eBooks

Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert

2020
978-3-7720-5703-8
A. Francke Verlag 
Hermann Gätje
Sikander Singh

Im Heiligen Römischen Reich bildete Straßburg ein wichtiges wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, mit der Reformation erlangte die Buchherstellung Bedeutung. Die Besetzung der Stadt durch Frankreich im Jahr 1681 drängte den Einfluss reformatorischen Gedankenguts zurück. Denn obwohl weiterhin Religionsfreiheit bestand, verfolgten die französischen Könige eine Rekatholisierungspolitik. Dennoch bestand die renommierte, 1621 gegründete, lutherisch geprägte Universität fort. Nach der Revolution von 1789 wurde die Stadt zu einem Ort des Exils für deutsche Republikaner und oppositionelle Intellektuelle. Vor diesem Hintergrund leistet der Band einen Beitrag zu der Erforschung des geistigen Lebens in Straßburg im Spannungsfeld deutscher und französischer Kultur.

Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert Gätje • Singh (Hrsg.) HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) 05 Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 5 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8703-5 (Print) ISBN 978-3-7720-5703-8 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0116-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 5 Inhalt Hermann Gätje / Sikander Singh Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Robert Seidel Über die Legitimation von Widmungsschriften - Elias Silberrads Straßburger Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sikander Singh Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück aus dem Jahr 1722 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Annette Kliewer Eulogius Schneider als literarische Figur - „Hergeloffener“ oder „Brückenbauer“ zwischen Deutschland und Frankreich? . . . . . . . . . . . . . . . 53 Hermann Gätje „Lumpenloch“ und „zweite Vaterstadt“. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei Johann Gottfried Herder und Georg Büchner . . . . . . . . . . . . 67 Elisa Garrett Straßburg und die Architektur der Dichtkunst: Sprachphilosophie und Künstlertum im Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Matthew Feminella “Mensch, die sind zu groß für unsere Zeit”: Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Uwe Hentschel Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Stefan Knödler Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Raphaël Fendrich „Verräther an Glauben und Vaterland“ - Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs (1862) . . . . . . . . . . . . 163 Vorwort 7 Vorwort Im Heiligen Römischen Reich bildete die im Mündungsgebiet der Ill in den Rhein gelegene freie Reichsstadt Straßburg ein einflussreiches wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. In der Folge der Reformation, die hier früh und nachhaltig Einfluss erlangte, avancierte die Stadt zudem zu einem bedeutenden Zentrum der Buchherstellung: So trugen die in Argentoratum gedruckten Werke - wie die bis in das 17. Jahrhundert gebräuchliche mittellateinische Namensform lautete - wesentlich zur Verbreitung der Lehren Martin Luthers und Johannes Calvins im deutschen und französischen Sprachraum bei. Die Besetzung der Stadt durch französische Truppen im Jahr 1681 verfolgte daher nicht ausschließlich Ziele im Rahmen der Reunionspolitik des französischen Königs Ludwig XIV. - schließlich waren große Teile des Elsass bereits mit dem Westfälischen Frieden von 1648 unter seine Landeshoheit gelangt. Die Hegemonie über die Metropole des Elsass eröffnete Frankreich darüber hinaus Möglichkeiten der ökonomischen Vorteilsnahme und bot zudem die Gelegenheit, den Einfluss reformatorischen Gedankenguts zurückzudrängen. Wenngleich unter den neuen Herrschaftsverhältnissen im Elsass - nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau im Jahr 1685 - weiterhin Religionsfreiheit bestand, verfolgten die französischen Könige eine mittel- und langfristig erfolgreiche Rekatholisierungspolitik. Trotzdem konnte die 1621 gegründete lutherische, deutsch geprägte Universität Straßburgs weiterbestehen und verfügte, insbesondere im Verlauf des langen 18. Jahrhunderts, über einen ausgezeichneten Ruf, der Gelehrte wie Studenten aus europäischen und deutschen Ländern anlockte. In den Jahren und Jahrzehnten nach der Französischen Revolution von 1789 wurde die Stadt schließlich zu einem Ort des Exils für deutsche Republikaner, oppositionelle Intellektuelle und Schriftsteller. Vor diesem Hintergrund konstatierte Otto Flake über die Entwicklung Straßburgs im Spannungsfeld zweier Kulturen und Sprachen: „Im Unterschied zu allen deutschen Städten erlebte es die vorbereitenden Stadien des modernen Westeuropa, das achtzehnte Jahrhundert, die Revolution, Napoleon und das plutodemokratische Bürgertum in unmittelbarer Teilnahme, während es von der geistigen und politischen Entwicklung, die in Deutschland in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einsetzte, nicht mehr berührt wurde.“ Aufgrund seiner geographischen Lage und vor dem Hintergrund seiner Geschichte existierten in Straßburg bis in das 19. Jahrhundert nebeneinander französische und deutsche Einflüsse, was nicht zuletzt im verbreiteten Gebrauch der 8 Vorwort deutschen Sprache dokumentiert wird. Diese kulturell interessante Parallelität divergenter kultureller Prägungen bestand bis zum Deutsch-Französischen Krieg: Im September 1870 wurde Straßburg von deutschen Truppen besetzt, 1871 zur Hauptstadt des deutschen Reichslandes Elsass-Lothringen. Mit dem vorläufigen Ende der beinahe zweihundertjährigen Herrschaft Frankreichs über die elsässische Metropole verschob sich auch der paritätische Einfluss beider Nationen auf das wissenschaftliche und kulturelle Leben der Stadt zugunsten einer Hegemonie des Wilhelminischen Reiches. Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen einzelne Aspekte des geistigen Lebens in Straßburg in den Jahren zwischen 1681 bis 1871 und leisten auf diese Weise einen Beitrag zum Verständnis der Mehrdimensionalität einer Kultur im Spannungsfeld deutscher und französischer Einflüsse. Saarbrücken, im Frühjahr 2020 Hermann Gätje und Sikander Singh Über die Legitimation von Widmungsschriften-- Elias Silberrads Straßburger Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate Robert Seidel, Frankfurt am Main Das Zustandekommen des vorliegenden Beitrages verdankt sich einem Zufall: Im Rahmen umfassender, langfristig angelegter Studien zur wissenschaftshistorischen Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen wurden nicht nur die sich in den ausgewerteten Thesendrucken manifestierenden gelehrten Diskurse reflektiert, sondern auch deren Entstehungs- und Distributionskontexte sowie das paratextuelle Umfeld in die Analysen einbezogen. Hierbei spielten die häufig sehr aufschlussreichen Dedikationsschreiben, wie sie beispielsweise vom Präses an den Respondenten oder auch vom Respondenten an seine(n) Gönner verfasst wurden, keine geringe Rolle. Ganz überraschend tauchte unter den Quellen auch ein - wenn man so will - metatextuelles Zeugnis auf, ein Thesendruck nämlich, der die Frage nach Sinn und Rechtmäßigkeit des Dedizierens selbst zum Thema hat. Man muss sich also vorstellen, dass diese im 16. bis 18. Jahrhundert geläufige Praxis, die in jüngster Zeit im Zeichen des Autorisierungsparadigmas wieder einmal zum Gegenstand intensiver Studien avancierte, 1 in eben denjenigen akademischen Kreisen, in denen sie geübt wurde, zugleich Anlass zu kritischer Diskussion bot. Es handelt sich bei unserem Text um die bislang gänzlich unbeachtete Straßburger Disputation De dedicationum literariarum moralitate, die am 3. Juni 1718 unter dem Präsidium des Professors für praktische Philosophie Elias Silberrad, der wohl auch der Verfasser war, abgehalten wurde. - Auf den folgenden Seiten soll zunächst das frühneuzeitliche Disputationswesen, dessen Kenntnis zum Verständnis der nachfolgenden Ausführungen notwendig erscheint, kurz skizziert werden (I.). Im Hauptteil der Untersuchung wird dann der Straßburger Thesendruck analysiert und in seinen Kontexten verortet (II.). 1 Vgl. die umfassende Studie von Karl Enenkel: Die Stiftung von Autorschaft in der neulateinischen Literatur (circa 1350 bis circa 1650). Zur autorisierenden und wissensvermittelnden Funktion von Widmungen, Vorworttexten, Autorporträts und Dedikationsbildern. Leiden und Boston/ MA 2015. Ältere Arbeiten zum frühneuzeitlichen Dedikationswesen sind in Anm. 23 nachgewiesen. 10 Robert Seidel I. Die unterschiedlich langen, meist zwischen zwölf und sechzig Seiten umfassenden Thesendrucke, die im institutionellen Kontext akademischer Disputationsveranstaltungen veröffentlicht wurden, sind, zumindest was den deutschen Kulturraum betrifft, als außerordentlich ergiebige Quellen für die interdisziplinäre kultur- und wissenschaftshistorische Forschung klassifiziert worden. 2 Um den Quellenwert des Mediums richtig einschätzen zu können, muss man sich allerdings einige Funktionsbedingungen des frühneuzeitlichen Universitätsbetriebs klar machen. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, markiert die Zeit um 1800 einen Paradigmenwechsel. Wenn man von der Moderne aus die Schwelle zur Frühen Neuzeit überschreitet, also in das 18. Jahrhundert und weiter zurück blickt, fallen besonders drei Aspekte gelehrter Beschäftigung auf, die dem heutigen Forscher befremdlich erscheinen mögen: Zum einen ist die umfangreiche, kohärente und vom gelehrten Nachwuchs eigenständig verfasste Monographie in jener Zeit zwar eine Option, doch nicht der Regelfall eines Thesendruckes. Neben Schriften mit echtem Abhandlungscharakter, die aus Forscherperspektive grosso modo natürlich die ergiebigeren sind, waren auch knappe Reihungen unverbundener Thesen (sogenannte theses nudae) verbreitet. Zwischen diesen Extremen sind alle überlieferten Drucke zu verorten. Im Zusammenhang mit der auffälligen Struktur der Dissertationen steht eine Vorstellung von akademischer Lehre, die der Rekapitulation gelehrten Wissens gegenüber einer innovativen Forschungsleistung den Vorrang einräumt. Auch hier gab es freilich unterschiedliche Ansätze, und es wurde unter den Zeitgenossen darüber diskutiert, welchen Status die Thesendrucke im Hinblick auf ihr innovatives Potential im Vergleich mit anderen Formen der Wissensliteratur besaßen. Der 2 Die folgenden Ausführungen geben in extrem verkürzter Form den derzeitigen Stand der Forschung zum Gesamtbereich des frühneuzeitlichen Disputationswesens, speziell zu den Dissertationen der philosophischen Fakultäten, wieder. Ich verweise hier zur ferneren Orientierung auf ein kürzlich erschienenes Kompendium, das diesen Wissensstand ausführlicher aufarbeitet, die Forschungsliteratur zum Thema erschöpfend referiert und rund sechzig Fallstudien zu einzelnen Thesendrucken präsentiert: Hanspeter Marti-/ Reimund B. Sdzuj-/ Robert Seidel (Hrsg.): Rhetorik, Poetik und Ästhetik im Bildungssystem des Alten Reiches. Wissenschaftshistorische Erschließung ausgewählter Dissertationen von Universitäten und Gymnasien 1500-1800. Köln [u. a.] 2017. Vgl. ferner die grundlegenden Lexikonartikel von Hanspeter Marti: Disputation. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. II. Tübingen 1994, Sp. 866-880; Dissertation. In: ebd., Sp. 880-884. Weitere Arbeiten von Hanspeter Marti, der die Dissertationenforschung seit nunmehr fast vierzig Jahren maßgeblich geprägt hat, finden sich bibliographiert in: Reimund B. Sdzuj-/ Robert Seidel-/ Bernd Zegowitz (Hrsg.): Dichtung - Gelehrsamkeit - Disputationskultur. Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag. Wien [u. a.] 2012, S. 716‒735 („Schriftenverzeichnis Hanspeter Marti“). Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 11 Pädagoge Sigmund Jakob Apin (1693 bis 1732) stellte das Forschungspotential dieses Genres heraus: Viele Gelährten kommen bey Untersuchung der Warheit auf neue Gedancken, wollen aber deswegen nicht gleich gantze Bücher und Tractate schreiben, sondern geben ihre neue Meinung in forma Disputationis heraus. 3 Schließlich ist zu beachten, dass die an einer Disputation beteiligten Personen sich zwar um eine überzeugende Argumentation bemühten, nicht aber um wissenschaftliche Neutralität im modernen Sinne. Waren Fragen der theologischen oder verhaltensethischen Positionierung Gegenstand der Debatte, lag eine Voreingenommenheit der Akteure gewissermaßen in der Luft, aber selbst bei historisch-philologisch angelegten Untersuchungen zeigt sich bisweilen ein eklatanter Kontrast zwischen nüchterner Detailanalyse und affektgeladener Parteinahme für oder gegen die Sache, die verhandelt wurde. Dies hängt einerseits mit der Verankerung des Disputationswesens innerhalb eines durch und durch rhetorisch fundierten Unterrichtskonzeptes zusammen, andererseits ist die Vorstellung von einem zweckfreien Interesse des innerlich unbeteiligten Forschers aus der Perspektive der Frühen Neuzeit ein Anachronismus - auch noch im 18. Jahrhundert, in dem die emphatischen Forderungen einiger prominenter Vertreter der Aufklärung nicht den Maßstab für die gelehrten Positionskämpfe im Allgemeinen bildeten. Die Fachtermini, die zur Beschreibung des Disputationsaktes verwendet werden, spiegeln die Entstehungs- und Funktionsbedingungen der behandelten Texte. Mit dissertatio wird eben nicht eine Inauguraldissertation modernen Zuschnitts bezeichnet, sondern der Thesendruck, der in metonymischer Ausdrucksweise gelegentlich auch disputatio genannt wird. Verfasser der dissertatio war vielfach der betreuende Professor, der als Präses (praeses) der Disputation vorstand. Der Schüler musste als Respondent (respondens) auf Einwürfe der Opponenten (opponentes) „antworten“, also die Thesen verteidigen. Wenn diese tatsächlich vom Respondenten selbst verfasst waren, wurde dies meist auf dem Titelblatt des Druckes vermerkt, indem seinem Namen der Zusatz „respondens et auctor“ beigegeben wurde - was freilich ebenfalls bedeuten konnte, dass der Respondent den Disputationsakt veranlasste, die Kosten übernahm und so weiter. Im Laufe des 18. Jahrhunderts scheint der Anteil der vom Respondenten verfassten Dissertationen zugenommen zu haben, ohne dass dieser Befund bisher statistisch zuverlässig erfasst worden wäre. 4 3 Sigmund Jakob Apin: Unvorgreiffliche Gedancken-/ wie man so wohl Alte als Neue Dissertationes Academicas mit Nutzen sammlen-/ und einen guten Indicem darüber halten soll. Nürnberg und Altdorf 1719, S. 24. 4 Die Verfasserfrage ist seit dem Einsetzen der Disputationenforschung im späten 19. Jahrhundert ein wichtiger, phasenweise sogar dominierender Aspekt gewesen. Zum derzei- 12 Robert Seidel Thesendrucke sind, wie schon gesagt, von kultur- und wissenschaftshistorischer Relevanz. Sie dokumentieren die Konjunktur von Diskursen und Autoritäten. Sie geben Hinweise darauf, welche Fragen mit welchen Argumenten im Rückgriff auf welche Referenztexte und in Auseinandersetzung mit welchen Gegenpositionen an welchen Universitäten mit welcher praktischen Zielsetzung behandelt wurden. Die folgende Untersuchung führt vor, in welcher Weise die im 18. Jahrhundert virulente Frage nach der Legitimation von Widmungsschriften von genau jenen Personen verhandelt wurde, die allfällige aus der Debatte resultierende Konsequenzen zu gewärtigen hatten. II. Doch nun zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung: Der Titel De dedicationum literariarum moralitate, den man mit Über die moralische Rechtfertigung gelehrter Dedikationsschreiben paraphrasieren könnte, weckt eine konkrete Lesererwartung. Es werden wohl die üblichen 5 Verdikte angesprochen werden, wonach eine Widmung 6 die eitle Ruhmsucht des Geehrten bediene und vom Autor derselben lediglich im Vorgriff auf eine erwartete Belohnung verfasst werde. Zugleich dürfte der Verfasser des Thesendruckes, der ja selbst dem Kreise der potenziellen Widmungsschreiber angehört, Rechtfertigungsgründe für die geläufige Praxis vortragen, worunter die Bemühung um Schutz des Werkes vor behördlichen Angriffen, die Notwendigkeit karrierefördernder Protektion durch einen hochgestellten Gönner und natürlich der - nunmehr berechtigte - Wunsch nach materieller Gegenleistung seitens der notorisch finanzschwachen Literaten zu zählen sind. Alle diese Lesererwartungen werden erfüllt, wie sich in einem summarischen Inhaltsreferat des klar gegliederten Textes zeigen lässt. Eine integrale Analyse der Publikation in ihrer Struktur und Materialität führt freilich über die bloße Dokumentation der zeitgenössischen Argumente für und wider das Dedizieren hinaus: Der Thesendruck erweist sich als aufschlussreiches Dokument des akademischen Selbstverständigungsdiskurses in tigen Erkenntnisstand vgl. Hanspeter Marti: Von der Präseszur Respondentendissertation: Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung. In: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.): Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Basel 2007, S. 251‒274. 5 Zu Einzelheiten vgl. unten Punkt 3 (mit Literaturhinweisen). 6 Ich bezeichne im Folgenden mit „Widmung“, „Dedikation“, „Zueignung“ beziehungsweise den zugehörigen Verben synonym die symbolische Übergabe eines literarischen Produktes an seinen Empfänger in Form einer gedruckten Zuschrift. Eine Differenzierung zwischen der (handschriftlichen) Widmung eines Exemplars und der (gedruckten) Widmung eines Werkes wird also nicht vorgenommen, da es mir generell nur um den letzteren Fall geht. der Zeit der frühen Aufklärung. Dies ist am besten mittels einer Untersuchung zu zeigen, die sich an der Abfolge der textuellen beziehungsweise paratextuellen Elemente orientiert. Die sieben klar voneinander getrennten Teile des Druckes werden in acht Schritten nacheinander behandelt, wobei die Abschnitte 5 und-6 sich bestimmten Aspekten des Hauptteils zuwenden. 1. Das Titelblatt 7 weist dem Thema eine Behandlung in Form des akademischen Streitgesprächs zu. Von dem Respondenten Johannes Breu heißt es hier, er werde an der ehrwürdigen Universität „solenniter disputare“. Der Präses und wahrscheinliche Verfasser der 17 Paragrafen, 8 die auf dreißig Seiten entfaltet werden, ist durch seine Würde als Dekan ausgezeichnet; in dieser Position wird er nicht für einen belanglosen Gegenstand verantwortlich zeichnen. Elias Silberrad (1687 bis 1731), seit 1710 Professor an der Straßburger Universität - damals noch für Moralphilosophie, später für Theologie -, war keiner der bedeutendsten Gelehrten am Ort, aber ein fleißiger Verfasser von Thesendrucken. Er hatte 1712 und 1714 bereits zwei Disputationen De eruditorum invidia und 1713 eine über die Moralitas graduum academicorum abgehalten, 9 besaß also offenbar eine Affinität zum Thema der Gelehrtenkritik, die allerdings, wie wir sehen werden, im Jahrzehnt zwischen 1710 und 1720 überhaupt eine auffällige Konjunktur erlebte. 10 Der unserem Thesendruck thematisch nächstverwandte 7 DEO PROSPERANTE | DE | DEDICATIONUM | LITERARIARUM | MORALITATE, | IN ALMA ARGENTORATENSI | PRAESIDE | ELIA SILBERRADIO, | PHILOSOPH. PRACT. PROF. PUBL. ORD. | ET ECCLESIASTE, FACULT. SUAE | h. t. DECANO, | SOLENNITER DISPUTABIT | JOANNES BREU, | ARGENTOR. | D. iii. JUNII AN. M DCC XIIX. | H. L. Q. C. | ARGENTORATI, | Literis PASTORIANIS. 8 Es werden nicht eigentlich Thesen formuliert, allerdings findet sich neben jedem Paragrafen eine Randglosse (siehe unten). 9 Elias Silberrad [Präses]- / Johann Jakob Walther [Respondent]: De eruditorum invidia dissertatio prior. Straßburg 1712; ders. [Präses]-/ Philipp Jakob Engel [Respondent]: De eruditorum invidia dissertatio II. Straßburg 1714; ders. [Präses]-/ Johann Friedrich Dulsseker [Respondent]: Moralitas graduum academicorum, ex jur. natur. princip. contra novaturientium quorundam conatus asserta. Straßburg 1713. Weitere, zum Teil ebenfalls gelehrtenkritische Dissertationen Silberrads verzeichnet Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660-1750. Eine Auswahlbibliographie. München [u. a.] 1982, S. 454f. - Hier wie im Folgenden sind lateinische Werktitel grundsätzlich in verkürzter und typographisch normierter Form angegeben. 10 Silberrad hatte in Straßburg, Jena und Leipzig studiert. Er war 1704 zum Magister promoviert worden und sollte 1721 noch den Doktorgrad der Theologie erwerben. Im Promotionsjahr war er auch Rektor der Universität. Neben den oben genannten Professuren bekleidete er diverse Pfarrstellen an Straßburger Kirchen. Vgl. Gustav C. Knod (Bearb.): Die alten Matrikeln der Universität Straßburg 1621 bis 1793. Bd. I. Straßburg 1897, S. 387, S. 560, S. 704; Marie-Joseph Bopp: Die evangelischen Geistlichen und Theologen in Elsass und Lothringen. Neustadt/ Aisch 1959, S. 514. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 13 14 Robert Seidel Text, eine Abhandlung des Torgauer Konrektors Daniel Friedrich Jan mit dem Titel De fatis dedicationum librorum, die interessanter Weise im selben Jahr 1718 im weit entfernten Wittenberg publiziert wurde, war anscheinend nicht Gegenstand einer institutionalisierten Debatte. Auch beschränkte sich Jan auf eine enzyklopädische Zusammenstellung aller greifbaren Fakten und Dokumente zum Dedikationswesen, während unser Text, wie sich zeigen wird, deutlich eine Debatte in utramque partem vorstrukturiert. Außerdem wird durch die Formulierung „De moralitate“ im Titel bereits auf eine pragmatische, konkret eine moralphilosophische beziehungsweise verhaltensethische Zweckbestimmung der Disputation hingewiesen, während Jan unter dem Rubrum „De fatis“ eher die gelehrtengeschichtliche Komponente des Gegenstandes im Rahmen der historia litteraria („Litterärgeschichte“) betont. 11 2. Die Widmungstafel auf der Rückseite des Titelblattes bietet gleich ein authentisches Beispiel für das im Folgenden diskutierte Dedikationswesen. Man darf erwarten, dass nach der Ansicht von Präses und Respondent diese Widmung ein positives, also legitimes Muster der Textsorte ist. Der Respondent richtet sich an zwei Gönner, verdiente Bürger der ehemaligen Reichsstadt 12 Straßburg, beide in diversen Ämtern für das Gemeinwesen tätig: Anton Eberhard Bock von Bläsheim und Gerstheim gehörte einer elsässischen Adelsfamilie an und firmiert hier als Mitglied des „Rats der Dreizehn“, zugleich aber auch als „praetor“, wie der höchste, vom französischen König als Kontrollorgan eingesetzte Beamte der Stadt bezeichnet wird. Der Jurist Philipp Caspar Leitersperger (1670 bis 1735) erscheint auf der Widmungstafel als Angehöriger des „Rats der Fünfzehn“. 13 11 Während er auf Jan noch nicht rekurrieren konnte, erwähnt Silberrad mit Johann Georg Walchs Commentatio de dedicationibus librorum veterum Latinorum von 1715 eine Publikation, von der er sich abgrenze und die seine eigene Unternehmung gewissermaßen als Desiderat markiere (Anm. 7, S. 4f.). Tatsächlich widmet sich Walchs Abhandlung, die einer Edition von Christoph Cellarius’ Epistolae selectiores et praefationes (Leipzig: Gleditsch 1715) vorangestellt ist (S. 1-112), ausschließlich den Widmungsgepflogenheiten der Antike und übergeht S. 100f. explizit die Situation seiner Gegenwart, insbesondere die problematischen Zustände: „nec, quod non laudandum, studiose attingere ac proferre speciose, necesse habeo.“ - Ausschließlich auf die Antike bezieht sich die einer ganz anderen Epoche zugehörige, aber noch auf Latein verfasste Dissertation von Johannes Ruppert: Quaestiones ad historiam dedicationis librorum pertinentes. Leipzig 1911. 12 Straßburg war 1681 an Frankreich gefallen, konnte allerdings die zivilen Verwaltungsstrukturen der alten Reichsstadt weitgehend beibehalten. 13 Zur Infrastruktur der Reichsstadt Straßburg vgl. Bernard Vogler: Straßburg. In: Wolfgang Adam-/ Siegrid Westphal (Hrsg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. Bd. III. Berlin und New York 2012, S. 1833-1876, hier S. 1837-1840. Zu Leitersperger vgl. Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Bd. VI. Straßburg 1993, S. 2289. Die beiden Männer haben den neunzehnjährigen Kandidaten Johannes Breu (1699 bis 1766), den wir später als Pfarrer an unterschiedlichen Kirchen wiederfinden, 14 offenkundig in seinen Studien unterstützt, beide werden als „patroni“ bezeichnet, der eine obendrein als „Maecenas“, der andere gar als „zweiter Vater“. Vor allem durch den Verweis auf die Wohltaten, die ihm und den Seinen zuteil geworden seien („infinitis in se suosque beneficiis“), wird nahegelegt, dass die Förderung wohl eine materielle war. Die Widmungstafel suggeriert eine harmonische Verbindung von städtischem Patriziat und akademischer Welt, eine Verbindung, die hier vorläufig auf einer klaren Trennung von „oben“ und „unten“ - der Name des Respondenten ist in winzigen Lettern an den unteren Rand der Seite gerückt -, von „Geben“ und „Nehmen“ basierte: Die „beneficia“ der Patrone konnte der jugendliche Respondent nur durch die triadisch als „obsequium“, „reverentia“ und „pietas“ formulierte Beflissenheit vergelten. Ausführliche, oft mehrseitige Widmungstafeln scheinen übrigens für die Verhältnisse in Straßburg besonders typisch zu sein. So enthält eine Sequenz von vier im Jahre 1748 unter Johann Philipp Beyckert abgehaltenen Disputationen insgesamt neun Seiten mit sechzehn namentlich aufgeführten (sowie zahlreichen weiteren, gruppenweise angesprochenen) Widmungsempfängern. 15 Aber auch sonst waren Widmungstexte gerade in Thesendrucken häufig auf mäzenatische Förderung ausgerichtet und konnten, wie eine Studie von Michael Philipp zeigt, geradezu als „Bewerbungsschreiben“ eingesetzt werden. 16 14 Vgl. Knod: Matrikeln (Anm. 10), S. 401, S. 565; Bopp: Theologen (Anm. 10), S. 82f. Breu war schon 1714 immatrikuliert worden und firmierte seit dem 31. Januar 1718 in der Matrikel der Kandidaten der Theologischen Fakultät. 15 Die Titel lauten in verkürzter Form wie folgt: 1. Johann Philipp Beyckert [Präses]-/ Johann Philipp Beyer [Respondent]: Dissertatio academica sistens Horatium poetam in Oda 7. L. IV. Epicureum [portio prima]. Straßburg 1748; 2. ders. [Präses]-/ Jonathan Rhein [Respondent]: Dissertatio academica sistens Horatium poetam in Oda 7. L. IV. Epicureum [portio altera]. Straßburg 1748; 3. ders. [Präses]- / Johann Daniel Hezel [Respondent]: Dissertatio academica sistens Horatium in Od. 34. L. I. ab Epicureismo conversum [portio prior]. Straßburg 1748; 4. ders. [Präses]-/ Franz Christian Birckel [Respondent]: Dissertatio academica sistens Horatium in Od. 34. L. I. ab Epicureismo conversum [portio posterior]. Straßburg 1748. - Zu diesen und anderen Disputationen im Kontext der frühneuzeitlichen Horazrezeption vgl. Robert Seidel: Die Rezeption des Horatius ethicus im Medium lateinischer Thesendrucke des 17. und 18. Jahrhunderts [im Druck]. 16 Vgl. Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. In: Marion Gindhart- / Ursula Kundert (Hrsg.): Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin und New York 2010, S. 231-268, hier besonders S. 241: „Grundsätzlich wird man zwei Funktionen oder Motive von Widmungen unterscheiden können. Zum einen stellen sie eine Form der Danksagung gegenüber Mäzenen und Gönnern dar, welche sich anhand der Disputation von der erreichten Qualifikation ihres Klienten überzeugen konnten; zum anderen konnte die Dedikation als eine Art Bewer- Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 15 16 Robert Seidel 3. Das vier Seiten umfassende Prooemium 17 verortet die Thesensammlung im Kontext der zeitgenössischen Gelehrtenkritik, soweit sie von den Gelehrten selbst artikuliert und als Korrektiv standesspezifischen Fehlverhaltens eingesetzt wurde. Der (selbst)kritische Diskurs, der mit der Negativfigur des „Scharlatans“ einen Passepartout für die unterschiedlichsten Aberrationen bereithält, ist in den vergangenen Jahren gut erforscht worden. Die jüngste Publikation zum Thema formuliert den Versuch einer allgemeinen Zweckbestimmung des kritischen Verfahrens, das - so viel sei vorweggenommen - neben Formen des eigentlichen Betruges auch Sonderfälle wie eben das maßlose Dedizieren oder umgekehrt das Einfordern von Dedikationen ins Visier nimmt: Es ist zu vermuten, dass die erhöhte diskursive Produktion von Negativfiguren eine Strategie zur Harmonisierung der [sc. gelehrten] Kommunikation durch die Etablierung eines konsensfähigen Exklusions- und Relegationsparadigmas darstellt, die auf die Restitution unsicher gewordener Identität und Legitimität abzielt. Aus diesem Grund, so die hier vertretene These, wurde die Figur des gelehrten Scharlatans zu einer prominenten Figur in der Übergangsphase von Gelehrsamkeit zu Wissenschaft von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, der eine wichtige Rolle in der Ausbildung und Durchsetzung fachlicher und ethischer Leitbilder zukam. 18 Die neueste Forschung beruft sich auf eine knappe, aber gehaltvolle Studie von Marian Füssel, der darauf hingewiesen hat, dass der quantitative Schwerpunkt diesbezüglicher Publikationen ins Jahrzehnt zwischen 1710 und 1720 fällt, also genau in die Dekade, in der auch unser Text entstanden ist. 19 Eine historisch eindeutige Erklärung für die Kulmination gelehrtenkritischer Schriften gerade in bungsschreiben fungieren, welche zielgerichtet und - in ihrer gedruckten Form - auch öffentlich ‚neue‘ Patrone und Förderer zu requirieren trachtete.“ Zu den Widmungsschreiben speziell an städtische Magistrate und Honoratioren in Reichsstädten und ähnlichen Gemeinwesen vgl. ebd., S. 257-259. 17 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 1-5. 18 Hole Rößler: Scharlatan! Einleitende Bemerkungen zu Formen und Funktionen einer Negativfigur in Gelehrtendiskursen der Frühen Neuzeit. In: Tina Asmussen- / Hole Rößler (Hrsg.): Scharlatan! Eine Figur der Relegation in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur. Frankfurt am Main 2013, S. 129-160, hier S. 136. 19 Marian Füssel: „Charlataneria eruditorum“. Zur sozialen Semantik des gelehrten Betrugs im 17. und 18. Jahrhundert. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), S. 119- 135. Füssel greift seinerseits zurück auf ältere Arbeiten, unter anderem Leonard Forster: „Charlataneria eruditorum“ zwischen Barock und Aufklärung in Deutschland. In: Sebastian Neumeister- / Conrad Wiedemann (Hrsg.): Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Bd. I. Wiesbaden 1987, S. 203-220. Lesenswert ist darüber hinaus Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998, S. 162-183. dieser Zeitspanne ist schwer zu geben, man kann „sowohl die pietistisch-theologischen wie die rationalistisch-sozialen Strömungen“ 20 der Zeit als Ursache sehen, „die gewachsene Öffentlichkeitswirksamkeit der Gelehrtenkultur“ 21 zu Beginn des 18. Jahrhunderts verantwortlich machen oder in der Verfolgung des Absonderlichen einen Reflex des „in der kameralistischen Wirtschaftstheorie formulierten Ziel[s] staatlicher Prosperität“ erkennen. 22 Für den Zweck der vorliegenden Studie stellt sich die Situation etwas einfacher dar, weil wir uns einzig dem Spezialfall der Dedikationen zuwenden und uns auf die besonderen Umstände der Widmungspraktiken konzentrieren können. 23 Auch Elias Silberrad beruft sich in seinem Proömium freilich auf die wenige Jahre zuvor erschienenen einflussreichsten Schriften zum Gesamtthema der gelehrten Scharlatanerie, Michael Lilienthals Abhandlung De Machiavellismo literario von 1713 und Johann Burckhardt Menckes zwei Reden De Charlataneria eruditorum von 1715, die bald unter dem Titel Von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten ins Deutsche übersetzt wurden. 24 Beide Schriften stellen für Silberrad wichtige Referenztexte dar, die Argumente und vielfach auch die zum Beleg für 20 Forster: Charlataneria (Anm. 19), S. 209. 21 Füssel: Charlataneria (Anm. 19), S. 130. 22 Rößler: Scharlatan (Anm. 18), S. 150. 23 Auf germanistischer Seite gibt es eine Reihe von Arbeiten, in denen auf die eine oder andere Weise das Dedikationswesen der Frühen Neuzeit behandelt wird. In der Regel werden die gelehrtenkritischen Aspekte der Widmungspraxis zwar angesprochen, aber nicht die (lateinischsprachigen) akademischen Debatten zum Thema reflektiert. Vgl. Heinrich Klenz: Gelehrte Kuriositäten. 3. Seltsame Dedikationen. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 5 (1913), S. 115-120; Hermann Riefstahl: Dichter und Publikum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dargestellt an der Geschichte der Vorrede. Limburg an der Lahn 1934; Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts. Münster 1953; Ulrich Maché: Author and Patron. On the Function of Dedications in Seventeenth-Century German Literature. In: James A. Parente [u. a.] (Hrsg.): Literary culture in the Holy Roman Empire, 1555-1720. Chapel Hill 1991, S. 195-205; Jutta Breyl: Dedikationen des 17. Jahrhunderts in Text und Bild. In: Albert Meier (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München und Wien 1999, S. 255-265, S. 625f.; Christian Wagenknecht: Widmung. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Berlin und New York 2003, S. 842-845. Burkhard Moennighoff: Die Kunst des literarischen Schenkens. Über einige Widmungsregeln im barocken Buch. In: Frieder von Ammon-/ Herfried Vögel (Hrsg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008, S. 337-352. - Vgl. auch aus interdisziplinärer Perspektive den Sammelband von Ignace Bossuyt (Hrsg.): „Cui dono lepidum novum libellum? “ Dedicating Latin works and motets in the sixteenth century. Leuven 2008. 24 Die stark erweiterte deutsche Fassung ist als Faksimile ediert worden. Vgl. Herrn Joh. Burckhardt Menckens Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten. Nebst verschiedener Autoren Anmerckungen. […] Leipzig o. J. [2. Aufl.: 1727; Neudruck: München 1981]. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 17 18 Robert Seidel die Gelehrtenlaster herangezogenen exempla werden markiert oder unmarkiert übernommen - der Plagiatsbegriff war zu dieser Zeit weniger streng als in den Zeiten des Urheberrechts und einer emphatischen Betonung des „geistigen Eigentums“. Silberrad geht von der fatalen und eigentlich, wie er meint, unbegreiflichen Neigung gerade der Gelehrten zu allerlei standestypischen Negativeigenschaften wie Pedantismus, Streitlust, Geldgier, Schreib- und Ruhmsucht aus und schließt die These an, dass der „dedicandi mos“, der Brauch, Bücher mit Widmungen zu versehen, den zuvor genannten Fehlentwicklungen innerhalb der Gelehrtenrepublik Vorschub leiste („vitiis non parum inserviat“). 25 Er wolle einige der unlauteren Motive der Widmungsschreiber bekannt machen, aber - so die wichtige Wendung am Schluss der Vorrede - zugleich belegen, dass der Brauch als solcher keineswegs verwerflich sei („dedicandi morem, abusum si tollas, haud spernendum esse evincimus“). 26 Damit wird bereits angedeutet, dass es Silberrad nicht in erster Linie um eine Polemik gegen groteske Auswüchse am Rande der Gelehrtenwelt zu tun ist, sondern dass er vielmehr, indem er legitime und verwerfliche Motive kontrastiv gegenüberstellt, regulierend auf bestimmte Praktiken innerhalb der respublica litteraria einwirken will. Um den Zusammenhalt unter den Gelehrten nicht zu gefährden, suggeriert er außerdem, dass es sich bei den geschilderten Verstößen gegen das decorum der Gelehrten um bedauerliche Einzelfälle („abusus“) handele. 27 4. Die Disposition der Thesenschrift wird durch Randglossen gut verdeutlicht, weshalb diese zunächst in Form eines Inhaltsverzeichnisses präsentiert werden sollen: 25 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 4. 26 Ebd., S. 5. 27 Dies macht der wiederholte Gebrauch der Pronominalform „quorundam“ deutlich: „[…] ut quorundam circa Dedicationes imposturas finesque spurios in apricum producamus“; „quae enim a nobis hic notantur quorundam vitia […]“ (ebd.). [PROOEMIUM] S. 1 [De MORALITATE DEDICATIONUM LITERARIARUM] S. 5 <§1> Nomen et origo Dedicatt. [Dedicationum] S. 5 <§2> VITIA DEDICATIONUM S. 7 1. Vanae gloriae studium S. 7 <§3> Signa ex quibus cognoscitur S. 8 <§4> 2. Pecuniae Aucupium 28 S. 9 <§5> Effectus Avaritiae S. 12 1. Animi Ingratitudo S. 12 <§6> 2. Ludibrium aliorum S. 13 <§7> Vindiciae pro quibusdam dedicantibus S. 14 <§8> Dedicatio Sociniani Catech<ismi> S. 16 <§9> VIRTUTES DEDICANTIUM S. 17 1. Pietas S. 17 <§10> 2. Animi Gratitudo S. 18 <§11> 3. Animi veneratio, per quaesit<um> libri ded<icati> patrocin<ium> S. 20 <§12> VIRTUTES PATRON<ORUM> CIRCA DEDIC<ATIONES> S. 22 <§13> VITIA EORUM QVOS DEDIC<ATIONIBUS> COMPELL<AMUS> S. 24 <§14> CAUTELAE PRUDENTIAM CIRCA DEDICATIONES FORMANTES S. 27 I. S. 27 <§15> II. S. 28 <§16> III. S. 28 <§17> IV. S. 30 Diese Gliederung ist dem Tenor des Proömiums entsprechend auf Ausgewogenheit bedacht. In chiastischer Anordnung folgen vier Hauptkapitel aufeinander: Behandelt werden die „vitia dedicationum“, die „virtutes dedicantium“, die „virtutes patronorum circa dedicationes“ und die „vitia eorum quos dedicationibus compellamus“. Der Text nimmt also zunächst die Produzenten der Widmungsschreiben in den Blick, tadelt Ruhmsucht und Geldgier und lobt lau- 28 Der Abschnitt reicht bis ebd., S. 14. Die ebenfalls mit arabischen Ziffern gekennzeichneten Auswirkungen der Habgier („Effectus Avaritiae“) bilden eigentlich Unterpunkte. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 19 20 Robert Seidel tere Motive wie die Dankbarkeit gegenüber den Gönnern. Der Blick auf die Gönner beschreibt in umgekehrter Folge zunächst deren lobenswerte Aspekte wie die vielerorts zu beobachtende Liebe der Fürsten zur Gelehrsamkeit, bevor zum Schluss einige negative exempla adeliger Bildungsfeindlichkeit präsentiert werden. Bei der quantitativen Aufteilung der Abschnitte fällt zunächst auf, dass den Widmungsschreibern dreimal so viel Raum zugewiesen wird wie den Widmungsempfängern, womit Silberrad dem vorherrschenden Aspekt der akademischen Selbstverständigung Rechnung trägt. Deutlich wird das gerade auch im Abschnitt über die Bildungsfeindlichkeit der Adligen, deren Grund zumindest teilweise ebenfalls im Fehlverhalten der Gelehrten verortet wird. Es gebe für diese misslichen Umstände eine doppelte Ursache, nämlich excrescens nimium scriptitantium multitudo, ostia Principum impudentius quandoque pulsans, et sinistra de studiis, Principum animos occupans opinio; postquam aures praebere ceperunt quibusdam male feriatis et, literas quippe ignorantibus, literarum bonarum contemtoribus, infra dignitatem Principis esse disciplinis applicare animum blaterantibus; et indecorum esse illustres animas onerare studiis, iis relinquendis, qui non vitae sed scholae nati; Imperatorem non literas sed arma debere nosse; defectum doctrinae ministros in consilium adhibitos supplere posse, garrientibus. 29 Für die Publikationsschwemme des beginnenden 18. Jahrhunderts war in der Tat die „Schreibsucht“ der Gelehrten selbst verantwortlich zu machen, während die falschen Einflüsterungen auf das Konto jener Höflinge gingen, die den seit dem 16. Jahrhundert propagierten Paradigmenwechsel hin zur profunden Adelsbildung offenbar nicht mitgemacht hatten. Indirekt wird hier ein Schulterschluss von Universität und Hof gefordert, mit dem Ziel, dem Fürsten jenes Maß an gelehrter Bildung zuteil werden zu lassen, dessen er für eine gute Amtsführung bedarf - und von dem letztlich auch eine angemessene Würdigung des Gelehrtenstandes zu erhoffen ist. Angesichts der klar geäußerten Intention einer Kritik verfehlten Verhaltens mag es des Weiteren überraschen, dass die „Fehler der Widmungsschreiber“ im Grunde nicht ausführlicher behandelt wer- 29 Ebd., S. 25: „die zu sehr anwachsende Menge der Schreiberlinge, die zuweilen allzu unverschämt an die Türen der Fürsten klopft, und die ungünstige Meinung über die Studien, die von den Fürsten Besitz ergreift, nachdem sie angefangen haben, einigen unnützen und die Wissenschaften überhaupt nicht beherrschenden Leuten ihr Ohr zu leihen, Verächtern der schönen Wissenschaften, die daherschwatzen, dass es unter der Würde eines Fürsten sei, sich der Gelehrsamkeit zuzuwenden, und plappern, dass es sich nicht zieme, erhabene Gemüter mit den Studien zu belästigen, welche jenen zu überlassen seien, die nicht für das Leben, sondern für die Schule geboren seien, und dass ein Feldherr nicht die Wissenschaften, sondern die Waffen kennen müsse, und dass die Minister, die zum Rat hinzugezogen würden, das Fehlen von Kenntnissen ausgleichen könnten.“ (Alle Übersetzungen in dieser Studie stammen vom Verfasser.) den als die „Tugenden der Widmungsschreiber“, denn der auf Seite vierzehn beginnende Passus über die Rechtfertigungsgründe bildet eigentlich bereits einen Übergang und die Episode über die provozierend gemeinte Widmung des sozinianischen Katechismus an die lutherische Universität Wittenberg 30 erzählt von einem Sonderfall. Deutlich wird an den beiden zentralen Vorwürfen, die man vielen Widmungsschreibern machen kann - Ruhmsucht und Geldgier, 31 die Anknüpfung an die Schriften von Mencke, Lilienthal und anderen, von denen es im Proömium hieß: „Qui omnes id strenue agunt, ut larva detracta, inanes pudendasque <doxophilias> et <philargyrias> eruditorum artes omnium oculis conspiciendas sistant.“ 32 Während die Abschnitte über die gelehrten Widmungsschreiber klar normativ organisiert sind, haben die Ausführungen über die Widmungsempfänger eher deskriptiv-anekdotischen Charakter, allerdings werden auch hier Forderungen wie die nach einer höheren Bildung des Adels formuliert. Etwas ungewöhnlich präsentiert sich schließlich der letzte Teil des Thesendruckes: An der Stelle der eine dissertatio häufig abschließenden corollaria, ergänzender Thesen mit lockerem Bezug zum Hauptteil, findet sich ein Abschnitt mit vier cautelae, praxisbezogenen Ratschlägen, auf die später eingegangen werden soll. - Einen Hinweis verdient noch der bereits als Überleitungspassus benannte Paragraf „Vindiciae pro quibusdam dedicantibus“. 33 Hier bemerkt man nicht nur den apologetischen Ton, sondern auch eine Art von Scham angesichts des Umstandes, dass die notorisch geldknappen Gelehrten sich ihre Widmungen zuweilen bezahlen lassen müssen. Wenn es als besonderer Fall herausgestellt und mit Zitaten belegt wird, dass manche Autoren „ut familiam alant, mercede a mercatoribus invitati libros scribunt“, 34 erscheint der Gedanke an den „Verkauf“ einer Buchwidmung besonders fragwürdig. Silberrad belegt die prekäre finanzielle Situation der gelehrten Autoren mit den denkbar unverdächtigsten Zeugnissen: Eingerahmt von bekräftigenden Sentenzen aus der Antike präsentiert er mehrere Dokumente, in denen er „unicum Erasmi patria Roterodami exemplum“ 35 als Gewähr für die Ausweglosigkeit einer Gelehrtenexistenz vorführt. Die einschlägigen Zitate aus Erasmus’ Briefen und sonstigen Schriften werden in den Fußnoten minuziös nachgewiesen, so als wollte Silberrad diese heikelste Frage 30 Ebd., S. 16f. 31 Ebd., S. 7-14. 32 Ebd., S. 2: „die sich alle eifrig darum bemühen, die Maske herunterzureißen und die nichtigen und schmählichen Künste der Gelehrten - nämlich der Ruhmsucht und der Geldgier - vor aller Augen sichtbar vorzuführen.“ 33 Ebd., S. 14-16. 34 Ebd., S. 14. Diesen „Fall“ des Heidelberger Gräzisten Wilhelm Xylander belegt Silberrad durch die Zeugnisse von Joseph Justus Scaliger und Pierre Daniel Huet. 35 Ebd. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 21 22 Robert Seidel gelehrter Selbstpositionierung ausschließlich mit der unangreifbaren Autorität des Erasmus, doch mit umso zuverlässigeren Belegen, beantworten. Tatsächlich stößt der nachschlagende Leser in dieser Dokumentation auf ein bewegendes Zeugnis aus der Feder des großen Humanisten, die sorgfältige apologetische Auflistung seiner Widmungen und der Absichten, die er mit diesen verfolgt oder nicht verfolgt hat. 36 5. Im Folgenden soll die These, wonach die Disputation auf eine Selbstverständigung der Gelehrten abzielt, an drei Beispielen belegt werden, die auf Aspekte der Textualität beziehungsweise Materialität gegründet sind. Vorab sei darauf hingewiesen, dass Silberrads dissertatio ebenso wie vergleichbare Schriften - beispielsweise Jans De fatis dedicationum librorum - kompilatorischen Charakter hat, weshalb die spezifische Nutzung bestimmter Überlieferungsbausteine durch Vergleich recht anschaulich dargestellt werden kann. Hingegen ist eine genaue Rekonstruktion des Weges, den die Quellen jeweils genommen haben, nicht möglich, da Silberrad und seine Kollegen keineswegs nur die bekannten Abhandlungen von Lilienthal und Mencke ausschlachteten und außerdem immer damit gerechnet werden muss, dass sie auch die Originaldokumente - etwa zeitgenössische Gelehrtenbriefsammlungen - konsultierten. Nachweise in den Fußnoten können, müssen aber nicht Anhaltspunkte für den Rückgriff der Autoren auf die ursprünglichen Quellen sein. 37 (a) Im Kapitel über die angebliche Geldgier der Widmungsschreiber wird die in vielen gelehrtenkritischen Schriften tradierte Episode von dem französischen Humanisten François Hotman und dem kurpfälzischen Rat Justus Reuber erzählt. 38 Die offenbar zwischen beiden vereinbarte Zahlung einer Geldsumme 36 Silberrad verweist in einer Fußnote auf Erasmus’ Schrift Catalogus lucubrationum in der (Sammel-)Ausgabe Antwerpen: Keyser 1537 sowie auf eine Quelle, die daraus zitiert. Der Rezeptionsgeschichte von Erasmus’ offenbar wirkmächtiger Apologie wäre gesondert nachzugehen. 37 Forster: Charlataneria (Anm. 19), S. 206, geht mit den gelehrtenkritischen Dissertationen hart ins Gericht und beklagt vor allem, „wie sehr sie an den Unarten kranken, die sie anzugreifen vorgeben. Die meisten bestehen aus einer bloßen Materialsammlung ohne sinnvolle Gruppierung […]. Dabei schreiben sich die Dissertanten fleißig gegenseitig aus. Die ganze Dissertation sieht dann aus wie eine ausgeschriebene Kartei.“ Als Fundgruben für Belegstellen führt Forster zwei größere Kompendien aus dem Jahr 1718 an, die Silberrad wegen des gleichzeitigen Erscheinens wohl nicht mehr benutzt haben kann: Johann Adam Bernhard: Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten […]. Frankfurt am Main 1718; Johann Gottfried Büchner: Schediasma historico-literarium de vitiorum inter eruditos occurrentium scriptoribus. Leipzig 1718. 38 Zu Reuber vgl. Peter Zimber-/ Claus D. Hillebrand: Ein Westfale als kurpfälzischer Kanzler: Justus Reuber (1542-1607). In: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 16 (2012), S. 47-60. für die Dedikation eines der Werke Hotmans an Reuber kam nicht zustande, weil dem Rat der Preis letztlich zu hoch war. Quelle für die Anekdote ist - unter anderem - die gedruckte Korrespondenz Hotmans, 39 auf die die Autoren zuweilen explizit verweisen. Allerdings wird die Geschichte und zugleich ihre Kommentierung nicht selten auch auf anderem Wege überliefert. Die Passage bei Silberrad sei hier vollständig zitiert: Fr. Hottomannum fatis melioribus dignum virum rogaverat Just. Reuberus, ut sui mentionem publice injiceret, seque, quod risu sane dignum, elogio quodam dignaretur; is ergo simplicitatem hanc et inane gloriae studium, in suos convertendum usus existimans, quas venales habuit laudes, in dedicatione Observationum ad ipsum facienda, ea cum conditione Reubero addixit, si centum Joachimicos praemij loco solvere promitteret. Verum noluit Reuberus tanti emere laudum suarum, quarum alioquin erat appetentissimus cantilenas. Eundem animi characterem in F. Hottomanno etiam notavit A. Teissier. Consil. et Historiogr. Pruss. inter alia haec quoque de ipso observans: On voit aussi dans ces lettres qu’il faisoit un negoce de ses Epîtres Dedicatoires, comme plusieurs autres Auteurs, et qu’il cherchoit par tout des Mecenas à qui il put offrir utilement ses livres; qu’il sollicitoit ceux qui étoient auprès des Princes à luy procurer des recompenses considerables, et que lors qu’elles ne repondoient à son atente, il s’en plaignoit et revenoit à la charge. Il paroit par sa lettre 164. qu’il avoit voulu dedier son livre des observations à Reuberus Chancelier du Palatinat, pourveu que Reuberus luy fit présent de cent écus d’or. Mais qu’il luy avoit fait connoître que bien qu’il estimat beaucoup ses louanges, l’état de ses afaires ne luy permettoit pas de les achepter à un si haut prix. Cependant Reuberus luy envoya ensuite trois doubles Ducats d’Arragon pour ses Etrennes. Voyez la lettre 194. 40 39 Francisci et Joannis Hotomanorum, patris ac filii, et clarorum virorum ad eos epistolae […]. Amsterdam 1700, S. 211f. (Nr. 164: Reuber an Hotman, 24. März 1588); S. 230-232 (Nr. 181: Reuber an Hotman, 1. April 1589); S. 244f. (Nr. 194: Reuber an Hotman, 15. Januar 1590). Diese Schreiben wie überhaupt alle zwischen Reuber und Hotman gewechselten Briefe bieten ausgezeichnetes Anschauungsmaterial für die komplexen Verpflichtungsstrukturen innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik. Es wird bei Lektüre der Originaldokumente schnell klar, dass die Nutzung dieses Quellenfundus durch die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts stark interessengeleitet und keinesfalls um eine objektive Ausleuchtung der Verhältnisse bemüht war. 40 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 9f. „François Hotman, einen Mann, der ein besseres Schicksal verdient hätte, hatte Justus Reuber darum gebeten, dass er eine Erwähnung seiner Person öffentlich verlauten lasse, und dass er ihn, was in der Tat lächerlich ist, irgendeines Lobspruches würdige. Der nun glaubte diese Einfalt und nichtige Ruhmsucht zu seinem Vorteil nutzen zu müssen und sagte Reuber das Lob, das er für verkäuflich hielt, in der Widmung seiner Observationes, die er ihm zuschreiben würde, unter der Bedingung zu, dass er ihm als Lohn hundert Joachimstaler zu zahlen verspreche. Aber Reuber wollte den Lobgesang seines Ruhmes, dessen er sonst so begierig war, nicht für so viel Geld kaufen. Denselben Charakterzug tadelte bei François Hotman auch der preußische Rat und Historiograph Antoine Teissier, als er unter anderem auch Folgendes über ihn vermerkte: ‚Man sieht auch in seinen Briefen, dass er ein Geschäft mit seinen Widmungsschreiben machte, wie mehrere andere Autoren, und dass er überall Mäzene Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 23 24 Robert Seidel Silberrad erzählt die Geschichte im Grunde zweimal, zunächst im - nicht markierten - Rückgriff auf Lilienthal, der die Anekdote als Beispiel für Menschen anführt, „qui non nisi aliorum Panegyricis volunt inclarescere“, 41 und im Kontext seiner Ausführungen Hotman nicht angreift, ja sein Handeln in der Affäre überhaupt nicht erwähnt. 42 Demzufolge wird auch in dieser ersten Erzählung nicht Hotman Gegenstand der Kritik, sondern Reuber, der ja von sich aus in lächerlicher Weise („quod risu sane dignum“) Hotman um die Widmung angegangen sei. Diesem sei dann praktisch nichts anderes übrig geblieben, als die Ruhmsucht des Rates zum eigenen Nutzen zu verwenden („inane gloriae studium, in suos convertendum usus existimans“). Dass Reuber die Widmung letztlich wegen des zu hohen Preises ablehnte, wird dann ziemlich unverhüllt als Geiz bewertet. Scheinbar zur bloßen Illustration des Vorgangs zitiert Silbersuchte, denen er mit Gewinn seine Bücher anbieten konnte, dass er diejenigen, die den Fürsten nahe standen, darum ersuchte, ihm stattliche Belohnungen zu vermitteln, und dass er, wenn diese seiner Vorstellung nicht entsprachen, sich beklagte und nachhakte. Es wird aus seinem Brief Nr. 164 klar, dass er sein Buch der Observationes dem kurpfälzischen Kanzler Reuber hatte widmen wollen unter der Bedingung, dass Reuber ihm dafür hundert Goldtaler schenke, dass aber jener ihn hatte wissen lassen, dass, obgleich er sehr seine Lobeserhebungen schätze, seine Vermögenslage ihm nicht gestatte, sie zu einem so hohen Preis anzunehmen. Dennoch schickte Reuber ihm später drei aragonensische Dukaten als Neujahrsgeschenk. Siehe den Brief Nr. 194.‘“ 41 Michael Lilienthal: De Machiavellismo literario, sive De perversis quorundam in Republica Literaria inclarescendi artibus dissertatio historico-moralis. Königsberg und Leipzig 1713, S. 57. Lilienthal fordert, echte Gelehrsamkeit solle nicht der fremden Empfehlung bedürfen, und bekräftigt diese Mahnung mit unserem Fall als Negativbeispiel: „Unde nullo modo probari potest Justi Reuberi simplicitas et inane gloriae studium, dum ipse a Franc. Hottomanno petiit, ut sui mentionem publice injiceret, seque, quod ridiculum maxime est, encomio quodam dignaretur“ (ebd., S. 57f.; dazu Fußnote: „Vid. Epistolas Hottomannianas Epist. 181. p. 231. et Epist. 164. p. 211.“). Zu Lilienthal vgl. Marti [u. a.]: Rhetorik (Anm. 2), S. 422-425. 42 Bei Mencken, den Silberrad für dieselbe Stelle ebenfalls benutzt, ist die Kritik auf Reuber und Hotman verteilt, vgl. die oben genannte deutsche Ausgabe (Anm. 24), S. 65f., sowie die Silberrad zur Verfügung stehende lateinische Version: De Charlataneria eruditorum declamationes duae. Leipzig 1715, S. 23f. Mencke dient Silberrad als Quelle für die generelle Kritik an jenen Autoren, „qui dum donant suos libellos Maecenatibus, tantum abest ut donent, ut potius immenso pretio vendant, chartaceis quippe munusculis istis munera aurea, torques, uniones captantes“. Anstatt wie Lilienthal - und mit ihm Silberrad - die Initiative für das Widmungsgeschäft Reuber zuzuschreiben, weist er sie eher Hotman zu: „Itaque diligenter expiscantur, quos omnium gratissimos habituri sint inscriptionum suarum remuneratores, quod in Francisco Hotomanno patuit, qui Observationes suas dedicaturus erat Justo Reubero, si centum ab eo Joachimicos praemii loco acciperet.“ Auch der Autor einer weiteren von Silberrad ebenfalls gelegentlich (hier jedoch nicht) genutzten Materialsammlung (Observationes selectae ad rem litterariam spectantes. Bd. III. Halle 1701, S. 15) mokiert sich über beide Akteure, den ruhmsüchtigen Beamten und den käuflichen Gelehrten. rad danach aus einer dedikationenkritischen Quelle, 43 die die Episode ebenfalls berichtet, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Demnach sei das Angebot von Hotman ausgegangen, der „faisoit un negoce de ses Epîtres Dedicatoires“ und „cherchoit par tout des Mecenas à qui il put offrir utilement ses livres“. Reuber hingegen habe sich großzügig gezeigt, indem er zwar den hohen Preis aus nachvollziehbaren Gründen nicht zahlte, aber dem Anbieter umsonst ein kleineres Geldgeschenk überreichte. Mit dieser gelehrtenkritischen Alternativversion untergräbt Silberrad eigentlich die Position des eigenen Standes. Es war ihm offenbar wichtiger, verschiedene Perspektiven auf einen heiklen Vorgang zu eröffnen, wozu er sich der Technik des repetitiven Erzählens bediente. Dies scheint eine Besonderheit in der Verwertungsgeschichte dieses „Falles“ zu sein. Auch Jan, der der Anekdote einen ganzen Paragrafen widmet und ebenfalls beide Akteure kritisiert, verfährt anders, indem er zwar mehrere Quellen auswertet und einen ganz neuen Akzent einbringt - nämlich den Anspruch der Buchhändler, an den Dedikationen mitzuverdienen -, die Geschichte selbst aber nur einmal erzählt. 44 (b) Wenige Seiten später referiert Silberrad allerlei satirische Schriften, die sich über die Geldgier der Widmungsschreiber mokieren. Wie nicht anders zu erwarten, wird hierunter auch Antoine Furetières Roman bourgeois von 1666 aufgeführt, welcher bekanntlich eine „Somme dédicatoire“ mit ironischen Anweisungen für das möglichst einträgliche Verfassen von Widmungsschriften (genau genommen deren fiktives Inhaltsverzeichnis) sowie ein parodistisches Muster eines Dedikationsschreibens enthielt, nämlich die Widmung eines Werkes an den Henker von Paris. 45 Als Begründung für dieses parodistische Vorgehen führt er an, id non alio factum ab ipsis [Furetière und Scarron, der eine ähnliche Parodie verfasste] fine est, quam ut in scriptores quosdam misellos, adulatoriis suis dedicationibus 43 Antoine Teissier: Nouvelles additions aux eloges des Hommes savans tirez de l’histoire de Mr. De Thou […]. Berlin 1704, S. 255. 44 Daniel Friedrich Jan: De fatis dedicationum librorum, sive Von denen Zuschrifften derer Gelehrten-/ Dissertatio historica et litteraria. Wittenberg 1718, S. 12f. 45 Die berühmt-berüchtigte satirische Anleitung wird auch im Widmungskapitel von Genettes Seuils gewürdigt. Vgl. die deutsche Ausgabe: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main 2001, S. 115-140 („Widmungen“), hier S. 118f. Ebenfalls auf Furetière bezieht sich der wichtige, von dem Romanisten Wolfgang Leiner stammende Artikel „Dedikation“ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 2), Sp. 452-457. Vgl. auch die Monographie von Wolfgang Leiner: Der Widmungsbrief in der französischen Literatur (1580-1715). Heidelberg 1965. Leiner geht auf alle problematischen Aspekte des Dedizierens aus romanistischer Perspektive gründlich ein, berücksichtigt das akademische (lateinischsprachige) Schrifttum allerdings praktisch gar nicht. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 25 26 Robert Seidel Magnatibus subinde molestos, eosque hoc pacto, utut conatu saepius irrito, nummis emungere sperantes, calamum liberius stringere, eosque risui exponere possent. Digni profecto quos omnes rideant, imo digni quibus omnes indignentur, qui tam turpiter literas prostituunt, invidiamque universo ordini literario apud alios perversis moribus suis contrahunt. 46 Silberrad unterstellt also dem Autor Furetière, er habe seine Satire aus keinem anderen Grunde („non alio […] fine“) verfasst, als um jene Schreiberlinge zu verspotten, die mit ihren Schmeicheleien die Großen der Welt belästigten. Seine Invektive gegen diejenigen, „qui tam turpiter literas prostituunt“, fällt ungewöhnlich scharf aus. Die Formulierungen „perversis moribus“ und „ordini literario“ zeigen deutlich, dass das Standesethos der Gelehrten hier über die verständlichen Interessen der Widmungsschreiber gestellt wird. Der in der Realität akzeptierte Tauschcharakter der Dedikation wird erst recht abgelehnt, wenn Silberrad sogleich einen Beleg für die angemessene Rache der angeblich mit solchen Anerbietungen belästigten Adressaten hinzufügt: Papst Leo X. habe einem Autor, der ihm sein Buch über die Goldmacherkunst gewidmet habe, als Gegengabe boshafter Weise einen Sack geschickt, in dem dieser das mit seiner Kunst zu verfertigende Gold aufbewahren könne. 47 Nachdem Silberrad auf diese Weise die Gepflogenheit des Dedizierens mit hämischen Worten geschmäht hat, ruft er sich freilich selbst zur Ordnung: Absit vero omnes, qui, ut munera obtineant sua aliis scripta dedicant, in eadem collocemus classe, vel facti turpis accusemus. Injurij sane ratione hac in eos essemus, quos sors qua vivunt iniqua, ad hoc vel invitos compellit. 48 Genau diese Ansicht, dass nämlich keineswegs alle diejenigen, die für Geld Widmungen verfassten, aus niedrigen Beweggründen handelten, dass vielmehr die materielle Not der Autoren durchaus als probater Rechtfertigungsgrund zu 46 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 13f. „dies sei von ihnen [Furetière und Scarron, der eine ähnliche Parodie verfasste] mit keiner anderen Absicht getan worden, als um gegen einige erbärmliche Schreiber, die mit ihren schmeichlerischen Widmungen den Großen oft lästig fielen und diese auf solche Weise - wenngleich häufiger mit fehlschlagenden Versuchen - um Geld zu prellen hofften, ihre Feder freimütiger zücken und sie dem Gelächter aussetzen zu können. Sie haben es in der Tat verdient, dass alle sie auslachen, vielmehr sogar, dass alle sich über sie empören, die so schändlich die Wissenschaften feilbieten und dem gesamten gelehrten Stand durch ihre abartigen Angewohnheiten bei anderen Menschen Hass zuziehen.“ 47 Ebd., S. 14. 48 Ebd. „Es sei aber fern, dass wir alle, die, um Gegengaben zu erhalten, ihre Schriften anderen widmen, in dieselbe Klasse einstufen oder sie einer schändlichen Handlung bezichtigen. Auf diese Weise wären wir nämlich ungerecht gegenüber denjenigen, die das ungerechte Schicksal, unter dem sie leben, gegen ihren Willen dazu treibt.“ akzeptieren sei, vertrat ja auch der von Silberrad als Gewährsmann für die Gelehrtenkritik herangezogene Furetière. Auch wenn Silberrad, wie man vermuten kann, nicht den ganzen Roman, sondern nur das fiktive Widmungsschreiben gelesen hatte, 49 hätte er gerade hieraus die doppelte Stoßrichtung der Kritik - gegen Widmungsschreiber und Mäzene - entnehmen müssen und den Verfasser nicht explizit auf eine einzige Absicht festlegen dürfen. So heißt es bei Furetière in einer ganz ironiefreien Passage: „[…] l’injustice du siecle est si grande que beaucoup d’illustres, abandonnez de leurs Mecenas, languissent de faim, et, ne pouvant supporter leur mépris et la pauvreté, ils sont reduits au desespoir.“ 50 Eine objektive Wiedergabe von Furetières Text lag freilich nicht in Silberrads Interesse. Vielmehr bedient er sich rhetorisch geschickt der häufig zitierten Anekdote von der parodistischen Widmung an den Henker, um zunächst, auf diese Autorität gestützt, eine kritische und spöttische Haltung gegenüber den Widmungsschreibern zu provozieren. Umso überraschender kommt einige Zeilen später dann die revocatio („Absit vero“), die den Leser womöglich auf sein eigenes Vorurteil hinweist. Silberrad bedient sich hier, was die Leserlenkung angeht, gegenüber der Hotman-Reuber-Episode eines umgekehrten Verfahrens: Er lässt eine empathische, identitätsstiftende Argumentation erst folgen, nachdem er zuvor in gezielt einseitigem Rekurs auf Furetière - und damit in provokanter Weise - ein finsteres Bild des geldgierigen Autors gezeichnet hat. Wiederum bleibt es den Lesern beziehungsweise den Teilnehmern und Zuhörern der Disputation überlassen, sich aufgrund eigener Erfahrung und eigener Überlegungen ihr Urteil zu bilden. (c) In Bezug auf ihre Textualität auffällig ist auch die dritte Passage, auf die ich eingehen möchte: Im Abschnitt über die lobenswerten Widmungsempfänger wird das Beispiel Heinrichs IV. von Frankreich erwähnt, der dem Gelehrten 49 Er führt in einer Fußnote eine zeitgenössische Sammlung von französischen Briefen an, in der auch eine Rubrik „Epîtres Dédicatoires“ enthalten ist, die mit den beiden fiktiven Widmungsschreiben von Scarron und Furetière abgeschlossen wird. Die mir vorliegende, etwas spätere Ausgabe weist gegenüber der von Silberrad benutzten eine leicht veränderte Paginierung auf: Les plus belles lettres françoises sur toutes sortes de sujets, tirées des meilleurs auteurs, avec des notes, par P. Richelet. Bd. I. 5. Aufl. Amsterdam 1721. Der Brief Furetières findet sich hier auf S. 251-256. Vgl. Antoine Furetière: Le roman bourgeois, ouvrage comique […]. Paris o. J. [1955], S. 228-231. 50 Ebd., S. 230. - Vgl. Ulrich Döring: Antoine Furetière. Rezeption und Werk. Frankfurt am Main [u. a.] 1995, S. 380-384. Döring arbeitet die doppelte Fokussierung des Romans und vor allem der parodistischen Widmungsepistel heraus: „Die Verfasser besagter Lobreden werden als verlogene Scharlatane gegeißelt, während die Gepriesenen selbst mit Schmähungen wie ‚faquins‘, ‚voleurs‘ und ‚coquins‘ bedacht werden. […] Aus der ‚Epistre dedicatoire‘ spricht Verbitterung und Wut, ja Haß auf seine Schriftstellerkollegen wie auf die Großen und Reichen, die ihre Aufgabe als Mäzene nicht erfüllen.“ (S. 382) Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 27 28 Robert Seidel Johannes Casaubonus für die Widmung seiner Polybios-Ausgabe eine hohe Geldsumme gewährte. 51 Gemäß dem Moralitätsdiskurs, dem Silberrad in der Regel folgt, ist der Fall unproblematisch: Ein gebildeter Monarch belohnt den gleichfalls über alle Zweifel erhabenen Philologen mit einer würdigen Gegengabe. Gleichwohl hält es Silberrad hier für angebracht, nicht nur die Quelle für seine Informationen nachzuweisen, 52 sondern in einer eigenen Anmerkung auch auf die außergewöhnliche Qualität des Widmungsschreibens selbst aufmerksam zu machen: Quae [nämlich die Widmung] T. III. in Edit. Polybij Gronoviana exhibetur et reliquas hujus generis scriptiones in eo longe superat, quod cum rerum tractatarum gravitate (Historiam enim Rerump. Rectoribus prae caeteris disciplinis studiose cognoscendam commendat, vid. p. 51.) 53 omnem fere exhauriat latinitatem, et formandi styli exemplum praebeat plane eximium. Ampliori hinc totius operis et exactae tractationis elogio digna visa B. BOECLER. nostro Hist. Princ. Sch. C. 1. §. 2. extr. p. 10. add. p. 120. et 153. 54 Freilich war Silberrad zu dieser Rühmung der über sechzigseitigen Widmungsvorrede durch eine andere Quelle motiviert worden, 55 entscheidend ist jedoch, dass er hier den Diskurs De moralitate verlässt und - bezeichnender Weise in einer Fußnote - eine ganz neue Option eröffnet: Die Rechtfertigungsfrage lässt 51 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 22f. 52 In einer Fußnote ebd., S. 23 wird, wie häufig, als Quelle eine zeitgenössische Briefausgabe genannt: „Vid. Casp. WASERI Epist. inter Clarorum Virr. ad Melch. Goldast. e Bibl. Thulemar. editas CCLIX. p. 311.“ Vgl. Virorum cll. et doctorum ad Melchiorem Goldastum […] epistolae ex bibliotheca Henrici Günteri Thülemarii, JC. Editae […]. Frankfurt am Main und Speyer 1688, S. 311: „Dn. Casaubonum pro dedicatione et inscriptione a Rege <basilikos> donatum mille aureis intelligo. Utinam multi tales existant Maecenates! “ 53 Polybii […] historiarum tomus tertius, continens […] notas utriusque Casauboni in Polybium, accurante Jacobo Gronovio. Amsterdam 1670, S. 51: „plane ille liber [6. Buch] omnibus Principibus, ducibus et Politicis non legendus, sed ad verbum est ediscendus.“ Die „Dedicatio“ Casaubons umfasst die Seiten 3-69. 54 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 22. „Diese [nämlich die Widmung] steht in Band 3 von Gronovius’ Ausgabe des Polybios und übertrifft die übrigen Schriften dieser Art darin bei weitem, dass sie im Zusammenspiel mit der Würde der behandelten Gegenstände (denn sie empfiehlt den Lenkern der Staaten die Geschichte vor den übrigen Disziplinen gründlich zu studieren, siehe S. 51) fast den ganzen Reichtum der lateinischen Sprache ausschöpft und ein wirklich hervorragendes Muster zur Stilbildung abgibt. Daher erschien sie unserem seligen Boecler eines weitläufigeren Lobes des ganzen Werkes und seiner gründlichen Darstellung würdig; vgl. Historia, Principum Schola, Kap. 1, § 2, Auszug S. 10, außerdem S. 120 und 153.“ 55 Johann Heinrich Boecler: Tractatus quidam posthumi. Frankfurt am Main 1709, S. 10, S. 120, S. 153. Der Vergleich zeigt, dass der zentrale Teil der Würdigung nicht aus Boecler abgeschrieben ist, also möglicherweise von Silberrad selbst stammt. sich für den Widmungsschreiber offenbar umgehen, wenn er einen sachlich und stilistisch herausragenden Text abliefert. Das Kriterium der Qualität der dedicatio wird, konsequent weitergedacht, zum unangreifbaren Legitimationsargument, die Widmungsvorrede hat mithin das Potenzial zum Paratext eigenen Rechts. Diese in der modernen Forschung selbstverständliche Einschätzung gilt mutatis mutandis für eine nicht unerhebliche Zahl von Dedikationen frühneuzeitlicher Schriften. Ulrich Maché weist etwa für Martin Opitzens Schäfferey von der Nimfen Hercinie darauf hin, dass in der Widmungsvorrede „the passages that articulate the act of offering this book to the patron amount to less than fifteen percent of what appears to be a dedicatory letter. In the remaining eighty-five percent of the text Opitz addresses topics related to his literary reform, issues that one would expect to find in a preface.“ 56 Um dieser Bedeutung Rechnung zu tragen, nimmt die kürzlich abgeschlossene Ausgabe der lateinischen Schriften von Martin Opitz grundsätzlich alle lateinisch geschriebenen Widmungen des Autors, auch die zu deutschsprachigen Schriften gehörenden, auf; die wissenschaftliche Kommentierung dieser Texte geht auf rhetorisch-stilistische, pragmatisch-funktionale und sachlich-thematische Aspekte gleichermaßen ein. 57 Im frühen 18. Jahrhundert forderte die Konfrontation mit dem Phänomen des Widmungsschreibens hingegen offenbar eine Leserentscheidung heraus: Die drängende Frage nach der „Moralität“ von Dedikationen beschäftigte die Gelehrten; ihre kritische Haltung ist als Ausdruck eines Selbstverständigungsprozesses innerhalb der respublica litteraria zu sehen, der vor allem verhaltensethische Unzulänglichkeiten auf beiden Seiten - bei Schreibern wie Adressaten - in den Blick nahm. Die epistemologische Perspektive, aus der heraus die Widmungsvorrede beispielsweise als Ort grundsätzlicher, auch unorthodoxer Reflexionen über den behandelten Gegenstand eine wichtige Funktion einnehmen konnte, existierte unabhängig davon und musste im Diskurs der gelehrten (Selbst)kritik in den Fußnotenapparat abgedrängt werden. 6. Der Aspekt der akademischen Selbstverständigung findet sich auch in den „lokalen Bezügen“, die fast systematisch in den Thesendruck integriert erscheinen. 58 Die intendierte enge Verflechtung zwischen dem Adel der Geburt, dem 56 Maché: Author (Anm. 23), S. 197. 57 Martin Opitz: Lateinische Werke […]. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Veronika Marschall und Robert Seidel. 3 Bde. Berlin und New York 2009-2015. 58 Die Person Silberrads und speziell die hier behandelte Dissertation sind nicht Gegenstand eines jüngst erschienenen Sammelbandes, der für die Erkundung der akademischen Verhältnisse im Straßburg des frühen 18. Jahrhunderts freilich stets zu Rate zu ziehen ist: Hanspeter Marti-/ Robert Seidel (Hrsg.): Die Universität Straßburg zwischen Späthumanismus und Französischer Revolution. Köln [u. a.] 2018. In diesem Band wird beispielsweise der von Silberrad rühmend erwähnte Straßburger Professor Johann Heinrich Boecler (1611-1672) ausführlich behandelt. Vgl. zu Boecler jetzt auch Wilhelm Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 29 30 Robert Seidel - wenn man so will - Adel des Geldes und dem Adel des Geistes wird durch die Wahl der Bezugspersonen im städtischen Kontext anschaulich gemacht: Wer im seit 1681 französischen Straßburg auf ideale - das heißt bildungsbeflissene - Herrscher hinweisen wollte, tat gut daran, Könige wie Heinrich IV. oder den jüngst (1715) verstorbenen Ludwig XIV. zu rühmen, wie es Silberrad denn auch tut. 59 Die wohlhabenden Honoratioren der Stadt erhalten, wie oben gezeigt, ihren Ehrenplatz auf der Widmungstafel. Und im Zentrum der Abhandlung werden immer wieder prominente Vertreter der Straßburger Gelehrtenrepublik erwähnt, zu denen der Verfasser in persönlicher Verbindung steht oder die in früheren Zeiten den Ruhm der Academia Argentinensis ausmachten. Die insgesamt neun mit Straßburg in Beziehung stehenden Passagen erscheinen für die Argumentation keineswegs unerlässlich, so wird beispielsweise die Unterscheidung zwischen angemessenem und schmählichem Widmungsverhalten ohne zwingenden Grund aus einer Abhandlung von Johann Caspar Khun, „Venerando Facultatis nostrae Seniore Amplissimo“, 60 zitiert, einem Text, der überhaupt nur an dieser einen Stelle kurz auf den Brauch des Dedizierens eingeht. 61 Noch auffälliger auf das lokale „name dropping“ zielend ist eine Passage im Proömium, wo zum Stichwort der vorgetäuschten Gelehrsamkeit auf eine Vorrede verwiesen wird, die einer Dissertationensammlung von Thomas Bartholin vorangestellt ist und deren Verfasser bezeichnet wird als „eruditionis elegantissimae Theologus M. R. Dn. Jo. Gerh. Meuschen, Illustr. et Celsissimi Comitis Hanoici Primarius hodie sacrorum Antistes et Ecclesiasticus Consiliarius gravissimus, Patronus Fautorque noster honorandus, amandus“. 62 Auf der diachronen Ebene nutzt Silberrad die im Rahmen der Gelehrtenkritik zu erwartende Topik der Zeitklage, um auf die ruhmreiche Frühzeit der Straßburger Akademie hinzuweisen. 63 Im Kontext seiner Äußerungen über die Notwendigkeit der Fürstenbildung heißt es hier: Kühlmann: Boecler, Johann Heinrich. In: Stefanie Arend [u. a.] (Hrsg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1620-1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. I. Berlin und Boston/ MA 2019, Sp. 701-715. 59 „Heinrici M. Regis Christianissimi in libros eorumque auctores favorem […]“ (Silberrad: Dedicatio, Anm. 7, S. 22). „Quantum Ludovico M. literae literatique debeant, non Gallia modo sed universus qua patet orbis novit, et ipsa credo invidia fatebitur, non literatos magis Regem, quam gratiam Regis ipsos ad libros in omni elegantiore literatura conscribendos provocasse.“ (ebd., S. 23). 60 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 7. 61 Johann Caspar Khun [Präses]-/ Johann Schrage [Respondent]: Dissertatio academica de amicitia eruditorum ad ideam Plinii Secundi praesertim delineata. Straßburg 1696, S. 28. 62 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 4. 63 Vgl. zur Gründungsphase der Universität die grundlegende Studie von Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621. Wiesbaden 1977. Utinam ergo fata illa Academiis Scholisque redirent, qualibus circa An. 1590. Melchiore Junio perpetuum Rectoratum gerente, Argentinensis nostra gavisa fuit! 64 Vermutlich nimmt Silberrad damit auf den Umstand Bezug, dass in dieser Zeit besonders viele adlige Zöglinge die aufstrebende Straßburger Hochschule besuchten, 65 während die Attraktivität Straßburgs in den Jahren um und nach 1700 infolge von Kriegswirren stark zurückgegangen war. 66 - Um schließlich auch den konfessionellen Schulterschluss im streng lutherischen Straßburg zu festigen, fügt der Autor die bekannte Anekdote von den Sozinianern ein, die die Geschmacklosigkeit begingen, ihren Rakówer Katechismus ausgerechnet der Universität Wittenberg zu widmen. 67 Die Episode ist ein wenig deplatziert 68 in einen Kontext durchaus berechtigter Dedikationsakte eingeschoben; womöglich wollte Silberrad neben der Suggestion eines harmonischen Zusammenspiels der bildungstragenden Akteure auch noch ein deutliches Bekenntnis zur eigenen Rechtgläubigkeit abgeben. 7. An Stelle der so genannten corollaria, also locker gefügter Thesen, die im Anschluss an die Kerndisputation gegen Ende des universitären Aktes fakultativ bearbeitet werden konnten, enthält unsere Disputation am Schluss vier Paragraphen mit cautelae, also Vorsichtsmaßnahmen, die es zu ergreifen gilt, wenn man sich auf dem glatten akademischen Parkett angemessen zu bewegen versucht: 64 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 25f. „Wenn doch jene Verhältnisse an die Universitäten und Schule zurückkehrten, deren sich um das Jahr 1590, als Melchior Junius permanent das Rektorat bekleidete, unsere Straßburger Hochschule erfreute.“ 65 Zu Melchior Junius vgl. Schindling: Hochschule (Anm. 63) passim, zur Attraktivität der Straßburger Akademie unter adligen Zöglingen gegen Ende des 16. Jahrhunderts ebd., S. 383. Die exakte Quote ist für diese Zeit nicht zu ermitteln, da die Matrikel sich nicht erhalten hat. 66 Die komplizierte, im Ganzen recht ungünstige Situation, in der sich die Straßburger Universität zu Silberrads Zeit befand, kann im Kontext dieser Untersuchung nicht aufgearbeitet werden. Vgl. die Hinweise bei Jürgen Voss: Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung. Johann Daniel Schöpflin (1694-1771). München 1979, bes. S. 108-120; Vogler: Straßburg (Anm. 13), S. 1849f.; sehr detailliert zuletzt diverse Aufsätze (vor allem von Wolfgang Mährle und Christian Scheidegger) in dem in Anm. 58 genannten Sammelband. 67 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 16f. 68 Silberrad markiert auch deutlich, dass es sich um einen „Sonderfall“ handelt: „Illud plane singulare est, quod dedicationes quandoque vindictae instrumenta esse cogantur“ (ebd., S. 16). Die Episode wird auch sonst gelegentlich angeführt, zum Beispiel bei Jan: De fatis (Anm. 44), S. 41, der allerdings noch weitere Beispiele für Konfessionspolemik im Medium der Dedikation gibt. Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 31 32 Robert Seidel Haec ergo quum Dedicationum sit conditio haud abs re erit, de Prudentia Viri sapientis, circa scriptorum suorum dedicationes, paucula addere, et quomodo famae suae ut parcat, versari in illis debeat, inquirere. 69 Schon die erste cautela macht deutlich, dass die spannungsfreie Integration des Gelehrten in sein Umfeld für Silberrad von höchster Priorität ist, heißt es da doch, man solle, um nicht bei anderen den Anschein eines neumodischen oder absonderlichen Menschen zu erwecken, den altehrwürdigen Brauch, Bücher mit Widmungen zu versehen, nicht rundweg ablehnen. 70 Weiter ist dann davon die Rede, dass man mit seiner abweisenden Haltung leicht ins Abseits geraten könne, weil ja selbst die erklärten Gegner des Disputationswesens Widmungen verfassten. In der Folge vertritt Silberrad eine pragmatische, ausgleichende Position, die davon abrät, angesichts des geläufigen Missbrauchs der Dedikationen das Kind mit dem Bade auszuschütten („cum sordibus infantem ipsum ejicere“), 71 zugleich aber immer wieder mahnt, jeden Anschein von Geldgier oder Ehrgeiz zu vermeiden, was beispielsweise dadurch geschehen könne, dass man das Angebot einer finanziellen Gegenleistung für die Widmung ablehne oder seine Schriften Personen von gleichem sozialem Rang dediziere. 72 Zur souveränen Haltung des Gelehrten gehört für Silberrad auch, dass man übergroßes Misstrauen vermeidet. Die Ansicht, jedes Lob komme einer Lüge gleich („laudare prope mentiri esse“), 73 zeugt für ihn von einer unangebrachten Menschenfeindlichkeit. Diese „rigidam […] philosophiam“ 74 lehnt er ab und wendet sich damit explizit gegen die mehrfach erwähnten „Observatores Hallenses“ und damit auch gegen den Mitherausgeber dieser Hallischen Zeitschrift, Christian Thomasius, den er in einer Fußnote explizit als Autor der Vorrede des relevanten dritten Bandes zu identifizieren glaubt. 75 Wenn die cautelae schließlich in 69 Silberrad: Dedicatio (Anm. 7), S. 27. „Weil sich die Umstände der Widmungen also dergestalt darstellen, wird es nicht unangebracht sein, über das kluge Vorgehen eines weisen Mannes im Hinblick auf die Widmungen seiner Schriften ein paar Kleinigkeiten hinzuzufügen und nachzufragen, wie er sich bei ihnen zu verhalten habe, um seinen guten Ruf zu schützen.“ 70 Ebd. 71 Ebd., S. 28. 72 Ebd., S. 29. 73 Ebd., S. 28. 74 Ebd. 75 Es handelt sich um die 1700-1705 halbjährlich erscheinenden Observationes selectae ad rem litterariam spectantes, die von Thomasius, Georg Ernst Stahl und Johann Franz Buddeus in Halle herausgegeben wurden. Aus der Vorrede zum dritten Band (Halle 1701, S. 3-48), die sich ganz der Kritik am Dedikationswesen widmet, zitiert Silberrad in seiner Abhandlung einige Male, vgl. oben Anm. 40 und 42; in den cautelae wendet er sich dezidiert gegen die Hallenser, die „Praefatione quae Tom. III. praemissa, Dedicationum omnem usum penitus rejecerint“ (Silberrad: Dedicatio, Anm. 7, S. 27). Die Verifikation einen Appell zur Gelassenheit angesichts der prekären Situation der Autoren münden, so ist damit nicht nur eine Warnung vor überzogenen Hoffnungen auf mäzenatische Förderung verbunden, sondern die respublica litteraria formiert sich in der Perspektive des Verfassers zugleich als Schicksalsgemeinschaft, die auf Rückschläge gefasst zu sein hat. 8. Der Disputationsdruck endet mit einem Gebet, 76 was in Texten dieser Art nicht ganz exzeptionell, aber auch nicht sehr verbreitet ist. Es markiert den Übergang vom Aufruf zur akademischen Selbstverständigung hin zu einem kaum verdeckten Appell an die Mäzene, womit auf subtile Weise an die dem Druck vorangestellte Widmungstafel angeknüpft wird. Gott dient ja ungeachtet des Gebetsgestus fraglos als Mittler einer Botschaft, die sich an die wohlhabenden Patrizier beziehungsweise an die Obrigkeit der ehemaligen Reichsstadt richtet, heißt es doch, er möge nicht nur das ungünstige Schicksal („fata duriora“) von der Gelehrtenrepublik abwenden („a Republ. literaria clementer avertat“), sondern auch eosque qui pietatis ac sapientiae studiorum strenui adhuc sunt assertores gratiose conservet, et ut nutrices vindicesque verae eruditionis Academias inque his docentes diligere ac ornare pergant, faxit. 77 Mit den „studia pietatis ac sapientiae“ war überdies die Maxime Johannes Sturms (1507 bis 1589), des legendären Begründers der Straßburger Akademie im 16. Jahrhundert, aufgerufen. Mit Sturm und dem in altrömischer Manier apostrophierten „DEUS O. M.“ an ihrer Seite, so das Kalkül der Disputanten, würden sie die Mäzene 78 schon bei der Stange halten. Für die richtige Einstellung zum Disputationswesen und die angemessene Praxis des Dedizierens sollte im akademischen actus, zu dem der Thesendruck einlud, jedenfalls gestritten werden. des Thomasius findet sich ebd. in einer Anmerkung. Silberrad zitiert S. 28 ohne genauen Nachweis eine Passage aus der besagten Vorrede (dort S. 5), die in der Tat ein einseitig negatives Bild von der „Natur des Menschen“ zeichnet und daher den Widerspruch geradezu herausfordert. 76 Ebd., S. 30. 77 „… diejenigen, die noch immer eifrige Verteidiger der Bemühungen um Frömmigkeit und Weisheit seien, gnädig erhalten und dafür sorgen, dass sie fortführen, die Universitäten als Nährer und Bewahrer der wahren Bildung sowie die an ihnen Lehrenden zu lieben und zu ehren.“ 78 Eine weitere Verdeutlichung des Anliegens liefert die dem Abschlussgebet hinzugefügte, zentriert und in Großbuchstaben gesetzte Maxime aus Martial, Epigramme 8,55,5: „SINT MAECENATES NON DEERUNT, FLACCE, MARONES.“ (Wenn es Mäzene [Männer wie Mäzenas] gibt, mein Flaccus, wird es an Dichtern [Männern wie Vergil] nicht fehlen.) Elias Silberrads Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate 33 Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück aus dem Jahr 1722 Sikander Singh, Saarbrücken I. Dem zweiten Band der Deutschen Schaubühne, der bekanntlich vor dem ersten veröffentlicht worden ist, hat Johann Christoph Gottsched ein „Verzeichniß aller Theatralischen Gedichte, so in deutscher Sprache herausgekommen“ vorangestellt. Unter der Rubrik „Deutsche Schauspiele, von 1700 bis 1740“ findet sich der Hinweis: „Pancratz eingefleischter Polter-Geist“; als Erscheinungsjahr des Schauspiels wird 1727 genannt; versehen ist der bibliographische Eintrag mit dem Vermerk: „in ungebundener Rede“. 1 Die falsche Datierung des Werkes zeigt an, dass der Leipziger Professor den 151 Seiten im Oktavformat umfassenden Band nicht autopsiert, sondern eine bibliographische Angabe aus anderer (bislang unbekannter) Quelle übernommen hat, denn der Band, der ohne Angabe eines Verfassers, eines Verlegers, eines Druckers oder Druckortes erschien, ist wie auf dem Innentitel ausgewiesen 1722, somit fünf Jahre früher als Gottsched behauptet, publiziert worden. In dem Nöthigen Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, mit dem der Leipziger Professor im Jahr 1757 den großen Bestand „von Schauspielen vor Augen“ zu legen beabsichtigte, wie er in der Vorrede vermerkt, „den Deutschland seit zweyen und mehr Jahrhunderten hervorgebracht, und in offenem Drucke dargeleget hat“, 2 in diesem Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, wird dieser Fehler korrigiert. Hier findet sich im vierten Abschnitt 1 Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet und mit einer Vorrede herausgegeben. Leipzig 1741 [Nachdruck: Stuttgart 1971], Bd. II, S. 70. 2 Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, gesammlet und ans Licht gestellet. Leipzig 1757, ohne Paginierung. 36 Sikander Singh der Hinweis auf das im Jahr 1722 in Straßburg veröffentlichte Bühnenstück Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist: Tragico-Comödie Oder vermischtes Traur und Lust-Spiel. 3 Auf welcher Grundlage Gottsched seinen Irrtum korrigiert hat, ist aufgrund fehlender Quellen nicht zu bestimmen. Das seltene Buch hat sich in der Gegenwart in nur wenigen deutschen Bibliotheken erhalten; so besitzt die Studienbibliothek Dillingen an der Donau zwei Exemplare, 4 die Universitätsbibliothek Leipzig, 5 die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, 6 die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover 7 und die Staatsbibliothek zu Berlin 8 verwahren jeweils ein Exemplar. Die letztgenannte Bibliothek stellt das ihre auch in digitalisierter Form zur Verfügung. 9 Ebenfalls verzeichnet Curt von Faber du Faur das Schauspiel unter den seltenen Drucken seiner Sammlung, die sich nunmehr im Besitz der Yale University Library befindet. 10 Schließlich charakterisieren, vor dem Hintergrund seiner geringen Verbreitung, Hugo Hayn und Alfred N. Gotendorf, die das Werk ebenfalls verzeichnen, das Buch als „Sehr rar! “. 11 II. Das Bühnenwerk ist jedoch nicht nur aus bibliophiler oder buchwissenschaftlicher Perspektive, sondern auch im Hinblick auf Fragen nach seiner Einordnung in einen Traditionszusammenhang sowie einen entstehungsgeschichtlichen Kontext interessant. So weicht bereits seine Bauform von den hergebrachten dreibzw. fünfaktigen Komödientypen ab: Das Stück gliedert sich in vier Akte, die „Handlungen“ genannt werden; sie sind ihrerseits in zehn bzw. neun Auf- 3 Ebd., S. 296. 4 Signatur: Mag/ HV 371-17,2 und Signatur: Mag/ HV 378-65,2. 5 Signatur: 8-B.S.T.36. 6 Signatur: O 9: 367. 7 Signatur: Lh 5420. 8 Signatur: Yr 81. 9 http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000344500000000 (zuletzt abgerufen am 5. August 2019). 10 Signatur: Zg17 A2 P18; Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue oft the Collection in the Yale University Library. New Haven/ CT 1958-1969 [Bibliographical Series from the Yale Library Collections], Bd. I, S. 465. Vgl. ferner Reinhart Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. Tübingen und Berlin 1986 ff., 2. Abt., Bd. V (1722-1725), S. 33f. 11 Bibliotheca Germanorum erotica & curiosa. Verzeichniss der gesammten deutschen erotischen Literatur mit Einschluss der Uebersetzungen, nebst Beifügung der Originale. Hrsg. von Hugo Hayn und Alfred Gotendorf. 8 Bde. München 1912-1914, Bd. VI, S. 15. Vgl. auch VD18 10166327. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 37 tritte unterteilt. Es treten elf namentlich benannte Personen auf, sowie „[e]inige Geister“ und „[e]inige Musicanten“, die das vorangestellte Dramatis personae verzeichnet. 12 Der „Schau-Platz ist zu Straßburg“; 13 neben dem nicht weiter lokalisierten Haus des Spenglermeisters sowie Straßen und Plätzen in dessen Umgebung wird im zweiten Akt der „Baarfüsser Platz“ erwähnt. 14 Seinen Namen verdankt dieser Platz einem anliegenden Franziskanerkloster, eine Umbenennung in „Waffenplatz“ erfolgte bereits im 17. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert diejenige in „Kléberplatz“. Der „groß[e]“ aber „irregular[e]“ Platz, wie Johann Christian von Kölichen in einer Reisebeschreibung des Jahres 1723 herausstellt, behielt umgangssprachlich jedoch seine anfängliche Bezeichnung. 15 Hier wurden im Verlauf der Jahrhunderte verschiedene Märkte abgehalten, so dass die in dem Stück gemachte Angabe „Gerümpel Marck“ durchaus den historischen Gegebenheiten entspricht. 16 Der Begriff bezeichnet, wie das Wörterbuch der elsässischen Mundarten festhält, „unbrauchbare[n] od. sonst überflüssige[n] Hausrat, durcheinander geworfene Gegenstände oder Waren von geringem Werte“. 17 Ebenfalls vorangestellt findet sich ein „Vorbericht“. Dieser Paratext behauptet, dass die nachfolgenden „Erzehlungen von dem vermeinten Polter-Geist in deß Spenglers Haus […] keine Erdichtung“ seien, „sondern eine wahrhafftige Geschicht“. 18 Ob die dramatische Darstellung des Autors einer historischen Wahrheit entspricht oder ihrerseits eine Fiktion ist, welche die Funktion hat, dem Bühnengeschehen durch behauptete Authentizität Glaubwürdigkeit und Gewicht zu geben, muss unentschieden bleiben, da es bisher nicht gelungen ist, Dokumente aufzufinden, welche die Ereignisse als historisch belegen. Im „Vorbericht“ heißt es hierzu: Diese Begebenheit hat sich Anno 1722. im Augusto und zu Anfang desß Septembris ereignet. Worauf man nach vorhergehenden Anzeigungen besagten N. N. eingezogen-/ welcher auch in der Hinwegführung auf eine curiöse Weise-/ wie hier erwehnet wird-/ seiner Wacht allerdings entwischet. Nach einer Zweymonatlichen zimlich harten Einhafftirung ist ihm das Urtheil gefället worden-/ daß er auf den Lasterstein-/ mit einem um den Hut geheffteten Zettel worauf dieser Titul b ö s e r B u b d e r 12 Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist: Tragico-Comödie Oder vermischtes Traur und Lust-Spiel. O. O. [Straßburg] 1722, S. 3. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 42. 15 Johann Christian von Kölichen: Beschreibung des gantzen Erd-Kreises und dessen besonderer bekannter Länder […]. Frankfurt am Main und Leipzig 1723-1731, Bd. I, S. 176. 16 Pancratz (Anm. 12), S. 42. Vgl. hierzu u. a. Ordnung des Wein-Marckts auff dem Barfüsser-Platz. Straßburg 1736. 17 Wörterbuch der elsässischen Mundarten. Bearb. von Ernst Martin und Hans Lienhart. 2-Bde. Straßburg 1899-1907, Bd. II, Sp. 260a. 18 Pancratz (Anm. 12), S. 4. 38 Sikander Singh d e n G e i s t a g i e r e t -/ geschrieben war-/ stehen-/ und er auf fünff Jahr auß dem Straßburgischen Territorio verwiesen seyn soll- / welches auch Sambstags den 14. Novembris Nachmittag an ihm vollzogen worden. 19 Der 14. November 1722 war tatsächlich ein Samstag. Ebenfalls gab es im Straßburg dieser Jahre einen Lasterstein, also einen „(erhöhte[n]) Stein, der zur Ausstellung und Züchtigung eines Rechtsbrechers dient[e]“; diese öffentliche Zurschaustellung wurde nach damaliger Rechtsauffassung „als milderes Strafmittel gegenüber dem Pranger angesehen“. 20 Johann Andreas Silbermann, ein Spross der berühmten, elsässischen Orgelbauerfamilie, berichtet von der Lage und Funktion der Stätte in seiner historischen Darstellung der Stadt Straßburg: Endlich ist noch des zu unsern Zeiten an der Münz gestandenen Laster-Steins zu gedenken, worauf die Verbrecher, durch die sogenannten Fausthämmer oder Gerichtsdiener gestellt wurden. Dieser Stein ist 1738, als das Münz-Gebäude abgebrochen worden, auch da weggekommen, und an dessen Statt an der Pfalz die unterste Staffel beym Hals-Eisen zu gebrauchen verordnet worden. 21 Aber nicht nur der „Vorbericht“, auch der Titel des Werkes verdeutlicht, dass nicht die Geschichte eines tatsächlichen und „bösartige[n] Geist[es], welcher sich in dem Hause mit Poltern und Lärmen hören läßt“, erzählt wird, sondern von einer Täuschung und Irreführung berichtet werden soll, die von einer Figur in der Absicht herbeigeführt wird, an anderen Figuren einen Betrug zu begehen. 22 So ist der Nennung der Titelfigur die Erläuterung „[d]er eingefleischte Polter-Geist“ nachgestellt. Das Partizipium ‚eingefleischt‘ war bereits im 18. Jahrhundert nur „in figürlicher Bedeutung üblich“, wie Johann Christoph Adelung erläutert: „Ein eingefleischter Teufel, ein Teufel in menschlicher Gestalt, ein Teufel der Boßheit nach; außer welcher Redensart dieses Wort nicht mehr vorkommt.“ 23 Daher weist der Titel zum einen das doppelte Spiel aus, das in dem Stück zur Darstellung kommt, und lässt zum anderen das Tückische und Hinterhältige hinter den aufgeführten Handlungen anklingen. 19 Ebd., S. 5. 20 Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. In Verbindung mit der vormaligen Akademie der Wissenschaften der DDR hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII: Krönungsakt bis Mahlgenosse. Bearb. von Günther Dickel. Weimar 1984-1991, Sp. 743. 21 Johann Andreas Silbermann: Local-Geschichte der Stadt Straßburg. Straßburg 1775, S. 177. 22 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801, Bd. III, Sp.-805. 23 Ebd., Bd. I, Sp. 169. Die Titelei ist jedoch in anderer Hinsicht nicht so eindeutig, wie dies zunächst den Anschein hat: Einerseits kann im Werktitel eine Nominalphrase erkannt werden. In diesem Fall ist „Pancratz“ als Name einer Figur zu lesen, der um den erläuternden Zusatz „Der eingefleischte Polter-Geist“ erweitert ist. Dies ist die Lesart, die seit Gottscheds Nöthigem Vorrath verbreitet ist. Der Leipziger Aufklärer modifiziert die Schreibung des Titels daher konsequenterweise in „Pancratz, der eingefleischte Polter-Geist“, stellt dem Namen also ein Komma nach und schreibt das Relativpronomen „der“ klein. 24 Andererseits ist der Name „Pancratz“ nicht in jener Frakturschrift gesetzt worden, die für den gesamten Band ansonsten Verwendung gefunden hat, sondern in einer Antiqua. Diese typographische Hervorhebung folgt zwar den Konventionen der Zeit, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, den Namen als (freilich pseudonyme) Verfasserangabe zu verstehen. Diese Lesart gewinnt durch die zweite Zeile der Titelei an Plausibilität, denn sie beginnt mit einer Majuskel („D“). Dass Pancratz eine in dem Schauspiel auftretende Figur ist („deß Spenglers Gesell“, wie das Dramatis personae verzeichnet 25 ), läuft dieser Deutung nicht notwendig zuwider. Vielmehr verleiht die Gleichsetzung des (seine Identität ohnehin verschleiernden) Verfassers mit der zentralen Figur des Stückes dem Bühnengeschehen eine größere Attraktivität. Die im Vorbericht behauptete Authentizität des Geschehens würde in diesem Fall durch die Kongruenz von Autor und Figur zusätzlich unterstrichen. Und dass der vorangestellte Paratext den Namen des Gesellen mit dem Hinweis „Nullum nomen“ („N. N.“ 26 ) verbirgt, erweckt die weitergehende Neugier des Lesers. Aufgrund fehlender Quellen, welche die Verfasserschaft des Werkes bezeugen könnten, ist im Hinblick auf diese dargelegten Sachverhalte jedoch keine abschließende Einordnung möglich. Somit verdeutlichen bereits die Anlage des Titels und des Vorberichts, dass das Schauspiel nicht von einem Poltergeist handelt, sondern von einer Figur, welche die Existenz eines solchen Geistes behauptet und die Leichtgläubigkeit anderer für eigene Zwecke nutzt, um auf diese Weise Schaden anzurichten. Das Bühnengeschehen gewinnt seine Spannung (und Komik) also weniger aus der (wie denkbar: effektvollen) Darstellung einer Geistererscheinung, deren fiktionsimmanente Realität beteuert wird, sondern aus der Art und Weise, wie die Täuschung im Figurenspiel enthüllt wird. 24 Gottsched: Nöthiger Vorrath (Anm. 2), S. 296. 25 Pancratz (Anm. 12), S. 3. 26 Ebd., S. 4. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 39 40 Sikander Singh III. Dass das Stück das Lächerliche des Aberglaubens aufdeckt, zeigt sich ebenso in der Anlage der Figuren: Bis auf die beiden Studenten entstammen alle auftretenden Figuren der niederen Welt des Handwerks. Die Darstellung des beruflichen Lebens und alltäglichen Treibens dieser sogenannten einfachen Leute und ihres durchaus örtlichen Gepräges deutet bereits auf die Lokalkomödien Carlo Goldonis oder Ramón de la Cruz’ voraus, die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts in ganz Europa Popularität erlangten. 27 Den poetologischen Vorstellungen der Zeit entsprechend, erfolgt die Belehrung der Zuschauer über Fehler und Tugenden durch Kontraste: Dem (Aber)Glauben des Spenglers, der in dem sein Haus und seine Werkstatt heimsuchenden Lärm das Wirken eines Poltergeistes zu erkennen glaubt, werden Einschätzungen zweier „studirende[r] fremde[r] Cavalliers“ gegenübergestellt, die in ihren Gesprächen das Unwissen und die Naivität des Handwerksmeisters reflektieren und kommentieren. So wendet sich der Spengler Simplicius im dritten Auftritt des ersten Aktes mit der Klage an seine Lehrbuben: Behüt uns … ihr lieben Kinder-/ ihr habt es ja selbst gesehen und gehöret und sehet uñ höret es noch stündlich- / das der leidige abgesagte Feind deß menschlichen Geschlechts vor ein entsetzliches Wesen in meinem Hauß anstellet. Ich armer und darzu mit dem vermaldedeyten Podagra geplagter Handwercks Mann weiß mich nicht deß geringsten Verbrechens zu erinnern-/ dadurch ich mir den Himmel oder die Hölle so auffsässig solte gemacht haben. Betet ihr Bursch vielleicht nicht fleißig und richtig? 28 Die Anrede offenbart neben der (falschen) Überzeugung des Handwerkers, dass die Störungen in seinem Haus von einer höheren Macht verursacht werden, die Glaubensgewissheit, dass die Erscheinungen eine Strafe für Fehlverhalten sind und somit durch Gebete und Sühneopfer wieder aufhören werden. Das schlichte Gemüt des Spenglers, das auf diese Weise sichtbar wird, kommt auch in seinem Namen zum Ausdruck, der als Hinweis auf das Wesen seines Trägers zu lesen ist (und auf diese Weise zugleich die Tradition des Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen aufruft). Diese Haltung wird mit derjenigen eines der Studenten konfrontiert, der nicht an überirdische Mächte glaubt, sondern eine strikt rationale Erklärung des „Schießens“, also des im Haus des Handwerkers auftretenden Lärms vertritt: 27 Vgl. hierzu Volker Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette. Heidelberg 2007, S. 99f. 28 Pancratz (Anm. 12), S. 15. Die Zeit wird den Außgang bringen-/ und dieser die Wahrheit offenbahren. Ich finde bey diesem Schießen nichts- / als was durch menschliche Geschicklichkeit kan zuwegen gebracht werden. Wann ich überwießen solte seyn-/ daß der Teuffel oder eine abgestorbene und noch vor ihrer letzten Ruh wieder zurück gewiesene Seel oder auch gar eine himmlische Gewalt diese Unordnung anrichtete-/ so müßte ich dergleichen geschossene Sachen sehen-/ die der gemeine Verstand nicht begreiffen könne; Zum Exempel-/ frembde Thiere-/ Vögel-/ Schlangen und dergleichen-/ wiewohl auch noch dieses durch abgefeimte und angestellte Betrüger zu erzwingen wäre. 29 Ein nicht nur inhaltlich, sondern auch quantitativ bedeutender Aspekt des Stückes sind jene Dialoge, welche entweder das Unerklärliche der Erscheinungen betonen und somit auf überirdische Mächte als deren Urheber verweisen, oder darlegen, inwiefern menschliche Manipulationen als Ursachen der Geräusche und Zerstörungen in dem Haus des Handwerkers angesehen werden müssen und daher Appelle an die Vernunft der Zuschauer sind. Das Straßburger Bühnenstück weist damit charakteristische Momente des Lust- oder Freudenspiels im Spannungsfeld von Barock und Frühaufklärung auf: Die Personen sind solche, um auf eine Wendung Georg Philipp Harsdörffers zurückzugreifen, „die in gemeinen Burgerlichen Leben zu finden“ sind, 30 und die Belehrung des Zuschauers über richtiges (tugendhaftes) und falsches (lasterhaftes) Verhalten erfolgt, indem letzteres dem Gelächter preisgegeben und mit dem Vorbild des ersteren kontrastiert wird, wie Albrecht Christian Rotth in seinem Werk über die Poesie erläutert: So ist demnach die neue bey uns itzo gebräuchliche Comödie nichts anders als ein solch Handelungs-Spiel-/ in welcher entweder eine lächerliche oder auch wohl löbliche Verrichtung einer Person-/ sie sey wer die wolle-/ sie sey erdichtet oder aus den Historien bekannt-/ mit vielen sinnreichen und lustigen Erfindungen auffgeführet und abgehandelt wird-/ daß entweder die Zuschauer die Fehler und Tugenden des gemeinen menschlichen Lebens gleichsam spielweise erkennen und sich bessern lernen- / oder doch sonst zu einer Tugend auffgemuntert werden. 31 IV. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das Stück parallel zu der Geschichte des vermeintlichen Poltergeistes auch eine Liebesgeschichte erzählt und solchermaßen von dem Ineinander zweier Handlungsstränge strukturiert 29 Ebd., S. 45f. 30 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischen Trichters zweyter Theil […]. Nürnberg 1648, S. 96. 31 Albrecht Christian Rotth: Vollständige deutsche Poesie: in drey Theilen […]. Leipzig 1688, S. 130. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 41 42 Sikander Singh wird, die in dem Haus des Spenglers zusammenlaufen: Angelica, der Tochter des unglücklichen Meisters Simplicius, wird von einem namentlich nicht bezeichneten Architectus der Hof gemacht. Die Handlung setzt ein mit einem galanten Schreiben, in dem er ihr seine Liebe gesteht. Angelica wird zunächst von widerstreitenden Gefühlen bestimmt. Einerseits fühlt sie sich geschmeichelt, andererseits misstraut sie seiner Emphase. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass der Architectus verschiedenen Frauen zugleich den Hof macht, so auch der Magd Angelicas. Letzteres geschieht in der Absicht, über die Neigung der Dienerin das Herz der Herrin zu gewinnen. Es parodiert damit eine alte, bereits in der Ars amatoria des römischen Dichters Ovid dargelegte persuasive Strategie. Auch hier entsteht die komische Wirkung des Bühnengeschehens dadurch, dass den Zuschauern bereits zu Beginn der Handlung die Zusammenhänge und Motivationen der Figuren enthüllt werden. In diesem Fall sind dies die unredlichen Absichten des Architectus. So werden in seinem Monolog im zweiten Auftritt des ersten Aktes seine den moralischen Vorstellungen der Zeit entgegenlaufenden Haltungen und seine ebenso verwerfliche Selbstverliebtheit deutlich herausgestellt: Courage! es ist mir schon ein mancher Liebes-Handel angegangen und muß mir dieser auch sein gewünschtes Ende erreichen. Was wolt ich zweiffeln? Ich bin wohl gemacht als wann mich der Dädalus selbst geschnitzelt hätte. Was fehlt der Beredsamkeit meines Mundes? […] Mein Verstand ist ein gemeiner Anlaß zum Discurs in der Stadt und auf dem Land gelte ich wie ein Orackel. 32 In weiteren Verlauf des Selbstgespräches wird zudem auf eine ironisch-hintergründige Weise die „flüchtige und zugleich liebliche Untreu bey den Manns-Personen“ betont, so dass keinerlei Zweifel an der Unredlichkeit seiner Absichten bleiben. 33 Dass Angelica sich nachfolgend von dem Werben zuerst rühren und endlich überzeugen lässt, erscheint vor diesem Hintergrund lächerlich. Aus dem Kontrast ihrer naiven Ernsthaftigkeit und seiner schönen Worte sowie seiner effektvollen, aber zugleich leeren Gesten erwächst jener Kontrast, welcher das Gelächter des Publikums bewirkt. Auch sind die komischen Effekte des Stückes voraussehbar: Diese Antizipation der komischen Zwischenfälle und Ereignisse seitens der Zuschauer ist ebenfalls ein charakteristisches Mittel, mit dem in der Komödie Gelächter erzeugt wird. Sowohl der Architectus als auch Angelica sind aus sich selbst heraus komisch. Ihre Handlungen und Meinungen sind übertrieben; ihnen fehlt das Feingefühl für das, was semantisch, stilistisch, situativ angemessen ist (aptum). Sie wirken 32 Pancratz (Anm. 12), S. 11. 33 Ebd. komisch durch einen Erwartungshorizont, der zunächst evoziert und dann in doppelter Hinsicht unterlaufen wird: Die Rhetorik seines Werbens rekurriert auf das Liebesideal der Tragödie und die zögernde Unsicherheit, mit der sie seinem Drängen schließlich nachgibt, korrespondiert ebenfalls mit jenem Verhalten weiblicher Figuren, das höhere literarische Stillagen vorhalten. Indem die solchermaßen „heroischen Ideal[e]“, um einen Gedanken von Hans Robert Jauß aufzunehmen, herabgesetzt werden, entsteht eine Gegenläufigkeit, die zum Anlass des Komischen wird. 34 Zugleich kontrastiert das Werben des Architectus um Angelica mit seinem Werben um deren Magd. Während er bei der Tochter des Spenglers einen hohen Ton anschlägt, ist er bei der Magd mit schmeichlerischen Worten und materiellen Versprechungen erfolgreich, beispielsweise mit einem Paar der damals bei Frauen beliebten „Hamburger-Strümpffe“. 35 (Diese sind in der Hansestadt erstmals „drey und vier drähtig gestrickt“ worden, woraus sich die bis in das 19. Jahrhundert gebräuchliche Qualitätsbezeichnung ableitet. 36 ) Die manifesten Strukturen und damit verbundenen Konventionen der ständischen Gesellschaft im frühen 18. Jahrhundert werden somit auch im Figurenspiel abgebildet. Interessant werden die Liebeshändel des Architectus an der Stelle, da Angelica das Unredliche seines Verhaltens entdeckt: Ha! du falscher Hund! ich hab dir und meiner Neben-Buhlerin nicht länger mehr zuhöhren und zusehen können-/ und ich soll dir getreu verbleiben? Ich soll dich eintzig bis in das Grab lieben-/ du aber in meinem eignen Hauß hast das Hertz dasselbe zum Theater deines Muthwillens zu machen und ich soll dir getreu seyn? Du bist so unverschähmt mit der Magd der jenigen- / die du zu deinem eintzigen Engels-Kind erwehlet zu haben vorgiebst-/ zu courtoisieren und ich soll dir nicht untreu seyn? 37 Der weitere Verlauf der Handlung ist damit jedoch keineswegs vorgezeichnet; vielmehr vollzieht sich in den letzten beiden Auftritten eine unerwartbare und damit ironisch zu wertende Wendung. Der Architectus liebt „sie beyde gleich“, wie er zu Beginn des neunten Auftritts des vierten Aktes bekennt, und „beyde haben einen Eyd geschworen- / keine Eyffersucht“ seinetwegen „gegeneinander zu empfinden oder zu hegen“. 38 Diese veränderte Haltung, die sowohl den 34 Hans Robert Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München [Poetik und Hermeneutik 7], S. 103-132, hier S. 104. 35 Pancratz (Anm. 12), S. 78. 36 Carl Günther Ludovici: Eröffnete Akademie der Kaufleute, oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon […]. Vierter Theil: R bis S. Leipzig 1755, Sp. 2248. 37 Pancratz (Anm. 12), S. 79f. 38 Ebd., S. 130. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 43 44 Sikander Singh moralischen Vorstellungen wie den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit widerspricht, wird nicht psychologisch begründet, weshalb das Unvermittelte dieses Schlusses die Provokation, mit der das Stück sein Publikum konfrontierte, betont. So kommentiert Angelica den Vorgang: Wann ich alles recht erwege-/ so muß ich gestehen-/ daß die Ungleichheit deß Stands in der Liebe keinen Scrupel mache-/ also mag ich wohl leiden-/ daß Monsieur Architectus neben mir meine Magd gleichfalls karreßiere […]. 39 Und die Magd ergänzt: „Ich will meiner Jungfer gern die Oberhand lassen- / wann aber Monsieur Architectus mich ein bißgen schätzen will-/ so kan ich es ihm ja nicht wehren.“ 40 V. Sowohl die Erscheinungen des Poltergeistes als auch die Werbung des unredlichen Architectus brechen als Heimsuchungen über das friedliche Alltagsleben im vertrauten Kreis von Familie, Nachbarschaft und Kundschaft herein. Dieses für die Dramaturgie der Posse und Burleske paradigmatische Motiv wird im Polter-Geist jedoch dadurch unterlaufen, dass am Ende nicht ein redlicher Liebhaber das Herz Angelicas erobert, wie dies in anderen Stücken dieser Gattungen üblich ist. Stattdessen akzentuiert die Schlussszene eine Überzeichnung: Die Ordnung der bürgerlichen Welt wird lediglich im Hinblick auf die Aufdeckung der Vorspiegelungen der vermeintlichen Geistererscheinungen wiederhergestellt. Das Stück erweist sich damit nicht als eine spöttisch-verzerrende Nachahmung einzelner Momente des Trauerspiels im Sinne einer Parodie; das Ineinander von Lächerlichkeit, Freude an der Regelverletzung und gleichwohl belehrender Absicht verweist vielmehr auf die burleske Tradition, in der das Werk zu verorten ist. Das solchermaßen derb Komische und Possenhafte würdigt, wie Karl Friedrich Flögel in seiner Definition des Burlesken vermerkt, „das Hohe und Wichtige absichtlich“ herab, „um Lachen zu erregen“. 41 Die Schwierigkeit, einen Gattungsbegriff zu benennen, der die unterschiedlichen Tendenzen des Stückes erfasst oder zumindest berücksichtigt, indiziert jedoch weniger einen ästhetischen Mangel. Vielmehr zeigt sich, dass diese Termini erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts fest konturierte Bestimmungen 39 Ebd. Das elsässische Wörterbuch verzeichnet für den Begriff karessieren die Bedeutung, „ein Mädchen besuchen, bes. abends am Fenster; den Hof machen“ (Wörterbuch der elsässischen Mundarten [Anm. 17], Bd. I, Sp. 463a). 40 Pancratz (Anm. 12), S. 131. 41 Karl Friedrich Flögel: Geschichte des Burlesken. Leipzig 1794, S. 4. erhalten haben, weshalb sie zur Beschreibung eines Werkes des frühen 18. Jahrhunderts nur bedingt zu verwenden sind. Im Hinblick auf die Einordnung des Straßburger Bühnenstückes können diese Bezeichnungen nur dann hilfreich sein, wenn sie zur Charakterisierung einzelner Aspekte herangezogen und die poetologisch wie literaturwissenschaftlich ausdifferenzierten Gattungsdiskurse nachfolgender Jahrhunderte jedoch nicht in Anschlag gebracht werden. Wesentlich korrespondieren diese Beobachtungen mit der Gattungsbezeichnung „Tragico-Comödie Oder vermisches Traur und Lust-Spiel“, die dem Stück beigelegt ist. Der Begriff ist zwar bereits bei antiken Dramatikern zu finden und wurde seit der Renaissance neuerlich verwandt, gleichwohl bestand stets die Schwierigkeit einer genaueren Bestimmung. 42 Im Hinblick auf den Eingefleischten Polter-Geist ist das Ineinander von tragischen und komischen Elementen, das die Gattungsbezeichnung impliziert, nur bedingt auszumachen. 43 Auch wird kein im Sinne der antiken Tradition tragischer Konflikt verhandelt, vielmehr werden die Guten zu Opfern des Bösen. Im Gegensatz zu der Anlage der Figuren in einer Posse sind jedoch tugend- und lasterhafte Personen nicht deutlich voneinander geschieden, so dass eine satirisch-verzeichnende Vorführung menschlicher Schwächen dominiert. Im Sinne der Definition, die Johann Christoph Gottsched in dem Versuch einer critischen Dichtkunst formuliert, erfüllt das Werk die Merkmale einer Komödie als „Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann“. 44 Andererseits erscheint die Bezeichnung Tragikomödie im 17. Jahrhundert „willkürlich für die Stücke […] deutscher Wanderbühnen“, so dass die Verwendung des Begriffs als ein Hinweis auf den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang gelesen werden kann, dem der Polter-Geist wahrscheinlich zuzuordnen ist. 45 Da die Repertoires der Wanderbühnen jedoch aufgrund fehlender Quellen „nur unvollkommen zu rekonstruieren“ sind, muss die Zuordnung der Handlungsschemata und Motive des Straßburger Drucks zu dieser Tradition Vermutung bleiben. 46 42 Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Göttingen 1968, S. 14. 43 Vgl. Irmgard Schweikle und Andrea Heinz: Tragikomödie. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Dieter Burdorf [u. a.]. Stuttgart und Weimar 2007, S. 776. 44 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Leipzig 1751 [Nachdruck Darmstadt 1962], S. 643. 45 Ebd. 46 Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965 [Germanistische Abhandlungen 8], S. 61. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 45 46 Sikander Singh Die solchermaßen zu konstatierende Diskrepanz zwischen der Gattungsbezeichnung auf der Titelseite und dem burlesk-komischen Bühnengeschehen gehört daher ebenfalls zu den Eigentümlichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Werk festzuhalten sind. VI. Neben dem abergläubischen Spengler, seinem Gesellen Pancratz, seiner Tochter und deren Verehrer ist Arlequin, „ein offentlicher Außschreyer“, wie das Dramatis personae mit Hinweis auf seine Funktion verzeichnet, die interessanteste Figur des Schauspiels. 47 Er gewinnt ebenso wenig personale Eigenschaften wie die anderen Figuren; wie das solchermaßen zur typischen Allgemeinheit ausgeweitete Figureninventar im Hinblick auf Anlage und Konzeption der Figuren den Vorbildern des italienischen, spanischen und französischen Lachtheaters verpflichtet ist. Gleichwohl hat die Gestalt in dem Straßburger Stück mit dieser Tradition lediglich den Namen gemeinsam: Arlequin ist kein naiver und bauernschlauer Typ, voller Fehler, jedoch gewandt, derb, lebenslustig und volksverbunden; stattdessen überbringt er Nachrichten, berichtet von Ereignissen, die außerhalb des Bühnenraumes stattgefunden haben und kommentiert das Bühnengeschehen. Indem er im fünften Auftritt des ersten Aktes erstmals allein vor das Publikum tritt und sowohl über das vermeintliche Erscheinen eines Poltergeistes in dem Haus des Spenglers räsoniert als auch über die Liebesgeschichte zwischen Angelica und dem Herrn Architectus, wird zudem die ihm zugeordnete Funktion sichtbar, die beiden parallelen Handlungen des Stückes miteinander in Beziehung zu setzen: Die Gespenstereyen und die Jungferschafften seind zwey starcke Aequivoca; nur findet sich dieser merckliche Unterscheid bey beyden-/ daß es bey einem Theil viel stiller hergehet als bey dem andern. Dem sey nun wie ihm woll-/ deß Simplicius Hauß ist jetzund verschreyet; es mag eine Kunst-/ eine Betrügerey oder eine überirdische Macht seyn. Einige glauben-/ es stecke eine heimliche Liebes-Intrigue mit der Magd und der Tochter darhinter. Angelica ist nicht verwerflich. Die Natur stößt dem ersten Muthwillen bey ihr aus und hat sie schon dem gemeinen Gerücht nach etliche Vornehme-/ die ihr ihre Seuffzer wiedmen. 48 Diese Funktion eines am Geschehen wesentlich unbeteiligten Boten korrespondiert mit dem Amt eines öffentlichen Ausschreiers, das ihn dem Gegenbzw. Miteinander der anderen Figuren enthebt. So ist es folgerichtig, dass Arlequin 47 Pancratz (Anm. 12), S. 3. 48 Ebd., S. 27. den beiden Studenten, die nicht an die Existenz eines Poltergeistes geglaubt und stattdessen eine natürliche Ursache der Erscheinungen vermutet haben, schließlich davon berichtet, auf welche Weise Pancratz seiner Betrügereien überführt werden konnte: Zu allem Glücke befande sich unter den Wächtern ein gleichfalls sehr geschwinder-/ der das flüchtige Gespenst noch ersahe; Dieser lieffe ihm aus allen Kräfften nach und erwischte ihn-/ damit hat diesem eingefleischten Polter-Geist nicht allein seinen verlassenen Rock wiederumb zugestellet-/ sondern ihm noch darzu einen steinernen Mantel angelegt. 49 Dass Arlequin keine lustige Person ist, die durch ihr Ungeschick, ihre Triebhaftigkeit oder Gefräßigkeit Lachen evoziert, sondern als Bote figuriert, dokumentiert, wie Elemente der Commedia dell’arte im deutschen Theater der Zeit aufgenommen, überformt und verwandelt wurden. Die Figur hat die dramaturgische Signifikanz, die ihr in der italienischen Tradition erwachsen ist, eingebüßt und trägt lediglich noch deren Namen. Ein weiteres Moment, das im Lachtheater des romanischen Kulturkreises ausgebildet worden ist und das auch im Polter-Geist eine dramaturgische Funktion hat, sind musikalische Einlagen in Form von Liedern. Bereits im Dramatis personae deutet sich dies an, da unter den auftretenden Figuren auch „[e]inige Musicanten“ genannt werden. 50 Die Bedeutung, die den Liedern zukommt, zeigt sich beispielsweise im zweiten Auftritt des ersten Aktes. Hier enthüllt der Architectus in einem Monolog seine wahren Absichten; der sieben Mal wiederkehrende Refrain des Liedes, das er anstimmt, bringt diese auf die prägnante Formel: „Lieber ungetreu als todt.“ 51 Das Lied unterstreicht die inhaltliche Aussage, indem es durch den Gattungswechsel (von der ungebundenen Figurenrede zur gebundenen Form des gesungenen Liedes) die Aufmerksamkeit des Publikums erneut weckt. Das Burleske und Komische, das bereits in diesem ersten Lied des Schauspiels aufscheint, ist in allen anderen Gesangseinlagen ebenfalls zu beobachten: Arlequin berichtet im fünften Auftritt des ersten Aktes davon, dass es sich ohne die Liebe besser lebt und empfiehlt bereits den ersten Anflug von Verliebtheit im Wein zu ertränken, 52 Angelica trägt im achten Auftritt des ersten Aktes ein in jeder Hinsicht übertriebenes Gedicht des Herrn Architectus vor, das die Ernsthaftigkeit seiner Werbung unterstreichen soll, aber ironischer Weise genau 49 Ebd., S. 127. 50 Ebd., S. 3. 51 Ebd., S. 12-14. 52 Ebd., S. 28. Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 47 48 Sikander Singh das Gegenteil verdeutlicht, 53 wie auch die Einlagen des neunten Auftritts des zweiten Aktes den hohen Ton der Liebeswerbung parodieren, was durch die Begleitung von Viola da Gamba, Viola da Gamba Basso und Flöte noch unterstrichen wird, 54 Angelicas Lied im vierten Auftritt des zweiten Aktes ist ein ebenso ironisches Lob der Untreue 55 und in den letzten beiden Auftritten des vierten Aktes veranschaulichen die abwechselnd von Laute, Guitarre, Theorbe, Leier und Dudelsack begleiteten Lieder das Unpassende des Paares, das sich gegen alle Wahrscheinlichkeit und Moral in einer unziemlichen Verbindung gefunden hat. 56 Lediglich die Lieder im jeweils zehnten Auftritt des ersten und dritten Aktes widersprechen diesem Schema: Eine Reihe von „Geister[n] erscheinet und erhellet mit ihren Fackeln das Theater“. 57 Ihr Gesang thematisiert einerseits menschliche Heimsuchungen (wie Mord, Krieg und Pestilenz), andererseits die Schrecken und das Unbegreifliche der jenseitigen Welt. Diese Inszenierung übernatürlicher Erscheinungen, deren Wahrheit textimmanent nicht in Frage gestellt wird, kontrastiert mit der Gestalt des Poltergeistes, der, wie eingangs gezeigt, bereits zu Beginn des Stückes als bewusste Täuschung enthüllt wird und so die Existenz von Kräften, welche die sinnlich wahrnehmbare Welt übersteigen, negiert. Auf diese Weise veranschaulichen die „Gespenster von unterschiedenen abscheulichen Mißgestalten“, 58 dass das Schauspiel nicht als ein inhaltlich oder formal geschlossenes Kunstwerk angelegt ist, sondern auf die Unterhaltung seines Publikums durch Effekte sowie überraschende Momente und Wendungen ausgerichtet ist. Zugleich wird sichtbar, dass die Motive, die auf den englischen Bühnen nach William Shakespeare verbreitet waren - wie eben das Auftreten übernatürlicher Erscheinungen (Hexen, Geister, Feen) -, durch wandernde Schauspieltruppen auch auf dem Kontinent bekannt wurden und schließlich Eingang in das deutschsprachige Theater des 17. und 18. Jahrhunderts fanden. Die ästhetische Signifikanz und gedankliche Programmatik, die ihnen im Werk Shakespeares zukommt, sind im Prozess dieser popularisierenden Bearbeitungen und Adaptionen allerdings der Präferenz für die Wirkung der Bühnenerscheinungen auf das Publikum gewichen. Weil die Auftritte der Geister jeweils am Ende des letzten Auftritts eines Aktes stehen, können sie jedoch auch als Zwischenspiele gedeutet werden, welche 53 Ebd., S. 35f. 54 Ebd., S. 70f. 55 Ebd., S. 81-83. 56 Vgl. ebd., S. 130-134. 57 Ebd., S. 40. 58 Ebd., S. 107. die zeitlichen Pausen überbrücken, die für den Kulissen- und Kostümwechsel notwendig sind. In diesem Sinne sind die beiden Szenen nicht im Hinblick auf ihren möglichen Verweischarakter oder einen allegorischen Bezug zur Handlung des Polter-Geistes zu untersuchen, vielmehr sind sie ein weiteres Indiz für die Herkunft des Werkes aus dem Repertoire einer Wanderbühne. Hier waren Intermezzi allein aus dem Grund beliebt, weil sie die Möglichkeit eröffneten, dem Publikum auch solche Effekte oder schauspielerische Fähigkeiten vorzuführen, die im Hauptstück nicht dargeboten werden konnten. Das Supplement, das dem Werk auf den Seiten 137 bis 151 beigegeben ist, ist ebenfalls in einem solchen Zusammenhang zu verorten, denn die launige Ballade über den „Wein-Jud Simon Gabriel“ steht in keiner inhaltlichen Beziehung zu den Handlungen des Polter-Geistes. 59 Als ein derbes, ebenfalls possenhaftes Nachspiel gelesen, verweist der lyrische Monolog somit auch auf den Ursprung des Werkes im Repertoire einer Wandertruppe. VII. Warum das Stück 1722 in dieser Form zum Druck befördert wurde, ist nicht zu erklären. Die umherziehenden Schauspielgesellschaften hatten wenig Interesse daran, ihren jeweiligen Bestand an Stücken öffentlich und damit auch anderen Truppen zugänglich zu machen. Auch der possenhaft-burleske Charakter des Werkes, das die Konventionen der traditionellen Komödie hinter sich lässt, spricht gegen eine Publikation. Andererseits schmückt sich der unbekannte Verfasser nur allzu deutlich mit Gräzismen, so dass der Bildungshorizont, auf den solchermaßen verwiesen wird, denjenigen des Publikums, welches das Stück zu adressieren scheint, übersteigt. 60 Ein Blick auf die Geschichte der Schauspielbühnen im Straßburg des frühen 18. Jahrhunderts vermag ebenfalls keine Einsichten zu Geschichte und Hintergrund des Polter-Geist zu liefern, dokumentiert allerdings das Nebeneinander deutscher, französischer und englischer Einflüsse sowie die Koexistenz einer französisch dominierten städtischen Bühne und umherziehender, deutscher Schauspieltruppen. So kamen im städtischen Opernhaus auch Schauspiele zur Aufführung. Jean Martin François Théodore Lobstein, der die Geschichte des Theaters in der ehemaligen Reichsstadt untersucht hat, schreibt über die Direktion dieser Bühne in den fraglichen Jahren: 59 Ebd., S. 137. 60 Beispielsweise Adeisidämon, Tachypeistos, Archigrammatodeicnystes oder Nycticorax (ebd., S. 3). Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 49 50 Sikander Singh Am 31ten Mai 1721 erlangte Jakob Gardinier von Dublin, die Erlaubniß auf dem Stadt-Theater italiänische Comödien zu spielen. Der Magistrat wohnte auf Einladung einer Vorstellung bei, wofür der Direktor ein Geschenk von 160 Livres erhielt. Am 9ten Juli 1722 gieng die französische Direktion [die zuvor in den Händen der Herren le la Voye und Gaudin lag; S. S.] auf P i e r r e d u C o r n i e r , c o m é d i e n d e M g r . l e d u c d e B o u r b o n über, welcher das Rücksichten, von dem Miethzins des Hauses befreit blieb bis zum 15ten August 1727, wo ihm eine monatliche Miethe von 50 Liv. auferlegt wurde. 61 Die Aufführungen der deutschen Truppen fanden in den Häusern unterschiedlicher Handwerkszünfte statt: Indessen spielten deutsche Gesellschaften in dem Zunfthaus zur Tucherstube, unter andern 1716 eine von Stralsund, unter der bloßen Bedingung an den Tagen der französischen Komödie keine Vorstellung zu geben. Die Theater-Lust fieng in jener Zeit zu Straßburg an allgemein zu werden, besonders fanden deutsche Gesellschaften ihre Rechnung, so daß die Zünfte um die Wette ihre Lokalitäten zur Miethe anboten. Die Maurer-, die Tucher- und die Gerber-Zunft wollten Theater aufbauen. 62 Möglicherweise ist die Geschichte des Spenglers Simplicius einem solchen Entstehungszusammenhang zuzuordnen. Die Fokussierung auf die Welt des Handwerks und die Darstellung einer entsprechenden Lebenswirklichkeit auf der Bühne lassen sich zumindest auf diese Weise verstehen. Curt von Faber rubriziert das Werk unter der Überschrift „The Grotesquely Comical“ und deutet es als ein Volksstück: 63 Er schreibt: „A Strasbourg folk play, dealing with the story of an attempted fraud performed by an apprentice raised a ghost.“ 64 Zudem macht der gelehrte Bibliophile auf die inhaltlichen Parallelen zwischen dem Polter-Geist und dem 1680 unter dem Pseudonym (möglicherweise handelt es sich auch um ein Anagramm) Christian von Gletelberg in Nürnberg veröffentlichten Stück Eryfila. Oder Die Verrrathene Zauber- und Wahrsager-Kunst aufmerksam: „The plot is the same as in Gletelberg’s play, but the milieu is middle class: a Strasbourg tinsmith, named Simplicius after Grimmelshausens’s hero, and this wife Unckenplutz are the deceived ones.“ 65 Markus Paul, der sich im Rahmen einer Studie mit dem Nürnberger Theater des 17. Jahrhunderts beschäftigt hat, schreibt über dieses Stück: 61 Jean Martin François Théodore Lobstein: Beiträge zur Geschichte der Musik im Elsaß und besonders in Straßburg, von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Straßburg 1840, S. 130. 62 Ebd. 63 Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature (Anm. 10), Bd. I, S. 465. 64 Ebd. 65 Ebd. Von einem Mitglied des Pegenesischen Blumenordens stammt möglicherweise auch das 1680 in Nürnberg im Endterschen Verlag unter dem Pseudonym „Christian à Gletelberg“ erschienenen Stück Eryfila. Oder die Verrathene Zauber= und Wahr-sager=Kunst. Laut Vorrede basiert das 272 Seiten umfassende Werk auf einem französischen Schauspiel, dessen ursprünglichen Autor der Übersetzer nicht zu nennen vermag. Bemerkenswert ist, daß sich in der Vorrede nicht nur ein verstecktes Zitat aus dem Schauspielkapitel von Birkens Poetik findet, sondern dem Stück auch ein Begleitgedicht in sechs Strophen beigegeben ist, das von niemand anderem als dem ‚Pegnitzschäfer‘ Johann Gabriel Meyer unterzeichnet ist. Dabei geht es in dem auf moralische Belehrung abzielenden Stück um die als „Ertz-Aeffin deß Teufels“ titulierte Zauberin Eryfila und um allerlei Verwirrungen, Zauber- und Wahrsagerei. Gespenster, schwarze Kunst sowie den Teufel, der Tiere in Menschen verwandelt[.] 66 Die Parallele zwischen den beiden Werken, auf die von Faber hinweist, besteht darin, dass die Geister keine überirdischen Erscheinungen sind, sondern durch menschliche Kunstfertigkeit in der Absicht hervorgerufen werden, andere Menschen zu täuschen. Weil die bewusste Täuschung und willentliche Irreführung einer Mehrzahl von Figuren durch eine einzelne bereits in mittelalterlichen Schwankerzählungen zu finden und spätestens seit Pedro Calderón de la Barcas La Dama duende auch ein beliebtes Motiv der Komödie ist, erscheint von Fabers Überlegung allerdings wenig schlüssig. Die didaktische Intention tritt in dem Nürnberger Stück, das durchweg als ein Lustspiel angelegt ist, zwar deutlicher hervor als in dem Straßburger Stück; gemeinsam ist beiden jedoch, dass bereits zu Beginn herausgestellt wird, dass keines der auf der Bühne zu sehenden Gespenster Realität besitzt. In diesem Sinne heißt es in der Vorrede zu Eryfila: Erschrecke nicht allzusehr- / geneigter Leser- / ob dem ersten Anblick dieses Lust- Spiels-/ und laß dich ja nicht von einigem Grauen so har urplötzlich überfallen werden-/ daß du etwa aus unzeitiger Beysorge-/ ob möchten diese Larv- und Schreck-Gesichter dir die anmutige Nach-Ruhe verstören-/ und schreckbare Träume verursachen-/ dieses Büchlein zu kaufen und durchzublättern Bedencken tragen wolltest. Es ist und bleibt ein Lust-Spiel-/ in dem Wahr-sagen hier als Mahr-sagen-/ Geheim-Geister als Träum-Geister-/ Hand- und Stirn-Deutungen als Tand- und Hirn-Theidungen- / und mit einem Wort-/ unter Zäuberern und Räubern-/ wie wie hierinn beschrieben werden- / kein andrer Unterschied gemacht wird- / als daß diese mit offenbarer Gewaltthäthigkeit-/ jene mit allerhand verdeckten Räncken und heimlichen Griffen-/ die Leid um das Ihrige bringen. 67 66 Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002, S. 435f. 67 Eryfila. Oder Die Verrathene Zauber- und Wahrsager-Kunst: Welche In einem überaus lustigen Sinn- und Lehr-reichen Schau-Spiel von denen Königlichen Schauspielern in Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist - Ein-anonymes Straßburger Volksstück 51 52 Sikander Singh Die rationale Haltung, welche die Autoren beider Stücke akzentuieren, die Kritik an Leichtgläubigkeit und Aberglauben und die Betonung des Nutzens des literarischen Spiels und daraus zu ziehender Lehren für den Zuschauer, spiegeln Aspekte einer poetologischen Programmatik, die im weiteren Verlauf der literarischen Aufklärung zur Entfaltung gelangen sollte, aber in den Übergängen von Barock und Frühaufklärung schon erkennbar sind. Während das Nürnberger Stück bereits in seinem Titel auf eine französische Vorlage verweist, Christian von Gletelberg als Übersetzer desselben vor den Leser tritt und die Hinweise auf Bühnenwerke Molières den Bildungshorizont des unbekannten Verfassers und seines Publikums anzeigen, zeigt das Straßburger Stück die Vielfalt an Formen, Inhalten und Traditionen, die für die Bühnen des Barock vor „der klassizistischen Reinigung der Schaubühne“ kennzeichnend ist. 68 Nicht die Geschlossenheit der Form und der Handlung, die Symbolhaftigkeit der dargestellten Welt oder das Individuelle der Personen stehen im Vordergrund; stattdessen weist das Stück durch die Reihung von komischen Szenen, Dialogen und Verwicklungen sowie durch das Typenhafte der Figuren auf eine Poetik, die an der unterhaltenden Wirkung des Bühnengeschehens orientiert ist. Das Nebeneinander zweier Handlungen, die Erweiterung um Szenen, denen die Funktion von Zwischenspielen zukommt und die Ergänzung um ein Nachspiel, erscheint daher lediglich aus der Perspektive eines Werkbegriffes als defizitär, der zwischen Sturm und Drang und Romantik entwickelt worden ist. Indem das Straßburger Stück jedoch nicht vor dem Hintergrund der theoretischen Erwägungen späterer Generationen entstanden ist, können diese (ihrerseits nunmehr historischen) Begriffe auch nicht zu seiner Einordnung herangezogen werden. In diesem Sinne ist der Polter-Geist das seltene Beispiel eines jener Volksstücke, mit denen Wandertruppen des frühen 18. Jahrhunderts ihr ungebildetes (weil nicht belesenes) Publikum unterhielten. Als ein Werk des Überganges steht es zwischen Mündlichkeit im Sinne theatralischer Performanz und Schriftlichkeit im Sinne einer sich ausbildenden Literarizität; es verbindet zwar Momente der französischen, italienischen und englischen Theatertradition, hat sich jedoch bereits von den damit verbundenen Konventionen gelöst. Es ist unterhaltend, erhebt auf eine implizite Weise aber bereits den Anspruch, zugleich lehrreich zu sein. Franckreich der heutigen betrigerischen Welt fürgestellt und praesentirt worden. Nürnberg 1680, S. III. 68 Uwe-K. Ketelsen: Textauswahl und Textgestaltung. In: Komödien des Barock. Hrsg. von Uwe-K. Ketelsen. Reinbek bei Hamburg 1970 [Texte deutscher Literatur 1500-1800. Hrsg. von Karl Otto Conrady], S. 222. Eulogius Schneider als literarische Figur - „Hergeloffener“ oder „Brückenbauer“ zwischen Deutschland und Frankreich? Annette Kliewer, Mainz-/ Bad Bergzabern Eulogius Schneider, sein Taufname war Johann Georg, wurde am 20. Oktober 1756 in Wipfeld am Main geboren. Schneider war schon in Deutschland mit der geistlichen und weltlichen Obrigkeit in Schwierigkeiten gekommen, emigrierte dann ins revolutionäre Straßburg, wo er schon bald Karriere machte. 1794 wurde er von seinen revolutionären Genossen in Paris hingerichtet. Seitdem taucht er immer wieder im populären Gedächtnis, in wissenschaftlichen und fiktionalen Texten in Deutschland und im Elsass, auf - einmal als Ausbund der Terreur, einmal als eine Lichtgestalt der deutsch-französischen Befreiungsversuche. Wieso konnte eine solche Figur bis heute eine so große Wirkung für die Straßburger Geschichte haben? 1 I. Der Hintergrund: Die Revolution in Straßburg Auch in Straßburg werden 1789 Bürgerclubs gebildet und 24 Abgesandte für die Etats Généraux nach Paris geschickt. Und trotzdem ist hier alles etwas anders: Das Elsass steht der revolutionären Bewegung in Paris etwas skeptisch gegenüber. Ein großes Problem ist die Frage der Religion: 220.000 Protestanten stehen 450.000 Katholiken gegenüber. Straßburg hatte eine tolerante Umgangsweise mit diesen verschiedenen Konfessionen gefunden, eine grundlegend antiklerikale Haltung passt zunächst nicht zu der herrschenden Volksfrömmigkeit. Zu welch merkwürdigen Koalitionen dies führen sollte, zeigt der Konflikt um den Nordturm der Kathedrale: Als 1794 radikale Antiklerikale den Turm abreißen 1 Die Schriften von Schneider sind digitalisiert sehr gut zugänglich und noch heute finden sich zahlreiche Erwähnungen auf populärwissenschaftlichen Internetseiten, z. B. URL: http: / / autour-du-mont-sainte-odile.overblog.com/ euloge-schneider-un-charmant-gar% C3%A7on (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020), aber auch auf royalistischen Seiten, die seine Grausamkeiten aufzählen, um die Republik anzugreifen, z. B. URL: http: / / shenandoahdavis.canalblog.com/ archives/ 2020/ 01/ 08/ 37887554.html (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). 54 Annette Kliewer möchten, wird er mit einer riesigen phrygischen Mütze verziert und so vor der Zerstörung gerettet. Eine weitergehende Zustimmung zu Frankreich stellt sich erst durch eine elsässische Sonderregelung her: Die Priester und Pfarrer sind seit 1790 gewählte Beamte des Staates, von ihm bezahlt und auch ihm unterworfen. Dies erhöht ihre Loyalität zu diesem Staat. 2 Der Erzbischof François Antoine Brendel steht der Revolution nahe, wird aber von den Katholiken nicht wirklich akzeptiert, weil seine Wahl auch mit den Stimmen der Protestanten zustande kam. Die Protestanten scheinen insgesamt durch die Revolution mehr an Macht zu gewinnen als die Katholiken, ist die Abschaffung der Privilegien sowie die Etablierung der Menschenrechtserklärung doch eher in ihrem Sinne, da ihnen nun alle staatlichen Karrieren offenstehen. 3 In einem weiteren Punkt unterscheidet sich das Elsass von anderen Landesteilen: Hier spricht man einen deutschen Dialekt. Mit der Terreur wird auch dieser verboten, man befürchtet Verbrüderungen mit den deutschsprachigen Feinden. In der Tat werden 1792 preußische und österreichische Truppen freudig begrüßt, als sie die entthronten Adeligen bei ihrem Angriff auf Frankreich unterstützen. Als die Franzosen zurückschlagen, retten sich viele Elsässer auf die andere Rheinseite, weil sie befürchten, dass sie als Verräter verfolgt werden. Gleichzeitig kommen einige bekannte Generäle der Revolution ( Jean-Baptiste Kléber, Jean Rapp und François-Étienne-Christophe Kellermann) aus dem Elsass und Rouget de Lisle schreibt 1792 in Straßburg das Kriegslied für die Rheinarmee (Chant de guerre pour l’armée du Rhin), das später zur Nationalhymne Marseillaise wird. 4 II. Das Leben des Eulogius Schneider Im Würzburger Jungenkonvikt fiel Schneider auf, weil er Schriften von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christian Fürchtegott Gellert las und selbst erste Rokoko-Gedichte schrieb. Er übersetzte Anakreon aus dem Griechischen, einen Vorreiter lustfreundlich-optimistischer Lyrik. Zunächst trat er aber doch 1777 dem Bamberger Franziskaner-Orden bei und wurde 1786 zum Hofprediger an den württembergischen Hof Carl Eugens berufen, wo er aber auch bald mit seiner Kritik aneckte. 1789 ging Schneider als Professor für Literatur und Schöne 2 Eine letzte Bestätigung erhält die französische Nation denn auch mit der napoleonischen Sonderregelung des Elsass - einem Konkordat, das zunächst mit der katholischen Kirche (1802), dann mit den Protestanten (1803) und schließlich mit dem Judentum (1808) abgeschlossen wird. 3 Vgl. Claude Muller: Réligion et Rèvolution en Alsace. In: Annales Historiques de la Rèvolution Française 337 (2004), S. 3. 4 Vgl. hierzu URL: https: / / journals.openedition.org/ ahrf/ 1514 (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). Eulogius Schneider als literarische Figur 55 Künste nach Bonn. Dort schrieb er eine Rede über den gegenwärtigen Zustand und die Hindernisse der schönen Litteratur im katholischen Deutschland (1789) und veröffentlichte seine ersten Gedichte, meist im tändelnden Rokokostil, nahm aber auch Stellung für eine aufgeklärte Poesie. Im Vorwort schreibt er: „Diese eigensinnige Pflanze (die Poesie) gedeihet nur durch anhaltende Cultur, und nur auf dem Boden der Freiheit, welche an Höfen nicht viel mehr einheimisch ist, als in den Zellen der Mönche“. 5 Wegen dieser kritischen Schriften wurde er 1791 entlassen und emigrierte aus politischen Gründen ins revolutionäre Frankreich nach Straßburg, das er als Reich der Freiheit preist: 6 Gefallen ist des Despotismus Kette, Beglücktes Volk! von deiner Hand: Des Fürsten Thron ward dir zur Freiheitsstätte Das Königreich zum Vaterland. Kein Federzug, kein: „Dies ist unser Wille“, entscheidet mehr des Bürgers Los. Dort lieget sie im Schutte, die Bastille, Ein freier Mann ist der Franzos! 7 Er war zunächst bischöflicher Vikar, Professor am Seminarium, Prediger im Straßburger Münster. Schließlich entfernte er sich immer weiter von seinem Priesteramt und wandte sich der revolutionären Bewegung zu. Er wurde Ratsherr, Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der ab Juni 1792 veröffentlichten Zeitschrift Argos und zeitweilig Präsident des Straßburger „Klubs der Jakobiner und Sansculotten“. Dieser setzte sich gegen den gemäßigten „Club des amis de la Constitution“ um den Straßburger Bürgermeister Philippe-Frédéric Baron de Dietrich durch, der für eine Beibehaltung der Monarchie plädierte. De Dietrich war Baron, Industrieller, Protestant und deutschsprachig und versuchte zwischen Adel und Jakobinern zu vermitteln. 1792 wird er abgesetzt und 1793 in Paris guillotiniert. Schneider muss de Dietrich in persönlichen Attacken scharf angegriffen haben, dies wird auch durch seine Hetzgedichte deutlich. 5 Zitiert nach Christoph Friedrich Cotta: Eulogius Schneiders Schicksale in Frankreich. Hrsg. und eingeleitet von Christoph Prignitz. Hamburg 1979, S. VII. 6 Schon vor seinem Tod gibt es eine Reihe von Schriften über oder gegen ihn: 1786 erscheint in Eichstätt ein Commentar eines catholischen Weltmannes zu der von Eul. Schneider gehaltetenen Toleranzpredigt. 1791 veröffentlichte der Heidelberger Theologieprofessor Heinrich Benedikt Fleischbein (1747-1793) gegen Schneider die Schrift Des Herrn Eulogius Schneider Irrthümer und Gefährlichkeiten in der Rede von der Übereinstimmung des Evangeliums mit der neuen Staatsverfassung der Franken. Sein Leben vor 1791 wurde in der Biographie seines Zeitgenossen Andreas Sebastian Stumpf (Eulogius Schneiders Leben und Schicksale im Vaterland) ausführlich beschrieben. 7 Eulogius Schneider: Gedichte. 4. Aufl. Frankfurt 1790, S. 247. 56 Annette Kliewer Als de Dietrich sich gegen die Amtsenthebung Ludwig XVI. einsetzt, schreibt Schneider: Ihr fraget mich, ob Ludwig sterben soll? So fraget auch, ob Tugend etwas sey, Und ob man nicht des Lasters schonen müsse, Sobald es sich mit einer Krone deckt. […] Nein! Sorget nicht, nein! Setzt ihn auf den Thron; Und fallet wieder hin zu seinen Füßen, Und küsst die Hand, die einer Nation Den Dolch ins Herz zu stechen sich bemühte! Vergesset, dass ihr Menschen seyd, vergesset, Was Freiheit ist, und werdet wieder Vieh! 8 1792 wurde Schneider kommissarischer Bürgermeister in Hagenau und ab 1893 „öffentlicher Ankläger“ beim Revolutionstribunal und damit verantwortlich für die Guillotinierung von 30 Personen im Elsass. Gleichzeitig machte er sich aber auch die Vertreter des jakobinischen Konvents Saint-Just und Lebas zu Feinden. Im Herbst 1793 wurde Louis Antoine de Saint-Just (1767 bis 1794) zusammen mit Philippe-François-Joseph Le Bas (1764 bis 1794) in das Elsass zur Überwachung der Truppen gesandt. Die beiden „Volksvertreter mit außerordentlicher Vollmacht bei der Rheinarmee“ hatten demnach militärische Aufgaben, die aber auch auf die Organisation der öffentlichen Ordnung ausgeweitet wurden. In einer ausführlichen Darstellung zu Saint-Just von Ernest Hamel geht dieser intensiv auf die Sicht von Saint-Just auf Eulogius Schneider ein: Er legt ihm etwa zur Last, dass er ja nur deshalb sich für die Revolution engagiert habe, weil er so seinem Priesterrock entkommen konnte: Aussi se laissa-t-il complaisamment entrainer au torrent révolutionnaire, et s’il sacrifia aux idées nouvelles, ce fut surtout, je pense, pour jeter aux orties un froc qui lui était devenu pesant, et pour satisfaire une soif de voluptés d’autant plus impatiente qu’elle avait été plus longtemps comprimé. 9 1793 heiratet der entlaufene Priester denn auch Sara Stamm, die Tochter eines Straßburger Weinhändlers. Um diese Hochzeit gibt es verschiedene Gerüchte: War Stamm „un aristocrate en jugement“ und hatte Schneider ihn unter Druck gesetzt („aurait fait voir au père la guillotine“)? 10 Hat sich die frisch Verheiratete zu Saint-Just gerettet, um ihren eigenen Mann anzuklagen und ihn dem 8 Zitiert nach Cotta: Eulogius Schneiders Schicksale in Frankreich (Anm. 5), S. XI. 9 Ernest Hamel: Histoire de Saint-Just. Député à la Convention nationale. Paris 1859, Buch 3, S. 51. 10 Ebd., S. 54. Schafott zuzuführen? 11 Oder handelt es sich wirklich um eine Liebesheirat? Das alles ist nicht wirklich zu ergründen. Klar ist aber: Wenige Stunden nach seiner Hochzeit wurde Schneider am 15. Dezember auf Anweisungen von Saint-Just und Le Bas verhaftet und auf dem Straßburger „Paradeplatz“ an die Guillotine gebunden. Begründung: Schneider, „vormals Priester und geborener Untertan des (deutschen) Kaisers“, umgebe sich mit übermäßiger Pracht: Ce jour-lá, Schneider revenait d’une tournée triomphale, et, sans le moindre souci de l’égalité républicaine, il était entré à Strasbourg, dans un carrosse de parade, attelé de six chevaux magnifiques; vingt-cinq cavaliers l’escortaient, le sabre nu à la main. 12 Schneider war damit sicher auch Opfer von Ränkespielen aus Paris: Robespierre musste nach der Liquidierung der Girondisten um Danton nun als Zugeständnis an die Bourgeoisie gegen die sozialrevolutionären Sansculotten vorgehen, als deren Vertreter Schneider galt. Auch seine deutsche Herkunft muss ihm hierbei negativ angelastet worden sein, mit ihm sollten auch die anderen „sogenannten Fremden oder Deutschen“ getroffen werden, aber auch der Kosmopolitismus der Girondisten, die Robespierre gerade durch die Ausmerzung von Danton überwunden glaubte. So schreiben Saint-Just und Lebas an Robespierre am 14. Dezember 1793: Wir liefern dem Wohlfahrtsausschuss den Öffentlichen Ankläger beim Straßburger Revolutionstribunal ein. Es ist ein ehemaliger Priester, als Untertan des Kaisers geboren. Ehe er aus Straßburg fort kommt, wird er auf dem Schafott der Guillotine an den Pranger gestellt werden. Diese Strafe, die er sich durch sein freches Betragen zugezogen hat, war auch von der Notwendigkeit geboten, einen Druck auf die Fremden auszuüben. Glauben wir nicht an die kosmopolitischen Scharlatane, und vertrauen wir nur auf uns selbst. Wir umarmen Sie von ganzem Herzen. 13 III. Reaktionen auf Eulogius Schneider III.1 Die Zeitgenossen Oft wird betont, dass mit dem Todesurteil an Schneider dem Willen der Bevölkerung entsprochen worden sei: „Sa chute causa à Strasbourg une satisfaction presque unanime.“ 14 Kurz nach seinem Tod finden sich in Straßburg aber auch ganz widersprüchliche Stellungnahmen, so erschienen 1794 in Leipzig und Pa- 11 Ebd. 12 Ebd., S. 55. 13 Zitiert nach Michael Schneider: Der Traum der Vernunft. Köln 2001, S. 28. 14 Hamel: Histoire de Saint-Just (Anm. 9), Buch 3, S. 56. Eulogius Schneider als literarische Figur 57 58 Annette Kliewer ris Eulogius Schneiders ernste Betrachtungen über sein trauriges Schicksaal nebst einem flüchtigen Rückblick auf seinen geführten Lebenswandel von ihm selbst kurz vor seiner Hinrichtung niedergeschrieben und von einem seiner Zeitgenossen herausgegeben und mit Anmerkungen begleitet. 15 Die Fortsetzung fand sich bei einem seiner Mitkämpfer: Der Jakobiner Christoph Friedrich Cotta, Bruder des Verlagsgründers Johann Friedrich Cotta, verfasste 1797 Eulogius Schneiders Schicksale in Frankreich über seine Jahre in Straßburg. Cotta, Herausgeber der politischen Zeitung Strasburgerisches politisches Journal, war für die revolutionäre Sache später auch im republikanischen Mainz tätig, heiratete Schneiders Witwe Sarah Stamm, war Gerichtsvollzieher im elsässischen Wissembourg und Verwaltungsangestellter bei der bayrischen Verwaltung in Landau. Seine Biographie ergreift ganz klar Position für Schneider. Dies lässt sich an einer Schlüsselstelle zeigen, nämlich der Beschreibung seiner Verhaftung: Schneider schien nun für die Rachsucht seiner Feinde ganz reif zu seyn, und wurde also den 25sten Primaire Morgens um 2 Uhr von dem Trunkenbolde Dieche aus dem Bette geholt und ihm seine Papiere mit den wenigen Kleidungsstücken seiner Schwester unter Siegel gelegt. Moucheat, Departementspräsident, und einer von den thätigsten Feinden Schneiders, verrichtete dies Geschäfte. - Schneider ward in das militärische Gefängnis oder Pont couvert gebracht. Warum? - das konnte man sich am Morgen noch lange nicht sagen. 16 Schon durch die Kennzeichnung seiner Feinde („Trunkenbold“, „thätigster Feind“), aber auch durch die Einfügung der rhetorischen Frage nach seiner Schuld, versucht Cotta das Geschehen subjektiv zu färben. Der Prozess gegen Schneider wird denn auch im Folgenden in starker Anlehnung an den Prozess gegen Jesus geschildert: „Herunter mit der Uniforme! “ schrie der Haufe wieder […]. Unbeschreiblich war nun der Zulauf des Volkes, wovon ihn der größte Theil so sehr haßte. Wie vom Sturmwinde fortgejagt, rannte man aus allen Gassen dem Paradeplatze zu, um was jedem immer noch unglaublich schien, Schneidern an der Guillotine paradiren zu sehen. […] Die Freude des Pöbels über dies ihm gegebene Spektakel machte die Meisten auf verschiedene Tage das allgemeine Elend, das sie drückte, vergessen, um so mehr, als sie glaubten, nun sey ihr ärgster Feind kraftlos und ohnmächtig genug gemacht. Al- 15 1812 schreibt Johann Georg Meusel in dem Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller (Bd. XII, S. 337-341) einen Nachruf, ebenso findet sich 1808 ein Beitrag von Friedrich Karl Gottlob Hirsching in dem Historisch-litterarischen Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem achtzehnten Jahrhundert gelebt haben, sowie 1824 ein Artikel zu ihm von Clemens Alois Baader im Lexikon verstorbener baierischer Schrifsteller des achtzehenten und neunzehenten Jahrhunderts. 16 Cotta: Eulogius Schneiders Schicksale in Frankreich (Anm. 5), S. 191. lein es kam bald die Zeit, wo mehr als einer seiner Feinde im Volke sogar Schneidern zurückwünschte. 17 Cottas Darstellung sollte einige literarische Auseinandersetzungen mit Schneider beeinflussen, wie sich im Folgenden zeigt. III.2 Elsässische literarische Verarbeitungen Wie wichtig Schneider für das elsässische Unterbewusstsein geworden ist, zeigt, dass er sogar in die populären Legenden und Sagen eingegangen ist: Sein Geist solle um den Mont-Sainte-Odile nächtens auftauchen und er müsse für seine schauderhaften Taten noch heute büßen. So wird die Sage in Légendes et Traditions Orales d’Alsace von Jean Variot wiedergegeben: Parfois, la nuit, quand un orage menace, on voit s’avancer, sur la route de Mittelbergheim à Barr, un carrosse qui roule lentement. Si vous approchez, vous voyez que les chevaux ne sont que des squelettes et que le cocher tient à la main un large couteau. Le carrosse dégoutte de sang. A l’intérieur, un homme est assis, il tient sa tête sur ses genoux. Pour effrayer les passants attardés, il la leur tend par la portière. C’est Euloge Schneider, le grand massacreur de Strasbourg qui fit exécuter des milliers de personnes pendant la révolution. 18 Zunächst gab es aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von neuen Veröffentlichungen zu ihm, zunächst in französischer Sprache 19 und meistens einzuordnen in eine elsässische Geschichtsaufarbeitung, dann im Zuge der Annexion des Elsass nach dem Krieg von 1871 auch in deutscher Sprache. 20 Nach historisch-wissenschaftlichen Darstellungen wurde Schneiders Leben von einer Reihe elsässischer Autoren finktional aufgegriffen. 1903 verfasste der elsässische Zentrums-Abgeordnete und Autor Karl/ Charles Hauß das dreisprachi- 17 Ebd., S. 193. 18 Jean Variot: Légendes et Traditions Orales d’Alsace - 1920. URL: http: / / autour-du-montsainte-odile.overblog.com/ euloge-schneider-un-charmant-gar%C3%A7on (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). 19 Friedrich Karl Heitz: Notes sur la vie et les écrits d’Euloge Schneider, accusateur public du Département du Bas-Rhin. Strasbourg 1862; Louis Spach: Biographies Alsaciennes. Paris 1866, S. 250, S. 316 u. ö. 20 Jacob Venedey: Die deutschen Republikaner unter der französischen Republik. Leipzig 1878; Julius Duboc: Ein deutscher Revolutionär. In: ders.: Gegen den Strom. Gesammelte Aufsätze. Hamburg 1884; Carl Wilhelm Faber: Eulogius Schneider. Philosophiae et theologiae doctor. Der öffentliche Ankläger beim Revolutionsgericht zu Straßburg. Ein Vortrag, gehalten im Volksbildungsverein zu Straßburg am 14. Februar 1886. Mülhausen im Elsass 1886; Julius Friedrich Emil Rathgeber: Straßburger Revolutionserinnerungen. Eulogius Schneider. Größtentheils nach ungedruckten Quellen. Straßburg 1891; Leo Erhard: Eulogius Schneider. Sein Leben und seine Schriften. Straßburg 1894. Eulogius Schneider als literarische Figur 59 60 Annette Kliewer ge Dialekt-Theaterstück Eulogius Schneider. Vadderländischs Schauspiel in vier Akt. Er rechnet mit Schneider ab. Nur selten wird sein Charakter beleuchtet, meistens äußern sich nur elsässische Bürger über ihn und seine Machenschaften, allen voran die historische Figur des elsässischen Schriftstellers August Lamey (1772 bis 1861), die Hauß als Identifikationsfigur einsetzt. Zusätzlich wird die Sympathielenkung gegen Schneider noch dadurch gesteuert, dass der positive Held, der Wirtssohn Joseph, seine geliebte Frédérique an Schneider abtreten muss. Diese lässt sich von Schneiders Macht verführen, findet am Ende aber doch wieder zu Joseph zurück. Auch hier sei aus dem Tribunal (dargestellt im vierten Akt, zweiter Auftritt) zitiert. Anders als Cotta identifiziert sich Hauß nun mit der aufgebrachten Menge, die durch Lamey gesteuert wird: Die Menge (schickt sich an der Anregung zu folgen. Ausgelassen). Allez hopp! Jetz isch’s an uns zue jüblire! Lamey (hält die Menge zurück). Nitt nöthi Burjer! D’r Saint Just hett verordonirt, dass hitt noch er mueß üßg’stellt wäre am Schandpfohl do mitt-n-uff’m Platz. Er soll an sinnere ajene Hütt verspiire, wie’s denn isch zu Mueth gewäse, wie er for nix un widdernix hett zue Tod gequält. Un Burjer, eins vor allem wölle m’r nitt vergässe! Ich froej eijch: Wer hett unsere Maire, d’r Herr de Dietrich so verkaofaktert, dass’r an d’r Guilljotin kümm noch vorbej word kumme könne? Die Menge D’r Schneider, der Hallungk! D’r Maire isch unschuldi! […] Lamey (fortfahrend). Wer hett hunderti von unsere Burjer, do her schleife lonn uff’s Schaffot un hett so g’hüüst, da’werzich dieß G’stell an manche Däi im Blued ball zollhoch g’stande-nisch? Die Menge D’r Schneider! An’s Messer mit’m! 21 Etwa zwanzig Jahre später widmet sich wieder ein Elsässer der Person Schneiders: Eduard Reinacher (geboren 1892 in Straßburg, gestorben 1968 in Stuttgart) entschied sich 1918, das Elsass zu verlassen und in Deutschland zu leben, wo er unter anderem in Stuttgart zur Avantgarde um Oskar Schlemmer und Paul Hindemith gehörte. Er arbeitete als Journalist, Schriftsteller und Dramaturg beim Rundfunk und war einer der ersten, der Hörspiele verfasste. 1929 erhielt er den Kleistpreis, 1938 den Hebel-Preis. Er verfasste vor allem balladenhafte Gedichte und Theaterstücke. Reinacher schreibt sein Lebensbild über Schneider in expressionistisch-pathetischen Tönen. Ihm scheinen die Biographien aus dem 18. Jahrhundert vorgelegen zu haben, sehr genau schildert er Namen und 21 Charles Hauß: Eulogius Schneider. Vadderländischs Schauspiel in vier Akt. Straßburg 1903, S. 97. chronologische Abläufe. Reinacher sieht zwar die Grausamkeit Schneiders, interessiert sich andererseits aber auch für seine gebrochene, widersprüchliche Gestalt. Auch hier sei das Ende Schneiders zitiert, kurz vor seiner Festnahme: Eulogius begann seines Lebens Blutfest zu feiern. Wie ein Mann, der ein Gebirge herabgerannt ist und nun jenseits des Strichs am Abgrund das Meer schaut, zögern müßte, wollte er leben, gerissen aber von sehnendem Schwung rascher zu läuft, die Arme aufreißt gegen das weiße, schäumende Meer, schreiend „Friß mich“ den Abhang in weiter Linie hinabspringt, schon besinnungslos, so rannte Eulogius hinein. Wilder als vorher mischte sich alles in ihm. Alles Gute den Menschen, so wie ich es ihnen meinet. Das war die gerade Linie des Gedankens, um den er seinen abenteuerlichen Zickzack machte. Heil durch Schrecken! Die Peitsche der widerwilligen Herde! Zwang zur Freiheit! Durch solcher Worte Tat, meinte er, sollte die Welt beglückt sein. Ach, und der Schwamm Seelenkleinheit fraß am Gerüst der hohen Tat! 22 Die Darstellung Schneiders als eines genialen, aber grausamen Titanen erinnert in vielem an Georg Heyms oder Brechts Darstellung des Baal. Reinacher beschönigt also nichts, er zeigt schon, dass Schneider die Revolution durch seinen Machthunger, durch seine Willkür und seine Pöbelhaftigkeit verraten hat, aber auch die Gegner Schneiders werden als Vertreter der alten Ordnung lächerlich gemacht. In Reinachers Argumentation taucht die deutsche Herkunft Schneiders nur am Rande auf, wenn er darauf verweist, dass Monet und St. Just darauf warteten, dass „der Teutone reif“ werde, dass Schneider sich sein eigenes Grab gegraben habe, indem er das Volk gegen sich aufbrachte. 23 Beide Elsässer, Hauß und Reinacher, sehen in Schneider vor allem den Tyrannen, der sich machtgierig breit gemacht hat, und arbeiten damit ein Stück traumatisierter Geschichte des Elsass auf. Eine ähnliche Abwehr gegen Schneider als dem „terroriste en Alsace“ findet sich dann in den 1960er Jahren in dem Hörspiel von Joseph Holterbach 24 und der wissenschaftlichen Abhandlung von Roger Jaquel. 25 Der zeitgenössische Elsässer, der sich wohl am intensivsten mit Schneider beschäftigt hat, ist Claude Betzinger. 26 22 Eduard Reinacher: Eulogius Schneider. In: ders.: Eulogius Schneide. Lenele. Eine elsässische Kindergeschichte. Basel und Straßburg 1926, S. 5-38, hier S. 32. 23 Ebd., S. 35. 24 Joseph Holterbach: De Eulogius Schneider holt sich e Frau: E Höerspiel üs de elsässisch Schreckezitt. Strasbourg: Radio Strasbourg, 1960. 25 Roger Jaquel: Un terroriste en Alsace. Euloge Schneider 1756-1794. Saisons d’Alsace 10 (1964), S. 183-201. 26 Claude Betzinger: Vie et mort d’Euloge Schneider, ci-devant franciscain. Des lumières à la terreur, 1756-1794. Straßburg 1997; Claude Betzinger: Euloge Schneider face à l’histoire. In: Revue d’Alsace 124 (1998), 141-186; Claude Betzinger: Eulogius Schneider. Jacobin oder „deutscher Jakobiner“. In: Daniel Schönpflug-/ Jürgen Voss (Hrsg.): Révolutionnaires Eulogius Schneider als literarische Figur 61 62 Annette Kliewer III.3 Schneider und die deutsche Linke Das Interesse an Schneider nimmt nicht ab, auch außerhalb des Elsass: 1933 schreibt Edmund Nacken eine Dissertation über ihn. 27 Am 8. Juli 1989 wird im Südwestfunk der Film Zwischen Mönchszelle und Guillotine gezeigt. Der Schriftsteller Franz H. Jakubaß (1923 bis 2010) schreibt die Erzählung Eulogius Schneider, von der Kanzel zum Schafott, sie wird 1991 vom Bayerischen Rundfunk als Hörspiel unter dem Titel Der Brüderlichkeit Schatten gesendet. Mit einem ganz besonderen Interesse widmet man sich Schneider in der bundesrepublikanischen Linken. 28 Als man - im Sinne einer kritischen Heimatkunde - begann, sich mit der verschütteten revolutionären Geschichte der Region auseinanderzusetzen, stieß man erneut auf die doppeldeutige Gestalt. Gerhard H. Haasis (geboren 1942), Historiker, Rundfunkautor, Schriftsteller und Märchenclown 29 , gibt seit den 80er Jahren eine „verschüttete Freiheitsbibliothek aus der Zeit der deutschen Jakobiner“ unter dem Titel Blauwolkengasse heraus. Er erklärt den Titel seiner Reihe aus seiner Verehrung für Schneider: Die letzte Adresse des nach Straßburg emigrierten deutschen Jakobiners Eulogius Schneider. Hier ließen ihn die Konventionskommissare im Dezember 1793 auf dem Höhepunkt des Ausländerhasses verhaften und nach Paris unter die Guillotine schleppen. Opfer einer eigentümlichen Koalition aus reichem Straßburger Bürgertum und Pariser Robespierristen. So ist diese Gasse ein Symbol von radikaler Demokratie, Emigration und Niederlage. Ein Ort der Besiegten, wo die noch nicht eingelösten Hoffnungen leichtfüßig auf einer anziehenden Wolke daherkommen. 30 Ein ähnliches Interesse an Schneider hatte wohl auch Michael Schneider (geboren 1943). Er ist heute einer der wenigen marxistischen Intellektuellen, die immer schon die Gefahren von Staatsgewalt kritisierten - auch unter Stalin. Er unterrichtete als Professor an der Ludwigsburger Filmakademie, ist Philosoph, Sozialwissenschaftler und Schriftsteller. 31 Er verteidigt Eulogius Schneider und et Emigrés. Migration und Transfer zwischen Frankreich und Deutschland 1789-1806. Stuttgart 2002, S. 93-106. 27 Edmund Nacken: Studien über Eulogius Schneider in Deutschland. [Diss. masch. Bonn 1933]. 28 Z. B. Walter Grab: Eulogius Schneider - ein Weltbürger zwischen Mönchszelle und Guillotine. In: ders.: Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt am Main [u. a.] 1984, S. 109ff.; Ludger Lütkehaus: „Der Marat von Straßburg. Das revolutionäre Leben und Sterben des Eulogius Schneiders“. In: Allmende 46/ 47 (1995), S. 103-118; Lexikon für Theologie und Kirche. Hrsg. von Walter Kasper. Freiburg im Breisgau 1993-2001, Bd. IX, S. 191. 29 Vgl. hierzu URL: www.hellmut-g-haasis.de/ (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). 30 Christoph Friedrich Cotta: Rede für das Fest des Frankenvolks (Straßburg Jahr III [1794]). Paris und Straßburg 1991, Klappentext. 31 Weitere Informationen finden sich auf Schneiders Homepage URL: http: / / www. schneider-michael-schriftsteller.de/ (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). bezieht sich dabei direkt auf die ersten Texte von Christoph Friedrich Cotta. Sein Roman Der Traum der Vernunft ist damit auch eine Auseinandersetzung mit linker Gewalt, mit der Schreckenspolitik revolutionärer und sozialistischer Regime. Indem er Schneider selbst bzw. ihm nahestehende Personen wie seine Frau Sarah bzw. den o. g. Christoph Friedrich Cotta sprechen lässt, bleibt dem Leser das Verhalten Schneiders nachvollziehbar, wenn auch kritikwürdig. Aus Schneiders Erzählperspektive nimmt sich das Tribunal wieder als Unrecht gegen einen verfolgten, zu radikalen Denker aus: Welch lächerlicher, welch plumper Vorwand! Er und prachtliebend! Dabei weiß jeder in Straßburg, wie genügsam er ist, wie bescheiden sein Lebensstil! […] Offenbar hatte Saint-Just nichts juristisch Stichhaltiges gegen ihn in der Hand, jedenfalls nichts, was seine Amtsführung betraf. Da blieb nur seine angebliche Prachtliebe und der geborene Untertan des Kaisers, das Schüren des Vorurteils und des Fremdenhasses gegen ihn, den Emigranten aus Deutschland, den Hergeloffenen, wie es im Volksmund hieß. […] Törichte, verblendete Straßburger! Oh, ihr Ahnungslosen! Wißt ihr denn nicht, was ihr in den Augen derer seid, vor denen ihr jetzt brav eure Mützen zieht? Deutschsprachige Barbaren, die noch nicht mal die Sprache der Grande Nation verstehen, geschweige denn sprechen! Bessere Österreicher, die am liebsten dem Feind in die Arme laufen und ihm die Hand reichen würden! Wißt ihr wahrlich nicht, was diese Crème de la Revolution unter der Französisierung des Elsaß versteht? 32 Es wundert nicht, dass sich der deutsche Schriftsteller Michael Schneider in besonderer Weise für die deutsche Herkunft seiner Figur interessiert. Er betont die Solidarität des deutschen Eulogius mit den elsässischen Bürgern gegen die Pariser Revolutionäre und spielt dabei schon auf die bis heute dauernden Auseinandersetzungen zwischen dem Pariser Zentralismus und den elsässischen Autonomiebestrebungen an. IV. Erklärung der Bedeutung von Eulogius Schneider für die Sicht auf die Straßburger Verhältnisse Was macht Eulogius Schneider zu einer so wichtigen Figur? Was erklärt die Begeisterung oder die Abscheu in Bezug auf seine Person bis in unsere Zeit? Die Rezension von Marcel Dorigny zu Claude Betzingers Biographie endet denn auch mit folgender Frage: „Pourquoi, alors que son rôle a été assez mince à 32 Schneider: Der Traum der Vernunft (Anm. 13), S. 19-21. Eulogius Schneider als literarische Figur 63 64 Annette Kliewer l’échelle de l’histoire de la Révolution, la ‚légende noire‘ attachée à Eulogius Schneider est-elle restée aussi vivace? “ 33 Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang sicher die deutsche Herkunft von Schneider. Obwohl das Elsass nach der Revolution zunächst Bindeglied zwischen deutschen und französischen Revolutionären wurde - hier übersetzte man viele Schriften für eine weitere Verbreitung in Deutschland - ging es im Zuge der zunehmend militärischen Auseinandersetzungen an der deutsch-französischen Grenze auch um die Bedeutung der französischen Sprache, die Abkehr der Elsässer von den Deutschen als Zeichen ihrer reinen revolutionären Gesinnung. Mit der jakobinischen Sprachideologie forderte Bertrand Barère 1794: „Citoyens, la langue d’un peuple libre doit être une et la même pour tous“ 34 . Dies bedeutete, dass das Sprechen der Sprache des Feindes auch signalisierte, dass man ein politisch unsicherer Kandidat war: „Le fédéralisme et la superstition parlent bas-breton, l’émigration et la haine de la République parlent allemand; la contre-révolution parle l’italien et le fanatique parle le basque.“ 35 Wie Jürgen Trabant in seinem Beitrag Die Sprache der Freiheit und ihre Feinde betont, handelte es sich etwa bei dem Entsenden von „Instituteurs“, die den Kindern Französisch und den Erwachsenen die richtige politische Gesinnung beibringen sollten, nicht nur um einen Kampf gegen den Dialekt („Patois“), wie es der Linguist Abbé Grégoire 1794 vertrat, sondern um eine „sicherheitsbeziehungsweise militärpolitische Maßnahme“. 36 Vor diesem Hintergrund wurde auch der Deutsche Eulogius Schneider zu einer politischen Bedrohung, auch wenn er sich als nach Paris orientierter Jakobiner noch so gut an die Revolution anzupassen versuchte. Wie Daniel Schönpflug in seiner Dissertation Der Weg in die Terreur. Radikalisierung und Konflikte im Straßburger Jakobinerclub 1790-1795 herausarbeitet, bricht mit der Frontstellung gegen Deutschland ab 1793 nach dem Scheitern der Mainzer Republik, also eines Modells des Exports der Französischen Revolution, das Gleichgewicht und die Toleranz zwischen deutschsprachiger protestantischer Oberschicht und französischsprachiger katholischer Bevölkerung auseinander. Schneider wird plötzlich wieder als Deutscher und als ehemaliger Priester wahrgenommen und macht sich selbst zum 33 Marcel Dorigny: Rezension zu: Claude Betzinger: Vie et Mort d’Euloge Schneider, ci-devant franciscain. Des Lumières à la Terreur, 1756-1794, 1997. In: Dix-huitième siècle. 30 (1998), S. 620-621. 34 Bertrand Barère: Rapport du comité de salut public sur les idiomes (Le 8 pluviôse an II [27- janvier 1794]). Zitiert nach: URL: www.axl.cefan.ulaval.ca/ francophonie/ barererapport.htm (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2020). 35 Ebd. 36 Jürgen Trabant: Die Sprache der Freiheit und ihre Feinde. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (1981) [Sprache und Literatur in der Französischen Revolution], S. 70-89, S. 78. Vertreter der Terreur. Hamel schreibt im Sinne Saint-Justs: „Si cet homme eût été guidé par la conscience de la patrie, il aurait pu, armé d’une aussi immense autorité, servir utilement et faire aimer la République, mais le cœur de la France ne battait pas en lui.“ 37 Dieses Verhalten bestimmt die Einstellung zu Schneider im kollektiven Unterbewussten der elsässischen Kultur bis auf weiteres. Er wird nur noch wahrgenommen als der „Hergeloffene“, der sich schlimmer als die Pariser Zentralisten aufgeführt hat, und er ist damit Opfer der Radikalisierung, die er selbst betrieben hat. 38 Saint-Just wird denn auch als Vertreter der Ordnung dargestellt, der sich gegen die „Enragés“ durchsetzen musste, deren eigentliches Ziel es war, das Elsass von Frankreich zu trennen („ils composaient le parti allemand, auquel on prêtait le projet de vouloir séparer l’Alsace de la France“ 39 ). Schönpflug betont hier: Die öffentliche Meinung tut so, als sei die „Terreur“ von außen gekommen, aus Paris oder Deutschland, dabei greift sie innere Konflikte auf, die Straßburg vorher schon bestimmt haben: Es war wiederum das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren, welche den ideologischen Wandel vorantrieben. Wieder gab es zwei Gruppen, die sich auf der lokalen politischen Bühne bekämpften. Wieder überlagerten sich politische Differenzen und hergebrachte kulturelle Identitäten. Wieder nutzten die Rivalen Argumente aus dem Kontext nationaler Politik zur Legitimation ihres Anspruches auf die Macht. Wieder wurde ihr Zwist durch den Eingriff der Zentralgewalt entschieden. Die Antipathie gegen die Germanophonen mußte den französischsprachigen Jakobinern allerdings nicht von außen aufgezwungen werden. Viele von ihnen kannten noch die alten deutsch-französischen Auseinandersetzungen; sie alle sahen die Deutschen als ihren hauptsächlichen Feind an. An eine Verschwörung der Germanophonen zu glauben, war für sie nur noch ein kleiner Schritt. 40 Der Konflikt, der insbesondere zwischen Schneider und dem neuen Bürgermeister Monet bestand, der penetrant die Zugehörigkeit des Elsass zur französischen Nation betont („tendez en signe d’amitié la main à tous les habitants de la République“), 41 ist demnach ein Konflikt, der schon vor 1789 schwelte und der bis heute weiter schwelt: Patriotismus für die Nation wird demnach ausgespielt gegen Regionalismus. Besonders deutlich wird das auch bei der Frage, ob Schneider selbst ein „Jakobiner“ war, also ein Revolutionär, der sich für die 37 Hamel: Histoire de Saint-Just (Anm. 9), Buch 3, S. 51. 38 Vgl. Daniel Schönpflug: Der Weg in die Terreur. Radikalisierung und Konflikte im Straßburger Jakobinerclub 1790-1795. München 2002. 39 Hamel: Histoire de Saint-Just (Anm. 9), Buch 3, S. 48. 40 Schönpflug: Der Weg in die Terreur (Anm. 38), S. 224. Vgl. dazu auch Jean Mondot-/ Alain Ruiz: Interférences franco-allemandes et révolution française. Bordeaux 1994. 41 Hamel: Histoire de Saint-Just (Anm. 9), Buch 3, S. 58. Eulogius Schneider als literarische Figur 65 66 Annette Kliewer „volonté générale“ der Nation patriotisch aufopfert oder nur ein „deutscher Jakobiner“, der die gesamtfranzösische Sache aufgrund seiner deutschen Herkunft gar nicht verstehen kann. 42 Als Brückenbauer wird Eulogius Schneider deshalb allenfalls von der deutschen Linken gesehen, die ihn erst Ende des 20. Jahrhunderts als einen der ihren entdeckte und die das „unterdrückte Elsass“ von außen gegen den Zentralismus retten möchte. 42 Diese Frage untersucht differenziert Betzinger: Eulogius Schneider (Anm. 26), S. 93-106. Zu der weitergehenden Frage, ob es überhaupt ein Recht gibt, von „deutschen Jakobinern“ zu sprechen, findet sich Zustimmung bei Gert Mattenklott und Klaus Scherpe: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt am Main (u. a.) 1984, S. 61-138, S. 109-166); und Ablehnung bei Gerhard Kaiser: Über den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und Zitaten. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; 1 (1975) 49, S. 226-242. „Lumpenloch“ und „zweite Vaterstadt“ Straßburg als Lebensort und Inspiration bei Johann Gottfried Herder und Georg Büchner Hermann Gätje, Saarbrücken Sowohl bei Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803) als auch bei Georg Büchner (1813 bis 1837) markieren die Aufenthalte in Straßburg maßgebliche Phasen in ihrem Schaffen und ihrer Entwicklung als Denker und Autoren. Dieser Beitrag stellt die dortigen Erfahrungen und Eindrücke der beiden vor und fragt nach Prägungen und Einflüssen des geistigen Straßburgs. Dabei werden Briefe und Selbstzeugnisse der Autoren aus der unmittelbaren Zeit zu späteren rückblickenden biographischen Deutungen Dritter in Bezug gesetzt. Daran anknüpfend werden einige mögliche Referenzen auf Straßburg in Schriften und Werken herausgestellt. Ausgehend von diesem Hintergrund werden schließend thesenartig einige Aspekte herausgearbeitet, die den Denkstil und die Wesensart der beiden Autoren vergleichen und eine Diskussion über mögliche Einflüsse von Herder auf Büchner eröffnen. I. Gestrandet in Straßburg - Johann Gottfried Herder „Ich bin, (Ihr demüthiger Robinson Crusoe auf der wüsten Insel gerade unter der Gewitterwende,) so übel aufgeräumt, meine Freundin! “ 1 Herder hielt sich von Anfang September 1770 bis April 1771 in Straßburg auf. In dieser Zeit begegnete er dort Goethe. Dieses Treffen wird als prägend für Herders Konzeption des Volkslieds und Initial der Sturm und Drang-Bewegung gedeutet. Der Aufenthalt in Straßburg ist einer der zentralen Topoi der populären Herder-Rezeption. Bedingt wurde dies allerdings durch Goethes stilisierende 1 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, Februar 1771. In: Johann Gottfried Herder: Briefe Gesamtausgabe 1763-1803. Erster Band April 1763-April 1771. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977, S. 308. 68 Hermann Gätje Erwähnung in Dichtung und Wahrheit. Goethe hebt hier den Einfluss Herders auf sein Schaffen und Denken hervor, Herder hat ihn vor allem für das Volkslied sensibilisiert. Die Rezeption dieser Passage akzentuiert Herder gemäß Goethes autobiographischer Erzählstrategie mehr als Einflussgeber denn als eigene Person. In der Folge wurde die Begegnung in der volkstümlichen Darstellung als Bestandteil des stilisierten Narrativs „Goethe und das Elsass“ verklärt, dessen Kernelement die Beziehung Goethes zu Friederike Brion darstellt. Doch spielt Herders Zeit in Straßburg eine maßgebliche Rolle in der Deutung und Zuordnung seiner Konzeptionen. Auch wenn sich tatsächlich keine konkreten Zusammenhänge eines speziellen Einflusses des geistig-kulturellen Lebens der Stadt Straßburg auf Herders Werk herausstellen lassen, lassen sich zentrale Niederschriften seiner Ideen und Formulierungen in einen Zusammenhang zu seinem Aufenthalt dort setzen. Die Forschung weist darauf hin, dass einige seiner wesentlichen Schriften in Straßburg konzipiert wurden und er daran geschrieben hat. In dieser für ihn entscheidenden Lebensphase lernt er den gerade 21jährigen Jurastudenten Johann Wolfgang Goethe kennen, dem Herder die Volkspoesie, Ossian, Shakespeare und Hamann nahebringt und dem er auch sein Manuskript der Abhandlung über den Ursprung der Sprache überlässt. In seinen poetologischen Schriften der Straßburger Zeit, dem Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker und dem Shakespear-Aufsatz, legt Herder den Grundstein für eine von antiken und regelpoetischen Schönheitsvorschriften freie Volksdichtung. 2 Herder arbeitete in Straßburg intensiv an seinem sprachtheoretischen Hauptwerk Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Alle von ihm vertretenen Positionen hatte er zwar vorher schon konzipiert, doch darf die Straßburger Zeit sowohl in der persönlichen Lebensplanung als auch hinsichtlich seines Schaffens als Wendepunkt skizziert und als Phase der Vertiefung und Neuorientierung gedeutet werden. Das halbe Jahr in Straßburg markiert das Ende einer Phase, die von wechselnden Anstellungen und Reisen geprägt ist, hin zu einem Familienleben und längerfristigen, festen Beschäftigungsverhältnissen. Herder hatte ein Angebot des fürstbischöflich lübischen Hofs zu Eutin angenommen, den Erbprinzen von Holstein-Gottorp Peter Friedrich Wilhelm als Prediger auf Reisen zu begleiten. Im Juli 1770 reiste er im Tross des Prinzen von Eutin ab, Stationen waren u.-a. Hannover, Kassel und Göttingen. Bei einem kurzen Aufenthalt in Darmstadt lernte er Johann Heinrich Merck kennen und über ihn Maria Karoline Flachs- 2 Hans-Peter Nowitzki: I. Biographie. In: Stefan Greif-/ Marion Heinz-/ Heinrich Clairmont (Hrsg.): Herder Handbuch. Paderborn 2016, S. 23-38, hier S. 31. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 69 land, in die er sich verliebte. Die starke gegenseitige Zuneigung weckte in Herder den Wunsch nach festen Lebensverhältnissen, sie heirateten schließlich 1773. Doch zunächst folgte Herder dem Prinzen über Mannheim bis Straßburg. Dort erbat er vom Eutinischen Hof seine Entlassung, die ihm im Oktober 1770 gewährt wurde. Er nahm eine vom Grafen zu Schaumburg-Lippe angebotene Stellung als Oberprediger und Konsistorialrat in der kleinen Residenz Bückeburg an, blieb aber zunächst in Straßburg, da er sich von den gerühmten medizinischen Kapazitäten dort die heilende Behandlung einer schweren Fistel am Auge versprach. Von Herders Aufenthalt in Straßburg sind rund 50 Briefe überliefert, der Großteil davon Liebesbriefe an Karoline Flachsland. Unter den weiteren Adressaten nimmt Merck eine hervorgehobene Stellung ein. Im Hinblick auf die spätere Zuschreibung der großen Bedeutung der Begegnung Herders mit Goethe ist es bemerkenswert, dass davon in den Briefen überhaupt nicht die Rede ist. Die Ausführungen sind charakterisiert durch Herders Sehnsucht nach Karoline und seine gesundheitlichen Beschwerden. Die Stadt Straßburg wird sehr negativ geschildert, die Universität und das geistige Klima ebenso. Einzig die medizinische Fakultät lässt er gelten: „Straßburg ist für Alle, die Mediciner ausgenommen, ein Lumpenloch […].“ 3 Immer wieder finden sich in den Briefen Tiraden gegen das geistige Klima in der Stadt: Strasburg ist der elendeste, wüsteste, unangenehmste Ort, den ich behutsam und bedächtig gesprochen, in meinem Leben gefunden. Ich will an Menschen nicht denken; hier ist einmal kein Wald, kein Ort, wo man mit seinem Buch und Genius einmal im Schatten liege. 4 Die Universität in Strasburg ist so lumpicht u. verrostet mit alten Deutschen Handwerksfontangen à la Francoise [sic! ] aufgestutzt, daß hier eine Plastik, oder eine Orientalische Archäologie zu schreiben, wie beide geschrieben werden müßen, um etwa weiter als in Deutschland bekannt zu werden, so unmöglich ist […]. Glauben Sie indeßen nicht, daß ich faulle: ich habe hier in Strasburg, während meiner Operationseinsamkeit ein paar so frappante Entdeckungen gemacht, daß es lohnen wird, sie zu besehen. Ich studire jetzt überhaupt reifer u. gründlicher; lege mich mehr auf die Englische Natur, die viel Schätze hat, und bilde mir ein, an Geist u. an Körper nervichter zu werden. 5 3 Brief Herder an Zollkontrolleur Begrow, Straßburg, nach dem 21. November 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 286. 4 Brief Herder an Johann Heinrich Merck, Straßburg, etwa 20. September 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 226. 5 Brief Herder an Johann Friedrich Hartknoch, Straßburg, 21. November 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 284. 70 Hermann Gätje Dass er ausgerechnet nach Straßburg gelangt ist, schreibt er äußeren Umständen zu: Sind nicht alle Revolutionen in meinem Leben schnelle Fortstöße gewesen, wo ich nie an den Ort gekommen bin, wo ich wollte? […] Straßburg scheint der Ort gar nicht, wo man plastiken kann; der Einzige, Schöpflin, ist nach Allem, was ich gehört, die Eitelkeit selbst, historiographe de France und ein Mann, der nur durch Connexionen groß geworden. Also ohne Bücher, ohne Lage der Seele, ohne Trieb der Würksamkeit - was soll ich schreiben? 6 Wenn Herder von den „Revolutionen in meinem Leben“ spricht, deutet sich sein lebensphilosophisches Konzept an. Diese bilanzierende Äußerung aus einem Brief an Johann Friedrich Hartknoch, den er unmittelbar nach seiner Ankunft in Straßburg verfasst hat, antizipiert seinen in den folgenden Straßburger Ausführungen immer deutlicher werdenden Wunsch nach gesicherten Lebensverhältnissen. Trotz seines negativen Bildes des geistig-kulturellen Klimas in Straßburg und Zweifels an Inspiration beflügelt die erwiderte Liebe zu Karoline seine Schaffenskraft und in diesem Sinne lassen sich die in dieser Zeit entstandenen Gedanken und Werke deuten. Er schreibt ihr ausführlich von seinen Beschäftigungen mit Shakespeare und Ossian und setzt sich intensiv mit den Oden Klopstocks und Gleims auseinander, die Karoline besonders schätzt. Aus den Aufzeichnungen wird erkennbar, dass Herder hier die Konzepte einiger maßgeblicher poetologischer Schriften entwickelt und seine Energie vor allem durch die Zuneigung zu Karoline Flachsland motiviert ist. „Seyn Sie, Himmlisches Mädchen, meine Muse! mich zu begeistern! “ 7 Die Energie für die Arbeit am programmatischen Shakespear-Aufsatz ist maßgeblich durch Karoline inspiriert: „[F]aßte ich Sie recht feirlich beim Wort, Ihr Schulmeister über Shakespear zu werden, und behalte mir von meiner allerliebesten Schülerin, wie Abelard von Heloise das Lehr und Klaßengeld fein bevor.“ 8 Ebenso vertieft und konzipiert Herder seine Gedanken zum Volkslied, die in seine späteren großen Sammlungen mündeten: Hier bekommen Sie ein hübsches Lappländisches Liedchen, wofür ich zehn [Ewald Christian von] Kleistische Nachahmungen (Sie kennen doch das Lied Komm Zama kom! es ist nach diesem gemacht u. recht gut, wenn man das Original nicht kennet! ) 6 Brief Herder an Johann Friedrich Hartknoch, Straßburg, 5. September 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 203f. 7 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, etwa 1. November 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 279. 8 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, erste Hälfte November 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 282 Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 71 geben möchte. Wundern Sie sich nicht, daß ein Lappländischer Jüngling, der keinen Buchstaben u. Schule u. fast keinen Gott kennet, beßer singt, als der Major Kleist. Denn jener sang das Lied eben aus dem Fluge, da er mit seinen Rennthieren über den Schnee hinschlüpfte, und ihm die Zeit lang ward, den Orrasee zu sehen, wo sein Mädchen wohnte: Kleist aber ahmte es aus dem Buche nach. 9 Er lässt Karoline an seiner Begeisterung für die keltischen Barden teilhaben: Sie glaubens nicht, wie sehr ich Sie anbete, daß Ihre Seele so groß und vest und stark ist, daß sie [sic! ] Bardenlieder fühlen, so ganz innig fühlen, […] Daß Sie Klopstock u. Geßner nachempfinden können, ist hold und schön; […] Aber die Liebe in den alten Schottischen Bardenliedern! - nur in ihnen ist sie die ganze Zartheit und Süßigkeit, und Anmuth und Adel und Stärke, und die feine Reinheit der Sitten […]. 10 Besonders dem (wie sich später bekanntlich herausstellte, fingierten) schottischen Barden Ossian gilt seine Verehrung: „H. Merck wird Ihnen 4. Liedchen aus Oßian mittheilen: Sie müßen Sie aber in der Uebersetzung aufschlagen, in welchen Zusammenhang sie gehören. Sie sind alle aus dem 3. Bande u. 3. aus Einem Stück Darthula.“ 11 Die geliebte Karoline assoziiert er mit der als Inbegriff der Schönheit geltenden mythischen Prinzessin Darthula. Doch nicht nur in den schwärmerisch-leidenschaftlichen Ausführungen lassen die Briefe erkennen, welche Bedeutung der Straßburg-Aufenthalt als Wendepunkt in Herders Lebensweg hat. War er vorher in der Entourage des Prinzen auf Reisen, danach in Bückeburg sesshaft in einem Amt, so war die Zeit in Straßburg eine Zeit intensiver Selbstreflexionen und konzentrierter Konzeptualisierung seiner vorher bereits entwickelten Vorstellungen und Ideen. Neben der zunehmenden Fokussierung auf seine kommenden Werke enthalten die Briefe auch Betrachtungen über seine Persönlichkeit und seine weltanschaulichen Gedanken, die diese prägnant charakterisieren. So schreibt er im Februar an Merck: Was kann ich aber dafür, daß das, was in mir dichtet, eine Mischung von Philosophie u. Empfindung ist, die beide an Bild hangen, u. die Ode so gern zum Ganzen eines solchen Bildes machen. 12 9 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, nach dem 2. Januar 1771. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 297. 10 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, 28. Oktober 1770. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 270. 11 Brief Herder an Karoline Flachsland, Straßburg, etwa 14. Januar 1771. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 300. 12 Brief Herder an Johann Heinrich Merck, Straßburg, Februar 1771. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 310. 72 Hermann Gätje Hier formuliert er die für sein gesamtes Schaffen charakteristische Frage nach dem Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Eine Bilanz seines Straßburg-Aufenthalts zieht er in einem Brief an den Straßburger Autor Friedrich Dominicus Ring. Vermutlich mit Rücksicht auf Ring als Einheimischem und Schöpflin-Schüler relativiert er hier die polemischen Äußerungen gegenüber der Stadt und verweist auf die unglücklichen Umstände seines Aufenthalts: Um nicht ganz ut canis e Nilo Straßburg zu verlassen, entschloß ich mich also, mein Auge operiren zu laßen, u. Professor Lobstein versicherte mich des glücklichen Ausgangs in höchstens 3.- Wochen. Aus den drey Wochen sind nicht blos zweimal drei Monathe, sondern aus Einem Schnitt und Einer Nasenbohrung sind wohl 20. Schnitte u. 200. Sondirungen etc. geworden, u.-endlich nach allen Schmerzen, kosten, Unruhen, verdrüßlichkeiten etc. ist mein Auge ärger, als es war! Daß ich Materie gnug hätte, eine höchst tragischlustige Epopee, oder Ophtalmomachie zu schreiben! - - Ists nicht Elends gnug für vernachläßigte Antwort gestraft zu seyn? Was ich am meisten bedaure, ist, durch solche erbärmliche Situation weder Straßburgs noch aller Nachbarschaft umher froh geworden zu sein […] 13 II. Zweite Heimat Straßburg - Georg Büchner „Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt Straßburg, es geht dort allerlei vor, und Du sagst kein Wort davon. Je baisse les petites mains, en goûtant les souvenirs de Strasbourg.“ 14 Der achtzehnjährige Büchner war Anfang November 1831 zum Studium der Medizin von Darmstadt nach Straßburg gezogen und damit begann zugleich die zentrale Schaffenszeit des Schriftstellers und politischen Aktivisten, die jäh mit seinem frühen Tod im Februar 1837 endete. Von diesen gut fünf Jahren lebte Büchner rund dreieinhalb Jahre in der elsässischen Metropole, die ihm eine „zweite Vaterstadt“ 15 wurde. Im Gegensatz zu Herder fühlte sich Büchner in Straßburg sehr wohl. Schnell gewann er soziale Kontakte und wirkte rege im geistigen Leben mit. Er wohnte 13 Brief Herder an Friedrich Dominicus Ring, Straßburg, etwa 28. März 1771. In: Herder: Briefe Erster Band (Anm. 1), S. 323. 14 Brief Büchner an Wilhelmine Jaeglé, aus Gießen nach Straßburg, Mitt/ Ende Januar 1834. In: Georg Büchner: Briefe von und an Georg Büchner 1831-1837. In: Georg Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt am Main 2006, S. 353-467, hier S. 377f. 15 Brief Büchner an Edouard Reuss, aus Darmstadt nach Straßburg, 20. August 1832. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 359. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 73 seit Beginn des Studiums bei dem Theologen Johann Jakob Jaeglé. Vermittelt hatte diese Unterkunft der Straßburger Theologe Edouard Reuss, ein Cousin von Büchners Mutter, die elsässische Wurzeln hatte. Jaeglé hatte die Trauerrede auf den Pfarrer, Pädagogen und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin gehalten, der als eine der maßgeblich prägenden Gestalten der elsässischen Geistesgeschichte gilt und in Büchners Erzählung Lenz eine zentrale Rolle spielt. Zwischen Büchner und Jaeglés Tochter Wilhelmine, genannt Minna, entwickelte sich rasch eine Liebesbeziehung und sie verlobten sich schon bald, zunächst heimlich. Über Reuss und Jaeglé lernte Büchner die Brüder August und Adolf Stöber kennen, er wurde über sie Dauergast der Studentenverbindung Eugenia. Deren Vater, Daniel Ehrenfried Stöber, hatte 1831 eine Oberlin-Biographie veröffentlicht. Die Brüder Stöber gehören zu den bekanntesten elsässischen Literaten des 19. Jahrhunderts und sind bis heute für ihre Sammlungen elsässischer Sagen und regionalgeschichtliche Studien bekannt. Ihre lokale Bedeutung ist mit der der Brüder Grimm auf nationaler Ebene vergleichbar. In mehreren Briefen berichtet Büchner von seinen gemeinsamen Wanderungen. Daraus geht hervor, wie signifikant seine Erfahrung der Schönheit der Vogesenlandschaft mit seinen Beziehungen zu den Brüdern Stöber verknüpft ist. Straßburg und das Elsass bildeten die Schnittstelle zwischen deutscher und französischer Kultur und Denktradition. Zu Büchners Zeit war die Stadt vom Einfluss der Ideen der Französischen Revolution geprägt, andererseits wurde von vielen noch die ursprünglich deutsche Tradition gewahrt. Da es zur damaligen Zeit noch keine französischsprachige Schulpflicht gab, hielt sich die deutsche Sprache vor allem in den ländlichen Regionen des Elsass. In Büchners schriftstellerischem Werk fließen diese beiden Traditionen zusammen. Das Drama Dantons Tod ist eine Auseinandersetzung mit den Idealen der Französischen Revolution von 1789; sein Aufenthalt in Straßburg und seine Erfahrungen dort haben das Werk inspiriert. Die Stadt stand damals unter dem Eindruck der Juli-Revolution von 1830 und es herrschte ein liberales politisches Klima: Als sich das Gerücht verbreitete, daß Romarino durch Straßburg reisen würde, eröffneten die Studenten sogleich eine Subscription und beschlossen, ihm mit einer schwarzen Fahne entgegenzuziehen. […] So ziehen wir in die Stadt, begleitet von einer ungeheuren Volksmenge unter Absingung der Marseillaise und der Carmagnole; überall erschallt der Ruf: Vive la liberté! vive Romarino! à bas les ministres! à bas le juste milieu! Die Stadt selbst illuminiert, an den Fenstern schwenken die Damen ihre Tücher, und Romarino wird im Triumph bis zum Gasthof gezogen, wo ihm unser Fahnenträger die Fahne mit dem Wunsch überreicht, daß diese Trauerfahne sich bald in 74 Hermann Gätje Polens Freiheitsfahne verwandeln möge. Darauf erscheint Romarino auf dem Balkon, dankt, man ruft Vivat! - und die Comödie ist fertig. 16 So schildert Georg Büchner den Empfang des napoleonischen Generals Girolamo Ramorino - Büchner schreibt Romarino - am 4. Dezember 1831 in Straßburg. Dieser hatte die Polen bei ihrem vergeblichen Aufstand gegen die russische Herrschaft unterstützt. Diese Passage gibt ein Bild von der durch freien Geist und den Gedanken an die Revolution geprägten Stimmung in Straßburg. Der Abschied von Straßburg Ende 1833 fiel Büchner sehr schwer. Aus den erhaltenen Briefen geht sehr deutlich die Assoziation von Landschaftserlebnis und Gemütszustand bzw. -natur hervor. An August Stöber schreibt er, noch aus Darmstadt: Du magst entscheiden ob die Erinnerung an 2 glückliche Jahre, und die Sehnsucht nach all dem, was sie glücklich machte oder ob die widrigen Verhältnisse unter denen ich hier lebe, mich in die unglückselige Stimmung setzen. Ich glaube s’ist beides. Manchmal fühle ich ein wahres Heimweh nach Euren Bergen. Hier ist Alles so eng und klein. Natur und Menschen, die kleinlichsten Umgebungen, denen ich auch keinen Augenblick Interesse abgewinnen kann. 17 Noch deutlicher ist Büchners erster Brief an seine Verlobte aus seinem neuen Studienort Gießen, auch dieser verweist indirekt auf seine konkrete Affinität zur elsässischen Landschaft sowie die gedankliche Verflechtung dieser mit der geliebten Minna. Die Verknüpfung von Gemütszustand und Landschaftsempfinden wird in diesem Brief deutlich. Die Wahrnehmung der Schönheit der Landschaft ist nicht statisch konstant, es sind die persönlichen Umstände, die die Empfindung der Natur maßgeblich beeinflussen und auch variieren lassen können: Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohe Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich. Bei uns ist Frühling, ich kann Deinen Veilchenstrauß immer ersetzen, er ist unsterblich wie der Lama. […] Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. 18 16 Brief Büchner an die Familie, aus Straßburg nach Darmstadt, nach dem 4. Dezember 1831. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 357f. 17 Brief Büchner an August Stöber, aus Darmstadt nach Oberbronn, 9. Dezember 1833. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 375. 18 Brief Büchner an Wilhelmine Jaeglé, aus Gießen nach Straßburg, Mitte- / Ende Januar 1834. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 377f. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 75 Dieses von der Forschung „Fatalismusbrief“ genannte Schreiben wird als zentrale Aussage Büchners über seine Lebensphilosophie gedeutet. In diesem von melancholischer Stimmung getragenen Brief erscheinen Straßburg und indirekt die elsässische Landschaft als Sehnsuchtsorte. Der zweite Straßburg-Aufenthalt Büchners ergab sich aus seinen politischen Aktivitäten. Vor allem wegen der Flugschrift Der Hessische Landbote wurde er polizeilich verfolgt, er setzte sich im März 1835 nach Straßburg ab. Neben seinem weiteren Studium widmete er sich in dieser Zeit auch schriftstellerischer Arbeit sowie zwei Übersetzungen von Stücken Victor Hugos, ein Auftrag, den ihm Karl Gutzkow vermittelt hatte. Der Autor und Redakteur Gutzkow war Büchners literarischer Förderer und politischer Weggefährte, er fungierte 1835 bei der Publikation von Dantons Tod in der Zeitschrift Phönix als Herausgeber. Während dieses zweiten Straßburg-Aufenthaltes entstand Büchners Fragment gebliebene Erzählung Lenz. Über dieses Werk lässt sich eine Referenz zu Herder herstellen und deshalb soll sie den Ausgangspunkt einer Erörterung des Verhältnisses von Büchner zu Herder bilden. III. Büchners Erzählung Lenz und das Straßburg des Sturm und Drang „Ihre Novelle Lenz soll jedenfalls, weil Straßburg dazu anregt, den gestrandeten Poeten zum Vorwurf haben? “ 19 . Es existieren keine nennenswerten konkreten Verweise Büchners auf Herder. In Büchners überlieferten Schriften findet sich eine Erwähnung von Herder (in einem Schulaufsatz), die jedoch keine signifikanten Schlüsse zulässt und im Kontext auch missverständlich ist. 20 Aussagekräftig ist hingegen eine auf den 13. Oktober 1877 datierte handschriftliche Mitteilung von Büchners Schulfreund Friedrich Zimmermann an Karl Emil Franzos: „Während er [Büchner] Herder’s ‚Stimmen der Völker‘ und ‚Des Knaben Wunderhorn‘ verschlang, schätzte er auch Werke der französischen Literatur“. 21 Büchners Erzählung Lenz gestaltet eine historisch überlieferte Episode aus dem Leben des Sturm und Drang Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, der 19 Brief Karl Gutzkow an Büchner, aus Mannheim nach Straßburg, 12. Mai 1835. Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 405. 20 Vgl. Georg Büchner [Kato von Utika]. In: Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente (Anm. 14), S. 30-38, hier S. 38; dazu der Stellenkommentar von Henri Poschmann S. 789. 21 Zit. nach Georg Büchner: Übersetzungen. Hrsg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise, Gerald Funk, Ingrid Rehme und Eva-Maria Vering (Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Marburger Ausgabe. Bd. 4). Darmstadt 2007, S. 306. 76 Hermann Gätje im Januar-/ Februar 1778 knapp drei Wochen bei Johann Friedrich Oberlin im Steintal im Elsass verbrachte. Lenz befindet sich in einer Phase zunehmender geistiger Erkrankung, sein Freund Christoph Kaufmann regt den Aufenthalt bei dem fürsorglichen Oberlin in der reizvollen Landschaft aus therapeutischen Gründen an, dort verschlimmert sich Lenz’ Zustand alternierend. Büchner gestaltet die Diegese aus der Perspektive von Lenz und spiegelt dessen Innenleben durch seine Naturwahrnehmung. Büchner verweist mit der Figur Lenz auf das Straßburg des Sturm und Drang und stellt damit indirekt einen Bezug zu Herder her. Goethe wird in der Erzählung erwähnt und Lenz weilte wie Herder in dessen Umfeld in Straßburg. Herder war Lenz dort jedoch nicht begegnet, da Lenz erst nach Herders Abreise nach Straßburg kam. Später jedoch ergab sich eine persönliche Bekanntschaft, wobei Herder dem schwierigen Charakter Lenz grundsätzlich wohlwollend gegenüberstand, doch dessen Launen befremdeten ihn zunehmend. Der historische Lenz war vor dem in der Erzählung geschildertem Aufenthalt im Elsass in Weimar gewesen, wo Goethe und Herder ihn freundlich aufgenommen hatten, Lenz aber durch unbotmäßiges Verhalten auffiel und den Hof im November 1776 verlassen musste. In einem Brief von Gutzkow an Büchner vom 12. Mai 1835 findet sich die erste überlieferte Erwähnung der Arbeit am Lenz-Stoff. Im Oktober 1835 schreibt Büchner an seine Familie in Darmstadt: „Ich habe mir hier allerlei Notizen über einen Freund Goethe’s, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde. Ich denke darüber einen Aufsatz in der deutschen Revue erscheinen zu lassen.“ 22 Die Deutsche Revue war ein seit Sommer 1835 geplantes Zeitschriftenprojekt Gutzkows, aufgrund von politischen Verboten konnte jedoch nicht einmal die in Druck befindliche erste Nummer erscheinen. Diese Äußerung Büchners wirft die Frage auf, ob er neben der Erzählung auch einen expositorischen Text über Lenz und den Straßburger Sturm und Drang verfassen wollte, der eventuell auch auf Herders Bedeutung in diesem Kontext eingegangen wäre. Eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung des Lenz spielen die Brüder August und Adolf Stöber. Sie haben sich im Rahmen ihrer regionalgeschichtlichen Studien intensiv mit Lenz beschäftigt und Dokumente gesammelt. Seit Anfang der 1830er Jahre haben die beiden Lenziana in Zeitschriften publiziert. August Stöber veröffentlichte 1842 eine umfassende Dokumentation über Lenz’ Aufenthalt im Elsass, die z.-T. frühere Publikationen aufnimmt und als dokumentarisches Komplement zu Büchners literarischer Gestaltung gelesen werden kann. 22 Brief Büchner an die Familie, aus Straßburg nach Darmstadt, Oktober 1835. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 418f. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 77 Darin erwähnt er auch Büchner kurz in einer Fußnote und verweist darauf, dass er ihm die Quellen zur Verfügung stellte: Dieser in E r w i n i a 1839, S. 6 u. ff., mitgetheilte Aufsatz [Oberlins Aufzeichnungen] bildet die Grundlage der leider Fragment gebliebenen Novelle „Lenz“ meines Freundes G e o r g B ü c h n e r . Er trug sich schon in Straßburg lange Zeit mit dem Gedanken Lenz zum Helden einer Novelle zu machen, und ich gab ihm zu diesem Stoffe alles, was ich an Handschriften besaß. Das Fragment ist abgedruckt im T e l e g r a p h e n 1839, Nummer 5 u. ff. 23 In Bezug auf Johann Gottfried Herder und die oben zitierte Äußerung des Schulfreunds Friedrich Zimmermann über Büchers leidenschaftliche Lektüre von Herders Volksliedersammlung ist eine Passage des Lenz sehr aufschlussreich. In einem Gespräch erörtert Lenz seinem Freund Kaufmann sein Kunstverständnis, das als Ausdruck von Büchners Credo verstanden werden kann: Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen. […] 24 Der Verweis auf die Volkslieder führt unmittelbar zu Herder. In die Erzählung Lenz wie auch in Büchners Dramen sind signifikant Volklieder eingeflochten. Die persönliche Affiniät des Autors zeigt sich besonders eindringlich in einem Brief, den der schwer kranke Büchner kurz vor seinem Tod aus Zürich an seine Verlobte nach Straßburg geschrieben hat: Lernst Du bis Ostern die Volkslieder singen, wenn’s Dich nicht angreift? Man hört hier keine Stimme, das Volk singt nicht, […] Ich komme dem Volk und dem Mittelalter immer näher, jeden Tag wird mir’s heller - und gelt, Du singst die Lieder? Ich bekomme halb das Heimweh, wenn ich mir eine Melodie summe. 25 Das Heimweh ist die Sehnsucht nach der Verlobten und Straßburg. Eine Woche später, in seinem letzten überlieferten Brief, versucht er, die über seinen Gesundheitszustand beunruhigte Wilhelmine zu beruhigen: 23 Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen Quellen; nebst Gedichten und Anderm von Lenz und Göthe. Hg. von August Stöber. Basel 1842, S. 11. 24 Georg Büchner: Lenz. In: ders.: Dichtungen. Herausgegeben von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a.-M. 2006, S. 223-250, hier S. 234. 25 Brief Büchner an Wilhelmine Jaeglé, aus Zürich nach Straßburg, 20. Januar 1837. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 465. 78 Hermann Gätje [I]ch glaube gar, Du stirbst - aber ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund wie je. Ich glaube, die Furcht vor der Pflege hier hat mich gesund gemacht; in Straßburg wäre es ganz angenehm gewesen, und ich hätte mich mit dem größten Behagen in’s Bett gelegt, vierzehn Tage lang, rue St. Guillaume Nro. 66 [Adresse der Jaeglés], links eine Treppe hoch, in einem etwas überzwergen Zimmer, mit grüner Tapete! 26 IV. Auch ein Herder-Paradigma? - Mögliche Einflüsse von Johann Gottfried Herders Denken auf Georg Büchner Die Aufzeichnungen Herders und Büchners über Straßburg machen auf der subjektiven individuellen Ebene in den zeitnahen Zeugnissen eindringlich deutlich, wie sehr das Urteil über einen Ort von den davon unabhängigen persönlichen Befindlichkeiten und Lebensumständen abhängig ist. Im historischen Kontext sind die Aufenthalte Herders und Büchners bemerkenswert, weil sie markante Stationen von Straßburg als deutsch-französischer Stadt und geistigem Zentrum widerspiegeln. Während Herders Aufenthalt herrschten über Frankreich noch die Bourbonen, Büchners Zeit stand unter dem Zeichen des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe I. So lässt sich ein Bogen vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Zuge der Französischen Revolution schlagen, die nicht nur politische Umwälzungen, sondern Veränderungen von kollektiven Denkstilen und literarischen Paradigmen mit sich brachten. Elias Canetti verweist in seiner Dankrede zum Georg-Büchner-Preis auf diesen Aspekt: Immerhin ist auch zu bedenken, wie viel Straßburg war: die Brutstätte der neuen deutschen Literatur, Herder und Goethe jung, und wie eine späte Gerechtigkeit zu sagen erfordert, in jenen Jahren nicht weniger einschneidend Lenz. Erinnerungen, die für Büchner nicht weiter als 60 Jahre zurückliegen, Erinnerungen, so nah, wie etwa was unsereiner heute sich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zu holen vermöchte. Aber dazwischen stand das folgenreichste Ereignis der modernen Geschichte, das erst in unserer Generation von folgenreicheren abgelöst wurde, die Französische Revolution. In Straßburg sind die Wirkungen dieser Revolution nicht erstickt wie im damaligen Deutschland. 27 Grundsätzlich stand die Generation des Vormärz und des Jungen Deutschlands Herder wegen seiner republikanisch-humanistischen Einstellungen positiv gegenüber. Da es keine unmittelbaren Zeugnisse einer eingehenden Rezeption 26 Brief Büchner an Wilhelmine Jaeglé, aus Zürich nach Straßburg, 27. Januar 1837. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 465. 27 Elias Canetti: Dankrede zum Georg-Büchner-Preis 1972. URL: https: / / www.deutscheaka demie.de/ de/ auszeichnungen/ georg-buechner-preis/ elias-canetti/ dankrede 1972 (zuletzt abgerufen am 2. Dezember 2019). Straßburg als Lebensort und Inspiration bei J. G. Herder und G. Büchner 79 Herders durch Büchner gibt, lassen sich keine eindeutigen Aussagen über etwaige Einflüsse treffen. Doch betrachtet man Herder und Büchner als in ihrer Zeit wirkende Autoren und Denker, lassen sich einige heuristisch aufschlussreiche Affinitäten, Verbindungen, Zusammenhänge modellhaft konstruieren. Diese sind potentielle Ausgangspunkte von intertextuellen Analysen oder thematisch fokussierten Betrachtungen, die aufzeigen, inwieweit einige von Herder (mit)entwickelte Denkstile und Paradigmen auf Büchner gewirkt haben könnten. Herder steht für einen im 19. Jahrhundert einsetzenden, grundlegenden Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung, seine Überlegungen zu einer anthropologisch orientierten Betrachtung der Historie der Menschheit gelten als vorausweisend. Büchner setzt im Revolutionsdrama Dantons Tod in exemplarischer Weise konkrete geschichtliche Ereignisse und die menschliche Natur zueinander in Beziehung, indem er versucht, sowohl den Ablauf der Ereignisse der Französischen Revolution aus den ihren Charakteren entspringenden Handlungen der Protagonisten zu schildern als auch das Verhalten des Volkes zu spiegeln. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Büchner hier Affinitäten zu Überlegungen von Herder entwirft. Ein erkenntnistheoretisch ergiebiger Referenzpunkt ist der starke Einfluss, den die Gedanken von Baruch de Spinoza sowohl auf Herder als auch auf Büchner ausübten. Beide haben sich intensiv in Schriften mit dem niederländisch-jüdischen Philosophen und der durch seine Lehre aufgeworfenen provokanten Frage nach dem Verhältnis Gott und Natur auseinandergesetzt: „Signifikant für den Aufbruch der nachkantischen Philosophie ist ja vielmehr, dass sie sich im Unterschied zu Kant, aber ebenso wie Herder, an Spinoza als maßgeblicher Bezugsfigur orientiert.“ 28 Büchner setzt sich in seiner niedergeschriebenen Vorlesung Spinoza analytisch-kritisch mit den Sätzen von Spinozas Ethik auseinander. 29 Interessant erscheint im Kontext der Schriften Büchners jedoch weniger die unmittelbare Diskussion der Thesen, sondern die Frage, ob und wie die durch Herder maßgeblich geprägte paradigmatische Rezeption Spinozas Spuren im Menschen- und Naturbild seiner Dichtungen hinterlassen hat. Shakespeare war sowohl für Herder als auch für Büchner ein maßgeblicher Autor und Impulsgeber. Während Herder seine Leidenschaft für den englischen Dramatiker in programmatischen poetologischen Schriften argumentativ untermauert hat, hat sich bei Büchner dessen Einfluss maßgeblich in seinen Stücken 28 Birgit Sandkaulen: Die Debatte um Spinoza und ihre Folgen für die Herder-Rezeption der nachkantischen Philosophie. In: Herder-Handbuch (Anm. 2), S. 678-686, hier S. 679. 29 Georg Büchner: Spinoza. In: Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente (Anm. 14), S. 280- 352. 80 Hermann Gätje niedergeschlagen. 30 In einem Brief formuliert Büchner seine Neigung zu Shakespeare explizit aus der Opposition zu Friedrich Schiller: Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, […] Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller. 31 Diese Position lässt sich vertiefend in Relation zu Herder setzen, dessen Verhältnis zu Schiller von Differenzen in grundlegenden philosophischen und ästhetischen Fragen geprägt war. 30 Vgl. Burghard Dedner: Büchner und Shakespeare. URL: http: / / buechnerportal.de/ aufsaetze/ buechner-und-shakespeare (zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2019). 31 Brief Büchner an die Familie, aus Straßburg nach Darmstadt, 28. Juli 1835. In: Büchner: Briefe (Anm. 14), S. 411. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst: Sprachphilosophie und Künstlertum im Sturm und Drang Elisa Garrett, Bayreuth Straßburg zählt neben Frankfurt und Göttingen zu den wichtigsten Zentren des literarischen Sturm und Drang. 1 Die Stadt ist dabei nicht nur entscheidender Schaffensort der Literaten, sondern funktioniert als starker Impulsgeber der damaligen Dichtung. Sie trägt zum neuen Verständnis des künstlerischen Schaffens und dem Aufkommen der Genie-Ästhetik bei. 2 So leisten die städtische Atmosphäre und insbesondere die städtische Architektur einen bedeutenden Anteil für die Entwicklung der literaturhistorischen Strömung des Sturm und Drang. In diesem Zusammenhang ist Johann Wolfgang Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772) zu betrachten. 3 Goethes Schrift verweist auf die intensive Ausstrahlung des Straßburger Stadtbilds und betont die starke Wirkungskraft des Straßburger Münsters. Goethe gilt als einer der ersten Persönlichkeiten, die dem Straßburger Münster mit so hoher Aufmerksamkeit und Bewunderung begegnen. 4 Im selben Jahr - und ebenfalls in Straßburg - entsteht Johann Gottfried Herders sprachphilosophische Abhandlung über den Ursprung der Sprache. 5 In Herders Aufzeichnungen lassen sich Parallelen zu Goethes Beobachtung der Straßburger Architektur erkennen. Die theoretischen Überlegungen beider Schriftsteller sind der Präsenz des Bauwerks inhärent: Das Straßburger Münster spiegelt die künstlerische und sprachliche Impulsivität des Sturm und Drang. Dieser ideengeschichtliche Zusammenhang soll im Folgenden näher untersucht 1 Vgl. Barbara Baumann / Brigitta Oberle: Deutsche Literatur in Epochen. Ismaning 1996, S. 99. 2 Vgl. Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epochen - Werke - Wirkung. Zweite, akt. Aufl. Unter Mitarbeit von Tanja Manß. München 2007, S. 68. 3 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Gerhard Sauder. Band I,2. Der junge Goethe. 1757- 1775. München 1987, S. 415-423. 4 Vgl. Reinhard Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster. Zum Wissenschaftsbild der Kunst. Weinheim 1985, S. 19. 5 Vgl. Emil Adler: Herder und die deutsche Aufklärung. Wien [u. a.] 1968, S. 122f. 82 Elisa Garrett und unter Bezugnahme auf einige frühe Gedichte Goethes dargestellt werden. Nachdem Goethes Aufsatz zunächst anonym erscheint, wird er 1773 von Herder in der Essay-Sammlung Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter unter seinem Namen herausgegeben. 6 Reinhard Liess verweist bei der Analyse des Baukunst-Aufsatzes auf eine bestehende Problematik der Wissenschaftsdisziplinen. Während das Münster aus baugeschichtlicher Perspektive meist ohne Bezug zu Goethes Anschauung und Beobachtungen untersucht wird, ist die literatur- und geisteswissenschaftliche Forschung nur rudimentär an die historischen Befunde der Architekturgeschichte angelehnt. 7 Liess betont die hohe Relevanz von Goethes Beobachtungen für die Kunst- und Baugeschichte, deren Zusammenhang seiner Ansicht nach zu wenig beachtet wird. 8 Neben der Relevanz des Textes für die Kunst- und Baugeschichte zeichnen sich in Goethes Aufsatz auch für das künstlerische Verständnis des Sturm und Drang starke Bedeutungsmuster ab. Wollte Goethe zunächst Erwin von Steinbach noch selbst ein Denkmal errichten lassen, so nimmt er sein Ansinnen im selben Augenblick zurück. Dabei beschreibt Gothe das Straßburger Münster als das selbstgeschaffene „Denkmal“ seines Erbauers: „Was braucht's dir Denkmal! Du hast dir das herrlichste errichtet“ - was durch die anaphorische Wiederholung wenige Zeilen später „Was braucht’s dir Denkmal! und von mir! “ zusätzlich verstärkt wird. 9 Das Bauwerk erscheint hierbei als Repräsentant der Ehrerbietung für den Baumeister und gottgleichen Künstler. Dieser wird nicht nur als Künstler betitelt, sondern explizit als „Genius“ bezeichnet. 10 Das Münster wird dabei mit einer Schöpfung Gottes gleichgesetzt. Überdies erweckt die spätere Ansprache Steinbachs als „heiliger Erwin“ starke Parallelen zum Kontext des Religiösen und Göttlichen. 11 Die Idee des Genius oder Genies betont das Vorherrschen einer schöpferischen Kraft, deren Nähe zum Schöpfungsgedanken auch in der Darstellung des Bauwerks zum Tragen kommt. Während Steinbach mit „Babelgedanken in der Seele“ beschrieben ist, zeigen sich die Ansichten des Gebäudes mit christlichem Vokabular und im biblischen Vergleich als „Bäume 6 Vgl. Detlef Kremer: Von deutscher Baukunst. In: Bernd Witte- / Peter Schmidt (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Bd. III: Prosaische Schriften. Stuttgart und Weimar 1997, S. 564-570, hier S. 564. 7 Vgl. Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster (Anm. 4), S. 70. 8 So schreibt Liess den „direkten Beziehungen der Gedanken Goethes zur konkreten Architekturgestalt der Münsterfassade“ eine hohe Bedeutung zu. Er vertritt die Ansicht, dass die „Belebungs- und Vertiefungskraft der ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen“ wichtige Impulse für die Kunst- und Baugeschichte liefert. (Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster [Anm. 4], S. 70.) 9 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 415. 10 Ebd., S. 418. 11 Ebd., S. 420. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst 83 Gottes“ - das Straßburger Münster erscheint somit als unmittelbarer Bestandteil göttlicher Schöpfungskraft. 12 Ähnliche Bilder wiederholen sich im Laufe des Aufsatzes mehrfach. Nach einem kritischen Vergleich der gotischen Baukunst mit der Architektur der romanischen Antike präsentiert sich das Straßburger Münster als: […] weitverbreitete[r] Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen, und Blättern wie der Sand am Meer, rings um, der Gegend verkündet, die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters. 13 In diesem Zitat ist eine starke prophetische Tendenz zu erkennen. Dies wird durch die ergänzende Betonung des „beugen und anbeten“ und die Erhabenheit des gotischen Bauwerks für den Betrachter verstärkt. 14 Im Zentrum stehen das Sehnen und Streben nach Gott sowie der Gedanke der Apotheose als Erhöhung des Menschen - hier des Erbauers Erwin von Steinbach - auf eine gottgleiche Position. Baumeister und Bauwerk werden zum „Symbol eines genialen Schaffens“ erklärt und bieten starke Nähe zur aufkommenden Genie-Ästhetik des Sturm und Drang. 15 Zusätzlich rückt das schöpferische Subjekt an die Stelle der Religion. Die bisher kirchliche Religion wandelt sich zu einer kunstorientierten und vom christlichen Glauben abgewandten Weltanschauung, die fortan das Denken und Schaffen des Künstlers bestimmt. 16 Ähnliche Tendenz weist Goethes bekanntes Gedicht Prometheus auf. 17 Bei der Figur des Prometheus gilt das Element des Schöpferischen als Inbegriff der menschlichen Selbstverwirklichung, die im Sinne des prometheischen Feuers wegweisend für die Zukunft ist - gleichsam wie es hier durch das Bauwerk Steinbachs für die Zukunft der architektonischen und künstlerischen Weltwahrnehmung geschieht. 18 Mit der göttlichen Aura des Schöpferischen erlangt das Straßburger Münster einen Effekt des Erhabenen. Das Bauwerk wird zum „Symbol des Weltenbaums“ erhoben und ist somit Teil der religiös und künstlerisch bestimmten Naturgewalt. 19 12 Ebd., S. 415. 13 Ebd., S. 418. 14 Ebd., S. 419. 15 Nina Hahne: Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung [Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung. 53]. Berlin und Boston 2015, S. 202. 16 Vgl. ebd., S. 209f. 17 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl. Bd. I: Gedichte. 1756-1799. Frankfurt am Main 1998, S. 203f. 18 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Natur und Mensch - und die Zukunft der Schöpfung [Beiträge zur systematischen Theologie. 2]. Göttingen 2000, S. 216f. 19 Hans Georg Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang. Theologische Implikationen eines literarischen Paradigmenwechsels. In: Hans Edwin-Friedrich [u. a.] 84 Elisa Garrett Eine weitere Parallele ließe sich in Goethes Künstlers Abendlied (1774) erkennen. Auch in diesem Gedicht liegt eine enge Verknüpfung des künstlerischen Aspekts mit dem Göttlichen nahe: „Ach, daß die inn’re Schöpfungskraft-/ Durch meinen Sinn erschölle! - / Daß eine Bildung voller Saft- / Aus meinen Fingern quölle“. 20 Die konkret benannte inn’re Schöpfungskraft verweist wiederholt auf den Geniegedanken des Sturm und Drang, der in Goethes Künstlergedichten und theoretischen Schriften zur Kunst häufig auftritt. 21 Der schöpferische Geniegedanke ist somit nicht nur auf die Baukunst übertragbar, sondern lässt sich auch auf die Kunst des Dichtens beziehen. In der Darstellung des Straßburger Münsters beschreibt Goethe die innere Kraft des Bauwerks wie folgt: Je mehr sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann, in denen sich allein das Leben des gottgleichen Genius in seligen Melodien herumwälzt; jemehr diese Schönheit in das Wesen eines Geistes eindringt, daß sie mit ihm entstanden zu sein scheint, daß ihm nichts genugtut als sie, daß er nichts aus sich wirkt als sie, desto tiefgebeugter stehen wir da und beten an den Gesalbten Gottes. 22 Die Wirkungskraft der Kunst und das innere Schöpfungsempfinden des Genies erscheinen stark miteinander vereint. Während die Schöpfungsinstanz im Sinne des Baumeisters göttlichen Status erreicht hat, offenbart sich dem Betrachter göttliche Schönheit. Dies klingt insbesondere im letzten Teil des Aufsatzes an, indem Steinbach durch sein Bauwerk „mehr als Prometheus“ die „Seligkeit der Götter“ auf die Erde leite. 23 Die mit der Kraft des Schöpferischen verbundene Genie-Ästhetik verläuft parallel zur beginnenden Autor-Ästhetik des Sturm und Drang: Auch der Poet wird zunehmend „in Analogie zum Schöpfer-Gott“ verstanden, so wie es hier mit dem Schöpfer des Bauwerks geschieht. 24 Ähnliches bildet das Gedicht Prometheus ab. Mythische Figuren dienen als Repräsentanten des Künstlertums, wobei die Erhöhung des Schöpfers hier eher einer Hybris und Selbsterhöhung durch die Überschätzung eigener Fähigkeiten entspricht anstatt einer Apotheose, wie sie im Aufsatz zur deutschen Baukunst vorliegt. 25 (Hrsg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen - Kontroversen - Konkurrenzen. Berlin 2011, S. 243-260, hier S. 260. 20 Johann Wolfgang Goethe: Künstlers Abendlied. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Hans J. Becker [u. a.]. Bd. III,2: Italien und Weimar. 1786-1790. München 1990, S. 34. 21 Vgl. Christian Sbrilli: Von der Eitelkeit der Einbildungskraft. Die ästhetische Sendung des jungen Goethe im Spiegel von „Faust II“. Würzburg 2010, S. 67. 22 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 421. 23 Ebd., S. 423. 24 Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang (Anm. 19), S. 256. 25 Vgl. Sabine Appel: Johann Wolfgang von Goethe. Ein Porträt. Köln [u. a.] 2009, S. 266. Dies zeigt sich insbesondere in der letzten Strophe: „Hier sitz ich, forme Menschen-/ Nach meinem Bilde“ und dem letzten Vers „Wie ich! “ 26 Herder verweist in diesem Bezug auf die Schwierigkeit, als „zweiter Prometheus“ zu agieren, und betont die notwendige Variante des Mittelwegs: Der Mittelweg besteht darin, die künstlerischen Werke anderer intensiv zu betrachten, „um durch sie aufzumuntern“ - so wie Goethe Steinbachs Straßburger Münster betrachtet. 27 Zudem kommen die innere Kraft und das geistige Vermögen der Sprache insbesondere in der Dichtung zum Tragen. Herder beschreibt die Dichtkunst als „Natursprache aller Geschöpfe, vom Verstande in Laute gedichtet“ und benennt sie zusätzlich als ein „Wörterbuch der Seele“. 28 Die innere Kraft der Sprache gibt der Dichtkunst daher einen ähnlich hohen Stellenwert, wie ihn Goethe in der Architektur des Straßburger Münsters erkennt. Ergänzend äußert Herder folgenden Leitsatz: „je mehr Regeln eine Sprache erhält, desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie.“ 29 An dieser Stelle sind zwei Parallelen zu Goethes Baukunst-Aufsatz zu nennen. Zunächst heißt es, dass dem „Genius“ beziehungsweise dem Genie als Schöpfer eines Bauwerks nichts schädlicher sei als „Prinzipien“ - gegen solche Prinzipien wäre beispielsweise das Vorkommen von Säulen in nicht sakralen Bauwerken, da Säulen bis zum 19. Jahrhundert nur göttlichen Bauten vorbehalten sind und die „heilige Wirkung der Säulen“ die Individualität des Gebäudes markieren. 30 Darauf folgt eine emphatische Rede über die Säule und ihre Natur „freizustehn“ sowie die daraus hervorgehende innere Kraft ihres Bauwerks. 31 Denn: „Schule und Principium fesselt alle Kraft der Erkenntnis und Tätigkeit“ und unterdrücke somit den individuellen Charakter der Baukunst. 32 In dieser Äußerung sind die Kraft und die Impulsivität des Sturm und Drang bereits zu erkennen. Im Vordergrund steht eine neuartige Bewegung des Künstlers entgegen den Normen und Regeln. Das Vorherrschen des „Wilden“ steht eng in Verknüpfung mit der Kunst und ist insbesondere im architektonischen Bauwerk des Straßburger Münsters zu erkennen. 33 Betrachtet man nun die Position Herders und die Annahme, dass die 26 Goethe: Prometheus (Anm. 17), S. 204. 27 Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste bis dritte Sammlung von Fragmenten. In: Sturm und Drang. Kritische Schriften. Hrsg. von Erich Loewenthal und Lambert Schneider. Heidelberg 1963, S. 185-288, hier S. 245. 28 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Sturm und Drang. Kritische Schriften. Hrsg. von Erich Loewenthal und Lambert Schneider. Heidelberg 1963, S. 399-506, hier S. 441. 29 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 27), S. 203. 30 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 416. 31 Ebd., S. 417. 32 Ebd. 33 Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster (Anm. 4), S. 173. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst 85 86 Elisa Garrett Sprache an „wahre[r] Poesie“ verliert, je mehr Regeln sie unterworfen ist, ergibt sich eine unmittelbare Verknüpfung zwischen dem poetischen Sprachempfinden und der von Goethe bevorzugten Variante deutscher Baukunst. 34 In beiden Fällen dominiert die Betonung des wahren Charakters und der geforderten Individualität eines Kunstwerks. Für die gotische Architektur Straßburgs gelten dieselben Prinzipien wie für die Poesie des Sturm und Drang. Somit gleicht das Bauwerk - und insbesondere das Straßburger Münster - einer Programmatik der Dichtkunst. Abgrenzend zu anderen Baukünsten, denen Goethe eher abwertend gegenübersteht, wird ein charakteristischer Vergleich gezogen. Es folgt eine starke Betonung der eigenen Baukunst, die mit dem Straßburger Münster repräsentativ für das deutsche Vaterland und Kulturgut steht: „[…] das ist die deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzos.“ 35 Der künstlerische Aspekt der Architektur des italienischen und französischen Klassizismus werde durch Einförmigkeit und Regeln unterdrückt, was die Idee der wahren Kunst für die gotische und deutsche Baukunst weiterhin bestärkt. 36 Der goethesche Begriff der deutschen Baukunst ist somit als Synonym für das Wahre und den wahren Charakter des Kunstwerks zu verstehen. Die deutsche Baukunst gilt als ein „künstlerischer Gestaltbegriff“, der an die Individualität des dargestellten Bauwerks gebunden ist. 37 Ähnlich wiederum äußert sich Herder über die Sprache: „Der Genius der Sprache ist also auch der Genius von der Literatur einer Nation.“ 38 In beiden Fällen steht die übergreifende Bedeutung für das Vaterländische oder den Charakter einer Nation im Vordergrund, sofern ein bestimmter künstlerischer Gestus vorhanden ist. Wiederholt taucht zudem der Begriff des Genies auf. Die aufkommende Genie-Ästhetik scheint stark mit der Auffassung poetischer Sprache verbunden zu sein und steht im engen Zusammenhang mit der Vorstellung eines nationalen Charakters. Dieser Auffassung nach ähneln sich Sprache und Baukunst stark: Künstlerisches Schaffen wird fortan als Schöpfungsakt begriffen, der seinen Ursprung nicht nur aus der philosophischen Sprachwahrnehmung der Zeit bezieht, sondern insbesondere aus der erhabenen Wirkung der Straßburger Architektur. Die Elemente des Wilden und Regellosen sind in beiden Bereichen vertreten. Literaturwissenschaftler Hans-Georg Kemper bemerkt in diesem Zusammenhang, dass sich im Sturm und Drang ein „formästhetischer Paradigmenwechsel“ vollzieht, der von einer Abwendung des Alten und von der 34 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 27), S. 203. 35 Ebd., S. 420. 36 Vgl. ebd. 37 Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster (Anm. 4), S. 27. 38 Herder: Über die neuere deutsche Literatur (Anm. 27), S. 199. Hinwendung zum Neuen lebt. 39 Er begründet die Dominanz der künstlerischen Kraft mit dem Aufleben der pantheistischen Gottesvorstellung und beschreibt die daraus resultierende „kraftvolle Dynamisierung der Formensprache“ als „Gegenstand und Medium ästhetischen Erlebens“ - so erscheint auch das Straßburger Münster bei Goethe als Erlebnis einer künstlerischen und göttlichen Erfahrung. 40 Sprachwahl und Ausdruck der Empfindung treten hierbei analog zur Betrachtung des Bauwerks auf. In Goethes Beobachtungen zeigt sich das kraftvolle Empfinden wie folgt: Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat. Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer ältern Brüder in ihren Werken zu umfassen. 41 Im Vordergrund der Beschreibung steht hier das Verhältnis von Harmonie und Ästhetik. Harmonie und Ästhetik sind eng miteinander verknüpft und tragen zum Effekt der göttlichen Ergriffenheit bei. Weiter folgt eine Betonung der „harmonischen“ Massen, die „wie in Werken der ewigen Natur“ dargestellt sind und dadurch so wirken, als wären sie zu „unzählig kleinen Teilen belebt“. 42 Das Erscheinungsbild des Bauwerks ist stark mit dem harmonischen Erscheinungsbild der Natur verbunden. In Dichtung und Wahrheit führt Goethe die Beschreibung der Westfassade en détail aus und unterstreicht den Effekt ihrer Wirkungskraft durch das Adjektiv-Attribut „mächtig“. 43 Auch hier spielt die harmonische Einheit eine bedeutende Rolle. So beschreibt er die „kolossale Wand“ in Verbindung mit ihrem „schöne[n] Verhältnis der Höhe zur Breite“ und ihrer Wirkung von etwas „gleichmäßig Leichte[m]“. 44 Ebenso klingt die Idee der harmonischen Einheit bei Herder an. In der Einheit von Sprache und Denken etablieren sich die Gedanken zu Worten, die dann zur poetischen Sprache erhoben werden. 45 Goethe benennt seine Betrachtung des Straßburger Münsters als „poetisches Anschauen“ und betont wiederum den „dichterischen“ Zweck seiner Beschäf- 39 Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang (Anm. 19), S. 245. 40 Ebd. 41 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 218f. 42 Ebd., S. 219. 43 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Peter Sprengel. Bd. XVI: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. München 1985, S. 412. 44 Ebd., S. 415. 45 Vgl. Adler: Herder und die deutsche Aufklärung (Anm. 5), S. 128. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst 87 88 Elisa Garrett tigung mit der vaterländischen Baukunst. 46 Weiter heißt es in der Ausführung des Harmoniegedankens: Denn ein Kunstwerk, dessen Ganzes in großen, einfachen, harmonischen Teilen begriffen wird, macht wohl einen edlen und würdigen Eindruck, aber der eigentliche Genuss, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei Übereinstimmung aller entwickelten Einzelheiten stattfinden. 47 Diese Übereinstimmung findet Goethe im Straßburger Münster wieder. Der würdige Eindruck und der beschriebene „Genuss“ des Kunstwerks sollen in einer Hinwendung an den Leser als „Bruder im Geiste des Forschers nach Wahrheit und Schönheit“ weitergetragen werden. 48 Häufig wendet sich der Aufsatz an fiktive Adressaten. In diesem Fall verkörpert der „Bruder im Geiste“ die „ideale Projektion“ des gleichgesinnten Lesers mit einer ähnlich ästhetischen Positionierung. 49 Die Betonung der Wahrheit und Schönheit markiert erneut den Gedanken der wahren Kunst - gleichsam wie ein Zusammenspiel der Natur ergeben die Einzelheiten des Bauwerks ein harmonisierendes Ganzes. Schönheit und Gefallen entstehen durch die Vollendung der Harmonie, in welcher der Schöpfer durch die eigene Charakteristik des Bauwerks als ein solcher erkennbar ist. Steinbach gelingt diese Harmonisierung nicht nur durch das göttlich anmutende Gefühl des Erhabenen beim Betrachten des Bauwerks, sondern insbesondere durch die Darstellungsnähe zur Natur. Zunächst ist die Natur stark in Bezug zur göttlichen Schöpfung erkennbar, doch auch außerhalb des Religiösen reflektiert sie den natürlichen Bezug als wichtiges Element des Bauwerks. Das unterstreicht Goethes Sichtweise vom Straßburger Münster, indem „jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf“ und „Blattreihe“ oder als eine andere Art Naturgebilde interpretiert werden kann, die „im Steinsinn“ umgeformt ist. 50 Dies entspricht weniger einer metaphorischen Imitation der Natur, sondern vielmehr einer architektonischen Darstellungsweise, die der ursprünglichen Natur analog ist. Dem gegenüber wird aus architekturgeschichtlicher Perspektive betont, dass die Darstellungsform eine „Naturnachahmung“ sei und der so entstehende Effekt der „Leichtigkeit“ als notwendiges Mittel gilt, um die gewünschte Funktion von Ehrfurcht und Gottesverehrung vollständig gewährleisten zu können. 51 Diese Richtlinie gilt insbesondere für Kirchen und Kathedralen und somit auch für 46 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 43), S. 543. 47 Ebd., S. 415f. 48 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 420. 49 Hahne: Essayistik als Selbsttechnik (Anm. 15), S. 210. 50 Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 43), S. 416. 51 Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810. Stuttgart und London 1997, S. 74. das Straßburger Münster. Mit Blick auf den Sturm und Drang ist das religiöse Weltbild bei Goethe bereits stark vom Pantheismus geprägt: Das Göttliche ist somit auch innerhalb des Bauwerks und der schöpferischen Kraft des Erbauers vertreten. 52 Hierin spiegeln sich erneut die künstlerisch bestimmte Religionsauffassung und die starke Betonung des ästhetischen Erlebens. Schöpfergeist und Naturgedanke stehen im engen Zusammenhang mit dem Prozess des künstlerischen Schaffens. An dieser Stelle sei das Hauptanliegen in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache genannt: Herder widerspricht der theologischen Vorstellung der Sprachentstehung und begründet seinen Standpunkt mit biologischen Denkmustern. Seiner Theorie zufolge sei der Ursprung der Sprache physiologisch und könne nur durch den Menschen elysäischen Status erreichen. Die Sprachentstehung geht dabei nicht auf einen „göttlichen, sondern gerad umgekehrt auf einen tierischen Ursprung“ zurück. 53 Dennoch vertritt Herder nicht die These, dass die menschliche Sprache aus tierischen Äußerungen hervorgeht. Vielmehr versteht er die Sprachentwicklung als komplexe „gesellschaftliche und historische Erscheinung“, die in enger Verbindung mit der Entwicklung des Menschen und seinen nicht rein instinktgesteuerten Empfindungen steht. 54 Gleichzeitig betont Herder eine Überlegenheit der Naturgesetze gegenüber göttlicher Sprachunterweisung. Diese erkennt er vorwiegend im Zusammenhang mit der Fähigkeit der physisch-sinnlichen Empfindung von Tönen und Sprache. 55 Diese Dominanz ist auch in Goethes Aufsatz über die deutsche Baukunst zu vernehmen. Die goetheschen Gesetze der Natur bestimmen nicht nur die inhaltliche Basis des Kunstwerks, sondern bilden die Darstellungsform des inspirierten Künstlers. 56 So weist auch die Architektur des Straßburger Münsters große Nähe zu den harmonischen Verhältnissen und Formen der Natur auf. Liess beschreibt dies als „Analogie zur gegliederten Ordnung auch eines natürlichen Organismus“ - hier jedoch dient die Natur nicht nur als bloßes Merkmal der Abbildung, sondern als konkrete „Idee“ für die Art und Weise der architektonischen Gestaltung. 57 So bietet die architektonische Raumwahrnehmung eine starke Beziehung zur Wahrnehmung und Erscheinungsform der Natur. Auch im Gedicht Künstlers Abendlied kommt der Natur eine bedeutende Rolle zu. Sie klingt in ähnlicher Weise wie das Straßburger Münster in seiner Funktion als Denkmal an. Im Gedicht dient die Natur dazu, das „enge Dasein“ in der „Ewig- 52 Vgl. Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang (Anm. 19), S. 245. 53 Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Anm. 28), S. 409. 54 Adler: Herder und die deutsche Aufklärung (Anm. 5), S. 128. 55 Vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Anm. 28), S. 412. 56 Vgl. Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster (Anm. 3), S. 178. 57 Ebd. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst 89 90 Elisa Garrett keit“ zu erweitern. 58 Ulrich Wussow zufolge bedeutet dies ein „totales Ausschöpfen des künstlerisch-kreativen Daseins“ - ähnlich wie der künstlerische Schaffensprozess Steinbachs, der bis zum selbstgeschaffenen Denkmal führt. 59 Auch das Münster gilt damit als Zeichen der Erinnerung bis in die Ewigkeit. Zum Prozess des künstlerischen Schaffens äußert sich Goethe wie folgt: „Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die Schöne selbst.“ 60 Das optisch Schöne ist demnach nicht der einzige Effekt der Kunst. Das Besondere liegt in ihrer ästhetischen Wahrheit, wie sie der Baukunst-Aufsatz dem Straßburger Münster zuschreibt. Das Ergebnis sei eine „charakteristische“ und somit für Goethe „einzig wahre“ Kunst, die über den Effekt des Schönen hinausgeht. 61 Das Element der Wahrheit soll dabei „aus inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung um sich wirk[en]“ und könne so durch intuitive Empfindung zur Schaffung eines Kunstwerks führen. 62 Ähnlich greift es die erste Strophe in Künstlers Abendlied auf: „Ach, daß die inn’re Schöpfungskraft- / Durch meinen Sinn erschölle! - / Daß eine Bildung voller Saft-/ Aus meinen Fingern quölle! “ 63 Hierbei äußert sich der Wunsch nach künstlerischer Inspiration und der Kraft des künstlerischen Bildens. In dieser Kraft liegt der wahre Charakter der Kunst - die bildende Natur wiederum im inspirierten Menschen. Zudem ist das Element der Wahrheit eng mit dem „rauhe[n] Wilde[n]“ verbunden und steht auch hier stellvertretend für die Dichtung und Sprache des Sturm und Drang. 64 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Straßburger Münster in Goethes Aufsatz als Spiegel der regellosen Impulsivität, der künstlerischen Individualität und der natürlichen Harmonie funktioniert. Diese Elemente sind gleichzeitig zentraler Bestandteil der Dichtkunst. Die Figur des Poeten und Künstlers - so auch Erwin von Steinbach - bezieht eine apotheotische Position als kunstschaffender Schöpfergeist. Die goethesche Beschreibung des Bauwesens schult das Verständnis von Kunst als Schöpfung und verknüpft die christliche Religion mit der kunstorientierten Haltung des Pantheismus. Der Betrachter und das ästhetische Erfahren der Kunst stehen dabei im Mittelpunkt. Bezüglich der gotischen (bei Goethe oft gleichgesetzt: deutschen) Architektur ist zudem die kulturhistorische Abgrenzung des italienischen und französischen Klassizismus zu nennen. Dominant steht ein Gestus, der gegen die Norm agiert und so zur 58 Goethe: Künstlers Abendlied (Anm. 20), S. 34. 59 Ulrich Wussow: Goethe - Klassik und Transzendenz. Berlin 2013, S. 91. 60 Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 3), S. 421. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Goethe: Künstlers Abendlied (Anm. 20), S. 34. 64 Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster (Anm. 3), S. 173. Bildung des wahren und charakteristischen Wesens der Kunst beiträgt. Mit der Beschreibung der Straßburger Architektur liefert Goethe enge Verknüpfungen zu den sprachphilosophischen Schriften des Sturm und Drang. Neben der neuen Sichtweise auf Sprache und Dichtkunst entsteht eine neue Art des ästhetischen Empfindens. Dieses kunstbezogene Empfinden zeigt sich in Goethes Aufsatz insbesondere in der architektonischen Raumwahrnehmung des Straßburger Münsters. Der natürliche Ursprung künstlerischen Schaffens ist nicht nur in der Dichtung des Sturm und Drang erkennbar, sondern spiegelt sich in der gotischen - und vaterländischen - Architektur Straßburgs wider. Architektur und Dichtkunst sind als ästhetisches Erlebnis der Kunst erfahrbar und bestärken dabei den Charakter einer Nation. Während das prominente Bauwerk als poetisches Kunstwerk auftritt, orientiert sich das dichterische Sprachempfinden an ähnlichen Prinzipien wie das Straßburger Münster. Das Verhältnis von Sprachphilosophie und Kunstästhetik stellt die poetische Sprache in enge Verbindung mit der schöpferischen Kraft architektonischer Baukunst, deren Ursprung Goethe unverkennbar in Straßburg lokalisiert. Straßburg und die Architektur der Dichtkunst 91 “Mensch, die sind zu groß für unsere Zeit”: Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum Matthew Feminella, Tuscaloosa/ AL Like many of his Sturm und Drang contemporaries, Jakob Michael Reinhold Lenz was a transplant. Born in 1751 in Livonia, a region that includes much of modern-day Estonia and Latvia, Lenz spent his formative years at the edge of the German-speaking world. Early in his life Lenz left his studies at the University of Königsberg to take an opportunity to serve as an attendant to two military officers. While this arrangement would in most cases provide a less than auspicious start to a literary career, it was a chance for Lenz to leave the Baltic coast, since as an attendant he was obliged to follow these officers wherever they were deployed. As it happens, the deployment would send him to the other end of the German-speaking world: Strasbourg, France. Lenz’ time in Strasbourg constitutes the most productive years of his literary output. It was in Strasbourg that Lenz befriended Goethe and Herder, who would come to form the nucleus of Sturm und Drang. His dramas Der Hofmeister and Die Soldaten achieved great notoriety, despite the fact that their authorship was initially contested by those who assumed that Goethe himself must have composed them. While Die Soldaten and Der Hofmeister are counted among the most prominent of Lenz’ dramas, during this period Lenz also composed another work, Pandämonium Germanikum, which departs from the genre categories of the other two dramas. Referring to itself as a Skizze or sketch instead of a Komödie, Pandämonium Germanikum differs from many of Lenz’ other dramatic works in its lack of a highly specific setting. While Der Hofmeister and Die Soldaten both take place in clear reference to contemporary European localities such as Insterburg and Lille, the settings of Pandämonium Germanikum are not to be found on any map. Instead, the three acts, which are each respectively set on a steep mountain slope, “Der steil Berg”, the Temple of Fame, “der Tempel des Ruhms”, and a courtroom, “Gericht”, venture into allegorical abstractions that reveal a unique conceptualization of the significance of spatial settings. 94 Matthew Feminella This article will explore the questions and issues emerging from the spatial relations presented in Pandämonium Germanikum. Lenz’ text poses an intriguing problem in regard to space, namely the question of whether the three settings ought to be understood as existing along a single spatial continuum. 1 For instance, the Temple of Fame merely appears chronologically after the slope of the mountain, and the text lacks both a reference to a common point of orientation and an explanation of how characters move from setting to setting. The general spatial confusion could lead one to interpret Pandämonium Germanikum as a reflection on the structure of a dream, in which objects, persons, and settings appear randomly without adhering to the spatial rules of reality. 2 In general, the issue of setting and space has tended to lapse into the background of readings of Pandämonium Germanikum, but as I will argue, the seemingly disparate settings provide a source of continuity for understanding the work as a whole. The trajectory of the three acts proceeds upwards along a vertical axis from the grounded slope of a mountain, to the higher elevated Temple of Fame, and then finally reaches its apex at the celestial court. The progression of the character of Lenz along this axis coincides with his critique of strict genre divisions between higher tragic and lower comedic art. This vertical axis, predicated on rank of literary merit, not only runs along the settings themselves, but also within them, as the verticality represented in “der steil Berg” of the first act and the “Tempel des Ruhms” of the second act arranges characters within hierarchical relationships. Within the “Tempel des Ruhms” emerges a second axis, this one horizontal, that conceptualizes literary recognition in terms of another binary: those who are granted access to the Temple of Fame, and those who are prohibited entrance or are expelled. At the same time, while the settings lack any specificity to a particular location, Lenz’ choice of characters to fill those settings, most of whom refer to specific historical or contemporary persons from either the French or German literary tradition, evokes a clear intellectual landscape. The depiction in Pandämonium Germanikum is a cultural confluence of German and French authors which mirrors Lenz’ intellectual milieu in Strasbourg. The juxtaposition of the French and German traditions represents a break with similar contemporary German texts by not parodying French as such, but 1 Werner Rieck also recognizes the issue with the lack of continuity in Pandämonium Germanikum and interprets the consistent references to Goethe and Goethe’s writings as the theme that binds the disparate episodes. See Rieck: Poetologie als poetisches Szenarium: Zum „Pandämonium Germanikum“ von Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Lenz-Jahrbuch 2 (1992) S. 78‒111, here 89. 2 This is not to claim that Pandämonium Germanikum cannot be understood as dreamlike, since that would clearly be at odds with the ending. Rather that despite a dreamlike setting, the three settings exist together within a coherent spatial structure. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 95 rather the German reliance on French models through the artistic principle of imitation, while simultaneously staging eighteenth-century literary history that culminates with Lenz himself. Pandämonium Germanikum suffers from a tortuous publication history. Although written in 1775, it was not published until 1819, decades after Lenz’ death. The reasons for the long delay of the publication of Pandämonium Germanikum become evident upon considering the dramatis personae. In contrast to the abstract settings of the three acts, “der steil Berg”, “Tempel des Ruhms” and “Gericht”, Lenz’ text depicts its characters with the extreme specificity often expected from satires of contemporary persons. 3 As a self-professed satire, made explicit at the onset by its epigraph from Juvenal, “Difficile est satyram non scribere”, Pandämonium Germanikum would likely have encountered a great deal of criticism for its lack of reverence for contemporary literary luminaries. 4 Few of Lenz’ German contemporary writers escape his sardonic caricature, with Johann Wolfgang Goethe, Christoph Martin Wieland, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Friedrich Gottlieb Klopstock, Christian Felix Weisse and others being rendered into one-dimensional representations of their most obviously ridicule-worthy features. 5 From portraying Goethe as an ambitious yet disconnected artist contemptuous of mediocrity and popular sentiment, to depicting Wieland as a failed artist who tortures his audience with the din from his out-of-tune lyre, Lenz’ Skizze is a work that would have aroused the acrimony of many of his fellow writers. Even Lenz himself appears as a pitiful 3 For an introduction to how Pandämonium Germanikum is situated within other contemporary satires such as Goethe’s Götter, Helden, Wieland and Merck’s Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt dem Jüngern, see Kai Kauffmann: Poetische Angriffe im literarischen Feld. Literatursatiren der Stürmer und Dränger (Goethe, Merck, Lenz). In: Matthias Buschmeier- / Kai Kaufmann (Hrsg.): Sturm und Drang. Epoche, Autoren, Werke. Darmstadt 2013, S. 20‒48. 4 Jakob Michael Reinhold Lenz: Pandämonium Germanikum. Synoptische Ausgabe beider Handschriften. Hrsg. von Matthias Luserke and Christoph Weiß. St. Ingbert 1993, S. 9. Pandämonium Germanikum exists as two manuscripts, known as the ältere Fassung and the jüngere Fassung. Scholarship is fortunate to have a synoptic edition at its disposal, which will be utilized here. For the sake of consistency, I will primarily refer to the jüngere Fassung, and make some points for comparison with the ältere Fassung when appropriate. 5 Any literary analysis of Pandämonium Germanikum runs into some immediate challenges, namely the difficulty of separating the historical persons from their depictions as characters. As a satire it is difficult to escape the conventional biographical interpretations, since the text contains innumerable references, many of which would be missed by the modern reader without expertise in the landscape of eighteenth-century German writers. As a practical measure the names of the characters will be referred to here (so that “Lenz” refers to the character Lenz and not the author). Cases when the author is the intended referent will be made explicit. 96 Matthew Feminella protagonist, a gifted artist who is doomed to being perpetually unacknowledged. Goethe made known his opposition to Pandämonium Germanikum and Lenz agreed to halt his publication efforts. Even when the text was rediscovered in Lenz’ estate several decades after the era of Sturm und Drang, and most of its depicted persons were deceased, publishers were still hesitant to print a work that could offend Goethe. 6 Der steil Berg Rather than the horizonal orientation of a political map, the predominant spatial configuration in the first act of Pandämonium Germanikum continually accentuates its own staggering verticality. From the landscape that contrasts the lowly valley with the mountain, which Goethe and Lenz are attempting to climb, to the ambitious journalists’ plan to build an airship to carry them to great heights, characters are constantly moving up and down, casting their gaze towards the heavens or down below. In both the dialogue and the extensive narration of the scenic actions through stage directions, the multiple verbal prefixes such as hinauf, hinab, and herunter frequently appear in this section to further convey that the only conceivable course runs up and down. 7 The verticality of the first act corresponds to the concern by many of the characters with ascending the hierarchy of literary renown. This verticality of literary success exists between two polarities. The first is established by the character of Goethe, who sets his eyes on higher elevations to conquer. The second and lower end of the pole is a group of imitators (Nachahmer), philistines (Philister), and journalists (Journalisten) at the bottom of the mountain. Many of those at the foot of the mountain 6 Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt am Main 1989, S. 160‒162. Damm’s biography of Lenz contextualizes the publication history of Pandämonium Germanikum with Leopold Wagner’s satire Prometheus, Deukalion und seine Rezensenten. Wagner’s critique of the contemporary men of letters, which resulted in the end of his personal relationships with many of them, might have further dissuaded Lenz from pursuing publication. 7 Matthias Luserke identifies a discrepancy in the usage of “hinaufkommt” and “heraufkommt” between the two manuscripts of Pandämonium Germanikum, which would indicate two different spatial relationships between Goethe and Lenz. Luserke attributes this to a kind of dream logic that operates outside of the continuity of spatial movement that contributes to the general sense of disorientation. While it is hardly to be disputed that Lenz runs into trouble trying orient himself on the mountain slope, by and large the vertical structure of the first act remains intact with Goethe ascending above and everyone else remaining below. See Luserke: Das “Pandämonium Germanikum” von J. M. R. Lenz und die Literatursatire des Sturm und Drangs. In: Inge Stephan-/ Hans-Gerd Winter (Hrsg.): “Unaufhörlich Lenz gelesen …”. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart 1994, S. 260‒261. are enticed by Goethe’s promise of a splendid view from above, while others are striving to equal or exceed his achievements. Goethe’s feeling of superiority is evident, as he speaks to the imitators in the informal-Du, laughs as they futilely attempt to climb the mountain, and ridicules their inability to differentiate between falling rocks and paper. 8 Along this vertical hierarchy Lenz searches for his place and finds himself caught between the two poles. On the one hand he struggles to keep pace with Goethe, who provides his principle point of orientation on the mountain. Without this steady anchor of orientation, Lenz becomes lost and desperate. Lenz relates his struggles climbing the mountain without Goethe’s assistance to his reputation as an artist, “Wenn mich einer der Kunstrichter sähe, wie würd er die Nase rümpfen? ” 9 The steep mountain, which presents equal challenges to those who attempt to ascend or descend it, imposes a demanding setting where stability and security are prized commodities. At no point in the first act does there emerge a pastoral moment of untroubled existence that would represent a securing of one’s literary place in a highly competitive environment. Lenz is fraught with the constant anxiety of being judged too harshly and displays traits that we would likely refer to today as imposter syndrome. While gruelingly following Goethe towards the summit, Lenz is simultaneously drawn to the masses below. In a conversation with the philistines, Lenz discovers that there are many who esteem his work and acknowledge Lenz’ lack of literary recognition, as one admirer claims “Es verdrießt mich aber doch, daß Ihre Stücke meist unter einem anderen Namen herumwandern.” 10 Unlike Goethe, who perpetually strives to keep his distance from the masses—while at the same time valuing them as a source of ridicule, leading him to exclaim “Wenn keine Narren auf der Welt wären, was war' die Welt? ”—Lenz freely engages with his devotees and provides them insights into his artistic motivations. 11 In response to their appeal that Lenz demands the literary recognition due to him, he responds 8 This scathing critique of the artistic principle of imitation anticipates an anecdote from Goethe’s Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke that will be published some 20 years later, in which an ape mistakes depictions of food in a book with actual food and consumes the pages. See Johann Wolfgang Goethe: Wirkungen der Französische Revolution 1791-1797. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Karl Richter [u. a]. Bd. 4.2. München 1986, S. 94. 9 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 11. 10 Ebd., S. 21. Christoph Schmitt-Maaß views Lenz’ admirers’ demands for literary recognition as a kind of critique of the rising contemporary tendency to praise the author over the work. See Christoph Schmitt-Maaß: „Unberühmt will ich sterben“ J. M. R. Lenz’ Poetologie der Autorschaft. In: Lenz-Jahrbuch 15 (2008), S. 121‒142, here S. 131‒132. 11 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 19. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 97 98 Matthew Feminella Was würd’ ich durch ihren Glauben gewinnen? Das Gefühl, an diesem Herzen ist er warm geworden, aus diesem Herzen hat er alle gutartige Mienen bekommen, die andern Leuten an seinem Gesicht Vergnügen machen, ist stärker und göttlicher, als alles Schmettern der Trompete der Fama in seinem Busen eins aufschütteln kann. Dies Gefühl ist mein Preis und der angenehme Taumel, in den ich beym Anblick eines solchen Sohnes bisweilen versetzt werde, und der fast der Entzückung gleicht, mit welcher er geboren ward. 12 Here begins one of the themes that will continue in each subsequent act: recognition and reward for one’s work. Anticipating the second act in the Temple of Fame, to join Goethe on his quest for literary renown, would simultaneously repudiate his contempt for the “Trompete der Fama” that Lenz views as an insincere motivation for artistic production. By rejecting the Goethean route, Lenz is calling into question the conventional opposition between “higher” tragic and “lower” comedic drama by depicting Goethe ridiculing from above the unrefined yet sincere admirers at the foot of the mountain. This sentiment is repeated in the second act when Lenz remarks “Was ehmals auf dem Kothurn gieng, Herr! Sollte doch itzt an unsere im Sokkus reichen,” evoking and simultaneously challenging the division in the theater of antiquity between tragic and comedic footwear. 13 The very act of Lenz engaging with his admirers, a move eschewed by Goethe, embodies this artistic vision. While Lenz questions the hierarchical divisions between high and low, he never moves beyond conceptualizing the verticality of space. Lenz rather favors the lower end of the pole over the higher. Overturning the vertical hierarchy in which the low is made high carries its own problems, as each avenue available to Lenz is presented as fraught with the same promise and peril. With Goethe on the higher plane of the mountain, Lenz witnesses a spectacle in which a group of journalists attempts to ascend the mountain with an airship. Since the episode effectively rehashes much of the critique of Goethe from previous scenes in the first act, the focus of the subject of ridicule shifts to the added group: the journalists themselves. The journalists, depicted as idle, money-hungry fame seekers, subscribe to Goethe’s view of fame on the highest point of the mountain, and are thus also trapped by the vertical arrangement of positions along the hierarchy. Dismayed by the denizens of the foot of the mountain he once longed for, his encounter with the journalists leads Lenz to reconsider his artistic orientation. Ach ich nahm mir vor, hinunterzugehn und ein Maler der menschlichen Gesellschaft zu werden: aber wer mag da malen, wenn lauter solche Fratzengesichter da giebt? 12 Ebd., S. 23. 13 Ebd., S. 57. Glücklicher Aristophanes, glücklicher Plautus, der noch Leser und Zuschauer fand. Wir finden, weh uns, nichts als Rezensenten und könnten ebenso gut in die Tollhäuser gehen um menschliche Natur zu malen. 14 Caught in a dilemma between the two undesirable poles along the vertical hierarchy, Lenz’s final lines of the first act reveal the self-contained nature of his artistic vision: creating art for the masses inspired by the masses. His experience with the journalists leaves him without both an object and audience, and effectively eliminates his earlier intention of rejecting any pretense for allegedly higher forms of art. Here Lenz exhibits an inner character conflict that prevents him from securing a firm footing on either end of the vertical spectrum. His repulsion of Goethean elitism leads him to idealize the unpretentious life of the simple and unrefined, which Lenz makes explicit in a reference to Rousseau. 15 However, when confronted with the fact that descending the mountain entails dealing with insufferable journalists with delusions of grandeur, Lenz begins to lament his condition as that of a poet dispossessed of an object to inspire his artistic ambitions. Tempel des Ruhms and Gericht Goethe’s explicit remark on the status of the arts in other nations at the conclusion of the first act (“Haben sie’s anderen Nationen besser gemacht? ”) gestures to a new theme in the second act: the comparison of contributions to art on the national level, namely France and Germany. 16 The second act shifts locations away from the precipitous mountain slope and takes place in a Temple of Fame. 17 The temple, also referred to as a Kirche, 18 is inhabited by an assortment of European literary luminaries from the previous three centuries. One of the distinguishing features of the second act is the intrusion of national sentiment into notions of position along the hierarchy of literary achievement. The composition of the dramatis personae reveals the conspicuous confluence of the French and German literary traditions, with each character almost without ex- 14 Ebd., S. 29. 15 Ebd., S. 27. 16 Ebd. 17 For a discussion on the literary tradition of the Temple of Fame, see Martin Maurach: Götter, Helden - und Lenz. J. M. R. Lenzens Trauerspielentwurf im „Pandämonium Germanicum“ und der Epenstreit. In: Das achtzehnte Jahrhundert 30/ 1 (2006), S. 67‒79. 18 Schmitt-Maaß views the discrepancy between Tempel and Kirche, with pagan and Christian connotations respectively, as a reinterpretation of the space from Greek tragedy to imitatio Christi, where Lenz stands as a messianic savior of the church. See Schmitt- Maaß: Lenz’ Poetologie der Autorschaft (Anm. 10), S. 132‒135. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 99 100 Matthew Feminella ception representing a historical person from both traditions. Pandämonium Germanikum does not differentiate between living and deceased persons and presents the likes of Goethe, Wieland, Herder, and most notably Lenz himself next to French literary giants such as Molière, Rousseau, La Fontaine, and Rabelais. This convergence of German and French naturally mirrors the location of the composition of Pandämonium Germanikum, namely Strasbourg, a liminal space where the cultures of France and Germany were in active negotiation. The spatial relationship between the first and second acts is not immediately apparent. If one assumed that the two exist in continuity with each another, for which the inclusion of Lenz and Goethe in both acts would speak, then the “Tempel des Ruhms” would lie on the mountain’s peak. Considering Goethe’s dogged determination to ascend to even greater heights away from the dilettantes on the base of the mountain, a temple of literary giants would pose an alluring objective, although this fact is never made explicit in the text. Such an understanding of the spatial relationship between the first two acts would correlate with Alexander Pope’s Temple of Fame, which also resides on the lofty mountain top. 19 While maintaining some thematic continuity with the slope of the mountain, as entrants to the temple engage in a power struggle for eternal fame among immortal poets, the setting of the temple shifts the hierarchical order embodied in a steep mountain to a horizonal and binary form of differentiation: those who acquire entrance to the temple and those who are excluded. The reorientation from verticality to horizontality manifests once again in the verbal prefixes which shift from hinauf and herunter to heraus, hinaus and herein. The threat of expulsion looms large, as is attested to in the example of Wieland, who, with the assistance of some priests, chases out the “Bänkelsängern, Wollustsängern, Bordellsängern”, epithets that he ascribes to a generation of German anacreontic and satirical poets such as Gottlieb Wilhelm Rabener and Johann Peter Uz. 20 In another scene, Christian Weisse, who is seeking admittance, promises the wife of the Küster professional deportment if she is willing to open the doors to the temple. Even with its multitude of horizontal comings and goings, the temple never fully dislodges the vertical hierarchy of the first act. Unlike most of the Germans, who are referred to in the stage directions as entering or leaving the temple, or in the case of Goethe, as crashing into the temple, French authors such as La Fontaine appear already present and elevated “auf einem Chor hinter einem Gegitter,” and their elevated position means that they have to bend over 19 Alexander Pope: The Poems of Alexander Pope. Hrsg. von John Butt. London 1963. S. 174‒175. 20 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 35. to applaud Hagedorn. As such they are exempt from the threat of expulsion from the temple. 21 When Wieland clears the temple of undesirable guests, the French remain unfazed and continue making observations about the Germans below. 22 The juxtaposition of established French and aspiring eighteenth-century German authors evokes the Storm and Stress generation who lived and worked in Strasbourg, France and yet called into question the suitability of French literary models. Considering the political and aesthetic orientation of Storm and Stress, it is surprising that Pandämonium Germanikum does not depict French luminaries in the same overtly satirical manner as Lenz’ German contemporaries and predecessors. As permanent fixtures in the temple, French characters exhibit none of the anxieties prevalent in so many of the German characters about securing literary recognition. In fact, it is the French who confer recognition on the German authors, who are attempting to please their audience with various performances. The French characters are largely undifferentiated when compared to the Germans, often speaking with a single voice, or two authors speaking with the same voice, as seen in the dialogues with Chaulieu and Chapelle and Rabelais and Scarron. As such, they lack the status of a fully developed caricature with desires and anxieties, and are effectively reduced to ornaments of the temple who occasionally provide acclamation and disapprobation to the aspiring German writers below them. If there is a level of satire of the French, it lies in their depiction as static, almost celestial beings, no longer subject to the ebbs and flows of literary history because they have attained immortality in the Temple of Fame, and thus they are even more out of touch with Lenz’ “menschliche Gesellschaft.” The main thrust of the text projects its satire inwards towards German authors instead of outwards towards French literary models. The curious absence of biting satire of the French extends to the very language in which the characters speak. Without exception, the French characters speak French, and the German ones speak almost exclusively in their own mother tongue. As the German intelligentsia were expected to be proficiently trained in French at that time, the fact that significant portions of Pandämonium Germanikum were written in French would have posed no significant challenges to comprehension. Furthermore, the issue of whether French and 21 Ebd., S. 29. 22 In addition to the hierarchy of literary renown between national groups, the second act of the ältere Fassung also displays concern about threats to the gender hierarchy. After the incident in which some in the temple were inspired by Goethe to attempt to shoot themselves, Küster fears its effect on women’s sensibilities. Women, Küster explains, will rise up and lead a “Weiberkrieg” against men, which will result in the destruction of the human race. Ebd., S. 42. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 101 102 Matthew Feminella German characters could understand one another within the context of the drama is never broached. Yet despite the assumption of mutual intelligibility, or at least the German characters who possess knowledge of French, the extent to which characters from opposing languages engage in a meaningful dialogue is dubious. When Hagedorn is accused of atheism by an old woman in German, causing the pious Gellert to beg for forgiveness for his fawning devotion, the seventeenth-century French dramatist Molière observes Molière (sich den Stutzbart streichend): Je ne puis pas concevoir ces Allemands-là. Il se fait un crime d'avoir si bien réussi. Il n’auroit qu’à venir à Paris, il se corrigeroit bien de cette maudite timidité. 23 Despite his close physical proximity, Molière comments on Weisse without engaging him directly. Although he has some useful advice for him, namely that he would be more graciously received in Paris than in Germany, Molière’s use of the third person “ces Allemands” and “il” indicate that his words are not directed at Weisse himself, but rather to his fellow French witnessing Weisse’s performance from above. This moment exemplifies the typical characteristics of other interactions in the text in which French and German luminaries are situated next to each other. Each of these interactions reflect a general lack of acknowledgement, as if the hierarchy within the temple prevented any deeper engagement beyond a few passing observations. As a surprising consequence of the isolation and elevation of French characters from German ones, Pandämonium Germanikum’s inclusion of French dialogue escapes the satirical quality that otherwise permeates the text. This departs notably from a similar precedent set by Lessing’s Minna von Barnhelm, published several years before. Minna von Barnhelm also features extensive sections of French dialogue side by side with German from the character Riccaut, who can only express himself either in his native language or reluctantly in a heavily French-inflected German. RICCAUT Ik versteh. - Mademoiselle parle francais? Mais sans doute; telle que je la vois! - La demande etait bien impolie; vous me pardonnerez, Mademoiselle.-- FRÄULEIN Mein Herr-- RICCAUT Nit? Sie sprek nit Französisch, Ihro Gnad? FRÄULEIN Mein Herr, in Frankreich würde ich es zu sprechen suchen. Aber warum hier? Ich höre ja, daß Sie mich verstehen, mein Herr. Und ich, mein Herr, werde Sie gewiss auch verstehen; sprechen Sie, wie es Ihnen beliebt. RICCAUT Gutt, gutt! Ik kann auk mik auf Deutsch explizier. 24 23 Ebd., S. 31. 24 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Bohnen. Bd. VI: Werke 1767-1769. Frankfurt am Main 1985, S. 71. When circumstances of location demand that Riccaut speaks German, he is transformed into a ridiculous comedic figure that breaks the tension of the previous three acts of Minna von Barnhelm. The failure of Riccaut to accurately imitate German and the resulting bastardization of it illustrates a common satirical occurrence where one character appears ill-suited to the culture of another. While Riccaut’s use of French and broken German in Minna von Barnhelm primarily aims to ridicule French cultural influence, characters still manage to exchange meaningful utterances despite the challenges imposed by linguistic difference. Pandämonium Germanikum, noted for its satirical qualities, differentiates itself from Minna von Barnhelm by including dialogue in which no substantial communication exists between German and French characters. There is little potential for the failure of comprehension or for a character to seem ridiculous by appearing in the garb of a foreign culture. There is one notable exception to this, namely Christian Weisse, who in addition to shifting between German and French as it suits him, dons a mask and begins performing in an obsequious manner in deliberate imitation of the French standards. 25 In contrast to Minna von Barnhelm, the location of satire resides much more in the excessive German admiration for French standards, rather than a criticism of the French themselves. Lenz the author was likely conscious of this direct connection between his work and Lessing’s, for not only does Lessing appear as a character in Pandämonium Germanikum, but so does his drama Minna von Barnhelm. Towards the end of the second act, a row of French dramatists copying Greek original dramas are seated in the temple. In a personification of the critique of adhering to French models, behind them sits a second smaller row of “deutsche Übersetzer und Nachahmer”, who instead of imitating the Greek originals, gaze over the shoulder of the French dramatists and duplicate their works piece for piece. 26 However, in his arrival together with Klopstock and Herder, Lessing criticizes 25 The use of the mask in this scene is ambiguous. It could indicate Weisse’s status as an actor within the drama. Simultaneously it appears to connote the French style of acting known for its stilted and features, which had a tradition of masked actors in the past. As Dubos remarks, the theatrical mask in France had largely fallen out of favor by the eighteenth century. It remained only a feature of ballet, although by Noverre’s time the mask of ballet had likely already experience its best days. See Jean-Baptiste Dubos: Critical Reflections of Poetry, Painting and Music. Vol. III. London 1748, S. 140. 26 The exact nature of these imitations are initially ambiguous, described with “zeichnen” and “kritzeln” that could refer to either visual or written art, but only later with Lessing are they revealed to be paintings (Gemälde). Privileging the visual arts, when the artists in question are primarily known for their skill with the pen, indicates Pandämonium Germanikum’s need to depict visually its subject matter, a potential indication that Lenz the author considered this work suitable for the stage. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 103 104 Matthew Feminella Weisses’ slavish adherence to French artistic standards. Lessing dismisses the importance of the French by demonstrating the lack of proportion, truth, and order in their art, and instead expresses his preference for the dramatists of antiquity. Ordinarily, Lessing might represent an easy target for Lenz’s ridicule, especially considering their remarkably differing conceptions of drama. 27 Yet aside from rendering him into a one-dimensional character fixated on dethroning French literary dominance, Lenz’s depiction of Lessing in this text does not actually issue a pointed critique of him as an anti-French polemicist. Rather, Lessing’s prescription to “gebt doch auf die menschliche Gesellschaft acht, mischt unter sie” corresponds in sentiment with similar statements from Lenz in the first act. 28 After Lessing’s spirited denunciation of the imitation of the French, German translators and imitators begin to imitate Lessing. When Lessing tosses a copy of his own Minna von Barnhelm among the works of art as an example, matters are only made worse (“da geht das Gekritzel noch ärger an”) leaving Lessing bitterly disappointed. 29 In a sympathetic portrayal of Lessing, his consternation resides in himself becoming a new archetype that instead of inspiring originality merely prompts another generation to produce tired copies of his own works, replacing one standard with another. The reference to Minna von Barnhelm, a drama which takes place in contemporary Berlin, adheres to Lessing’s previously mentioned maxim of giving heed to society (“menschliche Gesellschaft”). Goethe would later claim that this drama is “die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporärem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung trat.” 30 The Minna von Barnhelm incident in Pandämonium Germanikum effectively ends the discussion of German literature’s relationship to its French predecessors, expressed figuratively in the French-sycophant Weisse slowly creeping out of the temple, and ushers in Lenz’ critique of the principle of imitation that ends the second act. The notable exception to authors adhering to their native languages is the brief appearance of Shakespeare, who is summoned by Herder: “Ich hörte unter euch von Shakespear murmeln. Kennt ihr den Mann? - Tritt unter uns, Sha- 27 For a comparison of Lessing and Lenz in reference to their conceptions of the theater and drama, see Martin Rector: Lessing und Lenz. Diskontinuitäten der Dramatheorie. In: Lessing Museum Kamenz (Hrsg.): Lessing und die Literaturrevolten nach 1770. Kamenz 1999, S. 53‒82. 28 Rieck also observes that Lenz’ depiction of Lessing highlights the continuity between him and other Sturm und Drang authors, as opposed to the multiple disagreements they shared. See Rieck: Poetologie als poetisches Szenarium (Anm. 1), S. 105. 29 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 53. 30 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens: Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter [u. a]. Bd. 16. München 1985, S. 304‒305. kespear, seliger Geist! steig herab von deinen Himmelshöhen.” 31 Shakespeare’s only two lines are in German, making him the one character aside from Weisse who speaks in a language out of sync with his nationality. The perception of Shakespeare as a great German poet is perhaps here the subject of parody as well. Not only does Shakespeare utter only two uninspiring and unremarkable lines (“Da bin ich” and “Wir wollen Freunde seyn”) which are out of character with his reputation for genius, but his position in the temple as an apparition who dwells in heaven is also quite different from that of the other deceased characters, such as Rabelais and Molière. 32 Initially, this appears to call into question many of the assumptions about Shakespeare held by the Storm and Stress authors, even for Lenz, who lavished praise on Shakespeare in his Anmerkungen übers Theater. In an unexpected move of self-criticism, Pandämonium Germanikum depicts Shakespeare as so idealized by Sturm und Drang that he can only exist on a higher transcendent plane. In being separated above the French denizens of the Temple of Fame, he is denied the eloquence found in embodied vitality. While the Tempel des Ruhms represents a space that blurs the distinction between the living and the dead, a close reading of the second act makes the following quite clear: The entrance of the German characters in the temple generally adheres to the chronology of the eighteenth century. Although there are some inconsistencies with this, namely Goethe’s sudden and untimely crashing into the temple, the general trajectory holds true. Hagedorn (1708-54) enters the temple first, followed by Gellert (1715-1769), Weisse (1726-1804) and so forth until Lenz (1751-1792) makes his appearance last as the latest generation of German authors. This progression presents the depicted time of the act as corresponding to the development of the German literary tradition of the eighteenth century. Outside of this chronology are the French authors, who appear without regard to the historical record. Rousseau, who was still living by 1775, precedes Rabelais and Scarron, both of whom had been deceased for centuries by this time. However, the French authors in the second act do adhere to the course of literary history in regard to their general dwindling influence on the German thinkers. The act begins with German poets heavily indebted to the French tradition alongside their French archetypes. As the act progresses, the appearance of French characters declines until they are firmly replaced by solely German authors, many of whom are portrayed with anti-French tendencies. While German authors enter, flee or are expelled from the temple as their literary aesthetic becomes fashionable, French luminaries leave the narrative 31 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 53. 32 Ebd., S. 53‒55. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 105 106 Matthew Feminella not by any elaborate spectacle, but only by the mode of silence, whereby they are ostensibly still present but no longer spoken of. Considering the second act as a representation of the passage of German literary history, the countless entrances and exits of authors reaches its culmination with the appearance of Lenz. Sitting in a corner when Shakespeare disappears, Lenz is depicted cutting up images of French faces, which is in continuation with the precedent established earlier that discussions of writers and writing be transposed onto the visual arts. When Herder asks him about his views on imitation and art, Lenz proclaims “Ich will nicht hinterherzeichnen - oder gar nichts,” a view he makes apparent by unveiling his human artistic creations before his skeptical peers. The material composition of Lenz’ human creations is not made clear, though the resulting ambiguity of form can be understood as their universal applicability to other artistic realms. After Herder retorts that these creations “sind viel zu groß für unsre Zeit,” Lenz exclaims: “So sind sie für die kommende. Sie sehn doch wenigstens ähnlich. Und Herr! die Welt sollte doch auch itzt anfangen, größere Leute zu haben als ehemals. Ist doch so lang gelebt worden.” 33 In contrast to Lessing’s earlier emphasis on appropriate size and proportion, Lenz proposes reconfiguring space in such a way that it rejects the principle of imitation. The lack of proportion in Lenz’ human beings, whose size might have made them suitable gods in a tragedy of antiquity, now produces the laughter of a comedy in a modern-day audience. Lenz’ reconceptualization of notions of space takes on temporal dimensions as well. Having reached the present moment in which the author Lenz finds himself within the progression of German literary developments, the character Lenz gestures towards a future by referring to an approaching moment (“die kommende”). It is in this moment that Pandämonium Germanikum shifts from pure satire that exposes faults and absurd beliefs to a text that unveils a privileged literary aesthetic, albeit one whose features exist only in a hazy outline. Lenz’ own views have undergone a transformation since the first act when he was disenchanted with the idea of descending the mountain. Instead of becoming a painter of human society, Lenz reveals here a conceptualization of art without regard to imitation. Responding to Lessing’s question about the implications of this new aesthetic for contemporary German tragedy, Lenz answers O da darf ich nicht mal nach heraufsehn. Das hohe Tragische von heut, ahndet ihr's nicht? Geht in die Geschichte, seht einen emporsteigenden Halbgott auf der letzten Staffel seiner Größe gleiten oder einen wohltätigen Gott schimpflich sterben. Die Leiden griechischer Helden sind für uns bürgerlich, die Leiden unserer sollten sich einer 33 Ebd., S. 57. verkannten und duldenden Gottheit nähern. Oder führtet ihr Leiden der Alten auf, so waren es biblische, wie dieser tat-(Klopstock ansehend): Leiden wie der Götter, wenn eine höhere Macht ihnen entgegenwirkt. Gebt ihnen alle tiefe, voraussehende, Raum und Zeit durchdringende Weisheit der Bibel, gebt ihnen alle Wirksamkeit, Feuer und Leidenschaften von Homers Halbgöttern, und mit Geist und Leib stehn eure Helden da. Möcht’ ich die Zeiten erleben! 34 Lenz’ vision consists of further inversions of the vertical hierarchy in which the Greek heroes of antiquity plummet from their heights to the level of domestic tragedy, and are then replaced by the rise of the bourgeois hero. Equally novel is the inclusion of the penetrating insight of the Bible, much to the approval of Klopstock, which on the one hand signifies a departure from exclusively relying on Greek models. On the other hand, Lenz’ deference to the Bible results in another norm-subverting mixed genre. As Erich Auerbach observes in his Mimesis, the Judeo-Christian scriptures represent a conception of tragedy that deviates fundamentally from the Greco-Roman tradition by undermining the distinction between low and high by according the common people the dignity of being the source of world-changing events. 35 Lenz ends his role in the second act with an apostrophe to “Zeit”: War’ ich alles dessen würdig! Lasst mich in meinen Winkel! (Auf dem halben Wege steht er still und betet) Zeit! du große Vollenderin aller geheimen Ratschlüsse des Himmels, Zeit, ewig wie Gott, allmächtig wie er, immer fortwirkend, immer verzehrend, immer umschaffend, erhöhend, vollendend - lass mich - lass mich’s erleben! (Ab.) 36 Lenz is depicted here as the reluctant prophet who would rather experience the moment in the future when his views receive vindication than suffer the continual rejections and belittlements from his peers in the present. He views his one saving grace as time itself. Zeit, depicted here as equal to God, represents, to borrow a term from economics, the potential of creative destruction. Present aesthetic norms are not only subject to the inevitable reordering processes that the progress of time imposes, but also follow a course of progress with higher and perfecting iterations that are continually emerging. This optimistic conception of time would then view the second act as a progression of German literary history in which subsequent authors improve upon their predecessors, ultimately culminating with Lenz himself. 34 Ebd. 35 Erich Auerbach: Mimesis. The Representation of Reality in Western Literature. Princeton/ NJ 2003, S. 40‒46. 36 Lenz: Pandämonium Germanikum (Anm. 4), S. 57. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 107 108 Matthew Feminella The Temple of Fame presents the reader with three different dimensional distributions of literary power and exclusion. The first distribution continues the vertical hierarchy of the mountain slope and adds the hierarchical relationship between nations: the higher and established French cultural dominance versus the variable German literary aspirants. The second, restricted solely to German characters, proceeds along a horizontal axis that determines the status of who has access to the temple and who is excluded from entry. The final distribution is the dimension of time, in which the temporal progression of the second act corresponds to the course of eighteenth-century German literary history. The satirized literary aesthetics are relegated to the past when Lenz’ emerges triumphant through acclamation of his literary peers, although he is generally viewed as incapable of implementing such a vision. The final act, scarcely half a page in length, presents the most challenges for interpretation. This stems in part from the final lines of the sketch where Lenz awakens from a dream casting the reality of whole drama in doubt. At the same time its spatial and temporal relationship with the first two acts is not evident. Aside from Lenz, who only appears in the final line of the sketch, a new cast of characters, an assortment of spirits, briefly make their appearance on the stage. In contrast to the first two acts, the denial of distinguishing characteristics of the spirits renders null any potential satire of them. Their identity and nationality are unknown, and the spirits are even denied the designation of occupation, as seen with the journalists on the mountain slope of the first act. The setting of the final act, a courtroom (Gericht), is also difficult to orient in relation to the first two. If the Tempel des Ruhms occupies the space on top of the mountain, and the text establishes a vertical progression from the mountain to its peak, then, following this progression, the courtroom could exist on a plane even higher than the Tempel des Ruhms. The second act acknowledges a higher realm of existence beyond the temple, one that is inhabited by spirits such as Shakespeare. The court is also depicted as a spectral realm, being filled with various spirits and disembodied voices. The previous act ended with Lenz’ entreaty to time, which he claims provides access to the concealed guidance of heaven. The setting of the Gericht itself, which connotes a place of judgement, gestures to an afterlife. Yet this courtroom appears to be less of a place where human beings are judged, and more of a forum for debate on a host of issues, such as the value of art and the sciences, as well as whether virtue is worth the effort. In addition to the courtroom position along the vertical hierarchy, it is the themes of these issues that present the clearest link to the remainder of the text. By the end of the Pandämonium Germanikum, Lenz has undergone a character transformation not often seen in satires, even among protagonists. In contrast to his one-dimensional counterparts in the text, Lenz displays clear development, beginning as a timid and lost author, who by the end appears as the harbinger of a new literary aesthetic. Ironically, the further Lenz progresses along the vertical hierarchy towards a celestial and spiritual realm, developing his artistic vision in respect to multiple disparate perspectives, the more removed he becomes from the “menschliche Gesellschaft” to which he aspires as his artistic object of contemplation and inspiration. In this way, fame and recognition contain for Lenz their own tragic element. Yet it is still possible to understand the ending as optimistic. By placing Lenz (a poet primarily known for his comedies) at the top of the vertical hierarchy of art, he instantiates the inversion of high and low that he depicts in the structure of the Pandämonium Germanikum. Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum 109 Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 Uwe Hentschel, Chemnitz […] ich würde, wenn ich Frankreich blos zum Vergnügen besuchen wollte, in der That nicht nach Paris gehen, wenn ich einmal in Strasburg gewesen wäre. 1 Spätestens in den Siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts begannen sich die Deutschen verstärkt dafür zu interessieren, was hinter ihrer eigenen Scholle und dem nächsten Schlagbaum lag. Weit entfernt von der Konstituierung eines deutschen Einheitsstaates, machten es sich patriotisch Reisende wie Johann Kaspar Riesbeck 2 oder Friedrich Nicolai 3 zu ihrem Ziel, „Deutsche auf Deutsch- 1 [Andreas Meyer: ] Briefe eines jungen Reisenden durch Liefland, Kurland und Deutschland an seinen Freund. Theil 2. Erlangen: Walther 1777, S. 35. 2 „Deutschland genau kennen zu lernen, ist ungleich schwerer, als irgend ein anderes europäisches Land. Hier ist es nicht wie in Frankreich und den meisten andern Ländern, wo man in den Hauptstädten, so zu sagen, die Nation in einer Nuß beisammen hat. Hier ist keine Stadt, die dem ganzen Volk einen Ton giebt. Sie ist in fast unzähliche, größere und kleinere Horden zertheilt, die durch Regierungsform, Religion und andere Dinge unendlich weit von einander unterschieden sind, und kein anderes Band unter sich haben, als die gemeinschaftliche Sprache.“ ([Johann Kaspar Riesbeck: ] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. Übersetzt von K. R. 2 Bde. o. O. 1784, Bd. I, S. 15). 3 „Wie nöthig wäre es aber doch, daß die Deutschen ihr eigenes Vaterland kennen lernten! Deutschland bestehet aus sehr vielen großen und kleinen Ländern, in denen alles verschieden ist, Lage, Klima, Verfassung, Physiognomie und Charakter der Einwohner, Religion, Wissenschaften, Künste, Industrie, Sitten. Die Einwohner dieser verschiedenen Provinzen kennen oft ihre nächsten Nachbaren nicht, haben Vorurtheile und meist sehr ungegründete gegeneinander, hassen sich sogar, und wissen wahrhaftig nicht warum! Woher kommt dieses? Fast niemand hält es der Mühe werth, eine Reise durch Deutschland zum Hauptzwecke zu machen, und unparteyisch zu beobachten, wie es in Deutschland aussiehet. Wenn die Einwohner der verschiedenen deutschen Länder, anstatt bloß zu Hause, und bey den angebohrnen Vorurtheilen zu bleiben, oder durch unüberlegte Reisen ins Ausland noch mehrere zu holen, lieber Deutschland in seinem ganzen Umfange durchreiseten; so würden sie sich besser kennen und richtiger von einander urtheilen lernen, würden einsehen, daß in allen Ländern Gutes und Fehler anzutreffen sind, würden auf den Theil von Deutschland, wo sie zu Hause gehören, die nützlichste 112 Uwe Hentschel land mehr aufmerksam“ 4 zu machen, im Vergleich nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Sitte, Geschichte und Sprache zu suchen, um so ein Nationalbewusstsein zu befördern. 5 Zu Beginn seiner zwölfbändigen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781 beklagt Nicolai ausdrücklich die unzureichende Kenntnis der Deutschen von ihrem Vaterland: Wir haben seit Keys[s]lers und Uffenbachs Zeiten keine Reisebeschreibung eines Reisenden, der den größten Theil Deutschlandes durchreiset wäre, und selbst diesen beiden Männern scheint Frankreich, Italien und England mehr Hauptzweck gewesen zu seyn, als Deutschland. 6 Mit dem Verweis auf zwei reiseliterarische Standardwerke des frühen 18. Jahrhunderts von Johann Georg Keyßler 7 und Zacharias Conrad von Uffenbach 8 wird nicht allein an das defizitäre Interesse an der eigenen Heimat erinnert, sondern zugleich deutlich, dass vor allem die Ziele der adligen Grand-Tour-Reisenden ganz andere waren. Nicht zuletzt war Paris mit Versailles seit der Herrschaft des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Maßstab und Anziehungspunkt für die politischen Funktionsträger im Reich geworden. Französische Kulturgüter - Mode, Kunst und nicht zuletzt die Sprache - wurden gesucht und adaptiert. Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die patriotisch eingestellten Bildungsbürger begannen, den deutschen Raum zu erkunden, konkurrierten sie mit den ins Ausland - insbesondere nach Frankreich - fahrenden Grand-Tour-Reisenden, die ihrerseits mehr und mehr abgelöst wurden von den bürgerlichen Bildungsreisenden, die nun auch die Kultur- und Aufklärungs- Anwendung machen, würden sich einander ertragen und lieben lernen. Hiezu könnten Reisebeschreibungen die nützlichsten Dienste thun […].“ (Friedrich Nicolai: Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Bd. I: Berlin und Stettin: Nicolai 1783, S. XIf. [Schreiben an Herrn Kriegsrath Dohm]). 4 Ebd., S. XXII. 5 Harald Schmidt: Fremde Heimat. Die deutsche Provinzreise zwischen Spätaufklärung und nationaler Romantik und das Problem der kulturellen Variation: Friedrich Nicolai, Kaspar Riesbeck und Ernst Moritz Arndt. In: Helmut Berding (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt am Main 1994, S. 394-442. 6 Nicolai: Reise (Anm. 3), S. XI. 7 Johann Georg Keyßler: Neueste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien, und Lothringen. 2 Bde. Hannover: Förster 1741-1744. - Zu Keyßler siehe: Winfried Siebers: Johann Georg Keyßler und die Reisebeschreibung der Frühaufklärung. Würzburg 2009 und Achatz von Müller-/ Pascal Griener-/ Livia Cárdenas-/ Joachim Kersten-/ Hartwig von Bernstorff (Hrsg.): Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour. Göttingen 2018. 8 Zacharias Conrad von Uffenbach: Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engeland. 2 Bde. Frankfurt, Leipzig und Ulm: Gaum 1753-1754. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 113 metropole Paris aufsuchten, jedoch andere Interessen verfolgten als die zumeist jungen Adligen. 9 Für jede dieser Reisegruppen war Straßburg ein besonderer Ort, wenngleich nur selten das Ziel der Reise selbst. Diejenigen, die die deutschsprachigen Gebiete nicht verlassen wollten, wie der bereits genannte Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, mussten interessiert sein an einem Ort, der erst 1681 Frankreich einverleibt worden, bis dahin als „Freie Reichsstadt“ allein dem Kaiser verpflichtet war. Als sich Nicolai auf der Rückreise von seiner Fahrt nach Süddeutschland befand, besuchte er auch Straßburg, doch eine Beschreibung der Stadt, wie sie wohl Zeitgenossen erwarteten, 10 erfolgte in seinem opulenten Werk nicht. Andere Reisende, einige von ihnen mit nicht weniger national-patriotischem Impetus ausgestattet, versuchten später, diese Lücke reiseliterarisch zu schließen. Aber auch viele derjenigen Deutschen, die es nach Paris zog, kamen auf ihrem Weg dorthin durch Straßburg; bildete doch der Rheinübergang bei Kehl eine wichtige Verkehrsader von Ost nach West. Straßburg war mithin nicht allein ein Umschlagplatz für Waren aller Art, sondern ein Ausgangspunkt für die Weiterfahrt, 11 gleichsam „die Thüre, die ins Königreich führt“ 12 , wie ein deutscher Paris-Reisender 1787 feststellte. 9 Hierzu Thomas Grosser: Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution. Opladen 1989, S. 130-182. 10 „Von dem Reisebeschreiber Nikolai haben wir freilich noch eine Schilderung von Straßburg zu erwarten, da seine wie ein Schneeball im Hinwälzen sich vergrößernde Reisebeschreibung sich noch nicht auf diese Stadt erstrekt, und er doch auch hier war. Auf das Resultat seiner Beobachtungen über Straßburg bin ich sehr begierig“ ([Theophil Friedrich Ehrmann: ] Briefe eines reisenden Deutschen an seinen Bruder in H***. Ueber verschiedene Länder und Gegenden von Europa, insonderheit auch über Deutschland. Theil 1. Frankfurt und Leipzig 1789, S. 153f.). 11 „[…] alle Durchreisende, deren es hier zu allen Jahrszeiten eine ausserordentliche Menge giebt, und fast alle Waaren, die von Norden und Osten kommen, wählen diesen Paß.“ (Heinrich Storch: Skizzen, Szenen und Bemerkungen auf einer Reise durch Frankreich gesammelt. Heidelberg: Friedrich Ludwig Pfähler 1787, S. 12). - „Es gehen wöchentlich zwey öffentliche Postkutschen von Strasburg nach Deutschland; die eine nimmt den Weg über Kehl, Rastadt, Karlsruh und so weiter und die andre fährt immer längs dem Rhein im Elsas fort, und geht alsdann über Speyer nach Mannheim.“ (ebd., S. 394). 12 Ebd. - Umgekehrt gilt auch, dass Straßburg für Franzosen, die ins Deutsche Reich reisten, einen wichtigen Ausgangspunkt darstellte, wie Riesbeck zeigt: „Du weißt, daß ich mich eine zeitlang in Straßburg aufhielt, um das Deutsche, welches ich schon zu Paris lesen konnte, ein wenig sprechen zu lernen, und mich vorläufig mit dem Land, das ich bereisen wollte, in Karten und Büchern bekannt zu machen.“ (Briefe eines reisenden Franzosen, Zweyte, beträchtlich verb. Ausgabe. Bd. I. o. O. [Zürich] 1784, S. 13). 114 Uwe Hentschel I. Vor der Revolution: Frankophobe Bürger auf Spurensuche „[…] nach beynahe hundert Jahren, noch immer etwas von der freyen Reichsstadt […].“ 13 In den Jahren von 1770 bis zur Revolution 1789 ist Straßburg von vielen Reisenden aufgesucht worden; die zahlreichen Berichte lassen einen solchen Schluss zu, wohl wissend, dass nur ein kleiner Kreis von ihnen zur Feder griff. Zunächst musste es diesem darum gehen, die Stadt topographisch und statistisch zu erfassen, was nicht einfach war, wenn man sich nur wenige Stunden oder Tage am Orte aufhielt. Man sammelte Material und Erfahrungen, gab sie weiter, so dass die nachfolgenden Reisenden wussten, wohin sie ihre Schritte in der Kürze der Zeit lenken mussten. Standardwerke wie Johann Jacob Volkmanns Neueste Reisen durch Frankreich 14 und Gottlob Friedrich Krebels Vornehmste Europäische Reisen, 15 die 1801 bereits in der 15., verbesserten Auflage erschienen, vermittelten nützliche Wegeinformationen, erbrachten die wichtigsten Fakten und zählten die Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. 16 Diese Mitteilungen waren einer ständigen Korrektur ausgesetzt, die Nachfolger prüften die Ergebnisse bereits vorliegender Berichte. Die Aufmerksamkeit der Besucher beschränkte sich nicht allein auf das schon von weither sichtbare katholische Münster, die protestantische Thomas-Kirche, die Universität, die Theater, 17 Sozialeinrichtungen und die zahlreichen Festungswerke, die Ludwig der XIV. erbauen ließ, sondern man richtete seinen Blick auf das aus, was die Stadt in besonderer Weise charakterisierte. Bildeten hier doch Deutsche und Franzosen, alteingesessene Lutheraner und hinzugezogene Katholiken eine gemeinsame urbane Sozietät. Straßburg musste den Reisenden als ein Schmelztiegel erscheinen, in dem Lebensweisen und -ansichten auf engstem Raum zusammenkamen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Selbst die Reisenden, die die Stadt rasch durchstreiften, sahen bereits an der Kleidung der Einwohner, ob sie sich zur deutsch-elsässischen Tradition bekannten oder der Mode aus Paris anhingen. Johann Georg Keyßler, ein Hofmeister 13 [Karl Gottlob Küttner: ] Briefe eines Sachsen aus der Schweiz an Seinen Freund in Leipzig. Theil 1. Leipzig: im Verlage der Dykischen Buchhandlung 1785, S. 319. 14 3 Bde. Leipzig: Caspar Fritsch 1787-1788. Über Straßburg in Bd. III, S. 129-138. 15 2 Theile. Hamburg: Herold 1767. 16 Funfzehnte verbesserte Auflage. 2 Theile. Lüneburg: Herold und Wahlstab 1801. 17 Das deutsche Theater führt nur eine Randerscheinung, einen Teil seiner Einnahmen musste es an das französischsprachige abgeben: „Bis vor kurzem gab es hier zwei Schauspielbühnen, eine französische und eine deutsche; da die Stadt jedoch immer stärker französisiert wird, gibt es die letztere nicht mehr.“ ( Jens Baggesen: Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789. Hrsg. von Gisela Perlet. Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer 1985, S. 367). Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 115 auf der Grand Tour, der mit seinen adligen Zöglingen 1729 durch die Stadt kam, bemerkte auf diese Weise rasch, dass zumindest ein Teil der Menschen ihre traditionellen Gewohnheiten bereits abgelegt hatte: 18 „Die Trachten der straßburgischen Jungfern mit ihren kostbaren Hüten […] kommen sehr ab, und die jungen Leute richten sich nach den französischen Moden.“ 19 Keyßler konnte und wollte darin keinen Nachteil sehen, war er doch wie viele seiner Zeitgenossen im frühen 18. Jahrhundert davon überzeugt, dass Frankreich als Kulturnation für die Deutschen ein Vorbild sein konnte. Auch wenn insbesondere die dem frankophilen elsässischen Adel nahestehenden Reisenden es für selbstverständlich hielten, dass sich die alteingesessenen Straßburger an den Franzosen orientierten, so zeigten sie doch auch Verständnis für den Teil der Einwohner, der sich von seinen deutschen Wurzeln nicht trennen wollte. Es muss nicht von Nachteil sein - so der Reisende Johann Friedrich Carl Grimm -, wenn die Straßburger „französische[n] Leichtigkeit“ und „das Schwerlöthige der Deutschen“ 20 in sich vereinigten - und doch verkündet er mit Genugtuung: „Die Einwohner haben es noch nicht vergessen, daß sie ehedem Reichsfrey waren, und es scheint, daß sie die Lilien im blauen Felde eben nicht allemal mit so gar großer Zufriedenheit ansehen, ungeachtet man ihnen mit vielem Glimpfe begegnet.“ 21 Der Adlige Friedrich Justinian von Günderode hält diese politische Verbindung von „ehemaliger reichsstädtischer Verfassung, mit der jetzt monarchischen Botmässigkeit“ wie viele andere Reisende für „ganz sonderbar“. 22 Dem Magistrat, der sich aus den Zunftoberen zusammensetzte, waren nach 1681 viele alte Rechte belassen worden, doch formal stand nun an dessen Spitze ein Prätor, der die Interessen des Königs und der Monarchie vertrat und jedwede Entscheidung des Rates annullieren konnte. 23 Für den Reisenden von Günde- 18 „Die Sitten und Gewohnheiten der Einwohner ändern sich mit der Zeit.“ ( Johann Georg Keyßler: Neueste Reise durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen. Neue und vermehrte Auflage. Bd. I. Hannover: Im Verlage sel Nicolai Försters und Sohns Erben 1751, S. 111). 19 Ebd. 20 [Johann Friedrich Karl Grimm: ] Bemerkungen eines Reisenden durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in Briefen an seine Freunde 1775. Theil 1. Altenburg: in der Richterschen Buchhandlung 1775, S. 146. 21 Ebd., S. 149. 22 [Friedrich Justinian von Günderode: ] Beschreibung einer Reise aus Teutschland durch einen Theil von Frankreich, England und Holland. 2 Bde. Breslau: Johann Ernst Meyer 1783, Bd. I, S. 19. 23 „Seit 1685 steht an der Spizze des Magistrats, ein königlicher Prätor, der als Repräsentant des Königs, als Wächter für dessen Interesse, als erster Oberaufseher in allen Kollegien und Versammlungen des Magistrats sitzt und eigentlich keine Gewalt, keine Stimme, als nur zu Verhinderung und Vernichtung aller Unternehmungen, Schlüsse und Vorkehrungen, welche die bestimmten Schranken der eingeräumten Freiheit überschritten, 116 Uwe Hentschel rode spiegelt sich diese bipolare politische Konstruktion in der Mentalität ihrer Bewohner wider, denn eben so sehr unterschieden und gemischt ist auch die dortige Lebensart; in einigen Häusern geht es ganz französisch zu, in manchen hat man mehrentheils die reichsstädtische Lebensart beibehalten, in andern ist ein Melange curieux, oder sonderbare Mischung dieser Verschiedenheit anzutreffen. 24 Nicht wenige Reisende vermittelten ihren Lesern den Eindruck, als sei diese „Melange“ ein Gewinn. Sahen sich die Deutschen im 18. Jahrhundert, was ihre Wahrnehmung durch den westlichen Nachbarn betraf, mit Attributen wie „tapfer, treu, redlich, bieder, offenherzig und roh, trunksüchtig und schwerfällig im Denken und Handeln“ konfrontiert, so versahen jene die Franzosen stereotyp mit den Charaktermerkmalen „höflich, gesellig, beredsam, von kultivierter Lebensart und voller ‚esprit‘, zugleich galant, frivol, sinnlich, wankelmütig und leichtfertig“. 25 Deutsche Reisende nahmen am Beispiel Straßburgs - durchaus wohlwollend - zur Kenntnis, wie sich das Mentalitätsbild angesichts des französischen Einflusses veränderte, 26 wobei sie feststellten, dass sich dieser Einfluss vor allem auf honorige Bürger und den Adel beschränkte. 27 Glaubt man dem oder sonst dem Willen und Interesse des Königs zuwider wären, haben soll. Da er aber Repräsentant des Königs - eines souveränen Königs ist, so ist auch seine Macht desto uneingeschränkter […].“ (Ehrmann: Briefe [Anm. 10], S. 312f.). 24 Günderode: Beschreibung (Anm. 22), S. 21. 25 Ruth Florack: Nationalcharakter als ästhetisches Argument. In: Jens Häseler- / Albert Meier (Hrsg.): Gallophobie im 18. Jahrhundert. Berlin 2005, S. 34. Zum Deutschland-Bild der Franzosen siehe Gonthier-Louis Fink: Der janusköpfige Nachbar. Das französische Deutschlandbild gestern und heute. In: Dietrich Harth (Hrsg.): Fiktionen des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt am Main 1994, S. 17-39. - Zum Frankreich-Bild der Deutschen: York-Gothart Mix: Kulturpatriotismus und Frankophobie. Die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in der Sprach- und Modekritik zwischen dreißigjährigem Krieg und Vormärz (1648-1848). In: arcadia 36 (2001), Heft 1, S. 156-185 und Jens Häseler-/ Albert Meer (Hrsg.): Gallophobie im 18. Jahrhundert. Berlin 2005. 26 „Da der Umgang von beyden Nationen, die hier untereinander leben, durch die Sitten des Einen, wie des Andern, immer etwas gewinnt, so findet man hier die angenehmste Mischung […].“ ([Andreas Meyer: ] Briefe eines jungen Reisenden durch Liefland, Kurland und Deutschland an seinen Freund. Theil 2. Erlangen: Walther 1777, S. 34f.). 27 Karl Gottlob Küttner spricht davon, dass „viele ansehnliche einheimische Familien […] so ziemlich die alten Sitten und Gebräuche gegen französische vertauscht haben.“ (Küttner: Briefe [Anm. 13], S. 127). - „In den ersten Häusern ist er [der Ton, U. H.] ganz französisch, nach dem Tone der Hauptstadt gestimmt.“ ([Friedrich Rudolph Salzmann: ] Schrifttasche auf einer neuen Reise durch Teutschland, Frankreich, Helvetien und Italien gesammlet. 1. Bdchen. Frankfurt und Leipzig: Johann Georg Fleischer 1780, S. 100). - „Die Erziehung des Mittelstandes der deutschen Straßburger ist noch ganz auf den alten reichsstädtischen Ton gestimmt.“ (Ehrmann: Briefe [Anm. 10], S. 342). Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 117 Sachsen Karl Gottlob Küttner, der 1778 in die Stadt kam und überaus sachlich von dieser Tendenz zunehmender Französisierung berichtet, so hat Strasburg […], nach beynahe hundert Jahren, noch immer etwas von der freyen Reichsstadt, nämlich was die mittlern Stände betrifft; denn die Familien vom ersten Tone sind nach und nach so ziemlich französisch geworden. Die Frauenzimmer behalten zum Theil noch die sogenannte Strasburger Tracht bey, welche sich besonders im Kopfputze von der französischen gar merklich unterscheidet. Im Rathe schmeckt auch vieles noch, wie ich höre, nach der Reichsstadt. 28 Obgleich sich die Autoren der Reisebeschreibungen in ihren Vorreden dazu verpflichten, das Beobachtete und Erfahrene sachlich-objektiv wiederzugeben, fiel ihnen genau dies schwer. Angesichts des Zusammenpralls von deutscher und französischer Sprache und Kultur war es nahezu unmöglich, unparteiisch und vorurteilsfrei zu bleiben. Denjenigen, die in Frankreich eine Vorbildnation sahen, der es nachzustreben gelte, standen die Deutschen gegenüber, die zunehmend selbstbewusster von den eigenen Leistungen sprachen und die unreflektierte Übernahme und Wertschätzung alles Französischen ablehnten. Insbesondere die jungen Dichter im Umkreis des Sturm und Drang waren überzeugt davon, dass der französische Klassizismus als Leitbild ausgedient hatte; bereits eine Generation zuvor war es zum Beispiel Lessing gewesen, der vor einer unbedingten Nachahmung, wie sie Johann Christoph Gottsched noch empfahl, ausdrücklich gewarnt hatte; man müsse erst „untersuchen, ob dieses französisierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht.“ 29 Für ihn stand bereits 1759 fest, „daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; […] daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte“. 30 Im Zuge der mentalitätsgeschichtlich begründeten Abwendung vom Frankophilen, die zugleich eine Hinwendung zum Kreativ-Schöpferischen und Regellosen, zu Natur und Genie darstellte, wurde Shakespeare zu einer neuen Identifikationsfigur, 31 die nicht zufällig von Goethe mit Prometheus verglichen wird. 32 28 Küttner: Briefe (Anm. 13), S. 319. 29 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Hrsg. von Wolfgang Albrecht. Leipzig: Reclam 1987, S. 52. 30 Ebd. 31 „Auch nach den Mustern der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit größerer tragischer Dichter als Corneille […].“ (ebd.). 32 „Er [Shakespeare, U. H.] wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in Colossalischer Grösse; darin liegts dass wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.“ (Goethe: Zum Shakespeares Tag. In: ders.: Werke [I. Abt.: Werke, II. Abt.: Naturwissenschaftliche Schriften, III. Abt.: Tagebücher, IV. Abt.: 118 Uwe Hentschel Der Stolz auf das Eigene und Neue in den Künsten nach 1750 33 verband sich mit einer Kritik an den deutschen Eliten, die unbeirrt Sprache und Kultur des Nachbarlandes hofierten, was wiederum dazu beitrug, dass sich patriotisch Gesinnte, Dichter wie Lessing und die ihm folgenden Stürmer und Dränger, in eine Frankophobie hineinsteigern konnten. 34 Es scheint, dass Goethes Begeisterung für das Straßburger Münster, der er in seiner Schrift Von deutscher Baukunst Ausdruck verleiht, 35 wesentlich von dieser Zuwendung zum eigenen Deutschen inspiriert worden ist. 36 Das Gotische wurde bislang im Vergleich zur antiken Baukunst von der meinungsbildenden Öffentlichkeit als minderwertig angesehen: „Es ist im kleinen Geschmack, sagt der Italiäner und geht vorbei. Kindereien, lallt der Franzose nach, und schnellt triumphirend auf seine Dose à la Grecque.“ 37 Als Goethe „das erstemal nach dem Münster ging“, hatte auch er im Kopfe, was man „unter der Rubrik gothisch“ in „dem Artikel eines Wörterbuchs“ fand, da war die Rede „von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem“ - „und so graute mirʼs im Gehen vorʼm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers“. 38 Goethe lässt seine Leser teilhaben an der Überraschung, die sich bei dem Beobachter einstellte. Der Besucher wurde von einer „unerwarteten Empfindung“ 39 ergriffen; der „Genius des großen Werkmeisters“ 40 , Erwin von Steinbach, sprach zu ihm; er schaute „die großen harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Theilen belebt: wie in Werken der ewigen Natur, bis aufʼs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen“. 41 Dieses Erweckungs- Briefe]. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe]. 143 Bde. Weimar: Böhlau 1887-1912, Abt. I, Bd. 37, S. 133f.). 33 Uwe Hentschel: 1750-1770: Ein „goldenes“ Zeitalter der deutschen Literatur? In: Weimarer Beiträge 61 (2015), Heft 1, S. 5-22. 34 Gonthier-Louis Fink: Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing. In: Wilfried Bahner-/ Albert M. Reh (Hrsg.): Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Detroit/ MI und München 1984, S. 91-119. 35 Goethe: Von Deutscher Baukunst. In: ders: Werke (Anm. 32), Abt. I, Bd. 37, S. 139-151. 36 Rolf Selbmann: Annäherungen: Gotik als deutsche Baukunst bei Herder, Goethe und Forster. In: Georg-Forster-Studien XXI (2018), S. 129-146; Klaus Niehr: Gotikbilder - Gotiktheorien. Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen circa 1750 und 1850. Berlin 1999; darin: Vor dem Straßburger Münster, S. 23-63. 37 Goethe: Baukunst (Anm. 32), S. 141. 38 Ebd., S. 144f. 39 Ebd., S. 145. 40 Ebd., S. 146. 41 Ebd., S. 146f. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 119 erlebnis, das ihm die Hochwertigkeit dieser Kunst vor Augen geführt hat, müsse zu einem nationalen Selbstbewusstsein führen: Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unverstandenen Worte gothisch verkleinert, da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, unsere Baukunst, da der Italiäner sich keiner eigenen rühmen darf, viel weniger der Franzos. 42 Als sich Goethe später in Dichtung und Wahrheit an seinen Aufenthalt in Straßburg 1770/ 1771 erinnerte, an die Besuche auf dem Münster und die Niederschrift des Aufsatzes, 43 der auch 1773 in der Programmschrift des Sturm und Drang, Von deutscher Art und Kunst, erschien, bestätigt er ausdrücklich, dass er damals in ihm seine „patriotischen Gesinnungen“ 44 an den Tag gelegt hatte. 45 Auch wenn der Aufsatz Goethes zunächst ohne große Wirkung blieb, 46 so zeigt er doch den nachdrücklichen Willen, die französische Kulturhoheit zu beenden. Diesen Kampf nahmen auf je eigene Weise auch viele Dichter in Goethes Umfeld auf: Herder, wenn er deutsche Volkslieder sammelte, 47 oder Lenz, der in Straßburg eine „Deutsche Gesellschaft“ ins Leben rief. 48 Man wollte stolz sein auf das Eigene in Geschichte und Gegenwart und der so oft „wiederholte[n] 42 Ebd., S. 147. 43 Edith und Willy Michel: Kulturräumliche Perspektivierungen und soziales Beziehungsgeflecht. Goethes Straßburger Zeit aus der Erinnerungssicht von „Dichtung und Wahrheit“. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 33 (2007), S. 15-38. 44 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Werke (Anm. 32), Abt. I, Bd. 27, S. 275. 45 „[…] so wagte ich, die bisher verrufene Benennung gothische Bauart, aufgefordert durch den Werth dieses Kunstwerks, abzuändern und sie als deutsche Baukunst unserer Nation zu vindiciren […].“ (ebd.); „Das Erste worauf ich drang war, daß man sie [die Baukunst, U. H.] deutsch und nicht gothisch nennen, nicht für ausländisch, sondern für vaterländisch halten solle […].“ (ebd., Abt. I, Bd. 28, S. 98). 46 Was wohl auch dem Umstand geschuldet ist, dass die Schrift anonym erschien. In einer zeitgenössischen Rezension heißt es: „In welcher schönen Kunst hat man uns nicht das Nationelle streitig zu machen gesucht! Wir haben endlich unsre eigne Kräfte in den meisten zu fühlen angefangen, aber an die Baukunst haben wir noch wenig gedacht, da überhaupt so wenig von ihr geschrieben worden. Der Italiener beschuldigt uns darinnen des kleinen, der Franzose des gothischen Geschmacks. Beyde werden hier verspottet […].“ (Wöchentliche Nachrichten von Gelehrten Sachen. Auf das Jahr 1773, IV. Stück, S. 25f.). 47 Joseph Müller-Blattau: Goethe, Herder und das elsässische Volkslied. In: Goethe-Jahrbuch 89 (1972), S. 189-208. 48 Joachim Scharloth: Deutsche Sprache, deutsche Sitten. Die Sprachkonzeption von J. M. R. Lenz im Kontext der Sprachnormendebatte des 18. Jahrhunderts. In: Lenz-Jahrbuch 12 (2002/ 03), S. 89-118. 120 Uwe Hentschel unhöfliche[n] Behauptung, daß es den Deutschen überhaupt […] an Geschmack fehle“, 49 etwas entgegensetzen. Und so konnte es geschehen, dass man in einer überbordenden Anmaßung alles, was aus Frankreich kam, pauschal diskreditierte, so geschehen zum Beispiel 1778 in einem Aufsatz von Johann Georg Jacobi Ueber die Franzosen, der deren „blinde, kleinmüthige Nachahmung als noch strafbarer“ hält „als der Römer ihre“ 50 , die sich bekanntlich die Griechen zum Muster nahmen. Und so könne man „die seit einigen Jahren von dem größten Theil unsrer Dichter und Gelehrten gepredigte Verachtung alles dessen, was unter Frankreichs Himmel geschrieben, geredet und gethan wird“ 51 , sehr gut nachvollziehen. Schließlich kommt er zu der grundsätzlichen Erkenntnis, „daß wir im Ganzen von je her besser waren als die Franzosen: daß unsre knechtische Nachahmung derselben uns geschadet, unsre Vertraulichkeit mit ihnen geholfen hat, die Söhne und Töchter Teutschlands zu verderben“. 52 Dergleichen (überzogene) patriotische Töne finden sich auch ab und an in den Reisebeschreibungen. 53 Der bekannte Philanthrop Joachim Heinrich Campe will schon bei der Annäherung an Straßburg, in dem Grenzort Kehl, „die französische Unsauberkeit“ 54 bemerkt haben; auf der Brücke, die Frankreich vom deutschen Reich trennt, verspürte er „gar sonderbare Empfindungen“: 55 Ich fühlte eins ums andere, Patriotismus, Wehmuth und Unwillen in mir aufwallen, indem ich an dem entgegengesezten Ende der Brücke eine französische Wache erblikte, wo ehemals eine deutsche stand, und dabei bedachte, wie viel Thorheiten, Laster und Elend von jener Seite des Stroms zu uns herüber gebracht wurden! Freilich wurden uns auch französische Litteratur und französische Artigkeit herüber gebracht: aber waren diese eine Schadloshaltung für die deutsche Simplizität, Gradheit, Frugalität und Ehrlichkeit, welche darüber verloren giengen? - Da ich die Brücke zurükgelegt hatte, nahm ich von meinem lieben Vaterlande durch einen wehmüthigen Rükblik 49 Goethe: Aus meinem Leben (Anm. 32), Abt. I, Bd. 28, S. 56f. 50 [Johann Georg Jacobi: ] Ueber die Franzosen. In: Der Teutsche Merkur, Oktober 1778, S. 3f. 51 Ebd., S. 5. 52 Ebd., S. 18. 53 „Wir Teutsche sind doch wahrlich Thoren, dass wir uns nach einer so leichtfertigen Nation bilden wollen und um ihren Beyfall buhlen - einer Nation, die uns im Grunde verachtet die wir an Gründlichkeit, Rechtschaffenheit, Wohlwollen, Herzensgüte und biedern Charakter weit übertreffen.“ ( Jacob Christian Gottlieb Schaeffer: Briefe auf einer Reise durch Frankreich, England, Holland und Italien in den Jahren 1787 und 1788 geschrieben. Bd. I. Regensburg: Montag und Weiss 1794, S. 196). 54 Joachim Heinrich Campe: Reise des Herausgebers von Hamburg bis in die Schweiz, im Jahr 1785. Wolfenbüttel: In der Schulbuchhandlung 1786, S. 277. 55 Ebd., S. 280. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 121 Abschied, und mein Wagen rollte auf einer sehr schönen Kunststraße, die durch einen häßlichen Sumpf führt, der Stadt zu. 56 Campe erlebt den Grenzübertritt als eine Werte-Zäsur; den jugendlichen Lesern, an die sich der Autor vor allem wendet, wird vermittelt, dass sich hier zwei Lebenswelten begegnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach Campe müsse es darum gehen, die deutschen Werte trotz des französischen Einflusses zu bewahren. Zumindest hofft er, dass die Einwohner in der Lage sind, „das Gute wie das Fehlerhafte“, wie es sich „in dem Charakter beider Nationen“ zeigt, mit „gesunde[m] Verstand“ zu erkennen, um dann daraus den Schluss zu ziehen „jenes anzunehmen“ und „dieses zu vermeiden“. 57 Letztendlich mussten auch die deutschen Patrioten begreifen: Der Weg, der von der „deutschen Reichsstadt“ in „eine französische Königstadt“ 58 geführt hatte, war unumkehrbar; es bestand die Gefahr - wie ein anderer reisender Patriot bemerkt -, dass „das gesetzte Wesen, der biedere Ernst der Deutschen […] unkennbar werden“ 59 würden. 1782 war im Deutschen Museum von einem Straßburger zu lesen, ihm und seinen Freunden sei „schon noch mehreremale die Art aufgefallen, mit welcher seit einiger Zeit über unser armes Strasburg geurtheilt“ 60 werde. Er fragt nach dem „Grund dieser scharfen Behandlungsart“; wobei er sich nicht sicher sei, ob es sich dabei um „Unkunde“ in „der Sache“ oder gar um eine „geflissentliche[r] Entstellung derselben“ 61 handle. Was diese Besucher während ihres kurzen Stillstands zufällig beobachteten oder erfuhren, erhoben sie vorschnell zu manifesten Erkenntnissen: Ein Reisender, bei der gewöhnlichen Kürze des Aufenthalts, bei den gewöhnlichen zufälligen Bekanntschaften, kann auch wirklich, so sehr er für sich im Stand ist, einzelne Dinge mit tiefem Blick zu verfolgen, vom Ganzen nicht leicht mehr, als einseitige von der Oberfläche, durch lückenvolle Induktion, oder unsichere Sagen aufgenommene Kenntnisse erhalten; und seine Erzälungen würden daher unter der Aufschrift von Vermuthungen immer mehr gewinnen, als durch das Geräusch von dreisten und doch falschen Behauptungen. 62 56 Ebd. 57 Ebd., S. 284. 58 Ebd. 59 Ueber eine Reise durch das östliche Deutschland. Im Winter und Frühjahr 1786. In: Auswahl kleiner Reisebeschreibungen und anderer statistischen und geographischen Nachrichten. Theil 15. Leipzig: Schneider 1791, S. 150. 60 Auch etwas über Strasburg von einem Strasburger. In: Deutsches Museum 1782, Bd. II, S. 472. 61 Ebd., S. 472f. 62 Ebd., S. 473. 122 Uwe Hentschel Auch Theophil Friedrich Ehrmann, einer der im 18. Jahrhundert überaus bekannten Reiseautoren und Herausgeber von diversen -sammlungen, 63 meldete sich zu Wort, nicht zuletzt, um „das Vorurtheil“, welches „in Deutschland so ziemlich allgemein […] herrsche“, nämlich dass „Straßburg […] so viel bei dem Tausche verloren“ 64 habe, mit Argumenten zu entkräften: Ich besinne mich beinahe auf keinen unsrer Landsleute, der nicht einem mitleidigen Seufzer Raum gab, wenn er über die Rheinbrücke herüber in die so unglükliche Stadt fuhr, die nicht mehr, an der Glükseligkeit zum deutschen Reich zu gehören, Antheil nehmen darf! 65 Ehrmann ließ seinen Reisebericht 1789 anonym erscheinen, es sollte nicht bekannt werden, dass er ein Einheimischer war; der 1762 in Straßburg Geborene hatte ebenda die Rechte studiert. Ein Jahr vor der Veröffentlichung seiner Briefe eines reisenden Deutschen war er nach Stuttgart gezogen. 66 Ehrmann ging es nicht allein darum, Vorurteile auszuräumen, er wollte sein Wissen über Straßburg nutzen, um umfassend von seiner Geburtsstadt, die „sehr reich an Sehenswürdigkeiten“ 67 sei, zu berichten. Es gebe „noch gar wenig Reisebücher“, in welchen „der Wißbegierige auch nur halbe Befriedigung seiner Wünsche fände, wenn er eine treue Darstellung der Merkwürdigkeiten und des sittlichen Zustandes von Straßburg verlangt“. 68 Und „trokne Verzeichniße von Gebäuden u. dergl; Ausmessungen & similia sind noch lange nicht hinreichend den Menschenforscher und beobachtenden Weltbürger zu begnügen“. 69 Zugleich weiß Ehrmann, dass er ein vollständiges Gemälde, wie es beispielsweise Friedrich Nicolai von Berlin geliefert hatte, 70 innerhalb seines Reiseberichts wird nicht erbringen können. Und so räumt er gegenüber dem fiktiven Briefempfänger ein: 63 Ehrmann gab mehrere Sammlungen von Reisebeschreibungen heraus, teilweise aus dem Französischen, Englischen und Holländischen übersetzt: Geschichte der merkwürdigsten Reisen, welche seit dem 12. Jahrhundert zu Wasser und zu Lande unternommen worden sind. 13 Bde. Frankfurt am Main: Hermannische Buchhandlung 1791-1799; Neueste Länder- und Völkerkunde, ein geographisches Lesebuch für alle Stände. 11 Bde. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1806-1811. Die von Mathias Sprengel begonnene Bibliothek der neuesten und wichtigsten Reisebeschreibungen redigierte er vom 8. bis zum 43. Bande (Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1803-1811). 64 Ehrmann: Briefe (Anm. 10), S. 127. 65 Ebd. 66 Ab 1803 lebte er in Weimar, wo er 1811 starb. 67 Ehrmann: Briefe (Anm. 10), S. 99. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ehrmann nennt ausdrücklich „Nikolaiʼs musterhafte Beschreibung Berlinʼs“ (ebd., S. 100) - Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten. Berlin: Nicolai 1769. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 123 Mehr erwarte aber nicht, als Skizzen; ein vollständiges, zusammenhängendes, treues und durchaus vollendetes Gemälde von Straßburg […] gehört noch unter die pia desideria; nur ein Straßburger, der seine Vaterstadt ganz kennet, durchstudirt hat, und Gelegenheit hat, die nöthigen Quellen zu benüzzen, könnte ein solches Werk unternehmen; doch damit hatʼs wohl noch Zeit. 71 Fast scheint es, als würde der vorliegende, aus mehr als 20 Bogen bestehende Teil der Reisebeschreibung als Vorarbeit anzusehen sein für eine spätere noch umfangreichere Publikation über Straßburg. Im Moment könne er nur eine „Bildergalerie“ 72 bieten, in der verschiedene Gemälde zu unterschiedlichen Gegenständen aneinandergereiht werden; später spricht er von „Bruchstücke[n], Skizzen, einzelne[n] Beobachtungen“. 73 Doch bevor Ehrmann in dieser Weise Straßburg beschreibt, sowohl die Sehenswürdigkeiten vorstellt als auch zu den Themen Religion, politische Verfassung und Sitten der Einwohner Stellung nimmt, beschäftigen ihn die (Vor-)Urteile seiner Zeitgenossen. Im Unterschied zu der landläufigen Meinung habe Straßburg durch den Anschluss an Frankreich „in mancher Rücksicht gewonnen“, was sich schon darin zeige, dass „seine Bevölkerung […] sich ganz sicher seit jener Zeit verdoppelt“ und zugleich „Wohlstand, Nahrung, Kunstfleiß und jedes Gewerb zugenommen“ habe: „Ruhe, Sicherheit und jedes Glük des bürgerlichen Lebens sind izt dauerhaft bevestiget.“ 74 Mussten die Reisenden in ihren Berichten einräumen, dass man auch von einem „Gewinn“ 75 für die Menschen sprechen könne, 76 so setzten sie sogleich hinzu, dieser sei jedoch durch den „Verlust der Freiheit“ 77 erkauft worden. Diesen begegnet Ehrmann mit dem Argument, dass auch die Bürger der Freien 71 Ehrmann: Briefe (Anm. 10), S. 99. 72 Ebd., S. 100. 73 Ebd., S. 209. 74 Alle Zitate ebd., S. 128. 75 Ebd., S. 129. 76 Johann Rautenstrauch stellt fest, es sei ein Gewinn, „in einer Stadt zu wohnen, wo Wissenschaften und Künste, Handlung und Gewerbe blühen“ ( Johann Rautenstrauch: Straßburg nach seiner Verfassung, Colmar: Rautenstrauch 1770, unpagn.). - „Daß Straßburg unter Frankreichs Souverainetät steht, ist im Ganzen für diesen kleinen Staat vielleicht gut.“ ([Leopold Friedrich Günther von Göckingk: ] Fortsetzung der Briefe eines Reisenden durchs Elsaß. In: Deutsches Museum 1781, Bd. I, S. 425). - „Aus dem was Straßburg in Absicht des Handels jetzt schon wirklich ist, kann man auf den künftigen Flor desselben schließen […].“ (Ueber die Lage und den Handel der Stadt Straßburg. In: Ephemeriden der Menschheit 1784, Bd. I, S. 469). - „Izt, da die Strasburger ihren reichsstädtischen Freyheitssinn allmälig abzulegen beginnen, gestehen sie sich öffentlich die grossen Vortheile, die ihnen diese Verbindung verschaft.“ (Storch: Skizzen [Anm. 11], S. 11). 77 Ehrmann: Briefe (Anm. 10), S. 129. 124 Uwe Hentschel Reichsstädte mitnichten politisch frei seien, sondern „Sklaven“ der „Rathsherren, denen ihr Ansehn und Privatinteresse näher am Herzen liegt, als das Wohl der Bürger! “ 78 Er kommt zu dem Ergebnis: Ich glaube wirklich, daß die gegenwärtige Verfassung Straßburgs, die sit venia verbis eine durch Demokratie und Aristokratie gemilderte Monarchie genannt werden kann, für die Bewohner dieser Stadt zuträglicher und besser seie, als die ganz republikanische reichsstädtische Verfassung, die ehmalen existirte […]. 79 Zudem werde von den Reisenden der „Verlust der Religionsfreiheit“ 80 beklagt, den die Lutheraner seit der Übernahme durch das katholische Frankreich zu erdulden haben. Auch diese Befürchtung sei „im Ganzen ungegründet“, wenngleich Ehrmann zugestehen muss, dass „im Einzelnen […] freilich noch hie und da der Dämon Bigotismus seine Krallen“ hervorstrecke und es auch „Religionshaß“ gebe; „wobei die Protestanten immer der leidende Theil“ 81 seien. Man hatte den Lutheranern nach 1681 Religionsfreiheit zugesichert, obgleich nahezu zeitgleich mit der Aufhebung des „Edikts von Nantes“ den calvinistischen Protestanten die Ausübung ihrer Religion untersagt worden war; zugleich tat man alles Erdenkliche, um auch in Straßburg den Katholizismus durchzusetzen. Ehrmann gibt einige Beispiele: […] alle Findelkinder werden katholisch erzogen; alle unehliche Kinder müssen die katholische Religion annehmen; kein Jude kann zu einer andern Religion übergehen, als zur katholischen; kein Katholik kann Protestant werden; alle Kinder eines Ehepaars, dessen eine Hälfte der katholischen und die andere der protestantischen Religion zugethan ist, müssen katholisch werden; alle Kinder unter 14. Jahren, deren Vater oder Mutter zur katholischen Kirche übergeht, müssen auch zugleich die katholische Religion annehmen. 82 Dergleichen Gesetze, über deren Einhaltung „mit größtem Eifer gewacht“ 83 wurde, führten dazu, dass nach 100 Jahren schon mehr Katholiken als Lutheraner in der Stadt wohnten. 84 Dennoch berichtet Ehrmann davon, dass „beide 78 Ebd. 79 Ebd., S. 316. 80 Ebd., S. 129. 81 Alle Zitate ebd., S. 129f. 82 Ebd., S. 189f. 83 Ebd., S. 190. 84 „Die Katholiken machen die größere Zahl der Einwohner aus; sie verhalten sich in dieser Rücksicht zu den Protestanten wie 9. zu 7. oder 6 ¾.“ (ebd., S. 188). - Sigmund Billing gibt 1782 folgende Zahlen an: 25.800 Katholische, 20.490 Lutheraner und 510 Reformierte (Sigmund Billing: Geschichte und Beschreibung des Elsasses und seiner Bewohner - von den ältesten bis in die neuesten Zeiten. Basel: Decker 1782, S. 301). Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 125 Religionspartheien hier in Friede und Eintracht mit einander“ 85 lebten: 86 „[…] die Katholiken müssen Ahndung befürchten, wenn sie die angewiesenen Gränzen überschreiten, und die Protestanten, welche sich als die schwächern fühlen, sind zufrieden, wenn man ihre Rechte nicht kränkt.“ 87 Dann kommt Ehrmann auf ein weiteres „Vorurteil“ der Reisenden zu sprechen: „Was nun 3.) den Verlust der Sittlichkeit betrifft, so muß ich freilich eingestehen, daß Straßburg in diesem Punkte vieles verloren hat.“ 88 Doch bezweifelt er, ob man dies allein auf den Einfluss der Franzosen zurückführen könne. In einer großen Stadt, in der sehr viel Geld zirkuliert, wo Reichtum und Luxus Einzug gehalten haben, komme es zwangsläufig auch zu moralischen Verwerfungen. Im Vergleich zu dem Zustand der Sitten, wie er in München, Berlin, Wien und Hamburg zu finden ist, mache Straßburg keine Ausnahme. Da müsse man nicht die „Schuld den Franzosen“ geben: „[…] wir Deutsche besizzen Geschiklichkeit genug, es in jedem Laster so weit zu bringen, als der ausstudierteste Pariser Roué! “ 89 Insbesondere die Reichen und Vornehmen orientierten sich an der französischen Lebensart, allein „der hiesige Mittelstand“ zeige seinen „deutschen Ursprung noch so unverkennbar, daß ich mich wundre, wie man von dem verwischten Karakter derselben zu sprechen sich beifallen laßen konnte“: „Kurz und gut: Der Karakter der deutschen Straßburger ist deutsch und der der französischen französisch.“ 90 Ehrmann hatte mit seinem mehr als dreihundert Seiten umfassenden Bericht über Straßburg zusammengetragen, was man über die Stadt wissen sollte, 91 die gelehrte Kritik vertrat gar die Ansicht, dass „diese Reisebeschreibung allein wegen des Artikels von Straßburg des Ankaufs, und der Durchlesung werth“ 92 85 Ehrmann: Briefe (Anm. 10), S. 210. 86 „Freilich herrscht im Ganzen genommen viel Kaltsinn zwischen ihnen; die Protestanten fürchten das Übergewicht der Katholiken, und die Katholiken, voll Gefühl ihrer Obermacht, halten die Protestanten für geringere Wesen als sie sind, und entfernen sich mehr von ihnen, als jene von diesen. Dennoch wird ein dritter Zuschauer, ehe er genau von Allem unterrichtet ist, diesen Unterschied, diesen Kaltsinn gewiß nicht leicht bemerken. Man geht freundschaftlich mit einander um, man lebt nachbarlich zusammen, man erweist einander wechselseitige Gefälligkeiten; doch glaube ich nicht, daß die Katholiken sobald das ganze Zutrauen der Protestanten besitzen werden.“ (ebd., S. 210f.). 87 Ebd. 88 Ebd., S. 130f. 89 Ebd., S. 131f. 90 Alte Zitate ebd., S. 339. 91 „[…] es steht darin sehr viel vom äußerlichen und innerlichen, kirchlichen und politischen, gelehrten und militärischen Zustande dieser berühmten Stadt, und die Merkwürdigkeiten sind ausführlich, und deutlich erzählt.“ (Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung. 31. St. vom 14. März 1791, S. 483). 92 Ebd. 126 Uwe Hentschel sei; der Rezensent regt an, die „Stadt-Beschreibung besonders abdrucken zu lassen, und in Umlauf zu bringen.“ 93 Obgleich dies nicht geschah, auch weil sich Charakter und Status der Stadt mit der Französischen Revolution schon im Jahr des Erscheinens der Briefe eines reisenden Deutschen ändern sollten, gelang Ehrmann mit seiner Beschreibung noch vor der großen Zäsur ein Gesamtbild, das von einseitigen Überzeichnungen frei ist. II. „Revolutionstouristen“ in der Stadt „Mit dem ersten Schritt jenseits der deutschen Grenze befand ich mich in einer völlig neuen Welt.“ 94 Was 1789 in Paris und bald auch in ganz Frankreich geschah, der Umsturz des Ancien Régime, war so unerhört und zugleich so vehement wie der Sturm auf die Bastille vom 14. Juli, der schon bald zu einem Ereignis mit großer Symbolkraft avancierte. Viele Deutsche waren fasziniert und begeisterten sich für dieses exorbitante Geschehen; einige von ihnen machten sich auf den Weg, um „den rührenden Sieg der Menschheit über den Despotismus anzusehn, und ihn feiern zu helfen“ 95 - und natürlich den Daheimgebliebenen von ihren Eindrücken zu berichten. Die deutschen „Revolutionstouristen“ 96 mussten nicht warten, bis sie nach Paris kamen. Karl August Varnhagen von Ense verbrachte als Kind zu Beginn der neunziger Jahre mehrere Monate in Straßburg. Die Mutter war hier geboren und sein Vater ein Anhänger der Revolution. 97 Varnhagen erinnerte sich, dass „gleich die ersten Bewegungen zu Paris […] im Elsass begeisterte und kräftige Zustimmung gefunden“ hatten „und die Straßburger […] besonders leidenschaftlich in die neue Richtung“ 98 einschlugen: 93 Ebd. 94 Baggesen: Das Labyrinth (wie Anm. 17), S. 350. 95 Joachim Heinrich Campe: Reise von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1790, S. 4. 96 Den Begriff „Revolutionstourismus“ hat Inge Stephan eingeführt: dies.: „Ich bin auch nicht […] begierig, an meinem eigenen Körper Wirkungen der Revolution zu erleben.“ Kritische Anmerkungen zum Revolutionstourismus, am Beispiel der Vertrauten Briefe über Frankreich (1792/ 93) von Johann Friedrich Reichardt. In: Wolfgang Griep- / Hans- Wolf Jäger (Hrsg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen. Heidelberg 1986, S. 224-240. 97 Er sollte später in Straßburg in die Nationalgarde eintreten. 98 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Bd. I. Berlin: Rütten & Loening 1971, S. 36. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 127 Überall hörte man die neuen Wahlsprüche, den Leberuf der Freiheit, des Gesetzes, der Nation, überall brachen die Zeichen des neuen Lebens hervor, man sah Freiheitsbäume aufgerichtet, die Farben und Schlagwörter der Revolution in Tafeln, Schildern und Inschriften vervielfältigt, die dreifarbige Kokarde an jedem Hute, dreifarbige Fahnen auf jedem öffentlichen Gebäude, die Frauen schmückten sich mit dreifarbigen Bändern, Tag und Nacht erklangen die patriotischen Gesänge. 99 Den Eindruck des Unerhörten und Inkommensurablen, den Varnhagen von Ense hier mit zeitlichem Abstand vermittelt, 100 bestätigten die Reisenden, die in den ersten Jahren der Französischen Revolution durch Straßburg kamen - ganz gleich, ob sie sich für die Veränderungen begeisterten oder ihnen kritisch begegneten. Der deutsch-dänische Dichter Jens Baggesen gehörte 1789 zu den Enthusiasmierten; 101 er „sang und tanzte […] am Morgen des vierten August über die Rheinbrücke nach Straßburg“, um dann sogleich festzustellen: „Mit dem ersten Schritt jenseits der deutschen Grenze befand ich mich in einer völlig neuen Welt.“ 102 Immer wieder - bis in das Jahr 1792 hinein - wird von der Feststimmung berichtet, in dem sich das Volk bewegte. Johann Friedrich Archenholtz, der 1791 für kurze Zeit nach Paris übersiedelte, 103 erlebte am 14. September in Straßburg die Feierlichkeiten aus Anlass der Eidesleistung Ludwig XVI. auf die neue Verfassung: Es wurde mit allen Glocken geläutet, mit den Kanonen dreymal rund um die Wälle gedonnert, und von den Truppen Lauffeuer gemacht. Man hatte auf den Parade-Platz eine zierliche Bühne errichtet, wohin sich der Magistrat und die Clerisey in einer pomphaften Procession verfügten. Hier wurde die Constitutions-Acte feyerlich verlesen, begleitet von Musik und geistlichen Reden. Am Abend sahe man die Stadt erleuchtet, wobey auf Kosten der Stadt Volksbälle gegeben wurden. Einer dieser Tanzörter war der prachtvoll illuminirte Pallast des entwichenen Cardinals von Rohan; man tanzte in den großen Sälen, so wie auch auf der vor dem Pallast befindlichen Terrasse unter freyem Himmel; und zwar sahe man hier den Pöbel mit feinen Leuten vermischt. 104 99 Ebd., S. 36f. 100 „Wirklich war in Straßburg kaum ein Schritt möglich, ohne den neuen Ideen in Tatsachen oder Zeichen zu begegnen.“ (ebd., S. 36). 101 Verf. dichtet im Abschnitt „Straßburg“: „Sei mir gegrüßet, Frankreich, das erwecket,- / So neue große Hoffnung meiner Brust,- / Das alle Sklaven und Tyrannen schrecket -- / Ist auch dein Freiheits-Morgenhimmel noch bedecket --/ Ich habe Mut, zu teilen deine Lust! “ (Baggesen: Das Labyrinth [Anm. 17], S. 350). 102 Ebd. 103 Ulrich Gaier: „Minerva“ 1792-1798: Berichte aus Frankreich. In: Ulrich Gaier-/ Valérie Lawitschka (Hrsg.): Hölderlin und die „künftige Schweiz“. Eggingen [u. a.] 2013, S. 195-232. 104 Johann Wilhelm von Archenholz: Reise des Herausgebers nach Frankreich. In: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts 1 (1792), S. 4f. 128 Uwe Hentschel Dieser Stimmung konnten sich die deutschen Beobachter kaum entziehen 105 - auch noch nicht 1792, da die Eintracht des Volkes allmählich dem Streit der Parteien über Einfluss und Macht wich und sich zunehmend die Frage eines Krieges mit dem Ausland stellte. Insbesondere im Elsass hielten sich viele emigrierte Adlige auf, die auf militärische Vergeltung sannen. Johann Friedrich Reichardt, der Berliner Komponist und ein Sympathisant der Französischen Revolution, erlebte diese allgemeine Anspannung. Angesichts der raschen Veränderungen war es ihm unmöglich, all die Ereignisse sachlich zu erfassen und vertiefend zu erörtern. Er fragt: „[…] wie soll ich das nun so in der Eil zusammen fassen? “ 106 - dennoch will er versuchen, seine Leser „von der Stimmung und Gesinnung des Volkes und von der gegenwärtigen politischen Lage des Landes zu unterrichten“. 107 Und so besucht Reichardt unter anderem Sitzungen „der Gesellschaft der Constitutionsfreunde“ 108 , wo er den später berüchtigten Jakobiner Eulogius Schneider 109 erlebt, auch lernt er dessen politischen Gegner, den Maire Friedrich von Dietrich kennen, der im Juli 1789 als Vertreter des Königs nach Straßburg gekommen war und die Geschicke der Stadt bis in den August 1792 entscheidend mitbestimmte - ein Jahr später wurde er von den Jakobinern in Paris hingerichtet. 110 Und Reichardt bemerkt den Hass, der sich gegen die Feinde der Revolution, insbesondere gegen die Emigrierten richtete, die die alte Ordnung wieder herstellen wollten, wenn nötig mit Waffengewalt. Reichardt beobachtet die Nationalgarden, die „grossentheils patriotisch oder demokratisch gesinnt“ waren: „Sie scheinen den äussern Feind wirklich nicht zu fürchten, und den Krieg zu wünschen; aber sie fürchten die Aristokraten, die sie im Rücken lassen, und sprechen davon, sie alle vor sich her zu treiben.“ 111 Auch wenn Reichardt 105 Auch Varnhagen von Ense erlebte dieses Fest mit all der „Musik“ und dem „Jubel“, eine „Lustbarkeit“, an der auch die „Wohlhabenden und Gebildeten“ teilnahmen. Und noch Jahre später kommt er zu dem Ergebnis: „[…] dieser Anblick war einer der größten und eigentümlichsten meines ganzen Lebens, man kann sich die Heiterkeit und Anmut einer solchen Veranstaltung schwerlich vorstellen.“ (Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten [Anm. 98], S. 61f.). 106 [Johann Friedrich Reichardt: ] Vertraute Briefe über Frankreich. Auf einer Reise im Jahr 1792 geschrieben. Bd. I. Berlin: Johann Friedrich Unger 1792, S. 213. - „Ich müsste hier eigentlich nur die Hälfte der Zeit zum Leben, und die andre zum Schreiben anwenden, wenn ich dir einigermassen getreu und vollständig erzählen sollte.“ (ebd., S. 164). 107 Ebd., S. 226. 108 Ebd., S. 84. 109 Walter Grab: Eulogius Schneider, ein Weltbürger zwischen Mönchszelle und Guillotine. In: Gert Mattenklott- / Klaus Scherpe (Hrsg.): Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland. Kronberg/ Taunus 1975, S. 61-138. 110 Zu den poltischen Auseinandersetzungen in Straßburg siehe Daniel Schönpflug: Der Weg in die Terreur. Radikalisierung und Konflikte im Straßburger Jakobinerclub (1790-1795). München 2002. 111 Reichardt: Vertraute Briefe (Anm. 106), S. 97f. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 129 wiederholt darauf hinweist, dass er aufgrund der vielen Erlebnisse und Eindrücke „fast gar nicht zum Schreiben kommen“, geschweige „ins Detail gehen“, ja nur „flüchtig“ 112 berichten könne, vermittelt er seinen Lesern, was es heißt in einer Zeit des Aufbruchs und der Veränderung zu leben. Und selbst konservativ eingestellte Reisende wie der österreichische Autor Franz Kratter, der die französische „Nation in der entsetzlichsten Gährung“ erlebt und von „Aufruhr“ 113 spricht, muss den Straßburgern bescheinigen, dass die Absetzung des Magistrats begründet war, weil er sich Eingriffe in deren Rechte erlaubte und „Ungerechtigkeiten auf Richterstühlen“ verübte und durch „Eigenmächtigkeiten in gemeinen Anstalten“ auffiel. Doch für Kratter handelt es sich nur um ein „Missverständnis zwischen dem Magistrat und der Bürgerschaft“; deren Reaktion erscheint ihm unangemessen, denn es blieb nicht beim „Klaggeschrei“, sondern der „wüthende Haufen“ 114 stürmte das Rathaus: Die Thüren wurden eingesprengt, die Kassen erbrochen und geplündert, alle Akten und Urkunden, ohne Schonung auf Seltenheit und unschätzbaren Werth zerstreut, zerrissen, auf die Gasse geworfen. Gegen Stühle, Bänke, Tische, und am Ende sogar gegen öde Mauern wüthete die zügellose Erbitterung des Volkes. 115 Reisende wie Kratter machten in ihren Berichten deutlich, wie sie zu dieser Revolution standen, doch auch sie ahnten, dass sie sich am Beginn einer „Epoche“ befanden, „die man in Jahrhunderten, die man nie wieder erleben wird“. 116 Ein anonymer Reisender, der sich im Juni 1791 in Straßburg aufhielt, erlebte, wie der Großteil der Einwohner auf die Flucht Ludwig XVI. ins Ausland reagierte. Er feierte nicht allein „ganz betäubt“ 117 deren Scheitern, sondern man vertrat sogleich „ungescheut“ die Ansicht, „Frankreich hätte keinen König mehr, und durch die Flucht hätte er verdient, den Kopf zu verlieren“. 118 Für den Reisenden ist das eine unerhörte Forderung, auch sie ist Teil einer für ihn „merkwürdigen Staatsumwälzung“. 119 112 Ebd., S. 92. 113 Franz Kratter: Bemerkungen, Reflexionen, Phantasien, Skizzen von Gemälden und Schilderungen auf meiner Reise durch einige Provinzen Oberdeutschlands. Brünn: Traßler 1791, S. 135. 114 Alle Zitate ebd., S. 135ff. 115 Ebd., S. 137. 116 Ebd., S. 135. - „Es ist mir in der That eine sehr angenehme Erwartung, daß ich jetzt mit eignen Augen die Wirkungen erblicken werde, welche die Freiheit der Franzosen hervorgebracht hat […].“ (Reisen durch den größten und wichtgsten Theil Frankreichs im dritten und vierten Jahr der Revolution in Briefen an einen Freund in Deutschland geschrieben. Theil 1. Helmstedt: Fleckeisen 1796, S. 1). 117 Ebd., S. 5. 118 Ebd., S. 10. 119 Ebd., S. 14. 130 Uwe Hentschel Als die Franzosen 1792 in den Krieg eintraten und sich die Stimmung im Lande immer stärker gegen den König wandte, wurden die Stellungnahmen der Deutschen zunehmend kritischer. Hatten zunächst bei den Sympathisanten der Revolution die (stereotypen) Charaktereigenschaften der Franzosen - Baggesen nennt sie „offen, redselig, munter“ 120 - die Basis abgegeben, um deren Freiheitswillen zu erklären, so sind es in der Folge genau dieselben mentalen Merkmale, die angeführt werden, um deren Veränderungswillen und Gewaltbereitschaft zu begründen. Mit Beginn des Ersten Koalitionskrieges, spätestens jedoch seit der Hinrichtung des Königs im Januar 1793 und der sich anschließenden Jakobinerherrschaft, verzichteten die Deutschen auf Reisen ins revolutionäre Nachbarland. Erst nach dem Sonderfrieden, der 1795 mit Preußen geschlossen wurde, und nach dem Ende des Ersten Koalitionskrieges, der sich durch die Niederlage Österreichs ergab, verstärkte sich das Reiseaufkommen allmählich wieder, ohne die Größenordnung aus der Zeit vor der Revolution zu erreichen. Noch 1801 berichtete man von der allgemeinen „Klage des Mangels an Verkehr und Reisenden, die alle das linke Rheinufer scheuen“. 121 Umso mehr Aufmerksamkeit wurde den Berichten der Reisenden zuteil, die sich bis zu diesem Zeitpunkt beziehungsweise während dieses Zeitraums in diesen Gegenden aufhielten. Ein besonderes Gewicht kam den Bemerkungen auf einer Reise durch das südliche Deutschland, den Elsass und die Schweiz in den Jahren 1798 und 1799 von Christian Ulrich Detlev von Eggers zu. Der Autor, ein studierter Jurist, lebte seit 1783 in Kopenhagen, wo er verschiedene regierungsnahe Ämter bekleidete; 1798 vertrat er als Legationsrat Dänemark beim Rastatter Kongreß, 122 auf dem der Frieden nach dem Ende des Ersten Koalitionskrieges ausgehandelt werden sollte. 123 Diesen Aufenthalt nutzte Eggers zu mehreren Reisen in die Umgebung, und so berichtete er auch im März und April 1798 in Briefen an Freunde von einem Ausflug nach Straßburg; der Bericht umfasst nahezu den gesamten zweiten Band des mehrteiligen Werkes. 120 Baggesen: Das Labyrinth (Anm. 17), S. 369. 121 Johann Friedrich Droysen: Bemerkungen gesammelt auf einer Reise durch Holland und einen Theil Frankreichs im Sommer 1801. Göttingen: Dietrich 1802, S. 441. - Auch Meiners stellte fest, „daß seit manchen Jahren wenige Fremde nach Strasburg gekommen seyen“. (Christoph Meiners: Beschreibung einer Reise nach Stuttgart und Strasburg im Herbste 1801, nebst einer kurzen Geschichte der Stadt Strasburg während der Schreckenszeit. Göttingen: Johann Friedrich Röwer 1803, S. 126). 122 Zur Biographie siehe Martin Babel: Christian Ulrich Detlev von Eggers. In: Aufklärung 5 (1991), Heft 2, S. 127-129. 123 Zu Beschlüssen und damit zu einem rechtskräftigen Friedensschluss kam es nicht, weil es während des Kongresses bereits zum Zweiten Koalitionskrieg kam. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 131 Wofür sich Reisende wie Eggers (und mithin auch die zeitgenössischen Leser) am Ausgang des Jahrhunderts interessierten, waren Erkenntnisse über die „Folgen der französischen Revolution“. 124 Sie sollten - so Eggers - durch „eigene Beobachtung“ 125 gewonnen, die Ergebnisse festgehalten und verglichen werden mit den Erwartungen und Postulaten zu Revolutionsbeginn sowie mit dem Status quo vor 1789. Anlass der Reise nach Straßburg waren das „Fest der Souverainität des Volkes“ 126 am 20. März und eine Deputierten-Wahlversammlung einen Tag später. Gemessen an den Erwartungen, mit denen Eggers in die Stadt kam, stellte sich schon bald Ernüchterung ein. Die Begeisterung, mit der die Menschen 1789 die Revolution begrüßt hatten, war gewichen: Die Lieder während des Festes wurden zumeist nur von denen gesungen, die „durch Amtspflicht“ 127 dazu angehalten waren, und die organisierten Veranstaltungen besuchten nicht mehr alle Bürger; am abendlichen Tanz nahm „einzig und allein die unterste Volksclasse“ 128 teil. Diese „Gleichgültigkeit“ 129 erstreckte sich auch auf das Wahlverhalten am nächsten Tag. Eggers, der seinem Adressaten immer wieder versichert, dass er keine „vorgefaßte Meinung“ habe und „allein gekommen“ sei, um „zu sehen und zu hören“ 130 , musste auch hier einen „Mangel an Bürgersinn“ 131 konstatieren, hatte sich doch „kaum der zehnte Theil von den Stimmberechtigten […] eingefunden“. 132 Erklärbar sei dies nur, wenn man berücksichtige, was die Einwohner in den letzten Jahren durchlebt hätten; man müsse ihre Geschichte kennen. Damit begründet Eggers seinen nun folgenden ausführlichen, materialreichen Rückblick auf die Anfangsjahre der Französischen Revolution in Straßburg bis zum Ende der Jakobinerdiktatur. Erst anschließend, nach mehr als zweihundert Seiten, beginnt der Autor mit der reiseliterarischen Beschreibung der Stadt. Wie zu Beginn, als er das während der ersten Tage Erfahrene beschrieb, legt der Autor auch jetzt wert auf subjektive Authentizität. Zwar habe er sich vorab 124 Christian Ulrich Detlev von Eggers: Bemerkungen auf einer Reise durch das südliche Deutschland, den Elsass und die Schweiz in den Jahren 1798 und 1799. Bd. II. Kopenhagen: Christian Georg Prost 1802, S. 1. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 33. 127 Ebd., S. 46. 128 Ebd., S. 51. 129 Ebd., S. 62. 130 Ebd., S. 59. 131 Ebd., S. 66. 132 Ebd., S. 62. - Zwar könne Eggers angesichts der jakobinischen Gewaltexzesse den Ver- und Überdruss der Bevölkerung nachvollziehen, zugleich zeige sich aber in dem Verzicht auf das Wahlrecht eine Unmündigkeit; „das französische Volk“ sei „bei weitem nicht reif […] für eine repräsentative Verfassung.“ (ebd., S. 55). 132 Uwe Hentschel belesen, 133 doch wolle er nur das mitteilen, was er selbst beobachtete oder „von zuverlässigen Zeugen hörte“. 134 Nach dem Besuch der einschlägig bekannten Sehenswürdigkeiten und der Sozialeinrichtungen der Stadt kommt Eggers auf Wirtschaft und Moral zu sprechen. Beides habe unter den vorherigen Machthabern sehr gelitten. Insbesondere der vom Handwerk lebende Mittelstand, welcher vor allem aus Deutschstämmigen bestand, musste Einbußen erleiden: Die revolutionaire Regierung hatte, durch eine fast unsinnige Spendung des Papiergeldes, eine Verwirrung in dem Geldwesen hervorgebracht, welche die Preise aller Dinge plötzlich veränderte, auf alle Gewerbe den nachtheiligsten Einfluß haben mußte. Wenige Jahre reichten hin, um einen unsäglichen Schaden zuzufügen; vielleicht verstreicht eine sehr lange Zeit, ehe das Uebel sich einigermaßen wieder gut machen läßt. 135 Für Eggers ist der deutsche Mittelstand, gerade weil er sich gegenüber den revolutionären Entwicklungen konservativ verhielt, 136 die Basis für Beständigkeit und den wieder zu erwartenden Wohlstand und zugleich ein Bollwerk gegenüber der zunehmenden moralischen Depravation. Für den Diplomaten und Autor, der sich durchaus aufgeschlossen zeigt für liberale Ideen, wenn sie sich im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie bewegen, ist das Projekt Revolution gescheitert; es sollte sogar eine „nachdrückliche Warnung für die Nachwelt“ sein, „nicht wieder den unseligen politischen Traum von unbedingter Freiheit und Gleichheit zu träumen“. 137 Eggers Bemerkungen aus dem Jahre 1798 stellen den umfangreichsten Bericht über Straßburg während der Revolutionszeit dar - mit dem Vorzug, dass darin sowohl unmittelbar Erlebtes veranschaulicht als auch topographisches und landeskundliches Material statistisch aufbereitet wurde. Die zeitgenössische Kritik 133 „In Ansehung des historischen Details bei verschiedenen Punkten verweise ich Sie auf die angelegte Beschreibung. Sie soll ziemlich genau seyn.“ (ebd., S. 234) Es handelt sich um folgendes Werk: [Charles de Hautemer: ] Description historique et topographique de la ville de Strasbourg et de tout ce quʼelle contient de plus remarquable; en faveur des voyageurs. Strasbourg: Amand Kœnig 1785. 134 Eggers: Bemerkungen (Anm. 124), S. 234. 135 Ebd., S. 271. 136 Nach Eggers „scheint der Einfluss der Revolution sich mehr auf die niedrigen Volksklassen zu erstrecken, als auf die gebildeten.“ (ebd., S. 385): „[…] auf das, was man eigentlich den Pöbel zu nennen pflegt, die Dienstboten mit einbegriffen, hat die Revolution merklich gewirkt. Diese Klasse, angeblich die Lieblingsklasse der Revolutionaire, die ihr zu Gefallen sich den Nahmen der Ohnehosen gaben, hat unglaublich an Muth und Kraft zugenommen. Sie führt jetzt gerne den Ton, wo sie vorher schwieg, und führt ihn auf die ihr eigene Weise.“ (ebd., S. 386f.). 137 Ebd., S. 280. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 133 lobte Eggers für seine „vollständigen als authentischen Nachrichten“ 138 ; er habe mit „Fleiß, Sorgfalt und Beurtheilungskraft“ 139 gearbeitet; entstanden sei ein „besonders für die Geschichte der Revolutionszeit nicht unwichtiges Werk“. 140 Einen Hinweis darauf, mit welchem Interesse auf eine Stadt geschaut wurde, die so nah an der Grenze lag und zudem besonders nachdrücklich von dem Umsturz betroffen war, gibt die Publikation von Christoph Meiners, dem vielschreibenden Professor für Weltweisheit aus Göttingen. 141 Er trat 1803 mit seiner Beschreibung einer Reise nach Stuttgart und Strasburg an die Öffentlichkeit - mit dem Ziel, ein spezielles Informationsbedürfnis zu befriedigen, auf das sogleich im Titel hingewiesen wurde, wo es ergänzend heißt: nebst einer kurzen Geschichte der Stadt Strasburg während der Schreckenszeit. Meiners hatte sich im Herbst 1801 nur fünf Tage in der Stadt aufgehalten, die ihm jedoch durch frühere Besuche bekannt war. 142 Dennoch füllt sein Bericht über seinen Aufenthalt mehr als zweihundert Seiten. Auch Meiners stellt wie Eggers drei Jahre zuvor - verglichen mit der Zeit vor der Revolution - „viele traurige Veränderungen“ 143 fest; doch spitzt der konservativ eingestellte Meiners noch zu, wenn er meint, „daß Männer und Weiber im Durchschnitt ein ärmlicheres Ansehen hätten, als vormahls“. 144 Dennoch gehe es ihnen jetzt besser als 1793/ 1794, während der Jakobinerdiktatur. Meiners hält sich nicht lange bei der Mitteilung seiner Reiseerfahrungen auf. Da er glaubt, dass seine Leser informiert sein wollen darüber, was die „Schreckenszeit“ 145 den Straßburgern abverlangte, teilt er mit, was ihm berichtet wurde oder er an Dokumenten 146 finden konnte. Im Ergebnis seiner Untersuchungen kommt er zu dem Ergebnis: „Strasburg und das Elsass haben während der Schreckenszeit unendlich mehr 138 Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 84 (1803), S. 246. 139 Allgemeine Litteratur-Zeitung Nr. 50 vom Februar 1803, S. 398. 140 Gothaische Gelehrte Zeitungen auf das neunzehnte Jahrhundert, 61. St. vom 31. Juli 1802, S. 531. 141 Martin Gierl: Christoph Meiners: Histoire de l’humanité et histoire universelle à Göttingen. In: Hans Erich Bödeker-/ Philippe Büttgen-/ Michel Espagne (Hrsg.): Göttingen vers 1800: l’Europe des sciences de l’homme. Paris 2010, S. 515-533. 142 Z. B. berichtet er im ersten Band seiner Briefe über die Schweiz (Berlin: Spener 1784) von seinem Besuch in Straßburg im September 1782. 143 Meiners: Beschreibung (Anm. 121), S. 119. 144 Ebd., S. 121. 145 Ebd., S. 133. 146 [André Ulrich- / Jean-Baptiste Milhaud- / Louis Guyardin: ] Recueil des Pièces authentiques servant à lʼhistoire de la révolution de Strasbourg, où les actes des Représentants du peuple, en mission dans le Département du bas-Rhin sous le regne de la Tyrannie, des Comités et Commissions revolutionnaires, de la Propagande, et de la société des Jacobins à Strasbourg. 2 T., Straßburg: Danbach et Ulrichn 1795; Johann Friese: Neue vaterlaendische Geschichte der Stadt Strassburg und des ehemaligen Elsasses. Ein Lesebuch. Bd. V. Strassburg: Lorenz und Schuler 1801. 134 Uwe Hentschel ausgestanden, als irgend Jemand in Deutschland gefürchtet, oder vermuthet hat.“ 147 Man könnte mit Meiners glauben, dies sei die Strafe dafür gewesen, dass „nach Paris […] Strasburg die erste Stadt“ gewesen ist, wo die geistvollsten, aufgeklärtesten, und tugendhaftesten Bürger sich in eine Volks-Gesellschaft vereinigten, und mit gemeinschaftlichen Kräften an der Beförderung der glücklich angefangenen, und vielversprechenden Revolution arbeiteten. 148 Nicht allein für Meiners war es unbegreiflich, wie man all die „Privilegien“, die die Stadt vor der Revolution besaß, so leichtfertig für die „Ehre des Französischen Bürgerrechts“ 149 aufs Spiel setzen konnte, 150 wenngleich er nicht umhin kommt, einzuräumen, dass die „Grundsätze der neuen Verfassung […] alle Wünsche zu erfüllen“ schienen, „welche man je in süßen patriotischen Träumen gehegt“ 151 hatte. 152 Doch die Entwicklung, die die Revolution nahm, verhinderten die Einlösung des Erhofften, stattdessen kam es schon bald zu Enteignungen, Verhaftungen und Hinrichtungen. 153 147 Meiners: Beschreibung (Anm. 121), S. 200. 148 Ebd., S. 221. 149 Ebd. 150 „Um desto mehr scheint es zu verwundern, daß in ganz Frankreich kaum eine andere Stadt sich so früh, so nachdrücklich, und so standhaft für die Revolution erklärte, als gerade diese so sehr begünstigte, und von Deutschen bewohnte Stadt.“ (ebd., S. 217f.). 151 Ebd., S. 224. 152 „Unter dem wiedergebohrnen Fränkischen Volke hörten alle Unterschiede der Geburt, alle Erblichkeit und Verkäuflichkeit von Aemtern gänzlich auf. Die Privilegien von Ständen, Provinzen, Städten und Innungen, und alle aus dem Lehn-System herrührenden Lasten und Abgaben waren und blieben auf ewige Zeiten abgeschafft. Keine Religion, und Religions-Parthey sollte von nun an die herrschende, keine, eine bloß geduldete seyn. Alle Bürger erhielten durch die neue Verfassung völlig gleiche Rechte. Die Bürger wählten ihre Obrigkeiten, Verwalter und Richter selbst, und zwar auf wenige Jahre. Jeder Bürger konnte zu allen Aemtern und Würden gelangen, konnte reden, schreiben und drucken lassen, was er wollte, ohne irgend einer Censur unterworfen zu seyn. Alle Auflagen wurden nach dem Verhältnisse des Vermögens vertheilt: die Gerechtigkeit ward umsonst verwaltet, und jede Art des öffentlichen Unterrichts umsonst gegeben. Das Fränkische Volk that auf alle Eroberungen feierlich Verzicht, und behielt sich das gefährliche Recht, Krieg und Frieden zu beschließen, selbst vor.“ (ebd., S. 224f.) - Entnommen aus Friese: Neue vaterländische Geschichte der Stadt Strassburg, und des ehemaligen Elsaßes. Von den ältesten bis auf unsere Zeiten. Bd. V. Straßburg, gedruckt bei Lorenz und Schuler 1801, S. 14-16. 153 „Vom October 1793 bis in den August 1794 übten wilde Volks-Repräsentanten […] solche Grausamkeiten […] aus, daß man kaum begreift, wie die Einwohner von Strasburg nicht dadurch aufgerieben worden. […] In wenigen Monathen lag der fünfte Theil der Hausväter und Hausmütter in schmutzigen und ungesunden Kerkern.“ (Meiners: Beschreibung [Anm. 121], S. 141f.). - „[…] Die freywilligen und erzwungenen Opfer, welche die Einwohner von Strasburg der Revolution brachten, stiegen weit über zwölf Millionen hinaus.“ (ebd., S. 145). - „Unter allen Reichen und Wohlhabenden, so wohl in Strasburg Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 135 Letztendlich kommt auch Meiners wie andere Reisende auch zu dem Ergebnis, dass „der jetzige Zustand der Einwohner der Stadt Strasburg […] in Vergleichung mit der Schreckenszeit beneidenswert“ 154 sei, 155 jedoch noch immer „traurig“, wenn man ihn „mit der Lage der Stadt und Provinz vor der Revolution zusammenhält“. 156 Meiners Reisebericht, der nur ein Jahr nach den Bemerkungen von Eggers erschienen ist, erbringt kaum Neues, 157 er befördert die öffentliche Stimmung, die sich gegen die Revolution und die Franzosen ausspricht 158 - auch durch lancierte Falschinformationen. 159 Über Straßburgs „Schreckenszeit“ zu berichten, versprach noch immer kommerziellen Erfolg. 160 Die gelehrte Kritik zeigt sich jedoch enttäuscht: 161 Meiners Reisebemerkungen seien „im höchsten Grade flüchtig, unbedeutend, und hie und da sogar lächerlich“; man lerne nichts und lege letztendlich „diese angebliche Reisebeschreibung nur mit Verdruß aus der Hand“. 162 als in dem übrigen Elsaß, blieb auch nicht Einer übrig, der nicht durch Eine der angeführten Wirkungen der Revolution, entweder durch die Aufhebung der Feudal-Rechte, oder durch erzwungene Darlehen, und Austauschungen von Gold und Silber gegen Papier, oder durch den erzwungenen Cours der Assignaten, oder durch das Maximum, oder durch langwierige Deportationen und Einkerkerungen sein ganzes Vermögen, oder den größten Theil seines Vermögens eingebüßt hätte.“ (ebd., S. 147f.). 154 Ebd., S. 153. 155 „Keiner hat jetzt boshafte Ankläger, und grausame, oder räuberische Richter zu fürchten. Ein jeder Schuldloser ist seines Lebens, seines Eigenthums, und seiner Freyheit eben so sicher, als in anderen gutgeordneten Europäischen Staaten.“ (ebd., S. 154). - „Je mehr ich mich über die Trümmer von so manchem Guten, was die Revolution zerstörte, betrübt hatte; desto mehr erfreute mich der Anblick von mehreren milden Stiftungen, deren Einrichtung und Verwaltung gleich musterhaft sind.“ (ebd., S. 179). 156 Ebd., S. 155. - „Die Abgaben aller Art sind ungleich zahlreicher, und drückender, als sie je unter der alten Regierung waren.“ (ebd., S. 155f.). 157 „Die angeblich kurze Geschichte von Straßburg, und so weiter, die über zwey Drittheile des Buches einnimmt, ist zwar nur ein Auszug aus mehrern, eben nicht sehr seltnen, Werken.“ Zudem stellt der Rezensent fest, dass „das Meiste davon auch schon in Eggers Reisen zu finden ist“. (Neue allgemeine deutsche Bibliothek 85 [1803], S. 261). 158 Das Gesamtergebnis seiner Betrachtungen entspricht dem von Eggers: „[…] erst jetzt weiß ich, was eine Revolution ist. Erst jetzt sehe ich mit Entsetzen ein, wie viel Gutes dadurch vernichtet, wie viel Böses dadurch gestiftet wird! “ (Meiners: Beschreibung [Anm. 121], S. 203f.). 159 Meiners hatte berichtet, dass in Straßburg der Handel daniederliegen würde, was für den Rezensenten der Allgemeinen Litteratur-Zeitung eine Falschmeldung darstellt: „[…] das Gegentheil ist jedoch dem Vf. von einem unterrichteten Mann versichert worden“. (Nr. 90 vom 15. April 1806, S. 101). 160 Der Rezensent der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek (85 [1803], S. 261) vermutet, das Werk spreche vor allem „Liebhaber revolutionärer Anekdoten“ an. 161 „Uebrigens wird es Rec. unbegreiflich bleiben, wie ein sonst so verdienter Gelehrter sich zu der Herausgabe eines solchen Buches habe entschließen können.“ (ebd.). 162 Ebd., S. 260f. 136 Uwe Hentschel III. Im „modernen“ Straßburg: Ernüchterung und nationalromantische Verklärung „Diese Stadt und der hier herrschende Ton sind gänzlich französisch […].“ 163 Die Reisenden, die in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts nach Straßburg kamen, bemerkten Veränderungen im Erscheinungsbild der Stadt, die sich als ein Ergebnis der Revolution erwiesen. Insbesondere der Gewinn der Gewerbefreiheit, die jedem Bürger die Möglichkeit einräumte, einem Handwerk nachzugehen und seine Produkte auf dem Markt zu verkaufen, führte zu einem sichtbaren Aufschwung des Handels 164 - trotz der Einführung des Papiergeldes. 165 Aus dem Briefe eines Reisenden aus Straßburg, der 1803 im Magazin der Handels- und Gewerbskunde erschien, erfuhr man von dieser veränderten, modernen Lebenswelt, die die „volle Gewerbsfreiheit“ entstehen ließ. Überall finden sich „Krämer und Krämerchen aller Art“; „beinahe auf jedem großen Kaffeehause trifft man jüdische Hausirer an, die den jungen Leuten allerlei Waaren aufschwatzen“. Der „biedere Straßburger, dessen redlicher Handelscharakter so sehr geschätzt wurde“, findet sich nicht mehr; „seine herzliche Gutmüthigkeit hat sich in Egoismus, und seine redliche Zutraulichkeit in finstres Mistrauen verwandelt“. Und zudem muss der Reisende konstatieren, dass „Luxus und Im- 163 [Pauline D. Frisch: ] Reise durch Teutschland, Holland, Frankreich, die Schweitz und Italien in den Jahren 1797, 1803 und 1804. Nach dem Tode der Verfasserin, herausgegeben zum Andenken für Verwandte und Freunde. Altona: gedruckt in der Hammerich- und Heinekingschen Buchdruckerey 1816, S. 178. - Carl Cranz bemerkt 1801, dass man von offizieller Seite „das Bischen teutschen Sinn zu verdrängen“ sucht; zum Beispiel müsse „alles bei den Gerichten in französischer Sprache verhandelt werden“. (Carl Cranz: Bemerkungen auf einer vorzüglich in landwirthhschaftlicher Hinsicht im Sommer 1801 durch einen Theil von Schwaben, des Elsasses, der beiden rheinischen Kreise, dann Ober- und Nieder-Sachsens angestellten Reise mit beigefügten Notizen über verschiedene Natur-Gegenstände, Kunst-Produkte, polizeiliche Anstalten und Anlagen sc. Theil 1. Leipzig 1805, S. 50). 164 „[…] diese Veränderung ist so total, daß ich Straßburg in seinem jetzigen Zustande nicht wieder erkannt haben würde, wenn das herrliche Münster und der größte Theil der übrigen schönen Gebäude nicht noch auf ihrem alten Flecke ständen.“ (Aus dem Briefe eines Reisenden aus Straßburg, in: Magazin der Handels- und Gewerbskunde 1 [1803], Bd. II, S. 283). 165 „Das Papiergeld hat Frankreichs und in specie Straßburgs Ruin gemacht, und hier besonders allen Kredit, alles wechselseitige Zutrauen, das doch die Seele des Kommerzes ist, völlig hingerichtet. Kein hiesiger Kaufmann traut mehr dem andern; denn das Uebervortheilen ist jetzt immer an der Tagesordnung, und das gegenseitige Mistrauen ist unter der ganzen Bürgerschaft auf der höchstmöglichen Stufe.“ (ebd., S. 285). Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 137 moralität […] unter allen Klassen zugenommen“ 166 haben. Der moderne Bourgeois war geboren. 167 Drei Jahre später berichtet auch der Kasseler Jurist Philipp Ferdinand Brede, der sich auf der Durchreise nach Paris befand, von Straßburgs „Lebhaftigkeit“ als Ergebnis seiner „Gewerbsamkeit“. 168 Die Stadt habe sich in den letzten Jahren wirtschaftlich wieder erholt, 169 man erkenne dies an den vielen „glänzenden Buden“ 170 ; der „äußere Schein“ 171 spiele eine große Rolle. Die Werkstätten der Handwerker seien zur Straße hin geöffnet; mit den Ergebnissen ihres „sichtbaren Fleißes locken“ sie „Käufer an“; doch dies scheint ihnen nicht hinreichend zu sein, und so werben sie mit Tafeln, auf denen sich „volltönende vielversprechende Namen, riesenmäßige Buchstaben, kreischende Farben“ 172 finden. Kaufen und Verkaufen werden zu auffälligen Erscheinungen, selbst den Aufstieg auf den Münster begann man, wie Brede überrascht feststellt, als touristische Attraktion kommerziell zu vermarkten. 173 Angesichts dieser Modernitätserfahrungen sahen die Reisenden in den Straßburgern, die noch immer, unter ungleich schwierigeren Bedingungen als vor 166 Alle Zitate ebd., S. 284ff. 167 Vgl. Friedrich Schlegels zeitgleichen Bericht aus Metz in seiner Reise nach Frankreich. Überall sieht der Reisende nur Boutiquen, „alles scheint ein Gewerbe zu sein“; „ein allgemeines Kaufen und Verkaufen, Verzehren und Zubereiten“. „In jedem öffentlichen Orte, bei jedem öffentlichen Vergnügen ist der Glanz der Lichter fast das Wesentliche […].“ (F. Schlegel: Reise nach Frankreich [1803]. In: ders.: Kritische Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von J.-J. Anstett und H. Eichner. Bd. VII. München [u. a.] 1966, S. 69f.). - Siehe hierzu auch Ingrid und Günter Oesterle: Friedrich Schlegels Reise nach Frankreich als romantisch-ethnographisches Projekt. In: David E. Wellbery (Hrsg.): Kultur-Schreiben als romantisches Projekt. Würzburg 2012, S. 275-292. 168 Philipp Ferdinand Brede: Reise durch Teutschland, Frankreich und Holland im Jahr 1806. Bd. I. Göttingen: Dieterich 1807, S. 142. 169 „In den letztern Jahren hat sich Strasburg wieder sehr erholt; doch sind bei weitem noch nicht alle Wunden vernarbt.“ (ebd., S. 151). 170 Ebd., S. 142. 171 Ebd., S. 153. 172 Alle Zitate ebd., S. 154. 173 „Eine junge hübsche Frau […] öffnete uns die Pforte. Wir mußten an sie einen kleinen Tribut entrichten […]. Nachdem wir eine Weile gestiegen waren, langten wir auf einer sehr geräumigen Plateforme an, wo man gemächlich auf Bänken verschnauben und ein Glas Wein oder Bier zur Labung trinken konnte. Zugleich mußte hier ein zweites Entreegeld entrichtet werden. Man sieht hieraus, daß die Strasburger das Gelderheben verstehen […].“ (ebd., S. 159). - So auch Carl Gustav Carus 1821: „[…] wie die Tische und Bänke zeigen, scheint man hier nicht bloß an geistige, sondern auch an leibliche Genüsse sich zu halten. O Erwin von Steinbach! Darauf war dein Plan wohl nicht abgesehen! “ (Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Nach der zweibändigen Originalausgabe von 1865/ 66 neu herausgegeben von Elmar Jansen. 2 Bde. Weimar 1966, Bd. I, S. 385). 138 Uwe Hentschel der Revolution, die deutschen Traditionen pflegten, einen letzten Rest von Vertrautem, den es zu bewahren gelte. Faktisch wurden die Institutionen, die noch vor kurzem deutsche Sprache und Kultur verbreiteten, wie die Universität 174 und das deutsche Theater, aufgelöst, 175 so dass man bereits 1797 auf der Durchreise feststellen musste: „Diese Stadt und der hier herrschende Ton sind gänzlich französisch […].“ 176 Dennoch gaben die deutschen Reisenden nicht auf, im französischen Straßburg nach den deutschen Ursprüngen zu suchen - und es scheint, dass das Aufspüren des Alten im Modernen zunahm, je stärker der politische Einfluss Frankreichs im Ergebnis der napoleonischen Eroberung deutscher Gebiete wurde. Brede suchte und fand 1806 in Straßburg neben den Franzosen, die „hier natürlich das Übergewicht“ darstellten und „ganz à la maniere française“ lebten, auch noch „Strasburger vom alten Schrot und Korn“, die „noch sehr teutsch gesinnt und ungemein gutmüthig, einfach und bieder“ 177 waren. 178 „Ihre Antipathie gegen die Franzosen wird nicht so bald verschwinden und geht so weit, daß sie selbst ein unbescholtenes Mädchen, welches in Paris als Zofe sein Glück versuchen will, eine Hure nennen und beinahe anspeien.“ 179 Der Autor meint, es handle sich um „Vorurtheile“ von Menschen, die nur über einen „beschränkten Ideenkreis[es]“ 180 verfügten. 174 „Von der Universität erzählen Manche nicht viel Gutes.“ (ebd., S. 191f.). - „Von der Universität der Stadt Straßburg muß ich dir noch sagen, daß sie nun vollends zerfallen ist […].“ ([Joseph Maria Friedrich Piaggino: ] Reise eines Engländers durch einen Theil von Elsaß und Nieder-Schwaben. Amsterdam und Stockholm: Gräff 1793, S. 74). 175 „Das Deutsche als das minderbegünstigte mußte weichen. Denn wie konnte der Director es ertragen, von seinem kleinen Verdienste noch einen Theil (wie er verpflichtet war) an den Französischen Directeur abzugeben? “ (Gerhard Anton von Halem: Blicke auf einen Theil Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs bey einer Reise vom Jahre 1790. Hrsg. von Wolfgang Griep und Cord Sieberns. Bremen 1990, S. 295). 176 Frisch: Reise (Anm. 163), S. 178. 177 Brede: Reise (Anm.168), S. 152. 178 „In der Stadt fiel mir zuerst die Vermischung der beyden Sprachen auf; bald aber bemerkte ich, daß das Deutsche die herrschende ist. Eben so ist es mit den Gesichtern, der Kleidung, der Lebensweise, den Sitten und Gebräuchen; überall wird man nichts als deutsche Art, und deutsches Wesen gewahr. Gleichwohl ist Strasburg schon seit hundert und fünfundzwanzig Jahren eine französische Stadt. Aber hieran erkennt man die Macht des Eigenthümlichsten, was der Mensch besitzt, ich meine die Sprache, die Alles erhält, und Alles überlebt.“ (Kleine Bemerkungen auf einer Reise von Paris nach Venedig. In: Morgenblatt Nr. 291 vom 6. Dezember 1813, S. 1162). 179 Brede: Reise (Anm. 168), S. 152f. - Und weiter heißt es: „Paris selbst, dieses Paradies der Stutzer, der Schmecker, der Verschwender, der Gelehrten und Künstler, betrachten sie in ihrer drolligen Einfalt wie einen stinkenden Höllenpfuhl, der von Lastern wimmele.“ (ebd., S. 153). 180 Ebd. Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 139 Doch schon bald zeigte sich diese Frankophobie auch bei Autoren, die über die besetzten linksrheinischen Gebiete berichteten. Mit patriotisch-nationalromantischer Verve wird zum Beispiel von Karl August Varnhagen von Ense 1810 der Rhein als der deutsche Strom beschworen, der sich jetzt in Feindeshand befinde, 181 und auch daran erinnert, dass Straßburg einst zu den „glückliche[n] Städte[n]“ zählte, „wo Künste und Wissenschaften aller Art zu ungeheurer Höhe stiegen, Baukunst und Malerei, und die gesamte Gelehrsamkeit durch die Erfindung der Buchdruckerkunst“ 182 ihren Anfang nahm. Die Stadt in Feindeshand zu sehen, jetzt unter der „Herrschaft des französischen Kaisers“, der „Handel und Gewerbe, Freiheit und Lebhaftigkeit des Sinns, in todter, polizeilicher Ordnung ersterben macht“ 183 , schmerze und mache wütend. Und sofort erscheinen die bekannten Imagotype, mit denen man die Franzosen bereits im 18. Jahrhundert zu stigmatisieren suchte; da ist „von nichtiger Oberflächlichkeit“ 184 , „Leichtigkeit“ 185 , „Mangel an innerer Anschauung und an Tiefe und Größe der Empfindung“ 186 die Rede. Diejenigen Reisenden, die bis 1815 bei Kehl über den Rhein gingen und „trotz der nun schon so lange bestehenden französischen Herrschaft das alt Reichsbürgerliche in Strasburg“ 187 suchten 188 und sogar nach einem Sieg gegen Napoleon wiederherzustellen hofften, konnten sich zum Beispiel an den wortmächtigen Nationalromantiker Ernst Moritz Arndt anschließen. Auch er hatte die Stadt 181 „Wie bejammernswerth ist gegenwärtig das Schicksal dieses edlen Flusses! Fast ist er aus Deutschland verloren, überall überjochen ihn französische Brücken, selbst diesseits umklammern ihn französische Festungen! “ (Karl August Varnhagen von Ense: Paris 1810. Reisebericht aus Straßburg, Lothringen und Paris mit neun Briefen an den Autor von Henriette Mendelssohn. Hrsg. und mit einem Nachwort Nikolaus Gatter. Köln: Varnhagen-Gesellschaft 2013, S. 4). 182 Ebd., S. 3. 183 Ebd., S. 5. 184 Ebd., S. 33. 185 Ebd., S. 34. 186 Ebd., S. 36. 187 Karl August von Rade: Meine Flucht nach und aus Frankreich. Nebst der darauf folgenden dreymonatlichen Verhaftung. Leipzig: Kummer 1816, S. 142. 188 „In der Stadt fiel mir zuerst die Vermischung der beyden Sprachen auf; bald aber bemerkte ich, daß das Deutsche die herrschende ist. Eben so ist es mit den Gesichtern, der Kleidung, der Lebensweise, den Sitten und Gebräuchen; überall wird man nichts als deutsche Art, und deutsches Wesen gewahr. Gleichwohl ist Strasburg schon seit hundert und fünfundzwanzig Jahren eine französische Stadt.“ (Kleine Bemerkungen [Anm. 178], S. 1162). - „Wer etwa von Carlsruhe oder Stuttgart nach Strassburg reist, meint nicht in Frankreich einzutreten, sondern aus der Fremde in eine recht teutsche heimatliche Stadt zu kommen, so vertraut sehen einem Menschen und Häuser an, trotz angeklebten französischen Affichen und der umlaufenden Garnison.“ ( Jakob [sic] Grimm: Die Elsasser [1814]. Zitiert nach: Hermann Ludwig: Strassburg vor hundert Jahren. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Stuttgart: Frommann 1888, S. 342). 140 Uwe Hentschel mehrmals besucht, als ein Feind Frankreichs „im strengsten incognito“ 189 , und rief nun 1813 unter anderem in seiner Schrift Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze, seine Mitbürger auf, die okkupierten Landschaften und Kulturräume nicht aufzugeben. 190 Und so fragt er sie, gleichsam suggestiv zum Kampfe gegen die Franzosen aufrufend: Jene Denkmäler, welche eure ehrwürdigen und frommen Väter in Köln und Antwerpen, in Straßburg und Amsterdam dem Ewigen erbaut haben, das Gedächtnis eurer grauen Heldenzeit und so viele andere Heiligtümer eurer Art und Kunst wolltet ihr denen lassen […]? 191 Die Antwort gibt Arndt sogleich stellvertretend für das deutsche Volk: O nein! nein! Das wollt ihr nicht, das könnt ihr nicht wollen. Wahrlich, die Gebeine eurer Väter würden sich in ihren Gräbern umkehren und wehe! wehe! rufen über euch und über das Vaterland […]. Bleiben aber die Franzosen Herren am Rhein, bleiben Straßburg, Mainz, Köln, Aachen französische Städte mit französischen Besatzungen, Akademien, Theatern, so brauche ich kein Prophet zu sein, um zu weissagen, welche Menschen die Deutschen an dem diesseitigen Ufer nach hundert, ja nach fünfzig Jahren schon sein werden […]. 192 Groß war die Ernüchterung 1815 nach dem Wiener Kongreß. Zwar hatte man Napoleon besiegt, doch Straßburg kam dennoch nicht an Deutschland zurück. Hatte das Frankreich der neunziger Jahre bereits die Sonderstellung der Stadt aufgehoben und durch eine einheitliche Gesetzgebung die Straßburger eng an die Nation gebunden, so musste diese politische Entscheidung nun als Bestätigung dieser Einverleibung verstanden werden. 193 Ein Historiker wird fünfzig 189 Ernst Moritz Arndt: Erinnerungen aus meinem äußeren Leben. Leipzig: Weidmann 1840, S. 218. 190 Zum Reiseautor Arndt: Walter Erhart: Reisen durch das alte Europa. Ernst Moritz Arndts Reisen durch einen Theil Deutschlands, Ungarns und Frankreichs und die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Walter Erhart-/ Arne Koch (Hrsg.): Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Deutscher Nationalismus - Europa - Transatlantische Perspektiven. Tübingen 2007, S. 149-184. 191 Ernst Moritz Arndt: Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze [1813]. Mit einer zeitgemäßen Einleitung von Edgar Wildberg. Dresden: Reißnerer 1921, S. 73. 192 Ebd., S. 73 und S. 77. 193 „Die Lebensweise der Straßburger weicht von der der gegenseitigen Bewohner des Rheinufers schon sichtlich ab, und man merkt es recht gut, daß man französischen Boden betreten hat.“ (Louis Spohr: Lebenserinnerungen. Tutzing 1968, S. 216). - „Strasburg ist nun einhundertsechsundvierzig Jahre in französischer Gewalt, und die vornehmen Stände sprechen nur französisch; denn ein großer Theil der Einwohner und des Militairs sind wirkliche Franzosen; bei öffentlichen Acten, zum Beispiel durch die Anwalde vor Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 141 Jahre später schreiben, „der deutsche Elsässer“ sei in dieser Zeit „als Staatsbürger“ ein „moderner Franzose“ geworden: „In dieser Eigenschaft hat die große Masse des Volkes nebenbei dann auch alle Kenntniß und alles Verständniß des deutschen Staatslebens verloren.“ 194 Es gibt Reisende, die diese Einschätzung aus der Zeit heraus teilen; schon der Übertritt nach Frankreich bei Kehl mit seinem strengen und zugleich aufwändigen Grenzregime 195 lässt die Zäsur erahnen. Man machte Bekanntschaft mit einem ganz anderen bürgerlichen Leben; angesichts dessen musste es den alteingesessenen deutschen Geschlechtern in Straßburg zunehmend schwer fallen, an den hergebrachten Traditionen festzuhalten, so dass Eduard Johann Assmuth im September 1815 zu dem Ergebnis gelangte: „Des alten deutschen Ursprungs scheinen die Strassburger ganz vergessen zu haben, und traurig ist es, ein ächt germanisches Volk, wie die Elsässer es sind, mit französischer Bildung, französischer Sprache und Sitte erscheinen zu sehen.“ 196 Assmuth steht mit seiner Ansicht und seiner Trauer nicht allein; 197 andere sprechen gar von Gericht, muß französisch gesprochen werden; im Theater wird meist französisch gespielt sc.“ (Christian Gottfried Daniel Stein: Reise über Aachen, Brüssel nach Paris, Straßburg und Basel, durch Baden, Hessen, Franken und Thüringen. Leipzig: Hinrich 1828, S. 248f.). 194 W. H. Riehl: Elsässische Culturstudien. In: Historisches Taschenbuch 1 (1871), S. 62. 195 Wilhelm Christian Müller wollte nicht von Kehl nach Straßburg, weil er die „unangenehme Untersuchung der französischen Douaniers“ fürchtete (Wilhelm Christian Müller: Flug von der Nordsee zum Montblank, durch Westphalen, Niederrhein, Schwaben, die Schweiz, über Baiern, Franken, Niedersachsen zurück. Skizze zum Gemälde unserer Zeit. Theil 1. Altona: Hammerich 1821, S. 234). - Gottfried Müller beschreibt seine Erfahrungen bei Grenzübertritt: „Mit Elsass-französischer Miene - sehr stolz und feindselig - forderte man uns die Pässe ab, befahl unsere Reisesäcke zu öffnen, und nachdem wir lange genug gewartet hatten, wurde unser Gepäck mit wichtiger Amtsmiene besehen und uns sodann erlaubt, den Weg nach der Stadt anzutreten.“ (Gottfried Müller: Reise eines Philhellenen durch die Schweiz und Frankreich nach Griechenland und zurück durch die asiatische Türkei und Italien in seine Heimath. Theil 1. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Bamberg: Dresch 1826, S. 20). - „In der Präfektur, dem ehemaligen erzbischöflichen Pallaste, wurde mir mein Reisepass abgenommen, um voraus nach Paris geschickt zu werden.“ (Friedrich von Matthisson: Acht Tage in Paris. An den Fürsten von Anhalt-Dessau. 1803. In: Ders.: Erinnerungen. Theil 2. Zürich: Orell, Füssli 1810, S. 222). 196 Eduard Johann Assmuth: Reise durch Deutschland und die Schweiz 1815/ 16. Bearb. von Elisabeth Klein-/ Peter Wolfgang Klein. Marburg/ Lahn 1976, S. 190. 197 „Überhaupt sieht man in Straßburg so affektirt französische Sitten und Gebräuche nachahmen, daß es zum Eckel wird. Es scheint darauf abgesehen, alles, was deutschen Ursprunges ist, lächerlich oder gar abgeschmackt zu finden.“ (Müller: Reise [Anm. 195], S. 24). - „Hier war - das fühlte ich deutlich - nicht mehr Deutschland.“ (Otto Friedrich Wehrhahn: Umschau in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Leipzig: Reclam 1840, S. 126). 142 Uwe Hentschel „Missbehagen“ 198 und „Eckel“ 199 , sie verlassen die Stadt dann meist auch wieder recht schnell. 200 Dennoch gab es auch späterhin noch Reisende, die hinter all dem äußeren Schein, den „glänzenden Läden und Cafeʼs mit ihren französischen Schildern“ und der „Freiheit des Volkslebens auf den Gassen“, die „deutsche Stadt“ 201 erkennen wollten. Selbst 1845 kann man noch in Reiseschilderungen aus Deutschland Sätze mit nationalromantischem Impetus lesen, wobei „Worte des patriotischen Arndt“ 202 ausdrücklich zitiert werden. Straßburg sei für die Deutschen noch nicht verloren, so lange sich hier noch Spuren der althergebrachten Mentalität finden lassen: „Eine herrliche Stadt und die Menschen darin, wie deutsch noch! Wie leicht erkenntlich die echte schlichte, deutsche Art von der mehr verzierten und beweglichen wälschen? “ 203 Obgleich über den gesamtem Untersuchungszeitraum hinweg die Besichtigung des Straßburger Münsters für alle Reisenden die Krönung ihres Aufenthalts darstellte, wird er so recht erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „deutsches“ Bauwerk wahrgenommen, was einerseits der Aufwertung der mittelalterlichen Gotik durch die Romantiker, andererseits der erst jetzt einsetzenden Rezeption von Goethes Äußerungen zum Münster geschuldet sein könnte. 1812 erschien der zweite Teil seiner Autobiographie Aus meinem Leben, in dem er von seinem Aufenthalt in Straßburg erzählt, 204 und dann 1824 noch einmal sein Aufsatz aus dem Jahre 1773 Von Deutscher Baukunst in der Zeitschrift Kunst und Alterthum. 205 Jetzt erst wird das Bauwerk wieder zu einem „Denkmal deutscher Kraft“ erhoben, welches „deutschen, biederen Menschen als Heiligthum dienen möge“. 206 198 [Johann Daniel Mutzenbecher: ] Bemerkungen auf einer Reise aus Norddeutschland über Frankfurt nach dem südlichen Frankreich im Jahr 1819. Leipzig: Rein 1822, S. 91. 199 Müller: Reise (Anm. 195), S. 24. 200 „Wir eilten, den französischen Boden, auf dem es uns gar nicht gefallen hatte, heute früh wieder zu verlassen, setzten über den alten Rhein und gingen durch Kehl auf den Weg nach Baden.“ (Assmuth: Reise [Anm. 196], S. 190); - „[…] in der That, mir war darnach zu Muthe, unverzüglich wieder auf Deutschen Boden zu eilen.“ (Mutzenbecher: Bemerkungen [Anm. 198], S. 91f.). - „Wir besuchten noch einige Freunde […] und verließen bald die deutsche Stadt […].“ (Müller: Flug [Anm. 195], S. 245); „Wir beschlossen so bald wie möglich unsere Abreise […].“ (Müller: Reise [Anm. 195], S. 24). 201 Wehrhahn: Umschau (Anm. 197), S. 227. 202 August Kahlert: Reiseschilderungen aus Deutschland und der Schweiz, entworfen auf einer Reise im Sommer 1843. Breslau: Friedrich Aderholz 1845, S. 329. 203 Ebd., S. 330. 204 Erschien nochmals 1818 als Band 18 von Goethe’s Werken und dann in der Ausgabe letzter Hand (Bd. XXV, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1829). 205 Kunst und Alterthum 4 (1824), Heft 3, S. 12-31. 206 Assmuth: Reise (Anm. 196), S. 191. - Für Kahlert „nebst dem Dome zu Köln das herrlichste Werk der gothischen, richtiger deutschen Baukunst“ (Kahlert: Reiseschilderungen Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 143 Angesichts einer um sich greifenden modernen, französischen Lebenswelt erinnerte man 1815 wohl nicht zufällig daran, dass „die reingothische Kunst in Strasburg sich ausbildete, die man mit vollem Rechte die deutsche nennen kann, da sie, von deutschen Meistern gebildet, auf altdeutscher Stätte entsprang“. 207 Mit Erwin von Steinbach besitze auch „Deutschland […] seinen Shakespeare in der erhabensten der Künste, in der Baukunst“ 208 ; ja das Münster sei, „neben dem unvollendeten Kölner Dome, das größte Meisterwerk altdeutscher Baukunst“ 209 schlechthin. Um 1830 ging die Hochzeit der Reiseliteratur über die deutschsprachigen Regionen allmählich ihrem Ende entgegen, was ein Ergebnis veränderten Reiseverhaltens, des erstarkenden Bildmediums, vor allem jedoch einer Beschreibungssättigung war. Inzwischen waren alle Besonderheiten Straßburgs mehrmals und umfänglich beschrieben worden. Wer nicht durch eine eigentümliche Aussageabsicht, Darstellungsweise oder Anlage seiner Schrift auffiel, hatte kaum Aussicht, von der Kritik und den Lesern zur Kenntnis genommen zu werden. Bezeichnend dafür ist, dass der bayerische Reise- und Sachbuchautor Joachim Heinrich Jaeck 1824, in dem Jahr, in dem Goethes Beschreibung des Straßburger Münsters wiederholt erschien, „absichtlich“ und ausdrücklich auf eine solche verzichtete, da sie bereits „von vielen Neueren und Aelteren sehr umständlich geliefert“ 210 worden war. 211 Die wichtigsten Informationen für die Reisenden hielten seit einigen Jahren Touristenführer bereit, hier ist insbesondere auf Aloys Schreibers immer wieder aufgelegte Anleitung auf die nützlichste und genußvollste Art den Rhein von [Anm. 202], S. 324). 207 Von altdeutscher Baukunst. In: Zeitung für die elegante Welt Nr. 239 vom 4. Dezember 1815, S. 1909. 208 Gotthilf Heinrich von Schubert: Reise durch das südliche Frankreich und durch Italien. Bd. 1. Erlangen: Palm und Enke 1827, S. 19. 209 Karl Geib [d. i. Carl Goeppinger]: Taschenbuch der Rhein-Reise von Straßburg nach Düsseldorf mit Ausflügen in die benachbarten Städte. Mannheim: Heinrich Hoff 1841, S. 5. 210 Joachim Heinrich Jäck: Reise von Bamberg über Paris nach Boulogne [1824]. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1826, S. 30. 211 „Der Münster ist so oft und gut (am poetischsten wohl in Baggesens Reise) beschrieben worden, daß ich mich damit nicht versuchen werde.“ (Spohr: Lebenserinnerungen [Anm. 193], S. 213). Einige Werke seien aufgeführt: Beschreibung des Strasburger Münsters. In: Auswahl kleiner Reisebeschreibungen und anderer statistischen und geographischen Nachrichten. Bd. XVII. Leipzig: Schneider 1792, S. 46-62; O.: Das Strasburger Münster. Ein Fragment aus den Briefen eines Reisenden, in: Aurora. Zeitschrift aus dem südlichen Deutschland Nr. 65 und 66 vom 30. Mai und 1. Juni 1804, S. 257f. und S. 261f. - Wilhelm August Klütz: Anschauungen aus der Schweiz mit einem Anhange über den Straßburger Münster. Cöslin: Gedruck bei C. G. Hendeß 1832. 144 Uwe Hentschel Schafhausen bis Holland […] zu bereisen, zu verweisen, 212 ein Handbuch, 213 das später vom „Baedeker“-Reiseführer abgelöst wurde. Hatte jener festgestellt, dass allein die engen Straßen und hohen Häuser „noch an die ehemalige Deutsche Reichsstadt“ 214 erinnerten, so geht der Autor des Baedeker-Verlages, Johann Adam Klein, weiter, 215 wenn er bemerkt, „auch Sprache und Sitten des Bürgerstandes“ seien „nach anderthalb Jahrhunderten französischer Herrschaft deutsch geblieben“. 216 Es zeugt von dem im 19. Jahrhundert fortwährenden (reise-)publizistischen Ringen um Straßburg als eine „deutsche“ Stadt, welches mit den patriotisch Reisenden des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte, wenn Klein 1846 in einer für ein Sachbuch ungewöhnlichen Verve postuliert, die „deutsche Bevölkerung“ halte „so zäh und fest an ihrer Volksthümlichkeit“ fest, „daß noch nach Jahrhunderten die französischen Einwirkungen ohne Erfolg an ihr abgleiten werden“. 217 212 Aloys Schreiber: Anleitung auf die nützlichste und genußvollste Art den Rhein von Schafhausen bis Holland […] zu bereisen. Heidelberg: Joseph Engelmann 1826. 213 Das Buch erschien auch auch unter dem Titel: Handbuch für Reisende am Rhein von Schafhausen bis Holland. - Siehe auch: Neues Handbuch für Reisende am Rheine, enthaltend die Nachweisung alles Sehenswerthen im Gebiete dieses Stroms von der Quelle bis zur Mündung. Zweiter Abdruck. Elberfeld: Büschlersche Verlags-Buchhandlung 1826. 214 Schreiber: Anleitung (Anm. 212), S. 62. - Dies ist ein sich wiederholender Befund in der Reiseliteratur: „Hie und da gukt noch die alte reichsstädtische Bauart, mit krummen, engen, finstern Straßen, alten Häusern mit Vorsprüngen, oder Ueberhängen, wie man’s hier nennt, hervor […].“ (Ehrmann: Briefe [Anm. 10], S. 102f.). 215 Auch er schreibt: „Noch jetzt erscheint Straßburg in seinen äußern Umrissen nur als altdeutsche Reichsstadt […].“ ( Johann Adam Klein: Rheinreise von Basel bis Düsseldorf. Fünfte durchaus umgearbeitete Auflage. Koblenz: Karl Baedeker 1846, S. 9). 216 Ebd. 217 Ebd., S. 10. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber Stefan Knödler, Tübingen I. Eine „charakterisirende Anekdote“ Von Göthe erzählt man sich hier folgende ihn gewiss charakterisirende Anekdote: Er war bekanntlich ein grosser Bewunderer unseres herrlichen Münstergebäudes (sein Name befindet sich auf der Plattform eingehauen) u. stellte sich oftmals auf der Seite des grossen Portals, wo es sich am vollkommensten ausnimmt, staunend hin; einsmals soll er also mit übereinandergeschlagenen Armen, ganz in Bewunderung u. Träumen dagestanden haben, da fährt ein Karrenzieher hart an ihm vorüber, sein Liedchen pfeifend; Göthe dreht sich zürnend herum und gibt dem verblüfften Manne eine derbe Ohrfeige mit den Worten: „Willst Du staunen, Flegel“ u. weisst ihn mit der Hand den Münster. 1 Diese „charakterisirende Anekdote“ findet sich in einem Brief von August Stöber, damals Student der protestantischen Theologie in Straßburg, an Ludwig Uhland, den berühmten Dichter in Stuttgart, vom 17. November 1829. Sie enthält im Kern die beiden wichtigsten Fixpunkte eines spezifisch elsässisch-deutschen Selbstverständnisses, das um 1800 beginnt zu entstehen und das am prominentesten von August Stöber selbst, seinem Bruder Adolf sowie deren Vater Ehrenfried Stöber 2 propagiert wurde: das Straßburger Münster und Johann Wolfgang Goethes Anwesenheit in der Stadt. Goethes Straßburg-Aufenthalt wurde zu einem integralen Teil der elsässischen Folklore. Nach dem Bekanntwerden seines (von J. M. R. Lenz fortgesetzten) Werbens um Friederike Brion und der an sie gerichteten Gedichte, entstand bald ein Friederike-Kult und zahlreiche Wallfahrtsberichte aus Sesenheim sowie poetische Darstellungen, etwa Christoph Freieisens Roman Die beiden 1 August Stöber an Ludwig Uhland. Straßburg, 17. November 1829, DLA Marbach, A. Schwab/ Slg. Noltenius. Abgedruckt auch bei Karl Walter: Die Brüder Stöber. Colmar 1943, S. 80. 2 Der Nachname wird mit ö, oe und œ geschrieben; im Folgenden wird die Schreibung mit deutschem Umlaut verwendet, wie es auch die Stöbers selbst taten; auch bei der Schreibung der Vornamen wird die deutsche Schreibung verwendet, also August statt Auguste, Adolf statt Adolphe. 146 Stefan Knödler Friederiken in Sesenheim (1838), erschienen. 3 Auch der Rest von Stöbers Brief an Uhland handelt ausführlich von Goethe und dessen Straßburger Freunden. Er berichtet von „viele[n] Manuscripte[n]“, die es in Straßburg noch gebe: „So z. B. ein Manuscript Der natürlichen Tochter, die Uebersetzung des Bruchstückes aus Ossian, welches in Werther sich befindet; dieses letztere arbeitete Göthe für seine Friederike aus, mit welcher er Ossian lass, nach Friederikes Tode kam es an ihren Bruder der es einem meiner Verwandten hinterliess, von dem ich es endlich eroberte; so habe ich auch ein Exempl. von Shakspears Othello welches Göthe seinem Freunde Lerse schenkte und ihm einige Zeilen zur Erinnerung darin schrieb.“ 4 Stöber erwähnt außerdem zahlreiche Manuskripte aus Goethes Kreis - vor allem Briefe von Lenz. Tatsächlich betreibt August Stöber in der Folge Grundlagenforschung zu Goethe, vor allem aber zu Lenz, die noch heute relevant ist. 5 Merkwürdig übrigens, dass Stöber, als er mit seinen Goethe betreffenden Veröffentlichungen hervortritt, nie versucht hat, Kontakt zu dem noch lebenden Goethe aufzunehmen; der Straßburger Dichterkreis behandelt Goethe ganz als etwas Vergangenes, als Teil der eigenen Vergangenheit. „Charakterisirend“ ist Stöbers Anekdote also weniger für Goethe (dem man die grobe Schelle für den arglosen Karrenzieher kaum zutraut), sondern vielmehr für Stöber selbst für dessen Verehrung Goethes und für seine Bewunderung des Straßburger Münsters, die durchaus etwas Einseitiges haben. Das Straßburger Münster wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Symbol der deutsch-elsässischen Identität. Es ist dabei, wie es ja auch die von Stöber erzählte Anekdote zeigt, eng mit Goethe verknüpft. Nicht nur hat sich Goethes Gegenwart an diesem wichtigsten Gebäude des Elsass manifestiert, indem sein Name auf der Münsterplattform in Stein gemeißelt steht. 6 Der verehrte Dichter hat mit seinem Prosahymnus Von deutscher Baukunst dem Münster 3 Vgl. zum populären Nachleben Wilhelm Bode: Die Schicksale der Friederike Brion vor und nach ihrem Tode. Berlin 1920 (zu Stöber S. 80-82); Raymond Matzen: Goethe, Friederike und Sesenheim. Kehl [u. a.] 1983; Helmut Koopmann: Willkomm und Abschied. Goethe und Friederike Brion. München 2014. 4 August Stöber an Ludwig Uhland. Straßburg, 17. November 1829, DLA Marbach, A. Schwab/ Slg. Noltenius. 5 Vgl. etwa August Stöber (Hrsg.): Gedichte an Friedericke von Goethe. (Aus dem Original-Manuscript mitgetheilt.) 1770. In: Deutscher Musenalmanach für das 1838. Leipzig [1837], S. 1-7. Im Zentrum von Stöbers Beschäftigung mit Lenz steht: Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen Quellen; nebst Gedichten und Anderm von Lenz und Goethe. Basel 1842; zu den sieben anderen Veröffentlichungen vgl. Julia Freytag- / Inge Stephan- / Hans-Gerd Winter (Hrsg.): J. M. R.-Lenz-Handbuch. Berlin und Boston/ MA 2017, S. 713. 6 Abgebildet in Ernst Beutler: Von deutscher Baukunst. Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach. Seine Entstehung und Wirkung. München 1943, gegenüber von S. 65; Goethes Name steht neben 19 anderen seiner Straßburger Freunde. Die Inschrift ist auf 1776 da- Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 147 und seinem Erbauer Erwin von Steinbach, den er zu einem Sturm-und-Drang- Genie stilisiert hat, auch einen festen Ort in der deutschen Kulturgeschichte gegeben und so einen Meister-Erwin-Kult begründet, dem auch die Stöbers ausgiebig huldigten. Goethes Von deutsche Baukunst 7 prägte für lange Zeit die Wahrnehmung des Münsters, 8 auch in seiner Deutung als Ausdruck eines gotischen, mittelalterlichen Stils, den Goethe als die wahre „deutsche Baukunst“ feiert und gegen einen ‚französischen‘, klassizistischen und also an der Antike orientierten Stils abgrenzt. Angeregt von Goethe, wird das Straßburger Münster als das zentrale Sinnbild des elsässisch-deutschen Selbstverständnisses etabliert; dies geschieht maßgeblich durch die Bemühungen von Ehrenfried Stöber (1779 bis 1835) und seinen beiden Söhne August (1808 bis 1884) und Adolf (1810 bis 1892). II. Die Stöbers und das deutsch-elsässische Selbstbewusstsein Ehrenfried, August und Adolf Stöber gehören sicherlich zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichtern des Elsass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Weltbild, das ihren Veröffentlichungen zugrunde liegt, ist einigermaßen homogen. Mit Gedichten und Aufsätzen, Arbeiten zu Geschichte, Dialekt und Literatur des Landes sowie mit der Herausgabe von verschiedenen Sammlungen von Sagen und anderen Volksüberlieferungen schufen sie die Grundlage eines an Deutschland ausgerichteten elsässischen Selbstbewusstseins. Ihre Wirkung blieb auf das Elsass beschränkt, wo auch die literaturwissenschaftliche Forschung zu den Stöbers entstanden und erschienen ist. 9 Zwar ist ihr Andenken im Elsass auch heute noch lebendig - so gibt es die Fontaine Stoeber auf der Place du Vieux Marché aux Vins in Straßburg, dem Geburtsort der drei Dichter, vereinzelt werden auch die Sagensammlungen von August wieder aufgelegt, 10 tiert, der Auftrag an den Steinmetz erfolgte vermutlich von J. M. R. Lenz ohne Goethes Beteiligung. 7 Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst (1773). In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757-1775. Hrsg. von Gerhard Sauder. München 1987, S. 415-423. 8 Vgl. Ernst Beutler: Von deutscher Baukunst (Anm. 6); Harald Keller: Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster und die Wiedererweckung der Gotik im 18. Jahrhundert 1772/ 1972. München 1974; Reinhard Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster. Zum Wissenschaftsbild der Kunst. Leipzig 1985. 9 Vgl. Henri Ehrismann: Auguste Stœber. Sa Vie et ses Œuvres. Mulhouse 1887; Ernst Martin: August Stöber. Leben und Schriften. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Litteratur Elsass-Lothringens IX (1893), S. 129-148; Karl Walter: Die Brüder Stöber (wie Anm. 1; ideologisch bedenklich); Marie-Louise Witt-/ Pierre Erny: Les Stoeber. Poètes et premiers folkloristes de l’Alsace. Colmar 2002. 10 Zuletzt: Die Sagen des Elsasses. Anthologie bilingue d’après Auguste Stoeber. Hrsg. von Günter Lipowski und Daniel Morgen. Colmar 2009; Légendes d’Alsace. Übersetzt von 148 Stefan Knödler im Rest Frankreichs finden und fanden sie allerdings kaum Beachtung, und auch in Deutschland sind sie bald in Vergessenheit geraten, fehlen ihre Gedichte in den einschlägigen Anthologien. 11 Dabei waren die Stöbers wenigstens im südwestdeutschen Raum gut vernetzt, hatten zahlreiche Kontakte nach Baden, in die Schweiz sowie nach Württemberg, und ihre Gedichte erschienen auch in überregionalen Periodika wie dem Morgenblatt für gebildete Stände oder dem Deutschen Musenalmanach. Ihre zunehmend auf regionale Themen beschränkte Arbeit, so verdienstvoll sie ist, verhinderte größeren, deutschlandweiten Ruhm. Der Vater der Brüder August und Adolf, Daniel Ehrenfried Stöber, steht am Anfang der neueren elsässischen Literatur. Schon in jungen Jahren, 1797, hatte er eine „Literarische Gesellschaft alsatischer Freunde“ in Straßburg gegründet. Seine eigenen Gedichte sind epigonal, vom Göttinger Hain, Goethe und anderen beeinflusst, aber das von ihm zwischen 1806 und 1808 herausgegebene Alsatische Taschenbuch und seine Sammlung Lyrische Gedichte (1811) kündigen mit Gedichten zu elsässischen Gegenständen, wie Reformationslied, An Oberlins Grabe oder dem Lied auf den Vogesen zu singen, 12 Stöbers thematische Eigenständigkeit an. Die von Stöber 1817 begründete „Monatsschrift“ Alsa enthielt dann Gedichte, Aufsätze und Beiträge fast ausschließlich zu elsässischen Themen, und nachdem 1816 mit Der Pfingstmontag von Eulogius Schreiber ein erstes - von Goethe gelobtes - bedeutendes Werk der elsässischen (Dialekt-)Literatur erschienen war, veröffentlichte auch Ehrenfried Stöber unter dem Pseudonym „Vetter Daniel“ ein Neujahrsbüchlein in Elsässer Mundart (1818) sowie ein Dialektstück, Daniel oder der Straßburger auf Probe (1823). Ehrenfried Stöbers Interesse für das Elsässische und seine Hinwendung zur deutschen Literatur waren dabei keineswegs, wie in anderen Fällen, mit einer frankophoben Haltung verbunden, vielmehr trat er auch als Vermittler auf und übersetzte unter anderem Rousseaus „lyrische Szene“ Pygmalion, 13 Raynouards Drama Les Templiers 14 sowie die drei Romane Chateaubriands 15 ins Deutsche. Paul Desfeuilles. Hrsg. von Françoise Morvan. Rennes 2010. 11 Einzige Ausnahme: August Stöber: Das Münster in der Sternennacht. In: Gustav Noll: Arsenal. Poesie deutscher Minderdichter vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgewählt, bearbeitet, eingeleitet, mit Dichterbiographien versehen und hrsg. von Bernd Thum. Berlin 1973, S. 133. Sowohl der Gegenstand dieser schönen Anthologie als auch das fast 50 Jahre zurückliegende Publikationsdatum sind sprechend. 12 Ehrenfried Stöber: Reformationslied. In: Lyrische Gedichte. Straßburg 1811, S. 27-29; An Oberlins Grabe, S. 68-71, Lied auf den Vogesen zu singen, S. 97-100. 13 Ehrenfried Stöber Pygmalion. In: ebd., S. 101-118. 14 François Raynouard: Die Tempelherren. Ein Trauerspiel, nach dem Französischen metrisch übersetzt. Straßburg 1805. 15 François-René de Chateaubriand: Atala. René. Der Letzte der Abenceragen. Drei Romane. Übersetzt von Ehrenfried Stöber. Straßburg 1826. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 149 Ehrenfrieds Söhne August und Adolf Stöber traten in seine Fußstapfen und erweiterten den Radius, in dem sich ihr Vater bewegt hatte, noch. August Stöber studierte zwischen 1828 und 1834 protestantische Theologie in Straßburg, promovierte 1834 mit einer Arbeit über Geiler von Kaisersberg, den Prediger des Straßburger Münsters, 16 war ab 1838 Lehrer an der Mädchenschule von Oberbronn, ab 1841 am Collège in Mühlhausen tätig, engagierte sich im kulturellen Leben der Stadt, war Vorstand des Musée Historique und Stadtbibliothekar. 17 Er gilt als „der beste Dichter seiner Generation“, 18 zu seinen literarischen Veröffentlichungen gehören Alsatisches Vergißmeinnicht (1835) und die gemeinsam mit seinem Bruder verfassten Alsa-Bilder (1836) sowie zwei Ausgaben Gedichte (1842, 1867). Neben seinen Dichtungen und den bereits erwähnten literaturhistorischen Forschungen entstanden unter dem Einfluss der Brüder Grimm 19 und Ludwig Uhlands 20 zahlreiche Sammlungen wie Oberrheinisches bzw. Elsässisches Sagenbuch 21 (1842), Elsässisches Volksbüchlein (1842) und Proben aus einem elsässischen Idiotikon (1846). 22 Augusts jüngerer Bruder Adolf steht in dessen Schatten. Als Pfarrer zunächst in Metz, dann in Oberbronn und Mühlhausen, hielt er sich meist in der Nähe des Bruders auf und publizierte zahlreiche Werke mit diesem zusammen. Zwar veröffentlichte auch er einen Band mit Gedichten (1845), der Großteil seines Werks besteht jedoch aus theologischen Veröffentlichungen. Literarisch orientierten sich die elsässischen Dichter um die Stöbers an den älteren Dichtern und Gelehrten aus dem Elsass und den deutschsprachigen Nachbarländern, also an dem Colmarer Gottlieb Konrad Pfeffel (1736 bis 1809), an Johann Friedrich Oberlin (1740 bis 1826) oder dem Badener Johann Peter Hebel (1760 bis 1826), 23 später unterhielt man auch Kontakte in die Schweiz, zu Heinrich Zschokke und zu Jeremias Gotthelf. 24 Auch die Dichter aus Württemberg waren wichtige Bezugspunkte: Uhland ebenso wie Justinus Kerner und 16 August Stöber: Essai historique et littéraire sur la vie et les sermons de Jean Geiler, de Kaisersberg. Dissertation […]. Straßburg 1834. 17 Vgl. zur Sonderstellung von Mühlhausen Witt-/ Erny: Les Stœber (Anm. 9), S. 36-39. 18 Vogler: Geschichte des Elsass. Stuttgart 2012, S. 151. 19 Vgl. Witt- / Erny: Les Stœber (Anm. 9), S. 31-35; Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 172-197. 20 Vgl. Karl Walter: Uhlands Beziehungen zum Elsaß. In: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 1912, S. 501-519. 21 August Stöber (Hrsg.): Oberrheinisches Sagenbuch. Heidelberg und Straßburg 1842; Elsässisches Sagenbuch. Straßburg 1842. Die beiden Ausgaben sind bis auf das Titelblatt und Teile des Vorworts identisch. 22 Vgl. zu Stöbers Plänen Ehrismann: Auguste Stœber (Anm. 9), S. 47-55. 23 Vgl. vgl. Frey-/ Erny: Les Stœber (Anm. 9), S. 60-69. 24 Vgl. Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 157-171 und Karl Walter: Jeremias Gotthelf und das Elsass. Briefe um die „Elässischen Neujahrsblätter“. Colmar [1841]. 150 Stefan Knödler Gustav Schwab oder der Literaturkritiker Wolfgang Menzel. 25 Uhland war für die Brüder Stöber sicherlich der wichtigste Einfluss, als Dichter wie als Forscher. 26 Stöber versprach sich von Uhland auch Publikationsmöglichkeiten in Deutschland. Zu diesem Zweck wendete er sich nur wenige Tage nach dem oben zitierten Brief auch an Gustav Schwab, den Redakteur des Morgenblatts. 27 Seine Bemühungen hatten Erfolg: Nicht nur erschienen Gedichte von ihm im Morgenblatt für gebildete Stände, 28 auch rezensierte Schwab die Alsa-Bilder und das Münsterbüchlein in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur. 29 Mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf Deutschland manövrierten sich die elsässischen Dichter indes zunehmend ins Abseits. Bereits ab den 1820er Jahren hatten sich im Land französischsprachige Zeitschriften wie die Bibliotheque allemande (ab 1826), die Revue germanique (ab 1829) oder die Revue d’Alsace (ab 1834) gegründet, die sich kulturell an Frankreich ausrichteten. 30 Dabei gab es eine intensive Diskussion darüber, was die Sprache des Elsass sein könnte, wobei sich als pragmatischste Lösung eine Hinwendung zu Frankreich abzeichnete. Die Brüder Stöber jedoch blieben dem von ihrem Vater Ehrenfried Stöber in dem Gedicht Wie ich’s meine formulierten Motto treu: Meine Leier ist deutsch, sie klingt von deutschen Gesängen Liebend den gallischen Hahn, treu ist französisch noch mein Schwert. Mag es über den Rhein und über den Wasgau ertönen, Elsass heisset mein Land! Elsass dir pocht mein Herz! 31 25 Vgl. Ehrismann: Auguste Stœber (Anm. 9), S. 38f.; Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 71-87. 26 Vgl. Ernst Martin: Briefe von Ludwig Uhland an August Stöber. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literattur Elsass-Lothringens I (1885), S. 20-24; Karl Walter: Uhlands Beziehungen zum Elsaß (Anm. 20); Emil Wendling-Zabern: Uhlands Beziehungen zum Elsaß. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens XXIX (1913), S. 91-127. 27 Vgl. Karl Walter (Hrsg.): Die Brüder Stöber und Gustav Schwab. Briefe einer elsässischschwäbischen Dichterfreundschaft. Im Anhang Briefe von Karl Candidus, Daniel Hietz und Friedrich Otte an Gustav Schwab, Frankfurt am Main 1930; zu den Gedichten der Stöbers im Morgenblatt vgl. Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 233f. 28 Vgl. Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 233f. 29 Vgl. Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Nr. 72, 1836, S. 1141-1143; Schwab rechnet die Brüder Stöber der „Uhland’schen Schule“ zu (ebd., S. 1141). 30 Vgl. Paul Rowe: A Mirror on the Rhine? The „Nouvelle revue germanique“. Strasbourg 1829-1837. Bern 2000 [French Studies. Bd. II], S. 29-31. 31 Zitiert nach Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 20. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 151 III. Das Straßburger Münster in der deutschen Literatur der Romantik Das Straßburger Münster nimmt in den Dichtungen der Stöbers und ihres Kreises eine zentrale Stellung ein - weniger als religiöses Symbol (was daran liegen mag, dass das Münster katholisch, 32 die Stöbers aber protestantisch waren), sondern als nationales, als deutsches wie elsässisches (und eben nicht französisches) Symbol. Das Münster ist seit Goethes Von deutscher Baukunst kein neues Thema mehr in der deutschen Literatur, 33 auch in den Werken der vom Mittelalter begeisterten Romantiker wird es in eine spezifisch deutsche Kunstgeschichte eingeordnet und kommt auf diese Weise in Ludwig Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) ebenso vor wie in Achim von Arnims historischem Roman Die Kronenwächter (1817) oder in Clemens Brentanos Aus der Chronika eines fahrenden Schülers (1818); auch bei Joseph Görres und in der Diskussion um die Fertigstellung des Kölner Doms spielt das Straßburger Münster eine wichtige Rolle. 34 Übrigens ist diese Sicht auf das Münster - bis zum Neubau des Turmes von St. Nikolai in Hamburg im Jahr 1874 das höchste Bauwerk der Welt - nicht den Deutschen vorbehalten. Auch Edgar Quinet, Jules Michelet oder Victor Hugo verstehen das Münster als den Ausdruck eines „génie allemand“. 35 Ehrenfried Stöber ist der erste, der das Straßburger Münster in seinem elsässischen Kontext sieht und in das Zentrum des elsässischen Selbstverständnisses stellt. Drei Beispiele in Stöbers Sammlung seiner Gedichte von 1821 sollen zeigen, auf welche Art und Weise dies geschieht. In dem ersten, Straßburgs Jubelfeyer der Reformation, 36 kommt das Münster zwar noch nicht vor, aber es 32 Das Münster war zwar von 1524-1681 protestantisch, seither - mit einem heidnischen Intermezzo während der Französischen Revolution - ist es katholisch. 33 Vgl. grundsätzlich: Frédéric Hartweg: Das Straßburger Münster. In: Etienne François- / Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte III. München 2001, S. 408-421; Luzian Pfleger (Hrsg.): Das Straßburger Münster und die deutsche Dichtung. Ein literaturhistorischer Versuch. Straßburg 1909; Paul Bastier: Les Pèlerins de la Cathédrale à Strasbourg. Anthologie littéraire de XV e à nos jours. Avec la traduction des textes étrangers et des notes biographiques. Paris und Straßburg [1939]. Zur älteren Wahrnehmung vgl. Jörg Jochen Berns: Prinz aller Hohen Türm’. Notizen zur literarischen Wahrnehmung des Straßburger Münsters in der Frühen Neuzeit. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989), S. 83-102. 34 Vgl. etwa Joseph Görres: Der Dom von Köln und das Münster von Strasburg (1842). In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Bd. XVII: Schriften zum Kölner Ereignis. Dritter Teil. Bearb. und hrsg. von Bernd Wacker. Paderborn [u. a.] 2006. 35 Vgl. Hartweg: Das Straßburger Münster (Anm. 33), S. 413f.; das Zitat findet sich in dem Kapitel über Henri Heine in: Edgar Quinet: Allemagne et Italie. In: Œuvres complètes. Reprint Genf 1990, Bd. VII, S. 173-274, hier S. 213. 36 Ehrenfried Stöber: Straßburgs Jubelfeyer der Reformation. In: ders.: Gedichte. 3. verbesserte und vermehrte Auflage. Stuttgart und Tübingen 1821, S. 169-175; das Gedicht ist 152 Stefan Knödler kann als Beispiel dafür dienen, wie Stöber die elsässische Geschichte synkretistisch konstruiert. Zum einen zieht er eine Linie von den Weisheitslehrern der Antike, namentlich von Sokrates, über Christus und Luther bis in seine eigene Gegenwart: Der religiös-aufgeklärte Zweck des Gedichts ist so „der Wahrheit Jubelfeier“, 37 es wendet sich allgemeiner gegen den Aberglauben aller Zeiten, und konkret gegen den des 18. Jahrhunderts. Der aktuelle Bezug dürften die damaligen Versuche Frankreichs sein, den Katholizismus im Elsass zu stärken. Ergänzt wird diese Traditionslinie durch eine zeitlich weniger weit zurückreichende von Predigern und Theologen aus Straßburg: über Johann Geiler von Kaysersberg (1445 bis 1510), Jakob Wimpfeling (1450 bis 1528), den Reformator Martin Bucer (1491 bis 1551) bis hin zum ‚elsässischen Kirchenvater‘ und Lehrer Stöbers, Johann Lorenz Blessig (1747 bis 1816). Die im hochgestimmten Ton verfasste Hymne endet mit dem Lob der vom Aberglauben befreiten Vaterstadt. Das zweite Beispiel, Der Elsasser. Auf dem Straßburger Münster, 38 ist im elsässischen Dialekt verfasst und gehört zu Stöbers populärsten Gedichten. Als religiöser Ort erscheint das Münster hier gar nicht, es geht allein um die Aussicht von der Turmplattform, die dabei zum Mittelpunkt des Elsass wird, von dem aus man alle Gegenden und Städte des Landes sehen kann. Zahlreiche humorige Einsprengsel („I kinnt e Fässel leere“ 39 ) und die Schlussverse der ersten Strophe - „’S Elsaß isch gar zu scheen! “ 40 - wie der letzten Strophe - „’S Elsaß soll lewe Hoch! “ 41 -, die als eine Art Refrain funktionieren, machen das Gedicht eingängig und zielen darauf, seine patriotische Botschaft populär zu machen. Auch das dritte Beispiel, die „lyrische Scene“ Der Sommerabend auf dem Straßburger Münster, 42 ist auf der Münsterplattform angesiedelt. In rokokohaften Wechsel- und Sologesängen wird ein Abend mit Sonnenuntergang, Gewitter und Sturm geschildert, um am Ende in einem „dreistimmigen Gesang“ Gott und das Vaterland zu loben. Dem Ganzen ist ein Satz aus Goethes Von deutscher Baukunst vorangestellt: auch separat erschienen (Straßburg 1817) und wird dabei gerahmt von einer „Vorrede“ (ebd., S. I-VIII) sowie umfangreichen „Anmerkungen“ (S. 16-31); Stöber betont darin das Rebellische des Protestantismus gegen eine „herrschsüchtige Priesterreligion“ und sieht ihn als „Wiederherstellung (Restauration) des Christenthums“ (S. VII). 37 Ebd., S. 169. 38 Ehrenfried Stöber: Der Elsasser. Auf dem Straßburger Münster. In elsässischer Mundart. In: ebd., S. 180-184. 39 Ebd., S. 183. 40 Ebd., S. 180. 41 Ebd., S. 184. 42 Ehrenfried Stöber: Der Sommerabend auf dem Straßburger Münster. Lyrische Scene. In: ebd., S. 205-218. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 153 Von der Stufe, auf welche Erwin gestiegen ist, wird ihn keiner herabstoßen. Hier steht sein Werk, tretet hin und erkennt das tiefste Gefühl der Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse, wirkend aus starker, rauher, deutscher Seele auf dem eingeschränkten, düstern Pfaffenschauspiel des Mittelalters. 43 Stöbers lyrische Szene nimmt nichts von diesem Zitat wieder auf: weder das Staunen vor der erhabenen Schönheit des Münsterturms noch die Betonung seiner Deutschheit noch den Kontrast zur dunklen abergläubischen Frömmigkeit des Mittelalters, in dem er entstanden ist. Zwar verwendet Stöber wie Goethe Naturbilder, um den Turm zu beschreiben („der heilge Fels“ 44 ), auch erscheint dieser als „Des Landes Schmuck, die Tochter Erwins“ 45 und gar als „Erwin’s Scheitel“; 46 aber sonst kehren eher Elemente aus den anderen beiden Gedichten wieder: Er beschreibt ebenfalls ausführlich den Blick in das Land - „Schönes Elsaß! “ 47 und „Stolz Alsatia“ 48 - und auch hier wird das Münster in einen geschichtlichen Prozess von den alemannischen „Eichenhainen“, der Verteidigung des Landes gegen die eindringenden Römer über die Christianisierung bis hin zu Erwin von Steinbach eingeordnet. 49 Der Münsterturm erscheint sowohl als der Mittelpunkt des Elsass wie auch als der Höhepunkt der elsässischen Kultur und als Fixpunkt der elsässischen Identität. IV. Selbstbewusstsein und Abgrenzung Die Selbstversicherung in der alemannischen Sprachtradition wie in der aufgeklärten und protestantischen Geschichte des Elsass wird von Ehrenfried Stöbers Söhnen noch forciert; das liegt auch an den historischen Entwicklungen spätestens ab den 1820er Jahren. Geographisch wie kulturell war das Elsass im frühen 19. Jahrhundert doppelt isoliert. Durch die Vogesen war es vom Rest Frankreichs abgetrennt, das es regierte; durch den Rhein von Deutschland, dem es nicht angehörte. Kulturell fühlten sich die Stöbers Deutschland, politisch eher Frankreich zugehörig, die Revolutionen von 1830 und von 1848 hatten 43 Ebd., S. 206; vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst (Anm. 7), S. 421; statt „Mittelalter“ heißt es dort: „medii aevi“. 44 Ebd., S. 208. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 216. 47 Ebd., S. 210. 48 Ebd., S. 211. 49 Die historische Schilderung wird noch ergänzt durch eine historische Erklärung am Ende des Bandes, ebd., S. 265. 154 Stefan Knödler sie enthusiastisch begrüßt. 50 Religiös waren die Stöbers Teil einer Minderheit, die Staatsreligion war die katholische und in der Region standen sie mit etwa 200.000 Protestanten 400.000 Katholiken gegenüber. 51 Schwerer als die geographische und religiöse Isolation wog jedoch die sprachliche: Vor der Revolution konnte nur etwa ein Prozent der Elsässer Bevölkerung fließend Französisch sprechen, 52 was sich im zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zumindest in den größeren Städten, schnell änderte, da die Regierung bemüht war, das Elsass zu französisieren 53 - was die Stöbers zunehmend isolierte. Diese Bemühungen, das Elsass kulturell und sprachlich an Frankreich zu binden, zeigten in den 1820ern und 1830ern Jahren erste Wirkungen. August Stöber verfasste im Jahr 1831 eine Reihe von Korrespondenz-Nachrichten aus Straßburg für das Morgenblatt für gebildete Stände. 54 Seinen deutschen Lesern versichert er darin, dass in Straßburg „noch immer das deutsche Wort von fast allen Lippen erschallt“ und der „deutsche Sinn“ bewahrt sei. 55 Stöbers Hass gilt dabei weniger Frankreich als den „ekelhaften Windbeutel[n]“ und „Franzosenthümlern“, die, obwohl deutsch erzogen, vergeblich versuchten, sich „französische Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit“ anzueignen. 56 Vor allem die Katholiken, die überwiegend das französische Collège besuchten, nähmen französische Sitten an, wohingegen die protestantischen Theologen (zu denen die Stöbers gehörten) und das deutschsprachige Gymnasium die „deutsche Burschikosität“ in der Region bewahrten. Auch die deutsche Literatur habe dort ihren Ort: Der Einfluss „Bürgers, Höltys, Matthissons u. a.“ sei (1831! ) weiterhin groß, Stöbers Idol Uhland „noch immer nicht genug bekannt und geliebt“. 57 Stöber betont, dass gerade die deutschen Elsässer glühende Anhänger der Julirevolution gewesen seien, aber es läge eher an der deutschen Politik als an der französischen, dass man sich noch an Paris halte: „Ja, so gerne wir Elsäßer dem französischen Staat angehören, und so wacker wir auch für ihn kämpfen würden, so bleibt doch gewiß, daß, wenn wir einmal die Deutschen in politischer Hinsicht zu beneiden hätten, die Bande, die uns an Frankreich binden, ziemlich lose würden.“ 58 Seine Botschaft an die Leser des deutschen Morgenblatts: Straßburg 50 Vgl. Vogler: Geschichte des Elsass (Anm. 18), S. 142; vgl. Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 64-69. 51 Vgl. Witt-/ Erny: Les Stœber (Anm. 9), S. 26-30. 52 Vgl. Vogler: Geschichte des Elsass (Anm. 18), S. 126. 53 Vgl. ebd., S. 135-139. 54 Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 49f. 55 August Stöber: Korrespondenz-Nachricht. Ueber den deutschen Sinn der Straßburger. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 147, 21. Juni 1831, S. 588. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. Hervorhebungen im Original. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 155 bleibt deutsch - Garant dafür seien die „vielen[n] Denkmale deutscher Kunst, und vor allem unser[] Münster, der wie ein frommer, getreuer Wächter den französischen Tand von uns entfernt und in seinem grauen Ernst an die deutsche Kraft mahnt, die ihn selbst, den Riesensohn, geboren hat.“ 59 In einer weiteren Korrespondenz-Nachricht berichtet Stöber von dem Besuch König Louis Philippes in Straßburg. Auch hier geht es nicht ohne das elsässische Wahrzeichen: „Auch unsern Münster bestieg der König mit seinen Söhnen, und sein Blick verweilte mit Wohlgefallen auf dem herrlichen Rheintale, das in üppiger Fruchtbarkeit und Reichthum auf der einen Seite vom Wasgau, auf der andern vom Schwarzwalde rings umschlossen, wie ein paradiesischer Garten sich vor seinen Augen ausbreitet.“ 60 Sogar die Tafel, auf der die Namen der „deutschen Männer“ um Goethe stehen, habe der König gesehen. Besonders lobt Stöber den Herzog von Orleans, dessen Deutsch so gut sei, dass er sogar Arnolds Pfingstmontag gelesen habe. 61 Stöbers Äußerungen sind Teil einer im Elsass mitunter heftig geführten Debatte, bei der es vor allem um den Status des Elsässischen und des Deutschen ging. 62 Sie stießen bald auf Widerspruch: In einer weiteren Korrespondenz-Nachricht aus Straßburg 63 berichtet ein ungenannter Verfasser, man habe Stöbers Bericht vom Besuch des Königs „lächerlich“ gefunden. Es stimme nicht, dass die Straßburger „bedauerten, nicht mehr zu Deutschland zu gehören“; die das täten, seien eine „sehr unbedeutende Minderzahl“. Der Großteil „spricht und schäzt die deutsche Sprache“, sei aber bemüht, „französische Sitte und Denkungsweise anzunehmen“. 64 Stöber bekennt im Anschluss noch einmal seine „Anhänglichkeit an den französischen Staat“ und bekräftigt seinen Willen, „an deutscher Art und Sitte festzuhalten, zu denken und zu sprechen und sich an der deutschen Literatur vorzugsweise zu erfreuen“. 65 Man merkt in der Heftigkeit seiner Replik an, dass er und die deutschen Elsässer insgesamt zunehmend unter Druck gerieten. Am 24. August 1832 erscheint ein Gedicht im Morgenblatt, das Stöbers Angst vor dem Verlust der deutsch-elsässischen Kultur eindrucksvoll veranschaulicht, 59 Ebd. 60 August Stöber: Korrespondenz-Nachricht. Ludwig Philipp und das deutsche Elsaß. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 161, 7. Juli 1831, S. 644. 61 Ebd. 62 Vgl. Eugène Philipps: Les Luttes linguistiques en Alsace jusqu’en 1945. Straßburg 1975, S. 83-125. 63 Korrespondenz-Nachricht. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 234, 30. September 1831, S. 936. 64 Ebd. 65 August Stöber: Sind die Straßburger Deutsche? Korrespondenz-Nachricht. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 253, 22. Oktober 1931, S. 1012. 156 Stefan Knödler Kunde vom Straßburger Münster. Stöber wendet darin die Bedrohung der eigenen Identität ins Apokalyptische, indem er den Untergang des Münsters als Untergang des deutschen Elsass in einer Vision beschwört. Eine bedrohliches, vom Schwarzwald (und nicht von den französischen Vogesen! ) aufsteigendes „Gebild“ zieht herauf und spricht warnend: Wenn einst der Geist der dich gegründet, Du Tempelhaus, du deutsches Haus! Aus dieses Landes Gauen schwindet, Dann rege dich mit Sturmesgraus! 66 Seine Warnung gipfelt in den folgenden beiden Strophen: Dann öffne seinen schwarzen Rachen, Tief, meerestief, ein weiter Schlund, Und schling’ hinein, mit Welttags Krachen, Die alte Zeit in ew’gen Grund! Und sonnenhelle drauf soll’s tagen Um den verlass’nen öden Raum! Kein Bild, kein Sängermund soll tragen, Zur neuen Zeit, den Alten Traum! Die Anklänge an den Schluss von Uhlands Ballade Des Sängers Fluch 67 machen deutlich, dass die gesamte „alte Zeit“ gefährdet ist und damit alles, auf das Stöber und die deutschen Elsässer ihre Identität gründen, dem Untergang geweiht ist. Es geht ums Ganze. V. August Stöbers Erinnerungsbüchlein für fremde und einheimische Freunde des Strassburger Münsters (1836) Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten der Kampf um das deutsche Elsass und der dichterische Münsterkult der Stöbers mit dem von August Stöber anonym herausgegebenen Erinnerungsbüchlein für fremde und einheimische Freunde des 66 August Stöber: Kunde vom Straßburger Münster. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 203, 24. August 1832, S. 809f. 67 Vgl. Ludwig Uhland: Des Sängers Fluch. In: ders.: Werke. Bd. I: Gedichte. Hrsg. von Hartmut Fröschle-/ Walter Scheffler. München 1980, S. 252-254, hier S. 254: „Des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch; -/ Versunken und vergessen! das ist des Sängers Fluch.“ Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 157 Strassburger Münsters, 68 das 1836 erschienen ist. Er versammelt auf 57 Seiten, gerahmt von einer Vorrede An den Leser und einer zweiseitigen Kurzen geschichtlichen Notiz über das Münster, zwanzig Gedichte auf das Straßburger Münster. Dreizehn Gedichte stammen darunter von den Stöbers, 69 je eines von den Straßburger Dichtern Josef Theiler (1794 bis 1823) und Johann Leser (1799 bis 1878), die übrigen fünf stammen von dem Sachsen Arthur Nordstern (Pseudonym von Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf, 1765 bis 1836), dem Berliner Achim von Arnim (1781 bis 1831), dem Ostpreußen Max von Schenkendorf (1783 bis 1817), dem Badener August Lamey (1816 bis 1896) und dem Schwaben Ludwig Uhland (1787 bis 1862). Das Büchlein, so heißt es in der Vorrede, solle ein Souvenir sein von „den Höhen des Münsters“, 70 das in den meisten Gedichten völlig säkularisiert und ausschließlich in seiner ästhetischen, historischen und politischen Bedeutung thematisiert wird. Dass Straßburg eine französische Stadt ist, wird in den Gedichten nur selten ausgesprochen, und wenn, dann nur im Kontrast zum „deutschen“ Münster. Entsprechend heißt es in der Vorrede, der deutsche Besucher solle es erdulden, dass das Münster „in fremder Hand“ sei, denn solange es in Deutschland noch keine Einheit der einzelnen Landesteile gebe, werde sich das nicht ändern lassen: „[W]erde Du mit den deinen erst Eins und groß und stark, dann komm’ und sag deinen Spruch“. 71 - Immerhin sieht Stöber die Möglichkeit, dass Straßburg und das Münster einmal wieder ein Teil Deutschlands werden sein können. Die elsässischen Leser selbst sollen hingegen den versammelten „deutschen Sängern“ verzeihen, dass sie die „Arme […] ausstrecken“ nach dem „alten Vaterlande“: „[A]us eigener Kraft werde stark und selbstständig und entfalte den Reichthum der im Geiste und Herzen Dir wohnt“. 72 Die einzelnen Gedichte des Büchleins sind lose zu Kleingruppen angeordnet, 73 deren erste sich mit der (oft legendenhaften) Geschichte des Münsters vom Mittelalter 74 bis hin zur Gegenwart befasst. Zwei Gedichte darunter nehmen auf den aktuellen Status des Gebäudes Bezug. So heißt es in Arthur von Nordsterns 68 [August Stöber (Hrsg.): ] Erinnerungsbüchlein für fremde und einheimische Freunde des Strassburger Münsters. Straßburg 1836. 69 Ein Teil davon steht auch in den von den beiden Brüdern verfassten Alsa-Bildern. Vaterländische Sagen und Geschichten, mit Anmerkungen (Straßburg 1836). 70 Erinnerungsbüchlein (Anm. 68), S. 5. 71 Ebd., S. 6. 72 Ebd., S. 7. 73 Die Anordnung der Gedichte entspricht weitgehend dem Aufbau von Th.[eophil] Schuler: Das Straßburger Münster. Neue, vollständig umgearbeitete, mit 6 Kupfern von Schuler gezierte Auflage der Beschreibung desselben. Straßburg 1817. 74 Ehrenfried Stöber: Der Riese (S. 9f.); Adolf Stöber: Das Kronthal und das Münster (S. 11f.); Achim von Arnim: Das Münster zu Straßburg (S. 13-17, aus den Kronenwächtern). 158 Stefan Knödler Sonett Das Münster zu Straßburg, 75 das Münster stehe „[a]uf deutschem Grund, für Deutschland doch verloren“, und auch in Max von Schenkendorfs Das Münster wird der „deutsche Sinn“ anhand des Turmes, der „in fremder Macht“ stehe, beschworen. 76 Eine zweite Gruppe von Gedichten formt sich zu einem kleinen Rundgang durch und um das Münster: 77 zu den Gräbern von Erwin von Steinbach und Geiler von Kaisersberg, zum Uhrwerk, zur Rosette über dem Hauptportal und zu den außen angebrachten Reiterstandbildern. Die dritte und größte Gruppe ist auf bzw. vor dem Münsterturm angesiedelt. 78 Ehrenfried Stöbers Der Elsässer auf dem Münster darf hier nicht fehlen; auch zahlreiche anderen Gedichte beschreiben den Blick vom Turm auf das Elsass und heben die identitätsstiftende Funktion des Münsters hervor. So heißt es in August Stöbers Auf dem Münster: Fest wurzelt er in deutschem Grunde, Dem deutschen Geist und Sinn vertraut, Und wahrt in des Alsaten Munde Auf ewig deutschen Wortes Laut. 79 Hervorzuheben ist dabei Ludwig Uhlands Gedicht Münstersage, das fünf Tage nach August Stöbers Brief, der die Goethe-Anekdote enthält, entstanden ist und offensichtlich von ihm angeregt wurde. 80 Es ist im ganzen Band das einzige, das den Bezug zu Goethe herstellt und den Moment, in dem Goethe seinen Namen auf dem Turm einmeiselt und dadurch das Münster zum Erschüttern bringt, legendenhaft erzählt. August Stöbers apokalyptische Vision Kunde vom Straßburger Münster, hier unter dem Titel Münsterbeschwörung, schließt den Band mit einer eindrücklichen Mahnung ab. 75 Erinnerungsbüchlein (Anm. 68), S. 18. 76 Max von Schenkendort: Das Münster, ebd., S. 19f. 77 Johann Leser: Erwin von Steinbachs Gruft im Münster (S. 21), August Stöber: Geiler von Kaisersbergs Grab im Münster (S. 22-24); Adolf Stöber: Das Uhrwerk im Münster (S. 25-29); Adolf Stöber: Die Münsterrose (S. 30f.; das Gedicht erschien im Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 181, 30. Juli 1831, mit dem Titel Im Straßburger Münster); August Stöber: Die vier steinernen Reiter (S. 30f.). 78 Adolf Stöber: Münsterbesteigung (S. 34f.); August Lamey: Auf dem Münsterthurm. Zur Zeit der ersten französischen Revolution (S. 36f.); August Stöber: Auf dem Münster (S. 38f.); Joseph Theiler: Empfindungen auf dem Münster (S. 40); Ehrenfried Stöber: Der Elsässer auf dem Münster (S. 41-44); Ehrenfried Stöber: Auf dem Münster (S. 45f.); Ehrenfried Stöber: Das Münster (S. 47f.); Ludwig Uhland: Münstersage (S. 49f.); Adolf Stöber: Das Münster im letzten Abendroth (S. 51). 79 Erinnerungsbüchlein (Anm. 68), S. 39. 80 Ludwig Uhland: Münstersage. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 295, 10. Dezember 1830. Jetzt in: ders.: Werke. Bd. I: Gedichte. Hrsg. von Hartmut Fröschle- / Walter Scheffler. München 1980, S. 187f. Von Uhland stammt eine der schönsten Beschreibungen des Straßburger Münsters, vgl. Ludwig Uhland an Immanuel Bekker, 2. Juni 1811. In: ders.: Briefwechsel. Hrsg. von Julius Hartmann. Stuttgart 1911-1916, Bd. I, S. 465f. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 159 VI. Erwinia Die Stöbers setzen ihre Bemühungen fort: So gibt August Stöber in den Jahren 1838/ 39 die Zeitschrift Erwinia heraus, deren Titel, der den Erbauer des Münsterturms zum Paten des ganzen Unternehmens macht, schon anzeigt, worum es geht: Die meisten Beiträge der Zeitschrift - erst recht die von den Brüdern Stöber selbst - haben die deutsche Tradition des Elsass zum Gegenstand. Der Untertitel der Zeitschrift - Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung, in Verbindung mit Schriftstellern Deutschlands, der Schweiz und des Elsasses - betont ein weiteres Anliegen des Blattes: den Anschluss der elsässischen Literatur an die der deutschsprachigen Nachbarn. Der Großteil der in der Erwinia versammelten Autoren stammt aus dem Elsass, aber Stöber war bemüht, zahlreiche Dichter aus den angrenzenden Ländern zu rekrutieren. Gewinnen konnte er indes fast nur zweitrangige, heute vergessene Autoren, zu den eher namhaften Ausnahmen gehören Ludwig Bechstein, Rosa Maria Assing und Hermann Kurz - Uhland, Schwab, Rückert, Simrock und andere, die Stöber zu diesem Zweck angeschrieben hatte, lieferten nichts. Das Elsass ist also das eigentliche Thema der Zeitschrift, genauer: das Bemühen, die deutsch-elsässische Tradition am Leben zu erhalten. Stöber schreibt: „Ein Volksstamm, der seine Lieder, seine Sagen, seine Vorgeschichte vergisst, seine Sprache gering achtet, begeht einen geistigen Selbstmord.“ 81 Stöber verstand die Erwinia als „eine Protestation gegen das unnatürliche Aufdrängen und Eindrängen des französischen Wesens“. 82 In einem programmatischen Aufsatz, überschrieben mit einem trotzigen Wir reden deutsch, 83 macht der Theologe Eduard Reuss (1804 bis 1891) deutlich, dass sich die deutschen Elsässer zwar der „Form“ nach französisch fühlten, aber ihr geistiges Leben, ihr „Deutschthum“ deshalb nicht aufgeben wollten. 84 Der Erwin- und Münsterkult erreichte in der Erwinia seinen letzten Höhepunkt, auch weil die Feier des 400. Jahrestags der Vollendung des Straßburger Münsters am 21. Juni 1839 in die Zeit ihres Erscheinens fällt. Obwohl diese Feier „nicht öffentlich“ (also nicht von französischer Seite) begangen wurde, so feierte sie die deutsch-elsässische Gemeinde durchaus - auf der Münsterplattform und in der Erwinia. Einen Tag nach dem großen Ereignis erschienen dort vier Münster-Gedichte zur Feier des vierhundertjährigen Münsterjubiläums von 81 [August Stöber: ] Aphorismen. In: Erwinia, Nr. 4, 26. Mai 1838, S. 32; vgl. Ehrismann: Auguste Stœber (Anm. 9), S. 56-60. 82 August Stöber an Gustav Schwab, 15. August 1838. In: Walter: Die Brüder Stöber und Gustav Schwab (Anm. 27), S. 72. 83 Vgl. Walter: Die Brüder Stöber (Anm. 1), S. 124-130. 84 [Eduard Reuss: ] Wir reden deutsch. In: Erwinia, Nr. 5, 2. Juni 1838, S. 34-37. 160 Stefan Knödler August Stöber, 85 die den Leser, so heißt es in einer kleinen Einleitung, „aus den Wirren der Gegenwart […] in die Zeiten der Kraft und Biederkeit, des frommen einfältigen Sinnes unsrer Väter führen“ sollten. 86 Eine Woche später veröffentlichte die Erwinia dann einen kurzen Bericht von den Feierlichkeiten auf der Münsterplattform („Es war ein schöner Tag“), weitere Münstergedichte von Daniel Hirtz, Karl Wild und anderen, sowie einen Aufsatz über Meister Erwin von Steinbach des Historikers Joseph Bader. 87 Bereits die erste Nummer der Erwinia enthielt mit Stöbers Erzählung Drei Küsse 88 einen Text, der alle für den deutschen Elsass-Kult zentralen Elemente beinhaltet. Die Erzählung beginnt auf der „Plattform“ des ganz und gar säkularisierten Straßburger Münsters, wo sich eine „fröhliche Gesellschaft“ zu einem Abendessen eingefunden hat mit Bier und Riesling, Pfänderspiel und einem Trinkspruch zum Lobe Erwins. Parallel dazu bekommt ein liebeskranker Badener durch einen der Turmwächter eine Führung durch den Turm, zum Uhrwerk, den Glocken, der Tafel mit Goethes Namen und dem Blick auf die Stadt und das umliegende Land. Auch eine Münstersage wird anschließend erzählt. Der sich entfaltenden Liebesgeschichte liegt kaum verborgen die von Goethe und Friederike zu Grunde. 89 VII. Schluss Man sieht: Die Bestandteile des elsässisch-deutschen Münsterbildes sind überschaubar. Das statische Weltbild der Stöbers wird 1842 mit der von August herausgegebenen Sammlung elsässischer Sagen in Nachdichtungen der Stöbers und anderer Dichter noch einmal zementiert. Sie erscheint in zwei identischen Ausgaben in Heidelberg (als Oberrheinisches Sagenbuch) und in Straßburg (als Elsässisches Sagenbuch) und verdeutlicht so noch einmal den Anspruch, auf der rechtsrheinischen Seite wirken zu wollen. Die Sagen aus Straßburg und über sein Münster nehmen darin rund ein Fünftel der 600 Seiten ein, die 19 Gedichte über das Münster stammen dabei sowohl aus dem Erinnerungsbüchlein als auch 85 August Stöber: Münster-Gedichte zur Feier des vierhundertjährigen Münsterjubiläums. In: Erwinia. Nr. 25, 22. Juni 1839, S. 197f.: Johannistag 1439, Die Münstergnomen, Das Uhrwerk im Münster und Das Münster in der Sternennacht (bereits gedruckt in: Deutscher Musenalmanach für das 1838, Leipzig [1837], S. 100f.). 86 Ebd., S 197. 87 Ein weiteres Münster-Gedicht folgte in Erwinia, Nr. 27, 6. Juli 1839, S. 123f. (C. F. Hartmann: Jubelfeier. Nachtphantasie am 24. Juni 1839). 88 August Stöber: Die drei Küsse. In: Erwinia, Nr. 1-4, 5.-26. Mai, S. 1-5, 10-14, 17-21, 26- 28. Vgl. Witt-/ Erny: Les Stœber (Anm. 9), S. 81-91. 89 Vgl. ebd., S. 90. Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber 161 aus der Erwinia, über die Hälfte davon ist von den Brüdern Stöber verfasst. 90 Obwohl das Buch den historischen und mythologischen Reichtum des Elsass und seiner Hauptstadt erschließt und in populärer Form zur Verfügung stellt, gelingt es den Stöbers nicht mehr, ihrem Elsassbild neue Aspekte hinzuzufügen. Das Münster verliert in der Folge an Bedeutung im Selbstverständnis der Stöbers - vielleicht auch, weil beide nun ihren Lebensmittelpunkt in Mühlhausen haben. August zieht sich als Dichter weitgehend zurück und konzentriert sich ganz auf seine gelehrten Forschungen, die das Elsass nun auf wissenschaftlichem Wege weiter erschließen. In den Jahren bis 1870 geraten die Brüder Stöber zunehmend in die Defensive; isoliert in Deutschland wie in Frankreich, aber mehr und mehr auch im Elsass, wo 1860 das Französische - bisher bereits selbstverständliche Verwaltungssprache - auch als die alleinige Schulsprache eingeführt wurde. 91 Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wird und Elsass ein Teil davon wurde, war der Moment gekommen, den August sich bereits rund 40 Jahr zuvor im Morgenblatt für gebildete Stände ausgemalt hatte, in dem nämlich die deutsche politische Landschaft so beschaffen war, dass die Bande zu Frankreich gelöst werden konnten. 92 Die beiden Stöbers indes waren zu alt, um noch entscheidend in den Gang der Dinge eingreifen zu können. 90 Vgl. Elsässisches Sagenbuch (Anm. 21), S. 493-540. 91 Vgl. Vogler: Geschichte des Elsass (Anm. 18), S. 151. 92 Vgl. Walter: Brüder Stöber (Anm. 1), S. 216-227. „Verräther an Glauben und Vaterland“ - Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs (1862) Raphaël Fendrich, Heidelberg I. Einleitung Auf die Kapitulation der Reichsstadt Straßburg (1681) hat man sich in der Erinnerungskultur zum Elsass oft bezogen. Heribert Rau (1813 bis 1876) 1 verarbeitet das Ereignis in seinem drei Bände umfassenden Der Raub Straßburgs im Jahre 1681. Vaterländischer Roman aus dem Jahr 1862 (hier verwendete Ausgabe), der in Frankfurt am Main von der Literarischen Anstalt verlegt wurde. 2 Der Elsässer Theologe und seinerzeit bekannte Schriftsteller Friedrich Lienhard (1865 bis 1929) verfasste in den 1890er Jahren eine Erzählung mit gleichem Titel. 3 1 Literatur zu Heribert Rau: Peter-Henning Haischer: Rau, Heribert. In: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2. Aufl. Bd. IX. Berlin und New York 2010, S. 442f.; Ingrid Bigler: Rau, Heribert. In: Heinz Rupp- / Carl Ludwig Lang (Hrsg.): Deutsches Literatur-Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Bd. XII. Bern und Stuttgart 1990, Sp. 632 f.; Curt Pfütze: Rau, Heribert. In: Allgemeine Deutsche Biographie. 2. Aufl. Bd. XXVII. Leipzig 1970, S. 376-379; Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875. Frankfurt am Main 1971, S. 7, 108 und S. 236f. Zur Kapitulation Straßburgs siehe Andreas Beck: Die Straßburger Eide in der Frühen Neuzeit. Modellstudie zu vor- und früh-germanistischen Diskursstrategien. Wiesbaden 2014, S. 80f. Siehe dort auch die weiterführende Literatur S. 80, Anm. 9; Wilfried Forstmann [u. a.]: Der Fall der Reichsstadt Straßburg und seine Folgen. Zur Stellung des 30. September 1681 in der Geschichte. Bad Neustadt/ Saale 1981. 2 Weitere Auflagen: Berlin: Janke 1875; Berlin: Weichert o. J. [circa 1931]; Straßburg: NEL 2016 (Titel der englischen Ausgabe: A Royal Robber; Übersetzung: Agnes A. E. Blake). 3 Friedrich Lienhard: Der Raub Straßburgs. Geschichtliche Erzählung. 5. Aufl. München o. J. [circa 1929], Erstausgabe 1898. Zu Lienhard siehe Frank Raepke- / Wilhelm Kühlmann: Lienhard, Friedrich. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 1), Bd. VII, S. 417f. Folgende weitere Texte berühren Straßburg in der Zeit vom Westfälischen Frieden bis zu Friedrich dem Großen: Bernd von Guseck [d. i. Gustav von Berneck]: Der erste Raub an Deutschland. Historischer Roman. Jena 1862; Anna Lau: Und es war Nacht. Erzählung. Straßburg 1904; Adolf Riecke: Aus Straßburgs schwerster Zeit. Erzählung. Leipzig 1897; Juliana von Stockhausen: Der Kaiser und die Reichsstadt. In: Die Nacht von Wimpfen. Erzählungen. 164 Raphaël Fendrich Der Abfassung gingen Kontroversen zur nationalen Zugehörigkeit des Elsass voraus, deren Ursprünge sich bis auf die Zeit der Humanisten Thomas Murner (1475 bis 1537) und Jakob Wimpfeling (1450 bis 1528) 4 zurückverfolgen lassen, vor allem aber im 19. und 20. Jahrhundert brisant wurden. Die antinapoleonischen Kriege und die auf die Kapitulation Frankreichs (am 31. März 1814) folgenden Friedensverhandlungen boten den ersten Anlass für Teile der deutschen Nationalbewegung in Zeitungen und Einzelpublikationen die an diesen Verhandlungen beteiligten deutschen Diplomaten zu beeinflussen und die „Wiedergewinnung“ von Gebieten zu fordern, welche im Verlauf des 17. Jahrhunderts an Frankreich gefallen waren. 5 Die deutsch-französische Krise von 1840/ 41 (Rheinkrise) stellte einen weiteren Anlass dar, in der deutschen Öffentlichkeit das Elsass zurückzufordern. 6 Im Jahre 1848 fanden zur Erinnerung an den Westfälischen Frieden (1648) im Elsass Feiern zur Réunion de l’Alsace à la France statt. Geplant war auch die Grundsteinlegung eines Denkmals, womit das elsässische Bekenntnis zu Frankreich zum Ausdruck gebracht werden sollte. Um diese Feierlichkeiten entstand jedoch eine Kontroverse, 7 im Rahmen derer auch die Kapitulation von 1681 angesprochen wurde: Entweder ist Elsass durch und durch französisch - und wozu in diesem Falle Feste, welche die Erinnerung der über unsere Väter davongetragenen Siege wieder rege machen, als die Erinnerung an die Kapitulation, durch welche sie Republikaner sich unter einen Herrn gebeugt und einem Lande hingegeben haben, welches nicht das heutige Frankreich war? Oder Elsass ist so französisch, wie es unsere Behörden behaupten … 8 Straßburg 1941 [Leopold I. in Straßburg]. Vgl. Arthur Luther: Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon. 2. Aufl. Leipzig 1943, Sp. 189. 4 Zu dieser Kontroverse siehe Marc Lienhard: Histoire et aléas de l’identité alsacienne. Straßburg 2011, S. 63-66. 5 Vgl. zu dieser Pressekampagne aus den Jahren 1813 bis 1815 Claudia Nowak: Was ist des Elsässers Vaterland? Die Konstruktion regionaler und nationaler Identitäten in einer Grenzregion zwischen Frankreich und Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1813‒1848). Münster 2010, S. 29‒40. 6 Dazu ausführlich ebd., S. 50‒170. Zu den Forderungen in der deutschen Öffentlichkeit vgl. ebd., S. 132-144. Solche Stimmen waren bis in die späten 1840er Jahre zu hören, vgl. ebd., S. 170‒174. 7 Siehe ebd., S. 289, S. 307‒312. 8 Vgl. Républicain alsacien vom 12. Oktober 1848, Lokal-Chronik. Zitiert nach Nowak: Vaterland (Anm. 5), S. 308 [Hervorhebung im Original]. Dass die Kapitulation Straßburgs von den Zeitgenossen nicht als Vereinigung mit Frankreich empfunden wurde, schreibt auch der Autor dieses Artikels: Bei Gelegenheit der Gedächtnisfeier der Vereinigung des Elsasses mit Frankreich. In: Indicateur pour la ville de Strasbourg et le département du Bas-Rhin vom 21. Oktober 1848, erwähnt bei Nowak: Vaterland (Anm. 5), S. 309. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 165 Die Festlichkeiten würden ein falsches Zeichen setzen, gebe es doch keinen Zweifel, dass die Elsässer Frankreich treu seien. Der Unterwerfung des Elsass und der Stadtrepublik Straßburg durch Ludwig XIV., eines absoluten Herrschers zu gedenken, widerspricht den republikanischen Idealen. Mit dieser Argumentation konnten zugleich deutsche Ansprüche zurückgewiesen werden, da die Identifizierung vieler Elsässer mit Frankreich gerade mit der Republik zusammenhing. Dass Frankreich im 17. Jahrhundert unrechtmäßig gehandelt habe, stellt für diesen Beiträger keine Legitimation dar, dieses „Unrecht“ rückgängig zu machen. Seit 1840 brachen die annexionistischen Stimmen in Deutschland nicht mehr ab. Während der deutsch-französischen Krise von 1859/ 60 verstärkten sie sich nochmals, fanden Verbreitung in der Tagespresse und erhielten in den Jahren bevor Raus Roman erschien eine bedeutend größere Öffentlichkeit. 9 Einen weiteren Einfluss übte auf Rau die deutschkatholische Bewegung aus, welcher er sich bereits in ihren Anfängen im Jahre 1844 anschloss. Er gab seinen ungeliebten Kaufmannsberuf auf, um in Heidelberg Theologie zu studieren (1844 bis 1846), und wirkte danach als Prediger der deutschkatholischen Gemeinde in Stuttgart und ab 1849 in gleicher Funktion in Mannheim. 10 Die relativ uneinheitliche Bewegung vertrat ein nicht dogmatisches Tatchristentum und lehnte die Hierarchie der Amtskirche ab. 11 Solche Positionen finden sich auch im Roman. In den folgenden Abschnitten soll eine Analyse der Figuren zeigen, wie Rau den historischen Stoff verarbeitet, den französischen Einfluss in Straßburg darstellt und Feindbilder schafft, in welchen sich seine Haltungen spiegeln. Im Zentrum stehen deshalb, neben dem französischen Hof, Frankreich zugewandte Figuren: die Magistratsmitglieder Obrecht und Güntzer sowie der Fürstbischof Franz Egon von Fürstenberg. Auf die Biographien der historischen Personen kann dabei nur punktuell eingegangen werden, auf weiterführende Literatur wird verwiesen. Berührt wird auch die Rezeption des Romans und des Stoffes im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. 9 Vgl. Alfred Wahl: Les courants annexionistes en Allemagne et „l’Alsace-Lorraine“. In: L’Alsace en 1870‒1871. Par un groupes de recherches sous la direction de Fernand L’Huillier. Straßburg 1971, S. 185‒210, hier S. 193‒196. 10 Vgl. Pfütze: Rau (Anm. 1), S. 376. 11 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Politisierung des religiösen Bewusstseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz: Das Beispiel des Deutschkatholizismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 32, S. 43. Zu weiteren katholischen Positionen gegen den Absolutismus siehe die Quellensammlung von Ernst Heinen: Staatliche Macht und Katholizismus in Deutschland. Bd. I. Paderborn 1969, zum Beispiel S. 95. 166 Raphaël Fendrich II. Analyse II.1 Der französische Königshof Der erste Teil des dreibändigen Romans in sechs „Abtheilungen“, „Ludwig XIV. und sein Hof“ (Kapitel eins bis elf), stellt nicht in erster Linie die Pracht und die höfische Kultur von Versailles in den Vordergrund, sondern zeichnet den Königshof als Ort einer zeremonienhaft erstarrten Etikette, an dem Laster, Verschwendungssucht, Sitten- und Gottlosigkeit herrschen: „Einfachheit und Bescheidenheit galten ja hier [am Hof Ludwigs XIV.] - wie jede sonstige Tugend - als wahre Lächerlichkeiten! “ 12 Es wird geheuchelt, geschmeichelt und intrigiert, einige Angehörige des höchsten Adels pflegen selbst zu Giftmördern Kontakte und nehmen an Teufelsmessen teil. 13 Die Kritik Raus ist nicht eigentlich anti-französisch, sondern richtet sich allgemein gegen Herrschaftsformen zu Lasten des Volkes. 14 Die Habsucht Ludwigs XIV. (1638 bis 1715) zielt auf die Unterwerfung des Elsass und Straßburgs. Damit ist der Grundkonflikt des Romans eingeführt: Das mächtige Frankreich wird zur Bedrohung für eine Reichsstadt und ihrer freiheitlichen Verfassung. Die Pläne für die Unterwerfung stammen vom Kriegsminister Ludwigs XIV., dem Marquis von Louvois (1641 bis 1691), der seinen Einfluss auf den König vergrößern will: Um […] den König in Athem und von sich abhängig zu erhalten, hatte ihm Louvois eingeredet: F r a n k r e i c h m ü s s e d e n - b i s d a h i n d e u t s c h e n - - E l s a ß b e s i t z e n ; … e s e r f o r d e r e d i e s d i e S i c h e r h e i t d e s R e i c h e s u n d d i e G r ö ß e u n d E h r e d e r f r a n z ö s i s c h e n K r o n e . S e i e i n m a l d e r O b e r - R h e i n d i e G r ä n z e F r a n k r e i c h s g e g e n D e u t s c h l a n d , m ü s s e e s i n d e r F o l g e a u c h d e r N i e d e r - R h e i n w e r d e n . 15 Straßburg soll für den „ländergierigen“ König mit Gewalt unterworfen werden, „a b e r u n t e r d e m S c h e i n u n d d e m D e c k m a n t e l d e s R e c h t e s .“ 16 Durch den Westfälischen Frieden sind bereits größere Teile des Elsass an Frankreich gefallen. Die Annektierung der restlichen Gebiete soll ein plausibler Rechtsvorwand legitimieren, wofür besondere Gerichtshöfe geschaf- 12 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 24. 13 Siehe zur Giftaffäre und dem Okkultismus die Kapitel „Die Teufelsbeschwörung“, ebd., Bd. I, S. 123‒148 sowie „Die Hexenküche“, Bd. III, S. 40‒65. 14 Ebd., Bd. I, S. 76f. 15 Ebd., Bd. I, S. 87, Sperrung hier und in folgenden Zitaten im Original. 16 Ebd. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 167 fen werden, die Reunionskammern; die Annektierungen werden dementsprechend als Reunionen bezeichnet. 17 Straßburg bezeichnet jedoch selbst der König als „ächt deutsche Stadt, die noch dazu ein kleiner Freistaat für sich ist“. 18 Durch Verrat und mit Hilfe von Bestechungsgeldern an Magistratsmitglieder sowie an Fürst Franz Egon von Fürstenberg, dem Bischof von Straßburg, will Frankreich es sich aneignen. II.2 Straßburg und sein Magistrat Dem französischen Königshof wird in der nächsten „Abtheilung“, betitelt mit „Eine deutsche Stadt“, Straßburg gegenübergestellt. Rau bezieht sich zunächst auf den Rhein und die Vogesen, charakterisiert deren deutsches Wesen und ebenso dasjenige Straßburgs, dessen politischen Aufbau er beschreibt, mit der besonderen Funktion der Zünfte und - für den Roman bedeutend - der freiheitlichen Verfassung. 19 Anschließend wird der Konflikt nicht nur zwischen Frankreich und Straßburg, nein, auch innerhalb der Stadt, ja, selbst innerhalb des Magistrats dargestellt. Am Schwörtag, an dem die Stadtregierung vereidigt wird, finden sich nach Ablauf des zeremoniellen Teils die Mitglieder der Schneiderzunft in ihrer Zunftstube ein, wobei dieser Zunft nicht nur Handwerker, sondern auch Magistratsmitglieder angehören, darunter eine frankophile Fraktion, die deutlich in der Minderheit ist. Ihre verräterischen Absichten werden dem Leser gleich deutlich gemacht: Die hochweisen Herren [die Ratsherren Stößer, Dr. Obrecht und Ecker, der Rats- und Stadtschreiber Günzer] tranken ihren Wein für sich […]. Ihr Gespräch führten sie dabei meist flüsternd, wobei das stechende Auge Günzers sorgfältig Wache hielt, ob sie auch Niemand belausche oder sich ihnen nähere. 20 Im Mittelpunkt dieser „Abtheilung“ stehen die Parteien, die sich in Straßburg gegenüberstehen: neben der frankreichfreundlichen eine dem Reich zugewandte „Parthei der Patrioten“. 21 Außer den soeben im Zitat angeführten Ratsherren unterstützt auch der Bischof Franz Egon von Fürstenberg die französischen Interessen. Auf der anderen finden sich ebenfalls mehrere Mitglieder des Magistrats: Der Syndikus Frantz (1626 bis 1697) sowie Hans Georg von Zedlitz (1632 bis 1686), der Stettmeister von Straßburg. Diese Partei ist jedoch nicht 17 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 93‒98. 18 Ebd., Bd. I, S. 98. 19 Vgl. das Kapitel „Straßburg“, ebd., Bd. I, S. 259‒279. 20 Ebd., Bd. I, S. 288. 21 Ebd., Bd. I, S. 397. 168 Raphaël Fendrich einheitlich: Außerhalb des Magistrats und als dessen Kritiker steht von Zedlitz’ Sohn Hugo, Verfasser patriotischer Gedichte und in seiner Integrität eine Idealgestalt des Romans. 22 Er gerät in Konflikt mit seinem Vater, welcher, ebenso wie mehrere andere Mitglieder des Magistrats, mit „Halbheit und Ängstlichkeit“ 23 auf die Übermacht Frankreichs reagiert: Der alte Herr sah’ s i c h , den Magistrat und den kleinen Staat selbst durch seines Sohnes Auftreten compromitirt und bedroht, - der Sohn aber warf Vater und Regierung vor, daß sie - umgekehrt - sich und den Staat durch Halbheit dem Verderben entgegenführten. 24 Auch die Straßburger Bürgerschaft wird als mehrheitlich deutsch gesinnt und patriotisch beschrieben. 25 Als Figur tritt im Roman der Schneidermeister Wenck auf, welcher am Ende in den Tod geht, um Straßburg zu verteidigen. 26 Die verschiedenen Anschauungen, ihre Haltung gegenüber Frankreich beziehungsweise gegenüber Kaiser und Reich, machen die Figuren zu Vertretern verschiedener politischer Positionen, die eng verknüpft sind mit religiösen Vorstellungen. Während die französische Seite durchweg negativ charakterisiert ist, erscheint die deutsche Seite als ehrlich patriotisch und von Idealen statt von Interessen geleitet. Straßburg verliert mit der Freiheit auch seine Tugenden. Der Ratsherr Dr. Obrecht Ulrich Obrecht (1646 bis 1701) ist im Text mehr Statist als Nebenfigur. Dennoch erscheint er als Beispiel für die Konzeption der Figuren im Roman als sehr aufschlussreich. Obrecht war seinerzeit ein bekannter Historiker und Jurist, einer der bedeutendsten Professoren an der Universität Straßburg und Gelehrter von europäischem Ruf. 27 Bei Rau wechselt er mit den anderen frankreichfreundli- 22 Zu Frantz siehe Marcel Thomann: Frantz, Jean Joachim. In: Fédération des sociétés d’histoire et d’archéologie d’Alsace (Hrsg.): Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Sous la direction de Charles Baechler et Jean-Pierre Kintz. Straßburg 1982‒2007, Bd. XI, S. 1012. Dass er Syndikus gewesen sei, bestreitet Thomann. Zu Hans-/ Johann Georg von Zedlitz siehe Paul Greissler in: ebd., Bd. XLI, S. 4350. Es wird dort unter den Nachfahren kein Sohn namens „Hugo“ erwähnt. 23 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 384. 24 Ebd., Bd. I, S. 384f. 25 Ebd., Bd. III, S. 263. 26 Ebd., Bd. III, S. 299. 27 Beck: Eide (Anm. 1), S. 82; zu Obrecht siehe auch Georges Livet: Frédéric Ulric [Obrecht]. In: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne (Anm. 22), Bd. XXVIII, S. 2285f.; Ingeborg Streitberger: Der königliche Prätor von Straßburg 1685‒1789. Freie Stadt im absoluten Staat. Wiesbaden 1961; Albert Metzenthin: Ulrich Obrecht und die Anfänge der französischen Prätur in Straßburg (1684‒1701). Straßburg 1914. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 169 chen Ratsherren „verstohlene Blicke“. 28 Er äußert, dass Ludwig XIV. es aufrichtig gut mit den Straßburgern meine. 29 Beim Triumphzug des Fürstbischofs nach der Kapitulation (siehe unten) gehört Obrecht zur Abordnung des Magistrats: Auch der Magistrat sandte seine Deputation, wozu er natürlich Männer, wie Günzer, Stößer, Obrecht und ähnlich Gesinnte wählte, die denn auch - ächte Verräther an Glauben und Vaterland - dem siegreich Eingezogenen aus vollem Herzen Glück zu der eben erfolgten Besitznahme [der Kathedrale] wünschten. 30 Männer wie Obrecht sollen demnach Straßburg verraten haben. Rau unterschlägt vieles, was die Rolle Obrechts im Zusammenhang mit Straßburgs Kapitulation angeht. Sein Übertritt zum Katholizismus fand erst statt, nachdem er 1684 nach Paris beordert worden war. Darüber hinaus hatte Obrecht die von den französischen Reunionskammern erhobenen Ansprüche bestritten. In seinem 1681 veröffentlichten Alsaticarum Rerum Prodromus suchte er eine Sonderstellung Straßburgs zu belegen. 31 Die Stadt habe sich stets selbst verwaltet, ein Rechtstitel auf Straßburg lasse sich nicht ableiten. Dennoch stieg er zum Generaladvokaten der Stadt auf. In diesem Amt vertrat er auch die Interessen Straßburgs und handelte nicht stets im Sinne der katholischen Kirche oder der französischen Machthaber. Auf Grund seiner diplomatischen Fähigkeiten war er jedoch unentbehrlich. 32 Wie aber kam es zu dem negativen Bild, das man sich von Obrecht machte? Es handelt sich wohl um Rückschlüsse, die man aus seiner späteren Stellung abgeleitet hatte. 33 In einer der Quellen Raus, Strobels Vaterländische Geschichte des Elsasses, heißt es: Wer den späterhin zu großem Ansehn gekommenen Obrecht einer geheimen Mitwirkung beschuldigt, bedenkt nicht, daß dieser gelehrte Mann gerade in demselben Jahre 1681 seinen Prodromus rerum Alsaticarum erscheinen ließ, in welchem er, S. 171, den Schluß hinstellt, daß Frankreich […] nicht das ganze Elsaß in Anspruch nehmen dürfe; weßhalb auch dieß Buch bald nach der Capitulation verboten wurde. 34 28 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 288. 29 Ebd., Bd. I, S. 297. 30 Ebd., Bd. III, S. 364. 31 Ulrici Obrechti Alsaticarum Rerum Prodromus. Argentorati. M. DC. LXXXI. 32 Beck: Eide (Anm. 1), S. 82f. 33 Dazu Metzenthin: Obrecht (Anm. 27), S. 9f. 34 Adam Walther Strobel: Vaterländische Geschichte des Elsasses. Von der frühesten Zeit bis zur Revolution 1789. Fünfter Theil. Straßburg 1846, S. 132 [Hervorhebung im Original]. Rau gibt im Roman an vielen Stellen seine Quellen in Fußnoten an. Sie sollen wohl als Belege dienen für die Aussagen in seinem Text und diese stützen. Den Umgang mit den Vorlagen nahm er, wie hier gezeigt wurde, nicht immer genau. 170 Raphaël Fendrich Rau könnte diese Angabe übersehen haben. Möglich ist aber auch, dass er das negative Bild Obrechts bevorzugte, um ihn eindeutig einer Partei zuzuordnen und seine Darstellung, Straßburg hätte wegen Verrats kapituliert, plausibel zu machen. Johann Christoph Günzer-/ Güntzer Der zweisprachige Johann Christoph Güntzer (1636 bis 1695) war eine umstrittene Gestalt. Seit 1671 stand er im Dienst der Stadt und seine politische Laufbahn schien zunächst nicht vielversprechend. Nach der Annexion Straßburgs durch Frankreich wurde er jedoch königlicher Syndikus und war für die Rechtsgeschäfte der Stadt zuständig. Dies legte man ihm als Verrat aus, als Belohnung dafür, Straßburg an Frankreich ausgeliefert zu haben. Ebenso seine Konversion zum Katholizismus, zu welchem er jedoch erst nach mehrmaligem Zögern im Jahre 1685 übertrat, als ihm der Verlust seines Amtes drohte. 35 Er assistierte dem Magistrat bei seinen Beziehungen zur Monarchie bereits vor der Kapitulation und bei der Ausformulierung der Kapitulationsverträge, welche auch seine Unterschrift tragen. 36 Im Roman ist er die wichtigste Figur im französischen Lager. Bei Rau fällt die negative Charakterisierung Güntzers auf: Er hat eine „lang aufgeschossene Figur, die in all’ ihren Bewegungen etwas Schwankendes, Unsicheres zeigte“, 37 und stechende Augen in einem sonst nicht unschönen Gesicht, aber auch ein „schleichendes und servieles [! ] Wesen“. 38 Wirklich galt Günzer allgemein - wenn auch für sehr gewandt und juristisch wie diplomatisch sehr geschickt - doch auch für äußerst hab- und ehrsüchtig. Viele seiner Mitbürger hielten ihn sogar für einen falschen und gefährlichen Menschen … 39 Güntzers Skrupellosigkeit wird auch in der Forschungsliteratur erwähnt. Er soll nach der Kapitulation, zusammen mit seinem Schwager, vom König die Herrschaft Plobsheim erhalten und daraufhin die Familien Zorn von Plobsheim und von Bernholdt vertrieben haben, seine Wohltäter. 40 35 Vgl. Paul Greissler: Jean Christophe [Güntzer]. In: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne (Anm. 22), Bd. XIV, S. 1335; Metzenthin: Obrecht (Anm. 27), S. 33‒37. 36 Jeannine Siat: Histoire du rattachement de l’Alsace à la France. Mulhouse 1998, S. 83; vgl. zu den Unterzeichnern die Reproduktion, Transkription und Übersetzung der Kapitulation von 1681 bei Forstmann: Fall (Anm. 1), S. 204‒210. 37 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 319. 38 Ebd. 39 Ebd., Bd. I, S. 320. 40 E. Muller: Le magistrat de la ville de Strasbourg. Stettmeisters et Ammeisters de 1674‒1790, les préteurs royaux de 1685‒1790 et notices généalogiques des familles de Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 171 Die kleine Fraktion der frankreichfreundlichen Ratsmitglieder erweckt, wie Rau es darstellt, den Eindruck, dass Einigkeit zwischen ihnen bestand. Vor allem nach der Einführung des Prätorenamtes entwickelten sich Güntzer und Obrecht aber zu erbitterten Konkurrenten, und Obrecht gab sich große Mühe, dem Ruf seines Gegners zu schädigen, indem er mehrfach an den französischen Hof schrieb. 41 Somit hat Obrecht zu einem sehr negativen Güntzer-Bild beigetragen. Lienhard verwendet in Hinblick auf die Zeichnung der Figuren ein ähnliches Verfahren wie Rau. Die deutsch gesinnten Straßburger werden positiv gezeichnet, die mit Frankreich kooperierenden negativ, wobei Lienhard die Figuren an keiner Stelle entmenschlicht. Rau geht in dieser Hinsicht weiter, vor allem bei der Charakterisierung des Stadtschreibers Güntzer. II.3 Fürst Franz Egon von Fürstenberg, Bischof von Straßburg Als im Jahre 1662 der Bischof von Straßburg starb, intervenierte die französische Krone diplomatisch, da sie vermeiden wollte, dass ein pro-österreichischer Bischof das Amt erhielte. Gewählt wurde Franz Egon von Fürstenberg (1626 bis 1682), der sich bereits in Frankreich aufgehalten hatte und die französische Kultur bewunderte. Er verdankte seine Wahl zum Bischof zwar Frankreich und wurde damit zu einem der höchsten und einflussreichsten Würdenträger im Elsass, was auch eine Annäherung zwischen dem Elsass und Frankreich bedeutete - ein französischer Agent war er aber nicht. Es ging ihm vornehmlich darum, vom Reich eingesetzte, deutsche Honoratioren durch elsässische zu ersetzen. Als erster elsässischer Herrscher schwor er der französischen Monarchie den Treueeid. Nach seinem Tod im Jahre 1682 wurde sein Bruder, Wilhelm Egon von Fürstenberg (1629 bis 1704), sein Nachfolger. 42 Im Rau’schen Text tritt er in mehreren Kapiteln als Figur auf: Franz Egon, Fürst von Fürstenberg, Bischof von Straßburg, […] war ein schöner Mann, der gerade jetzt in der Blüthe seiner Jahre stand. Seine hohe schlanke Gestalt kleidete das violette geistliche Gewand mit der goldenen Kette und dem prachtvollen mit Brillanten besetzten Kreuze ungemein gut. Der Kopf war schön geformt und zeigte jene äußerliche Würde, die durch Uebung den Trägern geistlicher Aemter so leicht zur Gewohnheit wird, die aber allerdings einen Ausdruck von Sinnlichkeit nicht ganz verdecken konnte. Die Züge waren sehr markirt geschnitten, die Hände klein und von l’ancienne noblesse d’Alsace depuis la fin du XVII e siècle. Straßburg 1862, S. 154f. 41 Metzenthin: Obrecht (Anm. 27), S. 169f. 42 Vgl. Siat: Rattachement (Anm. 36), S. 141‒145, S. 163. Zur Biographie der beiden Fürstbischöfe siehe Louis Châtellier: François Egon [de Furstenberg]-/ Guillaume Egon [de Furstenberg]. In: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne (Anm. 22), Bd. XII, S. 1082f., S. 1083-1085; Erwein H. Eltz- / Arno Strohmeyer (Hrsg.): Die Fürstenberger. 800 Jahre Herrschaft und Kultur in Mitteleuropa. Korneuburg 1994, S. 25‒28. 172 Raphaël Fendrich aristokratischer Feinheit und Weiße. In den Augen lag Geist, aber entschieden auch eine große Verschmitztheit. 43 Der Fürstbischof verkörpert diejenigen Mängel, welche Rau wiederholt der katholischen Geistlichkeit vorwirft: Die goldene Kette und das mit einem Brillanten besetzte Kreuz stellen Prunk und Macht zur Schau; die Sinnlichkeit findet sich auch bei lüsternen Mönchen. 44 Verschmitztheit charakterisiert den Verräter, als welcher der Fürstbischof mehrfach im zehnten Kapitel bezeichnet wird. 45 Seine Verehrung für den französischen König bringt er deutlich zum Ausdruck, 46 mit seinem Verrat erwirbt er sich aber nicht die Anerkennung von Seiten des französischen Hofes. 47 Den Fürstbischof erzürnt die Präsenz der Lutheraner, und er freut sich auf den Tag, an dem Straßburg französisch und das Münster wieder katholisch wird. Der Erzähler kommentiert dies ironisch-bitter: „So dachte der Bischof, - der heilige Mann, - der d e u t s c h e Fürst! “ 48 Auf ähnliche Weise stellt er den Alleingültigkeitsanspruch der „heiligen alleinseligmachenden“ 49 Kirche in Frage. Rau wertet die katholische Kirche dem Protestantismus gegenüber ab, welcher für ihn das Wesen des Glaubens mehr enthält als die Prachtentfaltung und der Reliquienkult einer hierarchisch organisierten Institution. In Straßburg gibt es „kaum noch hundert katholische Familien“. 50 Der Gottesdienst der Protestanten ist „von Geist und wahrem religiösen Gefühle“ 51 getragen und der alte würdige Prediger war ein Mann nach dem Herzen Gottes, einfach und schlicht, der da sprach und lehrte und predigte, wie es warm und lebendig aus seinem Herzen kam. 52 Im Gottesdienst wird gesungen: „Ein’ feste Burg ist unser Gott,-/ Ein’ gute Wehr und Waffen! “ 53 Dies ist nicht nur von Seiten der Figuren ein Bekenntnis zum Protestantismus. Mit dem Gesang dieses Liedes identifizierten sich Deutschkatholiken auch mit der protestantischen Tradition. Man unterlegte ihm - sich 43 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. I, S. 220. 44 Vgl. ebd., Bd. II, S. 191. 45 Ebd., Bd. I, S. 224, S. 225, S. 232. 46 Ebd., Bd. I, S. 222. 47 Ebd., Bd. I, S. 223-225. 48 Ebd., Bd. I, S. 360 49 Ebd., Bd. I, S. 359. 50 Ebd. 51 Ebd., Bd. I, S. 360. 52 Ebd. 53 Ebd., Bd. I, S. 365. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 173 von Rom distanzierend - auch einen nationalen Gehalt. Nach der Einbindung der Deutschkatholiken in die politische Opposition gab das Lied auch einer antifeudalen Position Ausdruck. 54 Raus Deutschkatholizismus kann somit die anti-französischen und pro-protestantischen Positionen im Roman erklären. Der König, Louvois und der deutsche Fürstbischof verkörpern eine feudale, korrupte Ständegesellschaft; in der Etikette des Hofes drückt sich die Hierarchie bis in die kleinste ritualisierte Alltagshandlung aus. Ihr Christentum ist Fassade und steht einem echten schlichten Glauben entgegen. Der Triumphzug des Bischofs wird ausführlich im Kapitel „Des Raubes Heiligung“ beschrieben und kritisch kommentiert: Franz Egon, der fromme Mann, […] kam, um triumphirend nach dem alten Bischofssitze zurückzukehren und die stolze, die herrliche Kathedrale wieder in Besitz zu nehmen. Er kam - nicht als ein bescheidener Verkündiger der Botschaft der Liebe; - er kam als stolzer Triumphator, gewappnet mit irdischer und geistlicher Macht; den festen Willen im Herzen, den Protestantismus in Straßburg wo möglich bis auf die letzte Spur zu vernichten. 55 Mit der Unterdrückung des Protestantismus als Folge der Kapitulation droht neben dem Verlust der politischen Freiheiten auch der „wahrhaftige“ Glaube verloren zu gehen, ist doch an dieser Stelle eindeutig angesprochen, dass es dem Fürstbischof nicht darum geht, die christliche Botschaft weiterzugeben, sondern den Machtzuwachs der katholischen Kirche zu befördern. Der Zug aus Vasallen und Hofherren des Bischofs, seine Kutsche, die Pagen, Kürassiere, die Leibgarde, seine Dienerschaft - ein ganzer Fürstenhof mit seinem Gefolge - wird über mehrere Abschnitte geschildert. 56 Sein Einzug findet „unter Fanfaren und Trommelschlag“, aber „bei vollständiger Stille von Seiten des Volkes“ 57 statt. Am folgenden Tag wird das Münster eingeweiht: Auch von diesen Feierlichkeiten hielt sich, wie natürlich, der überwiegende Theil der Einwohner Straßburgs fern. Nur die Ueberläufer mit ihren Familien drängten sich, in feigem Servilismus und in der Absicht recht gesehen zu werden, mit doppeltem Eifer heran […]. 54 Vgl. Graf: Politisierung (Anm. 11), S. 59f. 55 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. III, S. 361. 56 Ebd., Bd. III, S. 361-363. 57 Ebd., Bd. III, S. 363. 174 Raphaël Fendrich Es ging nun e i n Schmerz durch ganz Straßburg; … aber … es war ein großer tiefer Seelenschmerz! Ein Schmerz, der sich dem deutschen Volke vererbt hat; und der jetzt beinahe zwei Jahrhunderte nachhält. 58 Es soll an den Verlust, den nicht zu verschmerzenden, gemeinsamen Verlust Straßburgs an Frankreich erinnert werden, wobei die Entwicklungen im Elsass nach der Revolution hin zu einem politischen französischen Patriotismus übergangen werden. Für den Triumphzug des Königs lässt Louvois Besucher nach Straßburg kommen, denn dem Könige von Frankreich durfte - dies fühlte der kluge Staatsmann und Höfling nur allzugut - die Kälte und Zurückhaltung der starrköpfigen Republikaner nicht entgegentreten. Ein Fürst und König ist nicht gewöhnt und nicht dazu gemacht, die Wahrheit zu hören oder Widerspruch zu dulden. Nur Jubel, Freude und Bewunderung soll überall die Mäjestät [! ] begrüßen, wo sie sich als strahlende Sonne zeigt. 59 Der Bischof wird als Verräter an Straßburg und Deutschland verurteilt, der König als Usurpator: Aber e i n Mann Gottes empfing ja am Fuße des Münsters den a n d e r e n : Fürst Franz Egon von Fürstenberg, Bischof von Straßburg … den allerchristlichsten König! J a ! hier stand er, d e r s c h a m l o s e V e r r ä t h e r , d e r H e r r F ü r s t - B i s c h o f , abermals umgeben von der ganzen Geistlichkeit und seinem Domkapitel; … hier stand er, d e r e l e n d e V e r r ä t h e r a n d e r V a t e r s t a d t u n d d e m d e u t s c h e n V a t e r l a n d e , umflattert von Kirchenfahnen, umgeben von Crucifixen, von welchen er selbst ein großes, in Diamanten gefaßtes, auf der treu- und ehrlosen Brust trug. Hier stand er, der Schamlose, und begrüßte den Usurpator Straßburgs, Ludwig XIV. […] S o s p r a c h d e r s c h a m l o s e V e r r ä t h e r a n V a t e r s t a d t u n d d e u t s c h e m V a t e r l a n d , d e r d e u t s c h e Fürst: Franz Egon von Fürstenberg, Bischof von Straßburg und hielt Ludwig XIV., dem Könige von Frankreich, d a s C r u c i f i x z u m k ü s s e n h i n . 60 Das Repetitive, sich Wiederholende schärft am Beispiel des Fürstbischofs und des absoluten Herrschers ein, worin moralisches Fehlverhalten besteht. Die längeren gesperrt gedruckten Passagen fallen sofort ins Auge und bekräftigen Raus Botschaft und womöglich seinen Zorn: Straßburg ist durch Bestechung, Hab- und Machtgier sowie Verrat gefallen. Hätten alle gehandelt, wie der Schneider Wenck, 58 Rau: Raub (Anm. 2), Bd. III, S. 365, S. 366. 59 Ebd., Bd. III, S. 366f. 60 Ebd., Bd. III, S. 371f., S. 373. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 175 der sich opferte, oder ein Hugo von Zedlitz, welcher gegen die Untätigkeit des Magistrats handelte, wäre in Straßburg ein „wahrhaftiger“ Glaube und deutscher Patriotismus aufrechterhalten worden, dann hätte es nicht „geraubt“ werden können. 61 Der Roman vermittelt durch die Beschreibung des zügellosen französischen Hofes im Kontrast mit frommen Straßburger Patrioten einfache Werte, aber - trotz Kenntnisnahme entsprechender Literatur - keine differenzierte Sicht auf das Ereignis. Das Dilemma der Straßburger Figuren wird nur am Rande am Beispiel einiger Zaghafter thematisiert, die Figuren sind deutlich in positive, unentschlossene und negative geschieden. Trotz vieler historischer Details erfährt man wenig über die geistigen und politischen Einstellungen der Zeit. Vielmehr scheint die Position des Autors den Blick auf die Ereignisse vorzugeben. III. Rezeption Heribert Raus Werk umfasst anonyme satirische Texte, theologische Schriften wie Predigten und Erbauungsliteratur, philosophische und geschichtliche Werke, Opernlibretti, Gedichte, und - am erfolgreichsten - „biografisch-kulturhistorische Romane“; darunter finden sich umfangreiche Romanbiographien, welche von der Kritik nicht sehr positiv aufgenommen wurden: Sie seien „gehaltlos, seicht, ohne Anziehungskraft - längst vergessen“. 62 Gelobt wird jedoch sein „glatter, correcter Stil“, und „sein hoher, freiheitlicher und nach Wahrheit strebender Sinn“ wird hervorgehoben: 63 Um unser Urtheil über Heribert Rau kurz zusammenzufassen, können wir ihn einen gewandten, nicht talentlosen, aber oberflächlichen Autor, dagegen einen edlen Mann nennen, der unermüdlich nach Wahrheit strebend, nichts als das Recht für sich in Anspruch nahm, frei, vorurtheilslos und selbständig zu denken und zu forschen. 64 Zugleich schätzt Pfütze Rau als Agitator der freireligiösen Bewegung ein, als Volksaufklärer und Prediger. 65 Im Raub Straßburgs findet sich, wie gezeigt wurde, Kritik am Katholizismus des absolutistischen Frankreich sowie am ausbeuterischen Adel des Königshofes mit seinem verschwenderischen Lebensstil, was den agitatorischen Zielen auch entspricht. 61 Dem Fürstbischof wirft Rau „völligen Mangel an Patriotismus“ vor, vgl. ebd., Bd. I, S. 226. 62 Pfütze: Rau (Anm. 1), S. 377. Zu diesen kulturhistorischen Romanen siehe Eggert: Studien (Anm. 1), S. 108 und die Bibliographie, wo er zehn historische Romane von Rau nennt, vgl. S. 236f. Weitere Romane werden im bereits erwähnten Killy Literaturlexikon genannt (siehe Anm. 1). 63 Pfütze: Rau (Anm. 1), S. 377f. 64 Ebd., S. 379. 65 Vgl. ebd., S. 378. 176 Raphaël Fendrich Eine wichtige Funktion des Textes besteht für den Kritiker und Zeitgenossen Hermann Neumann in der Erinnerung: „Heribert Rau wollte jene Zeit der deutschen Schmach durch Personen und deren Erlebnisse, wie beides seine Phantasie erfunden, uns ins Gedächtniß rufen.“ 66 Neumann will diesen „löblichen Zweck“ des Romans unterstützen, und er zitiert ausführlich aus dem Kapitel „Des Raubes Heiligung“, in welchem der Fürstbischof und der König auftreten und ihren Triumphzug durch die Stadt abhalten; er zitiert dieses so ausführlich, um „deutsche Herzen im gerechten Zorn klopfen zu machen“. 67 Das Erinnern betrachtet Friedrich Lienhard nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem das Elsass erneut französisch geworden war, ebenfalls als eine wichtige Aufgabe. Im Vorwort der vierten Auflage zu seiner in den 1890er Jahren entstandenen Erzählung Der Raub Straßburgs schreibt er: Frankreich hat nach 1870 den Gedanken an das Elsaß leidenschaftlich wachgehalten. An uns Deutschen ist es nun, dafür zu sorgen, daß die deutsche Jugend gleichfalls jenes schöne Grenzland nie vergesse. 68 Raus Roman wurde von der Kritik eher negativ beurteilt. So äußert wiederum Hermann Neumann: Heribert Rau scheint nicht recht gewußt zu haben, welche Figuren er auf dem erwähnten historischen Grunde auftragen solle und so ist denn selbst die Farbe, die er in der ersten Abtheilung meisterhaft zu wählen und in Licht und Schatten richtig zu verwenden gewußt, fast zur Ueberraschung matt. 69 Neumann bemängelt darüber hinaus, Rau habe sich nicht ausreichend in den Stoff eingelebt, „um seine Romangestalten als wirkliche Träger der verschiedenen Bestrebungen einer Periode im großen wie im kleinen abzurunden.“ 70 Der Berliner Verlag August Weichert gab den Roman zweihundertfünfzig Jahre nach der Kapitulation neu heraus. In der Zeitschrift Elsaß-Lothringen- / Heimatstimmen wurde er besprochen. Der Kritiker zeigt einige Vorbehalte, da Rau seiner Ansicht nach mehrere Figuren ungerecht verurteilt: Der Verfasser hält sich im allgemeinen an die geschichtlichen Vorgänge. Insbesondere betont er eindringlich die wahrhaft unerschütterliche reichsdeutsche Gesinnung der Bevölkerung, vor allem der Zünfte, die bis zum letzten Augenblick treu zu Kaiser und 66 Hermann Neumann. In: Blätter für literarische Unterhaltung 19 (1863), S. 351. 67 Ebd. 68 Lienhard: Der Raub Straßburgs (Anm. 3), „Vorwort zur vierten Auflage“. 69 Neumann (Anm. 66), S. 350. 70 Ebd., S. 351. Zur-Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs 177 Reich gehalten und sich, so weit es in ihren schwachen Kräften lag, gegen Frankreichs überlegene Macht zur Wehr gesetzt haben. 71 Er widerspricht Rau jedoch in Bezug darauf, dass Straßburg durch Verrat und Bestechung gefallen sei. Vielmehr habe der Glanz des französischen Hofes und seine Macht einige Ratsmitglieder - darunter Güntzer - geblendet, aber auch eingeschüchtert: „eine furchtbare Hilflosigkeit und dadurch verursachte Untätigkeit, Kleinmut und Resignation haben Straßburgs Fall verschuldet.“ 72 Nur beim Straßburger Bischof scheint Übereinstimmung mit Rau zu bestehen: Der einzige Straßburger, dem aktenmäßig nachgewiesen werden kann, daß er von Ludwig XIV. Gelder erhalten hat, ist Fürstbischof Franz Egon von Fürstenberg, den Rau in seiner ganzen landesverräterischen Niederträchtigkeit und Verwerflichkeit hingestellt hat. Dieser „Straßburger“ war obendrein Abkömmling eines s c h w ä b i s c h e n Fürstengeschlechts. 73 Gut siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung bestand das Bild von der „Katastrophe vom 30. September 1681“ 74 auf Grund von Landesverrat weiter, wenn auch abgemildert und nahezu ganz auf die Schultern des Fürstbischofs gelegt. Rau hatte seinen Roman in einer Zeit veröffentlicht, in der die Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich - weniger auf elsässischer als auf deutscher Seite - auf Grund von historischen Ansprüchen in Frage gestellt wurde. Wenn der Raub Straßburgs die Politik der französischen Monarchie als Unrecht darstellt, dann konnte der Text als Erinnerung und Mahnung dienen. Es ging den Straßburgern aber weniger darum, keine Untertanen des französischen Königs zu werden, sie wollten vielmehr ihre eigenen Freiheiten und ihre Selbständigkeit wahren. Im 19. und 20. Jahrhundert berücksichtigte die Literatur und Historiographie die Auffassung von Souveränität, wie man sie im 17. Jahrhundert verstand, wenig. 75 Raus Roman ist ein Beispiel für die nationale Umdeutung derjenigen Empörung, welche unmittelbar nach der Unterwerfung Straßburgs ausgelöst wurde. 76 Neben nationalen, patriotischen oder „vaterländischen“ finden sich 71 F. E.: Heribert Rau: „Der Raub Straßburgs“. In: Elsaß-Lothringen- / Heimatstimmen 2 (1932), S. 90. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Klaus-Jürgen Matz: Das Elsass als Teil der französischen Monarchie (1648-1789). In: Michael Erbe (Hrsg.): Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten. Stuttgart 2002, S. 85‒96, hier S. 93, S. 96. 76 Siehe dazu Karl Hölscher: Die öffentliche Meinung in Deutschland über den Fall Straßburgs während der Jahre 1681 bis 1684. München 1896. 178 Raphaël Fendrich auch deutschkatholische Einflüsse bei Rau. Für ein genaueres Verständnis dafür, welche Rolle diese in seinem Romanwerk spielen, wäre es nötig, sein religiöses Denken genauer zu untersuchen. Seine seit Mitte der 1840er Jahre veröffentlichten deutschkatholischen Schriften, 77 seine Predigten, womöglich auch seine verstreut archivierten Briefe, böten einen ersten Zugang zum Denken eines Autors, der seinerzeit kein unbekannter Verfasser historischer Romane war, heute jedoch - trotz einiger Neuauflagen - beinahe zu den völlig vergessenen gehört. 78 77 Graf: Politisierung (Anm. 11) nennt auf S. 398 folgende Schriften Raus: Fünf Reden, gehalten in der deutschkatholischen Gemeinde zu Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1845 [nicht ermittelt]; Erinnerung an die Gründung einer deutsch-katholischen Gemeinde zu Frankfurt am Main, und ihren ersten öffentlichen Gottesdienst. Nebst Predigt des Herrn Pfarrer Kerbler. Hrsg. von Heribert Rau. Frankfurt am Main 1845; Geschichte des alten und neuen Bundes, nach den Urkunden der Heiligen Schrift bearbeitet. 2 Bde. Heidelberg 1847; Todtenfeier für Robert Blum. Stuttgart 1848; Memorandum. Die vollständige staatsbürgerliche, kirchliche und politische Gleichberechtigung der Deutschkatholiken mit den Bekennern der staatlich anerkannten Confessionen betreffend. Die Deutschkatholiken Würtembergs [! ] den Mitgliedern des Landtags von 1848. Stuttgart 1848; Worte zum Herzen des deutschen Volkes. Vorträge und Gebete, gehalten in den deutsch-katholischen Gemeinden zu Stuttgart, Heidelberg, Mannheim, Frankfurt, Darmstadt, Ulm, Eßlingen et cetera. Stuttgart 1848. 78 Es hat sich, wie gesagt, trotz der Neuauflagen seit Eggerts 1971 veröffentlichten Untersuchungen daran wenig geändert. Vgl. Eggert: Studien (Anm. 1), S. 7. ISBN 978-3-7720-8703-5 Im Heiligen Römischen Reich bildete Straßburg ein wichtiges wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, mit der Reformation erlangte die Buchherstellung Bedeutung. Die Besetzung der Stadt durch Frankreich im Jahr 1681 drängte den Einfluss reformatorischen Gedankenguts zurück. Denn obwohl weiterhin Religionsfreiheit bestand, verfolgten die französischen Könige eine Rekatholisierungspolitik. Dennoch bestand die renommierte, 1621 gegründete, lutherisch geprägte Universität fort. Nach der Revolution von 1789 wurde die Stadt zu einem Ort des Exils für deutsche Republikaner und oppositionelle Intellektuelle. Vor diesem Hintergrund leistet der Band einen Beitrag zu der Erforschung des geistigen Lebens in Straßburg im Spannungsfeld deutscher und französischer Kultur. PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT www.francke.de Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert Gätje • Singh (Hrsg.)