch ein ritueller/ religiöser Akt, bei dem Körper und Geist interdependent zueinanderstehen, wie bereits im ersten Kapitel in Bezug auf Performanz als Funktionsmodus körperzentrierter und ritueller Erfahrung bzw. Transformation erörtert worden ist. „Der Mensch ist das Tier, das seine Traurigkeit über den Tod in kulturellen Formen bearbeitet - selbst wenn sie im rituellen Töten anderer Lebewesen bestehen.“ 433 Die menschliche Einverlei‐ bung einiger Teile und die den Göttern zuteilwerdenden restlichen Teile des Opferfleisches stellen einen kommunikativen Akt zwischen Menschen und Göttern in dem opferrituellen Kontext dar. „Nach der Opferlogik der Griechen gehören den Göttern vom Opfertier die Haut und die Knochen vollständig, zusammen mit dem Fett sowie etwas von allem Fleisch und allen Innereien, der ganze Rest aber kommt den Menschen zu, die sich daran gütlich tun.“ 434 Dies entspricht der performativen Praxis theatraler Rollendarstellung in einer Kultur, welche die Dimension des Kultischen und die Notwendigkeit der rituellen Tiertötung im Zusammenhang mit Fleischverzehr in den Vordergrund rückt. Im postdramatischen Theaterverständnis impliziert dies einen Versuch, „einem anderen Denken, einem Denken des Anderen, und also auch einem Denken des Anderen im Denken selbst einen szenischen Spielraum zu gewähren oder ihm im Theater ein Spiel einzuräumen.“ 435 Dies betrifft die Theaterpraxis jenseits der Textzentriertheit und der ausschließlich verbalen Sprache. Es ist somit mehr als ein Stummtheater. Es geht um die Bereitschaft des Sich-Einlassens auf eine performativ ästhetische Erfahrung der bereits im Orgien-Mysterien- Theater vorhandenen Merkmale von Artauds Le Théâtre et la peste, Sur le Théâtre Balinais, Le Théâtre de la cruauté. 436 In der Tat kritisiert Artaud das beschränkende textsowie sprachzentrierte Theater Europas. Der Bereich des Theaters sei das Plastische und Bilder hätten mehr Wert als die verbalen, psychologisierenden Ausdrucksmittel. Im zweiten Manifest nähert sich seine Theatervision ein Stück weiter an Nitschs Orgien- Mysterien-Theater an: Die Grausamkeit kann blutig und musikalisch mit Schrei, Lärm etc. werden, um die geheimsten Anlagen der Zuschauenden - wie etwa den Hang zum Verbrechen, erotische Obsessionen, Fremdeinflüsse und den 176 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 437 Vgl. Antonin Artaud: Le théâtre et son double, a. a. O., S. 181-183. 438 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 249-250. 439 Vgl. Koku G. Nonoa: „Transgression im europäischen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Poli‐ tik““. In: Nathalie Bloch/ Dieter Heimböckel/ Elisabeth Tropper (Hg.): Vorstellung Europa - Performing Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart. Berlin: Theater der Zeit 2017, S. 141-155, hier S. 150. utopischen Sinn für das Leben - nach außen zu drängen. 437 So sieht Artaud die Zukunft des Theaters in die ursprüngliche rituelle sowie therapeutische Dimension eingebettet. Der Kultwert solcher performativ körperzentrierten, rituellen Theaterformen zielt darauf ab, sowohl Darstellende selbst als auch den Betrachter_innen kathartisch zu transformieren: Die Ethik der Katharsis - zivilisatorisch verdrängte Aggressivität wird wieder in den Raum des Bewußtseins und der Erfahrbarkeit zurückgeholt - erfordert Teilnahme, übertritt qua Erweckung unkontrollierbarer Affektreaktionen (Angst, Ekel, Schre‐ cken) die Splendid Isolation des Zuschauers […]. 438 In diesem Zusammenhang ermöglicht eine voraristotelische Theaterperspektive ein Denken eines anderen Theaters oder ein anderes Denken des Theaters mit einer vielfältigen Erscheinungsform, das in die jeweilige kulturelle Praxisviel‐ falt - wie das Orgien-Mysterien-Theater in einen eigenartigen aktionistischen Theaterentwurf - eingebettet ist. 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung habe ich bereits in meinem Aufsatz „Transgression im europäischen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Poli‐ tik““ 439 kurz behandelt. Die vorliegende Analyse ist eine ausführliche und erweiterte Überarbeitung des Orgien-Mysterien-Theaters als Urtheatralisierung. Der Begriff Urtheatralisierung wird aus dem Wort Urtheater abgeleitet und in dieser Arbeit deskriptiv eingesetzt: Urtheatralisierung bezeichnet die - unter veränderten geschichtlichen, soziokulturellen sowie institutionellen Rah‐ menbedingungen und Lebenslagen - wiederkehrenden Urtheaterformen bzw. voraristotelischen Theaterformen, die mit rituell-affektvoller, sinnlich-gebär‐ densprachlicher und nonverbaler Dramaturgie überladen waren. Dabei ist anzu‐ merken, dass rituelle sowie performative Aspekte der uralten/ voraristotelischen 177 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 440 Das Orgien-Mysterien-Theater kann deshalb nicht auf das Urtheater reduziert werden. Es ist vielmehr gegenwärtig und seine soziokulturelle Dimension hat mit den gegen‐ wärtigen Umständen zu tun. 441 Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 74. 442 Anton Bierl: Prädramatik auf der antiken Bühne: Das attische Drama als theatrales Spiel und ästhetischer Diskurs. In: Martina Gross, Patrick Primavesi: Lücken sehen… Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Heidelberg: Universitätsverlag WINTER 2010, S. 69-81, hier S. 69. Rollendarstellungsformen nicht nur zu einer Inspirationsquelle für bestimmte gegenwärtige Theaterformen wie z. B. das Orgien-Mysterien-Theater dienen. Andere Bedeutungen, Sinnwahrnehmungsweisen und Funktionen hängen auch diesen wiederaufgenommenen Elementen älterer Ästhetik im postdramatischen Kontext an. 440 Das „Urtheater“ und das „Urdrama“ sind nach Lehmann Gegenstand von Rekonstruktionsversuchen. Ihm zufolge sollen frühe rituelle Theaterformen mithilfe von Masken, Kostümen und Requisiten affektiv besetzte Vorgänge ( Jagd, Fruchtbarkeit) in einer solchen Weise zur Darstellung gebracht haben, dass sich Tanz, Musik und Rollenspiel vereint hätten. Darüber hinaus sieht Lehmann in diesen eigenartigen theatralen Rollendarstellungsformen trotz ihrer vorschriftlich motorischen, körperlich zeichenhaften Praxis eine Art „Text“, der sich von der Formation des neuzeitlichen literarischen Theaters augenfällig unterscheide. 441 So betont er in seinem Buch Theater und Mythos (1991), dass die antike Tragödie in Wirklichkeit nicht als dramatisch, sondern als prädramatisch zu bezeichnen ist. Hingegen nennt Anton Bierl in seinem Beitrag „Prädramatik auf der antiken Bühne: Das attische Drama als theatrales Spiel und ästhetischer Diskurs“ das antike Theater weiterhin „Drama“, weil „auf der Bühne Schauspieler agieren. Sie verkörpern bekanntlich Figuren, die etwas tun, also eine bestimmte Handlung vollziehen.“ 442 Auf den ersten Blick könnte man schlussfolgern, dass Bierl Lehmanns Behauptung widerspricht. Doch besteht dieser Scheinwiderspruch lediglich auf der Ebene der Begriffsverwendung: „prä‐ dramatisch“ und „dramatisch“. Inhaltlich und in der Praxis beziehen sich beide - Lehmann und Bierl - mehr oder weniger auf die gleiche Periode und Praxis des antiken griechischen Theaters vor seiner vollständigen Literarisierung. Was Bierl als „Drama“ bezeichnet, qualifiziert Lehmann als „prädramatisch“. Es geht hier also um zwei signifiants (Konzepte, Begriffe), die sich auf das gleiche signifié (Tatbestand, Realität) beziehen. Bierl ist sich mit Lehmann darüber einig, dass Aristoteles´ Poetik die Tragödie als „dramatischen” Lesetext analysiere, der auf der Nachahmung von Handlungen sowie auf deren suggestiver Wirkung auf die Leser_innen bzw. Zuschauer_innen beruhe. Die Aktion als begrenzte und organische Einheit in raum-zeitlicher Hinsicht sowie mit Anfang, Mitte 178 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 443 Ebd., S. 69-70. 444 Ebd., S. 70. 445 Ebd. 446 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction. Cambridge: University Press 2000, S. 167. und Ende biete in ihrer künstlerischen Konstruiertheit eine exemplarische Form der Welt dar. Das Ziel liege beinahe in einer philosophischen Erkenntnis, nachdem sich zunächst über die emotionale Involvierung Katharsis eingestellt habe. Er stellt hier fest, dass eine solche Handlung ein eigenes Universum erzeuge und auf einen dialogisch ausgetragenen Wertekonflikt zuspitze. Dann gipfle die Handlung in einem dramatischen Umschlag und besitze eine feste Rahmung: die sogenannte geschlossene Illusion. Auch die Reinigung von Furcht und Schrecken schaffe dabei vor allem soziale Kohärenz. Dies würde ausschließlich über den Text bewirkt, dessen rhetorische Deklamation den Konflikt verdeutliche. 443 Das repräsentiert bis heute mit einigen Ausnahmen das dominierende Theaterverständnis mit strenger Stilvorschrift. 444 Wie Lehmann kommt auch Bierl auf der Basis eines Vergleichs zum Schluss, dass das westliche dramatische Theater einen Sonderfall der Entwicklung darstelle: 445 es habe sich mit seinen Produktions- und Rezeptionsrahmenbedingungen von der griechisch antiken, auf das Ritual fundierten Theaterkultur verabschiedet. Doch geht es in dieser Arbeit nicht um die Entstehungssowie Entwicklungsgeschichte des europäischen Theaters, sondern um das Verständnis der Theaterpraxis und um deren Funktion in der griechischen Antike vor Aristoteles. Daraus soll eine Parallele zum Orgien-Mysterien-Theater und später zu Schlingensief wie zu den außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterformen gezogen werden, die sich nicht mit den Kriterien der literarischen Theatertradition erschließen lassen. David Wiles schreibt z. B., dass die antike griechische Kultur in der klassi‐ schen Periode eine Kultur gewesen sei, in der wenig Wert auf die Schrift gelegt wurde: Greek culture was predominantly oral in the classical period. The dramatists taught the roles to their actors face to face, with the correct intonations, movement and music, and there is no evidence that actors ever received a script. Memories were quick in a culture that did not rely on written records, whilst scripts were expensive to produce and clumsy to manipulate […]. This was a culture that accorded low status to the written word. 446 Das war ein Theater vor der Geltung des Paradigmas Drama im Theater. Um begriffliche Verwirrungen bzw. Verwechslungen zu vermeiden, wird in dieser Arbeit theatrale Rollendarstellung vor Aristoteles als voraristotelisches Theater 179 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 447 Anton Bierl: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“. In: Nikolaus Müller-Schöll, Heiner Goebbels: Heiner Müller Sprechen. Berlin: Theater der Zeit, Recherchen 69/ 2009, S. 201-214, hier S. 203. bezeichnet, worauf sich die Urtheatralisierung bezieht. Das voraristotelische Theater bezieht sich auf die theatrale Praxis, die mit einer Dominanz der körperzentrierten, performativen, rituellen sowie bildlichen Ausdrucksmittel durchgeführt wird. Um sich die voraristotelische Theaterkultur vorzustellen, ist davon auszugehen, dass die antike griechische Kultur vor dem 6. bzw. 5. Jahrhundert v. Chr. - also vor Aristoteles - eine vorwiegend orale Kultur war. Die traditionelle, sehr stark auf Mündlichkeit beruhende griechische Kultur basiert in der Sprache noch sehr viel stärker auf Bildlichkeit als heutige Literaturen […]. Aber nicht nur Bilder, sondern auch mythische Inhalte sowie Tänze, Kleider und rituelle Praktiken bilden das Zentrum einer Kultur. Daher muss das Bildliche immer mit Mythos und Performanz einhergehen, das heißt die ikonische Perspektive sollte mit der mythischen-rituellen und performativen ergänzt werden. 447 In diesem Zusammenhang liegt das Augenmerk in dieser Arbeit auf dem Kultwert des voraristotelischen Theaters, das seinen Ausdruck in mythisch-ri‐ tuellen und performativen Praktiken mit Opferkulten findet. Festzuhalten ist aber, dass die theatrale Ausdrucksform diesbezüglich wie im Orgien-Myste‐ rien-Theater alle Sinneswahrnehmungen anspricht. In der Theaterkultur der griechischen Antike während des 6. bzw. 5. Jahrhunderts v. Chr. handelt es sich einerseits um visuelle, auditive, taktile, geruchs- und geschmacksunters‐ tützende Produktionssowie Wahrnehmungsfähigkeiten. Andererseits sind auch spirituelle, rituelle, religiöse Umstände vorhanden, die mit den genann‐ ten Ausdrucksformen einhergehen und denen dabei eine gewichtige Rolle beigemessen wird. Dieses voraristotelische Theater sollte in diesem Kontext alle Sinneswahrnehmungen beansprucht haben, um (zugleich) das gesamte kulturelle Universum der griechischen Antike aufzufassen, das sich durch einen geprägten Kultwert auszeichnet. Theatrale Rollendarstellungen im an‐ gesprochenen Zeitraum können nicht von ihren rituellen bzw. religiösen Be‐ dingtheiten isoliert betrachtet werden. Wie alle Menschen in ihrer jeweiligen Epoche und Lebenswelt haben auch die antiken Griechen religiöse Rituale als ein geistiges und spirituelles Universum von Bedeutungen, Glauben, Werten und Handlungsregeln sowie Voraussetzungen der gemeinschaftlichen Zugehö‐ rigkeit festgelegt. Das Wesen des voraristotelischen Theaters schafft somit das Umfeld, um dieses Universum reflektierend zu erleben. Mit dem Begriff Urtheatralisierung werden diese Zusammenhänge in gegenwärtigen Theater‐ 180 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 448 Rüdiger Schaper: Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos, a. a. O., S. 33-34. 449 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 29. 450 Ebd., S. 57. 451 Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“, a. a. O., S. 39. 452 Ebd. formulierungen ins Auge gefasst, wenn von einem voraristotelischen Theater jenseits des dramatischen bzw. klassischen Theaters die Rede ist. Schaper ist der Überzeugung, dass aristotelische Ideen über das Theater „als Säulen des Denkens und Forschens über Theater - und zugleich als Schwundstufe der Theaterkultur“ fungieren. Diese Säulen seien in ein Haus eingezogen worden, „das sich bis dahin selbst getragen hatte, aus eigener Kraft.“ 448 Wiederum bestä‐ tigt diese Erkenntnis, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, dass das klassische Theaterverständnis nur eine Möglichkeit sowie eine strukturell beschränkte Option des Theaters darstellt. 449 Außerdem fordert der performative turn in Bezug auf die aktionistischen Theaterpraxen in der Gegenwart andere Rezeptionsweisen sowie Analysekriterien auf, die weder „weiterhin der aristoteli‐ schen Logik verhaftet“ bleiben noch „die Priorität einer para-logischen Ordnung als Paradigma der ästhetischen Form“ 450 beanspruchen. In Anbetracht dessen ist es angebracht, bei den Griechen vor Aristoteles anzufangen: Dies erfolgt nicht, um im Sinne von Nitsch das Drama zu annullieren, sondern um sich mit dem Wesen des voraristotelischen Theaters auseinanderzusetzen. Die daraus gewonnene Perspektive auf das voraristotelische Wesen dieses Theaters sowie auf seine rituelle und politische Dimension soll auf die Analyse von einigen entsprechenden Aspekten des Orgien-Mysterien-Theaters und der Aktion 18, tötet Politik! als Urtheatralisierung produktiv übertragen werden. 2.1.11.1. Das Opfer in der voraristotelischen Theaterpraxis In „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“ zieht Martin Treml das Augenmerk darauf, dass das Zentrum der antiken mediterranen Stadtkultur aus Veranstaltungen bestand, deren Durchführung und Aufnahme durch die Bürger als Schau (gr. theoria) bezeichnet wurde: das sorgfältige Beobachten und Wahrnehmen, wie es zu‐ nächst ausschließlich zur Kultsphäre gehörte. 451 Er schlussfolgert, dass sich die Ordnung der Polis auf dieser (opfer-)kultischen Grundlage etablierte. 452 Somit zeichnet sich das voraristotelische Theater durch seine unabdingbare Nähe zum 181 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 453 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1991, S. 13-39, hier S. 13. 454 Vgl. ebd., S. 16. 455 Vgl. ebd., S. 18. 456 Ebd., S. 19-20. 457 Ebd. 458 Vgl. ebd. Opferritual und durch die Vermittlung der tragischen Erfahrung aus, wie die Antwort auf die Frage, warum die Tragödie Bockgesang heißt, es deutlich macht: [Das ist nämlich] ein Wort, das die Fratze des Tieres in die Entwicklung hoher Menschenkultur hineinblicken läßt, das Primitive und Groteske in die erhabenste literarische Schöpfung. Wenn wir eine Erklärung des Wortes suchen, werden wir unvermeidlich auf Älteres geführt, auf die religiöse Grundlage der Tragödie, ja auf den griechischen Kult überhaupt. 453 Gesang um den Preis eines Bocks oder Gesang beim Bockopfer seien - nach Walter Burkert - im Grunde identische Deutungen, denn der als Preis gewon‐ nene Bock wurde Dionysos geopfert. 454 Burkert hält es für möglich, dass die Tradition vom Bocksopfer voraristotelisch sei. 455 Außerdem ist er zuversichtlich, dass niemand bestreite, daß Bocksopfer eine besondere Rolle im Dionysoskult spielten. Früheste Zeugen sind Vasenbilder des 6. Jh., vor allem attische schwarzfigurige Darstellungen: Sie zeigen immer wieder den Bock zusammen mit Dionysos oder mit Satyrn […]. Jedenfalls steht inmitten der Dionysischen Aufführungen der Hinweis aufs Opfer. 456 Wie bei Burkert geht es darum, dem Sinn des Opfers und sein Verhältnis zu theatralen Rollendarstellungen in der griechischen Antike auf die Spur zu kommen. Unter diesem Gesichtspunkt lautet die grundlegende Frage: „Was ist der Sinn eines Tieropfers, und im besonderen eines Bocksopfers im Kult des Dionysos? “ 457 Burkert behandelt ausschließlich die blutigen Opferbräuche der griechischen Antike, die eine komplexe Erscheinung aufweisen. Nach ihm sind zwei grund‐ sätzlich verschiedene Arten des griechischen Opfers zu unterscheiden: das Olympische Speiseopfer und das chtonische Vernichtungsopfer. Das ist in der Tat eine handliche Dichotomie, die im Sinne von Burkert nicht überbewer‐ tet werden dürfte. Sie sei keineswegs allgemeingültig, denn es gebe weitere Differenzierungen, die nicht weniger wichtig seien. Daher solle der gesamte Komplex überblickt werden. 458 Durch das rituelle Schlachten des Opfertieres solle der Mensch als Töter den Tod verursachen und erfahren. Auf diese Art 182 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 459 Vgl. ebd. 460 Ebd. S. 23. 461 Ebd. 462 Das Orgien-Mysterien-Theater erfüllt auf eine ästhetische Art und Weise eine ähnliche Funktion. Man denke an die mit Blut und Farben befleckten Messgewänder, an die Reliquien etc., die nach den Aufführungen des Orgien-Mysterien-Theaters entstehen. 463 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, a. a. O., S. 23. und Weise sollen im Opfermahl die Freude des Festes und die Schrecken des Todes einander durchdringen. Burkert ist der Ansicht, dass sich die menschliche Tötungshemmung und die Gefühle von Schuld und Reue beim Blutvergie‐ ßen in den griechischen Opferritualen niederschlagen. 459 Die Ambivalenz der menschlichen Gefühle beim Vollzug dieser rituellen Tötung stellt die Spannung zwischen Tötungshemmung und der Notwendigkeit her. Denn der Mensch, der „nach dem Willen der Gottheit Opfer bringt“, lässt sich auf die zwangsläufige und mächtige Tötungsnotwendigkeit als Grundvoraussetzung ein. Mit einher‐ gehendem Empfinden von Schuld- und Reuegefühlen zeigt er zugleich seine „tiefverwurzelte ›Ehrfurcht vor dem Leben‹“ 460 auf. Obgleich dies auf den ersten Blick paradox erscheinen mag - wie Nitschs performativer Umgang mit Tier‐ kadavern im Orgien-Mysterien-Theater -, verfolgt dieser opferrituelle Gestus ein Verständnis kulturspezifischen Zelebrierens: Zur Deutung dieses opferrituellen Tatbestandes stützt sich Burkert auf den Beitrag von Karl Meulis „Griechische Opferbräuche“, der „die evidente Verbindung mit dem ›Schädel- und Langkno‐ chenopfer‹“ ans Licht bringt, „wie es sibirische Jägervölker praktizieren und es seit dem Paläolithicum bezeugt ist.“ 461 Wurde ein Tier gefangen und getötet, seien der Schädel und die Knochen, vor allem die Schenkelknochen, der Gottheit dargebracht worden. Sie konnten begraben, an einem heiligen Baum aufgehängt oder in einem Heiligtum deponiert werden. 462 Denn der Jäger wolle und müsse das Tier, das er getötet habe und von dem er lebe, vor der völligen Vernichtung bewahren. Die Schenkelknochen seien sozusagen das Mark der Existenz des Tieres und blieben aufbewahrt. In mythischer Form heiße dies nach Burkert, dass das Leben des Tieres dem Herrn des Lebens zurückgegeben werde. Denn „wenn wir dies nicht täten, würden wir nie mehr Tiere fangen“, hätten die Jäger erklärt. Burkert ist der Meinung, dass Meuli in dieser Sorge um den Fortbestand des Lebens eine im Menschen tiefverwurzelte Ehrfurcht vor dem Leben sehe, die ihn davon abhalte, andere Lebewesen selbstherrlich zu vernichten. Er betont, dass sich der Mensch in der Situation des Tötens schuldig fühle und dass er diese Hemmung durch eine komplizierte rituelle Abfolge überwinden müsse, die Meuli treffend Unschuldskomödie genannt habe - obgleich nicht vergessen werden sollte, wie ernst im Grunde diese Komödie sei. 463 Burkert zufolge seien 183 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 464 Ebd., S. 24. 465 Hermann Nitsch spricht von „unseren Brüdern im Tierreich“ (Vgl. Hermann Nitsch: „über die raubtierhaftigkeit“, a. a. O., , S. 50-53). 466 Vgl. Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, a. a. O., S. 24. 467 Vgl. ebd. 468 Vgl. ebd., S. 25. zugleich auch Mächte der Sympathie in der menschlichen Seele zugegen. 464 Ebenso wie der Jäger, der imstande sei, das zu tötende Tier als seinen Bruder  465 anzusehen, erfahre der Mensch durch die Opfertötung „den Tod in allen seinen Erscheinungsweisen. Dadurch kristallisieren die Gefühle von Schuld und Reue zu symbolischen Akten, durch die der Mensch das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen“ versuche und die Kontinuität des Lebens durch den Tod hindurch markieren wolle. 466 So findet Burkert, dass die Kontinuität der eigenen Kultur des Menschen, als Opfertöter, darauf beruhe, dass er wenigstens die Reste der Tiere, die er zu töten gehabt habe, einer übermenschlichen Ordnung zurückerstatte. 467 Darüber hinaus gelten die blutigen Riten für ein Medium, das Schock und Schuld auslöse, wodurch die Tiefen der Seele in Todesangst und im Tötungs‐ rausch 468 erregt werden können. Zusammengebunden werde die Gemeinschaft durch die Teilhabe an dem blutigen Opferritual, durch die dabei entstehende gemeinsame Schuldsowie Schockerfahrung und schließlich durch den gemein‐ samen Verzehr des Opferfleisches. So kann festgehalten werden, dass blutige Opferrituale nicht zwingend durch ein rationales und logisches Verstehen oder durch eine rationale Deutung erklärt werden können. Es geht eher um eine gelebte tragische Erfahrung, deren Begründung in eine eigenartige kultische und kosmische Weltanschauung eingebettet ist. Denn wie erwähnt, geht es um die tragische Erfahrung, zu der der Mensch durch das Töten des Opfertieres gelangt. Burkert betont: Das Opfer ist die älteste Form der religiösen Handlung“ (Kühn 17). Man hat aus dieser Tatsache zu folgern versucht, es habe eine Art ›Urmonotheismus‹ gegeben, eine uranfängliche Offenbarung der Gottesidee. Doch kommt in der ›prometheischen‹ Tei‐ lung und der schauerlichen Faszination des Blutvergießens wohl weniger Erbauliches zum Vorschein. Vielleicht wäre es ratsam, Deutungsversuche überhaupt aufzugeben, werden wir doch offenbar weit ins Paläolithicum zurückgeführt. Direkte Belege für den religiösen Glauben dieser Epoche werden nie zur Verfügung stehen. Und selbst wenn wir sie hätten, so wie moderne Ethnologen Jäger, die unter ähnlichen Bedingungen existieren, nach ihren Motiven befragen konnten, wäre es immer noch die Frage, ob der primitive Mensch erhellendere Auskunft über seine Rituale 184 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 469 Ebd., S. 23. 470 Ebd., S. 25. 471 Ebd. 472 Ebd. 473 Ebd. geben könnte als die Griechen, von denen man so oft behauptet, sie hätten die eigenen Kulte mißverstanden. Doch sollten wir die Bedeutung von ›Glauben‹ in der Religion nicht überbewerten […]. Das Wesentliche kann da nicht gewesen sein, was ein hypothetischer ›Erfinder‹ fühlte oder glaubte, je nach privaten Erlebnissen und Assoziationen, sondern, was die Wirkung des Ritus auf die Gesellschaft war, entsprechend der Struktur der Menschenseele. Statt zu fragen, welcher Vorfall eine besondere Form der Religion hervorbringen konnte, sollten wir fragen, warum diese Erfolg hatte und bewahrt blieb. Die Antwort ist in ihrer Funktion in der menschlichen Gesellschaft zu finden. Wir mögen immer noch von ›Ideen‹ sprechen, die in den Riten enthalten sind, doch müssen wir das rationalistische Vorurteil aufgeben, als sei da zuerst ein Begriff oder Glaube vorhanden gewesen, der in einem zweiten Schritt zu einer Handlung führte. 469 Abgesehen davon weisen die beschriebenen Opferrituale und deren kulturelle Funktion eine Nähe zu Mythen und zum Theater auf. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sich Mensch und Tier gegenseitig ersetzen: „Das Tier stirbt anstelle eines Menschen, Isaak oder Iphigenie.“ 470 Burkert merkt an, dass das Gleichge‐ wicht von Mensch und Tier auch zu mehrmaligem Wechsel führen könne, „wie der Kultlegende der Artemis von Municha: Um für die Tötung eines Bären zu büßen, der der Göttin gehörte, soll ein Mädchen geopfert werden, doch eine Ziege tritt an seine Stelle - Mensch für Tier und Tier für Mensch.“ 471 Im Orgien-Mysterien-Theater stehen Menschen und Tiere nicht nur als Symbole reziprok stellvertretender Blutopfer da, sondern verschmelzen auch im Blutbad, in Ausweidungsaktionen und verewigen sich dann anhand ihrer jeweiligen Substanzen in Schüttbildern, in befleckten Messgewändern, Aktionskleidungen sowie Reliquien. Für Burkert kenne auch die griechische Mythologie die schauerliche Umkeh‐ rung - die Tötung eines Menschen statt des Tieres im Opfer: „Am ›Herd‹ von Delphi wurde Neoptolemos mit Opfermessern zerstückelt.“ 472 Burkert ist der Meinung, dass solche Szenen vielleicht nicht nur Phantasie seien, denn sie „rühren an die Grundlagen der menschlichen Existenz.“ 473 Durch die sogenannte Unschuldskomödie, die das Tier zum Sündenbock macht, bleibt immerhin die Nähe dieser blutigen Opferriten zum Theater augenfällig: 185 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 474 Ebd., S. 26. 475 Ebd. 476 Ebd. Die antiken Texte nennen den Bock den Feind des Dionysos und machen seinen Tod zu einem Triumph der Aggression. Als Domitian versuchte, den Weinbau einzuschrän‐ ken, wurde das Epigramm des Euenos von Weinstock und Bock als eine fast schon tödliche Waffe gegen ihn gekehrt: Die Leute assoziierten den sterbenden Bock gern mit dem verhaßten Kaiser. (Suet. Dom. 14,2; A-P. 9,75). Auf der anderen Seite steht die ›Unschuldskomödie‹, die den am Weinstock fressenden Bock selbst für seinen Tod verantwortlich macht. Vielleicht gab es eine Art spielerischer ›Auferstehung‹ […]. 474 Burkert zufolge sei es möglich, einige wesentliche Linien, die von der Situation des Opfers zur Tragödie führen, nachzuzeichnen - wo eine Art der Unschulds‐ komödie die Klage beim Opfer sei. Direkte Belege dafür in der griechischen Welt gäbe es kaum, dennoch finde sich dieser Brauch andernorts wie etwa in Ägypten. Burkert weist allerdings darauf hin, dass im Zentrum der entwickelten Tragödie, in der die Flöte als Musikinstrument vorherrsche, der Kosmos stehe. Dabei sei die Opferhandlung in der Regel von Flötenmusik begleitet worden. Wichtig sei es zu wissen, dass es eine Form der Unschuldskomödie gegeben habe, in der die Männer, die das Tier zu töten hatten, ihre Identität durch Masken versteckt hätten: „keine Tragödie ohne Masken.“ 475 [Es geht] ursprünglich [um] eine Gruppe maskierter Männer, die das im Frühjahr fällige Bocksopfer vollziehen; sie treten auf mit Klage, Gesang, Vermummung, und dürfen zuletzt den Bock verspeisen. Es ist möglich, daß der Brauch in Ikaria behei‐ matet war. Ernst und ›satyrhafte‹ Lustigkeit mögen sich in eigentümlicher Weise durchdrungen haben. Ansätze zu einem Agon, zum Wettstreit verschiedener Gruppen konnten früh schon vorkommen. Die Transformation auf das Niveau hoher Literatur, mit den Formen der Chorlyrik und der Adaption des heroischen Mythos, bleibt eine einzigartige Leistung, die sich doch auf vorgegebene Elemente gründet: Gebrauch von Masken Gesang und Tanz [etc.] alles vereint in der Grundsituation des Opfers: Der Mensch im Angesicht des Todes. 476 2.1.11.2. Literarische Transformation voraristotelischer Theaterpraxis Es mag ein wenig zugespitzt sein, wenn behauptet wird, dass Aischylos, Sophok‐ les sowie Euripides und sogar Aristoteles die Grundelemente (Gebrauch von Masken, Gesang und Tanz, Klage, Flötenmusik, Leid, Opfer etc.) der Tragödie bzw. des Dramas nicht erfunden haben. Vielmehr haben sie diese in der vorge‐ 186 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 477 Anton Bierl: „Dionysos auf der Bühne. Gattungsspezifische Aspekte des Theatergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie“. In: Renate Schlesier (Hg.): A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 315-341, hier S. 318. 478 Vgl. David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 170. fundenen kulturellen Praktik aufgenommen und weiterbearbeitet. Die Leistung dieser Theaterikonen wird durch diese Behauptung nicht unterschätzt. Es bleibt ihr großer Verdienst, diese vorgegebenen Grundelemente der Tragödie bzw. des Dramas auf das Niveau hoher Literatur, mit den Formen der Chorlyrik und der Adaption des heroischen Mythos transformiert zu haben. Diese Erkenntnis ist umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass es sich im Laufe dieser epochalen Transformation um einen besonderen Prozess der Literarisierung von längst bestehenden Vorgängen der antiken griechischen Kulturproduktion handelt, die sich auf die Körperzentriertheit, auf die Performativität, auf blutige Opferrituale sowie auf die damit einhergehende tragische Erfahrung, Mündlichkeit und konkrete Bildlichkeit inklusive der Sinneswahrnehmungen gründet. Das heißt, dass alle bis heute bestehenden literarischen bzw. dramatischen Formen des Theaters der Transformation dieser vorgegebenen Elemente entsprungen sind. Erst als dieser rituelle Rahmen allmählich unter dem Einfluß einer zunehmenden Verschriftlichung und Fiktionalisierung brüchig wird, und die Polis politische Selbst‐ aussagen und -inszenierungen darüberlegt, ist man darauf bedacht, die Okkasion durch festere Gattungsnormen abzulösen und innerlich mit größerer Pointiertheit zu reproduzieren. So differenzieren sich im Kontext des nämlichen Festes der Städti‐ schen Dionysien die Tragödie, das dazugehörige Satyrspiel und die Komödie heraus. Vorausgeschickt werden muß, dass diese festliche Gelegenheit entsprechend der Ri‐ tualdynamik und der Interaktion des Rituals mit der antiken Politik ein Konstrukt der Peisistratiden darstellt. Diese haben bekanntlich im Zuge einer aktiven Religionspo‐ litik die uralte Polisgottheit mitsamt ihren ländlichen Festen mit politischen Ritualen zu einem komplexen inszenatorischen Konglomerat verwoben […]. So entwickelt sich die ursprünglich einfache, noch auf das Lachen zielende Performance bald zur Feierlichkeit. Als Stoff übernimmt sie nun, wie der schon vorher generisch installierte chorlyrische Dithyrambos, den hehren, allen Griechen gemeinsamen Mythos. Die ist dabei die erste dramatische Gattung, die in den neuen Festrahmen gestellt wird (ca. 534 v. Chr.). Der hohe Anspruch zum Ziel der pompösen Darstellung des Leidens, die von anderen Heroenkulten auf dieses Fest übertragen werden. 477 Festzuhalten ist, dass Aristoteles in seiner Poetik die Orientierungsregeln zur Dramengestaltung niedergeschrieben hat, die jedoch in erster Linie seinem elitären ästhetischen Ideal 478 entsprechen. Um mit Kant zu sprechen, bedeutet 187 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 479 Anton Bierl: „Prädramatik auf der antiken Bühne: Das attische Drama als theatrales Spiel und ästhetischer Diskurs“, a. a. O., S. 70. 480 Anton Bierl: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“, a. a. O., S. 201. 481 Vgl. ebd. 482 Vgl. Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“, a. a. O., S. 39-40. dies, dass das ästhetische Urteil oder die „Kritik der Urteilskraft“ von Aristoteles, als er in seiner Poetik die Gattungsbestimmung des Dramas festlegte, nicht geschmacklos bzw. interessenlos war. Dieses aristotelische Theater der Spannung und der Modellhaftigkeit einer Handlung gibt es allerdings auf der Bühne des fünften Jahrhunderts v. Chr. höchstens in Ansätzen. Vielleicht ist Aris‐ toteles’ Musterfall des sophokleischen Oidipus Tyrannos - nicht zufällig hat man ihn häufig mit einem Krimi verglichen - die einzige Tragödie, die diese Normen annähernd erfüllen kann. Doch wenn man selbst hier mehr die Theatralik ins Auge fasst, die von Aristoteles heruntergespielten Momente der opsis, dann wird ebenso das ganz Andere des antiken Theaters sichtbar: die Ausstellung des Leids, des Pathos, die ausgiebige Reaktion, die Exponierung eines Menschen in extremer Situation. Hat man den Blick erst einmal auf das Prädramatische gelegt, wird die Dominanz des theatralischen Zur-Schau-Stellens evident. Die bildhafte tragische Sprache, die paral‐ lel zu den anderen Ausdrucksmodi geführt wird, wird in ihrer lyrischen Disposition offen gelegt. Antike Theatersprache ist eben nicht nur der zugespitzte Dialog von konfligierenden Positionen und Werten. 479 Es ist auch anzumerken, dass Aristoteles mit seinem elitären Denken zugleich auf die Erwartungen seines Zeitgeistes geantwortet hat, der bereits im 6. bzw. 5. Jahr‐ hundert v. Chr. existierte. Diese Zeit entspricht den Anfängen einer kulturellen Übergangsperiode, in der sich die griechische Antike von überwiegend oraler zu schriftlicher Kultur allmählich entwickelt hat. „Auf dieser Grundlage wird es nur verständlich, dass Aristoteles die Tragödie als Text und Handlung verstand, die theatrale Dimension jedoch eher ausblendete.“ 480 Obgleich diese „aristotelische Perspektive [auf] die Analyse […] des Theaters seit der klassischen Moderne und Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert“ Wirkung ausübte, bleiben dennoch volkstümliche Spielformen des Mittelalters und der Renaissance, vor allem die Comedia dell´Arte, dem Theater als Schau viel näher. 481 Wie bereits erwähnt, hat sich die Ordnung der Polis auf der opferkultischen Grundlage etabliert - aber mit einer allmählichen Akzentverschiebung in Richtung Nachahmung und literarische Abstraktion. Diese Periode entspricht etwa der Spätantike, in der die blutigen Tieropfer samt Opfermahl fast vollständig verschwinden. 482 Für Treml 188 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 483 Vgl. Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“, a. a. O., S. 40. 484 Vgl. Bernhard Zimmermann: „Grenzen menschlichen und göttlichen Handels in der grie‐ chischen Tragödie“. In: Justin Stagl, Wolfgang Reinhard (Hg.): Grenzen des Menschseins. Wien: Böhlau 2005, S. 421-434, hier S. 422. 485 Ebd. S. 423. 486 Ebd. hänge dieser Prozess „weniger mit der Christianisierung“ zusammen, sondern vielmehr mit den „neuen Medien des Heiligen“ und mit dem Buch. 483 In der Tat geht es in den bereits behandelten blutigen Opferritualen um die Überwindung der menschlichen Tötungshemmung durch den Hinweis auf die Tötungsnotwen‐ digkeit, der eigentlich nur durch eine Grenzüberschreitung verstanden werden kann. Die Vorstellung der Grenze und der Grenzverletzung sei nach Bernhard Zimmermann der Angelpunkt, an dem eine umfassende Interpretation der drei erhaltenen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides ansetzen könne. So ist es kein Zufall, dass der Begriff hybris ein die erhaltenen Tragödien durchziehen‐ des Motiv sei. 484 Was Zimmermann in „Grenzen menschlichen und göttlichen Handels in der griechischen Tragödie“ am Beispiel der drei Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides untersucht, bringt blutige Tötungen sowie Opfer, Leiden, Schrecken und Entsetzlichkeit menschlicher Existenz erneut ans Licht - auf einer literarischen Ebene. Zimmermann bemerkt, dass die Stücke des Aischylos, des ältesten erhaltenen Tragikers (525/ 4-456/ 5 v. Chr.), von der theologischen Deu‐ tung menschlichen Handelns und Leidens kontrapunktisch durchzogen werden: Während die Personen bei Aischylos einen auf ihrer Familie lastenden äußeren Zwang erleiden, erlegen sie sich selbst mit jeder Handlung zusätzliche Schuld auf. Damit sich Menschen in eine „Verkettung von Schuld, menschlicher Anmaßung (hybris) und Verblendung (áte) mit Sühne und Leid (páthos)“ verwickeln, gibt es „eine sinnvolle Erklärung in einer Theodizee, in der das Leid des Menschen nach der Maxime ‚Durch Leiden lernen! ‘ (páthei máthos) als harte Erziehung zur vernünftigen Einsicht […]“ 485 erklärt wird. Durchaus entspricht dieser Tatbestand der menschlichen Neigung - aus Notwendigkeit zu töten - im Kontext der bereits erörterten blutigen Opferrituale: Wenn aus göttlichem Willen bzw. aus Ehrfurcht vor dem Leben, aus Rache und Ehre Blut vergossen wird, heißt es wiederum, dass Reue, Todesangst, Schuld, Todeshemmung und die in der menschlichen Seele liegende Sympathie überwunden werden müssten. Bei Nitsch müssen die Schranken des Ekels und der Verdrängungen ausgehebelt werden. Dies wird durch Grenzüberschreitung und Leiden und vielleicht schicksalhaft vollzogen - wie beim „Chor im Agamemnon (1564): ‚Wer handelt, muss auch leiden. Denn das ist göttliches Gesetz […].‘“ 486 Wie Zimmermann feststellt, rücken bei 189 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 487 Vgl. ebd., S. 424. 488 Ebd. 489 Vgl. ebd., S. 430-431. 490 Ebd., S. 433. 491 Vgl. Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben, a. a. O., S. 40. 492 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, a. a. O., S. 14. 493 Vgl. David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 171. Aischylos das Wechselspiel von menschlicher Schuld und göttlicher Vergeltung stark in den Vordergrund. Sophokles dagegen legt zunächst mehr Gewicht auf die Menschen in Extremsituationen - wegen der Besonderheit ihres Schicksals, das durch äußeren Druck ausgelöst wird, wie es Beispiele der außergewöhnlichen Charaktere von Antigone, Elektra, Aias, Oidipus oder Philoktet aufzeigen. 487 Bei Sophokles bleibt das menschliche Verhältnis zu Göttern erhalten: Obwohl „die Götter den Menschen undurchschaubar bleiben“, gibt es „eine gültige Gottheit, die sich des Menschen in seinem Leid erbarmt und den Tod nicht als hartes Schicksal, sondern als Erlösung zuteil werden lässt.“ 488 Auch bei Euripides ist das Verhältnis Mensch zu Gott deutlich, wobei der Mensch zum Spielball der Götter wird. Und wie Zimmermann erklärt, seien die Menschen wie „bloße Schachfiguren auf dem göttlichen Spielbrett“ zwischen den „gegensätzlichen Positionen“ dieser Götter. 489 Während Zimmermann am Beispiel des Werkes von Aischylos, Sophokles und Euripides verdeutlicht, wie „die Grenzen menschlichen Handelns und der menschlichen Erkenntnis, vor allem jedoch die Grenzverletzungen und deren Folgen auf das Leben und Zusammenleben der Menschen das aus unter‐ schiedlichen Perspektiven dargebotene Thema ist […],“ 490 behält diese Arbeit im Auge, dass diese drei Tragiker die vorgefundenen Grundelemente der blutigen Opferrituale auf diese Ebene transformiert haben. Es fällt auf, dass das kulturelle Zelebrieren sowie die Funktion ritueller und öffentlicher (Opfer-)Tötungen samt Todesangst und Tötungsrausch nicht verschwinden, sondern in lyrischen, epi‐ schen, dramatischen bzw. literarischen Medienformaten verkehrt, vergeistigt, intensiviert 491 und extrem dargestellt werden. Es überrascht nicht, dass diese „Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides einen rituellen Hintergrund [sowie tragische Erlebnisse und Erfahrungen] erkennen lassen.“ 492 In der Tat sollen diese drei historischen Theaterikonen ihre theatralen Tätigkeiten in einer Kultur sowie in einer Zeit verwirklicht haben, in der die schriftliche Sprache (noch) nicht stark im Vordergrund stand. Wiles argumen‐ tiert, dass die Geschichte des antiken griechischen Theaters als eine Geschichte des Körpers verstanden werden müsse und nicht als Geschichte von Worten, die von überragenden entkörperten Ideen ausgegangen wären. 493 Damit stehen das voraristotelische und das textzentrierte Theater im dramatischen Zeitalter wie 190 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 494 Ebd., S. 170. 495 Rüdiger Schaper: Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos, a. a. O., S. 33. Gegensätze zueinander, weil unterschiedliche Zwecke und Funktionen erfüllt werden müssten. Das Konzept des dramatischen bzw. aristotelischen Theaters mit seiner Textzentriertheit existierte nicht als solches, denn the rolls of papyrus on which the first scripts were written were manufactured from reeds that grew in the Nile, and it was in Alexandria on the mouth of the Nile that the world´s greatest library was established in the early 300s BC […]. Whilst Greek actors in the Roman period concentrated on performing extracts, particularly musical numbers from Euripides, scholars in Egypt set up literacy scholarship as an independent exercise. Over the centuries a certain social cachet became attached to the Greek once spoken in classical Athens, and the study of classic texts entered the educational system. Seven plays by Aeschylus, seven by Sophocles and ten by Euripides were bound up in book form and widely circulated, and our knowledge of Greek drama is thus largely based on the [literature] of the second century AD. The eleven surviving plays of Aristophanes also reflect the choice of this period. Happily we have a better perspective on Euripides because of the chance survival of a volume of his complete works (titles E-K), together with many fragments of papyrus that reveal his popularity in the later Greek world. 494 Die Wichtigkeit der Schrift wird in dieser Studie nicht zurückgewiesen. Im Ge‐ genteil: Die schriftliche Dokumentation des theatralen Schaffens von Aischylos, Sophokles und Euripides ist von großem Vorteil. Dennoch steht fest, dass dieses Theater nicht textzentriert war, wie es gerade der Fall im dramatischen Theater ist. Der im 6./ 5. Jahrhundert v. Chr. prozessual durchgesetzte Medienwechsel, über den die in erster Linie performativ körperzentrierte orale Kultur immer mehr durch die der Verschriftlichung übertroffen worden ist, ist mit einem anderen Theaterkonzept Hand in Hand gegangen. Diese neue, auf Schrift beruhende Konzeptualisierung von Theater findet später mit der Poetik des Aristoteles einen geeigneten Nährboden, um im 18. bzw. 19. Jahrhundert ihren unvergleichbaren Höhepunkt mit einem textzentrierten Theaterverständnis zu erreichen. Rüdiger Schaper vertritt sogar die Einsicht, dass Aristoteles spät dran gewesen sei, als er die Bühnenkunst theoretisch fixierte und ihr einen Überbau gab. Aristoteles sei aber Philosoph gewesen, kein Theaterpraktiker. „Ist es nicht verblüffend, dass hundertfünfzig Jahre vor Aristoteles die bis heute maßgeblichen Werke in die Welt geworfen werden, ohne Kenntnis seiner Theorie? “ 495 Wird das Orgien-Mysterien-Theater im Zusammenhang mit dem voraristote‐ lischen Theater gedacht, so wird klar, wie und warum kultische bzw. religiöse 191 2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung 496 Vgl. Michael Lüthy: „Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst“. In: Martin Vöhler, Dirck Linck: Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2009, S. 199-230, hier S. 203. Theaterereignisse eine wichtige Rolle bei der theatralen und ästhetischen Behandlung von Daseinsfragen mit blutigen Opferhandlungen einnehmen. Im Zentrum des Zelebrierens des Existenzfestes wie im Orgien-Mysterien-Theater taucht das Opfer häufig in vielfältigen Formen auf: Die institutionellen Um‐ stände und Behandlungsformen bestimmen die Unterschiede zwischen künstle‐ risch ästhetischen und rituell religiösen Zusammenhängen der Opferhandlung. Das Orgien-Mysterien-Theater gehört eindeutig zur Kategorie der künstlerisch ästhetischen Problematisierung der Opferhandlung. 2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt Eine postdramatische Rezeptionshaltung ermöglicht in diesem Zusammenhang eine erfahrungsästhetische Wahrnehmungsweise, die auf die 1960er-Jahre mit performativer Wende zurückführt. So haben bestimmte postdramatische Thea‐ terentwürfe - wie z. B. das Orgien-Mysterien-Theater - die ästhetische Zäsur und Störintentionen zur Voraussetzung, welche die ästhetische Erfahrung im realen Alltagsleben bedingen. Es geht um handlungsorientierte theatrale Praxen, die die Grenzen konventionellen Kunstverständnisses und kultureller Normen überschreiten: Alltagshandlungen und Alltagsgegenstände werden miteinbezogen, indem ihre Semantik und ihre Syntax im institutionellen Rah‐ men von Kunst grundlegend gewandelt werden. 496 Dazu kommt eine besonders destabilisierende Behandlung zivilisatorisch und kulturell etablierter Körper‐ konzeptionen durch die künstlerische Verstrickung menschlicher Körper mit Tierkadavern sowie mit der Dingwelt. Bereits in den Materialaktionen der Wiener Aktionisten wurde mit dem menschlichen Körper neben anderen Objek‐ ten als künstlerisches Arbeitsmaterial provokativ umgegangen. Die scheinbare Gleichbehandlung von menschlichen Körpern und Tierkadavern, Menschen und Tieren, Menschen und Dingwelt, die in der Öffentlichkeit als Provokation, Blasphemie und Herabwürdigung des Menschseins angesehen wird, ist im Zusammenhang mit dieser Arbeit als radikale normenbzw. regelbrechende sowie sozialkritische Aktion aufzufassen. Dass diese zivilisationskritischen, theatral inszenierten Vorgänge am Menschen vollzogen werden, ist einstudiert worden: Der menschliche Körper ist der lebendige Träger aller soziokulturellen 192 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 497 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 249. 498 Ebd., S. 362-363. Normierungen, die in cultural performances praktisch und konkret sichtbar zum Ausdruck kommen. Alle kulturgeschichtlichen sowie zivilisatorischen Körperkonzeptionen, -haltungen, -erscheinungsformen, -disziplinierungen und -darstellungen werden an und von Menschen entsprechend performativ durch- und aufgeführt. In diesem Sinne ist der menschliche Körper bereits wie eine lebendige Tafel, auf der soziokulturelle und zivilisatorische Eigenschaften geschrieben stehen. In dramatischen bzw. klassischen Theaterformen gibt es beispielsweise den menschlichen Körper, der aber innerhalb der Grenzen literarischer fiktiver und/ oder vergeistigter Wirklichkeit eine semiotische und mimetisch-referenzielle Bedeutung hat. Dem Körper im dramatischen Theater wohnt auch eine rationale Gültigkeit inne, die sich nach soziokulturellen und zivilisatorischen Konventionen, Normen, Zusammenhängen von Ideal, nach inneren sowie äußeren Werten im Kulturgefüge richtet. Der performative Akt im dramatischen Theater, das die physische bzw. materielle Erscheinungsform, die Affektbereitschaft, die Erregungszustände und die Triebsphäre des Körpers „in den Rahmen tradierter ästhetischer Regel zu pressen“ 497 vermag, bleibt im Gegensatz zu vielen körperzentrierten Formen postdramatischen Theaters üblicherweise kontrollierbar. Hans-Thies Lehmann stellt z. B. fest: Die kulturelle Vorstellung von dem, was „der“ Körper sei, unterliegt „dramatischen“ Wandlungen, und Theater artikuliert und reflektiert solche Vorstellungen. Es stellt Körper dar, und hat zugleich Körper als wesentlichstes Zeichenmaterial. Doch in dieser Funktion geht der Theaterkörper nicht auf: im Theater ist er ein Wert sui generis. Gleichwohl blieb vor der Moderne die physische Realität des Körpers prinzipiell beiläufig. Der Körper war dankbar hingenommene Gegebenheit. Er wurde, manifest gewordene „Naturbeherrschung am Menschen“ (Rudolf zu Lippe), diszipliniert, trai‐ niert und geformt für den Signifikantendienst, war aber kein autonomes Problem und Thema des dramatischen Theaters, in dem er vielmehr als solcher eine Art sous-entendu blieb. Das nimmt nicht wunder, entstand Drama doch wesentlich durch die Abstraktion von der Dichte des Materiellen, durch „dramatische“ Konzentration auf „geistige“ Konflikte - im Unterschied zur epischen Liebe zum konkreten Detail. So erscheint Sexualität als Liebe, Schmerz und Hinfälligkeit als Tod und „Leiden“. Das neue Theater bewegt sich dagegen auf einer Bahn, die von der Abstraktion zur Attraktion führt. Schon Eisenstein diskutiert dieses Thema, wo er von der „Montage der Attraktion“ spricht. In ihr werde es schwierig, „abzugrenzen, wo das Gefesseltsein durch die edle Gesinnung des Helden aufhört (das psychologische Moment) und das Moment seiner Anmut als Person beginnt (d. h. seine erotische Wirkung)“. 498 193 2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt 499 Hubert Klocker (Hg.): Der zertrümmerte Spiegel : Wien 1960 - 1971. Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, a. a. O., S. 75. Der Einbezug des menschlichen Körpers als Arbeitsmaterial und die detail‐ lierte körperliche Erscheinung in ihrer organischen Anatomie schaffen einen formbestimmenden, ästhetischen Wirklichkeitsbereich. Günter Brus setzte z. B. seinen Körper vor dem Publikum ein als Arbeitsmaterial und -fläche bis zur „Personifikation des gequälten, verletzlichen, fleischlichen, kranken, un‐ persönlichen Geschöpfes“ 499 - also bis zur tragischen Erfahrung am eigenen Körper. In diesem Zusammenhang verwendete er entsprechende Requisiten wie Rasierklingen, Nägel, Scheren, Messer und Klampfen, außerdem sein Blut, seine Exkremente und seinen Urin als zusätzliches Arbeitsmaterial. Jeder Raum wurde ihm zugleich zur Aktionsfläche für Selbstbemalungen und Selbstverstümme‐ lungen: Für seinen 1965 stattgefundenen Wiener Stadtspaziergang wurde er zu einer lebendigen Skulptur, die zur Gänze weiß mit einem schwarzen Trennstrich bemalt wurde und durch die Wiener Innenstadt zog. Abbildung 18 & 19: „Wiener Stadtspaziergang“ von Günther Brus (1965) Am Heldenplatz in Wien startete er und wurde auf der Höhe der Bräunerstraße von einem Polizisten aufgehalten. Mit diesem Spaziergang sowie mit anderen 194 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 500 Ebd., S. 120. 501 Ebd., S. 137. 502 Gerald Schröder: „Aktionskunst als Psycho-Dramolette“. In: Wolfgang Brassat (Hg.): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Band 24 Bild Rhetorik. Tübingen: Max Niemeyer 2005, S. 114. 503 Peter Gorsen: „Hermann Nitsch und der Wiener Aktionismus“, a. a. O., S. 947. 504 Ebd. Malaktionen - Selbstbemalung, Selbstverstümmelung - bezweckte Brus im selben Jahr vor allem „eine dramatische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im aktionistischen Prozeß,“ 500 der sich ab 1967 mit einer Erfahrungsanalyse seines eigenen Körpers performativ radikalisierte: Nach der Selbstbemalung und der Selbstverstümmelung, wie Hubert Klocker anmerkt, folge ein extremer analytischer Prozeß, der den Körper nicht mehr in ein künstlerisches, sondern sozialkulturelles Umfeld stellt und dessen dem Körper aufgedrückte Bedingun‐ gen demontiere. 501 Die Zerreißprobe war im Sommer 1970 im Aktionsraum I in München der Höhepunkt und zugleich das Ende von Brus´ aktionistischen Kunstaktivitäten: Wie am Beispiel der Zerreißprobe deutlich wurde, nutzte Brus in seinen späteren Aktionen vor allem die Geste der Selbstverletzung und den Körperkontakt mit eigenen Exkrementen, um beim Betrachter Schockerfahrungen zu provozieren […]. Gerade der vor Augen geführte Tabubruch, der die Norm eines reinen und ganzen Körpers in Frage stellt und von der Gesellschaft dementsprechend als Perversion sanktioniert wird, kann beim Betrachter unmittelbare leibliche Reaktionen hervorrufen. 502 Bei seinen Materialaktionen ging es Otto Muehl stärker um aktionistische Abläufe, die er detailliert performativ durchführte. Er ersetzte Farbe durch Nahrungsmittel. Die „Materialaktion ist über die Bildfläche hinausgewachsene Malerei, der menschliche Körper, eine gedeckter Tisch oder ein Raum wird zur Bildfläche; zur Dimension des Körpers, des Raums kommt die Zeit. Der Mensch tritt nicht als Mensch, als Person, als Geschlechtswesen auf, sondern als Körper mit bestimmten Eigenschaften. Er wird in der Materialaktion wie ein Ei aufgeschlagen und zeigt den Dotter.“ 503 Muehl behauptet zudem, dass die Materialaktion nicht versuche, die Wirklichkeit zu rekonstruieren - sie stelle sie dar. Ihm zufolge werde das Seelenleben bis auf die körperliche Vernichtung reduziert, da direkte Kunst nur den Körper kenne und alles mache, was mit dem Körper zu leisten sei. 504 Bei Rudolf Schwarzkoglers Malaktion kam es ebenfalls zur Verwendung alltäglicher Elemente. Auch Nitschs künstlerische Arbeit mit dem menschlichen Körper - inklusive all seiner anatomischen Substanzen - ist einerseits eine 195 2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt 505 Hermann Nitsch: „über die raubtierhaftigkeit“, a. a. O., S. 50-53. 506 Vgl. ebd. 507 Vgl. Michael Dück: Der Raum und seine Wahrnehmung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 33. 508 Vgl. ebd. Radikalisierung und Sichtbarmachung des schon bestehenden soziokulturellen und zivilisatorischen Umgangs mit dem Menschen als Körper, der geformt, gebildet bzw. ausgebildet wird. Andererseits dient die detaillierte und konkrete Hervorhebung des durch Zivilisation bedingten Tabuisierten, des verdrängten Triebhaften und Animalischen im menschlichen Körper dazu, eine transforma‐ tive Körpererfahrung sowie Erkenntnis zu schaffen. Nitschs Gestaltungsform und synästhetische Dramaturgie fordert den menschlichen Körper zum intensiven Empfinden auf - vor allem, wenn der Mensch mit folgenden Körpersubstanzen konfrontiert wird: alles schleimige, feuchte lässt assoziieren zu unserer leiblichkeit, vor allem zu unserer leiblichkeit mit ihrem fleisch, fleischweichen organen, der flüssigkeit des blutes, den sekreten und stoffen, die den leib durchziehen, und zu jenen, die abgesondert werden, wie kot, menstruationsblut, harn, sperma, speichel, schweiss, erbrochenes usw. auch an gegessenes, an einverleibtes, an zerbissene, eingespeichelte, unverdaute, halbverdaute und verdaute speise kann gedacht werden, eingeschleimt werden wir geboren. 505 Alle aufgelisteten Elemente und Substanzen setzt Nitsch für seine außerge‐ wöhnliche synästhetische Konzeption ein, weil sie sich nicht nur intensiv registrieren lassen. Sie lösen bei den meisten Menschen Ekel aus und lassen die Ekelschranke entstehen. 506 Das intensive Registrieren dieser Elemente und Substanzen ruft Wahrnehmungen ab. Da sich Wahrnehmungen auf Erfahrun‐ gen beziehen, die Menschen aufgrund der Sinneseindrücke bereits gesammelt haben, 507 verfügt der menschliche Wahrnehmungsapparat über zahlreiche la‐ tente Assoziations- und Projektionsmöglichkeiten. Michael Dücks Interpreta‐ tion der Wahrnehmungsgehalte in Der Raum und seine Wahrnehmung stimmt mit den synästhetischen Konzeptionselementen des Orgien-Mysterien-Theaters überein, wenn er argumentiert, dass Wahrnehmungsgehalte aufgrund ihres Evidenz- und Präsenzcharakters geglaubt und gewusst werden: „Was ich sehe, ist jetzt, und ich weiß es.“ 508 Insofern haben abgerufene Wahrnehmungen sowie ausgelöste sinnliche Empfindungen im Orgien-Mysterien-Theater einen überwiegenden individuellen Charakter und weisen große individuelle Unter‐ schiede auf. Teilnehmer_innen, die z. B. in ihren beruflichen Beschäftigungen mit den erwähnten Substanzen und Elementen umgehen, und/ oder Teilneh‐ 196 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 509 Vgl. Nitsch Foundation: Presseinformation - 04. November 2010, , a. a. O. 510 Danièle Perrier: „Mein Körper: das Herz der Architektur“. In: La casa, il corpo, il cuore: Konstruktion der Identitäten. Herausgegeben von Lóránd Hegyi, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 1999, S. 121. mer_innen, die tragische Unfälle oder blutige Schrecklichkeiten gesehen und diese im Gedächtnis behalten haben, assoziieren anhand ihres jeweiligen Wahr‐ nehmungsapparats die im Orgien-Mysterien-Theater vorhandenen Substanzen mit bereits gemachten Erfahrungen. Damit möchte Nitsch zu „Offenbarungen der Natur“ 509 und zu einer Lebensbefragung statt Kunstkonsum anregen. Diese Form der ästhetischen Lebensbefragung geht mit einer tragischen Erfahrung einher. Während die bereits erwähnten synästhetischen Konzeptionselemente des Orgien-Mysterien-Theaters bei vielen Menschen Ekelschranken entstehen lassen, kommt es nicht nur zu einer sinnlichen Verschmelzung leiblicher, räumlicher und dinghafter Empfindungen sowie Sinneswahrnehmungen. Die zeremonielle und transformative Kraft des Orgien-Mysterien-Theaters zwingt den Menschen außerdem zu einer verdrängten Erkenntnis. Zugleich werde im Sinne Perriers der Leib zu Fleisch, indem er sein Innerstes nach außen kehre. Dem innersten Wissen folgend, setze er sich dem Leben aus, um über das Erfahrbare das Leben zu transzendieren. Dabei bestehe ein ständiges Hin und Her zwischen dem bestimmenden Innen und dem erlebenden Außen. Eindrücke des Sehens und des Hörens, des Fühlens, was man sieht und hört, des Wohlseins und des Unbehagens prägen sich ein und sorgen für ständig neue Wahrnehmungen. Der Körper ist der Schrein des Lebens, Zentrum mystisch-orgiastischer Erfahrungen. 510 Die Wirklichkeitsbereiche des Orgien-Mysterien-Theaters werden zu einem The‐ atergebilde aller inneren und äußeren Zustände der leiblichen und räumlichen Erfahrungselemente sowie der Erkenntnis tragischer Daseinsfrage. So ist das Orgien-Mysterien-Theater ein Wirklichkeitsgebilde, in dem die Trenngrenzen zwischen innen und außen, Moral und Unmoral, Kunst und Nichtkunst, Tod und Leben, Spaß und Schmerzen, Ruhe und Triebe, Menschen und Dingwelt dargeboten, erkannt, erfahren und aufgehoben werden. Die künstlerische Arbeit am Körper am Beispiel „Der Knabe“, der wie ein Tier getötet oder geopfert und geöffnet wird, symbolisiert diese Sachlage der menschlichen Grenzerfahrung. Wie bereits im ersten Kapitel erörtert, ist diese menschliche Grenzerfahrung als eine theatrale Schwellenphase aufzufassen. Das heißt, die Aufführung des Orgien-Mysterien-Theaters verwandelt sich in eine Form des ästhetischen, per‐ formativen Übergangsrituals, währenddessen das menschliche Wesen als Sub‐ jekt sowie als Objekt eine leibliche bzw. geistige Liminalität voller Erkenntnisse 197 2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt 511 Hermann Nitsch: „der aufgabenbereich des orgien mysterien theaters“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 29-30, hier S. 29. 512 Vgl. ebd. 513 Vgl. ebd. erlebt und erfährt. Nitschs synästhetische Kompositionselemente versetzen das menschliche Wesen vor allem in die Liminalität verdrängter Wirklichkeits- und Registrationsbereiche, wo sinnliche Intensität des Empfindens und die Wahrnehmung bestimmter Vorgänge und Objekte zur Erkenntnis der grundle‐ genden Daseinsfrage bewegen. Demnach wird das Orgien-Mysterien-Theater zu einem künstlerischen Forschungsbereich der sinnlichen und erweiterten Wirklichkeitsfindung in der liminalen Phase. Für Nitsch steht die Form für Abstraktion und Gestaltung der Wirklichkeit zur erfahrungs- und wirkungsäs‐ thetischen Erkenntnisgewinnung: die form treibt uns dazu, ihre prinzipien zu erforschen und immer neue möglichkeiten ihres wirkens zu erschliessen. die form ist ein forschungsbereich. es geht darum alle zur erreichung der form führenden möglichkeiten in beziehung setzen von wirklichkeiten, alle verdichtungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. die form ist etwas aus dem kollektivbereich des menschen heraus funktionierendes. 511 Nitsch zufolge fordere die nach den Gesetzen der Form verdichtete Wirklichkeit zu konzentrierter, genießender Daseinsregistration auf. Der Mensch werde ins intensive Erfassen und Registrieren des Seins hineingezogen. 512 Dadurch veranschaulicht die Kunstform die menschlichen Daseinsbezüge und erzwingt so, wie Nitsch argumentiert, die eigene Lebendigkeit, das Leben tiefer, kon‐ zentrierter und genussreicher zu erleben. 513 So wird nachvollziehbar, warum Nitsch das Orgien-Mysterien-Theater als ein Existenzfest bezeichnet. Dieses ist wiederum ein Erkenntnisfest und hat zwangsläufig mit der Form sowie mit der synästhetischen Komposition zu tun. Die Daseinsregistration ereignet sich jenseits des gesprochenen Wortes auf eine performativ-synästhetische Art und Weise: an das verschütten [und] verschmieren von schleimigen sekreten und flüssigkeiten (eidotter, schlachtwarmes hellrotes blut, laues blutwasser usw.) an das quetschen, aufquetschen, destruieren von weichen substanzen wie früchten, rohem fleisch usw. ketten sich unsere abzureagierenden energien. daher die verwendung von geschlach‐ teten tierkadavern, von rohem fleisch, blut, blutwasser und heissem wasser. daher die destruktion gegenüber dem tierkadaver, die ausweidung, welche die stark sinnliche 198 2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater 514 Hermann Nitsch: „aufdeckung durch die analytisch dramatischen mittel des orgien mysterien theaters“. In: Michael Karrer (Hg.): Hermann Nitsch. Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, a. a. O., S. 35. 515 Vgl. Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. München: Fink 2001, S. 216. wirkung von rohem, blutigem, nassem, dunstendem fleisch und schleimigfeuchten innereien durch das aufhacken und der gedärme bewirkt. 514 Das direkte Gestalten der Wirklichkeit stimuliert die Sinnesorgane und somit die sinnlichen Wahrnehmungen innerer sowie äußerer Zustande. Dadurch werden Teilnehmer_innen zu einer spontanen Reaktion mit einhergehender Erweiterung des Wahrnehmungsfelds verleitet. 515 Dies versetzt sie wiederum in Welten sinnlicher Erregungszustände und der Triebsphäre mit einer beson‐ deren, transformativen Körpererfahrung. Hier setzt Nitsch seine Kritik an der katholischen Religion an, da dieses Hineinblicken in die Schrecken der Individualexistenz in der Kirche durch die Vergeistigung ausgeblendet wird. Mit seinen synästhetischen Wirklichkeitsbereichen versucht Nitsch, das in der Kirche Ausgeblendete ästhetisch wiederherzustellen. 199 2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt 516 Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a. M./ New York: Campus-Verlag 1989, S. 59. 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “: postdramatische Ästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis 2.2.1. Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie Zwischen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Anfang des 21. Jahrhunderts situiert sich Christoph Schlingensiefs künstlerisches Schaffen. Schlingensief hat nicht nur für viel Aufregung gesorgt, sondern auch innovative sowie praktische Ansätze für die Rolle der Kunst in historischen, religiösen so‐ ziokulturellen und politischen Zusammenhängen neu markiert. Von besonderer Brisanz ist die Aktion 18, „tötet Politik! “ (2002). Dabei eignet sich Schlingensief die Methoden und Praxen von Performancekunst, Installation, Aktionismus, Fluxus und Happening sowie der Kommunikationsguerilla und des Guerilla Theaters in einer Weise an, dass man Zeuge inszenierten und ästhetischen Störpotentials von gesellschaftlicher und politischer (Schein-)Ordnung wird. Wie bei Nitsch verortet sich Schlingensiefs Kunstbzw. Theaterverständnis jenseits der Grenzen konventioneller Freizeitgattungen im Sinne von Victor Tur‐ ner (Theater, Tanz, Gesang, Kunst, Schriftstellerei, Komposition). 516 Demnach sind viele seiner Theateraktionen als Entgrenzung des konventionellen thea‐ tralen Schauplatzes zu verstehen: Bei ihm sind die jeweiligen Grenzen künst‐ lerischer sowie nichtkünstlerischer, medialer, institutioneller, soziokultureller, politischer und vor allem tabuisierter Terrains durchgängig und beweglich, bis sie verschwimmen bzw. verschwinden. Dies schlägt sich ferner in seinem vielgestaltigen gattungsübergreifenden Werk nieder, das Filme, Theaterstücke, Theateraktionen, Opern, Performances und Installationen umfasst. Seine Künst‐ lerperson und sein künstlerisches Engagement haben keine geografischen, kul‐ turell/ religiös fremden, geschichtlich tabuisierten Gebiete gescheut. Ebenso we‐ nig hat Schlingensief die Grenzen lebensbedrohlicher und tragischer Erfahrung ausgelassen. So hat er sich bis zu seinem Tod 2010 mit seiner Krebserkrankung ästhetisch, szenisch-performativ auseinandergesetzt. Außerdem ist er in den 517 Vgl. Schlingensief Christoph: Ich weiß, ich war´s. Herausgegeben von Aino Laberenz, Köln: Kiepenheuer & Witsch GmbH&Co.KG. 2012, S. 42-68. meisten seiner künstlerischen Ereignisse als Regisseur, Animateur, Moderator, Performer, Akteur, Protagonist, Politiker, Aktivist und nicht zuletzt als Kranker aufgetreten. Dabei hat er angesichts der inszenierten Geschehnisse, die seine institutionskritischen Reaktionen auf gegenwärtige, historische, religiöse, so‐ ziokulturelle sowie politische Zusammenhänge performativ problematisieren, durch Heraus- und Überforderung der Beteiligten beständig zur Stellungnahme aufgefordert. Seine bevorzugte Strategie lautet: Er bringt verdrängte Vergan‐ genheit (z. B. deutsche Zeitgeschichte, deutsche Kolonialgeschichte, Faschismus etc.) und schwierige Themen (Flüchtlingsproblematik, Benachteiligte in der Gesellschaft, Behinderte, Kirche, Religion etc.) mit Gegenwartsgeschehnissen, aktuell brennenden gesellschaftlichen und politischen Fragen so in Verbindung, dass kaum jemand unberührt bleibt. In gegenwärtigen künstlerischen bzw. (theater-)wissenschaftlichen Rezeptionsarbeiten nimmt er eine Sonderstellung sowie Orientierungsposition ein, was den produktiv-kritischen Anteil und das Potential von Künstler_innen, Kunst bzw. Theater in der Gesellschaft betrifft. Als einziges Kind von Hermann-Josef und Anna Maria Schlingensief wurde er am 24. Oktober 1960 in Oberhausen geboren. Bereits im Jahr 1968, das - international gesehen - durch kulturelle sowie politische Bürgerrechts- und Studentenbewegungen gekennzeichnet war, machte Schlingensief mit Kurzfil‐ men die ersten Schritte seiner künstlerischen Laufbahn. Ab 1968 stellte er fast jedes Jahr einen Kurzfilm fertig, in welchem er selber zugleich als Filmemacher und Schauspieler seine eigenen Aktionen in Szene setzt, die Handlung erklärt und zum Mitmachen ermuntert. Mein 1. Film, Der Fahnenschwenkerfilm, Eine kleine Kriminalgeschichte, Kurzer Dreh mit Christoph Schlingensief und Allerlei Sachen gehören zu seinen ersten Kurzfilmen in den ausgehenden 60er-Jahren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass das Jahr 1968 für Schlingensiefs künftiges künstlerisches Schaffen entscheidend ist: Die im Jahr 2012 von Arno Laberenz herausgegebene Dokumentation der Autobiographie von Christoph Schlingensief. Ich weiß, ich war´s erzählt u. a. von diesem Jahr 1968, und zwar als die Kleinfamilie Urlaubsfilme von Schlingensiefs Vater ansehen wollte und plötzlich eine Art von fremden Menschen über die Bäuche von Mutter und Kind am Strand marschierten, reagierte Schlingensief damals mit Begeisterung auf diese zweifach belichteten Bilder. 517 In „Autobiografie von Christoph Schlingensief. Kunst ist eine Mutprobe“ betont auch Till Briegleb, dass dieses Erlebnis die Geburtsstunde und der Urknall von Schlingensiefs ausufernd-künstlerischem Arbeitsstil gewesen sei: Zufall als Einbruch des 202 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 518 Vgl. Till Briegleb: „Autobiografie von Christoph Schlingensief. Kunst ist eine Mut‐ probe“. Süddeutsche Zeitung vom 02. März 2015. http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ a utobiografie-von-christoph-schlingensief-kunst-ist-eine-mutprobe-1.1500262 - letzter Zugriff : 30.04.2017. Lebens in die Inszenierung, Störpraktiken als Chance bzw. Gelegenheit, das Denken zu ändern, das Prinzip der Mehrfachbelichtung als Strategie und Ästhetik des Zweifelns. Briegleb schlussfolgert, dass Schlingensiefs spontane assoziative Mutprobe diesen künstlerischen Stilkomponenten entsprungen sei, um unterschwellige Themen der Gesellschaft zu enthüllen. 518 In den 1970er-Jahren folgten weitere Kurzfilme wie Das Geheimnis des Grafen von Kaunitz (1976/ 77) oder Mensch, Mami, wir drehn ’nen Film (1977). Bereits in seinen künstlerischen Anfangsphasen arbeitete Schlingensief an seinem mit Zu‐ falls-, Stör- und Zweifelsprinzip geprägten Inszenierungsstil und veranstaltete im Keller seiner Eltern „Kulturabende“. Nebenbei konnte er nach dem Abschluss seines Abiturs am Oberhausener Heinrich-Heine-Gymnasium in München mit einem Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik beginnen. Parallel dazu entstanden etliche Kurzfilme. 1984, im Alter von 24 Jahren, drehte er seinen ersten Langfilm Tunguska - Die Kisten sind da und zugleich den dritten Teil seiner Trilogie zur Filmkritik, in der er sich vom narrativen Erzählkino wie vom überambitionierten Avantgardefilm distanzierte. In den Jahren darauf wirkte er zusätzlich als Regisseur oder Schauspieler in vielen weiteren Kurz- und Langfilmen mit, die er drehte. Sein Begeisterungshorizont fing sehr schnell an, sich über den Film hinaus auf andere Kunstausdrucksformen zu erweitern: Er schrieb und inszenierte Opern sowie Theaterstücke, in denen er sich - wie in seinen Filmen - vor keiner sozialhistorischen und politischen Kontextualisie‐ rung scheute. So zog er größere Aufmerksamkeit mit seiner Deutschlandtrilogie auf sich, die aus folgenden Filmen besteht: 100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Stunde im Führerbunker (1988/ 89), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000 - Intensivstation Deutschland (1993). In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre konkretisierte sich sein künstlerischer Gestaltungsstil stärker in Richtung Fragmentierung, Gleichzeitigkeit, Entgren‐ zung, Intersowie Transmedialität im Hintergrund gesellschaftlicher Brisanz. Ab 1993 wurde die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin zum Schau‐ platz seiner Inszenierungen: Seine erste Inszenierung trug den Namen 100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen. Er schrieb weitere Stücke, die an diversen Theatern aufgeführt wurden. Sehr bald gingen seine künstlerischen Betätigungen über den Film und das Theater hinaus und nahmen aktionistische Ausdrucksformen an, die mit deutschlandweiter und internationaler Aufmerksamkeit, zum größ‐ ten Teil auch mit vielen Aufregungen einhergingen. 2000 machte er sich mit 203 2.2.1. Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie seiner Containeraktion Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswo‐ che mit der kulturellen und politischen Szene in Österreich hinreichend bekannt. Ein besonderes Merkmal dieser Theateraktion war der Einbruch des Alltags in die Inszenierung, womit es erschwert wurde, zu unterscheiden, ob es sich dabei um Kunst oder Nichtkunst handelte. Hier kommt Schlingensiefs gesamter künstlerischer Arbeitsstil in Bezug auf die Flüchtlingsproblematik in Europa erstmalig und erfolgreich zum Einsatz. Zwei Jahre davor war Schlingensief in ähnlicher Weise in die deutschen Bundestagswahlen von 1998 mit der Gründung der Partei CHANCE 2000, die aus Arbeitslosen und gesellschaftlich Benachteiligten bestand, künstlerisch involviert. Mit CHANCE 2000 - PARTEI DER LETZTEN CHANCE, WAHLKAMPFZIRKUS '98, WAHLKAMPFTOURNEE und WAHLDEBAKEL '98 konnte Schlingensief auf der Grundlage eines kal‐ kulierten Einbezugs vieler Akteur_innen und Medien erfolgreich Kunst und Leben zusammenführen: CHANCE 2000 war in jeder Hinsicht eine grenzenlose Inszenierung, bei der allen Beteiligten vorgeschrieben wurde, sich selbst zu spielen, sich selbst zu thematisieren - als Voraussetzung, um ihre jeweilige Existenz nachzuweisen. In diesem Sinne konnte jeder nach dem Motto der Partei „Wähle Dich selbst! “ selbstbewusster und handlungsorientierter sein Leben gestalten. Der Wahlkampfhöhepunkt dieser Partei war die Aktion BAD IM WOLF‐ GANGSEE: Schlingensief hatte dazu aufgerufen, an Helmut Kohls Urlaubsort St. Gilgen am Wolfgangsee zu baden, um den See so zum Überlaufen zu bringen und somit Kohls Urlaubshaus zu überschwemmen. Von 1997 bis etwa 2003 wirkte Schlingensief außerdem als Regisseur und Fernsehmoderator in diversen Talkshows mit medienkritischem Inhalt: so etwa in den Formaten U 3000, Talk 2000 sowie Freakstars 3000. Mit dem TV-Projekt Freakstars 3000 ermöglichte Schlingensief ab April 2002 geistig und körperlich Behinderten, sich am Mitwirken beim kreativen Prozess des Fernsehmachens aktiv zu beteiligen. Das TV-Projekt Freakstars 3000, welches das erste Behindertenmagazin im deutschen Fernsehen war und am 8. Juni 2002 auf dem Jugend- und Musiksender Viva ausgestrahlt wurde, lehnte sich an Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar und Popstars an, parodierte die Mechanismen der Castingshows, be‐ scherte sich selbst eine Traumquote und löste Debatten rund um die Problematik von Behinderungen aus. Seine medienübergreifenden Inszenierungen rückten zunehmend problematische historische sowie politische Themen performativ in den Vordergrund: In seiner Zürcher Hamlet-Inszenierung (2001) wirkten deutsche Neonazis mit. In der Aktion 18, „tötet Politik! “ (2002) griff er antisemi‐ tische Tendenzen im Bundestagswahlkampf der FDP auf. 2004 inszenierte er mit PARSIFAL bei den Bayreuther Festspielen seine erste Oper. In Bayreuth 204 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 519 Für ROCKY DUTSCHKE ’68 erhält er 1997 den Prix Futura, den gleichen Preis 1999 für sein Hörspiel LAGER OHNE GRENZEN. Sein Hörspiel ROSEBUD nach der gleichna‐ migen Inszenierung wird 2002 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. 2005 wird ihm der Filmpreis der Stadt Hof verliehen, 2010 der Helmut-Käutner-Preis der Stadt Düsseldorf für seinen Beitrag zur deutschen Filmkultur, 2011 posthum der Gießener Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis. inspirierte ihn die Drehbühne des Wagner Theaters zur Entwicklung seines Langzeitprojekts Animatograph, mit welchem er 2005 und 2006 in Island, Neu‐ hardenberg in Brandenburg und Namibia unterwegs war. Von Animatograph ausgehend, entstanden die begehbare Installationen wie z. B. Area7 - Matthäus‐ expedition in Wien (2006), KAPROW CITY an der Volksbühne und die Aktion DIANA II - WHAT HAPPENED TO ALLAN KAPROW? im Rahmenprogramm der Frieze Art Fair London (2006). Ein weiterer Ausläufer rund um den Aufbau des namibischen Animatographen ergab das Material zum Filmprojekt The African Twin Towers (2005). Ebenso flossen Teile seiner Inszenierung von Der Fliegende Holländer (2007) am Teatro Amazonas in Manaus (Brasilien) in die Installation 18 BILDER PRO SEKUNDE im Münchner Haus der Kunst (2007) ein. Auch in Innsbruck war Schlingensief mit der Einzelausstellung DER KÖNIG WOHNT IN MIR (2008) im Kunstraum Innsbruck unterwegs: In dieser Ausstellung zeigte Schlingensief Foto- und Filmaufnahmen seiner Reise nach Bhaktapur (Nepal), wobei er Themen wie Prophezeiung, Vergänglichkeit und Religiosität hervorhob. Seine Krebsdiagnose und -erkrankung im Jahr 2008 wurden ebenso Thema seines künstlerischen Schaffens: So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung (2009), die Inszenierungen Der Zwischenstand der Dinge (2008), Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Fluxus-Oratorium von Schlingensief (2008) (Ruhrtriennale, 2008), Mea Culpa. Eine Readymadeoper (2009) und Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten) (2009) dokumentieren Schlingensiefs offene, ästhetisch künstlerische, nach einer Lösung suchende Auseinandersetzung mit seinem tragischen Schicksalsschlag. Seit seiner Krebsdiagnose entwickelte er seine Idee für das Operndorf Afrika im westafrikanischen Land Burkina Faso, wo Einheimische und internationale Gäste ihr Wissen und Können im Bereich Kunst produktiv austauschen können. Das Operndorf war sein letztes Projekt, bevor er im August 2010 im Alter von 49 Jahren seiner Krebserkrankung erlag. Er wurde vielfach ausgezeichnet. 519 Aus dieser kommentierten Biografie kommt deutlich zum Vorschein, dass auch bei Schlingensief Kunst und Leben voneinander kaum zu trennen sind. Er 205 2.2.1. Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie 520 Schlingensief Christoph: Ich weiß, ich war´s, a. a. O.., S. 50. 521 Ebd., S. 59 behauptet diesbezüglich, dass Kunst für ihn nur interessant sei, wenn sie auf das Leben bezogen sei und an der Trennung von Kunst und Leben kratze. 520 [Schlingensief] wollte immer auch etwas Utopisches, den Ansatz einer Vision - etwas zu sehen geben, was man normalerweise nicht sieht […]. Die Umkehrung der Perspektive hat [ihn] immer interessiert: Wenn man glaubt, man sieht etwas, aber dann dreht sich das um, nicht nur in der Realität, sondern auch und gerade im eigenen Kopf. 521 Kunst erfüllt bei Schlingensief eine bestimmte Funktion: Sie zieht die Aufmerk‐ samkeit auf sich selbst, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Wird das Unsichtbare wahrgenommen, soll es verhelfen, sowohl zur kritischen Reflexion über historische, soziokulturelle und politische Fragen zu bewegen als auch zur Umkehrung der Perspektive einzuladen. Schlingensief ist in diesem Sinne ein eingreifender Künstler, der stets in die Offensive ging - selbst im Krankenzu‐ stand. Er hat zwar im Gegensatz zu Nitsch nicht an der Verwirklichung eines einzelnen künstlerischen Großprojekts gearbeitet, sondern an vielen fragmen‐ tierten Projekten. Dennoch bauen diese Projekte aufeinander auf, verketten sich, zitieren einander und verweisen aufeinander: CHANCE 2000 ist eine Schnitt‐ menge sowie eine konsequente Fortsetzung seiner künstlerischen Arbeiten wie Aktionen auf der Kasseler documenta X (1997) oder bei der Bahnhofsmission -7 Tage Notruf für Deutschland (1997). Dazu kommen auffallende formale sowie strukturelle Ähnlichkeiten wie z. B. in den Theateraktionen Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche (2000) und Aktion 18, „tötet Politik! “ (2002). Die Zusammenhänge seiner Animatographen-Produktionen und die entstande‐ nen Inszenierungen seiner Krankheit zeigen auf, wie Schlingensiefs einzelne Projekte ineinandergreifen und meist vorangegangenen Arbeiten entspringen. In diesem Zusammenhang wird diese Studie im Laufe der Analyse nicht nur Aktion 18, „tötet Politik! “, sondern auch Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche miteinbeziehen. Wie viele postdramatische Theatermacher_innen bzw. Regisseur_innen zwingt auch Schlingensief in seinem Theateransatz zu einer Entgrenzung der Wahrnehmung und der Beurteilungskriterien aktueller Dimensionen theatralen Schaffens in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten. Hierzu öffnet auch die Auseinandersetzung mit Theaterausdrucksformen anderer Zeiten und Kulturen Türen zu anderen Potentialen theatraler Praxen und Betrachtungswei‐ sen. Diese Arbeit analysiert, inwiefern Schlingensief mit der Radikalisierung 206 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ seiner künstlerischen Betätigung paradoxe Störpraktiken in den Vordergrund rückt, und inwiefern die Urtheatralisierung bei ihm zum einen als Schaffung von Ausnahmesituationen und -orten - für die Verflechtung von Kunst, Kulturen, religiösen Praxen, Politik und Alltag - und zum anderen als eine ursprünglich dem Theater inhärente Praxis fungiert. Um diese Aspekte in Schlingensiefs künstlerischem Arbeitsstil herauszuarbeiten, wird im Folgenden erstens ver‐ sucht, seinen Theateransatz in die sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik einzuordnen. Dabei wird auf Theater als Sozialkritik von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre skizzenartig eingegangen und am Beispiel literarisch-dramatischer (Kevin Rittbergers Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung, 2010) und gegenkulturell-postdramatischer (Christoph Schlingensiefs Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche, 2000) Formen des dokumentarischen Theaters über Migrationsproblematik veran‐ schaulicht. Zweitens wird die Aktion 18, „tötet Politik! “ als ein grenzenloser The‐ aterschauplatz und eine Form postdramatischer Produktions- und Wirkungsäs‐ thetik erörtert. Drittens analysiert diese Arbeit Schlingensiefs Theater jenseits der Freizeitgattungen als Fragmentierung des theatralen Schauplatzes und als Schaffung von wirklichkeitskonstituierenden Ausnahmesituationen und -orten. Viertens fokussiert sich die Untersuchung auf Schlingensiefs künstlerische Störstrategie durch Schaffung eines Störpotentials als Inszenierungsprinzip und einer Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit als Inszenierungstaktik. Die postdra‐ matische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis wird fünftens aus der Perspektive des voraristotelischen Theaters bezüglich der rituellen und politischen Raum-Zeit-Kontextualisierung veranschaulicht. Im Anschluss daran wird sechstens das Ritual im postdramatischen Theater am Beispiel von Aktion 18, „tötet Politik! “ als wirkungsästhetisches Element behandelt, das in Schlingensiefs politischem Theater zur Betonung realer Aktionen beiträgt. Die‐ ser Arbeitsteil widmet sich siebtens und schließlich - aufgrund Schlingensiefs Zitieren afrikanischer Elemente in seinem künstlerischen Schaffen (z. B. das Voodoo-Ritual) und der Operndorfvision - der Annäherung postdramatischer Theaterformen (vorkolonialer Zeit) in Afrika: des Kote-tlon-Theaters der Ba‐ mana im alten Mali, der Performance … jusqu´à l´époque cravate (Uraufführung in Innsbruck im April 2016) und des Alarinjo-Theaters der Yoruba in Nigeria. Dabei wird auch die Problematik der künstlerischen Begriffe bzw. Konzepte Gegenstand der Betrachtung sein. 207 2.2.1. Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie 522 Dieser Arbeitspunkt ist eine erweiterte Überarbeitung und vertiefende Unstersuchung von einigen Analysepunkten, die ich in den folgenden Artiklen behandelt habe: Vgl. Koku G. Nonoa: „Transgression im europäischen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik““, a. a. O., hier 141-144. / Koku G. Nonoa „Gegenkulturelle Entgrenzung des theatralen Schauplatzes: Schlingensiefs Container“. In: Acta Germanica. German Studies in Africa 45, 1, 2017, S. 131-142. (peer-reviewed) 523 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 461. 524 Anton Bierl: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“, a. a. O., S. 201. 525 Ebd. 526 Ebd. 527 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 170. 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 522 Bei Schlingensiefs Inszenierungsstils drängt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen postdramatischer Ästhetik und sozialkritischer bzw. politischer Di‐ mension von aktionsorientiertem Theater auf. Gerade mit seinem ästhetischen Arbeitskonzept stellt sich eine wirkungsästhetische Frage nach der Potentialität und Wirksamkeit von Theater in der Gesellschaft erneut. In diesem Zusam‐ menhang wird gefragt: Was sind die Möglichkeiten von Theater? Was kann und darf Theater? Soll sich Theater weiterhin und ausschließlich, wenn es eine politische Situation behandelt, auf das textzentrierte Theaterverständnis berufen? Lehmann fragt sich: „gibt es […] politisches Theater ohne Erzählung? Ohne Fabel im Sinne Brechts? Was wäre politisches Theater nach oder ohne Brecht? “ 523 Anton Bierl zufolge sind „unsere Rezeptionsgewohnheiten im Theater […] vom Naturalismus und Verismus eines Spiels geprägt“, „das die Handlung, das drama, psychologisch nachvollziehbare Charaktere und vor allem Spannung in den Vordergrund rückt.“ 524 Nach der Blüte der Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr. habe bereits Aristoteles in der Poetik in ähnlicher Weise die Tragödie betrachtet, sodass sich „dieses Bild, zum Teil vermittelt durch die Klassische Philologie, in unseren Köpfen verfestigt“ 525 habe. Obgleich Bierl der Meinung ist, „dass Aristoteles das Phänomen der Gattung nicht wirklich verstand“ 526 , wird in dieser Arbeit festgehalten, dass Aristoteles die Tragödie aus der textzentrierten Perspektive bewusst festgelegt hat. Dies geht auf die Tatsache zurück, dass „the theatre of words was for the elite, the theatre of sound and spectacle for the masses. It was part and parcel of Aristotle´s elitist thinking to identify a certain type of script as the aesthetic ideal.” 527 208 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 528 Vgl. „‚Für jeden Text das Theater neu erfinden‘: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs- Mumby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka“, a. a. O., S. 45. 529 Hans-Thies Lehmann. Das Zitat ist von der bearbeiteten Fassung des mündlichen Statements vom 1. April 2011 im Kölnischen Kunstverein, im Rahmen von HEIM SPIEL 2011: Theater, Workshops, Symposium, Festival “GET DOWN AND PARTY. TOGETHER. Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern“, 29. März - 3. April, http: / / www.heimspiel2011.de/ assets/ media/ dokumentation/ pdf/ HSP-Doku_D_Lehmann.pdf - letzter Zugriff: 29. Juli 2016. 530 Vgl. Koku G. Nonoa: „Transgression im europäischen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, ‚tötet Politik‘“, a. a. O., S. 152. Obwohl auch im epischen Theater musikalische, visuelle und gestische Elemente verstärkt Anwendung finden, bleibt das textzentrierte von der Le‐ benspraxis abgehobene Theaterverständnis unverändert. Das Parabeltheater, das auf der Gleichniserzählung beruht, folgt dem Modell des epischen Thea‐ ters. Das absurde Theater, das sich durch die paradoxen Aussagen, die auffal‐ lenden Widersprüche zwischen ausgesprochenen Absichten und vollführten Handlungen der Figuren auszeichnet, hat ebenfalls den Text als bestimmendes Theaterelement. Auch das dokumentarische Theater, auf das später detailliert eingegangen wird, macht dabei keine Ausnahme. Diese Theaterformen folgen dem Modell eines aristotelisch textzentrierten Theaterverständnisses, das für eine Theateraufführung einen geschriebenen Text voraussetzt. Es basiert vor allem auf einer literarischen Werkkategorie, die eine organische und eine in sich geschlossene Geschichte erzählt. Die im literarischen Werk geschriebene und anschließend auf der Bühne gesprochene Form der Sprache spielt hier eine wichtige kulturelle Rolle. Die Institution Theater, das die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsrahmenbedingungen festlegt, hat vorwiegend dieses kulturell bedingte, textzentrierte Theaterverständnis konsolidiert, das als Sonderentwicklung der europäischen Theaterproduktion 528 fungiert. In diesem Sinne stehen „die Theaterhäuser mitten in unseren Städten“ nicht nur als Aufführungsorte in einem institutionellen Rahmen. Sie „sind [auch] steinerne (oder auch gläserne, metallene) Verkörperungen eines [institutionalisierten] Theaterverständnisses, das auf das 19. Jahrhundert zurückdatiert.“ 529 Das heutige Theaterverständnis in Europa ist längst nicht mehr im Singular, sondern im Plural wahrzunehmen. 530 Wie am Beispiel der Theaterentwürfe von Nitsch und Schlingensief zu bemerken ist, halten sich bestimmte post‐ dramatische Theaterentwürfe nicht an die textzentrierten Theaterprinzipien. Insofern ist Theater zur Auseinandersetzung mit politischen Sachlagen nicht ausschließlich auf die Fabel bzw. auf einen bereits geschriebenen (Theater-)Text als Vorlage einer theatralen Inszenierung angewiesen, wie es Brecht mit seinem 209 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik epischen Theater und die Dramatiker des dokumentarischen Theaters getan haben. Darüber hinaus ist anzumerken, dass weder Erwin Piscator und Bertolt Brecht noch Schlingensief selbst Erfinder des politischen Theaters sind. Sie haben lediglich Formen eines politischen Theaters geprägt, welches seit der griechischen Antike bzw. vor Aristoteles dem Theater stets inhärent war und weiterhin bleibt. Von Piscator und Brecht seit dem 20. Jahrhundert bis Schlingensief im 21. Jahrhundert hat Theater mit unterschiedlichen sozialkriti‐ schen und politischen Gestaltungsformen experimentiert. Theatergeschichtlich betrachtet stellen auch theatrale Ausdrucksformen vor Aristoteles verschiedene Vorstellungen, Funktionen und Dimensionen von Theater als Zeugnis und Faktor in den entsprechenden Zeiten der jeweiligen menschlichen Gesellschaf‐ ten dar. Mit Beginn des aristotelischen Theaterverständnisses geschieht eine Fortsetzung - wenngleich auf eine differenzierte Art und Weise. Im Folgenden wird auf einige klassische dramatische Theaterformen mit sozialkritischen bzw. politischen Dimensionen skizzenartig eingegangen. Dabei wird sich zeigen, dass auch Schlingensief auf dem Traditionsseil eines sozialkritischen und politischen Theaters mit einem besonderen Inszenierungsstil postdramatischer Ästhetik balanciert. 2.2.2.1. Theater als Sozialkritik von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre: eine Skizze Diese Skizze zielt darauf ab, die Entwicklungslinie gesellschaftskritischer Ge‐ staltungsformen im Theater ins Auge zu fassen. Dabei wird ein besonderes Gewicht auf die Frage gelegt, wieso sich im Laufe der Zeit immer mehr sozial‐ kritische Theaterformen vom dramatischen Theaterverständnis distanzieren, um andere Theaterentwürfe zu erfinden bzw. zu erproben. Im dramatischen Theater wird das dramentheoretische Prinzip - die sogenannten drei Einheiten - eingehalten: Die dramatische Aufführung hat eine Handlung (Exposition, Steigerung, Höhe-/ Wendepunkt, Katastrophe/ Lösung) und findet an einem konventionellen Ort zu einer bestimmten Zeit statt, wodurch sie einen fiktio‐ nal gerahmten Schauplatz aufweist. Nach Bernhard Asmuth beziehe sich die ‚Handlung‘ als Übersetzung von mythos bzw. fabula auf eine ganze Kette von Begebenheiten, an denen meist mehrere Personen beteiligt sind. Aristoteles definiert diese Gesamthandlung (mythos) als eine sýnthesis tōn pragmátōn - als eine „Verknüpfung von Begebenheiten“ oder auch eine „Zusammensetzung der 210 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 531 Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. 4., verbesserte und ergänzte Auflage, Stuttgart/ Weimar: Metzler 1994, S. 5. Handlungen“ 531 im Rahmen des Kunstwerkes. Hinzu kommt eine klare, logische Darstellung von Zusammenhängen, verbunden mit Ort, Zeit und Handlung, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende nachvollziehbar aufweisen. Außerdem werden der Zuschauerraum und die Aufführungsbühne als ein vom Alltagsleben abgehobener Schauplatz durch eine fiktive Wand voneinander getrennt: durch die sogenannte vierte Wand. Unter diesen formalen Voraussetzungen findet die Sozialkritik im dramatischen oder klassischen Theaterverständnis statt. Ihr wirksames Organ findet die Gesellschaftskritik in der Komödie der Auf‐ klärung. Die Komödie der Frühaufklärung erweist sich für die Gesellschaftskri‐ tik als besonders geeignet, da sie sich zunächst ganz auf die Satire konzentriert. Diesbezüglich können unter anderem die Dramen der deutschen Schriftstellerin Luise Adelgunde Victorie Gottsched - z. B. Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) - erwähnt werden. Das Stück kritisiert die kirchliche bzw. protestan‐ tische Bewegung des Pietismus satirisch: Individuelle Fehler, Vergehen oder Heuchelei der Charaktere (z. B. der Frau Glaubeleichtin oder des Magisters Scheinfromm) werden hervorgehoben und allgemeinen, gesellschaftlich-mora‐ lischen Missständen von Personengruppen (z. B. Gläubigen) gegenübergestellt. Indessen bietet auch die Tragödie ein Operationsfeld für die Gesellschaftskritik - beispielsweise im bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung und des Sturm und Drang, wo Standesgegensätze sowie der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum thematisiert werden. In Schillers Kabale und Liebe (1784) bedient sich die Gesellschaftskritik der pathetischen Satire, um die Entwürdigung des Menschen zur Ware durch den Verkauf der Landeskinder zu kritisieren. Es geht zudem um die Kritik an der fürstlichen Willkür und an einer absolutistischen Gesellschaftsordnung. Die Liebesbeziehung zwischen der bürgerlichen Luise Miller und dem adligen Ferdinand von Walter wird durch Intrigen seitens der Adligen, die diese Überschreitung von Standesunterschieden missbilligen, unmöglich gemacht und endet mit dem Tod von beiden. Im klassischen Drama verbleibt die Sozialkritik wieder innerhalb der Grenzen eines fiktiven Theaterschauplatzes, da die künstlerische Autonomie bewahrt werden soll. Diese Autonomie der Kunst hat Gotthold Ephraim Lessing in seinen Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Drama und Geschichte hervorgehoben. Für ihn ist der dramatische Dichter kein Geschichtsschreiber. Er sollte historische Begebenheiten in seinen Werken nicht der bloßen historischen 211 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 532 Gotthold Ephraim Lessing: Werke, 1767-1769. In: Klaus Bohnen (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6, 11. Stück. Frankfurt a. M.: Bibliothek dt. Klassiker 1985, S. 237. 533 Georg Büchner: Werke und Briefe. München: dtv 1965, S. 181. 534 Ebd. S. 117. Wahrheit wegen darstellen, sondern in einer anderen und höheren Absicht. 532 Daraus folgt, dass die Kritik der objektiven Wirklichkeit der Phantasie des Dra‐ matikers untergeordnet wird. Die dramatischen Figuren handeln ausschließlich innerhalb der ästhetischen, zeiträumlichen Kategorien des Kunstwerks. Erst während des Realismus, im Verlauf des 19. Jahrhunderts, lässt sich eine klare Veränderung im Verhältnis zwischen historischer und sozialkri‐ tisch-künstlerischer Wahrheit feststellen. Im Gegensatz zu den Äußerungen Lessings erklärt Georg Büchner 1835: „Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber […]. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.“ 533 Diese Auffassung Büchners von der Beziehung zwischen Geschichte und Drama bereitet den Boden für das neue, dokumentarische Prinzip im Drama. Büchner bezeichnet sein Stück Dantons Tod, das sich zum größten Teil auf historische Dokumente stützt, als ein „geschichtliches Gemälde, das seinem Original glei‐ chen muss“. 534 Hier wurden Auszüge aus den Quellen fast unverändert in die Szenen des Dramas eingebaut. Büchner konfrontiert in Dantons Tod am Beispiel der Französischen Revolution zwei oppositionelle Parteien (die maßgeblichen Revolutionsparteien des Jahres 1794: die Radikalen und die Gemäßigten) mit den materiellen Bedürfnissen des Volkes. Das Drama kritisiert die Ideologien der beiden Revolutionsparteien und deutet die negative Sachlage an. Im Naturalismus erhält die realistische Darstellung sozialer Verhältnisse eine gesellschaftskritische und politische Dimension, indem Bilder von Armut und Elend die Notwendigkeit sozialer und politischer Veränderungen hervorkehren. Diese naturalistische Behandlung historischer Ereignisse ist in Gerhard Haupt‐ manns Stück Die Weber (1892) erkennbar. Die Weber dokumentiert, wie die ti‐ telgebenden Protagonisten als Opfer sozialer Verhältnisse agieren. Hauptmanns Bearbeitung des Weberaufstandes stützt sich nicht nur auf eigene Erkenntnisse und Erfahrungen, sondern auch auf Quellenmaterial wie Wirtschaftsstatistiken, Regierungserklärungen, Augenzeugenberichte und Äußerungen von Vertretern der Kirche und der Arbeitgeber. Ab dem 20. Jahrhundert wird zunehmend nach Theaterformen gesucht, die inhaltlich einen direkten Bezug zur Realität aufweisen: In den 1920er-Jahren kam es zur Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit bzw. des Zeitstücks. Das Ziel der Autor_innen des Zeitstücks lag darin, in die Realität ihrer Zeit einzugreifen. 212 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 535 Vgl. Günther Rühle: „Das Zeitstück“. In: Ders.: Theater in unserer Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 82-118, hier S. 83. Somit soll die Bühne der Schauplatz des gegenwärtigen Lebens sein, der nun mehr eine dokumentierende als eine künstlerische Aufgabe zugewiesen bekommt. 535 Damit kündigt sich das dokumentarische Theater der 1960er-Jahre an, dem das epische Theater und das Parabeltheater in der sozialkritischen Aufarbeitung der Nazizeit, des Krieges und der Nachkriegszeit vorausgehen. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg - mit den Stücken von Heinar Kipphardt, Rolf Hochhuth und Peter Weiss - war diesem Genre in Deutschland eine breite Wirkung im Dienst der Gesellschaftskritik beschieden. Als Sozialkritik vermag das Theater tief in die Gesellschaft einzugreifen: kritisiert werden vergangene, gegenwärtige sowie zwischenmenschliche Bege‐ benheiten. Das setzt sich auch das dokumentarische Theater der 1960er-Jahre zum Ziel: Es strebt eine sozialkritische Funktion in einer gesellschaftlichen Situation an und weist eine interpretationsoffene Form auf. Genauso wie bei Brecht die Verfremdungseffekte im Dienst eines fiktiven Geschehens während einer Theateraufführung eingesetzt werden, erfüllen ähnliche Techniken im dokumentarischen Theater wichtige Funktionen: Sie lenken die Aufmerksam‐ keit des Rezipienten auf die Ursachen bestimmter Ereignisse und sie fördern eine bewusste, kritische sowie reflektierende Haltung dem dokumentarischen Inhalt gegenüber. Dabei setzen sich Rezipienten_innen nicht nur mit historischen Stoffen bzw. Fakten auseinander, sondern auch mit den Akteuren/ Akteurinnen, auf welche die dokumentarischen Inhalte anspielen und die zugleich mit historischen sowie aktuellen Personen in Zusammenhang stehen. Von diesem Standpunkt aus haben sich z. B. Rezipient_innen in der Nach‐ kriegszeit gewünscht, sich an dem Stoff der Theateraufführung zu erbauen. Somit hat das Theater eine informative und bildende Funktion übernommen. So trat in den 1960er-Jahren das Dokumentartheater als eine Theaterform auf, die auch dieses Bedürfnis befriedigen sollte. Dokumentartheater wird in diesem Sinne wegen seines starken Bezugs zur Wirklichkeit als ein wirklichkeitsge‐ treues und übertragbares (Theater-)Modell bezeichnet. Dies impliziert, dass der Rezipient zur Mitwirkung genötigt wird, indem er Bekanntes wieder neu und anders betrachtet. Der Rückblick auf die Vergangenheit sollte helfen, die gegenwärtigen Weltgeschehnisse zu hinterfragen. Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss ist ein Beispiel in diesem Zusammenhang. Von dem dokumentari‐ schen Prinzip ausgehend, stellt das Oratorium Die Ermittlung einen Ansatz zur Aufklärung der faschistischen - und somit auch der heutigen - Verhältnisse dar. Die Nazizeit, von Peter Weiss als extremste Form des Kapitalismus gedeutet, 213 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 536 Peter Weiss: „Notizen zum dokumentarischen Theater“. In: Ders.: Rapporte 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 91-104, hier S. 91. 537 Ebd., S. 92. wird im Stück als eine Zeit der verlorenen Menschlichkeit dokumentiert. Hier erfüllt die literarische Sprache die Funktion des Bindestrichs zwischen dem re‐ alhistorisch-dokumentarischen und dem dichterisch-dramatischen Stoff. Dieser Bindestrich ist zugleich die Öffnung, durch die das organische Werk kritisch neu interpretiert wird. Die Authentizität des dokumentarischen Stoffes und die Funktion der dokumentarischen Elemente bilden die Grundlage der Wirkungs‐ kraft dieser dramatischen Theaterform. Im dokumentarischen Theater wird die authentische Qualität des Faktenmaterials zur unentbehrlichen Voraussetzung für die Darstellung und Analyse, denn das Dokumentartheater „enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder.“ 536 Die Doku‐ mente sollen in gewissen Maßen authentisch sein, um ihre Funktion richtig zu erfüllen und um eine konkrete, unwiderlegbare Beziehung zur Außenwelt herstellen zu können. Mit diesem authentischen Element dient die Geschichte nicht einfach als Inspirationsquelle für literarische oder fiktive Wirklichkeit. Die Montagetechnik von Fakten, die ein Dokumentarstück enthält, schafft eine neue Art von Wirklichkeit, die aus historischen Quellen entnommen wird und zugleich auf diese Quellen verweist. Das ist das wichtigste Strukturmerkmal des Dokumentartheaters und macht es möglich, den einzelnen Elementen der Wirklichkeit durch ihre Auswahl sowie durch ihre Zusammensetzung im Dokumentarstück neue Bedeutungen und Funktionen zuzuweisen: Im Unterschied zum ungeordneten Charakter des Nachrichtenmaterials, das täglich von allen Seiten auf uns eindringt, wird auf der Bühne eine Auswahl gezeigt, die sich auf ein bestimmtes, zumeist soziales oder politisches Thema konzentriert. Diese kritische Auswahl und das Prinzip, nach dem die Ausschnitte der Realität montiert werden, ergeben die Qualität der dokumentarischen Dramatik. 537 Zweck und Funktion des dokumentarischen Theaters liegen darin, dass es durch seine Montagetechnik in der Lage ist, Fakten aus verschiedenen Quel‐ len in einen thematischen Zusammenhang zu bringen, auf Widersprüche, Konsequenzen, Kausalitäten hinzuweisen und die Verfälschung der Wahrheit zu enthüllen. Das Verfahren des dokumentarischen Dramatikers ist eine indi‐ viduelle Stellungnahme und beruht auf eigener kritischer Aufnahme sowie Hinterfragung vergangener oder aktueller Geschehnisse. Die objektive Distanz, die das Bühnendokument von dem Quellenmaterial trennt, erlaubt eine kritische Analyse des Stoffes durch wissenschaftliche Auswahl und Durchdringung. Eben 214 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 538 Heinar Kipphardt: „Wäre ich Eichmann geworden“. Der Spiegel, 15.5.1967, S. 133. 539 Ebd., S. 92. 540 Ebd., S. 97. 541 Heinar Kipphardt: „Wäre ich Eichmann geworden“. Der Spiegel, 15.05.1967, S. 133. diese wissenschaftliche Bearbeitung des Stoffes schafft „eine neue Qualität von Dokumenten, die auf verkürzte Art und Weise Sinn und Zweck der Begebenheit enthält.“ 538 Außerdem wird diese kritische Funktion des dokumentarischen Theaters durch ein selektives Zitieren aus dem Quellenmaterial wie bei einer wissenschaftlichen Analysearbeit erfüllt. Indem inhaltliche und sprachliche Elemente aus den Dokumenten in das dramatische Modell eingebaut werden, entwickelt sich ein Netz der Beziehung zwischen dem dokumentarischen Theatertext und der historischen Wirklichkeit: Am Anfang wählt sich der Doku‐ mentarautor ein Thema aus, das „sich auf ein bestimmtes, zumeist soziales oder politisches Thema konzentriert.“ 539 Dann bekommen „deutliche Einzelheiten aus dem chaotischen Material der äußeren Realität“ 540 eine Form. Dieses Auswahl‐ verfahren ermöglicht es dem Autor oder der Autorin, gegenüber dem Stoff eine eigene Perspektive einzunehmen und den Sinn des Quellenmaterials zu verdeutlichen. Die Themen- und Stoffwahl kann außerdem durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden - z. B. durch die Aktualität oder Originalität des Materials. Die thematische Zusammensetzung des Stoffes durch wissenschaft‐ liche Methode sowie die Authentizität und Belegbarkeit des Beweismaterials sollen dann dazu beitragen, eine andere Sicht auf die Welt und die Wirklichkeit zu werfen. In diesem Fall geht es um einen Autor oder eine Autorin, der/ die in einem Theatertext auf ein gesellschaftliches sowie politisches Problem antwor‐ tet, indem er/ sie thematisch und wissenschaftlich eine eigene Interpretation ans Licht bringt. Dabei aktiviert, kontrolliert und lenkt er/ sie die Wahrnehmung der Rezipient_innen auf bestimmte Zusammenhänge. Insofern ist die Neutralität des_r Dramatikers_in so gut wie unmöglich, denn er/ sie „will ein historisches Geschehen nicht bloß beschreiben“, sondern „seine Betrachtungsweise zur Geltung“ 541 bringen. In dieser zeitdiagnostischen Theatertradition ist auch Schlingensiefs Inter‐ esse an der dokumentarischen, realitätsbetonten und interventions-orientierten Behandlung politischer, historischer und gesellschaftlicher Schlüsselfragen an‐ zusiedeln. Von Brechts epischem Theater im 20. Jahrhundert bis zu Schlingen‐ siefs Theateransatz im 21. Jahrhundert hat das Theater eine Serie von formalen Umwandlungen bzw. Veränderungen erlebt, sodass nicht zuletzt viele postdra‐ matische Theaterformen wegen ihrer Gestaltungsform als problematisch und gegenkulturell wahrgenommen werden. 215 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik Im Folgenden wird anhand zweier Beispiele veranschaulicht, wie textzen‐ triert-dramatische und körperzentriert-postdramatische Gestaltungsformen beispielsweise in Bezug auf die Behandlung der brennenden Migrationsproble‐ matik unterschiedliche Wirkungen haben. Findet demnach die Thematisierung der Flüchtlingslebensgeschichten in Kevin Rittbergers Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung (2010) innerhalb der institutionellen Rahmenbedingun‐ gen der Institution Theater statt, so ist dies selbst dann nicht problematisch. Rittbergers Kassandra wird der kulturellen Institution des textzentrierten Thea‐ ters gerecht, indem die Trenngrenze zwischen Fiktion und Realität klar definiert ist. Im Gegensatz dazu schafft die Gestaltungsform von Schlingensiefs Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche (2000) eine differenzierende theatrale Behandlung der Flüchtlingsproblematik und zugleich eine instituti‐ onskritische Abgrenzung zum textzentrierten Theaterverständnis. 2.2.2.2. Migration: Zwei dokumentarische Theaterformen im 21. Jahrhundert 2.2.2.2.1. Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung wurde am 1. April 2010 im Wiener Schauspielhaus unter der Regie von Felicitas Brucker uraufgeführt. Wie bei den Gattungsmerkmalen des Dokumentarstücks besteht der Inhalt von Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung aus bearbeiteten Interviews und erzählten sowie gesammelten Flüchtlingsgeschichten. Der erste Teil fängt mit zahlreichen kurzen Flüchtlingsgeschichten an. Des Weiteren geht es in Form eines Lehrstücks um die Geschichte von Blessing, einer Nigerianerin: Blessing hat fünf Jahre für ihre Reise von Afrika nach Europa gebraucht. Währenddessen lernt sie Boubacar kennen - aus dieser Beziehung kommen zwei Kinder zur Welt. Blessing muss sich dann prostituieren, um ihre Überfahrt und die ihrer Familie nach Spanien finanzieren zu können. Schließlich ertrinkt sie mit ihren beiden Kindern. Im zweiten Teil ist von Europäer_innen die Rede, deren unterschiedliche Einsätze oft fatale Konsequenzen haben und alles nur noch schlimmer machen. Auch das Dilemma wird deutlich: ertrinken lassen oder retten? Aufnehmen oder abschieben? Dieser Zwiespalt wird in Rittbergers Theatertext unterschiedlich verdeutlicht und zunehmend klar, aber zu einer expliziten Antwort bzw. Lösung kommt es nicht. Es bleibt in diesem Theatertext auch die Frage offen, ob die Hilfsangebote für die Migranten in EU-Auffangla‐ gern, die Massenabschiebungen durch Frontex-Beamte sowie die Finanzierung der Festigung der europäischen Meeresgrenzen das Problem beseitigen oder 216 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 542 Kevin Rittberger: Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung. In: Ders. Puppen. Drei Stücke. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2010, S. 53-140, hier S. 62. 543 Horst Steinmetz: „Die Rolle des Lesers in Otto Ludwigs Konzeption des ‚Poetischen Realismus‘“. In: Gunter Grimm (Hg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart: Philipp Reclam 1975, S. 223-239, hier S. 224. 544 Ebd., S. 228. 545 Ebd. eher verstärken. Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung ist eine Zeug‐ nisgeschichte von Rittberger als Autor, „der nach der Wahrheit sucht und die Geschichten der Auswanderer […] dokumentieren möchte, der dringend alle Ge‐ schichten auflesen möchte, weil sie herumliegen, wie der buchstäbliche Sand am Meer.“ 542 Das ist ein literarisches Zeugnis sowie das Engagement eines Autors, der die Lebensrealitäten der afrikanischen illegalen Migration thematisiert und der gleichzeitig den EU-Umgang mit diesem komplexen Migrationsproblem zur Diskussion stellt. Inhaltlich bewegt Rittbergers Kassandra den zeitgenössischen Rezipienten dazu, sich mit dem ganzen Faktorenspektrum auseinanderzusetzen, das zu fortwährenden Migrantentragödien zwischen Afrika und Europa führt. An diesem Beispiel ist erkennbar, wie Theater fiktional und dokumenta‐ risch einen Zeugnischarakter aufweist, der, um Karl Otto Konrady zu para‐ phrasieren, ernst genommen werden muss. Das dokumentarische Theater als Zeugnis nähert sich auch Otto Ludwigs Konzeption des poetischen Realismus an, die besagt, „dass Literatur mit dem Leben, mit der Wirklichkeit eng verbunden sein müsse.“ 543 Ludwig fordert nachdrücklich die „mitgestaltende Tätigkeit des Lesers”, 544 der in einer Interaktionsbeziehung zum literarischen Werk steht und somit den Blick auf eine nicht unmittelbare Begebenheit haben sollte. 2.2.2.2.2. Rezipierende im dramatischen bzw. klassischen Theater Die Teilnahme der Rezipierenden im dramatischen Theater bzw. im Zusammen‐ hang mit dem organischen Werk kommt durch die kommunikative sowie inter‐ pretative Interaktion zustande, indem die mentale Aktivität der Rezipierenden stimuliert wird. Dies funktioniert, „wenn das Werk in der vom Autor vorgeleg‐ ten Form dem Realitäts- und Lebensgefühl des Rezipienten entgegenkommt, wenn es ihm die Möglichkeit bietet, seine eigene Wirklichkeit in der des Werkes wenigstens partiell wiederzuerkennen.“ 545 So befeuert der mediale Charakter der Sprachen (ob geschrieben oder gesprochen) eine mentale kognitive Aktivität, die in einem doppelten Prozess das nicht unmittelbar Gegebene repräsentiert. Dies geschieht während der sogenannten „dualen Repräsentation“, die nach Wolfgang Prinz darin besteht, „wahrgenommene Inhalte und vergegenwärtigte 217 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 546 Wolfgang Prinz: „Bewusstsein und Ich-Konstitution“. In: Gerhard Roth, Wolfgang Prinz (Hg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg/ Berlin/ Ox‐ ford: Spektrum 1996, S. 451-467, S. 458-459. 547 Ebd., S. 459. 548 Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaft: Positionen, Theo‐ rien, Modelle. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt 1996, S. 16-17. 549 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 29. 550 Ebd., S. 29-30. Inhalte nebeneinander und funktional getrennt zu unterhalten“ 546 und auf der Basis der kognitiven Organisation eine „vorübergehend vergegenwärtigte Information im Vordergrund zu verarbeiten und zugleich im Hintergrund die Verarbeitung der aktuellen Wahrnehmungsinformation fortzusetzen […].“ 547 Woraus die Lebenswirklichkeit der Rezipierenden wiederum besteht, führt auf seine kulturelle Semantik bzw. auf seine internalisierte normierende Kultur zurück. Wahrnehmungen sind von allen Medien abhängig, die - so Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe - die „kulturelle Semantik von Gesellschaften sowohl erzeugen als distribuieren […], worin Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln seine charakteristischen Formen und Darstellungen findet“. 548 Da die Form des dokumentarischen Theaters am Beispiel von Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung auf eine unmittelbar wiedererkennbare Realität fokussiert, haben Rezipierende mit dem bereits Gesehenen oder Erfah‐ renen zu tun und sind in gewisser Hinsicht mit dem dokumentarischen Inhalt vertraut. Daraus erfolgt eine weitgehend ideologie- und gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit den literarisch-dramatischen Wirklichkeitspartikeln des Theaters in Konfrontation mit dem Wirklichkeitsbild der Rezipierenden, die auf die organische Werkkategorie reagieren. Die organische Werkkategorie wie‐ derum, die vor allem die Abgehobenheit von der Lebenspraxis garantiert, trifft auf beliebige und einigermaßen bereits informierte Rezipierende im Realleben. Die Bezeichnungen Geschlossenheit und Offenheit - im Zusammenhang mit organischen Werken - „meinen einen Aspekt des Kunstgenusses, den wir alle aus eigener Erfahrung kennen, und den zu bestimmen wir uns alle gedrungen fühlen […].“ 549 Ein literarisches oder theatrales Werk steht einerseits für „ein Objekt, in dem sein Schöpfer ein Gewebe von kommunikativen Wirkungen derart organisiert hat, daß jeder mögliche Konsument […] das Werk selbst, die ursprünglich vom Künstler imaginierte Form nachverstehen kann.“ 550 Anderer‐ seits tritt das produzierte Werk in Kommunikation mit Rezipierenden, die bei der Reaktion auf das Gewebe der Reize und bei dem Verstehen ihrer Beziehungen eine konkrete existenzielle Situation mitbringen: „eine bestimmte Bildung, Geschmacksrichtungen, Neigungen, persönliche Vorurteile, dergestalt, daß das 218 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 551 Ebd., S. 30. 552 Kevin Rittberger: Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung, a. a. O., , S. 55. 553 Vgl. Ludwig Jäger: „Medialität und Mentalität. Die Sprache als Medium des Geistes“. In: Sybille Krämer/ Ekkehard König (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 45-75, S. S. 57. Verstehen der ursprünglichen Form gemäß einer bestimmten individuellen Perspektive erfolgt.“ 551 Aus diesem Grund soll eine kritische und - wenn möglich - eine ideolo‐ gie- und gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit den literarisch-drama‐ tischen Wirklichkeitspartikeln des organischen Werkes in Konfrontation mit dem Wirklichkeitsbild der Rezipierenden bestehen. So weckt z. B. Kassandra die Neugierde der Rezipierenden, die nach Assoziatio‐ nen mit diesem Namen suchen: Für sie mag Kassandra im Titel dieses Theatertextes an die trojanische Seherin in der Orestie (458 v. Chr.) von Aischylos erinnern. Bei ihrer jeweiligen kognitiven Teilnahme sind Rezipierende im Modus der bereits angesprochenen dualen Repräsentation: Sie vergegenwärtigen das Kassandra-Mo‐ tiv der Orestie und stellen fest, dass es sich um eine Person handelt, die machtlos ihrem vorausgesehenen Schicksal - Leid und eigene Ermordung - ausgesetzt wird. In diesem besonderen Fall kommt das Wirklichkeitsbild der Rezipierenden nicht unmittelbar von ihrer Lebenswirklichkeit. Dennoch versuchen sie auf der Grund‐ lage ihrer kognitiven Organisation, die gerade wahrgenommene Kassandra-Figur Rittbergers im Hintergrund vergleichend zu verarbeiten. Dabei fällt ihnen ein, dass Rittbergers Kassandra-Motiv den Schicksalsschlag einer Person in einer ausweg‐ losen Situation vor Augen führt, deren verhängnisvoller Ausgang freiwillig nicht vermieden werden kann: „Die Prophezeiung des Untergangs wird in die Realität übersetzt.“ 552 Den Rezipierenden wird klar, dass es um die Konstellation solcher Situationen geht, in denen Warnungen und Aufklärung nutzlos sind und in denen Hilfeleistungen sowie Maßnahmen eher Probleme als Lösungen hervorbringen. Die Protagonistin Blessing wird z. B. mehrmals gewarnt. Dennoch unternimmt sie ihre Meeresreise nach Europa, nachdem sie sich für die Überfahrtsfinanzierung prostituiert hat. Schließlich ertrinkt sie mit ihren beiden Kindern, bevor sie ihr Ziel erreicht hat. Aus dieser Perspektive sind Rezipierende imstande, den Tatbestand auf diejenigen Flüchtlinge wiederum zu projizieren, die sich nicht abschrecken lassen, wenn Fernsehspots ertrinkende Menschen und Flüchtlingstragödien zeigen. Wie gesehen bezieht sich die Teilnahme der Rezipierenden in Formen text‐ zentrierten Theaters vorwiegend auf die mentale Aktivität. Das kognitive System entwirft auf der Grundlage der geschriebenen/ gesprochenen Sprache hypothetische Modellwirklichkeiten, 553 die der Ausgangspunkt einer potenziel‐ len kritischen Hinterfragung sowohl des fiktiven Inhalts als auch der realen 219 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 554 Kevin Rittberger: Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung, a. a. O., S. 91. 555 Karl Otto Conrady: „Reminiszenzen und Reflexionen“. In: Siegfried Unseld: Wie, warum und zu welchem Ende wurde ich Literaturhistoriker? Eine Sammlung von Aufsätzen aus Anlass des 70. Geburtstags von Robert Minder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 39-78, hier S. 58. soziokulturellen Wirklichkeit sein können. In diesem Zusammenhang ist Ritt‐ berger der Ansicht: „man müsste einen neuen Blick entwerfen! Dieser neue Blick dürfte nicht enteignet werden! Und er würde für alle lesbar sein! “ 554 In diesem Sinn können die Formen des dramatischen Theaters „die ihnen mögli‐ chen Aufgaben wahrnehmen: Bewusstseinsklärung, Bewusstseinserweiterung, Differenzierung des menschlichen Selbstverständnisses, Sensibilisierung der Welterfahrung, Aufbrüche in Neuland, Innovation, Irritation des jeweils Verfes‐ tigten.“ 555 Theater im postdramatischen Kontext erlebt eine Umstrukturierung des Schaffens sowie eine zunehmend andere gesellschaftliche und politische Dimen‐ sion abseits des dramatischen Theaterverständnisses. Mit den vorhergehenden Abschnitten wurde beabsichtigt, Schlingensiefs Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche und Aktion 18, „tötet Politik! “, die formal sowie inhaltlich aufeinander verweisen, historisch in das sozialkritische und politische Theater einzuordnen, wodurch der Blick auf die Frage gerichtet wurde, in welchem Verhältnis der theatrale Schauplatz und die Wirklichkeit zueinander stehen. Es liegt nahe, dass sich bestimmte Theaterformen im historischen Ver‐ lauf zunehmend sachlich-wirklichkeitsgetreu und realitätsbetonter ausrichten, bis - von dem rein Fiktiven über das Dokumentarische - die Grenze zwischen Fiktion und Realität überschritten wird. Die neuen dokumentarisch-perfor‐ mativen Theaterformen postdramatischer Ausprägungen funktionieren nicht länger - wie etwa das Zeitstück der 1920er- oder das Dokumentartheater der 1960er-Jahre - sozialkritisch und politisch innerhalb des fiktionalen Schauplat‐ zes von Theater, sondern finden unmittelbar im realen gesellschaftlichen Leben statt, provozieren und stellen eine Wirklichkeit her. 2.2.2.2.3. Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche Als 1999 die Freiheitliche Partei (FPÖ) in den Nationalratswahlen als zweit‐ stärkste Partei hervortrat, obgleich sie für ihre rechtsextreme Rhetorik der Fremdenfeindlichkeit bekannt war - was im Februar 2000 zu einer Regierungs‐ koalition zwischen der Volkspartei (ÖVP) und der FPÖ führte -, geriet Öster‐ reich ins Kreuzfeuer internationaler Kritik. Kontakte zu anderen EU-Mitglieds‐ staaten wurden vorübergehend eingeschränkt. Vier Monate später, im Juni 2000, folgte Schlingensief der Einladung des Intendanten Luc Bondy zu den Wiener 220 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ Festwochen und inszenierte das Theaterprojekt Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche, mit dem er die damalige politische Sachlage thematisierte. Die Theateraktion wurde durch den Filmemacher und Autor Paul Poet dokumentiert und erschien im gleichen Jahr als Film unter dem Titel Ausländer raus! Schlingensiefs Container (2000). Zudem erschien Schlingensiefs Ausländer raus (2000), eine von Matthias Lilienthal und Claus Philipp heraus‐ gegebene illustrierte Dokumentation dieses Projekts. Beide Quellen bilden die Grundlage für die vorliegende Analyse von Schlingensiefs Container, wie die sozialkritische Theateraktion von Schlingensief im Folgenden bezeichnet wer‐ den soll. Sie ist als postdramatisch einzustufen, weil sie sich vom dramatischen bzw. klassischen Theaterverständnis deutlich abhebt. Abbildung 20: Eindruck der Wienaktion „Bitte liebt Österreich“ (2000, Foto: Baltzer) Schlingensiefs Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche fand im Kontext der Wiener Festwochen im Juni 2000 auf dem Herbert-von-Kara‐ jan-Platz in Wien statt. Vom 9. bis 16. Juni 2000 stellte Schlingensief einen Container mit der Aufschrift „Ausländer raus“ vor den Haupteingang der Wiener Staatsoper. Die Aufschrift spielte auf die Fremdenfeindlichkeit der rechtspopulistischen Partei FPÖ an. Auf dem Containerdach wurden blaue Fahnen gehisst, während an den Wänden Wahlplakate der FPÖ angebracht wurden. Schlingensief wollte dadurch die Partei auf eine subversive Art und 221 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik Weise beim Wort nehmen. Beschwerden seitens der FPÖ waren vergeblich. Die Aktion begann und wurde von einer großen öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet: Zwölf aus verschiedenen Bundesländern Österreichs kommende Asyl‐ werber_innen, die auf ihren Asylbescheid warteten, zogen für eine Woche in den aufgestellten Container ein. Die Aktion bezog sich direkt auf die TV-Show Big Brother, die über mehrere Staffeln lief und zu diesem Zeitpunkt von dem Sender RTL II in Österreich gezeigt wurde. Sie zitierte damit viele Elemente dieses ebenfalls stark umstrit‐ tenen TV-Sendeformats der Medienindustrie. Die Insassen des Containers wur‐ den durchgehend gefilmt, wodurch dem Publikum ein tiefer Einblick in die Privatsphäre der Teilnehmenden gewährt wurde. So konnte auf einer eigens eingerichteten Internetseite unter www.auslaenderraus.at auf einem Livestream mitverfolgt werden, wie die Teilnehmenden durch das aktiv am Aufführungsab‐ lauf teilnehmende Publikum abgewählt und abgeschoben wurden: Am Container war eine Gebrauchsanweisung angebracht, die lautete: „Wählen Sie Ihren Aus‐ länder! Wählen Sie seine Nummer! Schmeißen Sie ihn aus dem Land! Jeden Tag werden 2 abgeschoben! “ Das Auswahlverfahren konnte jeden Tag per SMS oder Internetvoting vorgenommen werden. Abschiebungen, korrespondierend mit dem Titel der Aktion, fanden angeblich tatsächlich statt und erfolgten unter der Anmoderation von Schlingensief. Die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst blieb im Verlauf der gesamten Aktion unklar. Die Inszenierung voll‐ zog sich an einem Schauplatz, an welchem sich ein aktiver Austausch zwischen Akteur_innen und Passant_innen abspielte. Vor Ort lud Schlingensief Menschen ein, vorbeizukommen, um sich die Containerbewohner_innen anzuschauen. Interessierte Passant_innen kamen näher, besahen sich veränderte Biografien der Asylsuchenden, die auf den um den Container herum errichteten Bauzaun Plakaten aufgehängt waren. Das Geschehen im Container konnten Passant_innen entweder über an Außenwänden des Containers befestigten Fernsehbildschirmen live oder durch einen Schlitz in der Wand beobachten. Tourist_innen wurden von Schlingensief gebeten, Fotos zu machen und diese in ihr Heimatland zu schicken. Er kom‐ mentierte und behauptete, die Veranstaltung sei ernst zu nehmen. Er erweckte dabei den Eindruck, als ob es um eine Veranstaltung der FPÖ ginge. Es kam zu heftigen politischen Auseinandersetzungen, Anfeindungen, Demonstrationen sowie wiederholten Attacken von rechten wie linken Gruppierungen, die versuchten, den Container zu stürmen oder in Brand zu setzen. Schlingensief sorgte zugleich dafür, dass die Asylsuchenden während des Aktionsablaufs von Künstler_innen und Politiker_innen besucht wurden - un‐ ter anderem von dem Schauspieler Josef Bierbichler, dem Regisseur Peter Sellars, 222 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 556 „Ich liebe Österreichmontiert“ von Elfriede Jelinek aus Texten der Asylanten von „Bitte liebt Österreich! " mit Hilfe von Mario Rauter“. http: / / www.elfriedejelinek.com/ fkaspe rl.htm - letzter Zugriff: 29.07.2017. 557 Hamburger Morgenpost 2000: Schlingensief - Aktion in Wien programmgemäß been‐ det http: / / www.mopo.de/ 19418932 - letzter Zugriff: 29.07.2017. 558 Jens Jessen: „Warten auf das Böse. Aber bei ‚Big Brother‘ wollte es sich noch nicht zeigen“. In: DIE ZEIT Nr. 24 vom 08.06.2000, S. 41. dem Philosophen Peter Sloterdijk, dem Schriftsteller Doron Rabinovici und der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, wobei diese gemeinsam mit den Asylsuchenden ein Theaterstück verfasste. In Paul Poets filmischer Dokumentation meinte Jelinek nach ihrer Begegnung mit den Asylsuchenden: „Wir haben zusammen geschrieben, und zwar - irgendwie ist mir das so plötzlich gekommen, ich hab’ gesagt, sie sollten jeder ein paar deutsche, deutschsprachige Sätze aufschreiben, und daraus wurde dann das Kasperltheater vor großem Publikum.“ Sätze wie „Ich bin die Frau Magister Heidemarie Unterreiner. Morgen komme ich und esse Menschen“, „Unser größter Wunsch ist, Schauspieler zu werden. Bitte helfen Sie uns zu dieser Möglichkeit. Danke! “ 556 waren der Kern der Kasperltheater-Komposition. Am Ende der Aktion am 17. Juni 2000 meldete die Hamburger Morgenpost, dass Schlingensiefs Aktion in Wien „programmgemäß beendet“ wurde. Von den ursprünglich zwölf Asylbewerbern sei am Ende ein Mann aus Sri Lanka übrig geblieben. Er soll die Möglichkeit erhalten haben, eine Österreicherin zu heiraten, um so im Land zu bleiben. Die anderen elf Flüchtlinge seien im Zuge der Aktion per Telefonwahl abgeschoben worden. 557 Die Vorgänge in dieser Theateraktion wären einigermaßen unproblematisch gewesen, wenn der theatrale Schauplatz den institutionellen Rahmenbedin‐ gungen von Kunst wie Rittbergers Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung entsprochen hätte und von der Lebenspraxis abgehoben gewesen wäre. Spannender ist die gesellschaftliche bzw. politische Kontextualisierung: Ausländer raus! Schlingensiefs Container ist eine ironische, subversive und künstlerisch-politische Antwort auf die Fremdenfeindlichkeit, die vom gesell‐ schaftlichen Alltag bis in die Politik präsent war und ist. „Sinnfälliger lässt sich kaum die Verschränkung zwischen dem inszenierten Zynismus des Fernsehens und dem objektiven Zynismus einer Gesellschaft zeigen, die Asylpolitik nach ihrer Mehrheitsfähigkeit beurteilt, unter Absehung von moralischen Werten.“ 558 Vor diesem Hintergrund kommt deutlich zum Ausdruck, dass Schlingensiefs Theateraktion als sozialkritisch und dokumentarisch einzustufen ist. Der gegen‐ kulturelle Effekt wird dadurch erzielt, dass die Aktion, um auf das Alltagsleben zu wirken, in ihrer sozialkritischen Verfahrensweise ein ungewöhnliches Ge‐ flecht von gesellschaftlicher bzw. politischer Wirklichkeit und Kunst herstellt 223 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 559 Vgl. Erwin Piscator: Schriften I. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft. Hg. von Ludwig Hoffmann, 1968, S. 181-182. 560 Catherina Gilles: Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief. Würz‐ burg: Königshausen & Neumann 2009, S. 53. 561 Ebd., S. 50. und sich nicht von vornherein ausschließlich als Kunst präsentiert. Auf diesen Aspekt hat bereits Piscator hingewiesen, wenn er das Theater nicht nur als Spiegel der Zeit auffasst, sondern als Mittel, die Zeit zu verändern. 559 2.2.2.2.4. Gegenkulturelle Sozialkritik im postdramatischen Theater Max Frisch hatte in Andorra (1961) auf die verhängnisvollen Resultate von Vorurteilen und Fremdenhass hingewiesen. Obwohl fast alle Andorraner Andri, das Opfer des Rassenhasses, durch ihre Worte und Taten bis zu seiner Hinrich‐ tung an den Pranger stellen, beteuern alle Mitschuldigen im Nachhinein ihre Unschuld. Ähnlich bringt Schlingensief diese erneut zunehmende Politisierung der Rassenideologie im 21. Jahrhundert ans Licht. Wie in Andorra ist niemand in der gegenwärtigen Lebenswelt dazu bereit, sich zu der entehrenden und beschämenden Rolle des modern-bürokratisierten und politisierten Rassisten zu bekennen. Somit ist Schlingensiefs „Ausländer raus! “ als gegenkulturell zu er‐ achten, denn die Theateraktion berührt das Verschwiegene, das Verdrängte und das Tabuisierte: „Bitte liebt Österreich hat irgendwo in der gesamtwienerischen Befindlichkeit ins Schwarze getroffen. Da, wo es weh tut.“ 560 So lässt sich leicht begreifen, warum diese Theateraktion bis heute von manchen als skandalös angesehen wird. Die Zeichenverwendung, der theatrale Code und die Fakten dieser Theateraktion funktionieren nach dem Prinzip des dokumentarischen Theaters, das aus authentischen Belegen besteht, die in diesem Zusammenhang einen ebenso subversiven wie entlarvenden Sinn erhalten und Reaktionen auslösen: Fahnen der FPÖ und ein Transparent der Kronen Zeitung, die schon im Vorfeld der Aktion die Wiener Kulturverantwortlichen und Luc Bondy als den Leiter der Festwo‐ chen aufs Heftigste attackiert hatte, werden am Container befestigt. Österreichische Fremdenführerinnen werden im Laufe der folgenden Tage Christoph Schlingensief davon zu überzeugen versuchen, dass man Bilder wie diese vermeiden müsse, da amerikanische und japanische Touristen die dann mit nach Hause brächten. 561 Einmal mehr zeigt sich die Norm, wenn herrschende Fremdenfeindlichkeit verschleiert, verschwiegen und tabuisiert werden soll, damit nichts an die Öffentlichkeit gelangt oder im Ausland Gehör findet. Zur Gegenkultur gehört Schlingensiefs Theaterprojekt deshalb, weil er diese Fremdenfeindleichkeit auf 224 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 562 Vgl. Catherina Gilles: Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief, a. a. O., S. 52. 563 Matthias Lilienthal, Claus Philipp (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 106. 564 Susanne Hochreiter: „Den Skandal erzeugen immer die anderen. Überlegungen zu künstlerischen und politischen Strategien Christoph Schlingensiefs“ a. a. O., S. 442. einem öffentlichen, realen Schauplatz inszeniert. Ein anderes Merkmal dieser Theateraktion, das für das dokumentarische Theater ebenfalls relevant ist, ist die Entgrenzung ihrer Modellhaftigkeit, die es ermöglicht, die Thematik dieser Inszenierung auf institutionelle, kommunale, regionale, nationale und internationale Ebenen zu übertragen. Durch dieses übertragbare Modell soll das Publikum genötigt werden, bereits Bekanntes wieder neu und anders zu sehen sowie Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen ver‐ schiedenen gesellschaftlichen und geopolitischen Begebenheiten herzustellen. Catherina Gilles bemerkt hier, dass die Wiener Containeraktion auf die EU-weite Praxis des Umgangs mit Asylwerber_innen, auf die Boote an den Küsten Italiens und der Kanaren, auf die Bilder von Razzien und Auffanglagern nicht weniger als auf die ausländerfeindlichen Parolen der FPÖ gezielt habe. 562 Die Inszenierung Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche erschuf somit eine bestimmte Wirklichkeit, die nicht eine Repräsentation, son‐ dern eine unmittelbare Erfahrung des Realen herstellte. Deswegen konnte diese Theateraktion damals mit einer xenophoben FPÖ-Aktion verwechselt werden, da vieles auf die FPÖ hinzudeuten schien: „[…] wir haben die FPÖ beim Wort genommen. Wir haben [ihre] Plakate aufgehängt, [ihre] Plakate gezeigt, die Volksverhetzung allergrößter Sorte sind.“ 563 Außerdem dauerte die Aufführung wesentlich länger - sieben Tage - als eine übliche Theateraufführung nach dem Modell des dramatischen Theaters. Das Gegenkulturelle bezieht sich ferner auf den theatralen Schauplatz als Raum, in dem die Aufführung stattfindet: auf den Herbert-von-Karajan-Platz neben der Staatsoper in Wien, außerhalb der institutionellen Kunsteinrichtung. Diese Theateraktion findet, wie andere ähnliche Formen performativer Art, an einem ungewöhnlichen Ort statt - einem Ort des realen Lebens - und mischt sich somit in den Alltag und in politische Begebenheiten ein. Die Sozialkritik der Theaterkunst dagegen vollzieht sich üblicherweise innerhalb des institutio‐ nellen Rahmens der Kunst. Wie Susanne Hochreiter jedoch betont, regt Kunst dann auf, wenn sie sich außerhalb des künstlerischen und sozialen Rahmens bewegt, der ihr zugestanden wird. Kunst, die nach bestehender institutioneller und konventioneller Logik als akzeptabel gilt, ist diskurskompatibel. 564 225 2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik 565 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 132. 566 Für die feedback-Schleife der Aktion, die generell die Reaktion auf Schlingensiefs Provo‐ kation und Skandal und nicht eine Inszenierungsstrategie bezeichnet, siehe Matthias Lilienthal, Claus Philipp (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus, a. a. O., S. 49 und S. 81 (Containerreport I & II); S. 82 (Containertagebuch); S. 90-94 (Im Land des Meuchelns); S. 95 (Brief von Peter Marbeo an Schlingensief); S. 98-110 (Zeit im Bild 3, ORF, 13.06.2000). 567 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 62. 568 Vgl. Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensief ’s Theatre and the African Opera Village. Rediscovery (of African artistic practices)“. In: Fabian Lehmann, Nadine Siegert, Ulf Vierke (Hg.): Schlingensief ’s Crossing of Wagner and Africa. Wien: Verlag für Moderne Kunst 2017, S. 169-174. Hinzu kommt die Frage des Körpers als Zeichenträger bzw. als materiel‐ les Zeichen. 565 Hier sind es nicht Schauspieler_innen, die Asylwerber_innen spielen: Die zwölf Akteur_innen in Schlingensiefs Aktion sind tatsächlich Asylwerber_innen und damit als Zeichenträger dieser Theateraktion im perfor‐ mativen Sinn selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend. Sie sind der authentische Ausdruck dessen, was Asylwerber_innen ausmacht, indem sie die Wirklichkeit ihrer Problematik herstellen. Damit überschreitet Schlingensiefs Theateraktion die Grenze zwischen Kunst und Alltag. Sie vollzieht Gegenkultur - ein Geflecht von Kunst, Alltag und Politik. Die Reaktionen und Kommentare, d. h. die „feedback-Schleife“, 566 welche die Inszenierungsstrategien dieser gegen‐ kulturellen Aktions-Performance-Künste im postdramatischen Theater erheb‐ lich bestimmt, funktioniert in diesem Zusammenhang gut und schließt alles und jeden mit ein: Bevölkerung, Politiker, Touristen, Journalisten, Fernseh- und Radiosendungen, Presse, Internetzuschauer, Demonstranten, Sicherheitsleute etc. Diese Aktivierung des Publikums, die Brechts Absicht in seinem epischen Theater übertrifft, wird durch die feedback-Schleife-Strategie ermöglicht, führt zu einem Rollenwechsel und zu einer realen Gemeinschaftsbildung rund um die gerade stattfindende Aufführung. 567 Die Inszenierungen Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche und Aktion 18, „tötet Politik! “ sind am besten als eine Verschmelzung von Kunst und Nichtkunst zu verstehen, wobei Inszeniertes und Nichtinszeniertes untrennbar miteinander verwoben sind und nicht einzeln betrachtet werden können. 2.2.3. Aktion 18, „tötet Politik! “: ein grenzenloser Theaterschauplatz In meinem Artikel „Christoph Schlingensief ’s Theatre and the African Opera Village. Rediscovery (of African artistic practices)“ 568 habe ich aus postdra‐ 226 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 569 Vgl. Koku G. Nonoa: „Jenseits der Freizeitgattungen: Christoph Schlingensiefs Aktion 18 - „Tötet Politik! ““. In: Teresa Kovacs, Koku G. Nonoa (Hg.): Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater. Eine transdisziplinäre Annäherung, Forum Modernes Theater, Tübingen: Narr Francke Attempto 2018, S. 199-220. 570 „Schlingensief will Walser-Bücher verbrennen. Aktion 18" auf Theaterfestival, 6. Juni 2002, http: / / derstandard.at/ 973710/ Schlingensief-will-Walser-Buecher-verbrennen- letz‐ ter Zugriff: 14.09.2017. matischer sowie transkultureller Perspektive Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ in Verbindung mit seinem Operndorf Afrika (2010) in Burkina Faso behandelt: Ausgehend von ihrer Einbettung in gesellschaftliche und politische Angelegenheiten habe ich in dem genannten Artikel die Aktion 18, „tötet Politik! “ mit einigen vorkolonialen Kunstformen in Afrika und somit mit dem Operndorf Afrika verglichen. Dabei habe ich kurz gezeigt, dass vorkoloniale künstlerische Erscheinungsformen in Afrika nicht nur mit dem Alltagsleben verschränkt sind. Dabei erweisen sich in einem solchen Kontext Distinktions- und Identifikationsversuche zwischen Kunst und Nichtkunst sowie zwischen Unterhaltungs- und Transformationsfunktion bei Schlingensief als obsolet. Auch in meinem Aufsatz „Jenseits der Freizeitgattungen: Christoph Schlingen‐ siefs Aktion 18 - „Tötet Politik! ““ 569 habe ich einige Aspekte postdramatischer Dramaturgie der künstlerischen Entgrenzung, der Störpraktiken und -strate‐ gien, der Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit und der transkulturellen Kompo‐ sition bis zum postdramatischen Theatersynkretismus ansatzweise untersucht. Die nachstehende Analyse ist eine Erweiterung und Vertiefung von meinen Untersuchungen in beiden erwähnten Artikeln. Die Vorgänge in der Aktion 18, „tötet Politik! “ sind vielfältig und entsprechen intendierten Zielen der Institutionskritik der bereits behandelten künstlerischen Strategien und Praxen von Happening, Fluxus und Installation. Schlingensief radikalisiert und entwickelt aber diese Strategien und Praxen - verbunden mit aktuellem und gelebtem Realitätseinbezug sowie soziokultureller und politischer Wirkungsästhetik - weiter. Der direkte Bezug der Aktion 18, „tötet Politik! “ im Jahr 2002 auf die Zeit sowohl der Bundestagswahlen als auch des Festivals „Theater der Welt“ ist Ausdruck einer besonderen performativen, zeiträumlichen Kontextualisierung: die Zeit eines sich wiederholenden politischen und kulturel‐ len Ereignisses. Wie die Dionysien in der griechischen Antike ist das Festival „Theater der Welt“ ein kulturell wiederkehrendes Ereignis, das Schlingensief gerade wegen des Zusammenfallens mit den Bundestagswahlen eine geeignete Möglichkeit bot, sich mit gegenwärtig brennenden politischen Fragen szenisch und performativ zu befassen. Seine Inszenierung „sei aus aktuellem politischen Anlass zusätzlich in das Programm [des Festivals] aufgenommen worden.“ 570 227 2.2.3. Aktion 18, „tötet Politik! “: ein grenzenloser Theaterschauplatz Die Aktion 18, „tötet Politik! “ paraphrasiert in inszenierter, performativer und vor allem subversiver Weise die Wahlkampfstrategien der FDP während der deutschen Bundestagswahlen 2002. Zunächst ging Schlingensief von der Idee aus, den FDP-Bundestagwahlkampf durchzuspielen und die Parteimitglieder dabei zum Mitspielen zu ermuntern. Im Zuge der Wahlkampagne ging es der FDP um das „Projekt 18“, welches das Erreichen von 18 % der Stimmen der Wähler_innen zum Ziel hatte und von den Parteirepräsentanten - wie Guido Westerwelle, Rainer Brüderle und Jürgen Möllemann - mit verschiedenen Wahlkampfmethoden propagiert wurde: Westerwelle setzte z. B. auf einen ausgedehnten Spaßwahlkampf, während Möllemann antisemitisch-konnotierte Äußerungen verwendete. Darauf antwortete Schlingensief mit der „Aktion 18“, deren Zusatz „tötet Politik“ sich auf das Verhindern dieser politisch ins‐ trumentalisierenden Vorgehensweise bezog. So startete er am 22. Juni 2002 seine symbolische Deutschlandtour zuungunsten der FDP. Die Internetseite www.aktion18.de wurde eingerichtet und in die Aktion eingebunden, um über tägliche Abläufe der Aktion zu informieren und geplante Vorgänge an‐ zukündigen. Auch Mitbürger_innen durften auf dieser Aktionswebseite ihre Meinung hinterlassen. Zusätzlich wurde der Aktionsablauf in einem Aktions‐ tagebuch dokumentiert und archiviert. Die gesamte Inszenierung sowie ihre Dokumentation erfuhren ferner eine (inter-)mediale Unterstützung seitens der Informationssowie Kommunikationsmedien: Printpresse, Pressekonferenz, Internet usw. Damit wurde die grenzenlose, installationsartige Handlungsfläche der Inszenierung nicht nur ausgedehnt. Zugleich wiesen die Vorgänge einen direkten Bezug zur nichtkünstlerischen Lebenswelt auf. Sie kennzeichneten sich zudem durch die Aktivierung und durch den kalkulierten Einbezug von der Bevölkerung, von Politiker_innen sowie von realen staatlichen Institutionen wie etwa der Anwaltschaft und der Polizei. Der erste Aktionstag trug den Titel Wut und sollte den Ruck ankündigen, der durch Deutschland im Zuge dieser Aktion gehen würde. Schlingensief und sein Team bezeichneten sich als Nationalliberale. In der Duisburger Fußgängerzone bauten sie einen schmucklosen Stand auf und begannen ihren Wahlkampf: zu sehen waren FDP-Werbematerial und insbesondere Videos mit afrikanischen Ritualen. FDP-Sonnenschirme ließen sie aber ohne Aufsicht hundert Meter von ihnen entfernt stehen. Allmählich sammelten sich Passant_innen. Irgendwann fing Schlingensief an zu brüllen - „Wer uns beschmutzt, den müssen wir verhexen“ -, während er Material für sein geplantes Voodoo-Ritual in der Achenbachstraße 56 vorbereitete. Es kam beinahe zu einem Straßenkampf, als Jungliberale zum Gegenangriff rüsteten. Schlingensief konnte sie aufhalten. Der nächste Tag stand unter dem Titel Schmutz und erfuhr seinen Höhepunkt 228 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 571 Christoph Schlingensief: „Aktion 18 / Aktion 18 Lesereise - „Tötet Politik“. Schlingen‐ sief, http: / / www.schlingensief.com/ projekt.php? id=t038 - letzter Zugriff 3.11.2017. 572 Ebd. im Duisburger Theater. Dort veranstaltete Schlingensief eine Sonderausgabe des QUIZ 3000, eine Adaption der aus der Medienkulturindustrie entlehnten TV-Show WER WIRD MILLIONÄR. Die adaptierte TV-Show fing wie eine Wahlkampfveranstaltung der FDP mit einem großen Foto von Möllemann am Bühnenrand an. Später wandelte sich die Show aber zuungunsten der FDP und erwies sich sehr schnell als provokativ: So stellte der Quizmaster Schlingensief seinen Kandidat_innen FDP-spezifische Fragen, welche die Partei diskreditier‐ ten. Dann bohrte er Möllemanns Foto Löcher in die Augen, hielt das Bild vor sein Gesicht, blickte durch die gebohrten Löcher ins Publikum und fragte, ob sich der Blick verändert habe. Währenddessen wurde das Licht auf der Bühne allmählich tiefblau, worauf Schlingensief meinte, jetzt Röntgenaugen zu haben und versuchen zu wollen, Juden und jüdische Talkmaster im Saal zu erkennen. Spätestens ab diesem Moment war das Publikum verwirrt. Als Höhepunkt der Veranstaltung forderte er die Zuschauer_innen auf, seinen Ausruf „Tötet …“ durch den Namen „Jürgen Möllemann“ zu ergänzen, was die Veranstaltung zum Ausufern bewog. Das geplante Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma WEB/ TEC in der Achenbachstraße 56 wurde am 24. Juni 2002 durchgeführt. Mit seinem Team begab sich Schlingensief in einem gelben US-Schulbus auf den Weg zum Zielort. Vor ihnen fuhr ein ortskundiger Fahrer den Requisitentransporter. Doch bevor Schlingensief und sein Team die Firma erreichten, gerieten sie in der Düsseldorfer Achenbachstraße in eine demonstrierende Ansammlung von Menschen, die ihre Weiterfahrt erschwerten. Die unerwartete Situation provozierte in Schlingensiefs Gruppe eine Orientierungslosigkeit, die zunahm. Schlingensief verdächtigte Möllemann, seine Aktion verhindern zu wollen: Er habe „eine längst totgeschwiegene Logik wieder belebt. Um Wählerstimmen zu bekommen, muss man den Antisemiten geben. ‚Deportationen jetzt! ‘“, 571 so Schlingensief. Er und sein Team stiegen aus und bahnten sich den Weg durch die Demonstranten. Der Polizeieinsatzleiter ging auf Schlingensief zu, warnte ihn vor eventuellen Gesetzesverstößen und versprach zu reagieren „sobald das Deutschland Möllemanns beschmutzt werde. Aber genau das ist der Haken, an dem wir gerade zappeln, das ist der Fehler im System! Beschmutzt worden sind doch wir! “ 572 - erwiderte Schlingensief und begann mit seinem Ritual vor dem Eingang der Firma Web/ Tec. Es ging Schlingensief um ein Ritual der Sauberkeit und der Reinigung, die dieser Ort benötigte. Eine Flagge Israels und eine Strohpuppe, welche Altlasten symbolisieren sollte, mussten entsorgt werden. Die Strohpuppe wurde mit einer Achse des Bösen gleichgesetzt und 229 2.2.3. Aktion 18, „tötet Politik! “: ein grenzenloser Theaterschauplatz 573 Ebd. 574 Vgl. Sybille Krämer: „Performance - Aisthesis. Überlegungen zu einer aisthetischen Akzentuierung im Performancekonzept“, a. a. O., S. 134. zusammen mit FDP-Werbematerial in einer Stichflamme entzündet. Die Polizei musste löschen. Auch 20 Kilogramm Federn wurden verteilt, während 7000 Patronenhülsen und stinkender Fisch in den Garten von Möllemanns Firma ge‐ worfen wurden. Das Ende war kaum noch überschaubar. Es folgten Verhaftung, Aufnahme der Personalien sowie Freilassung. Währenddessen hielt Möllemann im Düsseldorfer Landtag eine Pressekonferenz zu den von Schlingensief im Duisburger Theater inszenierten Vorgängen: Möllemann beschuldigte Schlin‐ gensief der Volksverhetzung und der Anstiftung zu einer Straftat. Darüber hin‐ aus kritisierte er das Festival „Theater der Welt“, Schlingensief zu unterstützen. Anschließend wurde eine von Schlingensief angekündigte Bücherverbrennung in den Düsseldorfer Rheinauen von Polizeihubschraubern observiert. Daraufhin legte Schlingensief in der Bonner Fußgängerzone ein Kondolenzbuch zum Tod der FDP auf, beendete die Aktion vorzeitig und behauptete: Es bedurfte nicht des angedachten Aktionszeitraums von sieben Tagen, um die so massiven und fadenscheinigen Reaktionen seitens der Politik […] hervorzurufen. Es sind gerade diese Reaktionen, die uns in der Hoffnung bestärken, dass Kunst im politischen Raum noch Wirkung erzielen kann. 573 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 2.2.4.1. Schlingensiefs Theater jenseits der Freizeitgattungen Jenseits der Freizeitgattungen entspricht dies den vorhin erwähnten opera‐ tiv-strategischen Methoden und Praxen des radikalen Performancekonzepts im Sinne von Sybille Krämer. Dadurch wird zunächst das binäre Denken in den Vordergrund gerückt, um dann anhand subversiver Kraft destabilisiert und dekonstruiert zu werden. Zugleich wird dabei auf die Grenzen dichotomischer Begriffsbildungen und Wahrnehmungskategorien verwiesen, 574 die vor allem zur Erreichung bestimmter religiöser, ideologischer und/ oder politischer Ziele gebildet und instrumentalisiert werden. Zweitens ist Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ nicht nur als ein operativ-strategisches Verfahren zu ver‐ stehen, sondern auch als eine performative Konstruktion; insofern bezieht 230 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 575 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 32. 576 Vgl. Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialis‐ mus? “. In: Laura Beck, Julian Osthues (Hg.): Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film. Bielefeld: transcript 2016, S. 155-163, hier S. 161. sie sich auf sich selbst, konstituiert sich und fungiert als Realität. 575 Aus dieser performativen Perspektive, die über die theatrale Textzentriertheit und über konventionelle Gattungsnormen hinausgeht, lassen sich verschiedene Konzeptualisierungen und Erscheinungsformen von dem, was mit dem Ober‐ begriff ‚Kunst’ bezeichnet wird, als avantgardistisches Phänomen mit multi‐ funktionalen Aufgaben fassen: Zum einen erfüllt ‚Kunst’ eine Freizeitbzw. Unterhaltungsfunktion und trennt sich vom Alltagsleben sowie von der Realität. Zum anderen ist sie verpflichtend, eingreifend, didaktisch, therapeutisch mit spirituell-ritueller sowie transformativer Funktion und fusioniert mit den realen Alltagshandlungen der soziokulturellen und politischen Lebenswelt. In diesem Kontext kann beobachtet werden, dass tradierte Wahrnehmungskategorien von Kunst sich nicht mehr eignen, um zu bestimmen, was Kunst ist und was nicht. 576 2.2.4.2. Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes Die Akzentverschiebung seit den 1960er-Jahren zu Formen der Aktions-, Instal‐ lations- Happening- und Performancekünste, die in vielen postdramatischen Theateransätzen als Erfahrung des Realen zum Ausdruck kommen, hat zur Entgrenzung bzw. Erweiterung des theatralen Schauplatzes bewogen. Angeregt durch ein wachsendes Bewusstsein bezüglich cultural performance (Milton Sin‐ ger) bzw. cultural turn als Bestandteil kultureller und ritueller Praktiken erpro‐ ben Künstler_innen seit den 1960erbzw. 1970er-Jahren abseits institutioneller Rahmenbedingungen von Kunst andere Kontextualisierungen von Zeit, Raum, Aktion. Solch eine Form postdramatischer Produktions- und Wirkungsästhetik wird überwiegend performativ, installativ, situationistisch sowie aktionistisch angelegt, um Alltagshandlungen und öffentliche Räume hic et nunc zu aktivieren und zu steuern. Schon im Rahmen von Schlingensiefs Containeraktion und der damit ein‐ hergegangenen Kontroversen in der kulturellen und politischen Landschaft Österreichs lässt sich eine ständige Akzentverschiebung des Schauplatzes von einem Ort zum anderen beobachten; so kam es etwa am 13. Juni 2000 in den Abendnachrichten des ORF, der Zeit im Bild 3, zu einer Livediskussion zwischen Schlingensief, der Kultursprecherin der Wiener FPÖ Heidemarie Unterreiner, 231 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 577 Zeit im Bild-Interview: „Zeit im Bild 3, ORF, 13.06.2000“. In: Matthias Lilienthal, Claus Philipp (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus, a. a. O., S. 98-110, hier S. 102. 578 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 4-5. der Kultursprecherin der Wiener Grünen Friedrun Huemer und dem Kultur‐ sprecher der ÖVP Gerhard Salcher. Die Diskussion wurde zu einem Wortgefecht vor allem zwischen Schlingensief und Unterreiner. Unterreiner nannte Schlin‐ gensief einen politischen Agitator und kritisierte den Wiener Kulturstadtrat Peter Marboe (ÖVP), mit Steuergeldern eine Aktion zu finanzieren, die mit Kunst nichts zu tun hätte. Seinerseits warf Schlingensief der Kultursprecherin vor, noch nie in einem „richtigen“ Theater gewesen zu sein. Als Reaktion darauf richtete sich Unterreiner an Schlingensief wie folgt: „Sie wollen sich doch nicht mit einem echten Theatermacher vergleichen! “ „Ein rechter Theatermacher will ich ja auch gar nicht sein. Was soll denn das? “ erwiderte Schlingensief. Unter‐ reiner korrigierte ihn: „,Echterʻ hab ich gesagt. ,Echterʻ“! 577 Hier handelt es sich um eine typisch Schlingensiefsche Kommunikationsstrategie mit Wortspiel wie „rechter Theatermacher“ in Anspielung auf die FPÖ als rechte Partei und „echter Theatermacher“ in Bezug auf ein gewohntes, klassisches Theater. In der Tat geht Schlingensief in seinen gut einstudierten Inszenierungen mit ausgedehnten Möglichkeiten vor, um die Betroffenen zum Agieren bzw. zur Reaktion und Stellungnahme zu bringen. Dabei verortet sich der kontextualisierte theatrale Schauplatz in öffentlichen, nicht primär für Kunst vorgesehenen Räumen und hat vor allem kaleidoskopische Eigenschaften, wechselt viel und bietet schnell ändernde Folgen von verschiedenen Vorgängen, Akteur_innen, Dingen, Reak‐ tionen, Unvorhersehbarkeiten, Unbestimmtheiten etc. zur Schau. Die Aktion 18, „tötet Politik! “ funktioniert nach diesem kaleidoskopischen Modell: Sie spielte auf einem theatralen Schauplatz der realen Lebenswelt mit ihren öffentlichen Räumen. Schlingensief führte sein Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma durch, während Möllemann selbst im Düsseldorfer Landtag eine Pressekonferenz hielt. Unvorhersehbar war zudem, ob Schlingensiefs Tötungsaufruf in die Realität umgesetzt werde. Begleitet von ermittelnden Staatsanwälten in Berlin, Duisburg sowie Düsseldorf und unter polizeilicher Überwachung der Bücherverbrennung hielt Schlingensief auf diese Art und Weise die reale Öffentlichkeit in Atem. Und ebenso unerwartet wurde die Inszenierung vorzeitig beendet. Diese kaleidoskopischen Eigenschaften sind Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste, 578 die als typisch post‐ dramatische Kompositionsdispositive zu bezeichnen sind und verstärkt die Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Prozess im realen Leben lenken. In dieser Inszenierung steht der postdramatische Raum nicht im Dienst des dramatischen Theaterverständnisses und einer politisierenden Aktualisierung. Vielmehr ten‐ 232 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 579 Vgl. ebd., S. 291-292. 580 Vgl. ebd., S. 299 und S. 302. 581 Ebd., S. 303. diert das Theaterereignis wesentlich zur bildräumlichen Erfahrung 579 im Verlauf des Alltagslebens. Der räumliche Theaterschauplatz wird zu einer unbegrenzten und offenen Spielfläche ohne fixierte Rahmung oder Ausgrenzung der nicht‐ künstlerischen Außenwelt. Schlingensief macht den Raum seiner Inszenierung zu einem Kristallisationspunkt künstlerischer und alltäglicher sowie politischer Szenen, die einander beeinflussen bzw. miteinander interferieren und somit weitere unvorhersehbare Rückkopplungen anstoßen - in unterschiedlichen öffentlichen Räumen. Dabei schaffen auch die beteiligten Medien, die aufgrund ihrer aktiven Omnipräsenz ein konstitutiver Bestandteil dieser Inszenierung sind, ein szenisch-dynamisches und zeitraumübergreifendes Theatergebilde in der realen Lebenswelt. Die zeitraumübergreifende Montage wird dank dieser eingebundenen Medien zusammengehalten, ob während der Pressekonferenz im Landestag, der Berichterstattungen im Verlauf des Voodoo-Rituals vor Mölle‐ manns Firma, durch die Ermittlungen der Staatsanwälte an verschiedenen Orten oder durch die polizeiliche Beobachtung der symbolischen Bücherverbrennung. Die Theaterschauplätze in Schlingensiefs Containeraktion und Aktion 18, „tötet Politik! “ entsprechen der postdramatischen Herstellung und Nutzung von Bild- und Aktionsräumen auf öffentlichen Plätzen in realer Zeit - nach dem Vor‐ bild der bildenden Kunst. Somit werden sowohl Orte als auch Perspektiven bzw. Reaktionen der Beobachtenden miteinbezogen, sodass ein reiner kontemplati‐ ver Abstand unmöglich wird. 580 Auf diese Art und Weise gelingt es Schlingensief, nach Wunsch und Laune das Alltagsleben in seine Inszenierungen performativ einbrechen zu lassen. Der Einbruch des Lebens in die Inszenierungen geschieht gerade bei Schlingensief wie gewollt und zwar als Chance sowie Gelegenheit, um den ausgedehnten theatralen Schauplatz in einen Ort der performativen re‐ flektierenden Befragung soziokultureller, historischer, religiöser und politischer Gegebenheiten umzuwandeln: Die „räumliche Gegebenheit wird dabei zu einer Thematisierung der Kommunikation (nicht nur) beim Theatervorgang genutzt. Theater behauptet sich [diesbezüglich] als Ausnahmesituation als Distanznahme vom Alltäglichen.“ 581 In dieser Hinsicht sind Schlingensiefs Inszenierungen als Ereignisse liminaler Ausnahmesituationen aufzufassen, wo erst Vorgänge ihre Bedeutung und Wirksamkeit aufweisen. 233 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 582 Vgl. ebd., S. 305. 583 Vgl. ebd. 2.2.4.3. Wirklichkeitskonstituierende Ausnahmesituationen und -orte Schlingensiefs Theateraktionen weisen überwiegend einen Ereignischarakter auf. Diesbezüglich haben solche theatrale Ausnahmesituationen und -orte liminale Eigenschaften und befinden sich zwischen Kunst und Nichtkunst. Von dort geht die Kraft des gesellschaftlichen und politischen Anteils von Schlingensiefs Theateransatz aus, der auch als eigenartiges Theatre on Location aufzufassen ist. Eine Besonderheit des Theatre on Location besteht darin, dass es nicht in einem gewöhnlichen Theaterraum inszeniert wird. Es sucht nach allen möglichen Räumen, die „durch das Theater zum Sprechen gebracht“ werden. Lehmann unterscheidet zwei Varianten: Die eine Variante weist Spielstätten wie z. B. eine Fabrik auf, in der die Spieler_innen zwischen den sich dort befindenden Maschinen vor den Gerätschaften agieren. Ein anderes Beispiel: In einer Eisenbahn kann auch eine Reparaturhalle bespielt werden - und das Publikum findet sich ebenfalls einfach in der Öffentlichkeit platziert. Stühle oder Tribünen der Zuschauenden können vorhanden sein, ohne diesen Basi‐ scharakter der bespielten Räumlichkeit als Bühne zu verändern. Die zweite Variante bezieht sich auf den Einbau einer eigenen Bühne mit Dekorationen und Requisiten in dem Ort. In diesem Fall entsteht „eine Bühne in der Bühne, ein Verhältnis zwischen beiden wird geschaffen“, sodass mehr oder weniger deut‐ liche Widersprüche, Spiegelungen, Korrespondenzen hervorgerufen werden und auffallen können. 582 Schlingensief vermischt beide Varianten des Theatre on Location auf eine radikale Art, indem er anhand seiner feedback-Schleife- und Kommunikationsguerilla-Strategie die entsprechenden Räume aktiviert. In Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche und Aktion 18, „tötet Politik! “ schuf er einen ästhetisch-liminalen Wirklichkeitsbereich, der nicht eine Repräsentation, sondern eine unmittelbare Erfahrung des Realen herstellt. Bringt man die thematischen und räumlichen Korrespondenzen der jeweiligen Theateraktionen zusammen, so fällt ein wesentliches Merkmal des Theatre on Location auf, das auf die politisierte Atmosphäre der 1970er-Jahre zurückführt: Um ein Publikum damals vor Ort zu erreichen, wurden Theateraufführungen an ungewöhnliche Orte verlagert. 583 Die Inszenierung von Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche fand auf dem Herbert-von-Karajan-Platz außerhalb und zugleich neben einer institutionellen Kunsteinrichtung statt. Die Aneignung dieses Platzes war kein Zufall: Die Staatsoper steht für einen der prominentesten Plätze Österreichs, wo die politische und gesellschaftli‐ 234 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ che Elite Wiens zugegen ist. Zudem ist der Platz immer noch nach einer Person benannt, die mit der Ideologie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sympathisiert hatte. Somit ist die Inszenierung von Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche in Bezug auf die Fremdenfeindlichkeit semantisch hoch bedeutsam. Die Aneignung dieses Plat‐ zes lässt sich als Hervorhebung und Enthüllung von Korrespondenzen und Widersprüchen verstehen, wie es in der Aktion 18, „tötet Politik! “ feststellbar ist. Aktion 18, „tötet Politik! “ zitiert viele Elemente von Bitte liebt Österreich! Erste österreichische Koalitionswoche und knüpfte an Fragen zum Antisemitismus an. Die Veranstaltung der Sonderausgabe des QUIZ 3000 und die Aufforderung des Publikums im Theater Duisburg, den Ausruf „Tötet …“ durch den Namen „Jürgen Möllemann“ zu ergänzen, bewog in diesem Fall, das Politische in einer institutionellen Kunsteinrichtung in die Kunst zu interferieren. Beim Ausruf „Tötet…“ und bei der Antwort „Jürgen Möllemann“ ist Kunst - im Gegensatz zu Susanne Hochreiters Aussage - in diesem Zusammenhang innerhalb des künst‐ lerischen Rahmens des Duisburger Theaters nicht mehr politisch immunisiert. Möllemann antwortete bzw. reagierte darauf mit einer Pressekonferenz in einer politischen Einrichtung, dem Düsseldorfer Landtag, und verlangte Ermittlungen gegen Schlingensiefs Tötungsaufruf. Die Involvierung der ermittelnden Staatsanwälte an unterschiedlichen Orten, die Interaktion mit der Polizei während der Durchführung des Voodoo-Rituals vor Möllemanns Firma in Düsseldorf sowie die Präsenz der Journalisten und der Medien bezeugen, dass es Schlingensief mit der Aktion 18, „tötet Politik! “ gelungen ist, politische und staatliche Institutionen sowie deren Akteur_innen in Ausnahmesituationen zu verleiten. Gemäß dieser Lesart ist Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ - wie seine Containeraktion - als einzigartige Ausnah‐ mesituation aufzufassen, der ein Ereignischarakter inhärent ist. Die Aktivierung des Publikums im öffentlichen Raum durch Strategien einer feedback-Schleife, die einen Rollenwechsel mit realen Pro- und Kontra-Gruppen ermöglichen, betont den theatralen Ereignischarakter. [Diese Strategien] zielen immer wieder auf drei eng aufeinander bezogene Faktoren: (1) auf den Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern, (2) auf die Bildung einer Gemeinschaft zwischen diesen und (3) auf verschiedene Modi der wechselseitigen Berührung […]. So mannigfaltig die Strategien - innerhalb einer Inszenierung […] - auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Sie sollen nicht nur - wenn überhaupt - Rollenwechsel, Bildung und Zerfall von Gemeinschaften, Nähe und Distanz darstellen und bedeuten. Sie bewerkstelligen vielmehr, dass Rollenwechsel tatsächlich vollzogen werden, Gemeinschaften sich bilden und wieder zerfallen, Nähe oder Distanz herge‐ stellt wird. Dem Zuschauer werden Rollenwechsel, Gemeinschaftsbildung und Zerfall, 235 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 584 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 62. 585 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kom‐ munikationsguerilla. Berlin/ Hamburg: Assoziation A. 2012, S. 5. 586 Vgl. ebd., S. 10. Nähe oder Distanz nicht lediglich vorgeführt, sondern er erfährt sie als Teilnehmer der Aufführung am eigenen Leib. 584 Insbesondere durch Schlingensiefs feedback-Schleife-Strategien postdramati‐ scher Dramaturgie finden Rollenwechsel, Gemeinschaftsbildung und Zerfall, Nähe und Distanz im Verlauf derselben Inszenierung teils gleichzeitig und parallel (Möllemanns Pressekonferenz im Landtag und Schlingensiefs Voo‐ doo-Ritual vor Möllemanns Firma), teils im Wechsel (Schlingensief zieht sich zurück, während Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln) ohne Regiebzw. Inszenierungsanweisungen statt. Alle involvierten Protagonist_innen werden automatisch zu Co-Autor_innen der Aktion 18, „tötet Politik! “. Dabei beruht Schlingensiefs feedback-Schleife größtenteils auf künstlerischen Störstrategien. 2.2.4.4. Schlingensiefs künstlerische Störstrategie Schlingensiefs Störstrategie besteht aus einer Kombination von Methoden und Praxen von Fluxus, Happening-, Aktions-, Installationssowie Performance‐ künsten. Hinzu kommen viele Elemente der Kommunikationsguerilla und des Guerilla-Theaters. Der Strategie sowie der Praxis der Kommunikationsguerilla wohnt bereits ein sozialkritischer sowie politischer Anspruch inne. Mit Methode und Praxis der Kommunikationsguerilla wird beabsichtigt, andere Formen der politischen Auseinandersetzung zu schaffen. Dabei handelt es sich um Formen subversiver politischer Aktionen. 585 Die Kommunikationsguerilla lässt sich demnach als eine ästhetische Form politischer Interventionen auffassen, die zum Ziel haben, bestehende soziokulturelle, ökonomische politische sowie ideolo‐ gische Ordnungen der Machtverhältnisse zu erschüttern bzw. zu verändern. Anhand gezielter Interventionen in Kommunikationsprozessen reißt die Kom‐ munikationsguerilla Begriffe, Worte, ganze Sätze, problematische ideologische sowie politische Standpunkte etc. aus ihrem gewohnten Sinnzusammenhang und stellt damit neue, unkonventionelle kommunikative Assoziationen her. Dadurch werden auf subversive Weise bestehende Normen sowie Situationen, die meist als ordnungsgemäß unveränderbar betrachtet werden, in Abrede gestellt. Wie die Protagonist_innen der Kommunikationsguerilla macht sich Schlingensief die Strukturen der Macht zunutze, indem er Kommunikationszei‐ chen und -codes dekontextualisiert und verfremdet. 586 Seinen szenisch-perfor‐ 236 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 587 Truppe von Laienspielern/ Laienspielerinnen, die Agitproptheater macht bzw. Agit‐ prop-Stücke spielen. Agitprop-Stücke waren „Agitations- und Propagandastücke der kommunist[ischen] Gesellschaftslehre, bes[sonders] kabarettartige Kurzszenen und Melodramen“, die von „Laien-Theaterbrigaden in den sozialist[ischen] Ländern“ aufge‐ führt wurden. (Sachwörterbuch der Literatur, Herausgegeben von Gero von Wilpert. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1979) / Siehe auch: Bruno Kalnins: Agitprop. Die Propaganda in der Sowjetunion. Wien: Europa Verlag 1966. 588 Vier Strömungen dieses Theateransatzes sind zu unterscheiden: „Agitprop“ (El Teatro Campesino, S. F. Mime Troupe), „Theatre of the Yippies”, „Liberal ’Guerillas“ (Estrin, Schechner) und „Radical and Hit-and-Run Agitproppers“ (illegale Aktionen). (Vgl. Martin Maria Kohtes: Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965-1970). Forum Modernes Theater, Band 5. Tübingen: Gunter Narr 1990, S. 53). 589 Martin Maria Kohtes: Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965-1970). Forum Modernes Theater, Band 5. Tübingen: Gunter Narr 1990, S. 220-222. 590 Nach Augusto Boal steht das unsichtbare Theater für eine Theaterform, in der stets ein aktuelles Thema behandelt wird, „von dem mit Sicherheit ausgenommen werden kann, daß es bei den Zuschauern auf Interesse stößt. Zu diesem Thema wird gemeinsam ein mativen Paraphrasen der FDP-Wahlkampagne liegt die subversive Methode der Kommunikationsguerilla zugrunde: der Aufbau des Wahlkampfstands in der Duisburger Fußgängerzone mit FDP-Werbematerial und die adaptierte TV-Show als Sonderausgabe des QUIZ 3000 im Duisburger Theater zu Beginn als Wahlkampfveranstaltung der FDP, aber auch das Voodoo-Ritual, das keine religiöse Funktion in dieser Aktion hat, um nur diese beiden Beispiele zu erwähnen. In diesem Zusammenhang ist ein kurzer Einblick in die Praxis des Gue‐ rilla-Theaters aufschlussreich. Anfänge und Formen des Guerilla-Theaters las‐ sen sich bis in die 1920er- und 1960er-Jahre zurückverfolgen. Das Guerilla-Thea‐ ter ging sowohl vom deutschen Arbeitertheater als auch von dem russischen Straßentheater aus. 1925 gründeten deutsche Immigrant_innen in New York mit ihrer „Prolet-Bühne“ die erste Agitprop-Truppe 587 in den USA. Es entstanden viele Theatergruppen, die sich organisierten und es vermieden, miteinander zu konkurrieren. Ihre devianten Theaterentwürfe waren vielmehr ein Mittel, um sich zu solidarisieren und um in erster Linie ihre politische Wirkung zu steigern. Diese Theaterformulierungen entwickelten sich zum Teil zum Guerilla-Theater. Der Begriff Guerilla-Theater 588 tauchte erst gegen Mitte der 1960er-Jahre mit dem Artikel „Guerrilla Theatre“ von Ronny Davis auf. Ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre entstanden Guerilla-Theater-Ensembles, die sich bis 1970 allerdings wieder auflösten. 589 Allgemein betrachtet hat das Guerilla-Theater die Wirkungsmöglichkeiten des politischen Theaters bereichert. Während z. B. das Agitprop-Theater und das unsichtbare Theater 590 der Zwischenkriegszeit Be‐ 237 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik Text erarbeitet und schriftlich fixiert, der, je nach den Umständen, für Korrekturen offen ist und sich an den Einwürfen der Zuschauer orientiert. Die Schauspieler spilen ihre Rollen genau wie im konventionellen Theater, aber nicht im Theater, und vor Zuschauern, die nicht wissen, dass sie Theaterzuschauer sind.“ (Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 74.) 591 Martin Maria Kohtes: Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965-1970), a. a. O., S. 223. 592 Richard Schechner: „Guerrilla Theatre: May 1970”. In: The Drama Review: TDR, Vol. 14, No. 3, MIT Press, Cambridge 1970, S. 163-168, hier S. 163. 593 Vgl. ebd., 594 Ebd., S. 167. lehrung, Solidarisierung sowie Mobilisierung des Publikums als eine vordring‐ liche Aufgabe betrachteten, fokussierte sich das Guerilla-Theater zusätzlich auf menschliche Empfindungsfähigkeiten und Emotionen. Es zielte darauf ab, sowohl das Denken als auch das Fühlen des Publikums zu aktivieren und zu verändern. 591 Für Richard Schechner war das Guerilla Theater eine symbolische Aktion. „It is called ‘guerrilla’ because some of its structures have been adapted from guerrilla warefare-simplicity of tactics, mobility, small bands, pressure at the points of greatest weakness, surprise […]. One of the basics of guerrilla theatre is that you use what is at hand.“ 592 Im Guerilla-Theater geht es vor allem darum, mit einer Form blitzartiger Intervention die Zuschauer_innen dazu anzuregen, jene lebensweltlichen Umstände zu begreifen, unter denen sie leben. Im Sinne von Schechner soll die theatrale Intervention den Nerv einer soziokulturellen und politischen Situation genau treffen. 593 Grundmerkmale eines Guerilla-Theaters skizziert Schechner wie folgt: „Guerrilla theatre scenarios should be […] simple and direct, […] clear and visual, […] striking and theatrical - that is, even if people can’t see or hear everything they should know what it’s about, […] meaningful to you - something you believe in.“ 594 Fasst man demnach die inhaltlichen und zeiträumlichen Elemente der Aktion 18, „tötet Politik! “ erneut ins Auge, so fallen unzählige Parallelen mit den erwähn‐ ten Grundzügen des Guerilla-Theaters auf. Für seine feedback-Schleife-Strategie eignet sich Schlingensief künstlerische Elemente der Kommunikationsguerilla sowie des Guerilla-Theaters an. Im folgenden Teil wird Schlingensiefs Schaffung eines ästhetischen Störpotentials als Inszenierungsprinzip unter dem Blick‐ winkel der Merkmale des Guerilla-Theaters und der Kommunikationsguerilla genauer veranschaulicht. 238 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 595 Johann Wolfgang von Goethe: „Il conte di Carmagnola. Tragedia di Alessandro Man‐ zoni. Milano 1820“. In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachen, I. Abteilung, 41. Band, Weimar: Deutschenbuch Verlag 1902, S. 195- 214, hier S. 206. 596 Heinar Kipphardt: „Wäre ich Eichmann geworden“. Der Spiegel, 15.05.1967, S. 133. 2.2.4.4.1. Die Schaffung eines Störpotentials als Inszenierungsprinzip Schlingensiefs aktionsorientierte feedback-Schleife-Strategie ist ein untrennba‐ rer Bestandteil seines künstlerischen und ästhetischen Arbeitsstils. Sie durch‐ zieht beinahe seine ganze künstlerische Laufbahn, geht mit einem Störpotential Hand in Hand und ruft damit immer wieder kontroverse Reaktionen hervor. Zunächst sucht sich Schlingensief selbst ein Thema mit aktuellen Bezügen und eine entsprechende Situation aus, welche - wie Schechner in Bezug auf das Guerilla-Theater formuliert - die Schwachstelle eines historischen, soziokultu‐ rellen und/ oder politischen Nervs in der Gesellschaft trifft. In der Folge geht er weder konventionelle Wege, noch lässt sich in seiner Aktion von bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst beschränken. Er inszeniert direkte und verständliche Vorgänge, die alle betroffenen Akteur_innen und Kontexte unmittelbar berühren und zur Stellungnahme zwingen. Was Kunst überhaupt kann bzw. nicht darf, spielt für Schlingensief eine zweitrangige Rolle. Wichtiger ist ihm, was er künstlerisch und ästhetisch bewegen soll und kann. Wie es für die Kommunikationsguerilla und das Guerilla-Theater kennzeichnend ist, determinieren vielmehr historische, soziokulturelle und politische Sachlagen Schlingensiefs Inszenierungs- und Aktionstaktik. In seiner Aktion 18, „tötet Politik! “ weisen z. B. entwendete und verfremdete semiologische Kommunikationszeichen sowie -codes eine ständige Bedeutungsvariabilität auf. Generell geht Schlingensief mit seinen künstlerischen Aktivitäten der di‐ rekten und namentlichen Benennung von politischen Akteur_innen in die Offensive. Während Goethe z. B. der Ansicht ist, dass es „dem Dichter“ beliebe, seine sittliche Welt darzustellen und dass er zu diesem Zweck gewissen Perso‐ nen aus der Geschichte die Ehre erweise, ihren Namen seinen Geschöpfen zu leihen, 595 sieht es doch bereits im dokumentarischen Theater und vor allem heute anders aus. Denn „unser Zeitgenosse“, bemerkt Kipphardt, „ist in anderer Weise informiert als der Zeitgenosse Shakespeares oder Goethes.“ 596 Die gegenwärtigen Rezipierenden haben meistens aufgeklärte Informationen über historische und aktuelle Akteur_innen oder sie haben vorgefasste Meinungen über ihre jeweilige Rolle in der Geschichte. Schlingensief ist sich dessen bewusst. In seiner Aktion 18, „tötet Politik! “ sowie in vielen anderen seiner Aktionen zeigt sich deutlich, wie die Benennung zeitgenössischer Akteur_innen in einer Theateraktion problematisch sein und wie Theater zu einem grenzenlosen 239 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 597 Julian Dörr: „Streitfall Kunstfreiheit - Was Kunst darf - und was nicht“ (siehe hierzu: „Christoph Schlingensief: "Tötet Helmut Kohl"“). In: Süddeutsche Zeitung, 15. April 2016, http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ streitfall-kunstfreiheit-was-kunst-darf-undwas-nicht-1.2949157-5, - letzter Zugriff: 23.08.2017. 598 Eine der Methoden der Kommunikationsguerilla, wie schon erwähnt, besteht darin, sich die Strukturen der Macht zunutze zu machen, indem sie ihre Zeichen und Codes entwendet und verfremdet. (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, a. a. O., S. 10). 599 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kom‐ munikationsguerilla, a. a. O., S. 174-186. und unvorhersehbaren Schauplatz werden kann. Es geht um die Inszenierung einer theatralen Störpraktik, die natürlich nichtkünstlerische Gegenaktionen hervorruft: Es wurde gegen Schlingensief ermittelt, nachdem Möllemann ihm in seiner Pressekonferenz vorwarf, die künstlerische Freiheit zu überziehen. 1997 hatte Schlingensief zum ersten Mal während seiner Performance Mein Fett, mein Filz, mein Hase - 48 Stunden überleben für Deutschland im Rahmen der Kasseler Documenta X den Satz „tötet Helmut Kohl“ verwendet: Die Polizei stürmte den vollbesetzten Kunstraum und führte Schlingensief und Schau‐ spieler Bernhard Schütz ab. Kurze Zeit später formierte sich ein Demonstrationszug, der „Freiheit für Christoph und Freiheit für Bernhard“ skandierte […]. Als der Pro‐ testmarsch an der Polizeistation ankam, waren Schlingensief und Schütz schon wieder frei und bedankten sich für die Solidarität. Eine Anzeige wegen Verunglimpfung des Kanzlers blieb folgenlos und Schlingensiefs Aktion straffrei. 597 Schlingensiefs Aufrufe „tötet …“ von 1997 und 2002 bezeugen, dass es um eine Störpraktik geht, die unterschiedlich verstanden werden kann. Bezieht man sich demnach auf die Methoden der Kommunikationsguerilla, lassen sich kontextualisierte semiologische Codes 598 unterschiedlich deuten: Der Satz „tötet Helmut Kohl“ oder der Aufruf „tötet Möllemann“ ist in einer Kommunikations‐ situation zunächst als eine Botschaft wahrzunehmen, die bei Empfänger_innen unterschiedlich interpretiert und einer Bedeutung zugeordnet wird. Diese Bedeutung ist wiederum je nach Rezipierenden und Kontext buchstäblich, ernst oder nicht ernst zu nehmen. Umberto Ecos Auslegungen über die Interpretationsvariabilität in diesem Zusammenhang sind aufschlussreich. In seinem 1967 veröffentlichten Essay Für eine semiologische Guerilla, der später zur theoretischen Fixierung der Kommunikationsguerilla beigetragen hat, 599 diskutiert Eco die Mechanismen der Kommunikationsindustrie als Mittel zur Meinungskonditionierung. Ihm zufolge 240 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 600 Umberto Eco: „Für eine semiologische Guerilla“. In: Ders.: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 146-156, hier S. 146-147. 601 Vgl. ebd., 146-156, S. 148-153 / Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, a. a. O., S. 178. 602 Vgl. Umberto Eco: „Für eine semiologische Guerilla“, a. a. O., S. 149. 603 Vgl. ebd., S. 152. 604 Vgl. ebd., S. 154. gehöre heute ein Land dem, der die Kommunikation beherrsche. 600 So wird auch die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Mainstreams von den Herrschenden in einer kulturellen Semantik konditioniert. Eco geht ferner von einem gemein‐ samen Code einer Kommunikationssituation aus, fokussiert sich auf eine Quelle und einen Empfänger einer Botschaft. Es geht ihm darum, wie eine vermittelte Botschaft im Sinne der Quelle beim Rezipienten_innen verstanden wird. 601 Diesbezüglich dient der semiologische Code zur Interpretation der Botschaft, die auf einer anderen Ebene von der kulturellen Semantik des entsprechenden kulturellen Umfelds sowie vom Kontext, von den Emotionen und Interessen der jeweiligen Rezipierenden stark abhängig ist. Dem Empfänger oder der Empfängerin bleibt jedoch ein freier Spielraum übrig, um die Botschaft anders zu verstehen. 602 Dies reduziert sich wiederum nicht nur auf eine einzige Lesart oder ein Verständnis. Die Bedeutung einer Botschaft, wie es der Fall in der Kunst, Politik oder in der Massenkommunikation ist, kann variabel und mehrdeutig sein, sodass die Interpretation von variablen Perspektiven bedingt wird. Die Interpretationsvariabilität ist z. B. in der Massenkommunikation gängig und gegensätzlich zugleich. Demnach sei die Welt der Massenkommunikation Eco zufolge voller gegensätzlicher Interpretationen. Die Interpretationsvariabilität sei für ihn das Grundgesetz der Massenkommunikation, denn die Botschaften entspringen einer zentralen Quelle und treffen auf verschiedene soziale Situa‐ tionen mit verschiedenen Codes. 603 In den variablen Lesarten der gleichen Botschaft sieht aber Eco die Gelegenheit, Systeme einer ergänzenden Kommu‐ nikation zu ersinnen, die es Menschen erlaube, jede einzelne Menschengruppe, jedes einzelne Mitglied dieses weltweiten Publikums zu erreichen, um mit ihm über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft zu diskutieren - im Licht einer Konfrontation der Empfängercodes mit dem des Senders. 604 Unter diesem Blickwinkel kann die mit Störpotential beladene Aktion 18, „tötet Politik! “ betrachtet werden. Als Beispiel kann hier die Problematik des Aufrufs „tötet Möllemann“ erwähnt werden. 241 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 605 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., , S. 75. 606 Vgl. ebd. 607 „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“. In: Spie‐ gel-Online, 25.06.2002, http: / / www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ reaktionen-auf-schli ngensief-moellemann-tobt-staatsanwaelte-ermitteln-a-202551.html - letzter Zugriff: 16.12.2016. 2.2.4.4.2. Unbestimmtheit/ Unentscheidbarkeit als Inszenierungstaktik Da eine Theatersituation in vielen postdramatischen Inszenierungen - um Juliane Rebentischs Worte zu wiederholen - ihre eigene materielle Realität vorzeige, wodurch eine gewisse Unentscheidbarkeit zwischen Inszeniertem und Realem erzeugt werde, taucht nun auch für Betrachtende die Möglichkeit auf, direkt ins Geschehen zu intervenieren. 605 Die von Schlingensief inszenierten Handlungen im realen Leben zeichnen sich dadurch aus, dass nicht nur die ge‐ danklichen Gehalte seiner Inszenierung eine beträchtliche Bedeutungsvariabi‐ lität und somit Unbestimmtheit hervorrufen. Zugleich ermöglicht und verstärkt die postdramatische Gestaltungsform die Unentscheidbarkeit einer eindeutigen Einordnung dieses typisch Schlingensief ‘schen, zwischen Kunst und Nichtkunst oszillierenden Inszenierungsstils. Vor der Herausforderung der Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit stehen nun Polizei und Staatsanwaltschaft, die stets darauf achten, dass demokratische Prinzipien sowie Kunstfreiheit nicht miss‐ braucht und/ oder übertreten werden. Als staatliche Akteur_innen sind sie wie die übrigen Zuschauer_innen bzw. politischen Protagonist_innen dieser Inszenierung vor den äußeren Horizont der Verantwortung gestellt worden, die ihnen diese theatrale Ausnahmesituation zumutet. Performances, die den Betrachter_innen die Entscheidung überlassen, wann die Situation kein Spiel mehr ist und abgebrochen werden muss, werden in dramatisierende Richtungen gelenkt. 606 Erhellend diesbezüglich sind die Reaktion von Möllemann sowie die Aktionen der ermittelnden Polizei und der Staatsanwaltschaft, die Schlingen‐ siefs Inszenierung auf einen spannungsvollen Kurs voller Unvorhersehbarkei‐ ten verleiteten. Der Skandal der Aktion 18, „tötet Politik! “ beginnt mit dem Aufruf „tötet Möllemann“, der Möllemann trifft und viele andere in Bewegung bringt: Mit seiner „Aktion 18“ hat es Christoph Schlingensief tatsächlich geschafft, Jürgen Möllemann aus der Reserve zu locken und auf die Palme zu bringen. Der FDP-Politiker fühlt sich in seinen Rechten verletzt und fordert ein Verfahren gegen den Theater-Pro‐ vokateur. Während die Staatsanwaltschaft bereits wegen Volksverhetzung ermittelt, versteckt sich der Theatermann kleinlaut hinter der Kunst. 607 242 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 608 Ebd. 609 Ebd. 610 Vgl. Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst. Pressespiegel: Neue Frankfurter Presse, 27.06.2002, http: / / www.aktion18.de/ presse.htm- letzter Zu‐ griff: 26.08.2017. 611 Vgl. „Tötet Möllemann! “ Strafverfahren gegen Schlingensief nach Anti-Möllemann-Ak‐ tion. Theaterprovokateur Schlingensief bekommt Ärger“, 26.06.2002, http: / / www.boa -muenchen.org/ boa-kuenstlerkooperative/ n0206260.htm- letzter Zugriff: 26.08.2017. 612 Vgl. Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst, a. a. O. 613 Ebd. Aus der Perspektive des Senders, in diesem Fall Schlingensief, heißt es aber: „Da ist etwas gehört worden, was gar nicht da war“. 608 Dennoch sieht sich Schlingen‐ sief nun mit der Rückwirkung seines Tötungsaufrufs konfrontiert und macht die Kunst rasch zu seinem Alibi, um eine eventuelle Strafe gemäß Gesetz zu umge‐ hen: „Was ich auf der Bühne mache, steht im Kunstkontext“, 609 behauptet er. Ab‐ gesehen von seinem Tötungsaufruf, der im Sinne eines Sprechers Möllemanns einem Offizialdelikt und nicht einer Bagatelle gleiche und automatisch von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden sollte, wurde Schlingensief nicht nur der Volksverhetzung verdächtigt. Zusätzlich erklärte Möllemanns Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, dass Schlingensief auf der Internetseite http: / / www.aktion18.de unter anderem die Aufforderung „Werden Sie Selbstmordat‐ tentäter“ verbreitet haben, die im Auge des Düsseldorfer Staatsanwalts Johannes Mocken eine absolute Unverschämtheit sei. Darüber hinaus habe Schlingensief in einer symbolischen Aktion dazu aufgefordert, bei FDP-Veranstaltungen als Selbstmordattentäter aufzutreten. Den entsprechenden Link habe er inzwischen gelöscht und durch den Vermerk zensiert ersetzt. 610 Auf dieser Internetseite wä‐ ren außerdem „antisemitische Plakate und Musik aus der NS-Zeit“ zu sehen. 611 Doch aufgrund des Serverstandorts der Website und „Schlingensiefs Wohnort Berlin“ sei „die dortige Staatsanwaltschaft zuständig.“ 612 Auch in Duisburg, wo er „auf einem Foto Möllemanns herumgetrampelt ist, diesem mit einer Bohrmaschine zugesetzt“ und „tötet Möllemann“ gerufen habe, seien „Vorer‐ mittlungen wegen des Verdachts möglicher Straftaten eingeleitet“ worden. Die dortige Polizei sei gebeten worden, ihre Erkenntnisse über den Theaterabend mitzuteilen. Damit erhoffte Möllemann, dass Schlingensief, der ihm zufolge „die verfassungsrechtliche Grenze der Kunstfreiheit weit überschritten“ 613 habe, juristisch belangt werde: Möllemann wertete [den] Aufruf Schlingensiefs im Duisburger Theater, den FDP-Po‐ litiker zu töten, als öffentliche Aufforderung zu Straftaten gemäß Paragraf 111 des Strafgesetzbuches. Er erwarte, dass die Staatsanwaltschaft sich auf Grund dieses 243 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 614 „Tötet Möllemann! “ Strafverfahren gegen Schlingensief nach Anti-Möllemann-Aktion. Theaterprovokateur Schlingensief bekommt Ärger“, a. a. O. 615 Vgl. „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“, a. a. O. 616 Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst, a. a. O. 617 „Reaktionen auf Schlingensief. Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln“ , a. a. O. Offizialdelikts mit der „ungeheuren Entgleisung“ des Theatermannes befasse […]. Immerhin sei der selbst ernannte Kalif von Köln, Methin Kaplan, wegen Aufrufs zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Man könne über den „schwerwie‐ genden und gefährlichen Aufruf “ Schlingensiefs nicht einfach hinweggehen. „Unser demokratisches System duldet solche Aufforderungen nicht“, sagte Möllemann. Auf die Frage, ob er sich bedroht fühle, antwortete Möllemann: „Ich fühle mich in meinen Rechten verletzt. Was daraus wird, wird sich zeigen.“ 614 Schlingensief weist aber alle Vorwürfe und Verdächtigungen zurück: Sein Webauftritt sei keine Volksverhetzung. Er wendet ein, dass alle Teile der Website aus anderen Seiten zusammengestellt worden seien. Er betont, dass die jeweiligen Originale von den Staatsanwaltschaften bislang nicht verfolgt worden seien 615 und hält sich stets hinter dem Kunstvorwand versteckt. Indes wird Möllemann selbst aufgrund der Unbestimmbarkeit von Schlingensiefs Inszenierung ein Angriff auf die Kunstfreiheit vorgeworfen: Die von Frank Castorf geleitete Berliner Volksbühne hat dem stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Jürgen Möllemann einen Angriff auf die Freiheit der Kunst vorgeworfen. Mit seinen Attacken und Klageandrohungen gegen die jüngste Theater‐ provokation des an der Volksbühne beheimateten Regisseurs Christoph Schlingensief beim Festival „Theater der Welt“ in Bonn, Köln, Düsseldorf und Duisburg versuche Möllemann, ein experimentelles Theaterstück, das bereits vor Monaten seine Erst‐ aufführung gehabt habe, und ein Happening zu kriminalisieren, heißt es in einer Presseerklärung […]. 616 Am Ende kommt Schlingensief ungestraft davon, denn es „lägen jedoch keine verfolgbaren Straftaten wegen Beleidigung oder Verunglimpfung vor“, 617 so der Staatsanwalt Mocken. Wie gesehen sind Schlingensiefs angeführte Äußerungen einer Fülle drama‐ tisierender, variabler Interpretationen und Assoziationen unterzogen worden, die zahlreiche Reaktionen ausgelöst haben. Die klassische geschlossene Bühne des dramatischen Theaters als ein von der Lebenspraxis abgehobener Thea‐ terschauplatz ist nicht nur von Schlingensief überwunden worden. Zugleich fühlen sich viele gesellschaftliche Akteur_innen diesem in das Realleben ver‐ lagerten Theaterschauplatz angesichts der aktuellen tragischen Erfahrungen 244 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 618 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 76-77. 619 620 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 154. von Terroranschlägen und Amokläufen real ausgesetzt. Nach dem Modell des Guerilla-Theaters und der Guerillakommunikation provozieren Schlingensiefs Inszenierungen somit menschliche Empfindungen und Emotionen. Die Pointe der Aktion 18, „tötet Politik! “ lässt sich gerade aus der Unbehaglich‐ keit dieser aktionsorientierten theatralen Ausnahmesituation heraus verstehen. In einer solchen Situation wird die Sicherheit der Betrachterposition infrage gestellt, da die Grenze zwischen Ästhetischem und Nichtästhetischem, Kunst und Nichtkunst, Fiktion und Realität zum Gegenstand eines zweifelsohne ernsten ästhetischen Spiels wird. 618 In Anbetracht der fast omnipräsenten Ängste und Befürchtungen vor tödlichen bzw. tragischen Erfahrungen seit dem 11. September 2001 und der zunehmenden Terrorattacken in der Lebens‐ welt können Äußerungen wie „Werden Sie Selbstmordattentäter“ und „tötet Möllemann“ kaum als harmlos gelten. Aus der heutigen Perspektive würde auch allein das Wort „Selbstmordattentäter“ zu emotionalen Reaktionen und unzähligen Assoziationen mit jüngsten Terroranschlägen zwingen, und zwar nicht nur außerhalb Europas, sondern auch in vielen europäischen Städten. Auch wenn Menschen in den Jahren zwischen 2000 und 2002 in Europa andere Bedeutungsgehalte mit den Wörtern Terror, Attentat etc. verbanden, steht eines fest: die Angst vor der Geschichtewiederholung einer vom Terrorismus verursachten tragischen Erfahrung, die „auch in Europa - nichts Neues ist. Alleine zwischen den 70erbis 90er-Jahren [des 20. Jahrhunderts] sind in Europa jährlich bis zu 400 Menschen bei Anschlägen getötet worden.“ 619 Doch subvertiert Schlingensief die Bedeutungsfunktion der Assoziationen seiner devianten Äußerungen, die Bilder und Erinnerung an die Aktionen der Selbst‐ mordattentäter hervorrufen. Diese Art der gefährlichen Subversion verfolgt jedoch eine ästhetische Intention, welche „die Möglichkeit aufscheinen“ las‐ sen soll, „dass die Bilder [oder die Äußerungen] keine Namen irgendeiner bestimmten Bedeutungsrelation erfolgenden Antworten auf die Frage ihrer eigenen Existenz bereitstellen. Die künstlerischen Operationen [diesbezüglich] zielen offenbar auf den Effekt, das (allzu) Bestimmte unbestimmt zu machen.“ 620 Jede Botschaft, jede künstlerische sowie ästhetische Aktion unterliegt vielen variablen Interpretationsmöglichkeiten, Projektionen sowie Assoziationen. In diesem Sinn geht es Schlingensief in seinen Inszenierungen nach dem Vorbild der Kommunikationsguerilla darum, einen Wissens- und Aktionsvorsprung in Gang zu setzen, damit Bürger_innen in einer Demokratie nicht mit ein‐ dimensionalen sowie binären Aussagen konfrontiert werden. Widersprüche, 245 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik 621 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kom‐ munikationsguerilla, a. a. O., , S. 8. 622 Vgl. Bernhard Zimmermann: „Grenzen menschlichen und göttlichen Handels in der griechischen Tragödie“, a. a. O., S. 422-423. 623 Anton Bierl: „Dionysos auf der Bühne. Gattungsspezifische Aspekte des Theatergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie“, a. a. O., S. 333. Zusammenhänge, Korrespondenzen und Erfahrungen im eigenen Leben werden dabei aufgegriffen, um zum Weiterdenken und -handeln zu bewegen. 621 Ähnliche umgedrehte, abweichende und deviante Kommunikationsgehalte lassen sich auch im Theater der griechischen Antike ausmachen. Sie waren gän‐ gig und von der demokratischen Ordnung der Polis als akzeptabel angesehen. Eine doppelte Bedeutung des politischen Charakters bestand im antiken grie‐ chischen Theaterverständnis: In diesem Zusammenhang weist Zimmermann darauf hin, dass die Dramen und die institutionell eng mit ihnen verbundene Gattung Dithyrambos insofern politisch gewesen seien, als einerseits die Orga‐ nisation der Aufführungen in den Händen der Bürgerschaft, der Polis lag und andererseits in Dithyramben und Dramen Themen verarbeitet und dargestellt wurden, die mit der Polis insgesamt - nicht nur mit der eigentlichen Politik im engeren, modernen Sinn, sondern mit allen Lebensbereichen in Verbindung standen, die die Bürger betrafen. Im Rahmen der Dionysien stand die Polis nicht nur unter festlichem Zeichen. Gleichzeitig boten die bei diesem Fest aufgeführten Theaterereignisse die Gelegenheit - teils affirmativ, teils kritisch hinterfragend -, die Grundlagen und Voraussetzungen des Zusammenlebens in einem demokratischen Gemeinwesen zu reflektieren. 622 Diese Tatsache betont auch Bierl in „Dionysos auf der Bühne. Gattungsspezifische Aspekte des Thea‐ tergottes in Tragödie, Satyrspiel und Komödie“: […] Das gilt vor allem für sämtliche die Polis betreffende Bereiche, insbesondere für die Tagespolitik, das Gerichtswesen, den demokratischen Prozeß, aber auch für Mythos, Ritual, Feste und Orakelwesen. Dabei dürfen ebenso wenig neu aufkommende Spezi‐ aldiskurse und die Literatur vergessen werden, besonders gilt dies für die parallele Gattung, die Tragödie, die in Form der paratragodia viel Stoff bietet. Alles, was mächtig ist oder Autorität genießt, wird verspottet und fratzenhaft nach unten verzerrt, also Politiker, Strategen, Richter, Priester, Ärzte, Dichter, Weise, und Philosophen. Und vor allem können selbst Götter diesem generischen Verfahren unterzogen werden. 623 Insofern führt das voraristotelische Theater, dessen Wiederaufnahme sowie Weiterwirkung in postdramatischer Ästhetik und angesichts der heutigen veränderten soziokulturellen sowie politischen Sachlagen in dieser Arbeit als 246 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 624 Vgl. Koku G. Nonoa: „Transgression im europäischen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Poli‐ tik““, a. a. O., S. 150-152. 625 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 77. 626 Martin Treml: „Menschenopferfeste. Zur Figur des antiken Opfers, zu seinen Theorien und seinem Nachleben“, a. a. O., S. 39. 627 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 48. Urtheatralisierung bezeichnet wird, ein anderes politisches und rituelles Theater vor Augen. 2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis Mit der Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis habe ich auch schon in meinem bereits angesprochenen Artikel „Transgression im europäi‐ schen Theaterverständnis? Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik““ 624 kurz thematisiert. Nun geht es in dieser Arbeit um eine ausführlichere überarbeitete Auseinanderset‐ zung mit der postdramatischen Urtheatralisierung. Wie im Orgien-Mysterien- Theater beobachtet man auch in der Aktion 18, „tötet Politik! “ eine Affinität zum Theater der antiken griechischen Polis. Dass das Rituelle und das Politische der Theaterpraxis inhärent sind, ist nicht neu in der Theatergeschichte: „Since theatre was both an act of worship of a god and a kind of surrogate political assembly, it was in its nature to explore this middle ground between politics and ritual.“ 625 Die Ordnung der Polis ist den kulturellen Opferkultpraxen entsprun‐ gen und gründet darauf. Es wundert nicht, dass mit dem Übergang zur Schrift die noch bestehenden Elemente der blutigen Opferriten in enger Affinität zu Veranstaltungen in der Polis aufrechterhalten werden: Die blutige Opfertötung, die kollektive Teilnahme an Ritualvorgängen sowie das sorgfältige Beobachten, das Wahrnehmen in der Kultsphäre werden während der Durchführung von Veranstaltungen in der Polis in Form von Abstraktion, Nachahmung und Theorie erhalten sowie intensiviert. Diese Akzentverschiebung ist im Sinne von Treml nur eine Weiterführung der blutigen Opferriten. 626 Es ist festzuhalten, dass die ursprüngliche Ausdrucksform der Tragödie in der Polis ein Surrogat der Behandlung ritueller und politischer Fragen ist. So gesehen ist die Tragödie per se ein Medium, das es möglich macht, dass sich das Volk in der Polis mit seinen Problemen kollektiv auseinandersetzt. 627 247 2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis 628 Ebd., S. 172. 629 Ebd., S. 35. 630 Kershaw Baz: The Politics of Performance. Radical theatre as cultural intervention. London/ New York: Routledge 1992, S. 33. Darüber hinaus merkt Wiles an, dass es keine Bezeichnung in der antiken griechischen Sprache gegeben hat, um die Trennung von Kunst und anderen Tätigkeiten politischer und ritueller Natur zu bezeichnen, weil gerade Kunst und Theater nicht von der Lebenspraxis abgehoben waren. 628 Ein Bewusst‐ sein und eine radikale institutionelle Distinktion von Kunst und Nichtkunst bestanden ebenso nicht. Diese Betrachtungsweise ist aufschlussreich für (das Verständnis von) Schlingensiefs Theateraktionen. Mit seinem Theateransatz erinnert Schlingensief an die ursprüngliche Rolle der Theaterschaffenden auf dem voraristotelischen Theaterschauplatz: In tragedy the poet spoke to the whole community, as well as outsiders who had come to view the community, so it was imperative that the plays should not be seen as partisan. The poet was a kind of appointed guru, and the space of the festival allowed him a special freedom of speech. This was a freedom to look into the void: to confront death, on occasion to confront also the possibility that an entire community might be extinguished; and to confront the moral void, where right meets right and there are no answers. 629 Die Aktion 18, „tötet Politik! “ fand außerdem während des Festivals „Theater der Welt“ statt und Schlingensief kommt durchaus diesem Guru gleich. Produk‐ tions- und rezeptionsästhetisch gesehen, ist eine performative Zeit-, Raum- und Aktionskontextualisierung soziokultureller sowie politischer Tatbestände im postdramatischen Theaterkontext eine Voraussetzung für eine intendierte Wirksamkeit. Die Kontextualisierung stellt Zusammenhänge her, betont und problematisiert diese. In den gegenwärtigen Verhältnissen dient die theatral performative Kontextualisierung einer sozialkritischen, ideologiekritischen und enthüllenden Funktion mit aktionistischen Vorgehensweisen. In „The Politics of Performance. Radical theatre as cultural intervention” vertritt Kershaw Baz z. B. die Meinung: „[…] The context of performance directly affects its perceived ideological meaning.“ 630 Der direkte Bezug der Aktion 18, „tötet Politik! “ auf die Zeit sowohl der Bundestagswahlen als auch des Festivals der Welt im Jahr 2002 ist Ausdruck einer besonderen performativen, zeiträumlichen Kontextua‐ lisierung: Schlingensief lässt seinen künstlerischen Beitrag im Rahmen dieses Festivals zwischen dem kulturell künstlerischen und gesellschaftlich politischen Ereignis oszillieren. Außerhalb des institutionellen Theaterraums verleiht eine entsprechende performative Raum- und Aktionskontextualisierung dem herge‐ 248 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 631 Christoph Schlingensief in dem Interview von Maike Schiller: „Politik braucht Voodoo“, 14.09.2002, http: / / www.abendblatt.de/ kultur-live/ article107209225/ Politik-braucht-Vo odoo.html - letzter Zugriff : 27.01.2016. 632 Ebd. 633 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 108. stellten theatralen Schauplatz eine besondere gesellschaftliche und politische Brisanz. In einem Interview behauptet Schlingensief, dass er bezweckt, seine Gedanken, die seine Arbeit berühren, öffentlich vorzutragen - und er sehe sich dazu auch veranlasst: „Bei meiner Aktion mit Möllemann wurde ganz klar, dass in der Politik, sobald man sie beim Wort nimmt, alles an Kanonen aufgefahren wird, was es gibt.“ 631 Für ihn muss die Politik, die „sich zum Funktionalismus hinreißen lässt“, getötet werden. Diese Politik sei eine riesige Inszenierung, bei der die Bürger_innen „Komparserie“ seien. Er ist deswegen der Meinung, dass der Begriff der Politik zerstört und „die ‚Polis‘, das Zusammenleben“, extrem behindert sei, weil sich die Bürger_innen „auf Werbeverkaufsduelle einlassen. Stimme abgeben, und das wars: Diesen Politikbegriff muss man doch abtöten! “ 632 So kennzeichnet sich Schlingensiefs künstlerische Laufbahn durch eingreifende Aktionen, die wie in voraristotelischen Theaterpraxen eigenartige Schauplätze ritueller und politischer Grenzüberschreitung herstellen. 2.2.5.1. Aktionsschauplatz im voraristotelischen Theater Die Durchführung der voraristotelischen Theatervorgänge rückt die tragische Erfahrung und blutige Opferrituale häufig in den Vordergrund und setzt das Überschreiten voraus. Dabei ist die Überschreitung von möglichen bestehenden Grenzen eine Conditio sine qua non, um Daseinsfragen ästhetisch und theatral zu bewältigen. In diesem Sinn ist das ursprüngliche Wesen der Tragödie als Ausdrucksform und Inbegriff einer Kultur der Grenzüberschreitung 633 aufzufas‐ sen: keine Regel bleibt unerschüttert, keine Grenze, ob tragisch, moralisch, politisch, entkommt dem Willen und der Notwendigkeit einer Transgression - um jeden Preis. Gute Beispiele hierfür liefern die Theaterarbeiten von Aischylos, Sophokles und Euripides, die voraristotelische theatrale Grundelemente wie z. B. die Hybris aufgenommen haben. Szenisch-dynamisch betrachtet ist die Hybris in rituellen und politischen Kontextualisierungen performativ und handlungs‐ orientiert: Sie wird zu einem Katalysator für die Held_innen der Tragödie, die zur Transgression animiert werden. Von Hybris getrieben bzw. gespeist, gehen Akteur_innen/ Held_innen ins Dionysische über. Sie werden von dem Reiz der Grenzüberschreitung und von dem Wilden im Dionysischen getrieben. Damit geht eine tragische Erfahrung einher, weil Grenzen aufgrund eigener 249 2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis 634 Ebd., S. 99-100. dionysos-artiger Ansprüche und wegen des Hangs zu energischer Lebensauf‐ wallung, zum Exzess, Rausch und Übermaß rücksichtslos verkannt und verletzt werden. Um Lehmann zu paraphrasieren, fasse die Antike im Begriff der Hybris ein Verständnis des Tragischen ins Auge - als maßlose Überschätzung eigener Möglichkeiten und eigener Ansprüche. Die Hybris sei in der Antike sehr zentral und werde in Held_innen wie Aias, Herakles, Klytaimnestra, Agamemnon oder Pentheus verkörpert. Lehmann merkt z. B. an, dass etwas in ihnen tobe, was keine Mäßigung zulasse: In Antigone sei die Logik der Polis, der Ordnung, der Macht von Pentheus oder Kreon in einer „Vermessenheit“ über alles gestellt. Das Wesentliche der tragischen Erfahrung sei die Überschreitung der Normen und Gesetze durch ein Ego, das maßlos die Möglichkeiten/ das Gefängnis der eigenen „kulturellen Intelligibilität“ durchbreche, obwohl es durch diese konstituiert zu sein scheine. 634 Festzuhalten ist, dass die voraristotelischen Grundelemente der Tragödie, die für die Nachwelt in schriftlicher bzw. literarischer Form erhalten sind, vor ihrer zunehmenden Verschriftlichung und Fiktionalisierung in einer ausschließlich performativ durchgeführten rituellen Rahmung ausgedrückt worden waren. Ausgehend von ursprünglichen und wiederkehrenden festlichen Gelegenheiten kam es zu einer Interaktion der Ritualdynamik mit der antiken Gottheit sowie mit der Polispolitik. Auch die stattfindenden Transgressionen in politischen Angelegenheiten geschahen nach dem Modell der Überschreitungen im rituellen Kontext. Dabei standen Ritual und Politik in einer performativ-kon‐ textualisierten Wechselwirkung zueinander. 2.2.5.2. Performative Kontextualisierung von Ritual und Politik Die performative Kontextualisierung von Ritual und Politik verleiht dem voraristo‐ telischen Theater eine besondere Wirksamkeit. Aischylos, Sophokles und Euripides, die als historische Referenzen für die Anfänge der europäischen Theaterpraxis genannt werden können, befassten sich mit unmittelbaren Geschehnissen zeiträum‐ lich. Ausschließlich bedienten sie sich der theatralen Kontextualisierung von ritu‐ ellen und politischen Vorgängen: Die thematischen sowie performativen Umrisse der vorgefundenen Grundelemente der praktizierten kulturellen Opferhandlungen und deren direkter Bezug auf das Alltagsleben waren ihr Orientierungsschema. Ein anderes Orientierungselement waren die Dionysien, die einen wichtigen Bestandteil kultureller Ereignisse in der griechischen Antike bilden. Der Dionysos-Kult stellte in der Tat einen grenzenlosen Schauplatz vieler Grenzüberschreitungen dar, die sowohl in der Tragödie mit Tötung/ Mord als auch in den Satyrspielen und den 250 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 635 David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., , S. 96. 636 Ebd. 637 Vgl. ebd. 638 Vgl. ebd., S. 142-143. Komödien mit Exzess und Rücksichtslosigkeit ihren Höhepunkt erlangten. Die ritu‐ elle und politische Kontextualisierung des griechischen voraristotelischen Theaters hatte kulturelle Assoziationen, die in der heutigen Welt nicht mehr existieren: „the settings of Greek drama had associations lost to modern audiences, and an effort of the imagination is needed to view the plays from an Athenian perspective.“ 635 Die athenische Perspektive von Theater reduziert sich aber nicht nur auf die Schriften von Aristoteles. Wie gesehen sind die Spielregeln des aristotelischen Theaters allein aus der Perspektive eines Lesetextes festgelegt worden und un‐ terliegen der Logik, der Ratio, der Ordnung, der Konvention. Wird die Theater‐ praxis aber im Zusammenhang mit Dionysos und seinem Gefolge aus tanzenden Mänaden und trunkenen Satyrn gedacht, so zeigt sich das andere, vielleicht erste grundlegende Wesen eines performativ-dynamischen Theatergebildes abseits der Theorie von Aristoteles: Maßlosigkeit, Unordnung, Rücksichtslosigkeit, Un‐ vorhersehbarkeit, Unbestimmtheit, Flüchtigkeit, Transgressionen von Normen, Grenzüberschreitungen und ständige Aktionsänderungen: „For the classical period“ - so David Wiles - „we must visualize a performance space that was temporary, disorderly and constantly changing.“ 636 Während der Durchführung der Dionysien seien z. B. die Satyrspiele bzw. die Komödien performative Aus‐ drucksformen aller möglichen und rücksichtslosen Kritiken sowie Enthüllungen gewesen. Dazu kam der Phallus als zentrales Dionysienzeichen zum Einsatz, das an männlichen Darstellern befestigt wurde. Die Verwendung des Phallus war zudem eine stetige Gelegenheit für verrückte, exzentrische sowie deviante Vorgänge und körperliche Aktionen. Der Hauptdarsteller war gewöhnlich jemand aus der athenischen Gesellschaft, der eine exzentrische Lösung für die Probleme der Polis performierte. Im Kern ermöglichte die Spielgestaltung dieser Komödien durch den Chor eine Publikumsansprache, die im Namen des Poeten den Zusammenhang der Aufführung mit den unmittelbaren Proble‐ men in Athen erklärte. Üblicherweise nutzte der Dichter sein Recht auf die Meinungsfreiheit, um Leute im Publikum zu verleumden oder zu beleidigen und um das Verhalten der Götter zu verspotten. Beleidigung war der feierliche Kern der klassischen Komödie in Athen und symbolisierte die von der Demokratie erlaubte Meinungsfreiheit. 637 Wichtig ist, dass der Chor während der Dionysien eine doppelte Identität hatte: einerseits als Gruppe von Bürgern, die im Namen ihrer Gemeinschaft Dionysos lobten, andererseits als Darsteller_innen in einem theatralen Ereignis. 638 251 2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis 639 Ebd., S. 30-31. Determinierend für die theatralen Rollendarstellungen ist die Gleichzeitigkeit ritueller und politischer Kontextualisierung. Dabei überträgt die Polis ihre politischen Angelegenheiten auf die Bühne. Diesbezüglich kamen die Polisbür‐ ger mit ihren zu opfernden Stieren und teilten sich in ihre jeweiligen zehn Gemeinden oder Stämme auf: Groups such as young men on military training and the executive Council would also have been demarcated. Foreign residents were marked out by scarlet costumes, showing that they were both part and not part of the city. The citizens carried skins of wine, whilst the foreigns residents carried mixing bowls to mix the wine with water - a symbol of their place in society. Besides wine, the other major emblem of the festival was the erect phallus. We have a chance record of one northern colony required to send a phallus as a sign its membership of the wider Athenian community. For further details we can only guess on the basis of vas paintings and later description of Dionysiac procession in Alexandria. 639 2.2.5.3. Rituelle und politische Raum-Zeit-Kontextualisierung Die Raum-Zeit-Kontextualisierung von rituellen und politischen Vorgängen im voraristotelischen Theater geschieht nach der wiederkehrenden Zeit des Dionysienfestivals. Das voraristotelische Theater ist die Zeit vor dem Tod der drei großen Tragiker Athens. Aristoteles kommt erst im Jahr 388 v. Chr. zur Welt. Theater vor Aristoteles ist ein Setting von allen möglichen grenzüberschrei‐ tend-performativen Vorgängen in der Komödie und mythischen Heldentaten in der Tragödie während der Dionysosfestivals. Das spannende Moment dabei entspringt der Dialektik von exzentrischen, fantasievollen Theaterereignissen und politischer Realität in Bezug auf aktuelle Themen der Gesellschaft. Während sich die Tragödie diesbezüglich mit der Erfahrung von Lügen performativ auseinandersetzt, macht die Komödie alle Formen von Verwandlungen und raumübergreifenden Aktionen erleb- und erfahrbar: The choral dancers might escape from human identity by becoming gnats, birds, frogs, riders of horses, ostriches, dolphins, clouds or boats. The notion of a participatory festival underpins all comedies and they customarily end with a party that involves wine, food and usually sex, echoing the way actors and audience celebrated together a festival of Dionysos […]. Officially, tragedies and comedies were contests between choruses, groups singing and dancing in unison. The word tragedy meaning literally 252 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 640 Ebd., S. 33-34. 641 Ebd., S. 126-127. 642 Vgl. Peter Kuemmel: „Selber Gott werden! “. In: DIE ZEIT, 40/ 2002, 26.09.2002, http: / / w ww.zeit.de/ 2002/ 40/ Selber_Gott_werden, - letzter Zugriff: 27.01.2016, S. 2. "goat song" derives, it is thought, from the prize of a goat for which the first tragic chorus competed. 640 Die Zeit- und Raumkontextualisierung ist an das rituelle Umfeld sowie an den politischen Vorgang stark gebunden. Außerdem garantiert die entsprechende Kontextualisierung die Wirksamkeit der Ritualdurchführung und ist zwangs‐ läufig Bestandteil des Rituals und des Politischen. Dies lässt sich in der Gestal‐ tungsform der Tragödie beobachten und ermöglicht den Zuschauer_innen, die Aufführung aus multiplen Perspektiven und Situationen zu sehen. Weil diese theatralen Aktionen aus ihren unmittelbaren, gemeinsam geteilten soziokultu‐ rellen sowie politischen Gegebenheiten hervorgehen, entsteht ein kollektives Gefühl affirmativer und performativer Zusammengehörigkeit in der Zeremo‐ nie. Es geht zudem um die performative Affirmation einer göttlichen Kraft, welche die Bewohner_innen der Polis auf die Kontemplation ihrer untrennbaren Wurzeln und auf das Erkennen der menschlichen Grenzen vorbereitet; dabei handelt es sich, wie bereits gesehen, um die Durchführung blutiger Opfertötung auf einem Altar, die im Grunde genommen auch für die Kontemplation und Erfahrung des (menschlichen) Todes steht. In Anbetracht dessen wird dieses antike griechische Theater in anderen Zeiten als der archetypische Ort der Zeremonie ins Auge gefasst, wo das Ritual durchgeführt wird. „The ritual space, the democratic space: these are the two aspects which partitioners will carry on seeking to concile.” 641 Auf die Aktion 18, „tötet Politik! “ übertragen, stellt sich die Frage, ob Schlin‐ gensief Politik und Ritual wieder zu versöhnen versucht. Oder geht es ihm dabei eher um eine Gestaltungsform, die seiner Theateraktion sowohl eine Wirksam‐ keit als auch eine transformative Kraft einfließen lässt? Abseits gegenwärtiger institutioneller Rahmenbedingungen künstlerischer Aktivitäten schafft die ri‐ tuelle und politische Raum-Zeit-Kontextualisierung die ästhetische Erfahrung des Realen. Selbst wenn „tötet Möllemann“ metaphorisch bzw. symbolisch 642 für „tötet Politik“ gemeint ist, die in bestimmten Politiker_innen bzw. in Möllemann personifiziert und die zum Funktionalismus instrumentalisiert worden ist, ruft dieser Tötungsaufruf bedrohliche und tragische Momente hervor: Versteht Schlingensief den Wir-Begriff als die Bürgergemeinschaft, das Zusammenleben in der Polis, so kommt er zur Einsicht, „dass man sich auch Themen öffnen 253 2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis 643 Christoph Schlingensief in dem Interview von Maike Schiller: „Politik braucht Voodoo“, a. a. O. 644 Peter Kuemmel: „Selber Gott werden! “, a. a. O., sollte, die bedrohlich sind.“ 643 Die Aktion 18, „tötet Politik! “ ist - wie andere Aktionen von ihm - in mancherlei Hinsicht bedrohlich und wie die Tragödie im voraristotelischen Theater voller Momente tragischer Erfahrung angesichts der Anspielungen auf den Tod und die Todesangst, die Schlingensief selbst ebenso wie viele Rezipierende empfunden haben könnten: Schlingensief skizziert oft Krankheitsbilder, nicht nur die der anderen, sondern gern auch die eigenen. Krankheit fasziniert ihn als eine Möglichkeit der Entgrenzung, sogar als ein Weg zum Rausch. Das Zauberwort, unter das er seine jüngere Produktion stellt, lautet "Griemeln". Buñuel, sein großes Vorbild, habe beschrieben, was gemeint sei. Wenn Buñuel Einfälle suchte, setzte er sich in einen Sessel und trank Cognac, bis ihm Ideen durch den Kopf schossen. Und wenn er grinsen musste, schrieb er die Idee auf. Dieses Grinsen, Schlingensief nennt es Griemeln, das nicht abfällige, sondern erleuchtete innere Feixen über eine Erkenntnis, einen Einfall, einen Zusammenhang, sei das Glück seiner Produktion […]. Dieses Griemeln fehle den Politikern vollständig. Griemeln hat also mit Todesnähe zu tun […]. Ein Schlingensief-Wahlkampf müsste diese Sätze enthalten: Wir werden dennoch sterben, liebe Freundinnen und Freunde. Da ist der Tod. Aber wir arbeiten an seiner Abschaffung. Vorerst geht Schlingensief seinen eigenen Voodoo-Weg zur Abschaffung des Todes. Auch der Kampf gegen Möllemann sei natürlich keine Tötungsaufforderung gewesen, sondern eine Abwehr‐ strategie gegen das Böse. 644 Damit fällt die Affinität zu den bereits behandelten Motiven der griechischen Opferriten auf: nicht nur die Hybris und der Reiz zur Grenzverletzung bzw. Überschreitung, sondern auch die Todesangst, individuelle und/ oder gemeinsame Schockerfahrungen sowie tragische Erfahrungen, Schuld- und Reuegefühle, Ehrfurcht vor dem Leben. In den heutigen soziokulturellen und politischen Lebenslagen manifestiert sich das Erscheinungswesen der Urtheat‐ ralisierung vor allem in Ausnahmesituationen und -orten. Sie heben in Form einer aktionsorientierten Geschichtsschreibung bzw. Zeitgeschichte den thea‐ tralen Ereignischarakter hervor. Von diesen Auslegungen ausgehend, lässt sich schlussfolgern, dass Schlin‐ gensiefs politisches Theater postdramatischen Inszenierungsstils „triftiger die Essenz, die spezifische Chance des Theaters zum Leben“ bringt. „In dem Maße, wie Theater nicht eine fiktive Gestalt […] vorgestellt, sondern der Körper [der jeweiligen Beteiligten] in seiner Zeitlichkeit ausgestellt wird, treten die Themen der ältesten Theatertraditionen, treten Geheimnis, Tod, Verfall, Abschied, Alter, 254 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 645 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., , S. 462. 646 Kuemmel, Peter: „Selber Gott werden! “, a. a. O., Schuld, Opfer, Tragik und Eros wieder, gewiß in neuer Weise, hervor“ 645 - diese hat selbst Schlingensief mit seiner Krebsdiagnose tragisch getroffen. Auch sein Voodoo-Ritual gewinnt die ursprüngliche wirkungsästhetische und transformative Kraft von Theater zurück. 2.2.6. Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel Mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ wird jene Periode wieder belebt, als Ritual, Politik und Theater zwangsläufig eins waren. Doch bezieht sich Schlingensief nicht wie Nitsch auf griechische Opferrituale. Er eignet sich ein westafrikanisches Voodoo-Ritual an, in welchem er selber als Voodoo-Priester auftritt. Obgleich bei der Durchführung dieses Rituals viele Elemente bzw. Symbole auf den westafrika‐ nischen Ritualursprung verweisen, ist es keineswegs Schlingensiefs Absicht, ein afrikanisches Ritual in Europa zu reproduzieren. Der Künstler geht „seinen eigenen Voodoo-Weg zur Abschaffung des Todes […]. ‚Der Christ‘, so Schlingensief, ‚geht in die Kirche, um Gott zu treffen. Der Voodoo-Mann will selbst Gott werden.‘“ 646 Dass Schlingensief der Meinung ist, ein Voodoo-Mann wolle selbst Gott werden, ist eine Umdeutung aufgrund seiner Inszenierung: Kein Voodoo-Priester im westafri‐ kanischen Kontext will Gott werden oder ihn ersetzen. Bestimmte institutionelle Voraussetzungen der entsprechenden (Dorf-)Gemeinschaft müssen zunächst erfüllt werden, bevor der anerkannte oder designierte Voodoo-Priester die Durchführung eines Voodoo-Rituals übernehmen kann. In den meisten Fällen soll er der Dorfälteste sein - aber nicht zwingend: er kann auch jung sein. Das Alter ist nur eines von vielen Kriterien, die erfüllt werden müssen, um die Verantwortung eines Voodoo-Priesters tragen zu dürfen. Abgesehen vom Alter müssen ihm besondere spirituelle Eigenschaften anerkannt werden. Außerdem muss er einen großen Vorrat an Wissen, Erfahrung, Weisheit, einen Sinn für Verantwortung und Moral besitzen. Darüber hinaus soll er - in Übereinstimmung mit den von ihm erwarteten positiven Eigenschaften - eine adäquate Weltanschauung und ein Verständnis für das Universum aufweisen. Dabei zeigt er, wie im Rahmen der blutigen Opferrituale in der griechischen Antike, Ehrfurcht vor dem Leben. Er glaubt daran, dass man über den Tod in die Welt der Verstorbenen eintritt, die Teil des Universums sind. Beim Erledigen seiner Aufgaben als Voodoo-Priester ist er aber überwiegend für das Wohlbefinden aller in der Gemeinschaft da: Lösungen für Daseinsprobleme 255 2.2.6. Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel 647 Henning Christoph in einem Interview mit Thomas Knoefel: „Voodoo in Benin: Die afrikanische Pistole, der Juju-Mann und die untoten Toten“. In: Lettre - Europas Kulturzei‐ und Krankheiten finden sich durch die Macht der Verstorbenen und der Götter, mit denen er kommuniziert. Er kann zudem eine Gefahr, ein tragisches Geschehen vorhersehen und den Weg zur Vorbeugung zeigen. Der westafrikanische Voodoo-Glaube beruht ursprünglich auf einem Wech‐ selverhältnis zwischen der hiesigen Welt (Lebenden) und den jenseitigen Leben (Götter und Verstorbenen). Die Götter und Verstorbenen, die Gutes belohnen und Böses bestrafen, werden durch Totenkulte, Statuetten, Ahnenmasken und Skulpturen in performativ rituellen Darbietungen vergegenwärtigt und somit als real existierende Wesen empfunden bzw. wahrgenommen. In einem Inter‐ view von Lettre - Europas Kulturzeitung bringt Henning Christoph im Herbst 2016 den Ursprung und die soziale, spirituelle, schützende und therapeutische Funktion der westafrikanischen Voodoo-Religion bündig auf den Punkt: Das Wort „Voodoo“ wird oft mißverstanden und mißbraucht: Es kommt aus der Sprache der Fon, der Hauptethnie in Benin, und bedeutet einfach nur Gott. Es gibt den einen Schöpfergott im Voodoo - Sonne und Mond -, aber er ist viel zu fern, zu weit weg: Ich kann nicht unmittelbar mit ihm kommunizieren. Er hat auch nicht Zeit für unsere Probleme, hier auf der Welt. Aber der Schöpfergott besitzt […] Kinder; das sind Himmels-, Erd- und Wasser-Gottheiten, und mit denen arbeitet man. […] Die Wiege des Voodoo ist Benin, das ehemalige Königreich Dahomey der Fon, welches nah am Reich der Yoruba liegt - hier gab es über Jahrhunderte einen Austausch: Die Götter der Fon und der Yoruba tragen oft den gleichen Namen. Für die Portugiesen war Voodoo schon immer ein Teufelsglaube; der Gott Legba, mit einem riesigen Phallus und zwei Hörnern, symbolisierte das christliche Bild des Teufels, des großen Verderbers, und mußte bekämpft, zerstört werden […] Voodoo wird bis zum heutigen Tag, selbst in Ost- und Südafrika, mißverstanden, als Hexerei und schwarze Magie verteufelt. Hollywood hat dieses spooky Image dann weiter bedient […]. Im Grunde aber ist Voodoo ein Heil- und Schutzsystem[,] nur der geringste Teil betreibt eine „Schadensmagie“, die nur angewendet werden darf, wenn sie gerechtfertigt ist und das Orakel zustimmt. Ist sie aber notwendig, um eine Ordnung wiederherzustellen, dann ist diese Magie, sagt man, auch nicht „böse“. Jemand der heilt, wird niemals Menschen Schaden zufügen - beides ist im Voodoo streng getrennt! Schadensmagier, die Azetos (die übrigens, wie auch die Priester in allen alten afrikanischen Religionen, ihre magischen Kräfte von Hexen, von weiblichen Dämonen kaufen) müssen sehr vorsichtig und sicher sein, daß ihre Arbeit vom Orakel bestätigt wird, sonst fallen die Rituale auf sie selbst zurück. 647 256 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ tung/ Lettre International, Herbst 2016, https: / / www.lettre.de/ beitrag/ christoph-henning_ voodoo-benin - letzter Zugriff: 27.08.2017. 648 Vgl. Henrike Thomsen: „Schlingensief gegen die FDP. Faule Fische, Federn und Pa‐ tronenhülsen“, 24.06.2002, http: / / www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ schlingensief-ge gen-die-fdp-faule-fische-federn-und-patronenhuelsen-a-202441.html - letzter Zugriff: 27.08.2017. 649 Vgl. ebd. 650 Ebd. 651 Stefan Keim: „THEATER ALS TEUFELSAUSTREIBUNG. Mehr als ein Provokateur: Christoph Schlingensief kämpft als Schamane gegen Deutschlands böse Geister“, 02.07.2002, http: / / www.aktion18.de/ presse.htm- letzter Zugriff: 27.08.2017. Die beschriebenen Eigenschaften des Voodoo kannte Schlingensief. Mit seinem eigenen Voodoo-Konzept wollte er auf eine ästhetische sowie symbolische Art und Weise den Tod abschaffen, die Politik reinigen und das Böse abwehren. Auch wirkungsästhetische sowie transformative Intentionen gehen mit Schlin‐ gensiefs Rückgriff auf das Voodoo-Ritual einher. Nach dem rituellen Vorbild der Grenzüberschreitungen hält Schlingensief alle Beteiligten in der Schwebe, im Dazwischen des Künstlerischen und Alltagslebens: Es gelingt Schlingensief eine produktionsästhetische Ausnahmesituation in Form einer rituellen Liminalität, die wiederum die Düsseldorfer Anbachstraße, in der sich Möllemanns Firma befindet, in einen ästhetischen Ausnahmeort umwandelt. In dieser hergestellten liminalen Theatersituation führt Schlingensief sein subvertiertes Voodoo-Ritual und somit seinen politischen Protest wirksam durch. Weil sich Schlingensief von der FDP bzw. von Jürgen Möllemann innerlich beschmutzt und verletzt fühlte, 648 führte er den Ritualvorgang als Gegenaktion durch. Alle Elemente von Fluxus (Fluxus Event und Fluxus Kit), Happening, Aktionismus, Installations- und Performancekunst lassen sich in seinem Voo‐ doo-Ritual ausmachen: faule Fische und Patronenhülsen zur Verschmutzung von Möllemanns Vorgarten. Waschpulver zur Reinigung des Klaviers für bes‐ sere Töne heben den subversiven und kritischen Charakter dieses Rituals hervor. Beim Durchführen seines Voodoo-Rituals brachte Schlingensief, der Voodoo-Priester, der sich zusätzlich als Politiker sieht, 649 eine Art Hybris zum Ausdruck, indem er staatliche und öffentliche Sicherheitsbeamte herausfor‐ derte: Er testete ihre Geduld und trieb sie an ihre Grenzen. Es bestand eine ständige Interaktion zwischen Schlingensief und der Polizei: „Als Schlingensief versuchte, eine Puppe mit einem Scharon-Porträt zu schmücken (um Mölle‐ manns antisemitisches Brandstiftertum zu symbolisieren), griffen die Beamten ein und hinderten ihn daran.“ 650 „Sie schützen das Böse“, 651 sagte Schlingensief den Polizisten. Obgleich kein echtes Blut in dieser subvertierten, satireartigen, devianten und irritierend inszenierten Theatersituation verwendet wird, sug‐ 257 2.2.6. Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel 652 Pressespiegel: http: / / www.aktion18.de/ presse.htm- letzter Zugriff: 27.08.2017. 653 Vgl. Henrike Thomsen: „Schlingensief gegen die FDP. Faule Fische, Federn und Patro‐ nenhülsen“, a. a. O. gerieren doch verwendete Elemente wie Huhn und Federn den Betrachtenden rituelle Tötung und Blut im Kontext eines Voodoo-Rituals. Bei diesem Voo‐ doo-Ritual, wie gesehen, wurden die anwesenden Polizisten zu aktiven Antago‐ nisten in einer liminalen Theatersituation. Auch die Zuschauer_innen waren von allen aktiven Akteur_innen (Schlingensief und Team, Polizisten, Presse etc.) nicht durch irgendeine imaginäre „vierte Wand“ getrennt. Sie konnten sogar direkte Kommentare abgeben. Dieses gesamte Setting des subvertierten Reinigungsrituals wurde zu einer großen Intervention sowie Protestaktion im Alltagsleben. In diesem Zusammenhang betitelte die Zürcher Zeitung mit der Schlagzeile „Der Anti-Wahlkämpfer Schlingensief attackiert die deutsche FDP“ und berichtete am 28. Juni 2002 Folgendes: Dass Satire alles dürfe, gehört seit Tucholsky zur libertären Auffassung von Kunst‐ freiheit. Auch die deutsche Staatsanwaltschaft hat sich diese Sicht mittlerweile weit‐ gehend zu eigen gemacht. Als darum am Montag der Provokationsspezialist Christoph Schlingensief vor der Firma von Jürgen Möllemann in Düsseldorf auftauchte, um dort mit ausgesuchtem Aberwitz die antiisraelischen Äusserungen des FDP-Politikers zu karikieren, blieb die Aktion ungeahndet. Mehrere tausend Patronenhülsen hatte Schlingensief im Vorgarten des von ihm als „Waffenfirma“ bezeichneten Unterneh‐ mens ausgestreut, kiloweise Federn verteilt (stellvertretend für das angekündigte Teeren und Federn des Hausherrn), faule Fische geworfen („ein altes Hexenritual - auf Beschmutzung folgt Abwehr“) und eine mit dem Konterfei Ariel Sharons versehene Strohpuppe sowie die israelische Flagge angezündet, wobei er freilich Möllemann als Brandstifter verstanden wissen wollte. Die örtliche Staatsanwaltschaft bemühte anschliessend das hohe Gut der Meinungsfreiheit, das solches Tun decke, und lehnte es ab, aus eigenem Antrieb tätig zu werden. 652 Hinzu kam das besondere Moment, als Schlingensief das „Voodoo-Huhn“ aus dem Laster als Krönung seines Rituals hervorholte. Die Spannung stieg sofort: Henrike Thomsen berichtet, dass das Publikum, das bisher eher gelassen war, plötzlich unruhig wurde. „Wenn er dem Tier was tut, bringe ich ihn um“, rief eine Frau aus. 653 Das Huhn, das auch in Voodoo-Ritualen geopfert wird, wollte Schlingensief nicht schlachten. Vielmehr wollte er mit den Emotionen des Publikums spielen - wie im Guerilla-Theater. Nach etwa einer Stunde ging Schlingensiefs politischer Protest zu Ende. Als kurz danach ein Junge aus der Nachbarschaft, der die chaotische Szenerie voller Brandspuren und 258 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 654 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., , S. 249-250. 655 Vgl. ebd., S. 250. 656 Ebd. Löschschaum beobachtet hatte, fragte: „Was war das denn? “, antwortete jemand aus dem Publikum: „Kunst“. Jedoch ruft Schlingensiefs Inszenierung nicht nur die Frage hervor, was die Aktion darstellen sollte. Zeitgleich wirft sie die Frage nach der produktions- und wirkungsästhetischen sowie transformativen Kraft des politischen Theaters auf. Die Erfahrungs- und die Wirkungsästhetik hängen miteinander zusammen, wenn eine erfahrungs- und eine wirkungsästhetisch intendierte (sinnliche) Wahrnehmung von produktionsästhetischer Gestaltungsform bedingt wird. Das Reale als Schauplatz von Schlingensiefs Theater, das bereits seinem Wesen nach die Aktionen an der Schnittstelle von Fiktion/ Realität, Kunst/ Nichtkunst abspielen lässt, wird durch Grenzüberschreitungen nach dem Ritualvorbild erneut betont. Die körperzentrierte Erscheinung von Schlingensief sowie von allen anderen Akteur_innen (Polizisten und Journalist_innen etc.) stellt eine theatrale Exponierung des menschlichen Körpers so ausdrücklich dar, dass die‐ ser in seiner Leiblichkeit hic et nunc im performativen Prozess seines physischen Soseins zu betrachten ist. Da der Schauplatz in dieser Form entgrenzt und real wirkt, geht es konsequenterweise auch um die transformative Kraft dieser rituellen oder quasirituellen Inszenierung. Lehmann veranschaulicht hierzu, dass das Ritual im Theater- und Performancepraxis der Gegenwart nach den „Möglichkeiten des Menschen am Rand seiner zivilisatorischen Bändigung“ frage. Dass gerade ein Künstler - wie Schlingensief - für die anderen Menschen Grenzen überschreite, sei nur allzu deutlich. Jeder Künstler, betont Lehmann, vollziehe „auf eigene Rechnung den Ritus.“ 654 Es wurden z. B. gegen Schlingensief ermittelt, wie bereits gesehen. Die an Voodoo erinnernde subvertierte Reini‐ gung deutet darauf hin, dass die Verflechtung, das Ineinandergreifen und die Verschränkung von Ritual und Unterhaltung, die im voraristotelischen und außereuropäischen Theater zu treffen waren, und ihre Wiederaufnahme in theatrale Vorgänge der 1960er- und 1970er-Jahre auch heute noch aktuell sind. Im Theater des Realen, wie es Lehmann auf den Punkt bringt, finde sich Aktivität im Zwischenbereich von Theater und Ritual. Die anthropologische These besage diesbezüglich, dass die eigentliche Basispolarität nicht zwischen Ritual und Theater (Performance Art) bestehe, sondern in den Parametern „Wirksamkeit“ (im Ritual) und „Unterhaltung“ (in der „Kunst“). 655 So ist es durchaus möglich, dass Theater eine Variation von „Wirksamkeit“ zum Ziel hat, „die wenig mit den rituellen Verfahren in, sagen wir: afrikanischen Gesellschaften verbindet und die dennoch weit mehr als Unterhaltung darstellt.“ 656 Schlingensiefs Betonung realer 259 2.2.6. Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel 657 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 74-75. 658 André Breton: „Zweites Surrealistisches Manifest“. In: Ders.: Die Manifeste des Surrea‐ lismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 56. Aktionen in seinem politischen Theater mit ritueller Ausprägung intendiert eine theatrale Wirksamkeit im Alltagsleben. 2.2.7. Schlingensiefs politisches Theater: Betonung realer Aktionen Mit der Durchlässigkeit der Grenze zwischen Kunst und Alltagsleben wird das Reale, das bereits bei klassischen Theateraufführungen auszumachen ist, besonders bewusst gemacht. Rebentisch zufolge gehe es darum, den Raum der Inszenierung zugunsten einer realen Situation zu überwinden. Es gehe darum, das Reale, das immer schon Teil der Inszenierung gewesen sei, ausdrücklich so in die Inszenierung eintreten zu lassen, dass das - latent bereits im traditionellen dramatischen Theater vorhandene - Spannungsverhältnis zwischen Realem und Inszenierung betont werde. 657 Das Spannungsverhältnis zwischen Realem und Inszeniertem zu betonen oder das Reale in eine Inszenierung einbrechen zu lassen, bedeutet für Schlingensief, eine assoziative Mutprobe mit historischen sowie mit aktuell brennenden sozialen und politischen Schlüsselfragen mitein‐ zubeziehen: Abgesehen von der Assoziation des Aufrufs „tötet Möllemann“ oder der Äußerung „Werden Sie Selbstmordattentäter! “ mit tragischen Erfahrungen und heutigen Terroranschlägen knüpfen Schlingensiefs Worte an ähnliche Äußerungen des Surrealisten André Breton an: In seinem „Zweiten Surrealisti‐ schen Manifest“ schreibt Breton: Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem der‐ zeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe. 658 Der gedankliche Inhalt dieses Zitats erhellt sich durch Bretons tragische Erleb‐ nisse und Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs: Als Sanitätsoffizier hatte er im Krieg gedient und war Augenzeuge davon gewesen, wie der Massenmord von Menschen produziert wurde. Schlingensief greift auf Bretons Äußerungen zurück, indem er nicht von einer wahllosen Tötung spricht, sondern Personen und Personengruppen im Visier hatte. Das Ziel seiner Aussagen war jedoch alles andere als das tatsächliche Töten von Menschen. Wie in der Kommunikations‐ 260 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 659 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 74-75. guerilla und Guerilla-Theater ging es in Schlingensiefs Theateraktion vielmehr darum, eine kritische und hinterfragende Aktionshaltung sowie Stellungnahme hervorzurufen: Er wollte mit den Empfindlichkeiten von Menschen spielen und dadurch zum Nachdenken anregen, um z. B. erlebte Konsequenzen antisemiti‐ scher Äußerungen und Volksverhetzungen zu vergegenwärtigen und - entspre‐ chend dem Verhältnis zu aktuellen Begebenheiten - um Zusammenhänge sowie Ursachen neu zu hinterfragen. Obgleich Schlingensief selbst nie schießen bzw. töten würde, konnte er nicht versichern, dass niemand seinem Tötungsaufruf folgen würde. Das ist wiederum nicht nur eine ästhetische, sondern eine gelebte reale Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie die Grenze zwischen Inszeniertem und Realem selbst im Unklaren gehalten worden war. „Solche Grenzgänge des Theaters lassen reale und inszenierte Momente fortwährend ineinander umschlagen - ohne je deren Spannungsverhältnis zugunsten einer Seite aufzulösen.“ 659 Auch der Vorgang der symbolischen Bücherverbrennung stellt geschichtliche Korrespondenzen her: Dass Schlingensief Martin Walsers Bücher verbrennen wollte, hatte heftige Debatten in realer Lebenswelt ausgelöst. Allein die An‐ kündigung der Bücherverbrennung im Mai 2002 genügte, um unzählige kon‐ troverse Interpretationsvariabilitäten und Assoziationen hervorzurufen. Dass Schlingensiefs Inszenierung wegen der damaligen politischen Äußerungen im Rahmen der deutschen Bundestagswahlen 2002 in das Programm des Festivals „Theater der Welt“ extra aufgenommen worden war, bestätigt, was von Kunst bzw. Theater erwartet wurde/ wird: auf politische Vorgänge zu wirken. Und hier tritt Schlingensief mit seinem eigenartigen Inszenierungsstil auf, um dieser Aufgabe nachzukommen. In der Tat wird die Idee der Bücherverbrennung rasch mit Antisemitismus verbunden. Wird sich die mit Tabus beladene Geschichte des Dritten Reiches aufgrund von Schlingensiefs Bücherverbrennungsaktion wiederholen? Oder geschieht dies aufgrund der antisemitischen Äußerungen Möllemanns? Viele Menschen sahen sich während der Bundestagswahlen 2002 mehr oder minder mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Mit seiner Bücherverbrennungsaktion wollte Schlingensief dazu beitragen, die Wiederholung der Geschichte hinterfragend zu unterbinden: Er kündigte seine Teilnahme an dem nordrhein-westfälischen Festival „Theater der Welt“ (mit dem Titel „Aktion 18: Christoph Schlingensief, der deutsche Kennedy“) an. Er wolle die Walser-Bücher zunächst signieren und dann verbrennen, teilte er am 5. Mai 2002 in Köln mit und ließ seiner Ankündigung Taten folgen. Der Vorgang der symbolischen Bücherverbrennung wurde von einem Polizei‐ 261 2.2.7. Schlingensiefs politisches Theater: Betonung realer Aktionen 660 Vgl. „Schlingensief schlägt zurück "Möllemann soll seinen Mund halten"“. In: Spiegel Online, 26.06.2002, http: / / www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,202729,00.html- letzter Zugriff: 27.10.2017. 661 Transkulturalität wird im dritten Teil dieser Arbeit detailliert veranschaulicht. 662 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 7. hubschrauber von oben aus observiert. Schlingensief hatte zudem aufgerufen, ebenfalls aktiv zu werden, da es nach der Wahl zu spät sei, etwas zu unterneh‐ men. 660 Dieses Engagement und die Betonung realer Vorgänge im Alltagsleben bestätigen nicht nur Schlingensiefs grenzüberschreitende Aktionen, die wie in afrikanischen Ritualvorgängen eine Wirksamkeit intendieren. Zugleich zeigt sich Schlingensiefs Interesse für afrikanische Kunstausdrucksformen, die Leben und Kunst verschränken. In diesem Zusammenhang entstanden viele künstle‐ rische Produktionen von Schlingensief in afrikanischen Ländern: Church of Fear (2003), der Dokumentarfilm African Twin Towers (2008) in Namibia, Operndorf in Burkina Faso, Via Intolleranza II (2010) etc. Anknüpfend an Schlingensiefs wiederholtes Zitieren, Einbinden, Einbeziehen afrikanischer Elemente in seine künstlerischen und ästhetischen Projekte, wird ab diesem Punkt in der Arbeit aus postdramatischer sowie transkultureller 661 Betrachtungsweise die künstlerische Ausdrucksform in Afrika diskutiert. Dies‐ bezüglich handelt es sich aus postdramatischer und transkultureller Sicht um „bestimmte Zusammenhänge, Verfahren, ästhetische Mittel, Konstellationen, Verknüpfungen“, bei welchen „es sich dann zeigt, dass manches, was unerhört neu scheinen kann, nur vergessene oder halbvergessene Potentiale des Theaters wiedererweckt oder an Praktiken der Performance und theatralen Darstellung in anderen Kulturen anknüpft.“ 662 Schlingensiefs Voodoo-Ritual ist hierbei als eine symbolische Geste aufzufassen, die in Form einer Entdeckungsreise eine Brücke in den afrikanischen Kulturraum schlägt. Außerdem hat Schlingensief selber den Schritt gemacht und ist über die geschlagene Brücke nach Afrika gegangen. Sein letztes Projekt, das Operndorf Afrika, befindet sich in Burkina Faso. Um zur postdramatischen Ästhetik in Afrika und zu deren transkultureller Betrachtungsweise zu kommen, wird im Folgenden zunächst von Schlingen‐ siefs Operndorf-Vision ausgegangen. Dann wird auf die ästhetischen und theatralen Gestaltungsformen des Kote-tlon-Theaters der Bamana im alten Mali und auf Alarinjo der Yoruba in Nigeria eingegangen. Das Ziel liegt darin, postdramatische und transkulturelle Zusammenhänge, Verfahren, ästhetische Mittel, Konstellationen, Verknüpfungen, Ähnlichkeiten und Wechselwirkungen hervorzuheben, welche sich produktions- und wirkungsästhetische Potentiale des Theaters an kulturspezifischen Praktiken bzw. theatralen Darstellungsfor‐ men entsprechend entzünden. 262 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 663 Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensief ’s Theatre and the African Opera Village. Rediscovery (of African artistic practices)“, a. a. O., S. 172. 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 2.2.8.1. Das Operndorf Afrika: eine kulturspezifische und transkulturelle Annäherung Das Operndorf in Afrika ist Ausdruck sowie gegenkultureller Inbegriff einer Vision und impliziert „another way of understanding and judging what art can be and what it cannot be - one which takes into account the geographical loca‐ tion of the culture.“ 663 In Anbetracht dessen lautet das Postulat in dieser Arbeit wie folgt: Das Operndorf Afrika ist zunächst als eine transkulturelle Vision aufzufassen, die wiederum produktions- und erfahrungssowie wirkungsäs‐ thetische Ausdrucksstrategien und -praxen von Kunst in Afrika hervorhebt. Ursprüngliche bzw. originelle künstlerische Ausdrucksformen in Afrika ähneln durchaus Schlingensiefs Inszenierungsstil, da zum einen Kunst und Leben un‐ trennbar verschränkt sind. Zum anderen geht es um eine erfahrungsästhetische, therapeutische, funktionelle und religiöse Wirksamkeit dieser ursprünglichen Ausdrucksformen, die zusätzlich eine künstlerische Unterhaltung und eine rituelle transformative Kraft vermengen. Darüber hinaus erlebt man mit Schlin‐ gensief ausgesprochen andere Wechselbeziehungen zwischen Afrika und Europa in Bezug auf die (Theater-)Kunst. Diesbezüglich ist Schlingensiefs Operndorf Afrika als Vision im Sinne eines Projekts aufzufassen, das jenseits der westlichen bzw. europäischen etablierten Kunstproduktions- und Rezeptionsrahmenbedin‐ gungen das Wahrnehmen anderer künstlerischer Ausdrucksformen befördert und kulturspezifisch nachvollziehbar macht. Das Operndorfprojekt startete im Mai 2009 mit Schlingensiefs Suche nach dem geeigneten Ort. Schlingensief entschied sich für das westafrikanische Land Burkina Faso, um dort sein Projekt umzusetzen. Das Konzept beabsichtigte den Bau von verschiedenen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Dazu zählen etwa Schulgebäude, eine Krankenstation, Unterkünfte und ein Festspielhaus. Diese sollten allen zugänglich sein: Einheimischen und Gästen aus allen Teilen der Welt. Erst im Oktober 2011, ein Jahr nach Schlingensiefs Tod, wurde die Schule eröffnet. Das Operndorf steht für den künstlerischen Austausch zwischen Afrika und Europa sowie für die Sichtbarmachung anderer Kunstfor‐ men. Obwohl das Operndorfprojekt nicht vollständig verwirklicht worden ist, vermittelt es die Vision in Form eines Projekts. Ein Projekt in diesem Sinn 263 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 664 Vgl. Dieter Heimböckel, Manfred Weinberg: „Interkulturalität als Projekt“. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H2, 2014, S. 119-144, hier S. 122. 665 Anna-Catharina Gebbers, Aino Laberenz, Ute Müller-Tischler: „Ich bin hier nicht im Bild. Gespräch mit Anna-Catharina Gebbers und Aino Laberenz über die Chris‐ toph-Schlingensief-Retrospektive“. In: Theater der Zeit, Heft 1/ 2014, http: / / www.theate rderzeit.de/ 2014/ 01/ extra/ 30553/ komplett/ - letzter Zugriff : 26.08.2017. rückt das Prozessuale in den Vordergrund und berücksichtigt entsprechende Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für das intendierte Ergebnis. Das Ergebnis wiederum ist Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg zufolge aber nach Maßgabe seines Prozesscharakters ganz und gar offen 664 - auch für ein Scheitern oder Nichtzustandekommen. Für Schlingensief gilt das „Scheitern als Chance“. Schlingensiefs Operndorfvision als Projekt hat afrikanisch-kulturspezifische Korrespondenzen, die als erste Wahrnehmungs- und Rahmenbedingungen zur Betrachtung und Realisation des künstlerischen Vorhabens fungieren. So zeigt das Operndorf Afrika jenseits der postkolonialen, humanitären bzw. hegemo‐ nialen Wahrnehmungsdiskurse innovative Horizonte, die andere Betrachtungs‐ weisen bzw. Lesarten bezüglich der Verflechtung kultureller bzw. medialer Kategorien ermöglichen, welche ästhetischer, sozialer, ritueller, didaktischer, therapeutischer und politischer Natur sind. Da das Operndorf in einem kultu‐ rellen Umfeld realisiert ist, in dem ursprünglich weder eine medienspezifische Aufteilung der Kunst in verschiedene Künste noch eine eindeutige Trennung zwischen Kunst und Leben besteht, eröffnet sich sehr deutlich die Möglichkeit, Schlingensiefs Projekt aus einer solchen, gewissermaßen entgrenzenden Per‐ spektive zu betrachten: In einem Gespräch erinnert Laberenz an Schlingensiefs Satz „Alles ist Kunst, weil Überleben längst eine Kunst ist.“ Der Satz steht natürlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Operndorf Afrika in Burkina Faso. Aus dieser Perspektive betrachtet, geht es darum, unseren einerseits ziemlich ausgefransten, andererseits oft sehr hochgehängten Kunstbegriff in ein Verhältnis zu bringen mit anderen Kulturen, die um einiges geerdeter mit ihrer Kultur umgehen. Da sind existenzielle Fragen oft auch Fragen des Alltags - und eben des alltäglichen Überlebens. Das setzt bei den Leuten da eine ganz andere Kreativität frei, als wir sie heute hier erleben und wie sie ab und zu ja schon von den Kulturbetrieben selbst - Theatern, Opern, Museen - bemängelt wird. 665 Damit fordert das Operndorf eine Relativierung von westlich-dominanten Lesarten: Denn Schlingensiefs Operndorf befindet sich in einem Umfeld spezi‐ fischer Kulturen, die auch „ihre geschichtlich konstruierte Identität über eine Vielzahl kategorial unterscheidbarer und typologisch bestimmbarer, diskursiv 264 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 666 Ludwig Jäger: „Medialität und Mentalität. Die Sprache als Medium des Geistes“ , a. a. O., S. 51. 667 Zodwa Motsa: „The Missing Link in siSwali Modern Drama”. In: Lokangaka Losambe, Devi Sarinjeive (Hg.): Pre-Colonial and Post-Colonial Drama and Theatre in Africa. South Africa: New Africa Books (Pty) Ltd 2001, S. 32-47, hier S. 35. 668 Vgl. Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensief ’s Theatre and the African Opera Village. Rediscovery (of African artistic practices)“, a. a. O., S. 172. verfestigter mündlicher Traditionen bestimmen, die als Medien [körperzentriert bzw. performativ] transsubjektiver Speicherung kulturellen Wissens fungie‐ ren.“ 666 Das gilt insbesondere für die Konzeptualisierung und Realisierung von Kunst, die sich nicht vom Leben bzw. von einer rituellen Erfahrung und von sozialen sowie therapeutischen Transformationen trennen lässt. Zodwa Motsa stellt in diesem Zusammenhang fest: „Evidently, the constituents of European drama are not identical to those of African drama. This does not suggest any superiority or inferiority of artform in either camp.“ 667 2.2.8.2. Zur Problematik der künstlerischen Begriffe bzw. Konzepte Dass Afrika und Europa jeweils kulturspezifische künstlerische Ausdrucksfor‐ men entwickelt haben, ist evident. Und wenn dennoch die gleichen Begriffe wie Drama, Theater, Performance, Oper bzw. Operndorf usw. auf beiden Konti‐ nenten verwendet werden, um unterschiedliche Kunstformen sowie ihre gesell‐ schaftliche Funktion zu bezeichnen? Sind hierbei nur europäische Kategorien und Verständnisse der Beschreibung hilfreich, um z. B. das Operndorf von Schlingensief oder andere künstlerische Ausdrucksformen in ihrem jeweiligen Kern zu fassen? Eine begriffliche Problematik liegt in der Schwierigkeit und sogar der Un‐ möglichkeit der Übersetzung des Begriffs „Kunst“ in afrikanische Sprachen. Davon ausgehend wird bis heute sowohl von vielen europäischen/ westlichen als auch afrikanischen Künstler_innen und Wissenschaftler_innen mit Recht behauptet, dass es in afrikanischen Sprachen kein Wort für „Kunst“ gibt. 668 Diese Behauptung mag stimmen, wenn es um eine wortwörtliche Übersetzung und nicht um alternative Bezeichnungen und Codes geht. In Theatre in Africa schreiben Oyin Ogunba und Abiola Irele in Bezug auf das Theater: Prior to the advent of the whiteman, Africans did not have „theatre“ in the Western or oriental sense. Nobody in Africa built structures specially designated „playhouses“ which served the purpose of entertainment or dramatic instruction and nothing else. Though there were arenas for performances, they were not constructed in strict 265 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 669 Ogunba Oyin, Abiola Irele: Theatre in Africa. Ibadan: Ibadan University Press 1978, S. 9. 670 Vgl. David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 1-15. 671 Vgl. ebd. 672 Vgl. ebd., S. 1. geometric dimension like those of the ancient Greeks. Most African cultures do not even have a word for drama, although they do have words for play, music, performance etc. How then can one talk of festival drama or for that matter, a dramatic tradition? 669 Die Frage nach „How then can one talk of festival drama or for that matter, a dramatic tradition? “ verweist auf die bereits angesprochenen begrifflichen Verwirrungen. Ohne ins Detail zu gehen, kann behauptet werden, dass auch dem Verständnis von Operndorf bei Schlingensief eine institutionskritische Bedeu‐ tung bzw. eine Umkehrung der Wahrnehmung anhaftet. Dieser Dimension der Wahrnehmung und Lesart wird man nicht gerecht, wenn Schlingensiefs Opern‐ dorf in Burkina Faso sowie andere künstlerische Ausdrucksformen in Afrika stets in der dominanten (häufig westlichen) Perspektive analysiert werden. Diese Arbeit hat bereits gezeigt, wie Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze diesem dominanten Kunstbzw. Theaterverständnis den Rücken gekehrt haben. Die erfahrungs- und wirkungsästhetische Dimension des Orgien-Mysterien- Theaters und der Aktion 18, „tötet Politik! “ kommen z. B. den künstlerischen Zielsetzungen des Kote-tlon-Theaters der Bamana im alten Mali 670 und von Alarinjo der Yoruba in Nigeria 671 mehr oder weniger gleich. Auch wenn Begriffe wie Theater, Ritual und Tanz mit westlichen bzw. modernen Bedeutungen überwiegend beladen sind 672 und entsprechend in Bezug auf afrikanische Kunst‐ ausdrucksformen weiterverwendet werden, sind sie alle in dieser Arbeit im erweiterten Sinn zu verstehen. Selbst in Europa ist die Bezeichnung „Theater“ unspezifisch, wenn es darum geht, eine konkrete Funktion theatraler Ausdrucksform ins Auge zu fassen. Im afrikanischen Kontext haben alle theatralen, rituellen und tänzerischen Aus‐ prägungen je nach Situation und Funktion jeweils eine eigene entsprechende Bezeichnung. Das betrifft sowohl die rein kultischen bzw. rituellen als auch die säkularisierten Formen von Theater, Tanz, Gesängen, die etwa während bestimmter Voodoo-Rituale dargeboten werden. Je nach dem kulturellen Raum funktionieren die jeweiligen Bezeichnungen bzw. Begriffe zugleich wie seman‐ tische Codes, die es ermöglichen, die entsprechenden Kontexte der rituellen und performativen Vorgänge einzuordnen und zu verstehen. Ein Beispiel stellt eine Voodoo-Performance dar, die Züge von theatralen, körperzentrierten Rol‐ lendarstellungen, Tanz, Ritual, Musik aufweist. Kulturanthropologisch gesehen, 266 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 673 Henning Christoph in einem Interview mit Thomas Knoefel: „Voodoo in Benin: Die afrikanische Pistole, der Juju-Mann und die untoten Toten“, a. a. O. hat jede Voodoo-Performance einen eigenen Namen. Im westafrikanischen kulturspezifischen Kontext - in Ländern wie Ghana, Togo, Benin, Nigeria - ist das signifiant „Voodoo“ ein Sammelbegriff für unzählige Voodoo-Götter mit entsprechenden Funktionen: Um ein paar der wichtigsten [Voodoo-]Götter zu nennen: Sakpata, der Pocken-Gott, der Krankheiten bringt und auch wieder heilt. Ogun, der Eisen- und Krieger-Gott - ein heißer Gott; Xango, ebenso heiß und zuständig für Feuer, Donner und Blitz; ganz wichtig ist Legba - der jüngste Sohn des Schöpfergottes, der Trickser: Ständig spielt er Streiche, wird unberechenbar und gefährlich; Legba ist ein Vielfraß, gierig und oversexed - aber er erst eröffnet alle Wege, ist auch der Himmelsbote! Age nennt man den Gott der Heilpflanzen, Kokou, Ganbada, Djagli sind alles Krieger- Götter, Aziza ist der Gott der Magie und des Waldes. Der Voodoo kennt unzählige Götter. Aber es sind Wesenheiten, die man „anfassen“ kann […] sie sind auf eine gewisse Weise - anders als die meisten christlichen Heiligen - auch menschlich. 673 Je nach Voodoo-Ritual wird die Darbietung entsprechend bezeichnet. Attribute und Elemente (Tänze, Kostümierung etc.) des Ritualvorgangs werden ebenfalls verwendet. Das heißt, die Bezeichnung Voodoo geht in dem kulturspezifischen Kontext zwangsläufig mit einem Beinamen einher, der bereits beim Benennen semantische Informationen, Zusammenhänge und Korrespondenzen liefert und auf mögliche Gründe des rituellen Vorgangs verweist. Als Beispiel können theatrale Ritualvorgänge von Voodoo-Sakpata (Pockengott) oder Voodoo-Kokou (Kriegergott) in Togo angeführt werden. Darüber hinaus bringt eine rituelle Darbietung der jeweiligen Voodoo-Götter eigene theatrale Aufführungsstruk‐ turen hervor. Dem festgelegten Raster folgend, werden die jeweiligen rituellen Performances nur an ausgewählten Orten und zu bestimmten Zeiten mit entsprechenden Aktionen vollzogen. Mit der Säkularisierung, die angesichts der wachsenden und großen Nachfrage der Tourismusbranche immer mehr zunimmt, kann aber nicht länger an den genuin rituellen Vorschriften festge‐ halten werden: Künstler_innen kommen ins Geschäft, um Voodoo-Rituale mit professionell-modernen, künstlerischen, ästhetischen Strategien entsprechend inszeniert für die Nachfragen aus der Tourismusbranche zu vollziehen. Alle ursprünglichen Ausdrucksformen von Kunst bzw. Theater in Afrika haben ein rituelles Fundament und somit einen konkreten Namen, der entweder vom Ritual (historischen oder gegenwärtigen), vom Alltagskontext oder von der Mythologie herkommt. Da aber keine starke Bemühung bei Intellektuellen 267 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika und Wissenschaftler_innen vor allem afrikanischer Herkunft besteht, um diese Lücke zu füllen, werden begriffliche Verwirrungen verstärkt. Im afrikanischen Kontext, wie beim Voodoo-Begriff veranschaulicht worden ist, ist es auch aufschlussreich, einen spezifizierenden Beinamen einzufügen. Die folgende Analyse einiger afrikanischer Theaterformen kann diesbezüglich erhellend sein. 2.2.8.3. Kote-tlon-Theater der Bamana im alten Mali Das Kote-tlon-Theater ist eine Theaterform des Bamana-Stammes, der neben den Malinke eine relativ kleine ethnische Gruppe im Königreich Mali bildet. Das Königreich bestand ca. zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert und reichte von der südlichen Seite der Sahara bis ins Zentrum der Sahelzone. Geografisch gesehen, erstreckte es sich auf die heutigen Länder Senegal, Mali, Burkina Faso, Niger, Teil von Côte d´Ivoire, Togo und Benin. Das Bamana-Volk, dessen Kote-tlon-Theaterform Gegenstand der Betrachtung in dieser Arbeit ist, lebte von Landwirtschaft. Heute sind Bamana (auch Bambara genannt) im Südosten von Mali am mittleren Fluss Niger sowie in den angren‐ zenden Gebieten von Burkina Faso angesiedelt. Schon zur Zeit des Königreichs waren sie traditionelle Ackerbauer_innen, sodass die Landwirtschaft die wichtigste Existenzgrundlage bildete und bis heute bildet. Ihre Kulte sind bis in die Gegenwart mit der Landwirtschaft eng verbunden. Dabei stehen Initiationskulte in Form von Übergangsritualen - für den Eintritt junger Menschen in neue soziale Lebensab‐ schnitte - in der Bamana-Gesellschaft im Vordergrund. Einzelne Initiationsstufen und -bünde sind: Komo, N'domo, Tyi Wara, Nama und Kore. Außerhalb des Nigerbogens sind diese Riten vor allem durch die Masken bekannt, die während der Zeremonien getragen werden. Die Bamana-Gesellschaft ist in zahlreiche Bünde organisiert, die vielfältige Kunstausdrucksformen und unterschiedliche künstlerische Stilrichtungen entwickelt haben. Im Bereich Theater haben sie ebenfalls eine Vielfalt geschaffen. Bevor auf das Kote-tlon-Theater detailliert eingegangen wird, seien hier die Theaterfiguren und Marionetten des sogo bò zu erwähnen. Bekannt sind Theatertanzmasken in Tiergestalt sowie mit Farbe bemalte Steckenpferde. Das Theater der Bamana befindet sich seit jeher in diesem dynamischen und fortwährenden Prozess der Erneuerung. Dabei spielt eine fortwährende Kreativität/ Originalität eine wichtige Rolle, die es ermöglicht, jede Aufführung von der vorherigen zu differenzieren. Die Masken und Figuren sind vielfältig sowie dekorativ und zeigen oft einen heiteren Charakter. Diese Form des theatralen Ausdrucks ist bis heute lebendig geblieben. Die theatrale Choreografie ist komplex. Alle 268 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ künstlerischen Ausdrucks- und Vermittlungsformen finden in den jeweils be‐ stehenden Kultbünden und Ständegruppierungen ihren Ausdruck. Zugleich weisen sie eine rituelle, religiöse, therapeutische, belehrende, lernende, unter‐ haltungsorientierte oder sozialkritische Dimension auf. Diese Mischung aus unterschiedlichen rituellen und künstlerischen Produktionsformen und Funk‐ tionen, die mit der Landwirtschaft eng verbunden ist, dient vor allem dazu, die soziale Organisationsstruktur der Bamana aufrechtzuerhalten. In der Tat lag früher ein feudales System den landwirtschaftlichen Produkti‐ onsverhältnissen zugrunde: Die Älteren sorgten dafür, dass die Initiationsriten bzw. die Übergangsriten, die rituellen Vorgänge, durch welche viele der bereits erwähnten künstlerischen Ausdrucksformen entstanden, ihre Macht über die Jüngeren legitimierten. Die Leitung des landwirtschaftlichen Systems funktio‐ nierte in Form eines Netzwerks von Dorfhäuptlingen, die mit ihren jeweiligen Gefolgen - bestehend aus Älteren - extrem mächtig waren. Sie vermieteten den Jüngeren Grundstücke entweder für individuelle Landwirtschaft oder für kollektive landwirtschaftliche Projekte. Die Älteren hatten sich einstudierte, ideologiebasierte Strategien ausgedacht, womit Proteste oder Widerstände der Jüngeren gegen das ausbeutungsorientierte System unterbunden werden konn‐ ten. Sie erfanden einen elaborierten Weg, indem sie maskierte Rituale mit Über‐ gangsriten assoziierten. Dabei sorgten sie dafür, dass die Landwirtschaftsarbeit, die ausschließlich von den Jüngeren erledigt wurde, mit Entstehungsmythen oder ritualisierten Symbolen bedient wurde. So konnten die Übergangsrituale einerseits die Landwirtschaftsarbeit legitimieren und andererseits die Jünge‐ ren von den Älteren abhängig machen. An diesem Punkt interveniert die Kote-tlon-Theaterform, welche die etablierte landwirtschaftliche Organisations‐ struktur enthüllt bzw. kritisiert. Das Kote-tlon-Theater ist außerdem ein gutes Beispiel dafür, wie Theater ein ideologisches Dispositionssystem, das soziokulturelle, ökonomische und politische Ordnungen festlegt, ins Visier seiner Sozialkritik nehmen kann. Eine der Besonderheiten des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass die theatralen Rollendarstellungen und die soziokulturellen und ökonomischen Tätigkeiten in einem engen Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen. David Kerr erklärt, dass die Arbeiterklasse der Bamana in Altersgruppen (ton) organisiert sei. Solche strukturierten Vereine, die ton, wurden als gnonson ton bezeichnet, wenn die Gruppe wie eine kollektive landwirtschaftliche Arbeiterkraft operiert. Unter dem Leadership von jungen Menschen im gleichen Alter (flamekew) wurde die 269 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 674 Gegen Ende der 1960er-Jahre entstand im heutigen Mali das Theaterkollektiv Koteba, das sich zum Ziel setzt, theatrale Elemente dieser traditionell-vorkolonialen Theater‐ form, die während der Konialzeit verboten war, wieder zu wieder aufzunehmen und aufrechtszuerhalten. 675 Vgl. David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 5. 676 Ebd., S. 5. 677 Vgl. James Brink: „Communicating Ideology in Baman Rural Theatre Performance”. Research in African Literatures, 9, 1978, S. 386. gleiche Gruppe als Kote ba ton  674 bezeichnet, wenn sie als Unterhaltungskollek‐ tiv in Form von Produktionen theatraler Performances agierte: 675 The close structural relationship between the economic unit and cultural unit ensured a very tight ideological relationship between the two. For example, the age-set structure of Bamana society, which was an essential feature of the Bamana relations of production, was reflected in the fere (arena) and individualistic acrobatics (bakuka). The Kote-tlon started wiht skits called kaka by very young boys. When the Kote-tlon proper got under way the skits were presented strictly by age sets, starting with the younger team (in their teens) and progressing to the older groups (in their late twenties). The older groups preferred the more artistically complex plays; the respect they received parallels the increased power which men obtained in Baman society as they grew older, until they reached the stage of becoming full adults. 676 Die zweite Besonderheit des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass es wie ein Mittel für das Zusammenhalten bzw. die Solidarität der gnonson ton funktioniert. Dies wird im Laufe der theatralen Produktionsaktivitäten zunehmend verstärkt: Die harmonischen Bewegungen des bamuko-Tanzes, die nach einer einheitli‐ chen Choreografie dargeboten werden, neigen dazu, die Solidarität der Gruppe überwiegend hervorzuheben. 677 Diesbezüglich handelt es sich um eine theatrale, aussagekräftige Botschaft an die machthabenden Älteren. In diesem besonderen Kontext vermitteln, wie in vielen anderen afrikanischen Kulturen, bestimmte Tanzbewegungen die körperliche Energie, wobei eine kampf- und verteidigungs‐ orientierte Tanzsemantik in solchen performativen, körperzentrierten theatralen Darbietungen - wie bei der verbalen Sprache - buchstäblich von Empfänger_innen richtig verstanden wird. Semantische Tanzbewegungsvorräte, kombiniert mit Musik/ Musikinstrumenten und Gesängen bilden die Grundlage einer nonverbalen Kommunikation in vielen afrikanischen Kulturen. So ist es nicht selten in der Yoruba-Kultur zu sehen, dass eine tanzende Person mit einem Trommelspieler und der Trommel nonverbal kommuniziert. Es bedarf einer geübten und semantisch tiefgehenden Sinneswahrnehmung der entsprechenden Kultur, um die Botschaft in solchen Kommunikationssituationen zu entziffern. Das Kote-tlon-Theater ist 270 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 678 David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 6. 679 Richard Baumann: Verbal Art in Performance. Boston: American Anthropologist 77/ 2, 1975, S. 306. eine nichttextbasierte und vor allem säkularisierte Theaterform, die wie eine kontrollierende und sozialkritische Instanz funktioniert. Neben Tanz, Gesang und Musikinstrumenten werden lebensweltliche Situa‐ tionen nachgeahmt. Dabei werden Ältere auch durch mimetische, subvertierte und satirische Ausdrucksmittel verspottet. Insofern treten die Performer von Kote-tlon auf, haben wie Schlingensief ein künstlerisches Recht auf Kritik und spielen eine nonkonformistische Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn behauptet Kerr: „it is not very surprising to find a sceptical attitude and implicit resistance among performers of Kote-tlon. Unmasked performers tended to be more innovative,“ 678 weil der Ahnenkult mit Masken einigermaßen vom landwirtschaftlichen Produktionssystem legitimiert und/ oder instrumen‐ talisiert worden war. „In pre-colonial theatre performers tended to be both admired and feared - admired for their artistic skill […] feared because of the potential they represent for subverting and transforming the status quo.“ 679 Diese Behauptung lässt sich auch auf Schlingensief angesichts seiner Theateraktionen sehr gut beziehen. Um auf die Vorgehensweise der nichttextbasierten Rollendarstellungen in diesen vorkolonialen Theaterformen zurückzukommen, wird im Folgenden die kleine Theaterproduktion … jusqu´à l´époque cravate (2016) aufgegriffen: Sie entstand im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem Writer in Residence 2016 Roger Atikpo und Studierenden vom Institut für Romanistik. Sie dokumen‐ tiert die künstlerischen sowie ästhetischen Arbeitsmethoden der vorkolonialen Theaterformen in Afrika. Die Aufführung von … jusqu´à l´époque cravate ging von keiner Textvorlage aus. Improvisation oder Improvisationstheater wäre allerdings nicht die treffende Bezeichnung, um den Entstehungsprozess dieser Performance ins Auge zu fassen. Im Folgenden wird zunächst auf den Entstehungsprozess und dann auf eine szenisch-performative Analyse von … jusqu´à l´époque cravate eingegangen. 2.2.8.4. Entstehungsprozess der Performance … jusqu´à l´époque cravate Die Performance … jusqu´à l´époque cravate (… bis zum Krawattenzeitalter) entstand im Rahmen des von der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakul‐ tät der Universität Innsbruck und der Stadt Innsbruck initiierten Programms 271 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika „Writer in Residence“. Die Performance … jusqu´à l´époque cravate ist das Ergeb‐ nis dieser praxisorientierten Lehrveranstaltung und wurde in Zusammenarbeit mit Studierenden aus der Romanistik entwickelt. Die Uraufführung fand am 28.04.2016 in der Herzog-Friedrich-Straße 21, Stadtturm 2. Stock, im Bürgersaal der Stadt Innsbruck statt und dauerte ungefähr eine Stunde. Neben Atikpo und Nonoa traten die Studentinnen Julia Stauder, Evelyn Madlener und Linda Brandstaetter (Institut für Romanistik) als Performerinnen auf. Die genannten Studentinnen waren in den Produktionsprozess sehr aktiv involviert und hatten von der Konzeption bis zur Aufführung eine wichtige Rolle gespielt. Das Ziel war es ferner, die Vorgehensweise von theatralen Rollendarstellungen in ursprünglichen, afrikanischen Theaterformen ohne Textvorlage performativ zu vermitteln. Die anfangs reservierten und/ oder schüchternen Studierenden wurden zunächst mit einfachen expressiven sowie kommunikationsorientierten Körperhaltungen und Bewegungen gelockert. Ohne großen Widerstand wurden die Bewegungen zunehmend komplexer, mimetisch, tänzerisch und teilweise choreografiert bis zur Durchführung stilisierter Tanzschritte eines Rituals. Dazu kamen rituelle Gesänge, codierte tönende Zeichen (die keine Wörter sind) und einfache Requisiten (Pferdeschwanz, Holz etc. als Musikinstrumente). Die verbale Kommunikation im Sinne von Sprechen bei der Durchführung dieser körperzentrierten Aktivitäten kam lediglich zur Erläuterung bestimmter Bewegungen und Situationen zum Einsatz. So entstanden für alle Mitwirkenden eine nachvollziehbare nonverbale Kommunikationssemantik, ein reicher kör‐ perzentrierter Bewegungswortschatz sowie viele unter der Gruppe verstandene Symbole und Gesänge. Alles wurde bei jedem einzelnen Termin wiederholt, wobei auch die Studierenden die Führung von bereits gelernten (Tanz-)Be‐ wegungen, Gesängen und Vorgängen abwechselnd übernahmen. Ab einem bestimmten Punkt wurde alles selbstverständlich, womit die Studierenden ihrer künstlerischen Kreativität freien Lauf lassen konnten. Etwa drei Termine vor dem Ende der Lehrveranstaltung wurde eine der von Atikpo erzählten Geschich‐ ten zum Gegenstand der theatralen Bearbeitung ausgewählt. Die Geschichte wurde auf der Grundlage der gelernten körperzentrierten Kommunikationsse‐ mantik und des performativen „Bewegungsvokabulars“ aufgebaut: Es handelte sich um eine theatrale Adaption der Geschichte. 2.2.8.5. … jusqu´à l´époque cravate: eine szenisch-analytische Annäherung … jusqu´à l´époque cravate behandelt die Schicksalsgeschichte von vier Ge‐ schwistern eines verstorbenen Königs in einem heute nicht mehr bekannten 272 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ Königreich X. Der König hatte vier Frauen, mit denen er jeweils ein Kind zeugte. Nach seinem Tod bestand jede Mutter darauf, dass ihr Kind den Thron übernehmen sollte. Die Situation führte zu einem ebenso kompromisslosen wie schier unendlichen Streit unter den Kindern und Müttern. Die Geschwister, die am Anfang der Performance auf unterschiedlichen Plätzen im Zuschauerraum saßen, fingen ihren heftigen Streit im Publikum an, ehe sie auf die Bühne traten. Gestritten und gesprochen wurde auf Tirolerisch, Ewe, Hochdeutsch, Nawdem, Englisch und Französisch durcheinander. Da erschien der Griot, eigentlich Djeli genannt, als Vermittler, der die Kinder versöhnen sollte. Er hielt einen „Pferdeschwanz“ in der Hand als Symbol des Throns, um den sich die Kinder stritten. Da die Kinder nicht kompromissbereit waren, warf er den „Pferdeschwanz“ nach oben, der sich beim Herunterfallen in einen großen Baum verwandelte. Der von dem Baum gespendete Schatten und das von dem Djeli (Griot) zeitgleich angesungene Rituallied wirkten wie ein Zauber auf die vier Geschwister: Sie fingen alle an, ein rituelles Jagdlied zu singen und entsprechende rituelle Tanzbewegungen darzubieten. Das im Chor gesungene Lied und die stilisierten Tanzbewegungen wurden zunehmend harmonisch und choreografiert. Im rituellen Kontext stehen das Lied und die damit ein‐ hergehenden Jägertanzbewegungen für das Vorbereiten auf die Jagd. Vor der Jagd müssten die Jäger alle Missverständnisse überwinden, sonst wären sie im lebensbedrohlichen Urwald dem Tod ausgesetzt. In der Performance … jusqu´à l´époque cravate geht es sowohl um ein Versöhnungsritual als auch um eine rituelle Vorbereitung auf die Jagd. Es wurde im Kreis choreografisch getanzt: Dieser Tanz, der auch Momente von rituell-stilisierten Versöhnungsbegrüßun‐ gen mit Körpersowie Augenkontakten enthielt, führte die vier Geschwister zu einem harmonischen und friedlichen Miteinander. Daraufhin gingen sie in den gefährlichen Urwald auf die Jagd. Alle vier traten in den Zuschauerraum, der den Urwald symbolisierte. Der Djeli (Griot) blieb auf der Bühne stehen, spielte die Kora, erzählte die Geschichte und kommentierte die Jagdaktionen, während die vier im Publikum mimetisch, pantomimisch, zum Teil auf die Musik der Kora reagierend entsprechende Jagdvorgänge performativ durchführten. Ein paar Zuschauende kamen wie Tiere ins Visier der vier Jäger. Die Jagd ging aber ohne Erfolg zu Ende. So gingen sie nach Hause, auf die Bühne zurück. Ein Begrüßungsritual wurde als Ende der Jagdaktion durchgeführt. Dabei vermissten die Jäger einen von ihnen, der während der Jagd wie von der Erde verschluckt verschwand. Sie kehrten in den Urwald, ins Publikum zurück, um den Vermissten zu finden. Vergeblich hatten sie ihn anhand kodierter Schreie gesucht. Verzweifelt kehrten sie wieder auf die Bühne zurück. Eine Zeremonie bzw. ein Ritual wurde gehalten, 273 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 680 „[Notre théâtre] vise à rendre un peu de place à l´homme, à son corps, à son âme dans des sociétés où la ditacture de la marchandise et du temps devient ignoble et insoutenable“ - Sony Labou Tansi. ( Quelle ergänzen ) um sich vom Vermissten zu verabschieden: Dieses Mal sangen sie ein Trauerlied, begleitet mit trauerorientierten Tanzbewegungen. Sowohl das Lied als auch die Tanzbewegungen hoben die eingetretene Harmonie unter den Geschwistern hervor. Nach diesem Schicksalsschlag entschieden die restlichen Geschwister, die Jagdtätigkeit nicht länger auszuüben. Sie machten sich ohne den Griot auf den Weg in eine unbekannte, moderne Stadt bzw. Welt mit einer anderen Zeitrechnung. Ihre Reiseroute führte von der Bühne ins und ums Publikum herum. Dann kamen sie in der großen Stadt Y auf der Bühne an, wo alles neu für sie war: Autos, Straßen, Gebäude, Menschen hatten sie nie gesehen, geschweige denn in einer solchen Menge. An einem Straßenrand blieben sie stehen und überlegten, welche Arbeit sie zum Überleben ausüben sollten. Da entschieden sie, Theater zu spielen und dabei Krawatten zu tragen. Das war der Anfang des Krawattenzeitalters in der Stadt Y. Plötzlich erschien wieder der Griot, seine Kora spielend, wie von Gott gesandt, der ihnen die Theaterkunst beibringen sollte. Der Griot möchte sie nicht mehr verlassen, denn ihm zufolge sei das Leben in der Stadt Y komplizierter und gefährlicher: ständiger Stress, Diebstahl, Betrug, Ausbeutung, Vergewaltigung, Korruption, Terroranschläge, Selbstmordattentäter, Neid, Machtverhältnisse. Er brachte ihnen das moderne Theaterspiel mit entsprechenden Übungen bei. Nach ihrer Ausbildung suchten sie nach Finanzierungen und entdeckten dabei, dass im Zuschauerraum Leute saßen, die ihr Theater finanziell unterstützen könnten. Sie gingen folglich auf ein paar Zuschauende zu und sprachen sie mit ihrem Theaterkonzept an, das den Menschen in den Mittelpunkt rückt - das dem Menschen und somit seinem Körper, seiner Seele ein wenig Platz geben soll in Gesellschaften, in denen die Diktatur der Waren und der Zeit unmenschlich sowie unerträglich geworden sind. 680 Leider erhielten sie keine Finanzierung. Sie kehrten auf die Bühne zurück, nahmen auf einer Bank Platz und starrten zwei bis drei Minuten wortlos ins Publikum. Augenkontakte verbanden die Bühne mit dem Zuschauerraum: Performer_innen und Zuschauer_innen sahen sich etwa zwei Minuten lang ohne Worte in die Augen. Es herrschte ein Schweigen wie zum Andenken an Verstorbene. Dann brachen die Performer_innen das Schweigen: Irgendeinen Blick auf die Sache muss es doch geben, einen, den ich in Europa und in Afrika zeigen kann, einen, der von allen gleich verstanden wird. Irgendein menschlicher, allzumenschlicher, meta- oder übermenschlicher Code, den alle lesen 274 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 681 Kevin Rittberger: Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung, a. a. O., S. 100-101. 682 Aus der Performance …jusqu´à l´époque cravate. O.S. können, der alle meint, Sender und Empfänger, Schauspieler und Zuschauer, aber auch den Zuschauer im Schauspieler, also auch den afrikanischen Zuschauer im europäischen Schauspieler und den afrikanischen Schauspieler im europäischen Zuschauer und so weiter, den Kritiker und den Schauspieler im Kritiker und den Zuschauer im Schauspieler im Kritiker, den muss es doch geben, oder? 681 Der Text wurde in einer betont langsamen Geschwindigkeit bis zum Ende an die Zuschauende - in ihre Augen starrend - adressiert, wobei jeder Satzteil des gesamten Textes von einem der fünf Darstellenden jeweils aufgesagt wurde. Nachdem der Text ausgesprochen worden war, starrten sie etwa eine halbe Minute ins Publikum, bevor sie einschliefen. Ein Vorbeigehender, der im Dienst war und Müll auf der Straße beseitigte, weckte sie. Sie fragten ihn nach der Uhrzeit, konnten aber nicht begreifen, wie spät es ist, weil sie sich in einer anderen Zeitrechnung befanden. Der Mann bemerkte, dass sie in der Stadt neu waren; er überlegte sich kurz und wollte sie einstellen. Zu den Performer_innen sagte er: „Folgt mir, ihr bekommt Arbeitsplätze, ihr werdet etwa zwölf Monate ohne Lohn arbeiten. Wenn ihr gut seid, schaue ich, ob ich euch einstellen kann oder nicht.“ 682 Sie folgten ihm fröhlich singend, bis er sie in eine Küche (die Küche im Bürgersaal) führte. Dies war der Ort ihres neuen Jobs. Das war zugleich das Ende der Aufführung. Die Performance … jusqu´à l´époque cravate dokumentiert den künstlerischen Inszenierungsstil eines Griots in vorkolonialen Theaterformen. Mit seinem künstlerischen Können kann er alle lebensweltlichen Situationen an seine Geschichten, seine Kunst etc. anpassen. Er kann ästhetische Zeitreisen insze‐ nieren, indem er die Vergangenheit in die Gegenwart holt. Er ist Vermittler und versöhnt mit seiner Kunst in Streitsituationen. Schon mit Sundiata Keita begann der Aufstieg des Griots, der künstlerisch talentiert war. Er war dazu da, die ruhmreichen Siege und Heldentaten des Löwenkönigs zu verkünden. Er ist Gedächtniskünstler, der Geschichten inszeniert, wiederholt, nachspielt, verändert, je nach Situation adaptiert und das Wissen weitergibt - wie am Beispiel von … jusqu´à l´époque cravate. Früher stand er im Mittelpunkt der westafrikanischen schriftlosen Kultur. Um die Figur des Djeli (Griots) herum drehte sich ein eigenes und elaboriertes System, das durch körperzentrierte und tanzorientierte Aktionen, Gesänge sowie Rituale viele Informationen bewahren kann. Die wiederkehrenden Rituale sowie Zeremonien dienten außerdem dazu, vergangene Begebenheiten für die Gegenwart und die Zukunft performativ zu wiederholen. 275 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 683 Vgl. David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 11. 684 Ebd., S. 11. Die Kunst des Griots bestand und besteht immer noch darin, Kritik an den Reichen, Mächtigen, an der Gesellschaft im Allgemeinen zu üben. Dabei bedient er sich seines Humors, der Parodie und der Subversion. Begleitet wird er stets von einem Lehrling, dem er die Kunst des Gedächtniskünstlers beibringt und die Welt, seine Weltanschauung, die Geschichten seines Volkes und seiner Familie etc. erläutert, damit er später seine Arbeit fortführen kann. 2.2.8.6. Alarinjo-Theater der Yoruba in Nigeria Alarinjo steht für den Namen einer professionellen Theaterform. Die Stilrich‐ tung von Alarinjo weist vor allem die satirische Maskerade mit einer Tendenz zur Subversion und Karikatur als bittere Sozialkritik auf. Das ist eine vorkoloniale Theaterform, die sich unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasst. Sie basiert auf der Yoruba-Mythologie bzw. auf dem Kult des Voo‐ doo-Egungun der Yoruba-Stämme. Viele Erzählungen berichten, dass Ogun (auch Egungun) durch die Verbin‐ dung zwischen einem Affen und einer Frau zur Welt kam, weswegen der Affe bis heute ein heiliges Tier des Ogun-Kults geblieben ist. Kerr stellt fest, dass andere Quellen eher die sakrale Rolle der Python-Schlange betonen. Ihm zufolge sind diese Erzählungen der Beweis dafür, dass die vorfeudalen Ursprünge von Egungun von einer ländlichen Kultur ausgegangen sind, in der Tiere eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. 683 Andere Quellen erzählen, dass der Gott Ogun von anderen Kulturen gekom‐ men sei. Dazu schreibt Kerr: A dominant oral tradition suggests that the Nupe people brought Egungun either when they invaded and ruled the main Yoruba town of Oyo for a short period in the early sixteenth century, or earlier still when Oya, the Nupe wife of the semi-divine Oba, Sange, introduced it in the fourteenth century. An alternative tradition states, that Egungun was introduced to the Yoruba at Kashu when Alaafin Onigbogi went into exile among the Borgu people in the sixteenth century. All accounts would suggest that it was an aristocratic cult. However, Egungun was almost certainly connected with a widespread and much older tradition of masquerades found all over West Africa and derived from communalistic ancestral cults. 684 In der Yoruba-Mythologie und in vielen anderen Quellen ist man sich darüber einig, dass Ogun der Gott des Krieges, des Eisens, der Handwerker und somit 276 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 685 Vgl. Joel Adeyinka Adedeji: „Alarinjo: The Traditional Yoruba Travelling Theatre”. In: Yemi Ogunbiyi (Hg.): Drama and Theatre in Nigeria: A Critical Source Book Lagos: Nigeria Magazine 1981, 221-247, S. 221. zugleich der Gott der Künstler ist. Er ist ferner Symbol für Kreativität und Destruktion. Er oszilliert zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wirbelt die zeitlichen Sphären durcheinander und ist der Inbegriff der Über‐ gangszeit. Einer anderen Erzählversion nach sehnten sich die Götter nach einer Vereini‐ gung mit Menschen, um sich vollständig fühlen zu können. Doch bestand ein dichter Urwald zwischen ihnen. Da intervenierte Ogun und formte mit seinem Eisen eine Machete, mit welcher er den Göttern den Weg zu Menschen bahnte. Ogun ist als Wegbereiter und Aufklärer aufzufassen, der in schwierigen Situationen stets den ersten Schritt macht und vieles in Gang setzen kann. Wole Soyinka, den Ogun für sein künstlerisches Schaffen inspiriert hat, merkt in seinen theoretischen Schriften an, dass Ogun niemals eine etablierte Institution sein könne. Der Gott Ogun schwimme ständig im Strom des Übergangs, wo für ihn die Gefahr besteht, zerrissen zu werden. Außerdem ist Soyinka den Spuren nachgegangen, die der Ogun-Mythos und sein Kult hinterlassen haben. Nicht nur in Afrika finde er sie, sondern ebenso in Lateinamerika, wohin Yorubasklaven Ogun gebracht und ihn zu einem der Kronzeugen geheimer Widerstandskulte gemacht haben. In Haiti, in der Karibik und in Brasilien ist er ebenfalls anzutreffen. Ogun habe über die unmittelbaren Teilnehmenden in den Kultsphären hinaus auf die Mentalität der Menschen in diesen Regionen gewirkt. Zahlreiche Rituale zur Ehrung von Ogun bestehen seit Langem und auch heute noch. Die Ogun-Kulte sind in vielen Kulturen in westafrikanischen Ländern verbreitet. In dieser Arbeit wird festgehalten, dass die Einführung der Ogun-Maskerade auf Sàngó zurückführt. Im 14. Jahrhundert herrschte er als Alaafin auf Oyo. Das Phänomen des Ahnenkults baba (Vater) und später egungun (Maskerade) soll er eingeführt haben. Im 16. Jahrhundert gingen die Aufführungen des eingeführten Ahnenkults egungun in die Richtung von Unterhaltung des königlichen Hofes. 685 Mit den Maskeraden wollte Sàngó den Geist seines verstorbenen Vaters Oranyan abbilden: Sàngó, believed to have reigned as the alafin of Oyo, probably about the fourteenth century, is thought to have introduced the phenomenon of ancestor-worship called baba (father) or later egúngún (masquerade). The egúngún is the dead lineage-head who, upon being evoked, appears as a costumed figure. The evocation takes place at a special ceremony designed to give the impression that the deceased is making a 277 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 686 Joel Adeyinka Adedeji: „The Origin and Form of the Yoruba Masque Theatre”. In: Cahiers d'Études Africaines, Vol. 12, No. 46, (1972), S. 254-276, hier S. 255. / Siehe auch : Sammuel Johnson: The History of the Yorubas. From the Earliest Times to the Beginning of the British Protectorate. Lagos: C.M.S. (NIGERIA) BOOKSHOPS I960, S. 43-44 und S. 65. temporary reappearance on earth. Sàngó had tried in vain to secure the remains of his father, 'Orányàn, the founder of Oyo, for burial at Oyo after the latter had died at Ife. He was told that 'Orányàn had metamorphosed into 'Opa 'Orányàn (a stone staff). As an alternative, Sàngó designed a new funeral obsequies for 'Orányàn at Oyo. At a special ceremony, he brought the reincarnated spirit of his father to the outskirts of Oyo, set up the bàrà (royal mausoleum) for his worship and placed ìyádmode (the old woman of the palace) in charge of the mystery. Her duty was to worship 'Qrányàn's spirit and to bring him out as a masquerade during an evocation ceremony. 686 Daraufhin wurde die Maskerade im Laufe des 16. Jahrhunderts in Form eines Festivals institutionalisiert. Während des Maskeraden-Festivals konnten ver‐ schiedene Gruppen im Zuge der performativen Darstellung ihres Stammbaums kreative sowie innovative theatrale Rollendarstellungen aufführen. Die Maske‐ raden wurden in Form von Wettbewerben während des jährlichen Festivals oder zu bestimmten Zeremonien aufgeführt. Begleitet von Gesängen und Mu‐ sikinstrumenten führten die Darstellenden stilisierte rituelle Tanzbewegungen auf, die säkularisierte Körperakrobatik in geregelten Sequenzen performativ kombinierten. Inhaltlich ging es vorwiegend um mythologische und totemische Charaktere, die durch Masken, Mimik, Tanz performativ thematisiert werden. Alle Göttheiten und Held_innen aus der Yoruba-Mythologie sowie Kosmologie kamen zugleich mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln in den theatralen Rollendarstellungen zum Ausdruck: Later, this ceremony of bringing the spirit of the deceased head of the lineage to the homestead became formalised as a permanent feature of Yoruba funeral ceremony. As an institution, it came to be administered by the òjè (a guild of masked actors) based at court and supervised by the ìyámode. By the middle of the sixteenth century, during the reign of alafin Ofinran (c. I544), the guild had been consolidated and constituted as the egúngún Society with a hierarchy of officers and priests. The festival phase began when Ológbin Olóbojò, an official at court and a member of the egùngùn Society, inaugurated the festival of “All Souls”. During the festival all ancestors or dead lineage-heads were evoked and they appeared as eégúnla (lineage-masquerades), allowed to visit the homestead and walk the streets of the community for a certain period in form of a pageant. The pageant was marked by a procession to the king or natural ruler and a staged performance before him which took place at the òde (the open-space in front of the palace). 278 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 687 Joel Adeyinka Adedeji: „The Origin and Form of the Yoruba Masque Theatre”, a. a. O., S. 255. 688 David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 11-12. The performance took the form of a dance-drama with choral-chants provided by theomolé (children of the compound) of each lineage-masquerade. After this formal salute and presentation to the ruler, each pageant receded to their different homes for feasting and merriment and later danced round the community and received gifts. The theatre phase emerged from the “All Souls” festivals. The development started when, at the instance of the alágbàá (the cultic head of the egúngún Society), a special or command performance was called for the last day of the festival. This became a kind of ludus […] masquerades were expected to act plays in a form of competition. The contest was voluntary and merely intended to raise the voltage of the festival. Presents were given in appreciation of the performance of the best masquerade. 687 Zugleich tendierten die Darbietungen während der jeweiligen Festivals dazu, die Yoruba-Gesellschaft performativ zu analysieren und scharf zu kritisieren. Formal waren die Aufführungen offen, sodass stets eine Interaktion mit dem Publikum entstand, was zugleich der Performance bzw. der Maskerade einen großen Effekt verlieh. Das funktionierte stärker auf der Grundlage der Bereit‐ schaft der Akteur_innen, die sich auf die Reaktionen der jeweiligen Zuschau‐ ergruppen einließen. So konnten bestimmte Aufführungen sehr lange dauern - vor allem, wenn bekannte Stereotypen und Gesänge aus der unmittelbaren Realität thematisiert wurden. The wide variety of mask types in Egungun made it a particularly suitable theatre for innovation. The most solemn and sacred cult mask, the elder Egungun, used whirling, brightly coloured cloth with saw-tooth patterns as a symbolic representation of ancestral forces in order to terrify non-initiates […] and to purify the community from disease, death and misfortune. The performances of [the] elder Egungun were strictly religious, restricted either to the annual festival or to funerals. Some of the more commen masks, however, such as the trickster Egungun, the onidan (miracle worker) or the olokiti (tumblers), were more oriented towards entertainments which were spectacular (such as acrobatics and display of conjuring tricks) or satirical through the lampooning poetry of the chants and through stereotyped, semi-representational masks). In actual performance, since the Yoruba […] do not draw a sharp dividing line between the sacred and the profane, the fierce elder Egungun, who came to judge the world, intermingled with the more profane comic Egungun, who came to entertain it. 688 279 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika 689 David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 11-12. Vor diesem rituellen und künstlerischen Hintergrund entstand die professio‐ nelle Alarinjo-Theaterform. Alarinjo ist vor allem als traditionelle reisende Yoruba-Theatergruppe bekannt. Im soziokulturellen, religiösen und politischen Gedächtnis der Yoruba besitzt Alarinjo einen bedeutenden Platz. In Anlehnung an die Egungun-Rituale und an die Vielfalt der Masken sowie der Kostümierung hat Alarinjo innovativ-kritische Impulse für die Theateraufführung eingesetzt. Masken mit vermengten rituellen Elementen wurden angefertigt, um die sa‐ tirischen Aspekte der Performances zu betonen. Zum Beispiel herrschte die Idee, dass der Egungun die Fähigkeit hätte, die Yoruba-Gemeinschaft von kör‐ perlichen bzw. physischen Deformationen und psychologischen bzw. geistigen Störungen zu befreien. Alarinjo griff daraufhin auf andere gesellschaftliche Klischees zurück, schuf Masken, die auf eine subversive sowie groteske Art ähnliche Körperdeformationen, geistige Störungen sowie soziale Probleme, aber auch Krankheiten - wie z. B. Lepra, Struma, Alkoholabhängigkeit -, Prostitution etc. zur Darstellung brachten. Die Prostituierte erschien z. B. in einer repräsentativen Kleidung und mit künstlichen Zähnen, die über die Lippen hinaus zeigten. Außerdem waren inhaltliche und künstlerische Ausdrucksmittel der Ala‐ rinjo-Theaterform so flexibel, dass sich die Maskeraden an Themen politischer und sozialer Natur rasch theatral anpassen konnten. Die Maskerade von Ora Ofe, wie Kerr bemerkt, schloss „invocation and self authorization, curse, prophecy, allusion to sexual conduct and morality, comment on foreign and domestic politics[,] as well as religion, hierarchy, history and funeral commemoration“ 689 ein. Alarinjo hatte ein großes Repertoire an Themen und konnte traditionelle Ideologien theatral und performativ hinterfragen. Darüber hinaus hing Alarinjo nicht von den spezifischen Egungun-Festivals und Zeremonien ab, da diese ursprünglich für die Unterhaltung des Könighofs tätig waren. Das trug dazu bei, dass Alarinjo zunehmend professioneller wurde und viel reiste, um zahlreichen Menschen Theater näherzubringen. Alarinjo hatte einen singenden Chor (akunyungba), der die zum Teil satirischen Aufführungen kommentierte. Manchmal wurden die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer und mussten unterbrochen und/ oder zensiert werden: „There were cases of troupes who were banned from performing in certain areas on account of unrestrained flair for social criticisms. Sometimes when their sketches were in bad taste, they were stopped in the middle of the 280 2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ 690 Adedeji zitiert nach David Kerr: African Popular theatre. From Pre-colonial Times to the Present Day, a. a. O., S. 14. 691 Zodwa Motsa: „The Missing Link in siSwali Modern Drama”. In: Lokangaka Losambe, Devi Sarinjeive (Hg.): Pre-Colonial and Post-Colonial Drama and Theatre in Africa, a. a. O., S. 32-47, S. 35. act, chased out and ordered never to return again.“ 690 In „The Missing Link in siSwali Modern Drama“ schreibt Zodwa Motsa z. B.: […] drama in Africa aims at a specific societal function. For instance, it can be used as a catalyst for changing the undesirable or it can bean agent to retain the desirable […]. This functional role of drama is usually realized communally because it is always religious, aesthetic, didactic and therapeutic in nature. 691 281 2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in Afrika TEIL III: Theater als Kunst sowie Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung 692 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 101-112. 693 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 245. 694 Lars Koch: „Christoph Schlingensiefs Bilderstörungsmaschine“. In: Zeitschrift für Lite‐ raturwissenschaft und Linguistik 173, 2014, S. 116-135, hier S. 119-121. 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief Nitschs und Schlingensiefs Angriffe auf bestimmte kulturelle Erwartungshal‐ tungen und Interpretationsmuster der Rezipient_innen sind stets einstudiert und beruhen auf ihren Erkenntnissen vom Potential des performativen Prozes‐ ses 692 beim Wahrnehmen - denn „die Dinge bedeuten das, was sie sind bzw. als was sie in Erscheinung treten.“ 693 Dies funktioniert bei Schlingensief anhand der bereits behandelten störbeladenen Feedback-Schleife-Strategien: Das Spiel mit der Unvorhersehbarkeit, der Bedeutungsvariabilität, der Unbestimmbarkeit, der Unentscheidbarkeit zwischen Kunst und Nichtkunst sowie mit der Schaffung von Situationen ästhetischen Störpotentials sind die zentralen Merkmale von Schlingensiefs Inszenierungsstil. In seinem Aufsatz „Christoph Schlingensiefs Bilderstörungsmaschine“ arbeitet Lars Koch drei Schlingensiefsche Störstrate‐ gien heraus, die auch für die Bedeutung der Anagnorisis hilfreich sind: Um eine Thematisierung der normalerweise unbeobachtet bleibenden Konstitutions‐ bedingungen von kollektiv geteilten Normalitätsvorstellungen zu erreichen, arbeitet Schlingensief erstens mit Techniken kognitiver Dissonanz: Er baut in seine szenischen Texte und Performances immer wieder Störungen oder Unverständlichkeiten ein, die als diskursive Aporien das Prinzip der Repräsentation selbst beobachtbar werden lassen […]. Eine zweite wichtige Störungsstrategie, die die kognitive Irritation ergänzt, resultiert aus der impliziten oder expliziten Thematisierung der Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern […]. Ein dritter Aspekt […] ist der wiederkehrende Einsatz von Laiendarstellern, zum Teil mit körperlichen und/ oder geistigen Behinderungen. In ihrer vermeintlichen Andersartigkeit irritieren diese Akteure gesellschaftlich gängige Sehgewohnheiten und legen mit ihrer physischen Präsenz und habituellen Unange‐ passtheit die latent vorhandenen, aber vom Selbstbild einer offenen, demokratischen Gesellschaft verdeckten, sozialen Ausgrenzungsmechanismen offen. 694 Nitsch verwendet ebenfalls Störstrategien, jedoch mit anderen dramaturgischen Form- und Inhaltskompositionen, die stärkere Affekte und Empfindlichkeiten auslösen können: Nitschs Störpraktiken gründen in seiner Komposition einer 695 Günter Rombold: „Rituale in der Kunst der Gegenwart“. In: Florian Uhl, Artur R. Boelderl (Hg.): Rituale. Zugänge zu einem Phänomen. Düsseldorf/ Bonn: Parerga Verlag 1999, S. 116-127, hier S. 124. 696 Günther Heeg: „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, a. a. O., hier S. 71. 697 Ebd. 698 Lars Koch: „Christoph Schlingensiefs Bilderstörungsmaschine“, a. a. O., S. 119-121. 699 Günter Rombold: „Rituale in der Kunst der Gegenwart“, a. a. O., S. 122. 700 Ebd. 701 Vgl. Léon Wurmser zit. nach Günther Heeg: „Die Geste der Scham als Grundgeste des Theaters“, a. a. O., S. 71. eigenen außerordentlichen Version des Synästhetischen als Tabubruch-, Beun‐ ruhigungs-, Erregungs- und Abreaktionsmittel, das Betrachtende wie eine Form gezielter „Personalisierung“ und störender Ausstrahlung treffen soll. Außerdem steht deswegen das Opfermotiv im Mittelpunkt seines Theaters, das um das Thema Tod kreist: „Das ist heute ein echtes Tabuthema, ganz im Gegensatz zum Mittelalter […]“, 695 wie Günter Rombold anmerkt. Ein anderes Element der Störstrategie bei Nitsch betrifft die Kombination katholisch-christlicher Glau‐ bensinhalte, Symbole und Motive mit imaginierten und inszenierten Szenen der orgiastisch-dionysischen Kultpraktiken. Auch starke visuelle Störeffekte, anhand einer ekelerregenden Vermengung von Tierkadavern, Gedärmen und Blut mit nackten Menschenkörpern, werden hervorgerufen. Dabei spielt Nitsch mit einer schamlosen „offenen Zurschaustellung“ 696 von männlichen und weib‐ lichen Schamteilen, die die „Öffentlichkeit zu scheuen [hätte]“. 697 Im Gegensatz zu Schlingensiefs Inszenierungen mit „Laiendarstellern […] mit körperlichen und/ oder geistigen Behinderungen“, um aufgrund ihrer „vermeintlichen An‐ dersartigkeit“ im Verhältnis zu bestehenden, „gesellschaftlich gängige[n] Seh‐ gewohnheiten“ 698 zu irritieren, entsprechen entblößte Laiendarsteller_innen in Nitschs Theater merkwürdigerweise körperlichen Schönheitsidealen der gesellschaftlichen Inszenierungs- und Medienkultur. Anhand der entblößten Körper dieser weiblichen und männlichen Schönheitsideale lässt Nitsch nicht nur „das Erotische [wiedererkennen], das in der europäischen Kunst seit der Renaissance ein wichtiges Thema darstellt“, 699 wie Günter Rombold feststellt. Zugleich „wird [das Erotische bei ihm] fast ausschließlich auf die Sexualität reduziert. Geschlechtsteile werden gezeigt, geküßt und gesalbt, mit Blut oder Gedärmen überschüttet.“ 700 Hier spielt Nitsch zusätzlich mit der vermutlich voyeuristischen Beobachterhaltung der Zuschauenden sowie mit ihrer „Angst vor Entblößung“ und ihrer „Schamangst“. 701 Mit ihren verwandten Störstrategien, deren vollständige Auflistung eine ge‐ sonderte Studie benötigt, sind Nitsch und Schlingensief wie „zwei Zwillingsbrü‐ der“ zu betrachten, die individualisierte Künstlerpersönlichkeiten aufweisen: 286 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 702 Vgl. Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, a. a. O., S. 20-24. 703 Ebd., S. 13. 704 Vgl. ebd., S. 16. Sie sind zudem von der Inszenierung theatraler, körperzentrierter Präsenz und Erfahrung des Realen bis zur Fusionierung ritueller, religiöser und politischer Elemente verwandt. Ihre künstlerische Verwandtschaft, die in ihren jeweiligen Arbeiten (Nitsch: 2005 / Schlingensief: 2006) im Wiener Burgtheater deutlich zum Ausdruck kommt, berührt die bereits diskutierte Perspektive - Theater als Medium kompromissbereiter Aushandelns- und Erkenntnispraxis, aber auch Theater als liminale Situation der Störinszenierung und Überschreitung, wo soziokulturelle und politische Veränderungsprozesse experimentiert und hin‐ terfragt werden. Ausgehend von diesen Auslegungen, lässt sich eine Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater ins Auge fassen, die wiederum in einer Theatersituation ihren Kompromissfindungs- und Stabilisierungsprozess zur Folge hat. 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 3.1.1.1. Fusionierung ritueller und politischer Elemente bei Nitsch und Schlingensief Im zweiten Kapitel habe ich die Frage behandelt, wie Theater als ein vermengtes Vorführen sowohl ritueller als auch politischer Aktionen fungiert - bereits in der griechischen Antike, aber auch in der europäischen Gegenwart mit Schlingensiefs Aktion 18, tötet Politik! und Nitschs Orgien-Mysterien-Theater sowie im afrikani‐ schen Kontext mit dem Kote-tlon-Theater der Bamana im alten Mali und mit dem Alarinjo-Theater der Yoruba in Nigeria. Der religiöse Akt der Opferbringung, der in der griechischen Antike nach dem Willen einer Gottheit erfolgte, beachtete eine übermenschliche Ordnung und stabilisierte somit die politische Gesellschaftsord‐ nung, die wiederum die Kontinuität des Lebens garantieren sollte. 702 Im Sinne von Walter Burkert führt uns in diesem Zusammenhang z. B. die Erläuterung des Wortes „Bockgesang“ „unvermeidlich auf Älteres […], auf die religiöse Grundlage der Tragödie, ja auf den griechischen Kult überhaupt“ 703 zurück: Der Bock war der Opferpreis für Dionysos. 704 Auch die grundlegenden Glaubensinhalte der christ‐ lichen Religion bezeugen ihre Nähe zum Opfer als Opferung des Lamms Gottes als gezahlten Preis für die Erlösung der Menschen. So betrachtet haben rituelle 287 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 705 Vgl. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, a. a. O., S. 207. 706 Sigfried J. Schmidt: „Medienkulturwissenschaft“. In: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhand‐ lung und Carl Ernst Poeschel 2003, S. 351-369, S. 358. 707 Vgl. Martin Sexl: „Gegen Kultur - eine Polemik“. In: Timo Heimerdinger, Eva-Maria Hochhauser, Erich Kistler (Hg.): Gegenkultur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 15-50, S. 15-16. 708 Vgl. Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“. In: Herfried Münkler (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 312-346, S. 318. bzw. religiöse, politische und theatrale Praktiken im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte seit der griechischen und römischen Antike über das Mittelalter bis heute einander beeinflusst: In den Mimus-Spielen in der römischen Antike unter den Kaisern Nero (54-68 n. Chr.), Domitian (81-96), Trajan (98-117) und Diokletian (284-305) war es eine politische Zielsetzung, anhand persiflierter The‐ atervorgänge, die sich durch ironisierende Inszenierungen des Opfertodes und der Auferstehung Christi kennzeichneten, das „junge Christentum“ zu bekämpfen. 705 Im Mittelalter standen aber die geistlichen Inszenierungen von Theatervorgängen (Oster- und Passionsspiele) mit denselben Elementen - dem Opfertod und der Auferstehung Christi - im Dienste der kirchlichen Autorität bzw. der katholischen Religion. Das Orgien-Mysterien-Theater findet hier seinen Platz als soziokulturell problematisches Theaterphänomen: Der tabubrechende Kontext - Vermengung von Kunst, Alltag, katholisch-religiösen Elementen, blutigen Opferritualen und Tod - von Nitschs Theaterkonzept übertrifft die bestehend dominanten Normen der Kunst einerseits und die dominanten Erwartungen des Publikums bzw. der Gesellschaft andererseits. Dazu kommen die stark veränderten historischen Umstände der heutigen modernen Gesellschaft, die nicht daran gewöhnt ist, mit von Kunst provozierten extremen Emotions- und Affektausdrücken angesichts der realen Erfahrung des Blutes und Todes konfrontiert zu sein. Nitsch scheint in diesem Zusammenhang mit seinem Theater die aktuelle Kultursituation und ihren verbindlichen Wertekanon zu ignorieren und über Bord zu werfen: Kultur‐ kritische Ansätze deuten nämlich darauf hin, dass der Kulturbegriff stets eine Art von Bindung an die Elemente einer Kultur suggeriert. In diesem Sinne ist Kultur nach Sigfried J. Schmidt ein „sozial verbindliches Programm“. 706 Wiederum gehen kulturelle Eigenschaften und entsprechende Verhaltensweisen, um Martin Sexl zu zitieren, mit implizit „anerkennens- und schützenswerten Bedürfnissen“ einher. 707 In der Folge weisen auch religiöse Praktiken als Kulturphänomene 708 dieselbe anerkennens- und schützenswerte Tendenz ihrer jeweiligen Glaubensinhalte auf. Darüber hinaus besteht seit Kaiser Konstantins Institutionalisierung des Christentums als Staatsreligion ein enges Verhältnis zwischen Staat und Kirche 288 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 709 Martin Budich: „Gotteslästerung. Vom Ausschneiden der Zunge bis zur Selbstzensur - Zur Geschichte eines ‚Frevels‘“. In: Clara Reinsdorf, Paul Reinsdorf (Hg.): Zensur im Namen des Herrn. Zur Anatomie des Gotteslästerungsparagraphen. Aschaffenburg: Alibri Verlag 1997, S. 11-24. S. 12. 710 Vgl. Karl Heinz Bloching: Die Autoren des literarischen „renouveau catholique“ Frank‐ reichs. Bonn: Verlag des Borromäusvereins 1966. bzw. Politik und Religion. Wird außerdem die Funktion von Religion und Staat ins Auge gefasst, so fällt auf, dass es sich hierbei um Normsetzungen und um ihre Einhaltung handelt. In seinem Aufsatz „Gotteslästerung. Vom Ausschneiden der Zunge bis zur Selbstzensur - Zur Geschichte eines ‚Frevels‘“ merkt Martin Budich Folgendes an: Da eine wesentliche Funktion von Religionen das Durchsetzen von Normen und die Absicherung von Herrschaft ist, hat die Sanktionierung von Religionskritik eine lange Tradition. Bereits in relativ einfachen Gesellschaftsformen wurde mit dem Zorn der Götter gegenüber der Gemeinschaft gedroht, um einen gesellschaftlichen Zwang zur Akzeptanz dessen zu erzeugen, was die Herrschenden als göttlichen Willen verkündigten. 709 Wie bereits im zweiten Kapitel erwähnt, verschwand z. B. die Assoziation des Kreuzes mit der Schande erst, als Konstantin 312 angeblich im Kreuzeszeichen über seinen Konkurrenten Maxentius an der Milvischen Brücke siegte und den Kampf um den römischen Kaiserthron für sich entschied. Folglich wurde dem Zeichen des Kreuzes in Verbindung mit dem Tod Jesu am Kreuz eine besondere Bedeutung und ein heilig-sakraler Wert beigemessen. Dieses heilig-sakrale Ele‐ ment repräsentierte aber auch ein kaiserliches Legitimationszeichen göttlicher Herrschaft. Unter diesen Umständen standen Religion bzw. Kirche und Staat in einer sich gegenseitig unterstützenden Wechselbeziehung zueinander, wie auch das Beispiel des Renouveau catholique (der Katholischen Erneuerung) zeigt. Auf Anregung von François-René de Chateaubriand (1768-1848) stand der Renouveau catholique am Beginn des 19. Jahrhunderts für eine katholisch-kon‐ servative Bewegung, die sich als Ausläufer einer politischen Reaktion gegen die Aufklärung richtete, die für den Laizismus kämpfte. Viele Schriftsteller_innen waren Teil dieser Bewegung und trugen mit ihrem literarischen Schaffen zum Protest bei. 710 In diesem Kontext verfasste Chateaubriand 1802 sein anti‐ aufklärerisches Buch Le Génie du Christianisme (Der Geist des Christentums), das er in Paris mit der Unterstützung von Napoleon Bonaparte (1769-1821) veröffentlichte, in dessen Dienst er seit 1800 stand. Napoleons Streben, durch die Neukonsolidierung kirchlicher Autorität den politischen Zwecken zu dienen, begegnete Chateaubriand mit seinem Buch, das ihm verhalf, eine politische 289 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 711 Vgl. Hannelore Schlaffer: Zeit des Raben, Zeit der Taube. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 106, 10. Mai 2010, S. 14. 712 Martin Budich: „Gotteslästerung. Vom Ausschneiden der Zunge bis zur Selbstzensur - Zur Geschichte eines ‚Frevels‘“, a. a. O., S. 11-12. Karriere zu beginnen: Le Génie du Christianisme trug zur Rehabilitierung des Christentums in Frankreich bei. Als katholisch-religiöse und literatur-philoso‐ phische Gruppe, die vor Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstand, erstreckte sich der Renouveau catholique bis ins restliche Europa und somit auch in den deutschsprachigen Raum. In Deutschland und Österreich hielten jene Autor_innen des Renouveau catholique an ihrer Staatstreue fest und verteidigten eine kirchliche Erziehung. 711 Unter diesen Umständen wurde Gotteslästerung bestraft und womöglich zugunsten der Politik instrumentalisiert: Reißen mit glühenden Zangen, dann Riemenschneiden aus der Haut des Verurteilten, Schleifen desselben auf die Richtstatt, Abhauen der Hände, Ausschneiden der Zunge, soweit sie aus dem Hals zu bringen ist, endlich Verbrennen des also Mißhandelten.“ So detailliert ordnete die Peinliche Landgerichtsordnung Ferdinands III. für Öster‐ reich unter der Enns vom 30.12.1656 an, welche Strafe auf das Verbrechen der Gotteslästerung, der Blasphemie, zu folgen hatte. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurden Menschen durch den Staat umgebracht, weil ihnen Gotteslästerung vorgeworfen wurde. Der Codex juris Bavarici criminalis von 1751 etwa regelte, daß Gotteslästerung durch Tätlichkeiten schon bei Ersttätern, dagegen Lästerung durch Worte erst im zweiten Wiederholungsfalle mit dem Tode zu bestrafen seien. Erst seit der Aufklärung sind Kirchen- und Religionskritik nicht mehr unbedingt lebensgefährlich, zeitweise verschwand der Straftatbestand der Gotteslästerung sogar völlig aus Strafgesetzbüchern (z. B. dem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813). Die bald einsetzende gesellschaftliche Restauration revidierte diese Entwicklung jedoch, im Vormärz wurde das Delikt wieder verfolgt. Mit dem Strafgesetzbuch für den Nord‐ deutschen Bund trat dann 1870 der § 166 in Kraft, der mit Gefängnis bis zu drei Jahren jeden bedroht, der „dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgerniß gibt.“ Die Strafrechtsreform hat zwar 1969 eine Umformulierung des § 166 StGB gebracht, aber auch heute noch wird KirchenkritikerInnen mit Hilfe dieses Paragraphen drei Jahre Gefängnis angedroht, wenn sie den Inhalt religiöser Bekenntnisse oder eine Kirche beschimpfen. 712 Der Inhalt dieses Zitats bezeugt, dass Religion und Staat bemüht sind, für die Durchsetzung sowie die Einhaltung soziokultureller Ordnungs- und Verhaltens‐ dispositionen zu sorgen, obwohl diese von vielen Ausdrucksformen der Kunst in Literatur, Theater und Malerei thematisiert werden. Oskar Panizza (1854- 1921) wurde beispielsweise wegen seines religionskritischen Theaterstücks Das 290 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 713 Vgl. Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“, a. a. O., S. 164-182. 714 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 115. 715 Vgl. ebd., S. 471. Liebeskonzil (1895) mit einer Gefängnisstrafe verurteilt. In der Tat richtete sich Panizzas Religionskritik vor allem gegen die Kirchenbehörden und gegen die traditionalistisch-christliche Glaubensüberzeugung, die im 19. Jahrhundert während des Renouveau catholique in katholisch geprägten Regionen Deutsch‐ lands zunehmend an Bedeutung gewannen. In diesem Stück vermittelt Panizza durch eine antikatholische Satire die Auffassung, dass die Syphilis eine Gottes‐ strafe für die Sittenlosigkeit der Menschen sei. Er inszeniert ein himmlisches Konzil, das beschließt, die Menschen mit der Syphilis als Lustseuche zu schlagen. Im Stück treten unter anderem Gott, Christus, Maria, der Teufel, eine Frau, Cherub und drei Engel auf. Der Teufel wird beauftragt, den Beschluss des Konzils umzusetzen. Dieser Inhalt machte Das Liebeskonzil im ausgehenden 19. Jahrhundert zum großen Literaturskandal: Das Buch wurde verboten und Panizza verurteilt. Nach einem Jahr Gefängnis floh Panizza in die Schweiz. Im zweiten Kapitel war bereits die Rede von George Grosz, der wegen seines gezeichneten Bildes „Gekreuzigter mit Gasmaske und Soldatenstiefeln“ (1927) vor Gericht stand. Nitsch macht in diesem Kontext keine Ausnahme. Im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit gilt es zu betonen, dass die Überschreitung von Grenzen bereits religiösen und rituellen Praktiken innewohnt. Für das Theater ist es eine Modellfigur, deren Performativität, Potentialität und tabubrechende Wirkungsästhetik in der Liminalität zu ver‐ orten sind. Ein solches Liminalitätsmodell in der rituellen Überschreitung bietet Nitsch und Schlingensief unzählige Möglichkeiten: Inmitten des kulturell verbindlichen Programms lassen sie eine liminale Theatersituation entstehen, die vorübergehend wie eine Schwellenphase ohne soziokulturelle Zumutungen funktioniert. Dort entsteht eine Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater. Bei dieser liminalen Modellfigur z. B. im Hinblick auf eine praxisorientierte und theoretische Erschließung der Über‐ schreitung im Theater 713 geht es um performative sowie ästhetische Verfahren in theatralen Vorgängen wie im Verlauf einer rituellen Isolierung. 714 In einem derartigen liminalen Theaterverständnis findet das Umgehen mit dem Tabu 715 als Katalysator für die Anagnorisis statt. Hier scheint die katholisch-christliche Religion vielen Künstler_innen, wie im zweiten Kapitel gesehen, genügende Argumente bzw. Tabuelemente - vor allem rund um die Passion Christi - ungewollt zur Verfügung zu stellen: Der Kreuzestod wird hier - im Sinne von 291 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 716 Vgl. Réné Girard: Das Heilige und die Gewalt., a. a. O. 717 Horst Schwebel: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, a. a. O., S. 96. 718 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 212-214. 719 Günther Heeg: „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwis‐ senschaft in Zeiten der Globalisierung“, a. a. O., S. 158. Réné Girard - zu einer Überschreitung im Gewaltakt der Opfertötung, 716 die Lovis Corinth in der Malerei mit „Der rote Christus“ (1922), einer Zeichnung, die Leiden und Qualen Christi wie ein aufgehängtes blutiges Tier bildhaft und schockhaft thematisiert, darstellt - in Verknüpfung mit existenziellen Situationen in Kriegszeiten. Wie damals nach dem Ersten Weltkrieg, als Corinth bezüglich „Der rote Christus“ gefragt wurde - „Ist der Gekreuzigte der in die tierischen Instinkte zurücksinkende Mensch, den der Krieg ans Kreuz schlug? “ 717 -, ist dies heute noch angesichts der drohenden und zum Teil stattfindenden Terroranschläge und Kriege aktuell. Mit seiner Zeichnung „Anno Domini MCMXVI post Christum natum“ (1916) fragt auch Ernst Barlach Jesus Christus abseits seines Kreuzes nach dem Sinn seiner Stellvertretungsfigur in Verbindung mit den Kreuzen unzähliger Kriegsopfer. Die Anagnorisis - als „Momente [des] (Wieder-)Erkennens“, ein „plötzlicher Umschlag“ und „eine Umwendung […] wie ein radikaler Beleuchtungswechsel“ 718 - wird bei Corinth und Barlach bildhaft fixiert. In darstellenden Künsten wie im Orgien-Mysterien- Theater, in dem die Bilder einen dynamischen und performativen Charakter haben, entzündet die Anagnorisis „der katastrophischen Unterbrechung eines historisch-kulturellen Kontinuums“ 719 schlagartig und bringt zugleich in der liminalen Theatersituation verdrängte und/ oder vergessene, fremdgewordene Erfahrungen ans (neue) Licht. Schlingensiefs Fluxus-Oratorium-Performance Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (Uraufführung: 21.09.2008), die in der Duisburger Gebläsehalle im Rahmen der Ruhr-Triennale 2008 stattfand und in welcher er in Verbindung mit katholisch-christlichen Glaubenslehren seine Krebserkrankung sowie andere Schicksalsschläge künstlerisch thematisierte und ästhetisch verarbeitete, ist ebenfalls ein triftiges Beispiel. In einer Rezension in Die Zeit kommentiert Rüdiger Schaper Schlingensiefs Performance Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir wie folgt: Diese Kräfte hat Schlingensief in der Kirche der Angst freigesetzt. Ein Requiem, eine synkretische Messe, ein Fegefeuer, in dem auch die Eitelkeiten eines Provokations‐ künstlers verbrennen. Der Originalschauplatz, die alte Gebläsehalle im Duisburger Industriepark, verweist darauf, dass es hier auch nicht um ein Einzelschicksal geht. Es 292 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 720 Rüdiger Schaper: „Radikal ist allein das Private“. In: Die Zeit Online, 29.04.2009: https: / / www.zeit.de/ online/ 2009/ 18/ berlin-theatertreffen-schliengensief-gosch/ komplettansicht - letzter Zugriff: 30.04.2018. 721 Vgl. David Wiles: Greek Theatre Performance. An Introduction, a. a. O., S. 126-127. wird in einer aufgelassenen Kathedrale des deutschen Kapitalismus um das Überleben von Oper und Theater gespielt. 720 Die erstrebte Transformation im liminalen Zustand inszeniert Schlingensief in dieser Performance als ästhetische Suche nach einer transformativen Kraft für seine Krebserkrankung, was zugleich zur Hervorrufung unterschiedlicher Interpretationen (hinsichtlich der Bedeutungsvariabilität), Empfindungen und Emotionen führt. Auch das Modell der rituellen Überschreitung als wirkungsäs‐ thetisches Mittel spielt bei ihm eine wichtige Rolle: Seine Aktion 18, tötet Politik! erinnert an die Wechselwirkung Ritual, Politik und Theater im öffentlichen Raum. Dort holte Schlingensief vielmehr die liminale Übergangssituation in den Vordergrund seiner Aktion, um dadurch den rituellen und politisch-demo‐ kratischen Raum mit allen Protagonist_innen (Politiker_innen, Polizei, Staats‐ anwaltschaft sowie Journalist_innen und das Publikum) zu fusionieren bzw. zu „versöhnen“. 721 Währenddessen spielte er mit der bereits angesprochenen Be‐ deutungsvariabilität und somit Unbestimmbarkeit. In diesem Zusammenhang erinnern die Verbrennungsmotivationen der Strohpuppe an den Faschings‐ brauch in einigen deutschsprachigen Regionen (so etwa im Rheinland): Am Aschermittwoch wird die Fastenzeit und somit das Ende des Karnevals angekün‐ digt. Gemäß Faschingsbrauch wird dabei eine Strohpuppe als Verantwortlicher für alle Laster und Vergehen während der Karnevalstage angezündet und verbrannt. Nachdem die anwesenden Polizist_innen in Schlingensiefs Aktion 18, tötet Politik! unter anderem vielleicht aus Sicherheitsgründen die Flammen der entzündeten Strohpuppe und des FDP-Werbematerials gelöscht hatten, taucht die Frage implizit auf, ob sie dadurch die „Achse des Bösen“ schützen. Außerdem konnten die Polizei und die Staatsanwaltschaft nicht anordnen, ob die Vorgänge in dieser Performance als Kunst und Nichtkunst zu klassifizieren seien. 3.1.1.2. Präsenz und Erfahrung des Realen bei Nitsch und Schlingensief Nun gilt es, an Folgendes zu erinnern: Die seit den 1960er-Jahren eingesetzte Akzentverschiebung von bildenden zu darstellenden bis hin zu devianten, multiplen Erscheinungsformen künstlerischer Praktiken, die ihren Ausdruck in Surrealismus, Futurismus, Fluxus, Happening-, Aktions-, Installationssowie 293 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 722 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 471. 723 Christoph Schlingensief: „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“. Aufgezeichnetes Gespräch mit Lochte und Schulz. In: Julia Lochte, Wilfried Schulze (Hg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland! Hamburg: Rotbuch/ EVA 1998, S. 12-39, hier S. 12. 724 Hermann Nitsch im Interview mit Andreas Prückler „Prinzendorf im Wiener Burgthea‐ ter“. In: Kleine Zeitung, 15.11.2005, S. 56-57. Performancekünsten finden, bildet das künstlerische Sprungbrett für Nitsch und Schlingensief. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit habe ich bereits gezeigt, wie sich beide diese künstlerischen Ausdrucksformen jeweils unterschiedlich angeeignet, vermischt und tabubrechend radikalisiert haben. „Mit [dem Tabu] hat das Theater immer wieder zu tun“, 722 im Sinne von Lehmann: Für Nitsch und Schlingensief ist „der klassische Theaterraum […] deshalb eine künstleri‐ sche Sackgasse, ein jämmerlicher Zustand, weil er ewig gleich und in seinen Herausforderungen immer gleich bleibt.“ 723 Der klassische Theaterraum hält heute noch durch seine Innenraumarchitektur weiter an der Trennung von darstellender und Zuschauergruppe fest, was sich für die Theateransätze Nitschs und Schlingensiefs als kontraproduktiv erweist. Wird demnach nach einem konkreten Verhältnis zwischen Nitschs und Schlingensiefs jeweiligen Theater‐ ansätzen gesucht, die trotz ihrer angesprochenen Tabubrüche zu etablierten bzw. anerkannten Künstlern geworden sind, dann lohnt es sich, einen kurzen Blick auf zwei Beispiele zu werfen: Nitschs 122. Aktion im Jahr 2005 im Wiener Burgtheater und Schlingensiefs Burgtheater-Installation Area 7 - Eine Matthäusexpedition von 2006 ebenfalls in Wien. 2005 war der 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu diesem Anlass erhielt Nitsch die exklusive Ehre trotz aller Gemütererregungen in der Öffentlichkeit, sein Orgien-Mysterien- Theater im Wiener Burgtheater aufzuführen. In einem Interview vom 15.11.2005, das Andreas Prückler in der Kleinen Zeitung mit dem Titel „Prinzendorf im Wie‐ ner Burgtheater“ dokumentierte, beschrieb Nitsch seinen Inszenierungsplan mit folgenden Worten: Es wird Blut auf der Bühne geben […]. Die Aktion wird sich aber nicht nur auf den Bühnenraum beschränken. Das ganze Haus wird von rund 80 Akteuren, dem Orchester und einem Chor bespielt und auch vor dem Theater werden Aktionen stattfinden […]. Die Hauptelemente werden sich aber in den Foyers, in den Gängen und auf der Bühne abspielen. Dabei können sich die Besucher entscheiden, ob sie von ihren Sitzen aus zusehen oder sich innerhalb gewisser Regeln im Theater frei bewegen. 724 Am folgenden Tag (16.11.2005) berichtete derStandard.at: 294 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 725 „Real-Tier-Blut im Burgtheater“. In: derStandard.at-Redaktion vom 16.11.2005, https: / / derstandard.at/ 2244461/ Real-Tier-Blut-im-Burgtheater - letzter Zugriff: 27.04.2018. Wien - Statt Theaterblut wird am Samstag echtes Blut im Burgtheater fließen. Anlässlich des 50. Jahrestages der Burgtheater-Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Haus am Ring den Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch (67) eingeladen, seine 122. Aktion des Orgien Mysterien Theaters in dem Traditionshaus zu zelebrieren. Nitsch-Darsteller und Burgschauspieler werden dabei sein, wie auch 1.200 Zuschauer - die Aktion ist ausverkauft […]. Auf die Einladung folgte prompt der vorhersehbare Protest des Wiener BZÖ [„Bündnis Zukunft Österreich“], das fürchtet, die Insignien der christlichen Glaubensgemeinschaft könnten verunglimpft werden. […] Im September hatte es schon einen kurzzeitigen Rummel um die Entfernung eines Nitsch-Videos aus dem „Diaghilew-Abend“ der Staatsoper gegeben, da der Zusam‐ menschnitt von Aktionen aus Nitschs Orgien-Mysterien-Theater laut Ballettdirektion bei einigen Zuschauern Übelkeit ausgelöst hätte. So kann man fast sicher davon ausgehen, dass Nitschs Theater auch noch 48 Jahre nach seiner Gründung 1957 die Gemüter erregen wird - besonders die jener, die nicht an der Aktion teilnehmen. Mit mehr als 80 Akteuren aus über elf Nationen, einem Festmahl und musikalischer Unterstützung der Jungen Philharmonie und des Chores der Universität Wien wird das Happening, das bis in den späten Abend dauern wird, über die Bühne des Hauses gehen, durch das Nitsch selbst einmal aus Protest lebende Schweine jagen wollte. Heute ist der Künstler und Träger des Großen Österreichischen Staatspreises 2005 stolz, dass er nun „in diesem erhabenen Haus - und ich meine das nicht ironisch“ arbeiten und sein „sprachloses Theater im besten Haus deutscher Sprache“ aufführen wird, wie er in einer Pressekonferenz erklärte […]. 725 Dass die 122. Aktion des Orgien-Mysterien-Theaters am 19.11.2005 tatsächlich im Wiener Burgtheater aufgeführt wurde, lässt sich nicht nur mit den oben diskutierten Fragen in Verbindung bringen. Zugleich ist es ein Zeichen dafür, dass selbst Nitsch und sein Theaterkonzept bis zur Aufführung im Wiener Burg‐ theater, in einer hoch angesehenen staatlichen Kunstinstitution, bereits den Weg eines „Institutionalisierungs- und Pseudozivilisationsprozesses“ zurückgelegt haben: 2005 erhielt Nitsch die „Goldene Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien“ und den „Großen Österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst“. Die Aufführung im Wiener Burgtheater dauerte aber keine sechs Tage, sondern eindrucksvolle acht Stunden. Zuvor wurden alle kostbaren Teppiche und Tape‐ ten sowie der gesamte teure Innenraum mit Plastikfolie bedeckt und somit geschützt. Auf die Hülle „das orgien mysterien theater, 122. aktion“, die die DVD der 210-minütigen Filmaufnahme der Aufführung beinhaltet, schrieb der damalige Burgtheater-Direktor Klaus Bachler: 295 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 726 Klaus Bachler: DVD-„das orgien mysterien theater, 122. aktion“ (#12, Hermann Nitsch,), Edition Burgtheater, Art. Nr. 05567-8, 07.11.2008. Das Theater des Hermann Nitsch kann sich überall ereignen, auch im Burgtheater. Und so gingen wir mit ihm und er mit uns. Erfindungen wurden gemacht und andere wieder verworfen. In manchem waren der Betrieb und das Haus ein Segen, in anderem eine Herausforderung. Alles wurde für hier neu gedacht und mit dem Raum erfunden und blieb dennoch ganz das, was es ist: das Nitsch´sche Gesamtkunstwerk. Das Ereignis selbst, vor tausenddreihundert Menschen, die das Burgtheater neu erlebten und wahrnahmen, schreibt Theatergeschichte. Acht Stunden lang gingen die Menschen durch eine Schule des Empfindens und durch ein Fest des Geistes und der Sinne. So hell, heiter und lebensfroh kann das Burgtheater sein. Ich wünsche mir vom Theater, auch dem literarischen, dem des Wortes, dieses großgelegte Fest der Lebensbejahung. 726 Im Januar 2006 - nach Nitschs 122. Aktion im November 2005 - war auch Schlin‐ gensief mit seiner Installation Area 7 - Eine Matthäusexpedition im Burgtheater zu Gast. Wie schon erwähnt wurde, ist Area 7 - Eine Matthäusexpedition Teil des Langzeitprojekts Animatograph Schlingensiefs, das er mit der Drehbühne des Wagner Theaters in Bayreuth anfing und in Nambia, Island, Neuharden‐ berg in Brandenburg, London und auch in Wien weiterentwickelte. Dem Dokument „Schlingensiefs Animatograph - Einleitung“ ist die nachstehende die inhaltliche, künstlerische bzw. ästhetische Beschreibung von Schlingensiefs erfundenen Animatograph-Konzept entnommen worden: „Der Animatograph“ ist eine Drehbühne, eine „aktionistische Fotoplatte“, ein sich permanent fortbewegender Transformationskörper. Thematisch beinhaltet es die ver‐ schiedensten Anschauungen menschlicher Natur. „Der Animatograph“ projiziert die kulturellen und zivilisatorischen Kämpfe in Fragen der Religion, Politik, Geschichte und Familie. Die Auseinandersetzung des Menschen mit höheren Kräften, wie Geis‐ tern, Göttern und sagenhaften Helden sind Ausdruck dieses Kampfes, ebenso wie Reinheitsrituale und symbolische Verformungen. „Der Animatograph“ verbindet nor‐ dische/ europäische und afrikanische Traditionen und verknüpft filmische Visionen des Wagnerianischen Grals mit den schamanistischen Sitten und Bräuchen Afrikas sowie der isländischen Sagenwelt („Edda“) […]. Grenzüberschreitend arbeitet „Der Animatograph“ an einem überlebensgroßen Porträt des alltäglichen Lebens. Dabei handelt es sich um Bilder jenseits unserer Sehgewohnheiten. Mit den Mitteln der Improvisation hält uns diese begeh- und bewohnbare Fotoplatte einen Spiegel vor und 296 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 727 „Schlingensiefs Animatograph - Einleitung“. In: Schlingensief, http: / / www.schlingensi ef.com/ projekt.php? id=t052&article=einleitung - letzter Zugriff: 27.04.2018. 728 „Area 7 - Eine Matthäusexpedition. Eine Herausforderung für die Burg“. In: Prospect Theater, März 2006, S. 32-34, hier S. 32. „überspielt“ den Besucher immer wieder aufs Neue in veränderte Zusammenhänge. So entstehen flüchtige und trotzdem ganz universelle Selbstporträts. 727 Abbildung 21: Christoph Schlingensiefs Animatograph, Skizze (2004), Quelle: Schlingen‐ sief-Webseite Für seine überdimensionale und raumübergreifende Installation, die vom 7. bis zum 22. Januar dauerte und in welcher sich alles vermischte, Darstellende und Zuschauende, Bühnen- und Zuschauerraum, wie bei Nitsch 122. Aktion, war die ganze Bestuhlung von Parkett und Parterre weggeräumt. Für das Burgtheater mag Schlingensiefs Inszenierungsvision mit der großen Herausfor‐ derung von Nitsch auf Augenhöhe rivalisieren - aber auf eine andere Art und Weise: Wie Schlingensief selbst seine Intention erklärt, geht es ihm bei dieser Installation hauptsächlich darum, „die Kontrollmechanismen [zu] verlieren und das zugleich als eine Inszenierung [zu] begreifen, das ist der Kern.“ 728 Wird versucht, diese Kernabsicht Schlingensiefs auf das Orgien-Mysterien-Theater zu übertragen, dann fällt Nitschs Stör- und Inszenierungsprinzip von Vorgängen als Grundexzessereignis auf. 297 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 729 Christoph Schlingensief im Interview mit Christoph Hirschmann: „Theater gegen schlechte Laune“. In: Format Nr. 1-2/ 06 vom 13.01.2006, S. 88. Abbildung 22 & 23: Area 7 - Eine Matthäusexpedition (2006). © Georg Soulek, Burgtheater Wien Schlingensief lernte viel von Nitschs Burgtheater-Inszenierung für seine eigene Burgtheater-Installation. Er zitierte viele Elemente der 122. Aktion, die er angeblich gut studiert hatte: Den von Nitsch im Interview beschriebenen Inszenierungsplan eignete er sich buchstäblich an und ließ keine einzige Ecke im Burgtheater übrig, in der sich keine Szene seiner Installation abspielte. Nitschs überdimensionale und raumübergreifende Gestaltungsform, seine si‐ multanen Vorgänge, die Auflösung der Beobachterperspektive und das scho‐ ckierende Spiel mit der Erwartungshaltung der Zuschauenden, starke visuelle und sinnliche sowie eine gewaltige, bildgenerierende Dramaturgie waren in Schlingensiefs Area 7 - Eine Matthäusexpedition zu beobachten. Aus einem Interview Schlingensiefs vom 13.01.2006 mit Christoph Hirschmann, publiziert in der österreichischen Wochenzeitschrift Format, geht deutlich hervor, dass Schlingensief von dem Kunstkonzept von Nitsch angetan ist: Jedenfalls interessiere ich mich nicht für Esoterik. Ich bewege mich nicht auf den Spuren von Nitsch - Motto: „So jetzt nehmen wir Kontakt mit den Sphärenklängen auf usw.“ Trotzdem finde ich es spannend, was Nitsch da so macht. Man kann zwar einwenden: Es fällt ihm nichts ein. Man kann aber auch dafürhalten: Er bleibt sich selber treu. Auf alle Fälle sind mir seine Aktionen tausendmal lieber, als wenn ich mir so eine ideenlose Ausstellung wie „Superstars“ angucken muss. Das ist Langeweile pur! 729 In der Kunstinstallation Area 7 - Eine Matthäusexpedition verwendete Schlin‐ gensief Elemente der Malaktionen des Wiener Aktionismus, dessen Mitbegrün‐ der Nitsch ist: 298 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief Abbildung 24: Malaktion in Area 7 - Eine Matthäusexpedition(2006), © Aino Laberenz, Burgtheater Wien Abbildung 25: Malaktion in Area 7 - Eine Matthäusexpedition (2006), © Georg Soulek, Burgtheater Wien 299 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 730 „Area 7 - Eine Matthäusexpedition. Eine Herausforderung für die Burg“, a. a. O., S. 32. 731 Vgl. Anton Bierl: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdra‐ matik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“, a. a. O., S. 203. Der überwiegende Einsatz von multimedialen Effekten und die Verwendung von technischen und neuen Kommunikationsmitteln sowie Filmmaterial un‐ terscheiden jedoch Schlingensief von Nitsch. Die Redaktion des Magazins Prospect Theater berichtet, dass Schlingensiefs Installation „sich wohl am besten als labyrinthischer Hybrid zwischen Theater, Installationskunst und dreidimensionalem Multimedia-Spektakel beschreiben“ 730 lasse. Beide verbindet mehr als lediglich das Überwinden des klassischen Theaterkonzepts. Schlingen‐ siefs Interesse für Mythen, Rituale und religiöse Praktiken, die er auch dem afrikanischen Raum entlehnt, bringen ihn Nitsch näher. Beide kennzeichnen sich durch die postdramatisch-körperzentrierte Präsenz und die ästhetische Erfahrung des Realen, welche die betrachtende Rolle und somit die distanziert-analysierende Beobachterperspektive auflösen. Die im zweiten Kapitel diskutierten voraristotelischen und mittelalterlichen Erschei‐ nungsformen von Theater, die sich gerade mit gegenwärtig-postdramatischen, ästhetischen Interessen überschneiden, 731 entzünden sich einerseits an der performativ-körperzentrierten Erfahrung und bringen andererseits über verbale und/ oder nonverbale Kommunikationsmittel menschliche Empfindlichkeiten und Affekte performativ hervor. Jenseits der dramatischen, überwiegend verbal- und intellektuell-basierten sowie psychologisierenden Theaterpraxis setzt eine körperzentrierte Erfahrung des Realen im postdramatischen Theaterkontext ein leibliches Sicheinlassen auf ein performatives Tun in einem liminalen Theatergebilde voraus. Wenn gerade Betrachtende oder Zuschauende in einen theatralen Vorgang körperlich-performativ miteinbezogen werden und somit mit dem eigenen Körper im Mittelpunkt einer rituell-ästhetischen Aktion stehen, so geht es zwangsläufig um eine (vielleicht) anspruchsvolle Haltung, die weit über kognitiv-intellektuelle und rationale Rezeptionsgewohnheiten hinausgeht. Die vorliegende Analyse erweitert hierzu den Blickhorizont der körperzentrierten Selbst-/ Fremdheitserfahrung und fokussiert auf den perfor‐ mativ-postdramatischen Prozess. Der Prozess der Fusionierung wird demnach in zwei Aspekte eingeteilt: Es handelt sich einerseits um eine produktionsästhe‐ tische Fusionierung von Kunst und Nichtkunst im liminalen Zwischenraum. Andererseits bezieht sich der Fusionierungsprozess auf die untrennbar-inter‐ dependente Wechselbeziehung zwischen dem Subjekt und dem erkennbar rituellen, religiösen sowie politischen Element als Voraussetzung der körper‐ zentrierten, ästhetischen Erfahrung. Wie Rebentisch erklärt z. B.: „was mit einer 300 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 732 Rebentisch, Juliane: Die Ästhetik der Installation, a. a. O., S. 68. 733 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 30. 734 Vgl. Koku G. Nonoa: „Gegenkulturelle Entgrenzung des theatralen Schauplatzes: Schlingensiefs Container“, a. a. O., S. 131-142. 735 Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzung aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, Hamburg: Edition Nautilus 1978. solchen Erfahrung auf dem Spiel steht, ist nun nicht allein der Zugang des Subjekts zum ästhetischen Objekt, sondern damit zugleich auch das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst.“ 732 Eine produktionsästhetische Fusionierung von realen Alltagselementen in einer ästhetischen Theatersituation impliziert zum Großteil einen öffentlichen Anspruch, der gleichsam sinnlich und affektgeladen verbunden ist. 733 Diesen Öffentlichkeitsanspruch habe ich bereits im ersten und im zweiten Kapitel veranschaulicht - bei der Analyse der Fragmentie‐ rung sowie bei der Behandlung der Aktions-, Installations-, Happening- und Performancekünste, die in vielen postdramatischen Theaterexperimenten eine Erfahrung des Realen und eine Erweiterung des Theaterraums hervorbringen: Es geht dabei um eine gegenkulturelle Entgrenzung des theatralen Schauplat‐ zes, 734 wie in Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und in Schlingensiefs Aktion 18, tötet Politik! Auch mit der Wende zu der bereits behandelten cultural performance (Milton Singer), der cultural celebration (Peter Brook) und dem cultural turn (Bachmann-Medick) als Bestandteilelemente sowohl kultureller und ritueller als auch ästhetischer bzw. künstlerischer Praktiken sind vielen Künstler_innen, wie Nitsch und Schlingensief, die Voraussetzungen gegeben worden, um theatrale körperzentrierte Präsenz und Erfahrung des Realen sowie Fusionierung ritueller, religiöser und politischer Elemente zu inszenieren. Darüber hinaus finden seit Duchamp und der anwachsenden Akzentuierung von Medien- und Inszenierungskultur sowie Theatralisierung der sozialen und politischen Öffentlichkeit, was Guy Debord schon 1967 als Die Gesellschaft des Spektakels  735 treffend bezeichnet hat, übliche Alltagshandlungen sowie Alltagsgegenstände unter veränderter oder umfunktionalisierter Semantik und Syntax mit eigenartig entsprechender Rhetorik in der Domäne Kunst ihre künst‐ lerische Verwertung und Geltung. Davon ausgehend, habe ich von einer daraus resultierenden Schwierigkeit und gar unmöglich gewordenen Distinktion zwi‐ schen künstlerischen und nichtkünstlerischen Handlungen sowie Objekten gesprochen, was bereits viele Wissenschaftler_innen - unter anderem Lehmann und Rebentisch - mit anderen Formulierungen konstatiert haben. Zugleich wird das moderne Verständnis der künstlerischen Autonomie als eine von der realen Lebenspraxis abgehobene Ausdrucksform ästhetisch thematisiert und hinter‐ fragt: Implizit geht es dabei zudem um ein besonderes ästhetisches „Verfahren 301 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 736 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 43. 737 Ebd. 738 Vgl. Juliane Rebentisch: Die Ästhetik der Installation, a. a. O., S. 70. 739 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 49. 740 Hans-Thies Lehmann: „Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik“ (Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Wolf). In: Klaus Bachler, Klaus Dermutz: Next Generation. Mit einem Essay von Hans-Thies Lehmann. Wien: edition burgtheater 2009, S. 12-24, hier S. 17. 741 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 49. 742 Vgl. ebd., S. 51. zur Destabilisierung der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, künstlerischer Repräsentation und empirischer Realität“ 736 - somit um eine Infragestellung, welche die eigenartige Auszeichnung vom künstlerischen Funktionsmodus „als einer von aller übrigen Realität abgehobenen zweiten Wirklichkeit“ 737 selbst zum Gegenstand der ästhetischen Erfahrung macht. Nitschs Orgien-Mysterien- Theater und Schlingensiefs Aktion 18, tötet Politik! haben in unterschiedlichen Ausprägungen dieses Merkmal gemeinsam: Bei beiden spielen die Theatralisie‐ rung der Betrachtenden 738 und die Auflösung der Beobachterperspektive eine wichtige Rolle, da sie während der liminalen Theatersituation die untrennbare Aufeinanderbezogenheit von Objekt und Subjekt sowie die Wechselwirkung ritueller, politischer Elemente und erfahrender Subjekte hervorrufen. 739 In der Folge ist in vielen postdramatischen Gestaltungsformen bzw. Kompositionen zu beobachten, „dass sich das Energiezentrum des Theaterspiels verschoben hat, mehr in die Sphäre zwischen Spieler und Zuschauer verlagert ist, weg von den dramatischen-szenischen immanenten Spannungen.“ 740 Es geht vielmehr um das Kommunizieren mit vielfältigsten, miteinander verbundenen Energien von Erfahrungsobjekt und -subjekt, die überwiegend in Form einer realen Präsenz in Erscheinung treten: Das ist der Ausdruck einer Akzentverschiebung von der dramatischen Verkörperung (im Sinne des Schauspiels einer Rolle, durch die eine Person/ Figur vergegenwärtigt wird) zur postdramatischen Kommuni‐ kationsform, sodass die körperzentrierte, ästhetische Erfahrung „nicht mehr als objektivierbar Anderes äußerlich“ zugegen ist, „sondern [erst] in dessen reflexiver Transformation“ 741 erlebbar bzw. erfahrbar wird. 742 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass eine theatrale, körperzentrierte Präsenz und Erfahrung des Realen postdramatischen Ausdrucks von einer phä‐ nomenologischen Erscheinungsform bedingt wird und eine Transformation im‐ pliziert, die nicht in erster Linie aktiv gesucht und gestaltet wird: Sie ereignet sich eher, wie bei Nitschs und Schlingensiefs Störstrategien, während des ästhe‐ tischen Erfahrungsprozesses in Form einer nie vollständig beherrschbaren und zurückhaltbaren Konfrontation mit Störelementen. Der ästhetische Erfahrungs‐ 302 3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief 743 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 146. 744 Vgl. Hans-Thies Lehmann: „Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik“, a. a. O., S. 22. prozess „als Widerfahrnis ist wesentlich ein Modus der Selbst-Konfrontation, der Selbst-Fremdheit, sie beginnt mit dem Zustoßen von etwas Fremdem, das sich der begrifflichen Vereinbarung letztlich entzieht.“ 743 Die körperzentrierte Präsenz geht in den behandelten Theaterkonzepten von Nitsch und Schlingensief im Zuge der (Selbst-)Konfrontation mit einer unvorhersehbaren Natur der Fremdheitser‐ fahrung einher. Es entsteht dabei - wie im Fall des Orgien-Mysterien-Theaters (z. B. Nitschs Inszenierung von unkontrollierbaren menschlichen Erregungszuständen und ekelerregenden Elementen) und der Aktion 18, tötet Politik! (z. B. Schlingensiefs „Tötungsaufruf“ und Aufforderung, als „Selbstmordattentäter“ aufzutreten) - eine Form der künstlerischen Befremdung, die an einen Schockaffekt und an eine erschütternde Störung in der prozessualen Annäherung an ein Objekt der ästhetischen Erfahrung gebunden ist. 744 303 3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater 745 Vgl. Metzler Lexikon Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. 2. Aufl. Berlin, S. 4300-4301. 746 Brockhaus ABC Naturwissenschaft und Technik. 2. Bd. 13. Aufl. Leipzig 1980, Bd. 1, S. 537. 747 Sebastian Donat: „Weltliteratur als Teilnahme und Interferenz - Helena in Edinburgh, Paris und Moskau“. In: Goethe-Jahrbuch (2017), Bd. 134, Göttingen: Wallstein Verlag 2018, S. 99-100, hier S. 99. 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene: von Transkulturalität bis zum kulturellen Synkretismus im Theater 3.2.1. Kulturelle Interferenzphänomene In seinem Artikel „Weltliteratur als Teilnahme und Interferenz - Helena in Edinburgh, Paris und Moskau“ entwickelt Sebastian Donat einen Beschreibungs‐ ansatz für das Phänomen des literarischen bzw. kulturellen Ineinandergreifens, indem er sich vom physikalischen Konzept von Interferenz inspirieren lässt. Dadurch möchte Donat das Interferenzkonzept für die Betrachtung und Unter‐ suchung der Interaktion von unterschiedlichen Elementen literarischer bzw. kultureller Natur anwendbar machen. Dabei wirft er einen analytischen Blick auf benachbarte Modelle sowie auf frühere literaturwissenschaftliche Verwen‐ dungen von Formen der Interferenz: z. B. Intertextualität und Hybridität. Donat geht zunächst in Anlehnung an Metzler Lexikon Sprache und an Brockhaus ABC Naturwissenschaft und Technik von einer etymologischen Begriffsbestim‐ mung aus: Interferenz, die sich aus lat. inter- (zwischen) und ferre (tragen) 745 zusammensetzt, benennt ursprünglich in der Physik die „Überlagerung meh‐ rerer Wellen beim Zusammentreffen in einem Raumpunkt.“ 746 In der Folge merkt Donat an, dass „abhängig von Faktoren, wie Stärke und Position der Impulsgeber_innen, Wellenlänge, Phase und Polarisation, […] im betrachteten Feld Verstärkungen (konstruktive Interferenz) oder Auslöschungen (destruktive Interferenz)“ 747 entstehen. Das Ergebnis seien Musterbildungen, die von strenger Symmetrie bis zum chaotischen Rauschen reichen. Interferenz trete bei allen Arten von Wellen auf (Schall, Materie, Licht), zeige dabei teilweise aber Beson‐ derheiten. Er schlussfolgert, dass folgende Merkmale als zentrale Elemente von Interferenz festgehalten werden können: das Vorhandensein von mindestens zwei Impulsen (wobei er unter dem Begriff Impuls - im physikalischen Sinn und analog zur Mechanik - das Produkt aus Kraft und Zeit bzw. die Dauer 748 Ebd. 749 Vgl. ebd. 750 Vgl. Mieke Bal: Kulturanalyse. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thoma Fechner-Smarsly und Sonja Neef, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. 751 Sebastian Donat: „Weltliteratur als Teilnahme und Interferenz - Helena in Edinburgh, Paris und Moskau“, a. a. O., S. 100 752 Ebd. einer Kraftwirkung versteht), ihr gleichzeitiges Wirken, ihre Nachbarschaft, ihre Einbettung in ein verbindendes Medium, die resultierende Überlagerung der Wirkung der Impulse, die zu Verstärkungen oder Abschwächungen führt, sowie deren Beobachtbarkeit in Form von Musterbildungen auf der Oberfläche des verbindenden Mediums. Im Anschluss an die Darstellung dieser kennzeichnenden Merkmale eines physikalischen Interferenzphänomens weist Donat darauf hin, dass die beo‐ bachtbare Musterbildung für den Alltagsgebrauch mehr Verwendung findet. Als konkrete Beispiele in diesem Zusammenhang führt er Wellenkreise auf Wasser‐ oberflächen oder Farbenphänomene bei der Überlagerung von Lichtwellen auf Seifenblasen an. „Dabei repräsentieren die Wellenkreise Symmetrien, während das farbige Schillern von Seifenblasen eher für die chaotische Ausprägungsform von Interferenzerscheinungen steht“, 748 merkt Donat zusätzlich an. Das Interesse dieser Arbeit an dem Interferenzphänomen knüpft an Donats weitere Auslegung und Übertragung von Erscheinungsformen von Interferenz auf nichtphysikalische Anwendungsbereiche an: das Ineinandergreifen von literarischen und kulturellen Elementen. Dabei stehen die unterschiedlichen interagierenden Konstituenten bzw. Elemente im konzeptionellen Potential von Interferenz im Vordergrund der Betrachtung. 749 Im Sinn von Mieke Bals „Wan‐ dernde Begriffe, kreuzende Theorien“ zur Kulturanalyse (2006) 750 deutet Donat das physikalische Interferenzmodell für die Beschreibung von Erscheinungs‐ formen des kulturellen Interferenzphänomens folgendermaßen um: „Überall dort, wo in enger Nachbarschaft gleichzeitig zwei oder mehr kulturelle Impulse wirken und es ein verbindendes Medium gibt, kommt es zu Phänomenen der Überlagerungen im Sinne einer positiven oder negativen Interferenz.“ 751 In der Folge fokussiert sich Donat auf Intertextualität und Hybridität als benachbarte Beschreibungskonzepte für „Phänomene, die dadurch gekennzeichnet sind, dass zwei oder mehr Elemente - Werke, AutorInnen, Sprachen, Kulturen o. ä. - daran beteiligt sind.“ 752 In Endnoten vermerkt er zudem, dass in diesem Zusammenhang weitere Begriffe bzw. Konzepte wie Synthese, Polyphonie, Inter- und Transkulturalität sowie - allerdings mit einer anderen Art von Konstellation - Intermedialität einschlägig sind. Diese Arbeit setzt an Donats Umdeutung und 306 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene Auslegung des Interferenzkonzepts an und erweitert das so verstandene Phä‐ nomen auf dynamisch-performative und theatrale Ausdruckselemente, die von mindestens zwei unterschiedlichen, kulturell-impulsgebenden Elementen sowie Akteur_innen ausgehen, dann interagieren und sich schließlich vermischen, um eine besondere Erscheinungsform als Produkt dieser Vermengung hervor‐ zubringen. Genau diese Interferenz unterschiedlicher kultureller Elemente wird als Inter-, Trans- oder Multikulturalität oder als kulturelle Hybridität bezeichnet. Fakt ist, dass dies ein Resultat einer Interferenz ist, die wiederum zum kulturellen Kompromissbildungs- und Veränderungsprozess bewegt. Kul‐ tur verändert sich je nach der Zeit/ Epoche auf diese Weise und modifiziert damit kulturelle Konzeptualisierungen und Wahrnehmungsweisen. Theater als ein kultureller Praxis- und Reflexionsschauplatz schafft diesbezüglich einen besonderen Aushandlungsraum zur Erprobung kultureller Interferenzphäno‐ mene. Das kulturelle Interferenzphänomen wird im Folgenden zunächst unter Transkulturalität und kulturellem Synkretismus ins Auge gefasst, von da aus am Beispiel des (postdramatischen) Theaters veranschaulicht und bis zum postdramatischen Theatersynkretismus weiterentwickelt. 3.2.2. Transkulturalitätskonzept Das Konzept Transkulturalität als eine Erscheinungsform eines kulturellen Interferenzphänomens wird in dieser Analyse aus zwei Hauptgründen der Interbzw. Multikulturalität vorgezogen: erstens wegen der Auffassung der kulturellen Grenzüberschreitung bzw. der kulturellen Verwischung von geo‐ grafischen, nationalen sowie ethnischen Grenzen und zweitens wegen des kulturellen Synkretismus. Der kulturelle Synkretismus wird aus der Kategorie Transkulturalität abgeleitet und am postdramatischen Theaterkonzept konkret exemplifiziert. Während der kubanische Ethnologe Fernando Ortiz bereits 1940 in seinem Werk Conterpunteo cubano del tabaco y azúcar der transkulturellen Betrach‐ tungsweise bzw. dem Konzept Transkulturation Ausdruck gibt, bezogen auf die kubanische Realität von Transkulturation, gewinnt dieses Konzept erst in den 1990er-Jahren im europäischen Raum an Aufmerksamkeit und entwickelt sich nach und nach zum Begriff der Transkulturalität: Mary Louise Pratt nimmt 1992 in ihrer Studie Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation Ortiz´ Transkulturationskonzept (verstanden als Prozess) wieder auf, das sich zum Begriff Transkulturalität (im Sinne von Zustand) weiterentwickelt und in den Geisteswissenschaften verbreitet. „Dies geschah“ - bemerken Dorothee 307 3.2.2. Transkulturalitätskonzept 753 Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 8. 754 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“. In: Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, a. a. O., S. 25-40, hier S. 25. 755 Ebd., S. 26. 756 Ebd., S. 28. Kimmich und Schamma Schahadat in Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität - „im deutschsprachigen Raum vorwiegend in Auseinandersetzung mit der philosophischen (vgl. z. B. Wolfgang Welsch), soziologischen (vgl. z. B. Ulrich Beck) und anthropologischen (vgl. z. B. Ulf Hannerz) Globalisierungsforschung.“ 753 Der Bezugspunkt für diese Arbeit ist Wolfgang Welschs Definition von Transkulturalität. Welsch sieht im Kulturbegriff zwei Bedeutungsdimensionen, die es auszudif‐ ferenzieren gilt: Erstens unterscheidet er die inhaltliche Bedeutung von Kultur, wenn Kultur als Sammelbegriff für diejenigen Praktiken stehe, die „Alltags‐ routinen, Kompetenzen, Überzeugungen, Umgangsformen, Sozialregulationen, Weltbilder und dergleichen“ umfassen. Als zweite Bedeutungsdimension des Kulturbegriffs arbeitet er heraus, dass Kultur „in den meisten Fällen auch eine geographische oder nationale oder ethnische Extension dieser Praktiken im Sinn“ habe. In diesem Sinn beziehe sich hier die Kultur „auf die Ausdehnung derjenigen Gruppe (oder Gesellschaft oder Zivilisation), für welche die betref‐ fenden kulturellen Inhalte bzw. Praktiken charakteristisch“ 754 seien. Und genau hier interveniert Welsch mit der Kategorie Transkulturalität: Die begriffliche Revision, die das Konzept Transkulturalität vorschlägt, bezieht sich nun vor allem auf die zweite, auf die extensionale Bedeutungsdimension von ›Kultur‹. Es rät, diese Extension anders zu verstehen als traditionell. Nämlich nicht mehr nach dem alten Modell klar gegeneinander abgegrenzter Kulturen, sondern nach dem Modell von Durchdringungen und Verflechtungen. Und zwar deshalb, weil Kultur heute - so die Behauptung - de facto derart permeativ und nicht separatistisch verfasst ist. Darauf will das Konzept der Transkulturalität das Augenmerk lenken, dieser Verfassung will es gerecht werden. 755 „Das neue Leitbild [mit Transkulturalität] sollte […] das von Geflechten sein“ 756 - im Sinne von kulturellen Grenzüberschreitungen bzw. Verwischungen von geografischen, nationalen sowie ethnischen Grenzen, die wiederum die kulturel‐ len Interferenzphänomene implizieren. Dies wäre eine mögliche Antwort auf den heutigen Sachverhalt, „dass in einer globalisierten Welt Kulturen weder territorial verortet werden können noch an homogene Gemeinschaften gebunden 308 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene 757 Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, a. a. O., , S. 8. 758 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., , S. 28. 759 Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, a. a. O., S. 8. 760 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., S. 36. sind.“ 757 Wie Welsch bekräftigt, seien zeitgenössische Kulturen stark miteinander verbunden. Für ihn hören „die Lebensformen nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von einst (der vorgeblichen Nationalkulturen)“ auf, „sondern über‐ schreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen.“ 758 Deswegen können Kimmich und Schahadat konstatieren: „globale Kulturen […] zeichnen sich durch ihre Fluidität, Grenzverschiebung bzw. -aufhebung aus und entwickeln dabei auch neue Strategien des Ein- und Ausschlusses.“ 759 Genau an diesem Punkt der Fluidität und der Grenzverschiebungen entstehen kulturelle Interferenzphänomene, die von unterschiedlichen Faktoren, wie z. B. von der bereits angesprochenen Implikation von Stärke und Position der Impulsgeber_innen im Sinne von Donat, aber genauer von ökonomischen, politischen und hegemonialen Machtverhältnissen abhängen. Die sich diesbezüglich im transkulturellen Kontext entwickelnden Strategien des Ein- und Ausschlusses funktionieren immerhin auf der Grundlage der kulturellen Aushandlungsprozesse und Kompromisse im Sinne von Wimmer und geschehen nicht außerhalb der bestehenden asymmetrischen Macht- und Interessenverhält‐ nisse sowie der ökonomischen und politischen Einflussfaktoren. Auch Welsch ist sich dessen bewusst: Natürlich spielt sich der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum ab. Ganz im Gegenteil: Die treibenden Kräfte […], welche Transkulturalisierung bewirken, sind weithin Machtprozesse. Es ist in erster Linie die kapitalistische Ökonomie mit ihrer globalen Erschließung materieller und humaner Ressourcen, die zu drastischen Umstrukturierungen traditioneller Verhältnisse führt, Arm-Reich-Ver‐ teilungen verändert und Migrationsbewegungen auslöst. Der Druck politischer Herr‐ schaft und Unterdrückung tut ein Übriges. Die Identitätsbildung der Individuen erfolgt also in einem Raum, der durch mannigfache Disparitäten und Beschränkungen und oft durch Zwang, Not und Armut gekennzeichnet ist. Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck. Das ist teilweise im Globalisierungsdiskurs, vor allem jedoch im postkolonialen, postfeministischen und generell im Minoritätendiskurs vielfach untersucht und dargestellt worden. 760 309 3.2.2. Transkulturalitätskonzept 761 Vgl. ebd., S. 32. 762 Ebd. Die gedankliche und inhaltliche Bedeutung dieses Zitats lässt sich mit den kulturkritischen Gedanken und Inhalten in Verbindung bringen. Darüber hinaus kommt dem Theaterverständnis als einer kulturellen Praxis- und Reflexion‐ splattform in diesem Zusammenhang eine besondere Aufgabe zu, welche sich mit der in diesem Zitat erläuterten Sachlage szenisch-dynamisch befasst. Bei der theatralen Behandlung dieser Sachlage kann eine gegenkulturelle und instituti‐ onskritische Perspektive hilfreich sein, um alle Varianten bzw. Variationen in der Auffassung des Kulturbegriffs - in Form von Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität etc. - angesichts der Machtverhältnisse als ambivalent zu hin‐ terfragen. Die genannten Varianten bzw. Variationen des Kulturbegriffs haben jeweils ihre positiven und negativen Aspekte, die von kulturellen Akteur_innen je nach gesellschaftlicher bzw. kultureller Entwicklung sowie (Nicht-)Zugehö‐ rigkeit positiv oder negativ beurteilt werden könnten. Deshalb bemerkt Welsch, dass das Transkulturalitätskonzept mit den Konzepten der Multikulturalität und der Interkulturalität verschiedentlich in Verbindung gebracht werde, wobei die entsprechenden Ausdrücke geradezu synonym verwendet würden. 761 In diesem Zusammenhang ist Welsch aber bemüht, die Aufmerksamkeit auf die Vorteile von Transkulturalität und zugleich auf die Nachteile von Multi- und Interkulturalität ausdifferenzierend zu lenken: Aus dieser Sicht meines Transkulturalitätskonzepts bestehen jedoch große Unter‐ schiede. Die Konzepte der Multi- und Interkulturalität halten noch immer am alten Kugelmodell fest. Der Unterschied zwischen beiden ist nur, dass die Multikulturalisten dies im Blick auf Verhältnisse innerhalb von Gesellschaften, die Interkulturalisten hingegen im Blick auf die Verhältnisse zwischen Gesellschaften tun. Das Kugelmodell ist dann aber für die Defizite beider Konzepte verantwortlich. 762 Diese Kritik von Welsch, die Multi- und Interkulturalität als defizitär abwertet, lässt glauben, dass die verschiedenen Entwicklungen und unterschiedlichen Kulturauffassungen seit Herder bis heute eher gegeneinander auftreten wür‐ den, anstatt kulturgeschichtlich bzw. kontextbezogen zu operieren, um sich möglicherweise zu ergänzen und andere kulturelle Lesarten zu ermöglichen. In Transkulturalität als begriffliche und konzeptuelle Herausforderung an die Fremd‐ sprachendidaktik richtet Werner Delanoy kritisch und zusammenfassend die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Begriffe und Begriffsverwendungen zur Bezeichnung von kulturellen Mischungen: 310 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene 763 Werner Delanoy: „Transkulturalität als begriffliche und konzeptuelle Herausforderung an die Fremdsprachendidaktik“. In: Frauke Matz, Michael Rogge/ Philipp Siepmann: Transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: Lang-Ed. 2014, S. 19-35, hier S. 20-21. Jene Problembereiche, die Welsch unter Transkulturalität zusammenfasst, sind auch mit Hilfe anderer Oberbegriffe diskutiert werden [sic]. So sprechen etwa Ulf Hannerz (1996) oder Elisabeth Beck-Gernsheim (2007) von Transkulturalität, während Pnina Werbner (1997) oder Ania Loomba (1998) Hybridität als übergeordneten Begriff bevorzugen. Ferner unterscheiden sich einige Ansätze, die sich mit Hybridisierungs‐ prozessen befasst haben, in wesentlichen Bereichen von Welschs Position. Hier sei insbesondere auf die postkoloniale Kritik und Globalisierungsdebatten verwiesen, wo‐ bei in diesen Arbeiten der Machtaspekt bzw. eine Globalisierungskritik eine ungleich größere Rolle spielen als bei Welsch. Auch sei angemerkt, dass in der Fachliteratur Transkulturalität bzw. dem Begriff zugeordnete und verwandte Problembereiche sehr unterschiedlich beurteilt werden. Während sie für Welsch ein grundsätzlich positives Phänomen darstellen, haben sich andere Arbeiten mit den „diverse modalities of hybridity“ (vgl. Loomba 1998: 183; Pieterse 1998: 105 ff.) und damit verbunden auch mit problematischen Aspekten kultureller Vermischung befasst (vgl. z. B. Friedman 1999; Wachinger 2003). So warnt Tobias Wachinger (2003: 149) bei der Beurteilung von Hybridisierung von einer einseitig „celebratory rhetoric“, wie sie bei Welsch durchaus gegeben ist. Dem gegenüber plädieren Wachinger (ibid. 143) und Loomba (1998: 181) für eine differenzierte und kontextspezifische Betrachtung transkultureller Phänomene, um verstehen zu können, was sie für wen in welchen Zusammenhängen bedeuten und bewirken. 763 Deshalb wird das Konzept der Transkulturalität als eine Erscheinungsform eines kulturellen Interferenzphänomens in dieser Arbeit weder zu multi- und inter‐ kulturellen Ansätzen noch zur Hybridität in Opposition gestellt. Wenn jedoch in dieser Arbeit das Konzept der Transkulturalität bevorzugt wird, geschieht dies aus einer differenzierten und kontextspezifischen Lesart des kulturellen Interferenzphänomens, für die Wachinger und Loomba plädieren. Denn Trans‐ kulturalität hat - wie Multi- und Interkulturalität sowie die kulturelle Hybridität - eine kulturgeschichtliche, zeiträumliche und vor allem kontextbezogene Geltung, die jenseits einer kulturellen Homogenität und Reinheit operiert. In diesem Sinne können diese vier Kategorien zu vielfältigen Betrachtungsweisen und Konzeptualisierungen von unterschiedlichen kulturellen Begegnungen, Durchdringungen und Verflechtungen beitragen, wenn sie nicht gegeneinander abqualifizierend verwendet werden. Vor dem Hintergrund dieser analytischen Betrachtungen impliziert die Bedeutungsverwendung der Transkulturalität in 311 3.2.2. Transkulturalitätskonzept 764 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., S. 33. 765 Das Wort „primitiv“ ist nicht pejorativ sondern positiv bzw. im produktiven Sinne gemeint. Der Begriff dient hier dazu, radikale kulturelle Unterschiede, die dieser Begriff suggeriert, in Bezug auf modern oder zivilisiert zu bezeichnen. So bezieht sich „primitiv“ sowohl auf (frühere) europäische als auch auf außereuropäische Gesellschaften, die aus der modernen oder zivilisatorischen Perspektive mit veralteten und obsoleten Kulturpraktiken in Verbindung gebracht werden: z. B. die blutigen Opferrituale in der griechischen Antike oder in einigen speziellen Bereichen/ Nischen der afrikanischen Gesellschaft. Das Buch The Preference for the Primitive: Episodes in the History of Western Taste and Art (2006) vom Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich, behandelt die positiv-konnotiere Bedeutung sowie authentische, produktive und kreative Aspekte des „Primitiven“. In ihrem Aufsatz „Gibt es eine Unuit-Kunst? Reflexion über unsere Begegnung mit dem Anderen“ bezeichnet Sybille-Karin Moser Ernst H. Gombrich als einen „der weltbekannten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, der wiederholt als Kritiker gewisser Kulturtheorien die Sicht auf das Menschliche (auf)geklärt hat […]. Er interessierte sich für die Inspiration, die Schriftsteller und Künstler von Cicero bis dieser Studie kontextspezifisch bzw. bedeutungsdifferenzierend den kulturellen Synkretismus: weil sich Transkulturalität in dieser Arbeit auf jene kulturellen Interferenzphänomene bezieht, die sich erstens infolge der Kolonisierung und dann der heutigen Globalisierung sowie infolge der zunehmenden Migrations‐ bewegungen nicht mehr territorial, national, regional und ethnisch im Raum verorten lassen, ohne zugleich in sich selbst andere nahe und/ oder ferne geografische Bezüge synkretistisch aufzuweisen. Das heißt wiederum, dass selbst die als spezifisch eigene nationale Kultur in der Tat eine „romantische und historische Fiktion“ 764 ist. Die Transkulturalität und ihre Erscheinungsform als kultureller Synkretismus wären in dieser Betrachtungsweise an sich kein Novum, sondern bestünden seit jeher. Wenn man auf die (vermeintlich großen) geschichtlichen Ereignisse mit ihren positiven sowie negativen Einwirkungen (Kreuzzüge, kriegerische Eroberungen, wirtschaftliche Erschließung Amerikas, Sklavenhandel, Kolonisierung, Globalisierung und Migration, Flüchtlingsbe‐ wegungen etc.) zurückblickt, so kommt zum Ausdruck, dass sich kulturelle Interferenzphänomene seit jeher infolge eines positiven und/ oder negativen Kulturkontakts zum kulturellen Synkretismus entwickeln. Wenn nun im transkulturellen Kontext von kulturellen Grenzüberschreitun‐ gen bzw. von kultureller Verwischung von geografischen, nationalen sowie ethnischen Grenzen gesprochen wird, dann impliziert dieser Sachverhalt das Vorhandensein eines Ergebnisses von kulturellen Interferenzphänomenen. In‐ sofern sind auch Konfliktpotentiale während eines kulturellen Interferenzphä‐ nomens unvermeidlich vorhanden. Dies bewegt schließlich zu einer neuen kulturellen Konsensbildung und zu einem synkretistischen Wandel. Außerdem können Konfliktsituationen auch aufgrund der Wiederaufnahme primitiver 765 312 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene Picasso in jenen Werken zu finden hofften, in denen sie Qualitäten unverzärtelter Frische, ausdrucksstarker Lebenskraft, moralischer Reinheit - kurz gesagt Authentizität - verkörpert sahen, seien dies die frühe griechische Plastik, die Quattrocento-Freskoma‐ lerei oder afrikanische Masken gewesen. Die für Gombrich typische Art des Verwebens von Geschichte und Psychologie war sein Instrumentarium, in den je spezifischen Situationen die Wurzeln und die Ursachen für den Wechsel der künstlerischen Stile in unserer europäischen Kultur zu ergründen. Bereits in dem 1991 erschienenen Topics of our Time hatte er diese ‚Geschichte des Geschmacks‘ […] angekündigt. Veränderun‐ gen im Aussehen der Kunstwerke aus einem menschlichen Kontext wie zu Beispiel soziologischen Kriterien zu erklären, ist ein völlig anderer Ansatz als das „Nachliefern“ von Beweisen für vorstellige abstrakte Konzepte, wie dies in den Kulturwissenschaften immer wieder passiert. Vor solchen Konzepten zu warnen, vor generalisierenden Ideen und Vorstellungen, die sich auswachsen konnten zu Monstern und die auch Schaden angerichtet haben wie Monster, war Gombrichs lebenslanges Bemühen. So verdanken wir ihn auch die Erinnerung and die Karriere des neuzeitlichen Begriffs primitiv […].“ (Sybille-Karin Moser: Gibt es eine Unuit-Kunst? Reflexion über unsere Begegnung mit dem Anderen“. In: Ursula Mathis-Moser, Sybille-Karin Moser: Die Stimme des Anderen. Kunst aus Nunavut. 1. Auflage, Band 240, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 2002, S. 27-37, hier S. 27-28). 766 Vgl. Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., S. 37. oder vergangener kultureller Distinktionselemente auftreten. Als Beispiel seien unter anderem die bereits behandelten Theaterformen des postdramatischen Theaters angeführt: Das Orgien-Mysterien-Theater von Nitsch ist der Ausdruck einer Wiederaufnahme kultureller Elemente der blutigen Opferrituale in der griechischen Antike. Auch die meisten Theateraktionen von Schlingensief - z. B. die Aktion 18, „tötet Politik! “ -, die Kunst, Leben und Politik verschmelzen, weisen auf uralte oder vorbürgerliche, außereuropäische bzw. afrikanische Theaterformen zurück, bei denen die Kunst von der Lebenspraxis nicht klar abgehoben wird. Bei Nitsch und Schlingensief kommen Transkulturalität und kultureller Synkretismus über institutionskritische und ästhetische Verfahren zum Ausdruck, die mit gewohnten Theaternormen in offener Auseinanderset‐ zung stehen. 3.2.3. Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus Wenn es sich um heutigen Prozess von Transkulturalität als eine zunehmende Realität handelt, die nicht bloß der Ausdruck eines Wunschs ist, 766 so ist gerade die Rede von einem transkulturellen Zustand sowie von beobachtba‐ ren und schon vorhandenen Fakten. Wenn transkulturelle Überschreitungen und Verwischungen von kulturellen Grenzen ergänzt werden, dann ist das vorhandene und erfahrbare Ergebnis des kulturellen Interferenzphänomens als 313 3.2.3. Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus 767 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., S. 38. 768 Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“. In: Herfried Münkler, Bernd Ladwig (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremd‐ heit. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 317-346. 769 Ebd., S. 319. 770 Olga Iljassova: „Grenzdurchdringung anstatt Grenzüberschreitung? ‚Trans’ statt ‚inter’ oder ‚inter’ und ‚trans‘? “. In: Germanistik-Fachzeitschrift. mauerschau: Grenzüberschrei‐ tungen. Universität Duisburg-Essen, 1/ 2008, S. 4-16, hier S. 9. 771 Vgl. Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“, a. a. O., S. 317. 772 Vgl. ebd., S. 320. 773 Natalie Bloch/ Dieter Heimböckel (Hg.): Theater International, eine Vortragsreihe. Hydre Éditions, 2014, S. 8. kultureller Synkretismus zu fassen. Wenn also „die bisher auf dem kulturellen Weg entwickelten Unterschiede“ 767 zu einem extrem binären Denken zwischen dem Eigenen und dem Fremden geführt haben, dann ist wiederum der kulturelle „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung des Fremden“ 768 bzw. „als Reaktion auf den Angriff der Fremden“ 769 zu verstehen, die (als Antwort oder Reaktion) im transkulturellen Kontext dieses binäre Denken aufzulösen oder zu wandeln vermag: In einem gewissen Maße kann die Wendung zur transkulturellen [bzw. synkretisti‐ schen], differenzierteren Betrachtung der Kulturbeziehungen helfen, die Dichotomien aufzulösen, die durch die Begriffe Kulturuniversalismus-Kulturrelativismus, Mitein‐ ander-Nebeneinander, Verstehen-Nichtverstehen ausgedrückt werden. 770 Somit gebühre dem Synkretismus ein auffälligerer Platz, als ihm gemeinhin eingeräumt werde, 771 fordert der Theologe Carsten Colpe in dem bereits ange‐ führten Beitrag „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“. Er fügt hinzu, dass der Begriff Synkretismus gegenwärtig für eine neutrale Beschreibung kultur- und religionsgeschichtlicher Tatbestände nicht mehr zu entbehren sei. 772 Colpes Bestimmung von Synkretismus als Antwort auf das Fremde und als neutrale Beschreibung kultur- und religionsgeschichtlicher Tatbestände wird in dieser Arbeit geteilt: Denn mit Transkulturalität, die kul‐ turellen Synkretismus als Zustand impliziert und in der Tat die binäre Denkform überwindet, wird nicht lediglich das Bewusstsein der kulturellen Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verwischt. Eher werden das Fremde und die damit einhergehenden Konflikte bzw. „Fremdheitserfahrungen und Missverständnisse“ 773 vor allem auf Basis des (trans-)kulturellen Kompromisses prozessual und synkretistisch aufgenommen. Colpes Beitrag ist in der Tat den Forschungsaktivitäten der Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde“ in Bezug auf das Thema „Inklusion 314 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene 774 Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“, a. a. O., S. 317. 775 Ebd. und Vereinnahmung" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen‐ schaften entsprungen. In dieser Forschungsgruppe stand der Begriff Synkretis‐ mus im Mittelpunkt der Untersuchungen: Im Rahmen unseres Interesses für Nostrifikation ist auch auf eine neuere kulturtheo‐ retische Diskussion hinzuweisen, die - möglicherweise überspitzt - ,Kultur’ als den Bereich des Synkretismus definiert. Synkretismus ist die Fähigkeit, aus verschiedenen fremden Zusammenhängen Elemente zu entnehmen, passend zu verändern und mit Eigenem so zusammenzufügen, daß neues Eigenes entsteht. Man kann Gesellschaften nach ihrer starken oder schwachen Fähigkeit zum Synkretismus differenzieren. Diese Differenzierung ermöglicht es dann im Vergleich, Formen und Bedingungen dieser ‚Selbstveränderung durch Hereinnahme des Fremden‘ zu bestimmen. 774 Davon ausgehend, versucht Colpe, den Synkretismusbegriff als neutrales Kon‐ zept zur Beschreibung kultur- und religionsgeschichtlicher Tatbestände zu rehabilitieren, welche durch Interferenzphänomene gekennzeichnet sind. Colpe betont dabei, dass zugleich die Bedeutung des Faktors Religion für die Fremd‐ heitsforschung hervortrete, wobei er darauf aufmerksam macht, dass die emi‐ nente Wichtigkeit dieses Faktors bisher in den nicht religionswissenschaftlichen Disziplinen kaum erkannt worden sei. Umgekehrt gelte dies in einem nur wenig verringerten Maß auch für die Religionswissenschaften selbst. Nach Colpe seien Religionswissenschaften, die von anderen Erkenntniszielen - vor allem von dem Bedürfnis, die religiösen Phänomene in idealer Reinheit, ohne profane Beimen‐ gungen, vor sich zu haben - getrieben seien, verantwortlich dafür, dass keine Ergebnisse ihrer Forschungsaktivitäten anderen Kulturwissenschaften zur Ver‐ fügung gestellt worden seien, ohne dass gewisse, dort angestrebte Erkenntnisse zwangsläufig bruchstückhaft begründet bleiben müssten. 775 Damit lenkt Colpe das Augenmerk explizit auf eine gegenseitige, fachübergreifende Befruchtung zur Optimierung wissenschaftlicher Forschungsziele und -erkenntnisse, die sich mit Formen oder Fragen von Verflechtungen gesellschaftlicher Kulturphäno‐ mene auseinandersetzen. Es sei angemerkt, dass Begriffe wie Transkulturalität (Philosophie/ Kulturwissenschaften), Interferenz (Physik), Hybridität (Biologie) oder Synkretismus (Theologie) unterschiedlichen Disziplinen entstammen, um Formen von Begegnungen und um Vermischungsphänomene unterschiedlicher Elemente zu beschreiben. Die nebeneinander erfolgende Betrachtung und die gegenseitige, fachübergreifende Befruchtung heben die Stoßgrenzen einzelner Disziplinen auf. 315 3.2.3. Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus 776 Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“, a. a. O., S. 318. 777 Vgl. Plutarch´s Moralia in Fifteen Volumes, Volume VI (439A - 523B) with an English Translation by W. C. Helmbold. Trinity College, Hartford, Conn., Cambridge/ Massa‐ chusetts: Harvard University Press & London: William Heinemann Ltd., MXLMXII, Great Britain: 1930 (first printed) & 1957, 1962 (reprinted), On Brotherly Love, S. 490. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist Synkretismus wie folgt neu zu definie‐ ren: Kultureller Synkretismus infolge von transkulturellen Verflechtungsphä‐ nomenen ist die Fähigkeit, aus Aspekten oder Bereichen unterschiedlicher zeiträumlicher Kulturpraktiken Elemente zu entnehmen, passend zu verändern und mit den jeweils entsprechenden Bereichen der eigenen Kulturpraktiken so zusammenzufügen, dass eine neue, eigene Kulturpraktik entsteht. Für Colpe z. B. komme es darauf an, daß Religionen und religiöse Phänomene auch als Kulturphänomene erkannt werden. Das bedeutet nicht, daß eine jede Kultur die ersteren wie selbstverständlich produziert. Aber man kann den Religionsbegriff so definieren, daß er innerhalb der Kultur verifizierbar ist, ja daß er sogar zum Verständnis ihrer säkularen Formen beiträgt und doch gleichzeitig für jede transzendentale Anwendung offenbleibt, wenn man sie denn will. Alle Beispiele, die ich bringen werde, sind mit einer bestimmten Kultur versetzt und insofern Kulturphänomene. Dies ist auch auf der nicht-transzendentalen Ebene nur eine unter mehreren Deutungsmöglichkeiten. 776 Obwohl der Begriff Synkretismus eine theologisch-religiöse Herkunft hat, wird mit den hier angeführten Auslegungen festgehalten, dass sich der Gebrauch des Begriffs nicht mehr ausschließlich auf den Bereich von Theologie und Religion reduziert, sondern im Sinne des kulturellen Synkretismus kontextbezogen auf die Betrachtung aller Aspekte der kulturellen Pragmatik anwendbar bzw. übertragbar ist. Im Folgenden wird zunächst unter Bezugnahme auf Colpes Beitrag kurz auf den theologischen Ursprung von Synkretismus eingegangen. Colpe geht von theologischen und religionsgeschichtlichen Aufschlüssen über die Bezeichnung Synkretismus aus. Ihm zufolge ist der Begriff in theologi‐ scher Absicht erstmals bei Streitigkeiten in der Reformationszeit durch Erasmus von Rotterdam verwendet worden. Grundsätzlich führt er Synkretismus aller‐ dings auf Plutarchs Schrift On Brotherly Love  777 (Deutsch: Über die Bruderliebe) zurück: 19- Then this further matter must be borne in mind and guarded against when differences arise among brothers: we must be careful especially at such times to associate familiarly with our brothers' friends, but avoid and shun all intimacy with their enemies, imitating in this point, at least, the practice of Cretans, who, 316 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene 778 Ebd., S. 313. 779 Carsten Colpe: „Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde“, a. a. O., S. 319. 780 Ebd. 781 Ebd. though they often quarrelled with and warred against each other, made up their differences and united when outside enemies attacked; and this it was which they called “syncretism.” 778 Wie dem Zitat zu entnehmen ist, hat Plutarch Synkretismus verwendet, um die Überwindung interner Zwietracht und das Zusammenhalten der Kreter gegen einen externen Angriff zu beschreiben. Deshalb wird oft bei der Erklärung von Synkretismus aus antiker und moderner Perspektive sowohl an „die Fremden“ bzw. „die von außen kommenden Gegner“ als auch an das Zusammenhalten „als Reaktion auf den Angriff der Fremden gedacht […].“ 779 Dieser Synkretismus, der auf die Herausforderung des Fremden antwortet, hat Colpe zufolge während der Auseinandersetzung dazu geführt, dass das Fremde in homöopathischen Dosen zur Gesunderhaltung der eigenen, aktiv abhärtenden Glaubensidentität aufgenommen, rezipiert und einverleibt worden sei. 780 Jedoch kommt in der frühen Neuzeit eine negative Konnotation bzw. Interpretation hinzu. Colpe erläutert, ein „synkretistisches“ Benehmen bedeutete ein „versöhnlerisches“ Verhalten, das man heute positiver zu sehen geneigt sei. In religionsgeschicht‐ licher Verwendung kam der Begriff im 19. Jahrhundert auf und erlangte ab der zweiten Hälfte sowohl in der historischen Theologie als auch in der Religionsgeschichte eine positive oder neutrale Konnotation. 781 Interessant für diese Arbeit ist die positive bzw. neutrale Konnotation des Begriffs Synkretismus zur Beschreibung transkultureller Verflechtungsphäno‐ mene, die unterschiedliche kulturelle Praktiken und Elemente miteinbeziehen. Der negative Beigeschmack als Verrat an der Wahrheit bzw. als Verrat an der kulturellen Reinheit und Homogenisierung wird dabei nicht beibehalten. Die positive Wertung bezieht sich hier auf das transkulturelle Leitbild, das kulturelle Grenzen und Differenzen hinter sich lässt, ohne die dabei entstehenden Fremd‐ heitserfahrungen und Missverständnisse bzw. Konflikte zu übersehen. Wenn Theater in dieser Arbeit als Kunst und ästhetischer Bereich kulturel‐ ler Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung verstanden wird, ist davon auszugehen, dass Synkretismus im Theater erst aus einem Kulturkontakt in be‐ stimmten Bereichen entsteht. Das bedeutet zugleich, dass es keinen kulturellen Synkretismus ohne kulturelles Interferenzphänomen gibt und geben könnte. Auch der religiöse Synkretismus wäre ohne kulturelles Interferenzphänomen 317 3.2.3. Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus kaum vorstellbar. Das Hauptinteresse dieser Arbeit gilt nun der postdramati‐ schen Ästhetik der Transkulturalität und somit dem postdramatischen Theater‐ synkretismus. 318 3.2. Kulturelle Interferenzphänomene 782 Edward Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 30. 783 Jürgen Bolten: „Kultur als historisch vermittelte Reziprozitätsdynamik“. In: Stefan Strohschneider, Rudi Heimann (Hg.): Kultur und sicheres Handeln. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft (Schriftreihe der Plattform Menschen in komplexen Arbeitswelten e.V) 2009, S. 239-256, hier S. 242. 784 Vgl. Stuart Hall: „Kulturelle Identität und Globalisierung“. In: Karl H. Hörning, Rainer Winter (Hg): Widerspenstige Kulturen: cultural studies als Herausforderung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 393-441, S. 422. 785 Vgl. Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität“, a. a. O., S. 33. 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus Bezeichnet der Oberbegriff Kunst nicht nur ein gesellschaftliches Teilsystem, sondern auch einen eigenen Funktionsmodus kultureller Selbstdarstellung und -wahrnehmung, so dokumentiert Kunst bzw. Theater je nach Zeit und Raum unterschiedliche Auffassungen von Kultur und Weltanschauungen. Dies‐ bezüglich wird in dieser Arbeit postuliert, dass die postdramatische Ästhetik der Transkulturalität abseits der positiven und negativen Aspekte sowie der bestehenden Asymmetrien und infolge kultureller sowie künstlerischer Inter‐ ferenzphänomene einen mehrdimensionalen Theatersynkretismus hervorhebt, der verschiedene kulturelle Elemente sowohl anderer Zeiten als auch Räume aufweist. Werden in diesem Zusammenhang Erscheinungsformen kultureller Interferenzphänomene infolge der Übernahme von kulturellen Elementen einer herrschenden Gruppe durch eine eroberte Gruppe und umgekehrt betrachtet, so sind „Kulturen […], zum Teil aufgrund ihres Herrschaftscharakters, ineinan‐ der verstrickt […]; keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nichtmonolithisch.“ 782 In diesem Kontext wird „auch der vehementeste Verfechter kulturellen Homogenitätsdenkens […] nicht abstrei‐ ten können, dass Kulturen [immer] Außeneinflüssen und inneren Veränder‐ ungsdynamiken unterliegen.“ 783 Deshalb kann Stuart Hall argumentieren, dass nationale Kulturen nicht als etwas Einheitliches, sondern als ein diskursiver Entwurf gedacht werden sollten, der Differenzen als Einheit oder Identität darstellt. 784 Aus diesen Betrachtungen sind Kulturen in der Tat stets ineinander verstrickt und haben deswegen mehr oder minder miteinander Ähnlichkeiten. Welsch stellt wie Edward Said und Hall fest, dass viele Kulturen weitaus weniger rein gewesen, vielmehr transkulturell gewesen seien. 785 In seinem Buch Inter- und Transkulturelle Studien: Theoretische Grundlagen und interdiszi‐ plinäre Praxis merkt Heinz Antor an, dass Transkulturalität das Ergebnis eines 786 Vgl. Heinz Antor: Inter- und Transkulturelle Studien: Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis. Heidelberg: Winter 2006, S. 29. 787 Vgl. Wolfgang Welsch: „Transkulturalität: Zur veränderten Verfassung heutiger Kultu‐ ren“. In: Irmela Schneider, Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand 1997, S. 67-90. 788 Vgl. Iris Därmann: „Primitivismus in den Bildtheorien des 20. Jahrhunderts“. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin: Walter de Gruyter 2013, S. 75-91, hier S. 76-77. 789 Natalie Bloch: „Schlingensief, das Operndorf und Afrika. Inszenierung eines komplexen Verhältnisses“. In: Natalie Bloch, Dieter Heimböckel (Hg.): Theater und Ethnologie. Unter Mitarbeit von Elisabeth Tropper. Tübingen: Narr Franke Attempto Verlag 2016, S. 113-125, hier S. 117. 790 Ebd. Jahrhunderte alten und im Zeitalter der Globalisierung drastisch beschleunig‐ ten Prozesses kultureller Hybridisierung darstelle. Ihm zufolge dauere dieser Prozess weiter an, welcher sowohl aus der extremen Binnendifferenzierung immer komplexer werdender, moderner Kulturen als auch aus ihren sich stetig weiter verzweigenden, externen Vernetzungen resultiere. 786 Kunst und somit Theater entstehen und befinden sich seit jeher innerhalb dieser weiter andauernden Dynamik transkulturellen Prozesses. Werden demnach nur die künstlerischen Erscheinungsformen Europas ins Auge gefasst, so fällt diese historische Transkulturalität ohnehin selbstverständlich auf, was nicht nur die länder- und nationenübergreifenden Stile, 787 sondern auch den massiven Rückgriff auf außereuropäische künstlerische Elemente zur Bereicherung sowie Erneuerung der europäischen Ausdrucksformen von Kunst angeht. Die Avant‐ gardebewegung in der bildenden Kunst hat in den 1930er-Jahren z. B. unter dem Begriff Primitivismus operiert und durch Entdeckung sowie Ausstellung afrikanischer und indianischer Kunst neue künstlerische Impulse Europas in Gang gesetzt: Außereuropäische Maltechniken, Koloristik, Formen, Muster, Materialien, Sujets, Motive etc. wurden im 20. Jahrhundert von vielen westlichen Kunstschaffenden übernommen, wie dies z. B. in den Werken von Pablo Picasso, Alberto Giacometti, Max Ernst und Jackson Pollock zu sehen ist. 788 In diesem Sinn stecken viele „fremde“ Elemente „der als ´primitiv´ deklarierten Künst‐ ler“ 789 im Eigenen. In ihrem Beitrag „Schlingensief, das Operndorf und Afrika. Inszenierung eines komplexen Verhältnisses“ argumentiert Nathalie Bloch, dass stets der Versuch unternommen wird, den Einfluss der „primitiven“, oft namen‐ losen Künstler auf die großen Meister zu verschleiern: „eine direkte Bedeutung der primitiven Kunst für die Stars der Kunstszene, gar eine Nachahmung, muss‐ ten ausgeschlossen werden. Sammler, Publizisten und Kunsthistoriker sprechen höchstens von Verwandtschaft, meist aber von zufälliger Ähnlichkeit.“ 790 320 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 791 Erika Fischer-Lichte: „Inszenierung des Fremden. Zur (De-) Konskruktion semiotischer Systeme“. In: Ders. (Hg.) : TheaterAvantgarde. Tübingen/ Basel: Francke Verlag 1995, 156-241, hier S. 172. 792 Broschüre zum Operndorf Afrika unter der Überschrift „Unsere Oper ist ein Dorf “. Gedanken und Zitate (I). Herausgeberin: Festspielhaus Afrika GmbH, Stand: 20.01.2012. 793 Ebd. 794 Thilo Streubel: „Oper der anderen Art in Afrika. Theaterregisseur Christoph Schlingen‐ sief plant Ort des kulturellen Austausches in Burkina Faso/ Leipziger Dramaturgiestu‐ denten machen mit“. In: LEIPZIGER CAMPUSLEBEN vom 01.02.2010, S. 24, http: / / hom e.uni-leipzig.de/ journ/ pics/ campus_2010-02-01.pdf - letzter Zugriff: 14.09.2017. Wie viel vom Fremden sich im Eigenen verwurzelt befindet, lässt sich auch in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Theaters allein nach der Krise des Dramas im ausgehenden 19. Jahrhundert ausmachen. In diesem Sinn ist es „nicht zu übersehen, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Thea‐ teravantgarde proklamierte ‚Retheatralisierung‘ des Theaters immer wieder unter Berufung auf fremde […] Theaterformen gefordert wurde.“ Um neue Impulsformen und -elemente für das europäische Theater zu gewinnen, „ob Craig oder Fuchs, Brecht oder Schlemmer, ob Meyerhold oder Tairov, Copeau oder Artaud - sie alle wurden nicht müde, Formen des fernöstlichen Theaters als Modelle für ein neues, ein retheatralisiertes Theater zu propagieren.“ 791 In den letzten Jahrzehnten hat auch Schlingensiefs künstlerisches Schaf‐ fen nicht nur zahlreiche afrikanische Elemente miteinbezogen. Zugleich hat er mit der Äußerung „das Beklauen von Afrika“ 792 die Aufmerksamkeit auf das Verschwiegene bzw. Verschleierte gezogen. Schlingensiefs hintergründige Intentionen mit seinem Operndorfprojekt zielen auch auf einen kulturellen Gewinn für die westliche Welt ab, „denn darum geht es doch: dass wir unsere Begriffe von Kultur, Kunst, Oper usw. neu aufladen. Unsere Batterien sind da ziemlich leer […]. Wir erweitern also den Opernbegriff und lassen einfach mal alle Einschränkungen beiseite, die wir mit Oper verbinden […]. Damit haben wir nichts zu tun.“ 793 Schlingensiefs Operndorf in diesem Zusammenhang als eine Form von „Oper der anderen Art in Afrika“ 794 zu fassen, teilen sechs Dramaturgiestudent_innen (Rebecca Schuster, Malin Nagel, Christian Mahlow, Katja Fischer, Verena Eitel und Fiona Ebner) der Leipziger Hochschule für Musik und Theater (HMT). Schlingensiefs Idee finden sie produktiv, um ihre künstlerische Ausbildung mit anderen kulturellen Elementen zu bereichern. Sie wünschen sich eine Kultur‐ dialyse für ein anderes Denken jenseits des eigenen, vertrauten Rezeptions-, Lern- und Kunstsystems. Insofern sind sie für die praktische Erfahrung eines ästhetisch-kulturellen Interferenzphänomens offen: 321 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 795 Rebecca Schuster, Malin Nagel, Christian Mahlow, Katja Fischer, Verena Eitel, Fiona Ebner: „Moral macht nicht immer Sinn“. In: DIE ZEIT, Nr. 53, 22.12.2009, FEUILLETON, S. 53. Wir Dramaturgiestudenten wollen lernend Afrika begegnen - mit unbeschriebenen Tafeln dorthin gehen und mit beschriebenen Tafeln zurückkehren. Wir alle sind noch auf der Suche nach ästhetischen Formen, neugierig und verspielt in die Welt guckend. Wir wollen uns von dem Reiz des noch nicht Bekannten, des Fremden mitreißen lassen. Wir gehen in einen für uns »unbesetzten« Raum und versuchen, diesen für unsere weitere Arbeit zu eröffnen. Wir verlangen eine Kulturdialyse! Wir brauchen einen Gedankenaustausch! Dieser kann uns dazu bewegen, für unser Denken neue Ansätze und Formen, neue Inhalte und Fragen zu finden. […] Meine Dramaturgieausbildung und meine Theaterseherfahrungen orientieren sich am deutschen und europäischen Theater. Obwohl ich glaube, dass meine Aus‐ bildung ausgezeichnet ist, finde ich einen Gedanken daran gefährlich. All meine Erfahrungen schöpfe ich aus einem System, um später in ebendiesem System zu arbeiten. Das heißt, ich kann nichts Neues einbringen. Alles bleibt, wie es war. Für das Theater und die Kunst ist das verheerend. Beide werden mehr und mehr zu einem starren musealen Gebilde, das den Bezug zur Realität und zu mir verloren hat. Um der Kunst und mir nicht beim Sterben zu helfen, sondern Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten, ist es notwendig, schon in der Ausbildung sein vertrautes Rezeptions-, Lern- und Kunstsystem zu verlassen, um das Andere zu suchen. Mit einem Stapel leerer Hefte nach Afrika zu gehen und sie dort beschreiben zu lassen und selbst zu beschreiben ist für mich die notwendige Konsequenz aus dem Gedanken, lebendige Kunst machen zu wollen. Um damit schon in der Ausbildung zu beginnen, brauchen wir so ein Projekt wie das Festspielhaus in Afrika. Wir wollen den klauenden Schlingensief beklauen. Klauen wir dann noch von Afrika? Oder von dem, der Afrika beklaut? 795 In dieser Arbeit geht es weder um die mit Missverständnissen beladenen Debatten über die Problematik des interkulturellen Theaters oder über Formen kulturellen Austausches noch um eine postkoloniale Perspektive, die Asymme‐ trien bei den Produktions- und Rezeptionsverhältnissen zu bemängeln hat. Wie bereits angedeutet, handelt es sich um eine Rehabilitierung des Begriffs Synkretismus zur Beschreibung transkultureller Verflechtungsphänomene. Das vertretene Verständnis von Synkretismus wird in einem erweiterten Sinn zur Beschreibung konkreter und beobachtbarer, heterogener Tatbestände kultur- und religionsgeschichtlicher Natur verwendet. Hierbei soll auch der Begriff Synkretismus mit dem postdramatischen Theater so assoziiert werden, dass der postdramatische Theatersynkretismus das vermeintliche „reine“ Eigene kritisch 322 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 796 Vgl. Christopher Balme: Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkre‐ tismus im englischsprachigen Raum. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 1. 797 Ebd. hinterfragt und binäre Denkfiguren überwindet. Dass das Fremde seit Langem in synkretistischer Form im Eigenen bzw. im eigenen Theater am Beispiel der behandelten Theaterformen von Nitsch und Schlingensief vorhanden ist, ist unbestreitbar. Die Bezeichnung postdramatischer Theatersynkretismus kann ferner als ein Beschreibungsansatz verstanden werden, der nicht mit dem Theatersynkretismus aus postkolonialer Perspektive verwechselt werden sollte. In seiner Studie „Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersyn‐ kretismus im englischsprachigen Raum verwendet Christopher Balme den Be‐ griff Theatersynkretismus aus einer postkolonialen Perspektive als Resultat der Interaktion zwischen der überwiegenden europäischen bzw. westlichen Theatertradition und indigener Darstellungsformen. 796 Auch Balme erweitert das lediglich religiöse Verständnis von Synkretismus auf bestimmte theatrale Ausdrucksformen, die westliche und indigene Theaterelemente vereinen. Dabei zeigt Balme auf, dass jene synkretistischen Theaterformen vom Kolonialismus und von der Kolonialerfahrung beeinflusst werden. Ihm zufolge habe Kolonialis‐ mus in den betroffenen Ländern zu weitreichenden kulturellen Veränderungen geführt, die sowohl in der Zerstörung als auch in der Schaffung neuer kultureller Ausdrucksformen zu beobachten seien. „Als eine solche Folgeerscheinung ist auch das synkretistische Theater zu verstehen. Es entstand mehr oder weniger überall dort, wo sich die europäischen Kolonialmächte für längere Zeit etabliert hatten und die dortigen Kulturen nachhaltig beeinflussen konnten.“ 797 Balmes Theatersynkretismus scheint die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die von den kolonisierten Ländern übernommenen kulturellen bzw. theatralen Elemente, welche die westliche bzw. europäische Theatertradition kennzeichnen, zu len‐ ken. Alle konstitutiven Elemente, die im Raumpunkt des kulturellen Interferenz‐ phänomens zusammentreffen, sind zwangsläufig impulsgebende Bestandteile der resultierenden Wirkungsüberlagerung, welche zu Verstärkungen und/ oder Abschwächungen und somit zur Beobachtbarkeit von synkretistischen Kultur‐ elementen führt. Mit dem postdramatischen Theatersynkretismus wird demnach betont, dass die Übernahme kultureller, künstlerischer bzw. theatraler Elemente nicht einbahnig ist. Der Kolonialismus ist ein geschichtlicher Tatbestand mit seinen positiven und negativen Aspekten, die bis heute noch nachwirken und die Wahrnehmungen von Menschen sowohl aus ehemals kolonisierten als auch aus imperialistischen Ländern beeinflussen. In diesem Sinn kann der postdramatische Theatersynkretismus aufgrund einer transkulturellen Be‐ trachtungsweise einen Wandel der Wahrnehmung in den Vordergrund rücken. 323 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 798 Vgl. Günther Heeg: „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theater‐ wissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, a. a. O., S. 154. 799 Ebd. 800 Vgl. „‚Für jeden Text das Theater neu erfinden‘: Gespräch mit Pia Janke, Karen Jürs-Mumby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pelka“, a. a. O., S. 45. 801 Vgl. ebd. Mit dem Verständnis eines postdramatischen Theatersynkretismus soll auch eine Emanzipation von den binären Denkmustern, den Kategorisierungen und von den in Opferrollen verlaufenden und/ oder in kolonialistischen Haltungen verfangenen Wahrnehmungsweisen einhergehen. 3.3.1. Postdramatischer Theatersynkretismus: Wahrnehmung im Wandel Wenn Günther Heeg betont, dass das transkulturelle Theater von der Erfahrung des Fremden ausgehe und dass uns Fremdes nicht in anderen Ländern und exotischen Kulturen, sondern bei uns selbst begegne, 798 so sind Erfahrung und Wahrnehmung dieses Fremden in den synkretistischen Erscheinungsformen der eignen Kultur aufzusuchen. Heeg zufolge seien transkulturelle Theaterprakti‐ ken „dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht mit fremden, exotischen Federn schmücken, sondern die jeweils eigenen Traditionen und kulturellen Phantas‐ men aufarbeiten und zur Kenntlichkeit entstellen.“ 799 Aus der Perspektive des postdramatischen Theatersynkretismus heißt es konkret, dass Beispiele der heutigen textzentrierten Theaterformen nicht nur in Europa zu finden sind, während die der körperzentrierten rituellen Prägungen ausschließlich in Afrika bzw. in sogenannten oralen Kulturen aufkommen. Weltweit kann Theater heute synkretistische Erscheinungsformen als Widerspiegelung der transkulturellen Auffassung von Kultur aufweisen. Insofern kann Lehmanns Aufforderung nach einer stärker transkulturell orientierten Betrachtungsweise 800 durch den Blick auf andere Theaterkulturen nachvollzogen werden. 801 Vorausgesetzt wird, dass die Wahrnehmung der künstlerischen bzw. theatralen Ausdrucksformen anderer Kulturen nicht in dem westlichen Erfassen von Kunst in ihrer ge‐ schichtlichen Entwicklung verfangen bleibt, die sich auf solche Werke oder Ereignisse bezieht, die als Kunst anerkannt werden. Seitdem sich ab den 1960er-Jahren eine andere performativ-aktionistische Theaterauffassung z. B. in Europa etabliert hat, erlebt Theater bis heute einen tiefgreifenden Wandel. Künstlerische Ausdrucksformen von Performance sind zentrale Merkmale post‐ dramatischer Ästhetik und scheinen auf das internationale bzw. transkulturelle 324 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 802 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, a. a. O., S. 13-14. 803 Ebd. Theater besser zuzutreffen als auf das dramatische Theater. Das seit dem performative turn entstandene und gewachsene Bewusstsein lässt bestimmte Ausdrucksdimensionen von Handlungen und Handlungsereignissen bis hin zur soziopolitischen Inszenierungskultur als Kunst fassen, die, wie die behandelten Beispiele von Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ und Nitschs Orgien-Mys‐ terien-Theater zeigen, zuungunsten der l´art-pour-l´art-Theorie immer stärker in den Vordergrund rückt. Aus dieser Perspektive bringen die performativen Theaterformen im postdramatischen und internationalen Theater verstärkt die jeweiligen Kulturen der Welt auf einen gemeinsamen Nenner des kulturell Universalen: der körperzentrierten Aufführung. Sie ist vielfältig in den weltweit kulturspezifischen Rollendarstellungen anzutreffen, so etwa in den [s]ogenannten ›primitiven‹ Kulturen […], wie der mittelalterlichen Kultur, den eige‐ nen Volkskulturen oder den ›exotischen‹ nicht europäischen Kulturen […]. Ihnen wurde eine spezifische Leibzentriertheit attestiert, die sich u. a. in den verschiedensten Arten von Aufführungen wie Ritualen, Festen, Zeremonien, Spielen u. Ä. manifes‐ tierte, die alle Beteiligten leiblich affizierte und eine klare Trennung in Handelnde und Zuschauende nicht erlaubte. 802 Die aufgelöste (klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt innerhalb sowie zwischen der Theaterkunst und allen anderen Lebensbereichen in postdramatischer Ästhetik. In vielen Formen des postdramatischen und internationalen Theaters kommt dies klar zum Ausdruck - in vielfältiger Form in performativen Akten, in den körperlichen Handlungen oder in der Leibzentriertheit von kulturellen Rollendarstellungen, wie bereits in dieser Arbeit veranschaulicht worden ist. So spiegelt Theater (hier im weitesten Sinn des Wortes) die Kultur bzw. die Kultur im Wandel wider. Damit einher geht ein Wandel der Wahrnehmung weg von dem Modell eines aus‐ schließilch dramatischen Theatermaßstabs. Das postdramatische Verständnis des Theatersynkretismus führt nicht nur angeeignete und vermischte Symbole, Elemente, theatrale Verfahren, ästhetische Mittel, produktions-, erfahrungs- und wirkungsästhetische Potentiale von Theaterpraktiken anderer Zeiten sowie Kulturen (z. B.: Nitschs Opferhandlungen und die Verwendung christlicher Symbole im Orgien-Mysterien-Theater sowie Schlingensiefs ritueller Vorgang in der Aktion 18, „tötet Politik! “) vor Augen. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche, rituelle und politische Dimension von Theater betont, wonach Theater nicht nur auf „einer Reduzierung von Kunst und Unterhaltung“ 803 beruht. Mit seiner 325 3.3.1. Postdramatischer Theatersynkretismus: Wahrnehmung im Wandel 804 Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“, a. a. O., S. 164. 805 Patrick Primavesi: „Theaterwissenschaft heute. Praxis und Theorie der Überschrei‐ tung“, a. a. O., S. 165. ästhetischen Aneignung von einem afrikanischen Voodoo-Ritual für seine Aktion 18, „tötet Politik! “ hat Schlingensief bewiesen, wie Theater eine Variation von Wirksamkeit zum Ziel haben und mehr als Unterhaltung sein kann. Das Gleiche gilt für Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Beide Theaterformen sind gute Beispiele eines postdramatischen Theatersynkretismus und zwingen, „- über Fachdisziplin hinaus - verständlich zu machen, wie komplex die Wechselwirkungen sind zwischen theatralen Praktiken und ihren kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.“ 804 Dies lässt sich wiederum auf Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze übertragen. Primavesi zeigt, wo die Grenzen einer Forschung stehen, welche nur die künstlerischen Aspekte des Theaters analysiert und sich deswegen auf die Bühnenpraxis beschränkt. Die Reduzierung der Theaterpraxis auf Kunst und Unterhaltung sei im Sinne Primavesi häufig instrumentalisiert worden, während die gesellschaftlichen Dimensionen sowie Potentiale verschleiert worden seien. Außerdem kritisiert er die Festlegung von Theater auf ein Modell wie im Fall des dramatischen bzw. klassischen Theaters: [Die] spielhafte Variation ritueller und zeremonieller Prozesse und Verhalten, die Kritik an den Machtverhältnissen der Repräsentation, die Ausstellung des Körpers als eines grotesken und dysfunktionalen Leibes, die Thematisierung von Wahrneh‐ mungsverhältnissen sowie die Enttäuschung und die Erweiterung von Erwartungs‐ horizonten - all diese Elemente und Taktiken haben die Theaterpraxis vieler Epochen und Kulturen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen geprägt, auch wenn die großen Erzählungen westlicher Kulturgeschichte dazu tendieren, Theater auf die Vorführung von dramatischen Konflikten und Charakteren zu beschränken. 805 Primavesis Auslegungen werden in dieser Untersuchung geteilt und auf den postdramatischen Theatersynkretismus übertragen, der einen Wandel der Wahrnehmungsverhältnisse zwangsläufig impliziert. Die Forderung nach einer Ausweitung der Forschungszone - und somit nach dem Wandel der Wahrneh‐ mungsbzw. Rezeptionsverhältnisse - führt über die Grenzen der immer nur sichtbaren Seite des Eigenen bis hin zur Wiederentdeckung des verdrängten Fremden im vermeintlichen Eigenen: das Überschreiten von Grenzen und das Tabuisierte zeigen die Theateransätze von Nitsch und Schlingensief, die zugleich prägnante Beispiele der Ausdrucksformen eines postdramatischen Theatersyn‐ kretismus sind: Urtheatralisierung in einer als zivilisiert geltenden modernen 326 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 806 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 46. Kultur. Wie die Entwicklungslinie der Selbstwahrnehmung und -veränderung der kulturellen Selbstverständlichkeit Europas im Theater verlaufen ist und weiter verläuft, hat sich in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Teilent‐ wicklung des Orgien-Mysterien-Theaters manifestiert: Die Untersuchung von Nitschs Theaterkonzept hat aufgezeigt, dass die Ursprünge des europäischen Theaters grundlegende gesellschaftliche Dimensionen und Potentiale sowie körperzentrierte und rituell geprägte Theatervorgänge aufweisen, die sich heute als fremd gewordene Aktionen erweisen. Dass im Sinne von Nitsch diese Entwicklungslinie nur in eine Richtung verlaufen ist - in die Richtung des dramatischen, textzentrierten Theaterverständnisses -, ist evident. Nitschs Theaterkonzept zeigt diesbezüglich, dass das Fremde im Eigenen steckt. Seiner‐ seits subvertiert Schlingensief mit seinen ungewöhnlichen Assoziationen die Inszenierung des Fremden im Eigenen. Denkt man in diesem Zusammenhang erneut an den Moment, als Schlingensief das Voodoo-Huhn aus dem Laster hervorholte, womit das Publikum unruhig wurde, wird klar, dass das Bewusst‐ sein des Schlachtens von Tieren hier wie etwas Fremdes wirkt. Mit seinem Orgien-Mysterien-Theater kritisiert Nitsch dieses Tötungsverbot als Scheinver‐ bot. Er sieht darin den Verlust des Bewusstseins der Tötung von Tieren in der zivilisierten Welt, die Tötungen wie etwas Fremdes in Schlachthäuser verdrängt hat. Die gesellschaftliche Interessenlosigkeit am Theater wird durch Nitschs synästhetisch betonte Dramaturgie und durch Schlingensiefs Inszenierungsstil mit der Schaffung politischer Ausnahmesituationen sowie -orte in Abrede gestellt. Beide stellen in Form eines postdramatischen Theatersynkretismus fremd gewordene Erlebnisse sowie Erfahrungen im Eigenen wieder her: als Fusionierung von rituell-religiösen Praxen im Alltagsleben. 3.3.2. Postdramatischer Theatersynkretismus und rituell-religiöse Praxen Die Erfahrung des Fremden im Eigenen und die therapeutische sowie transfor‐ mative Kraft in performativ-rituellen, grenzüberschreitenden Theaterpraxen sind als das Korrelat einer auf Subjekt-Objekt-Interaktion bezogenen Erfah‐ rung 806 aufzufassen. Das Korrelat und das ästhetische Resultat einer solchen Interaktion verweist auf die Ritualfunktion bzw. auf die Fundierung von Kunst durch Ritualvorgänge. Walter Benjamins Aura-Begriff kann diesbezüglich er‐ hellend sein. Rituelle Erfahrungen ereignen sich wie in einem religiös-zeremoni‐ 327 3.3.2. Postdramatischer Theatersynkretismus und rituell-religiöse Praxen 807 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, a. a. O., S. 440. 808 Lore Knapp: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief. Pader‐ born: Wilhelm Fink 2015, S. 9. 809 Ebd. ellen Kontext in Form einer auratischen Erscheinungsweise - „ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ 807 Im künstlerischen bzw. ästhetischen Kontext werden wirkungs‐ ästhetische Erfahrungen mit einer Akzentverschiebung hergestellt, die vom religiös-zeremoniellen bzw. sakralen Umfeld ausgehend in einer rituell-ästhe‐ tischen bzw. säkularisierten Kontextualisierung stattfindet - nicht im Dienst eines bestehenden Gottes oder religiöser Praxen. Es handelt sich in der Tat um eine künstlerische Aneignung (religiöser Praxen, Symbole und Elemente), die in anderen Zusammenhängen als Kunstreligion bezeichnet wird. In ihrem Buch Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief definiert Lore Knapp die Kunstreligion als künstlerische Ausdrucksform, die „nicht im Dienst einer Religion steht, sondern sich vielmehr Charakteristika und Funktionen des Religiösen zu eigen macht.“ 808 Sie legt zudem die Voraussetzungen fest, unter denen erst von dem Kunstreligiösen die Rede sein kann: Vom Kunstreligiösen einer Ästhetik lässt sich dann sprechen, wenn erstens ein Bezug zu einer bestehenden Religion nachweisbar ist, zweitens die ästhetische Form nach‐ weislich daran orientiert ist und drittens eine selbstreflexive Tendenz vorhanden ist, durch die das Religiöse in den Dienst der ästhetischen Wirkung oder der ästhetischen Form gestellt wird. An eine kunstreligiöse Ästhetik, bei der diese drei Bedingungen erfüllt sind, kann sich zwar eine religiöse Rezeption binden, Voraussetzung für das Kunstreligiöse im hier definierten engeren Sinne ist jedoch, dass einer ästhetischen Funktion durch institutionelle oder persönliche Rahmensetzung Priorität zugespro‐ chen wird. 809 Die Definition und die Voraussetzungen, die Knapp zur Festlegung und Identi‐ fikation des Kunstreligiösen in einem ästhetischen Ereignis formuliert, bewegen sich im Grunde genommen in einem Zwischenraum, in dem das Kunstreligiöse zwischen dem Kultwert und dem Ausstellungswert von Kunst oszilliert. Das ist je nach Prägung ein Oszillieren zwischen der Fundierung durch das Ritual und der Autonomiekategorie der von allen lebenspraktischen Bezügen abgehobenen Kunst. Mit den Begriffen Kult- und Ausstellungswert sowie mit ihren ästhe‐ tischen Bedeutungen lassen sich unter anderem die Entwicklungsgeschichte sowie der „Wert“ von Kunst bzw. Theater im Kontext der kulturellen Selbstdar‐ stellung, -wahrnehmung und -veränderung erschließen. Es geht erstens um 328 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 810 Ebd., S. 9-10. 811 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, a. a. O., S. 245. 812 Ebd. den ästhetischen Kultwert von Theater - das heißt: um die Fundierung von Theater als Kunst durch Ritual. Dabei kommen die ästhetischen Praktiken zum Ausdruck, die eine Verflechtung von Leben, Ritual und Kunst darstellen. Zweitens handelt es sich um einen ausschließlich ästhetischen Ausstellungswert von Kunst. In diesem Fall geht es um Reflexion, Subjektivität und Einbildungs‐ kraft im Sinne von Kant als determinierende Faktoren bei der Bestimmung der Funktion von Theater als Kunst in der Gesellschaft. Die Herausbildung der Kategorie Autonomie und der damit einhergehende Ausstellungswert sollen als Trennung der Kunst von ihrem rituellen Ursprung verstanden werden. Drittens ist die Kategorie Kunstreligion eine Form des kulturellen Zelebrierens, die einen kulturellen Synkretismus aufweist. Zwischen dem Kult- und dem Aus‐ stellungswert, die als zwei voneinander getrennte künstlerische Funktionsmodi kulturellen Zelebrierens bestehen, befindet sich das Kunstreligiöse. In diesem Sinn kann das Kunstreligiöse als der Zwischenraum bezeichnet werden, in dem synkretistische Elemente der Auseinandersetzung mit dem kultischen und dem ästhetischen Pol eines Ereignisses zusammentreffen. Dieses Dazwischen des Kunstreligiösen kann aber je nach rezipierendem bzw. erfahrendem Subjekt einen zweideutigen Charakter aufweisen: die Verschiebung des Deutungs- oder Erfahrungsfokus entweder zum Kultwert oder zum Ausstellungswert. Auf die katholische Religion bezogen, bemerkt Knapp beispielsweise, dass „bei weitem nicht jedes katholische Ritual, das im Theater nachgespielt wird, ein Zeichen kunstreligiöser Ästhetik“ sei. Sie betont, „wenn es jedoch wesentlich zur ästhetischen Atmosphäre und Wirkung beiträgt, dann lässt sich die Szene als kunstreligiös bezeichnen.“ 810 Die Wahrnehmung bzw. Bestimmung des Kunstre‐ ligiösen hängt dennoch stärker vom gesamten interaktiven Verhältnis zwischen dem erfahrenden Subjekt, dem Objekt der Erfahrung, dem performativen Kon‐ text genauso wie von dem soziokulturellen (Deutungs-)Umfeld der jeweiligen Funktionsmodi des kulturellen Zelebrierens ab. Völlig im Bewusstsein der Tautologie ihrer Behauptung pointiert Fischer-Lichte, dass die „Materialität des Dings [erst] in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität […] das heißt seines phänomenalen Seins“ 811 ausdrückt. Im Sinne von Fischer-Lichte ist ein Objekt das, als das es wahrgenommen wird. 812 In der Tat handelt es sich wie im Fall des bereits behandelten performativen Aktes um eine Wahrnehmungsart, die erst im Verlauf der Wahrnehmung eine selbstreferenzielle Bedeutung und Materialität ins Leben ruft. Dabei handelt 329 3.3.2. Postdramatischer Theatersynkretismus und rituell-religiöse Praxen 813 Ebd. 814 Lore Knapp: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief, a. a. O., S. 316. 815 Vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, a. a. O., S. 51. es sich um eine „Bedeutung im und als Akt der Wahrnehmung“, 813 die ein bedeutungskonstituierendes Merkmal aufweist. „Dieses Bedeutungskonzept wird […] im Kontext des Kunstreligiösen“, wie Knapp bemerkt, „zitiert, weil es die entscheidende Funktion hat, wissenschaftlich beschreibbar zu machen, was von anderen Theorien mystifiziert wird“ 814 - oder was sonst wissenschaft‐ lich nicht (be-)greifbar gewesen wäre. Darüber hinaus ermöglicht dieses Be‐ deutungskonzept, verstärkt auf die selbstreferenzielle Bedeutungskonstitution zu fokussieren, die der subjektabhängigen sowie der individuellen und/ oder kollektiven soziokulturellen bzw. sozialisationsgebundenen Wahrnehmung so‐ wie Erfahrung entspringt, sich daran orientiert und zugleich daraus speist. Aus diesen Auslegungen lässt sich ein ästhetisches Ereignis, das zwischen dem Kult- und dem Ausstellungswert oszilliert, je nach Wahrnehmenden als kultisch/ religiös, ästhetisch oder eben als kunstreligiös interpretieren - wenn Bezüge zu religiösen Praxen je nach der kulturell-subjektiven Sozialisation der Rezipierenden unkontrolliert entstehen. Diesbezüglich verdeutlicht Rebentisch, dass sich die ästhetische Erfahrung zwischen Subjekt und Objekt auf eine von dem Subjekt nie vollständig kontrollierbare Weise ereigne. Subjekt wie Objekt der ästhetischen Erfahrung seien von der sie konstituierenden ästhetischen Erfahrung her zu denken und darum auch nur in ihrem Bezug aufeinander angemessen zu verstehen. 815 In diesem Zusammenhang ermöglicht die Perspek‐ tive des postdramatischen Theatersynkretismus ein Denken eines anderen Theaters oder ein anderes Denken des Theaters, das in die jeweilige kulturelle Praxisvielfalt eingebettet ist. Mit so einer verstandenen sowie abhängigen Korrelation ästhetischer Erfahrungen zwischen Objekt und Subjekt geht eine Neubestimmung oder Neuwahrnehmung der Werkkategorie einher, die das Mitwirken der Rezipierenden im Entstehungsprozess voraussetzt. 330 3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus 816 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 145. 817 Ebd., S. 7. 3.4. Ausblick In der postdramatischen Ästhetik findet eine Neuperspektivierung der klassi‐ schen Werkkategorie statt, wie es im Orgien-Mysterien-Theater und in der Aktion 18, „tötet Politik! “ zum Ausdruck kommt. In Worten von Lehmann gilt für das postdramatische Theater, dass der schriftliche und/ oder mündlich dem Theater vorgegebene Text und der Text der Inszenierung im erweiterten Sinn des Wortes (mit Spielern, ihren paralinguistischen Ergänzungen, Reduktionen oder Deformationen des linguistischen Materials - mit Kostümen, Licht, Raum, eigener Zeitlichkeit usw.) von einer veränderten Auffassung des Performance Text her neu bestimmt werden müssten. 816 Den Literaturwissenschaften kommen damit eine ernst zu nehmende Aufgabe und eine Herausforderung zu, denn neben der klassisch fixierten Werkkategorie entsteht ein Werktypus, der sich mit einer ästhetischen Zäsur oder Einbindung des Realen stets neu formiert. In diesem Zusammenhang ist die gerade erörterte ästhetische Erfahrung, die sich erst in der performativ-prozessualen Ästhetisierung zwischen Subjekt und Objekt ereignet und die als ästhetisch-konstituierender Bestandteil mit‐ schwingt, in dieser performativ-veränderten Auffassung der Werkkategorie miteinzubeziehen. Ausgehend vom radikalen Performanzkonzept im Sinne von Krämer sind das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik! “ als operativ-strategische Theaterpraktiken zu begreifen, die nicht nur die stabile Werkauffassung destabilisieren. Sie erschüttern zudem binäre sowie dichotomi‐ sche Denkmuster, Wahrnehmungsweisen, Begriffsbildungen und Differenzie‐ rungen (Autor_innen/ Rezipient_innen, Produktion/ Rezeption, Realität/ Fiktion, Schauspieler_innen/ Zuschauer_innen, Bühne/ Zuschauerraum etc.) des drama‐ tischen Theaters. Im postdramatischen Theatersynkretismus, wie es in diesen beiden Theateraktionen zum Ausdruck kommt, platzen eben alle „Elemente, als wir uns die Form des dramatischen Theaters denken können, gleichsam“ 817 auseinander. Die Theaterlandschaft danach liegt uns wie eine Art Photographie nach jener Explo‐ sion vor Augen: wir sehen auf dieser dergestalt im Bild angehaltenen Explosion die einzelnen Teile, fixiert in ihrem Auseinanderfliegen. Woraus das Theater sich zusam‐ mensetzte (Körper, Gesten, Organismen, Raum, Objekte, Architektur, Installationen, Zeit, Rhythmus, Dauer, Wiederholung, Stimme, Sprache, Klang, Musik …) - all dies 818 Ebd. 819 Anton Bierl: „Die griechische Tragödie aus der Perspektive von Prä- und Postdramatik. Die Perser des Aischylos und die Bearbeitung von Müller/ Witzmann“, a. a. O., S. 203. 820 Vgl. Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialis‐ mus? “, a. a. O., S. 159. 821 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 31. hat sich nun verselbständigt, befindet sich im Moment der Aufnahme in unterschied‐ licher Entfernung von Zeit - Ort der Explosion, ist in unterschiedliche Richtungen auseinandergejagt, referiert auf seine Herkunft mehr oder weniger deutlich, geht aber zugleich neue fragmentarische Beziehungen ein. Die Einzelmoleküle verbinden sich untereinander und bilden zugleich Konstellationen mit anderen Elementen, die zuvor im Komplex Theater nicht vorkamen: Fortschritt hin zu einer Fülle von neuen Möglichkeiten, Kreation aus dem Zusammenbruch. 818 Diese Explosionsmetapher ist triftig und beansprucht eine Neuinterpretation des traditionellen organischen Werkbegriffs im Theater. Wie gesehen sind Grundelemente des Theaters vorschriftlichen, motorischen, körperzentrierten und rituellen Praxen voraristotelischen Theaters entsprungen. Alle diese Ele‐ mente überlappen sich „mit heutigen Interessen des Postdramatischen.“ 819 Die prozessuale Überschneidung der voraristotelisch-rituellen Theaterelemente mit denen des postdramatischen wird in dieser Arbeit als kulturelles Interferenz‐ phänomen bezeichnet, das zum postdramatischen Theatersynkretismus führt. Das voraristotelische Theater wird durch seinen Kultwert bedingt und durch sein kulturelles Eingebettetsein in zeremonielle und religiöse Riten vorange‐ trieben. Dies ist wiederum der Ausdruck kultureller Selbstverständlichkeit der antiken griechischen Kulturproduktion und geht damit mit einer entsprechen‐ den Sinneswahrnehmung Hand in Hand. Die geschichtliche und kulturelle Zeugenschaft des antiken griechischen Theaters des 6. bzw. 5. Jahrhunderts v. Chr. vermittelt die Erkenntnis einer kulturellen Pragmatik, die durch eine spirituelle, kultische und auratische Funktion aufrechterhalten wird. Der Auf‐ führungscharakter der Tragödie war somit ein Medium und zugleich ein Faktor, der durch die opferrituelle Tötung und die tragische Erfahrung der antiken griechischen Kulturselbstverständlichkeit eine religiöse, spirituelle und therapeutische Wirksamkeit möglich macht. Damit einher gehen eine stärker transkulturell orientierte Betrachtungsweise und eine Umkehrung der Perspektive, der Wahrnehmung und der Lesart. 820 Dies impliziert außerdem, dass die Theatergeschichtsschreibung in Bezug auf das Verständnis des europäischen wie des außereuropäischen Theaters entsprechend aktualisiert werden müsste. 821 Diesbezüglich sind Nitschs Orgien- Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ aufschlussreiche 332 3.4. Ausblick 822 Koku G. Nonoa: „Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialismus? “, a. a. O., S. 160. 823 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, a. a. O., S. 30. 824 Hubert Klocker: „Die Aktionen von Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler ab Mitte der 1960er-Jahre“. In: Eva Badura-Triska, Hubert Klocker: Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012, S. 190-220, hier S. 190. 825 Vgl. Hans-Thies Lehmann. Statement im Rahmen von HEIM SPIEL 2011: Theater, Work‐ shops, Symposium, Festival “GET DOWN AND PARTY. TOGETHER. Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern“, a. a. O. Beispiele postdramatischer Theaterentwürfe, die verlangen, „dass viele von den tradierten Wahrnehmungskategorien, die dominant bzw. Mainstream sind, in bestimmten Situationen umgekehrt bzw. überdacht werden sollten. Hier geht es vor allem um eine Emanzipation von kolonialistischen Wahrnehmungskate‐ gorien […].“ 822 Außerdem erscheint dies als eine Notwendigkeit: Neben der Ent‐ grenzung der Künste und der künstlerischen Verwischung der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst hat sich das sachliche Institutionsverständnis längst erweitert. Das Verständnis von Institution umfasst heute sowohl spezifische Räume, Organisationen und Individuen als auch das zwischen ihnen verbun‐ dene Netzwerk soziokultureller, ökonomischer und politischer Beziehungen sowie Machtverhältnisse. Umso mehr bewegt diese Einsicht zur folgenden Frage: Welche kontextbezogenen Dispositionen können die Rezeptionsentgren‐ zung der eigenen Institutionalisierung ermöglichen, sodass sich die jeweiligen Individuen nicht nur auf die gewohnte Rezeptionsästhetik, sondern auch auf die anspruchsvolle Erfahrungs- und Wirkungsästhetik einlassen können? Diesbe‐ züglich geht z. B. eine tragische Erfahrung über eine rein mentale, intellektuelle oder rationale Rezeptionstätigkeit weit hinaus, damit „sie, anders als Lesen, […] mit einer realen Öffentlichkeit verbunden ist, mit Stimme, Körpern und Raum […]. Tragische Erfahrung ist nicht einfach Reflexion, sondern zugleich deren Innehalten, sie ist zugleich sinnlich, gleichsam ‚blind‘ und affektgeladen, oder es gibt sie nicht.“ 823 Vor diesem Hintergrund hat sich jeder einzelne Mensch im Orgien-Mysterien-Theater mit „neue[n] Möglichkeiten einer künstlerischen intensivierten Wirklichkeitserfahrung“ 824 sowie mit dem Erleben sinnlicher Erfahrung auseinanderzusetzen. Aufgrund seiner medialen Unmittelbarkeit ist Theater eine Liveveranstaltung sowie eine Versammlung im realen Alltag. Es hat ferner diese vorteilhafte Fähigkeit, viele Medien wie Schreib-, Sprech-, Sing- und Körperkünste in eine Inszenierung miteinzubeziehen. 825 Aber noch mehr: Es appelliert (am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters) an wissenschaftliche Disziplinen wie Theater-, Literatur-, Kultur-, Geschichtswissenschaften, Kunstgeschichte Anthropologie, 333 3.4. Ausblick 826 Victor Turner zit. n. Richard Schechner, Willa Appel: Introduction. In: Dies. (Hg.): By means of performance. Intercultural studies of theatre and ritual. Cambridge: University Press 1991, S. 1. Ethnologie, Soziologie, Archäologie etc. Zugleich kann Theater mit seinem hinterfragenden Umgang mit der Geschichte als eine Art performativer Ge‐ schichtsschreibung aufgefasst werden - auch als Zeitgeschichte, wenn es jüngste vergangene bzw. laufende soziokulturelle Begebenheiten (am Beispiel von Schlingensiefs Inszenierungen) auf dem theatralen Schauplatz bearbeitet oder auf künftige Aktionen sowie Geschehnisse vorgreift. Schlingensiefs The‐ aterkonzept vereinigt alle drei: neue Geschichtsschreibung, Zeitgeschichte und das Vorgreifen soziokultureller sowie politischer Vorgänge. Als Zeitgeschichte weist sein Theateransatz Züge von performativen, installations- und aktionsori‐ entierten postdramatischen Theaterentwürfen auf, die in Gestaltungsform und Inhalt auf die jüngste Vergangenheit oder auf die Gegenwart direkt reagieren, um dann auf Begebenheiten vorzugreifen. Außerdem vermittelt Theater als Zeugnis und Faktor im geschichtlichen Ver‐ lauf Wissen und (Er-)Kenntnisse über unterschiedliche Theaterverständnisse und ihre jeweiligen Dimensionen in der menschlichen Gesellschaft. So ist Theater ein Medium, das zur Konstruktion sowie zur Vermittlung historischer, ökonomischer, sozialer, politischer, kultureller, institutioneller, individueller sowie ästhetischer und künstlerischer Wertsetzungen, Verhaltensnormen und Verhaltensdifferenzen beiträgt. Es ist zugleich das Medium, das sozial-, kultur- und institutionskritisch vorgehen kann. Es dient als Modus kultureller Selbst‐ darstellung und -wahrnehmung sowie zur Selbstreflexion. In diesem Zusam‐ menhang sind rituelle und/ oder theatrale Durch- und Aufführungen, die zu bestimmten Zeiten an ausgewählten Orten mit entsprechenden Akteur_innen abgespielt werden, Aushandlungswege soziokultureller Begebenheiten: Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual and theatrical performances […]. A performance is a dialectic ´flow´, that is, spontaneous movement in which action and awareness are one, and ´reflectivity´, in which the central meanings, values and goals of culture are seen ´in action´, as they shape and explain behaviour. A performance is declarativ of our shared humanity, yet it utters the uniqueness of particular cultures. We will know on another better by entering one another´s performances and learning their grammar and vocabularies. 826 Das voraristotelische und aristotelische/ dramatische sowie postdramatische Theater vermitteln unterschiedliche Theaterverständnisse sowie Weltanschau‐ ungen. Wie angedeutet, stellt die Institution Theater die institutionellen Rahmenbedingungen, die ästhetischen Werte und die Produktionssowie Re‐ 334 3.4. Ausblick 827 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, a. a. O., S. 44. 828 Statement von Hans-Thies Lehmann: GET DOWN AND PARTY. TOGETHER. Partizi‐ pation in der Kunst seit den Neunzigern. , a. a. O. zeptionsnormen fest, deren Geltung auch in die soziokulturelle Lebenspraxis hineingeht. Es geht um gesellschaftliche sowie kulturelle Wertsetzungen, mit denen Teilhabende über Theater ihre kulturellen Identitäten, soziopolitischen, ökonomischen Probleme vielfältig behandeln und/ oder hinterfragen. Betrachtet ein klassisch interessierter Rezipient anhand des dramatischen Theatermaßs‐ tabs Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik! “ und Nitschs Orgien-Mysterien- Theater, dann fällt ihm der theatrale Umbruch auf: es fehlt an einem Werk/ Theatertext für eine werkanaloge Aufführung; es sieht nach einem chaotischen Theaterphänomen voller Irritation und Provokation aus; es geht nicht um eine organische Werkkategorie oder darum, ob es sich um Fiktion oder Realität handelt. „Die Schwierigkeiten, die ein großer Teil des traditionellen Theater‐ publikums mit dem postdramatischen Theater erlebt,“ 827 führen auf die Tatsache zurück, dass die institutionellen Rahmenbedingungen gewohnter theatraler Produktion und Rezeption gesprengt worden sind. Schlingensiefs Theater stellt die ehemals eingreifende Dimension politischer Theaterpraxis wieder her, die, wie gesehen, der demokratischen Polisordnung stets inhärent war: „Verschmelzend mit (und im stetigen Übergang zu) geselligem Spiel, politischer Debatte […] bewegt sich [Schlingensiefs] Theater auf der Linie einer gewissen De-Ästhetisierung, die nicht das Ende [der] Kunst, sondern ein Geländegewinn ist.“ 828 Seitdem die Performancepraxis als Möglichkeit bietet, feststehende sozio‐ kulturelle sowie politische, künstlerische sowie ästhetische Normen zu desta‐ bilisieren, werden Grenzen nicht nur unter den jeweiligen Kunstgattungen überschritten. Zugleich werden Alltagsakteure_innen und -handlungen in den inhaltlichen kreativen Prozess und in die Formwerdung einbezogen. Im Orgien- Mysterien-Theater und in der Aktion 18, „tötet Politik! “ funktioniert die Einbin‐ dung von Alltagsakteur_innen und Alltagsbegebenheiten auf eine sehr anre‐ gende Art und Weise. Mit beiden Theateransätzen werden nichtkünstlerische Aspekte demonstriert, die seit jeher Theatervorgänge kennzeichneten: Theater bedeutet stets reales Tun und eine reale Versammlung - nicht nur künstlerisch oder ästhetisch. Für Schlingensief und Nitsch soll dies zu einer theatralen Schaffung realer Wirklichkeitsbereiche führen, die nicht auf der kognitiven Reflexionsebene stehen bleiben, sondern eine reale theatrale, soziokulturelle und politische Zeitgeschichte performieren. 335 3.4. Ausblick Bibliographie Adedeji, Joel Adeyinka: „Alarinjo: The Traditional Yoruba Travelling Theatre”. In: Ogunbiyi, Yemi (Hg.): Drama and Theatre in Nigeria: A Critical Source Book Lagos: Nigeria Magazine 1981, S. 221-247. Adedeji, Joel Adeyinka: „The Origin and Form of the Yoruba Masque Theatre”. In: Cahiers d'Études Africaines, Vol. 12, No. 46, (1972), S. 254-276. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Ber‐ lin/ Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 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Luftbildaufnahme des Schlosses. 78 Abb. 3: „die architektur des orgien mysterien theaters. architektur unter der erde“ 80 Abb. 4 & 5: Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schau‐ platz des Sechstagespiels. 84 Abb. 6: Vigil Rabers Originalhandzeichnung des Bühnenplans, Boz‐ ner Passionsaufführung von 1514. 116 Abb. 7 & 8: Rekonstruktionen der Originalhandzeichnung von Rabers Bühnenplan. 118-119 Abb. 9: James Sidney Ensor: „Ecce Homo oder Christus und die Kritiker“ (1891). 148 Abb. 10: Lovis Corinth: „Der rote Christus“ (1922). 149 Abb. 11: Ernst Barlach: „Anno Domini MCMXVI Post Christum Na‐ tum“ (1916). 151 Abb. 12: George Grosz: „Gekreuzigter mit Gasmaske und Soldaten‐ stiefeln“ (1927). 152 Abb. 13: Castelluccis La Passione (2006), weiße Bühne, Chor mit Orchester der Hamburgischen Staatsoper in den Deichtor‐ hallen. 157 Abb. 14: Castelluccis La Passione (2006), Lammrequisit und Kunst‐ blut. 159 Abb. 15: Castelluccis La Passione (2006), Statist_ in und Stacheldraht‐ kranzes. 160 Abb. 16: Castelluccis La Passione (2006), Umgestürzter bayrischer Reisebus vor dem Ensemble von La Passione. 162 Abb. 17: Tod des Orpheus von Albrecht Dürer (1493). 174 Abb. 18 & 19: „Wiener Stadtspaziergang“ von Günther Brus (1965). 194 Abb. 20: Eindruck der Wienaktion „Bitte liebt Österreich“ (2000). 221 Abb. 21: Christoph Schlingensiefs Animatograph, Skizze (2004). 297 Abb. 22 & 23: Area 7 - Eine Matthäusexpedition (2006). 298 Abb. 24 & 25: Malaktionen in Area 7 - Eine Matthäusexpedition (2006). 299 Danksagung Gefördert wurde die vorliegende Arbeit zum einen durch ein Doktoratsstipen‐ dium aus der Nachwuchsförderung der Universität Innsbruck im Rahmen des Doktoratsstudiums Literatur- und Kulturwissenschaft und des Doktoratskollegs „Figuration ‚Gegenkultur‘“ im interdisziplinären Forschungsschwerpunkt „Kul‐ turelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte“ der Universität Innsbruck. Zum anderen hat das Marietta Blau-Stipendium der OeAD - GmbH, finanziert aus Mitteln des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) zur inhaltlichen Bereicherung dieser Dissertation durch zwei internationale Forschungsaufenthalte entscheidend beigetragen: Das Marietta Blau-Stipendium ermöglichte mir nämlich zwischen 2016 und 2017 zwölf Monate als „Visiting PhD student“, erstens am Institut für deut‐ sche Sprache, Literatur und für Interkulturalität / Fakultät für Geisteswissen‐ schaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften der Universität Luxemburg aktuelle Fragen von Interbzw. Transkulturaltität in Verbindung mit theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Prozessen der Inter‐ nationalisierung und kulturellen Verflechtung im Theater der Gegenwart zu erörtern; nach diesem Aufenthalt an der Universität Luxemburg konnte ich am Department of Drama and Film/ Faculty of Arts, Tshwane University of Technology, Pretoria/ South Africa Aspekte der afrikanisch-vorkolonialen per‐ formativen und rituellen Theaterformen und ihre Erscheinungsformen in Bezug auf ihre transformative und unterhaltende Funktion sowie ihre transkulturelle Parallele zu Hermann Nitschs und Christoph Schlingensiefs Theaterkonzepten herausarbeiten. Abgesehen von den erwähnten Institutionen, für deren Förderung ich dank‐ bar bin, möchte ich mich auch bei allen Menschen bedanken, die mich in unterschiedlichen Phasen dieser Arbeit orientiert und mir beigestanden haben. Vor allem möchte ich meinem interdisziplinären Betreuerteam danken: meinem Doktorvater und Erstbetreuer Prof. Dr. Sebastian Donat und meiner Zweitbe‐ treuerin Prof. Dr. Birgit Mertz-Baumgartner von der Universität Innsbruck. Mein Dank gilt nicht nur für die spannenden und produktiven Betreuungs‐ gespräche, sondern auch für die vielfältigen akademischen Berufserfahrungs‐ möglichkeiten, wie an der Universität lehren, Konferenzen und Gastvorträge organisieren sowie an nationalen und internationalen Konferenzen teilnehmen zu dürfen. Ich danke auch Prof. Dr. Dieter Heimböckel und Dr. Natalie Bloch von der Universität Luxemburg sowie Prof. Mizo Sirayi, Prof. Patrick James Ebewo und Dr. Janine Lewis von der Tshwane University of Technology/ Pretoria für die jeweiligen Betreuungen während meiner Auslandsaufenthalte im Rahmen des Marietta-Blau-Stipendiums. Mein Dank gilt an dieser Stelle auch Prof. Dr. Gilles Reckinger, der mir mit seinen Ratschlägen und Empfehlungen geholfen hat, mich für das interdisziplinäre Betreuungsteam und die internationalen Forschungsaufenthalte zu entscheiden. Auch bei der Projektbeauftragten des Instituts für Vergleichende Literatur‐ wissenschaft Dr. Beate Eder-Jordan und dem Koordinator des interdiszipli‐ nären Forschungsschwerpunkts „Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Kon‐ flikte“ Dr. Matthias Hoernes von der Universität Innsbruck möchte ich mich für die Unterstützung bei meinen vielen Aktivitäten während der gesamten Dissertationsphase bedanken. Besonders danke ich meiner Familie, meinen Freund_innen, die mir vom Beginn an bis zum Ende der vorliegenden Arbeit auf die eine oder andere Weise geholfen haben. Für die Unterstützung beim Korrekturlesen geht mein Dank an Bruno Leitgeb und Claude Reckinger. Zum Schluss gilt ein großes Dankeschön Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag, die mir im gesamten Publikationsprozess dieser Arbeit mit produktiven Hinweisen beigestanden hat. 360 Danksagung Aufgrund ihrer verwandten Störstrategien sind Hermann Nitsch und Christoph Schlingensief wie „zwei Zwillingsbrüder“ zu betrachten, die individualisierte Künstlerpersönlichkeiten aufweisen. Sie sind zudem von der institutionskritischen Inszenierung theatraler, körperzentrierter Präsenz und Erfahrung des Realen bis zur Fusionierung ritueller, religiöser und politischer Elemente verwandt und sehr gute compagnons de route. Diese Publikation widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung in Nitschs und Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungssowie Störstrategien im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater. ISBN 978-3-7720-8702-8