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Große Werke der Literatur XV

2020
978-3-7720-5705-2
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Katja Sarkowsky
Hubert Zapf

Der Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen sind. Er versammelt Aufsätze zur deutschen, US-amerikanischen, estnischen, italienischen, karibischen und französischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Enthalten sind Beiträge von Klaus Wolf (Dietmar von Aist, Minnelieder), Rotraud v. Kulessa/Daria Perocco (Terracina, Discorsi sopra le prime stanze de' canti d'Orlando furioso), Dieter Schulz (Thoreau, Walden or Life in the Woods), Hans Vilmar Geppert (Fontane, Cécile; Irrungen, Wirrungen; Stine), Till Kuhnle (Céline, Voyage au bout de la nuit), Günter Butzer/Cornelia Wörmann (Schwitters, Ursonate), Helmut Koopmann (Hesse, Das Glasperlenspiel), Heide Ziegler (Th. Mann, Doktor Faustus), Hubert Zapf (Miller, Death of a Salesman), Joachim Jacob (Bachmann, Enigma), Frank Mardaus (Luik, Der siebte Friedensfrühling), Annika McPherson (Walcott, Omeros), Eva Matthes (Herrndorf, Tschick) und Dennis Mahoney (Hummel, Motherland).

ISBN 978-3-7720-8705-9 GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X V GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X V www.narr.de Der Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen sind. Er versammelt Aufsätze zur deutschen, US-amerikanischen, estnischen, italienischen, karibischen und französischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Enthalten sind Beiträge von Klaus Wolf (Dietmar von Aist, Minnelieder), Rotraud v. Kulessa/ Daria Perocco (Terracina, Discorsi sopra le prime stanze de, canti d ,Orlando furioso), Dieter Schulz (Thoreau, Walden or Life in the Woods), Hans Vilmar Geppert (Fontane, Cécile; Irrungen, Wirrungen; Stine), Till Kuhnle (Céline, Voyage au bout de la nuit), Günter Butzer/ Cornelia Wörmann (Schwitters, Ursonate), Helmut Koopmann (Hesse, Das Glasperlenspiel), Heide Ziegler (Th. Mann, Doktor Faustus), Hubert Zapf (Miller, Death of a Salesman), Joachim Jacob (Bachmann, Enigma), Frank Mardaus (Luik, Der siebte Friedensfrühling), Annika McPherson (Walcott, Omeros), Eva Matthes (Herrndorf, Tschick) und Dennis Mahoney (Hummel, Motherland). 38705_Umschlag.indd Alle Seiten 38705_Umschlag.indd Alle Seiten 26.06.2020 15: 13: 17 26.06.2020 15: 13: 17 Große Werke der Literatur XV Herausgegeben von Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf Große Werke der Literatur Band XV Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2017/ 18 Herausgegeben von Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 0944-7407 ISBN 978-3-7720-8705-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5705-2 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0115-4 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg 7 9 25 37 53 73 101 115 137 161 177 193 213 231 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Wolf Dietmar von Aist: Minnelieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rotraud von Kulessa und Daria Perocco Rezeption des Orlando furioso von Ariosto. Laura Terracina: Discorsi sopra le prime stanze de’ canti d’Orlando furioso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Schulz Henry David Thoreau: Walden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Vilmar Geppert ‚Effi Briests arme Schwestern‘. Theodor Fontane: Cécile, Irrungen, Wirrungen, Stine Günter Butzer und Cornelia Wörmann Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Till R. Kuhnle Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Koopmann Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heide Ziegler Thomas Mann: Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubert Zapf Arthur Miller: Death of a Salesman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Jacob Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Mardaus Die Kreissäge und das Radio, das sind die zwei wichtigsten Sachen im Leben. Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annika McPherson Derek Walcott: Omeros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Matthes Wolfgang Herrndorf: Tschick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 263 Dennis Mahoney Maria Hummel: Motherland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, italienischen, französischen, US -amerikanischen, estni‐ schen und karibischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 16., 19. und 20. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Aus‐ weitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literaturauf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publika‐ tionsreihe recht weit gefasst - so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht. Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d. h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Er‐ kenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kultu‐ rell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen histo‐ rischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise akti‐ vierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer histo‐ risch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in beson‐ derer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebens‐ prozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funk‐ tions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen lite‐ rarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungspro‐ zesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden. In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unter‐ schiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfah‐ rungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in be‐ sonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfris‐ tige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern, der Uni‐ versität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr beson‐ derer Dank gilt Kathrin Windholz und Judith Kárpáty für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Augsburg, im Juni 2020 Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf 8 Vorwort 1 Zitiert nach Wolf, Klaus: „Dietmar von Aist. Kommentierte Ausgabe nach Codex Manesse mit den Fassungsvarianten der Parallelüberlieferung“. Leuvense Bijdragen 96 (2007-2010), S. 114. 2 Die Übersetzung folgt weitestgehend: Schweikle, Günther: Die Mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen. Einführung und Kommentar. Darmstadt 1977, S. 152-155. 3 Vgl. Voetz, Lothar: Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015. Dietmar von Aist: Minnelieder Klaus Wolf I ‚Slafest du, friedel ziere? wan weket uns leider schiere. ein vogellin so wol getan, daz ist der linden an daz zwi gegan.‘ II „Ich was vil sanfte entslafen, nu rüfestu, kint, wafen. lieb ane leit mag niht sin. swaz du gebiutest, daz leiste ich, min friundin.“ III Diu frouwe begunde weinen: ‚du ritest hinnen und last mich einen. wenne wilt du wider her zuo mir? owe, du fürest mine fröide sant dir.‘ 1 I. ‚Schläfst du, lieber Freund? Man weckt uns leider bald. Ein Vöglein so schön, das ist auf der Linde Zweig geflogen.‘ II. Ich war so sanft eingeschlafen, nun rufst du, Kind, ‚wach auf! ‘ Lieb ohne Leid kann nicht sein. Was du gebietest, das tue ich, meine Freundin. III. Die Dame begann zu weinen. ‚Du reitest von hinnen und lässt mich allein. Wann wirst du wieder zu mir kommen? O weh! Du führst meine Freude mit dir.‘ 2 Der mittelhochdeutsche Text stammt ursprünglich aus dem umfänglichen Codex Manesse, der durch seine Autorenbilder berühmt ist. 3 Die Übersetzung von Günther Schweikle prä‐ sentiert textnah das erste deutsche Tagelied überhaupt. Die Gattung Tagelied wiederum thematisiert das Erwachen des Liebespaares nach einer geheimen Liebesnacht. Dabei muss angemerkt werden, dass dieses Paar nicht verheiratet ist und eine Entdeckung fürchten muss. Deshalb entschwindet der Geliebte heimlich im Morgengrauen, denn er reitet von 4 Vgl. Wörterbuchnetz. Trier Center for Digital Humanities, 2011. (http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF09219#XGF09219). 5 Vgl. Schweikle, Günther: Minnesang. Stuttgart 1989, S. 135-138. dannen beziehungsweise genauer ‚von hinnen‘, wie es übersetzt aus dem Mittelhochdeut‐ schen heißt. Die Bezeichnung der Frau als mittelhochdeutsch vrouwe in Strophe 3 macht dabei klar, welchen Stand sie innehat, weil vrouwe mit ‚adelige Dame‘ zu übersetzen ist. Ansonsten reden sich die beiden Adeligen mit friedel beziehungsweise vriundin vertraut an. friedel bedeutet ‚Geliebter‘ und ist dasselbe Kosewort, das auch Kriemhild für Siegfried im Nibelungenlied benutzt. 4 Die beiden Liebenden im Tagelied Dietmars werden dabei durch den Gesang eines kleinen Vogels geweckt. Dies entspricht natürlich der allzu be‐ kannten weltliterarischen Frage am Morgen: War es die Nachtigall oder die Lerche? Wir befinden uns hier allerdings nicht im Verona Romeos und Julias, sondern nördlich der Alpen im deutschen Sprachraum. Und dieses mittelhochdeutsche Tagelied des Dietmar von Aist ist überhaupt der erste Vertreter seiner Gattung. Deshalb firmiert in einigen Handbüchern Dietmar von Aist als Erfinder des deutschen Tageliedes. 5 Romanische Vorbilder werden bei Dietmar generell nicht angenommen, obwohl die Tageliedsituation natürlich in ganz Eu‐ ropa besungen wurde. Was wissen wir über diesen Dichter des ersten deutschen Tagelieds? Es ist nicht viel, denn die Quellen zur Biographie hochmittelalterlicher Dichter fließen bekanntlich spärlich. Erfreulicherweise gibt es sogar zwei mittelalterliche Miniaturen von Dietmar. 10 Klaus Wolf 6 Cod. Pal. germ. 848 Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse). Heidelberger historische Bestände - digital. (http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg848/ 0123). 7 Die Abbildung wurde mir freundlicherweise von Dr. Maria Stürzebecher, Stadtarchäologie Erfurt, zur Verfügung gestellt. Codex Manesse 6 stellt den Dichter im Reisemantel und mit Reisehut als fahrenden Kauf‐ mann vor, der so zu seiner geliebten Dame vordringen kann, die durch das Gebände auf ihrem Kopf als verheiratete Frau zu erkennen ist. Überflüssig zu sagen, dass die aus einer Burg heraustretende Dame nicht mit Dietmar oder präziser dem Handlungsreisenden ver‐ heiratet ist. Zu sehen ist sie als eine durch teure Kleidung anhand des üppigen Faltenwurfes gekennzeichnete Adelige, die auf dem Arm ein Schoßhündchen hält, was definitiv den reichen Damen vorbehalten war. Der als Kaufmann verkleidete Dietmar führt in der Sat‐ teltasche seines Esels Spindeln mit sich. Auf einer Stange hängen aufwendig gefertigte Taschen und ebenso damals modische schmale Gürtel. Zeitgleich zum Codex Manesse aus Zürich gab es in Erfurt solche Gürtel mit einem mittelhochdeutschen Minnegedicht darauf. Konkret hat man in Erfurt bei Ausgrabungen 79 Gürtelapplikationen 7 mit mittelhochdeut‐ schen Silben (in der Regel zwei bis drei Vokale und Konsonanten) gefunden. In der richtigen Reihenfolge ergeben die mittelhochdeutschen Silben oder Buchstaben ein Minnegedicht. In England gab es beispielsweise Minnegürtel mit der Inschrift amor vincit omnia, das heißt ‚die Liebe überwindet alles‘. Charakteristisch für diese schmalen Gürtel war ihre luxuriöse Gestalt, was Material und Verarbeitung anbelangte, sowie der ‚Sitz im Leben‘ Minne und Hochzeiten. Für Erfurt lässt sich die Besitzgeschichte im jüdischen Stadtbürgertum vor 11 Dietmar von Aist: Minnelieder 8 Vgl. Ostritz, Sven / Stürzebecher, Maria [u. a.]: Der Schatzfund: Archäologie - Kunstgeschichte - Sied‐ lungsgeschichte. Bd 1. Erfurt 2010. 9 Vgl. Caliebe, Manfred: ‚Dukus Horant‘. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 2. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1980, Sp. 239-243. 10 Vgl. Deuchler, Florens: Strukturen und Schauplätze der Gestik: Gebärden und ihre Handlungsorte in der Malerei des ausgehenden Mittelalters mit einem Exkurs zum Bildwissen. Berlin 2014, S. 143. 11 Vgl. Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hg. Karl Stackmann. Tübingen 2000, S. 47-78. 12 Zur Biographie von Dietmar vgl. Knapp, Fritz Peter: Geschichte der Literatur in Österreich. Die Lite‐ ratur des Früh- und Hochmittelalters. In den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient. Von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Graz 1994, S. 248. 13 Vgl. Dittrich, Sigrid und Lothar: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts. Petersberg 2005, S. 227. 1350 8 feststellen, wobei das Minnegedicht auf dem Gürtel mit dem ungefähr zeitgleichen und ebenfalls mittelhochdeutschen Epos Ducus Horant korreliert, das in hebräischen Buch‐ staben aufgezeichnet wurde. 9 Hinzu kommt, dass der Erfurter Minnegürtel in seiner Ent‐ stehungszeit wohl nicht allzu weit vom Codex Manesse entfernt ist, wobei er überdies in das gleiche urbane Milieu führt, denn vom Lebensgefühl her dürften sich die oberschich‐ tigen Erfurter Juden nur wenig von dem Patriziergeschlecht der Manesse in Zürich unter‐ schieden haben. Der kleine Exkurs soll nur zeigen, dass die vom Händler Dietmar ange‐ priesenen Waren, insbesondere die Gürtel, durchaus in einem erotischen Kontext zu verstehen sind. 10 Die Situation, mit dem als Kaufmann verkleideten Dietmar, entspringt sogar einer sogenannten Minnelist, wie sie ähnlich im Heldenepos ‚Kudrun‘ geschildert wird, bei welcher ein als Händler getarnter Werber ein Verkaufsgespräch dafür nutzt, um in die Burg der Dame vorzudringen. 11 Eine denkbare kunsthistorische Deutung der Miniatur zeigt verschiedene verschlüsselte Hinweise auf Dietmar im Bild. Der Dichter selbst ist nämlich nicht sofort in der Miniatur als Dietmar identifizierbar, wobei hier jedoch metaphorisch gedacht werden muss. Dietmar heißt übersetzt einerseits ‚berühmt beim Volk‘. Denkbar wäre aber auch quasi als Volks‐ etymologie ‚Volkspferd‘, konkret der Esel, auf den Dietmar mit seiner linken Hand zeigt. Die Stange hingegen deutet auf Dietmars Nachnamen, hier ‚Ast‘, hin, was auch im Codex Manesse im Titulus so steht. Das Wappen und die Helmzier mit einem Einhorn entspringen dagegen wohl der Fantasie des Grundstockmalers im Codex Manesse, da es Familienwappen erst ab dem 13. Jahrhundert gab und Dietmar vermutlich noch im 12. Jahrhundert gestorben ist und keine Nachkommen hinterließ. 12 Ebenso gilt der Hund auf dem Arm der Dame als Symbol der Todsünde, der Luxuria, der Lasterhaftigkeit und deutet damit auf die unange‐ messene Situation zwischen Dietmar und der verheirateten, adeligen Dame hin. 13 Wie im Tagelied liegt auch hier eine Ehebruchssituation vor. Von diesem Bildtypus gibt es noch einen zweiten Vertreter für Dietmar: 12 Klaus Wolf 14 Weingartner Liederhandschrift - HB XIII 1. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. (http: / / dig ital.wlb-stuttgart.de/ sammlungen/ sammlungsliste/ werksansicht/ ? no_cache=1&tx_dlf%5Bid%5D=3 919&tx_dlf%5Bpage%5D=36). 15 Vgl. Walther, Ingo F./ Siebert, Gisela: Codex Manesse. Die Miniaturen der großen Heidelberger Lieder‐ handschrift. 4. Auflage. Frankfurt / M. 1988. 16 Vgl. Mewes, Uwe; Cord Meyer und Janina Drostel: Regesten deutscher Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin / New York 2005, S. 251-265. Hier zeigt sich auf den ersten Blick, dass wir es mit einem verkleinerten Ausschnitt der Prachtminiatur des Codex Manesse zu tun haben. Die Stuttgarter oder Weingartner Lie‐ derhandschrift 14 beinhaltet die Szene nur unvollständig und ohne die Minnedame. Der Eseltreiber Dietmar bleibt so seltsam unmotiviert. Seit längerem wird die Verwandtschaft der Bilder so erklärt, dass sie auf eine gemeinsame, freilich nur postulierte Vorstufe zu‐ rückgehen. 15 Für beide Bilder gilt aber, dass sie durchaus keine authentischen Porträts dar‐ stellen. Denn in der Buchmalerei gibt es dergleichen erst viel später. Es handelt sich sowohl beim Codex Manesse als auch bei der Stuttgarter Liederhandschrift um die Fantasiepro‐ dukte mittelalterlicher Miniatoren. Die Bilder sind amüsant, aber biographisch wertlos. Man muss deshalb nach anderen Quellen fahnden, wenn man etwas über die Dichterbio‐ graphie wissen will. Zum Glück gibt es eine Fülle von Urkunden aus dem heutigen Öster‐ reich, die einen Dietmar von Aist als Adeligen erwähnen. Beispielsweise taucht Dietmar von Aist in einer Urkunde, die am 22. April 1161 in Wien durch Herzog Heinrich II . von Österreich ausgestellt wurde, in der Zeugenreihe unter den Adeligen auf: Testibus adhibitis de ordine nobilium: Engelberto comite de Gorz […] Tiedmaro de Agist.  16 13 Dietmar von Aist: Minnelieder 17 Vgl. Grienberger, Theodor von: Dietmar von Aist. Bd 37. Zeitschrift für deutsches Altertum und deut‐ sche Literatur. (1893), S. 419-424. 18 Nachweise bei Tervooren, Helmut: ‚Dietmar von Aist‘. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfas‐ serlexikon Bd. 2. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1980, Sp. 95-98. 19 Vgl. Bumke, Joachim: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990, S. 83-87, S. 110 und S. 118. 20 Vgl. Wolf, Dietmar von Aist, S. 92-93. Die urkundlichen Zeugen ergeben in der Summe einen österreichischen Adeligen, der um 1170 kinderlos starb. Über den Dichter freilich erfährt man in diesen Urkunden natur‐ gemäß nichts, denn die Urkunden dokumentieren nur Rechtsgeschäfte. Die Herkunftsbe‐ zeichnung Agist gibt es auch kontrahiert als Aist und Eist. So heißt auch ein Fluss in Ös‐ terreich. Neben Aist als Herkunftsnamen überliefern die Urkunden darüber hinaus Agasta und Agist. Jedenfalls ist Dietmar urkundlich und herkunftsmäßig als österreichischer Ade‐ liger im 12. Jahrhundert nachgewiesen. Nach 1170 wird er nicht mehr erwähnt. Das genaue Todesjahr ist unbekannt. Lediglich der Todestag, nämlich der 31. Dezember, ist in den Nek‐ rologen des Klosters Aldersbach zu finden, dem Dietmar seinen Besitz vermachte, was da‐ rauf schließen lässt, dass er ohne männlichen Erben starb. 17 Dagegen berichtet uns ein späterer Dichterkollege, nämlich Heinrich von dem Türlin, um 1230 in seinem Artusroman ‚Diu Crône‘ folgendes: „Och muoz ich klagen den von Eist, Den guoten Dietmâren, Und die anderen die dô wâren Ir sûl unde ir brücke: Heinrîch von Rücke, Und von Hûsen Friderîch, Von Guotenburg Uolrîch, Und der reine Hûc von Salza.“ 18 Dietmar von Aist befindet sich hier in guter Gesellschaft berühmter und wohl adeliger Minnesänger, wie der Schwabe Heinrich von Rugge. Freilich wird Dietmar hier schon als verstorben genannt. Die Berühmtheit beruht wohl auf einem gewissen Erfindungsreichtum. So gilt Dietmar von Aist nach den gängigen Literaturgeschichten im deutschsprachigen Raum als Erfinder des Tageslieds und des Natureingangs. 19 Das heißt, ein Minnelied beginnt mit der Betrachtung über die Jahreszeit, die gleichzeitig als Einleitung der inneren Ge‐ stimmtheit des lyrischen Ichs fungiert. Darüber hinaus formulierte Dietmar von Aist als erster deutscher Dichter die Idee der Gedankenfreiheit, indem er sang: Gedanke die sint ledic fri Das kann man folgendermaßen übersetzen: ‚Die Gedanken sind frei‘. 20 Neben solchen im hohen Mittelalter durchaus originellen Versen gibt es bei Dietmar auch Langzeilenstrophen in der Tradition des Donauländischen Minnesangs, wie wir sie beim Dichter Kürenberger, aber auch im Nibelungenlied finden: 14 Klaus Wolf 21 Vgl. Wolf, Dietmar von Aist, S. 102. 22 C ist Leithandschrift meiner Edition. 23 Vgl. Bein, Thomas: Deutschsprachige Lyrik des Mittelalters. Von den Anfängen bis zum 14. Jahrhundert. Eine Einführung. Berlin 2017, S. 101-108. TON 1 21 erste Strophe C B M Dietmar von Aist: Ton 1 (MF 32, 1) Dietmar von Aist Anonym I ‚Was ist für das truren guot, / das wib nach liebem manne hat? lieben G senen guot F; lieber G gerne das min herze erkande, / wan es so bet‐ wungen stat.‘ wie gerne M; wan daz iz so G also redte ein frouwe geneme, also redete ain vrouwe schöne F also reit ein vrowe schone F ‚vil wol ichs an ein ende keme, köme M an ein ende ich des wol chöme F enwer diu huote. wan diu huote F wan diu huote F selten sin vergessen wirt in minem muote.‘ Dies heißt übersetzt, wobei ich mich auf den Text links beziehe, der dem Codex Manesse, hier gekennzeichnet mit dem Großbuchstaben C, entnommen ist: „Was hilft gegen das Trauern, das eine Frau wegen ihres Geliebten empfindet? Gerne würde das mein Herz verstehen, weil es so ganz und gar überwunden ist.“ So sprach eine schöne Dame: „Sehr gerne würde ich damit an ein Ende kommen, wenn nicht die Moralapostel wären. Nie werde ich meinen Geliebten vergessen.“ Wer spricht hier? Hier ist die Minneklage einer adeligen Dame zu vernehmen, verfasst vom männlichen Dichter Dietmar von Aist. Interessant sind darüber hinaus aber die Varianten der anderen Handschriften. Die mittlere Spalte meiner eigenen Dietmar-Edition zeigt die Abweichungen der Stuttgarter Liederhandschrift, welche mit dem Großbuchstaben B mar‐ kiert wird. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Handschrift B den Reim schöne auf köme aufweist. Dies ist ein unreiner Reim. Dagegen ist der Reim nach Handschrift C 22 geneme auf keme perfekt klingend. Hier sollte man darüber diskutieren, wer für diese un‐ terschiedlichen Reimformen eigentlich verantwortlich ist. Die traditionelle Minnesange‐ xegese sieht hier überall nur Überlieferungsvarianz. Das heißt, die Abschreiber der Hand‐ schriften hätten noch etwas verändert. Nach traditioneller Sichtweise wäre der Halbreim in Handschrift B wohl typisch für den Donauländischen Minnesang, also für eine Frühstufe des Minnesangs. Halbreime hat auch der frühe Minnesänger Kürenberger. 23 Der reine Reim in Handschrift C ginge dann auf die Abschreiber wohl in Zürich selbst zurück, welche den Text eigenständig verbesserten. Damit aber bürdet man einem Abschreiber eine enorme 15 Dietmar von Aist: Minnelieder 24 Vgl. Schweikle, Minnesang, S. 157. 25 Vgl. Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unter‐ scheidet. München 2004, S. 30-34. 26 Vgl. Bein, Lyrik, S. 25-26. 27 Vgl. Schweikle, Minnesang, S. 13-14. 28 Vgl. Hartmann, Sieglinde: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein oder die Erfindung der Liebe im Mittelalter. Wiesbaden 2012, S. 49-51. poetische Last auf. Bereits Günther Schweikle äußerte Zweifel an solch einem Konstrukt. 24 Heute deutet man daher solche Varianten eher als Autorvarianten. Das heißt, Dietmar von Aist selbst ist verantwortlich für die verschiedenen Lesarten. In einer Frühphase hätte Dietmar dann den Halbreim gedichtet, wie wir ihn in der Handschrift B finden. In einer späteren Phase schuf er die Fassung mit reinem Reim, wie sie sich jetzt in Handschrift C findet. Damit aber blicken wir in die Dichterwerkstatt Dietmars. Er sitzt auf seiner öster‐ reichischen Burg und nimmt sich ein altes Gedicht wieder vor und verbessert den Reim‐ klang. Ein Dichter, der lebenslang an seinem Werk feilt, ist in der Neugermanistik keine ungewöhnliche Vorstellung. So gibt es vom Gedicht römischer Brunnen des Conrad Fer‐ dinand Meyer mehrere edierte Fassungen. 25 Ich erkläre deshalb die verschiedenen Varianten von Ton I zu Autorfassungen, die also auf den Dichter Dietmar selbst zurückgehen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass es im Überlieferungsgang auch zu Überlieferungsvarianz durch Schreiberversehen kommen konnte. Dennoch ist der Lyriker Dietmar grundsätzlich methodisch nicht anders zu edieren als ein moderner Lyriker. Die hier gewählte Dokumentation der Autorvarianz mittels Sy‐ nopse bewährt sich besonders bei der Fassung M, denn ein Blick auf Handschrift M, hinter der sich die berühmten Carmina Burana verbergen, die wohl in Neustift bei Brixen aufge‐ zeichnet wurden, 26 ergibt eine Lesart ganz eigener Prägung. In dieser beihnahe legendären Handschrift finden sich am Ende von lateinischen Liedern vereinzelt deutsche Strophen, freilich anonym. Die gängige Deutung besagt, dass mit dem deutschen Text die bekannte Melodie signalisiert wurde, auf die dann auch die lateinischen Strophen zu singen waren. Unsere Dietmar-Strophe erscheint in der Carmina Burana-Handschrift ebenso anonym, wie an anderer Stelle eine Strophe Walthers von der Vogelweide oder Heinrichs von Mo‐ rungen. 27 Der Text der anonymen Dietmarstrophen steht für eine andere Fassung, die für mich eine Autorfassung darstellt. Im ersten Vers der Strophe heißt es in der Fassung der Carmina Burana-Handschrift senen, also ‚Sehnsucht‘, statt truren im Sinne von ‚Trauer‘ in den Handschriften B und C. Während Sehnsucht noch Hoffnung zulässt, scheint die Trauer doch deutlich pessimistischer zu sein. Geht man von Autorvarianz aus, dann schuf Dietmar eine optimistischere und eine pessimistischere Version seiner Strophe. Doch auch in der Metrik gibt es Autorvarianz. Formal liegt in Ton I eine Langzeilen‐ strophe mit Zäsur in der Mitte vor, wie man sie ganz ähnlich auch beim Nibelungenlied findet und ebenso beim Kürenberger oder Meinloh von Sevelingen, beide Vertreter des frühen oder Donauländischen Minnesangs. 28 Wie der Kürenberger weist auch die Fassung B von Ton I vornehmlich Halbreime auf, während die Fassung C rein gereimt ist. Dennoch ist auch die Fassung C mit ihren Langzeilen als formal durchaus konservativ zu betrachten. 16 Klaus Wolf 29 Vgl. Wolf, Dietmar von Aist, S. 109. Doch Dietmar von Aist hat auch Lieder in der moderneren Kanzonenform, so wie hier in Ton VIII 29 : C B Dietmar von Aist: Ton VIII (MF 36,5) Reinmar der Alte C 19 B24 I Diu werlt noch ir alten sitte an mir begat mit nide. niden G M Si vert mir wunderliche mitte. si wellent, daz ich mide Den besten friunt, den ieman hat. wie sol des iemer werden rat? sol ich ir lange frömde sin, sol ich ime F vrömede M ich weis wol, daz tuot ir we. tuot ime we F daz ist diu meiste sorge min. C20 B25 II Nieman vindet mich dar an munstete mines muotes, In si der eine, der ir gan ich si G vil eren und guotes. Si kann mir niemer werden leit, des biutte ich mine sicherheit. also trurig wart ich nie, swenne ich die wolgetanen sach, min senendes ungemach zergie. Das heißt übersetzt: Die Leute begegnen mir alter Gewohnheit gemäß 17 Dietmar von Aist: Minnelieder 30 Übersetzung nach Früheste deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Herausge‐ geben, übersetzt und kommentiert von Horst Brunner. Stuttgart 2005, S. 92-93. 31 Vgl. Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch / Neuhoch‐ deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986, passim. noch immer mit Neid. Sie verfahren seltsam mit mir, sie wollen, dass ich die beste Geliebte meide, die man haben kann. Was kann man da machen? Bin ich lange von ihr entfernt, so tut ihr das, wie ich genau weiß, weh. Das ist meine größte Sorge. Keiner wird es herausfinden, dass ich davon abzubringen bin, der eine zu sein, der ihr große Ehre und Gutes gönnt. Sie kann mir niemals verleidet werden, das schwöre ich! Nie wurde ich so traurig, dass nicht, wann immer ich die Schöne sah, mein Liebeskummer verging. 30 In meiner Edition sieht man links die Fassung nach Codex Manesse oder auch Hand‐ schrift C. Rechts sieht man hingegen eine Fassung nach der Stuttgarter Liederhandschrift mit der Sigle B. Während Codex Manesse das Lied Dietmar von Aist zuschreibt, steht es in Handschrift B unter dem Minnesänger Reinmar dem Alten. Hat nun Reinmar einfach Dietmar plagiiert? Nein, denn die erste Strophe bei Reinmar stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In Vers 7 und Vers 8 finden man bei Reinmar die Pronomina ime also ‚ihm‘. Das heißt, beim Dichter Reinmar ist das lyrische Ich eine Frau. Bei Reinmar spricht in Strophe I eine Frau und in Strophe II ein Mann. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Wechsel. Reinmarkenner wissen außerdem, dass er ein gewisses Faible für Frauenstrophen hatte. 31 Eine statistische Auswertung bei Dietmar von Aist zeigt dagegen, dass bei ihm Frauenstrophen, ganz im Gegensatz zu seinem donauländischen Dichterkollegen Kürenberger, eher selten sind. Die linke Spalte meiner Edition zeigt also bei Dietmar zwei Männerstro‐ phen. Und die rechte Spalte zeigt bei Reinmar eine Frauenstrophe und eine Männerstrophe. Fest steht auch, dass der adelige Dietmar von Aist der ältere Minnesänger ist, während der 18 Klaus Wolf 32 Vgl. Schweikle, Günther: Reinmar der Alte. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a. ]. Berlin / New York 1989, Sp. 1180-1191. 33 Vgl. Schweikle, Günther: Heinrich von Rugge. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserle‐ xikon. Bd. 3. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [ u. a.]. Berlin / New York 1981, Sp. 869-874. 34 Vgl. Des Minnesangs Frühling. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt, neu bearbeitet von Carl von Kraus. 33. Auflage. Stuttgart 1965, S. 36. 35 Vgl. Bein, Lyrik, S. 65-69. 36 Zitiert nach Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungs‐ editionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cor‐ meau bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kom‐ mentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin / Boston 2013, S. 412. 37 Vgl. Reinmar. Lieder nach der Weingartner Liederhandschrift, S. 138-139. 38 Vgl. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus, bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 38. erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stutt‐ gart 1988, S. 59. eher niederständische und sich als Berufsdichter verdingende Reinmar im Vergleich zu Dietmar jünger war. Sein Beiname ‚der Alte‘ wird nur verwendet, um ihn von Sangspruch‐ dichtern wie Reinmar von Zweter zu unterscheiden. 32 Also noch einmal: Dietmar ist der Ältere, den Reinmar nicht plagiiert, sondern weiterdichtet. Modern gesprochen: Reinmar featuring Dietmar. Ein derartiges Verfahren kennt man bei Reinmar häufiger. Er benutzt beispielsweise viele Lieder des adeligen Minnesängers Heinrich von Rugge, die er weiter‐ dichtet und unter seinem Namen laufen lässt. 33 Ältere Editionen 34 dagegen interpretieren einen derartigen Überlieferungsbefund dahingehend, dass nur eine einzige Fassung einem Dichter angehört, während die anderen Fassungen auf Schreiberversehen beruhen. Damit also wäre es ein Versehen in Handschrift B, dass dort diese beiden Strophen unter Reinmar stehen. Dies hätte gemäß traditioneller Auffassung ein nachlässiger Abschreiber verur‐ sacht. Die moderne Minnesangphilologie dagegen greift Mehrfachzuschreibungen in den Überlieferungen im Sinne kommunikativer und performativer Bedingungen auf. 35 So ist etwa im Codex Manesse im Oeuvre Walthers von der Vogelweide über einem Waltherlied zu lesen: In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man  36 Das bedeutet, Walther von der Vogelweide verwendet die Melodie des Minneliedes Ich wirbe umb allez daz ein man. Letzteres ist aber ein Lied Reinmars des Alten. 37 Konkret dichtet Walther auf die Melodie Reinmars einen neuen Text. Hier offenbart also Codex Manesse die Aufführungsmodalitäten des Minnesangs. Die Dichter zitieren und persiflieren sich gegenseitig. Der Fall Dietmar versus Reinmar ist also keineswegs ungewöhnlich. Es be‐ durfte allerdings der letzten dreißig Jahre, bis sich solche Vorstellungen des Minnesangbe‐ triebes etablieren konnten. Überhaupt gehört Dietmar von Aist zu den Hauptopfern einer antiquierten Minnesangphilologie. Von den 16 Tönen oder Minneliedern werden ihm von der traditionellen Forschung 13 als unecht abgesprochen. Die immer noch maßgebliche Edition ‚Des Minnesangs Frühling‘ verzeichnet ab Lied IV alles als unecht. Wörtlich heißt es in der Ausgabe: „Dietmar zugeschriebene Lieder“. 38 Diese Lieder seien zwar unter dem 19 Dietmar von Aist: Minnelieder 39 Vgl. Schweikle, Günther: Neidhart. Stuttgart 1990, S. 35. 40 Vgl. Bein, Lyrik, S. 122-123. 41 Vgl. Schweikle, Günther: Burggraf von Regensburg. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasser‐ lexikon. Bd. 7. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Be rlin / New York 1989, Sp. 1087-1089. 42 Vgl. Kornrumpf, Gisela: ‚Budapester Liederhandschrift‘. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Ver‐ fasserlexikon. Bd. 11. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 2004, Sp. 305-307. Namen Dietmars überliefert, aber erst nach seinem Tod von anonymen Verehrern oder Schreibern verfasst worden. Darunter fällt auch das Tagelied Slafest du, friedel ziere. Au‐ thentisch seien im Sinne der älteren Forschung nur Langzeilenstrophen, die man im Ton I findet. Der erste Minnesangphilologe, der an diesen Wertungen massiv Kritik übte, war Günther Schweikle, der ironisch von einer „Geisterschar“ der Pseudo-Dichter und ver‐ meintlich kreativen Abschreiber sprach. 39 Das Problem der postulierten Pseudo-Dichter betrifft übrigens auch Reinmar, dem ebenfalls eine Heerschar von Pseudo-Reinmaren lange zugemutet wurde. 40 Tatsächlich haben wir erst in jüngster Zeit einige Editionen, welche den Autorzuschreibungen der Handschriften mehr vertrauen als dem allmächtigen Philo‐ logenurteil in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Es war und ist ein schmerzlicher Prozess, das Minnesangbild der philologischen Titanen Karl Lachmann und Carl von Kraus abzu‐ schütteln. Am mutigsten und am frühesten wirkte für den Donauländischen Minnesang der hier schon mehrfach erwähnte Günther Schweikle. Letztlich geht es um nichts weniger als das Dichterbild für den hochmittelalterlichen Minnesang. Die alte Forschung verband mit einem Dichternamen nur eine bestimmte Stilrichtung. In diesem Sinne hätte der Burg‐ graf von Regensburg altertümliche Langzeilen gedichtet und der Burggraf von Rietenburg moderne kurzversige Kanzonen. Für Regensburg wohl auch als Aufführungsort zu sichern sind zahlreiche Strophen des Burggrafen von Regensburg, der aus dem Geschlecht der Rietenburger oder Riedenburger (bei Regensburg) stammte. 41 Denn seit der Auffindung jenes der Regensburger Buchmaler‐ schule angehörenden sogenannten Budapester Fragments ist auch die personale Identität der früher als Autoren auseinandergehaltenen Burggrafen von Regensburg beziehungs‐ weise Rietenburg evident. Tatsächlich finden sich in diesem Fragment die Strophen des Rietenburgers unter dem Namen Regensburg. 42 Dies spricht für die faktisch übereinstim‐ mende personale Identität der Träger beider Personen- oder Herkunftsnamen. Wenn dann ein Teil des Korpus mit Langzeilenstrophen archaischer ist als andere Stro‐ phen unter demselben (Regensburg-Rietenburger) Autornamen, kann man dies unschwer mit einer Weiterentwicklung des Dichters erklären. Ohnehin ist historisch nachgewiesen, dass die Riedenburger häufiger das Burggrafenamt in Regensburg innehatten. Dieser Sach‐ verhalt eines formal breiteren Korpus von der Langzeilenstrophe zur Kanzone gilt ähnlich für Dietmar von Aist, der gleichfalls eine Entwicklung von der archaischen, am donau‐ ländischen Nibelungenlied geschulten Langzeilenstrophe zur Minnekanzone aufweist. Diese Weiterentwicklungen im Œuvre bei Dietmar von Aist wie beim Regensburg-Rieten‐ burger Burggrafen erweisen aber den Donauländischen Minnesang als offen für Neuent‐ wicklungen wohl (wie man häufig annimmt) aus dem Westen Europas. Demnach hätte der Donauraum die Anfänge des Minnesangs und seine Weiterbildung zur Minnekanzone des 20 Klaus Wolf 43 Vgl. Minnesangs Frühling, 38. Auflage, 1988, S. 59. 44 Vgl. Wolf, Dietmar, passim. Hohen Minnesangs beheimatet, wobei aber die westliche Herkunft der Kanzone ohnehin bis heute umstritten ist. Die Dichter Dietmar beziehungsweise der Regensburger Burggraf hätten sich dann eben stilistisch weiterentwickelt, ähnlich wie Johann Wolfgang von Goethe etwa mit dem Sturm und Drang und mit der Weimarer Klassik Protagonist mehrerer literaturgeschichtlicher Epochen war. Die ältere Minnesangforschung suchte dieses ei‐ gentlich naheliegende literaturgeschichtliche Modell eines sich weiterentwickelnden Dich‐ ters durch sterile Separierungen in mehrere Dichterpersönlichkeiten mit je einheitlichem Minnesangkonzept gar nicht erst aufkommen zu lassen. So wurde etwa zwischen einem archaischen Burggrafen von Regensburg und einem innovativen Burggrafen von Rieten‐ burg unterschieden, was erst falsifiziert war, als mit dem auch wegen seiner diphthon‐ gierten, bairischen Formen ursprünglich in Regensburg beheimateten, wenn nicht gar ent‐ standenen und 1985 wieder aufgetauchten Budapester Fragment Werke des Burggrafen von Rietenburg unter dem Autornamen Burggraf von Regensburg firmierten. Ähnlich absurd ist die Aufspaltung der unter Dietmar von Aist überlieferten Strophen in einen authenti‐ schen Dietmar mit Langzeilenstrophen und viele Pseudo-Dietmare („Dietmar zugeschrie‐ bene Lieder“ 43 ) mit neuen Formexperimenten, wie es die Dietmar-Forscher lange taten. Darunter fällt auch das erste deutschsprachige Tagelied als vermeintlicher Pseudo-Dietmar. So erscheint es mir auch im Kontext der gesamten deutschen Literaturgeschichte am naheliegendsten, Dietmar von Aist als eine vielseitige Dichterpersönlichkeit zu würdigen. Er begann mit traditionellen Langzeilenstrophen, die teilweise noch Halbreim aufwiesen. Später machte er daraus reine Reime. Im Übrigen zeigten meine sprachhistorischen Unter‐ suchungen, dass viele der vermeintlich unreinen Reime in der bairischen Mundart Dietmars in Wirklichkeit rein klangen. 44 Dies geht leider aus den meisten Dietmar-Editionen, welche in Unkenntnis der Reimgrammatik mechanisch und unreflektiert Zirkumflexe setzen, nicht hervor. Dietmar griff nicht zuletzt die moderne Form der Kanzone auf. Er erfand den Na‐ tureingang, jedenfalls macht keiner der älteren Dichter so systematisch Gebrauch davon. Und es ist aus derselben (ostoberdeutschen) Sprachlandschaft der ungemein produktive und noch weit im Spätmittelalter rezipierte Minnesänger Neidhart, welcher später in seinen Sommer- und Winterliedern den Natureingang gar zum gattungskonstituierenden Mar‐ kenzeichen adelt. Und schließlich sind es auch die mittelalterlichen Zeitgenossen, welche wie Reinmar in seiner Adaptation Dietmar die Ehre erweisen. Es lohnt sich also, den Min‐ nesänger Dietmar von Aist in seiner authentischen gattungsmäßigen Vielfalt und Kom‐ plexität zu betrachten, einen innovativen Dichter, der lebenslang nach dem perfekten Ge‐ dicht strebte. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Des Minnesangs Frühling. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt. Neu bearbeitet von Carl von Kraus. 33. Auflage. Stuttgart 1965. 21 Dietmar von Aist: Minnelieder Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 38. erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988. Früheste deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Horst Brunner. Stuttgart 2005. Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Herausgegeben von Karl Stackmann. Tübingen 2000. Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986. Schweikle, Günther: Die Mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Die Frühe Minnelyrik. Texte und Übertra‐ gungen. Einführung und Kommentar. Darmstadt 1977. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15. veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14. von Christoph Cormeau be‐ arbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin / Boston 2013. Wolf, Klaus: „Dietmar von Aist. Kommentierte Ausgabe nach Codex Manesse mit den Fassungsva‐ rianten der Parallelüberlieferung“. Leuvense Bijdragen 96 (2007-2010): 79-119. Sekundärliteratur: Bein, Thomas: Deutschsprachige Lyrik des Mittelalters. Von den Anfängen bis zum 14. Jahrhundert. Eine Einführung. Berlin 2017. Bumke, Joachim: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990. Deuchler, Florens: Strukturen und Schauplätze der Gestik: Gebärden und ihre Handlungsorte in der Malerei des ausgehenden Mittelalters mit einem Exkurs zum Bildwissen. Berlin 2014. Dittrich, Sigrid und Lothar: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts. Petersberg 2005. Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? 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Ostritz, Sven und Maria Stürzebecher [u. a.]: Der Schatzfund: Archäologie - Kunstgeschichte - Siedlungsgeschichte. Bd 1. Erfurt 2010. 22 Klaus Wolf Schweikle, Günther: „Heinrich von Rugge“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserle‐ xikon. Bd. 3. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1981: Sp. 869-874. — : Minnesang. Stuttgart 1989. — : „Burggraf von Regensburg“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1989: Sp. 1087-1089. — : „Reinmar der Alte“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1989: Sp. 1180-1191. — : Neidhart. Stuttgart 1990. Tervooren, Helmut: „Dietmar von Aist“. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Bd. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. Kurt Ruh [u. a.]. Berlin / New York 1980: Sp. 95-98. Voetz, Lothar: Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015. Walther, Ingo F. und Gisela Siebert: Codex Manesse. Die Miniaturen der großen Heidelberger Lie‐ derhandschrift. 4. Auflage. Frankfurt / M. 1988. 23 Dietmar von Aist: Minnelieder 1 Zur Rezeption des Orlando Furioso in Deutschland vgl. Rivoletti, Christian: Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia. Venezia 2014, S. 257-321. Rezeption des Orlando furioso von Ariosto Laura Terracina: Discorsi sopra le prime stanze de’ canti d’Orlando furioso Rotraud von Kulessa und Daria Perocco 1516 erscheint in Ferrara die erste Fassung des Orlando furioso (Der rasende Roland), des Ludovico Ariosto (1447-1533), gefolgt von einer zweiten Edition publiziert 1521 in Mailand und schließlich der endgültigen Version in 46 Gesängen, die 1532 wiederum in Ferrara er‐ scheint. Das Ritterepos, das als Fortsetzung des unvollendeten Orlando innamorato (1483) des Matteo Maria Boiardo (1441? -1494) konzipiert war, wurde lange Zeit ausschließlich als Unterhaltungsliteratur im Kontext des Hofes der Familie d’Este in Ferrara rezipiert. Erst Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) öffnet in seinen Vorlesungen über die Ethik (1818-1829) den Blick auf eine kritische Auseinandersetzung Ariostos mit der Tradition des mittelalterlichen Ritterromans. 1 Ursprünglich verfasst für den mündlichen Vortrag am Hofe der d’Este in Ferrara, erin‐ nern die komplex ineinander verschachtelten zahlreichen Handlungsstränge an einen Fort‐ setzungsroman. Das Ende der einzelnen Gesänge bleibt in der Regel offen und lässt den Leser in spannender Erwartung auf den Fortgang der jeweiligen Handlung. Dabei spannen sich die diversen Nebenhandlungen um drei Hauptstränge, die wiederum eng miteinander verflochten sind: die Handlung, die sich um die Kriege Karls des Großen gegen die Sara‐ zenen entspannt; der Liebesplot um Angelica, in die quasi alle männlichen Helden verliebt sind, die jedoch vor ihren Verehrern flieht, unter denen sich auch Orlando selbst befindet, eponymer Held des Epos, der aus Liebe zu Angelica dem Wahnsinn verfällt. Schließlich haben wir die Handlung um die Beziehung zwischen Ruggiero und Bradamante, d. h. das enkomiastische Motiv der Entstehung des Hauses der Familie d’Este, in deren Dienst Ari‐ osto steht. Erscheinen dem heutigen Leser die in Oktaven verfassten (insgesamt 38736 Verse) 46 Gesänge zuweilen als schwere Kost, so war das Versepos des Ariosto tatsächlich das meist gelesene Werk der italienischen Renaissance. Zahlreich sind deshalb die Relektüren und Kommentare des Werkes, zu denen auch die Verse der neapolitanischen Dichterin Laura Terracina gehören. Mit ihren Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso 2 Der vorliegende Beitrag ist eine deutschsprachige Zusammenfassung unserer Einleitung zur kriti‐ schen Ausgabe der Discorsi der Laura Terracina: Laura Terracina. Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando Furioso. Hgg. Rotraud von Kulessa und Daria Perocco. Firenze 2017, S. 9-46. 3 Insgesamt verfasste Laura Terracina neun Verssammlungen (von den Prime Rime zu den None Rime), wobei sich hinter den Terze Rime (1549) die Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso verbergen und die Ottave Rime (1562) den ersten Teil eben dieser Discorsi sowie den zweiten Teil derselben beinhalten. 4 Zu ihrer Biographie vgl. Maroi, Lina: Laura Terracina. Poetessa napoletana del secolo XVI. Napoli 1913; Borzelli, Angelo: Laura Terracina, poetessa del Cinquecento. Napoli 1924; Croce, Benedetto: Storie e leggende napoletane. Milano 1990, S. 270-283; Mutini, Claudio: „voce Bacio Terracina Laura“. Dizionario bibliogafico degli Italiani. V (1963): S. 61-63. (http: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ laura-b acio-terracina_%28Dizionario-Biografico%29/ ); Shemek, Deanna: „Laura Terracina“. Liriche del Cinquecento. Hgg. Monica Farnetti und Laura Fortini. Guidonia 2014, S. 170-179; Shemek, Deanna: Donne erranti. Donne e trasgressione sociale nell’Italia del Rinascimento. Mantova 2003, S. 159-192; Jaffe, Irma B.: Shining Eyes, Cruel Fortune. The Lives and Loves of Italian Renaissance Women Poets. New York 2002, S. 163-201. (1549) 2 tritt sie in einen kritischen Dialog mit dem berühmten Zeitgenossen, indem sie insbesondere die gesellschaftskritische Komponente der dritten Fassung des Ritterepos ak‐ zentuiert und in die Tradition des europäischen Geschlechterstreites einschreibt und mit 29 Neuauflagen bis in das Jahr 1698 selbst zu einem Besteller wird. Laura Terracina (1519-1577? ) Trotz der beträchtlichen literarischen Produktivität der Laura Terracina, 3 verfügen wir nur über wenige verlässliche Informationen zu ihrer Biographie. 4 Im Jahre 1519 erblickte Laura Bacio Terracina in Neapel das Licht der Welt. Die ursprünglich aus Brescia stammende Familie hatte sich bereits im 13. Jahrhundert vor den Repressalien der katholischen Kirche nach Neapel geflüchtet, wo sie sich der Herrschaft der Familie der Anjou gegenüber treu erwies. Wenig ist über die Jugend bzw. die Ausbildung der Dichterin bekannt. Sicher ist allerdings, dass L. Terracina von 1545-1547, unter dem Akademienamen Febea, Mitglied der Accademia degli Incogniti war, welche unter der Protektion Maria d’Aragonas stand und wie die anderen beiden neapolitanischen Akademien, die Accademia die Sereni sowie die Accademia degli Ardenti, 1547 durch den Viceré di Toledo aufgelöst wurde. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Neapel von 1501-1647 unter spanischer Herrschaft stand, wobei Karl der V. in Neapel durch den Viceré von Toledo vertreten wurde. Im Ambiente der Accademia degli Incogniti, zu deren Mitgliedern u. a. Baldassare Maracco, Giovan Francesco Brancaleone, Angelo Di Costanzo, Marco Antonio Epicuro, Antonio Minturno, Luigi Tan‐ sillo zählten und die durch Mäzenaten wie Isabella Villamarina, Prinzessin von Salerno oder den Marchese Ferrante Carafa Unterstützung erfuhren, entstand das erste Werk der Ter‐ racina, die Prime Rime, welche mit Hilfe des Buchhändlers und Verlegers Marcantonio Passero und Ludovico Domenichi 1548 bei dem namhaften venezianischen Verleger Giolito veröffentlicht wurden. 1549 erschienen die Seconde Rime, die einem deutschen Akademie‐ mitglied, Leonardo Khurz gewidmet sind. Hinter den Terze Rime verbergen sich, wie bereits erwähnt, die Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando, das Erfolgswerk der Autorin. 1550, 1552, 1558 erschienen sukzessive der vierte, fünfte und sechste Band der Reime. Die 1561 veröffentlichten siebten Reime sind den Witwen Neapels gewidmet, während die 26 Rotraud von Kulessa und Daria Perocco 5 Aus Platzgründen beschränken wir uns in diesem Artikel auf die Vorstellung des ersten Teils der Discorsi und verweisen für den zweiten Teil auf die oben zitierte kritische Edition des Textes. 6 1993 erscheint eine partielle Edition durch Luigi Montella: Una poetessa del Rinascimento Laura Ter‐ racina. Con le None Rime inedite. Salerno 1993. 7 Mutini: „voce Bacio Terracina Laura“, in Dizionario bibliografico degli Italiani. 8 Montella, Una poetessa, [2001] S. 9. 9 Maroi, Laura Terracina, S. 60. 10 Terracina, Laura: La Seconda Parte de‘ Discorsi sopra le seconde stanze de‘ canti d’OrlandoFurioso. Ve‐ nezia 1567, S. 3. Siehe auch: Pastorello, Ester: Tipografi, editori librai a Venezianel sec. XVI. Firenze 1924, S. 93. 11 Zum Verleger Giolito vgl. Quondam, Amedeo: „Mercanzia d’onore“ / „Mercanzia d’utile“.Produzione lib raria e lavoro intellettuale a Venezia nel Cinquecento“. Libri, editori e pubblico nell’Europa moderna. Guida storica e critica. Hg. Armando Petrucci. Bari 1989, S. 51-104. 12 Zu den Änderungen vgl. Von Kulessa und Perocco, Laura Terracina, S. 12-15. achten Reime von 1562 den ersten sowie den zweiten Teil der Discorsi über den Orlando furioso beinhalten, den Laura Terracina auf Betreiben ihres Ehemannes und Verlegers Val‐ vassori verfasste. 5 Die 9. Reime schließlich, die vornehmlich spirituellen und enkomiasti‐ schen Charakters sind, bleiben unveröffentlicht. 6 Was das Privatleben der Autorin betrifft, so haben einige Literaturwissenschaftler ver‐ sucht, etwaige Liebschaften aus ihren Versen zu rekonstruieren. So geht Mutini von Be‐ ziehungen zu Giovan Alfonso Mantegna di Maida und und Diomede Carafa 7 aus, während Montella den Adressaten des ersten Teils der Discorsi, Giovanni Vincenzo Belprato, für einen ihrer Liebhaber hält. 8 Wahrscheinlich heiratet die Dichterin zwischen 1560 und 1561, 9 im Alter von ca. 40 Jahren, Polidoro Terracina. Ihr Ehemann wird auch im Widmungsbrief der Secondo parte del Discorso von 1567 erwähnt, wenn die Autorin angibt, von ihrem Ehe‐ mann und dem Verleger Luigi Valvassori zu dieser Fortsetzung gedrängt worden zu sein. 10 1577 signierte Laura Terracina den Widmungsbrief ihres letzten Werkes an den Kardinal Ferrante de‘ Medici. Ihr Todesdatum ist ungewiss und wird im Hinblick auf dieses ‚letzte Lebenszeichen‘ auf eben dieses Jahr 1577 festgesetzt. Discorso sopra il Principio di tutti i canti d’Orlando Furioso: Laura Terracina im Dialog mit Ariosto 1549 erscheint in Venedig der Discorso sopra il Principio di tutti li primi canti d’Orlando Furioso fatti per la signora Laura Terracina im namhaften Verlag des Gabriel Giolito de Ferrari. 11 Bereits im Folgejahr erfolgt eine zweite Ausgabe mit bedeutenden Änderungen. Zwischen 1551 und 1554 werden zwei weiter Editionen veröffentlicht - immer bei Giolito - deren Änderungen und Korrekturen allerdings nur noch punktuell sind. Die Ausgabe von 1554 wird dann auch mehrheitlich als Grundlage für die 25 folgenden Editionen gelten. In der zweiten Ausgabe von 1550 werden von der Autorin so ganze Oktaven ausgetauscht und die Adressaten der Widmungsoktaven geändert, so verschwindet im Gesang 18 Anton Fugger, welcher 1550 durch Donna Clarice Drusina Principessa d’Ostiliano ersetzt wird. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. 12 Mit ihren Discorsi schreibt Laura Terracina sich in der Tat in die Mode der Orlando-Kom‐ mentare ein, denn das Werk Ariostos hatte es, wie bereits erwähnt, zum Bestseller der 27 Rezeption des Orlando furioso von Ariosto 13 Im selben Jahr werden auch veröffentlicht: Fornari, Simone: Spositione sopra l’Orlando furioso. Firenze 1549; zur Bedeutung Ariosts für die neapolitanische Literaturlandschaft der Renaissance, s. auch Genovese, Gianluca: „Ariosto a Napoli. Vicende della ricezione del Furioso negli anni trenta e qua‐ ranta del Cinquecento“. ‚Tra mille carte vive ancora‘. Ricezione del Furioso tra immagini e parole. Hgg. Lina Bolzoni und Serena Pezzini et.al. Lucca 2010, S. 339-355. 14 Siehe auch Lucioli, Francesco: „Riscrittura come esegesi: Laura Terracina lettrice ed interprete dell‐ ’Orlando furioso“. Romanische Studien, (http: / / www.romanischestudien.de/ index.php/ rst), (in Vor‐ bereitung). 15 Casapullo, Rosa: „Contatti metrici fra Spagna e Italia: Laura Terracina e la tecnica della glosa“. Atti del XXI Congresso internazionale di linguistica e filologia romanza. Hg. Giovanni Ruffino. Tübingen 1998, S. 161-189. 16 Erspamer, Francesco: „Centoni e petrarchismo nel Cinquecento“. Scritture di scritture. Testi, generi, modelli nel Rinascimento. Hgg. Giancarlo Mazzacurati und Michel Plaisance. Roma 1987, S. 463-495. 17 Zum europäischen Geschlechterstreit (Querelle des femmes) vgl. Zimmermann, Margarete: „The Querelle des femmes as a cultural studies paradigma“. Time, Space and Women’s Lives in Early Modern Europe. Hg. Anne Jacobson Schutte. Kirksville 2001, S. 17-28; Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2000; Bock, Gisela und Zimmermann, Mar‐ garete: „Die Querelle des femmes in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einfüh‐ rung“. Querelles - Jahrbuch für Frauenforschung 1997. Die europäische Querelle des femmers - Ge‐ schlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Hgg. Gisela Bock und Margarete Zimmermann. Stuttgart und Weimar 1997, S. 9-38; Bock, Gisela: Women in European History. Oxford und Malden Mass. 2002; Hassauer, Friederike (Hg.): Heißer Streit und kalte Ordnung. Göttingen 2008; Viennot, Eliane: „Revister la Querelle des femmes. Mais de quoi parle-t-on? “. Revisiter la ‚Querelle des femmes‘. Discours sur l’égalité / l’inégalité des femmes et des hommes, de 1750 aux lendemains de la Révolution. Hgg. Eliane Viennot und Nicole Pellegrin. Saint Etienne 2012, S. 7-29; von Kulessa, Rotraud: „Introduzione“. Conflitti culturali a Venezia dalla prima età moderna ad oggi. Hgg. Rotraud von Kulessa, Daria Perocco und Sabine Meine. Firenze 2014, S. 10-12; Perocco, Daria: „La Querelle des femmes et l’histoire de la littérature en Italie: Le cas particulier de la recherche italienne“. Revisiter la Querelle des femmes: Les discours sur l’égalité / inégalité des femmes et des hommes, à l’échelle européenne de 1400 à 1800. Hgg. Armel Dubois-Nayt, Marie-Elisabeth Henneau und Rotraud von Kulessa. Saint-Etienne 2016, S. 101-109; Cox, Virginia und Ferrari, Chiara: Verso una storia di genere della letteratura italiana. Percorsi critici e gender studies. Bologna 2012. Renaissance gebracht. 13 Schon in ihren Prime Rime hatte sie das Prinzip der Transmutazione des Orlando zur Anwendung gebracht. 14 Wie die dritten Fassung des Orlando furioso selbst, besteht der Discorso aus 46 Gesängen, die jeweils sieben Oktaven enthalten, denen eine Widmungsoktave vorangestellt wird. Im ersten Teil des Discorso ist der letzte Vers die suk‐ zessive Aufnahme eines Verses der ersten Oktave des entsprechende Gesanges im Or‐ lando, mit Ausnahme der jeweils siebten Oktave, die die beiden letzten Verse der ersten Oktave des jeweiligen Gesangs des kommentierten Textes reproduziert. Laura Terracina bringt somit die Techniken des Centone  15 und der spanischen Glosa  16 zusammen, wobei sie bei diesem literarischen ‚Spiel‘ nicht immer große Sorgfalt walten lässt, denn häufig er‐ scheinen die von Ariosto entlehnten Abschlussverse der Oktaven nahezu als Fremdkörper. In der Tat ist es nicht der ästhetische Wert, der das Werk der Terracina auch heute noch lesenswert macht, sondern vielmehr seine kulturhistorische Bedeutung als Kritik an der damaligen, insbesondere neapoletanischen Gesellschaft, sowie seine Bedeutung für die eu‐ ropäische Querelle des femmes.  17 Unter den Adressaten der Widmungsgesänge erscheinen wichtige politische Persön‐ lichkeiten der Renaissance, die sich insbesondere im Kontext Neapels finden lassen. So ist der erste Gesang Karl dem Fünften gewidmet, Herrscher über Spanien, und damit in diesen 28 Rotraud von Kulessa und Daria Perocco 18 Milligan, S. Gerry: „Proving Masculinity before Women: Laura Terracina and Chiara Matraini Writing on Warfare“. The Poetics of Masculinity in Early Modern Italy and Spain. Hgg. Gerry Milligan und Jane Tylus. Toronto 2010, S. 185-212. Jahren auch über Neapel. Als dessen Stellvertreter vor Ort erscheint der Viceré von Toledo (Gesang XVIII ). Aber auch Henri II de Valois ( XL ), der Sultan Solimanni ( XLII ), Philipp Markgraf von Hessen ( XLV ) sowie Philipp von Österreich, Prinz von Spanien ( XLVI ) ge‐ hören zu den Adressaten der Widmungsoktaven. Erscheint das Netz der Adressaten auf den ersten Blick einer prospanischen Haltung der Autorin zu entsprechen, so finden sich jedoch auch eine gewisse Anzahl von Widmungsgesängen, die an Persönlichkeiten ge‐ richtet sind, die klar dem proreformatorischen Kontext, in der Form des Valdesianismus, zuzurechnen sind, wie Bernardino Bonifacio Marchese d’Oria, dem die Autorin 1549 das gesamte Werke widmete, aber auch Costanza d’Avalos (X), sowie Maria d’Aragona ( XXXVIII ). 13 der 46 Gesänge sind generischen Adressaten gewidmet, wie den „verräteri‐ schen Freunden“ („amici traditori“) im Gesang IV oder „den Feinden der Frauen“ („nemici delle donne“) im Gesang V oder aber den „unsteten und wankelmütigen Männern“ („insta‐ bili e infermi uomini“) im Gesang XXIX . In diesen Gesängen kommt in der Regel auch eine starke moralisierende Komponente zum Ausdruck, wohingegen der Bezug zu den realen Adressaten in den Gesängen häufig nicht nachzuvollziehen ist, und sie tatsächlich mehr‐ heitlich enkomiastischen und rhetorischen Charakters sind. Allerdings lässt eine Lektüre ‚zwischen den Zeilen‘ eine Art Handlungsstrang der neapolitanischen Gegebenheiten er‐ ahnen, der den historischen Handlungsstrang der Religionskriege des Orlando ersetzt. Auch verstärkt Terracina die gesellschaftskritische und moralisierende Komponente der dritten Fassung des Orlando, wohingegen die diversen Liebesbeziehungen des Versepos im Discorso praktisch keine Rolle spielen. Ausnahmen bilden die ‚Liebesgeschichten‘ des Orlando, die als Exemplum für die Treue der Frauen dienen können, wie zum Beispiel die der Isabella und der Olympia. Die Transmutation des Textes des Ariostos zielt so auf eine ‚neapoleta‐ nische und personalisierte‘ Relektüre, die insgesamt eine sehr pessimistische Weltsicht der Autorin aufscheinen lässt. Im Gegensatz zu Ariosto, der sich im Orlando ironisch und kri‐ tisch mit der Ritterkultur der Vergangenheit auseinandersetzt, äußert sich Laura Terracina vielmehr nostalgisch über den Verfall der Sitten. In dem Don Ferrante Gonzaga Principe di Molfatta gewidmeten Gesang XIII lobt Terracina die ritterliche Kultur vergangener Zeiten und dekonstruiert damit die ironische Distanzierung des Ariosto zu eben diesem Ideal. Auch kritisiert die Dichterin wiederholt den Hang der Menschen zu Verrat und Falschheit (Ge‐ sang XIX , „A li reverendissimi cardinali“; Gesang XXI , „Ai mancator di fede“, Gesang XXIX „A li instabili e infermi uomini“ und Gesang XLIV („A li malvagi cortigiani“)), indem sie insbesondere den Verfall der Sitten an den Höfen anprangert. Weiterhin zielt ihre Kritik auf die viel verbreitete Praxis des Wuchers (Gesang XXXIV ), den Geiz (Gesang XLIII ) und den Neid (Gesang XXXI ). In einigen Gesängen finden sich darüber hinaus Anspielungen auf die politische Aktualität ihrer Zeit, wie im Gesang VI , der Gianluigi Fieschi, gewidmet ist, der genuesische Herzog, der bei seinem Revolteversuch gegen Andrea Doria 1547 ums Leben kam. Wie auch Ariosto im Orlando denunziert Terracina die Gräuel der Kriege ihrer Zeit (Gesang XV „Ai cardinali e sanguinosi capitani“), zu deren Opfern meist Frauen, Kinder, kurz die Schwachen und Unschuldigen, zählen ( XV ,2). 18 Auch scheint zuweilen in 29 Rezeption des Orlando furioso von Ariosto 19 Terracina, Laura: Parte prima, XVII, 7: „Non v’ammirate poi di quel ch’aviene / Perché per li peccati Dio si adira / Se non seguimo il ben, come conviene, / Cagion n’è il mal, che contra al ciel s’ag‐ gira, / Così sdegnato, ciechi ci mantiene / Né ci vuol, né ci brama, né ci mira / Per questo Mario e Silla pose al mondo / E duo Neroni e Caio furibondo.“ (S. 110-111). 20 Zum Geschlechterstreit im Orlando furioso vgl. Shemek, Deanna: „Of Women, Knights, Arms, and Love: The Querelle des femmes in Ariosto’s Poem“. MLN 104. 1, Italian issue, 1989, S. 68-97; Izzo, Anna Lisa: „Misoginia e filoginia nell’Orlando Furioso“. Chroniques italiennes. 22 (2012). (http: / / chro niquesitaliennes.univ-paris3.fr/ PDF/ Web22/ Izzo.pdf); Pasqualini, Francesca: „Le nozze di Brada‐ mante e Ruggiero nell’Orlando Furioso“. La letteratura degli Italiani. Hgg. Guido Baldassarri und Valeria Di Iasio et. al. Roma (2014): S. 1-12. (http: / / www.italianisti.it/ upload/ userfiles/ files/ Pasqualin i.pdf); Mac Carthy, Ita: Women and the Making of Poetry in Ariosts’s Orlando Furioso. Leicester 2007. 21 Zum ‚weiblichen Petrarkismus‘ vgl. Schneider, Ulrike: Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento. Transformationen des lyrischen Diskurses bei Vittoria Colonna und Gaspara Stampa. Stuttgart 2007; von Kulessa, Rotraud: „Weiblicher Petrarkismus in der italienischen Renaissance“. Frauenphantasien. Der imaginierte Mann von Film- und Buchautorinnen. Hg. Renate Möhrmann. Stuttgart 2014, S. 1-29. 22 Zu den Editionen der Rime der Vittoria Colonna vgl. Colonna, Vittoria: Rime, Hg. Alan Bullock. Roma und Bari 1982, S. 223-229; Dionisotti, Carlo: Geografia e storia della letteratura italiana. Torino 1967, S. 227-254. den vermeintlich enkomiastisch geprägten Gesängen eine subversive Kritik des politischen Regimes aufzuscheinen, wie im Gesang XVII , der der Stadt Neapel gewidmet ist. Allerdings wird diese Kritik mit dem Hinweis auf die göttliche Vorhersehung sogleich relativiert. Der universelle Diskurs der göttlichen Bestrafung der menschlichen Sünden, der eben auch die Möglichkeit der Tyrannenherrschaft impliziert, in dem die Tyrannen als Strafe zum sün‐ digen Volk entsendet werden, legitimiert so die Unterdrückung der neapolitanischen Be‐ völkerung durch die spanischen Herrschaft, die hier durchaus kritisch dargestellt wird. 19 Zu der Gesellschaftskritik in den Discorsi gehört auch der subversive Blick auf die Ge‐ schlechterverhältnisse, mit dem Terracina sich in die Tradition der europäischen Querelle des femmes einschreibt. Dieser Diskurs manifestiert sich im Discorso auf drei Ebenen: auf der Ebene der Metareflexion über weibliches Schreiben, auf der Ebene der expliziten Po‐ lemik sowie auf der Handlungsebene bzw. der Adressatinnen der Widmungsoktaven. Es sei vorangeschickt, dass auch im Orlando des Ariosto die Querelle des femmes allgegenwärtig ist. 20 Während Ariosto die Frage nach der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Geschlechter am Ende seines Werkes eher unentschieden lässt, schreibt Terracina ihren Bezugstext klar im Hinblick auf die Überlegenheit des weiblichen Geschlechtes um. Auf der Metaebene stellt die Dichterin so ein geschärftes Bewusstsein ob ihrer Position und Rolle als Dichterin unter Beweis. So rekurriert sie zum einen auf die gesellschaftlich akzeptierte literarische Strömung des „weiblichen Petrarkismus“ 21 und seiner besonderen Ausformung des Ehepetrarkismus in der Tradition Vittoria Colonnas, wie im Gesang II , der Eleonora Sanseverina gewidmet ist, die ihren Ehemann verloren hat. Die Rime der Vittoria Colonna, die wie die Discorsi im neapolitanischen Kontext entstanden sind, werden erstmals 1538 veröffentlicht und gehören ebenfalls zu den verlegerischen Erfolgsgeschichten des 16. Jahrhunderts. 22 In ihren Rime amorose besingt Vittoria Colonna den verstorbenen Ehe‐ gatten, Francesco Ferrante d’Avalos, Marchese di Pescara, der als Kriegsheld in der Schlacht von Pavia verstarb. Die Dichterin wird bereits von Ariosto im XXXVII . Gesang des Orlando 30 Rotraud von Kulessa und Daria Perocco 23 Terracina, Laura: La prima parte del Discorso sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso. Venezia 1567, S. 79: „Si come Apollo, de lo amato lauro / Il crin si cinse, di dolor ripeno, / Cosi del vostro stil, dolce, e sereno / Mi adorno il petto; e di sì bel tesauro. / / Né Vulcano spero io, né il forte Cauro / Sarà sì ardito e di sì largo freno / Di trarvi un punto de l’amato seno, / Anzi contra di lor mi farà Ag‐ lauro. / / E benché indegna son, di quanto io sono / Per voi specchio e splendor de la Natura / Colma di gratie, e d’honorati modi, / / Ne vo pur gloriosa; che tal dono / Fu da’ vostri occhi bei; che m’han sì dura / Stretta in mille legami, e mille nodi“. Zu den Rime amorose der Colonna vgl. Toscano, Tobia R.: Letterati, corti, accademie. La letteratura a Napoli nella prima metà del Cinquecento. Napoli 2000, S. 25-84. 24 Terracina, Laura: (XXXVII, 4, 1-4), Von Kulessa und Perocco, S. 174: „Non restate per ciò, donne ingeniose,/ Di por la barca di virtude al scoglio: / Lasciate l’ago, fatevi bramose / Sovente in operar la penna e il foglio.“ ; (XXXVII, 7, 5-8), S. 175-176: „Uscemo omai da queste servitute / In seguitar le sante, alme letture,/ Così si fosser poste a quelli studi, ch’immortal fanno le mortai virtudi.“ beispielhaft erwähnt, und auch Laura Terracina widmet ihr ein Sonett, das im Anhang des ersten Teils ihres Discorso erscheint. 23 Terracina zeigt sich der Problematik ihrer Position als Dichterin wohl bewusst; wie viele ihrer Zeitgenossinnen rekurriert sie auf die üblichen Bescheidenheitstopoi, insbesondere in den enkomiastisch geprägten Gesängen, in denen sie wiederholt ihre „niederen Ge‐ danken“ („basso pensier“ (I, 3,1)), ihre „rohe Sprache“ („aspra lingua“ ( III , dedic.,4)), ihren „so niederen Stil“ („stil sì basso“ ( XVIII , 4,1)), etc. unterstreicht. Allerdings subvertiert sie in einigen Gesängen diesen traditionellen Diskurs der schreibenden Frauen explizit (Ge‐ sänge XIV , XX XXXVII ). In Gesang XIV unterstreicht die Dichterin so den transgressiven Charakter ihres Schreibens, das sich nicht auf den Frauen durchaus zugestandenen Lie‐ besdiskurs („amoroso stile“ ( XIV , 2,1)) festschreiben lasse, sondern einer „männlichen Feder“ („una penna virile“ ( XIV , 2,5) gleichkomme, wenn sie über Themen wie zum Beispiel den Krieg schreibe. Der 20. Gesang des Discorso kann als eigentliche Antwort Terracinas auf den 37. Gesang des Orlando gelesen werden, in dem Ariosto die Frauen aufruft, selbst zur Feder zu greifen, um sich gegen misogyne Anfeindungen zur Wehr zu setzen. Terracina widmet den 20. Gesang ihres Discorso der Isabella Colonna Principessa di Sulmona, die gemeinsam mit der Dichterin selbst analog zu den kriegerischen Frauengestalten des Orlando, wie Bradamante und Marfisa, als beispielhafte Frau zitiert wird. Terracina rekurriert hier auf die Tradition der Frauenkataloge nach dem Modell des De mulieribus claris des Giovanni Boccaccio, auf den auch Ariosto in seinem 20. Gesang zurückgreift. Wie im Orlando selbst bildet der XXXVII . Gesang des Discorso den Höhepunkt des Geschlechterstreits. Laura Terracina nimmt den Aufruf des 37. Gesangs des Orlando wieder auf und wie Ariosto übt Terracina vehement Kritik an den misogynen Schriften ihrer Dichterkollegen. Anders als ihr Vor‐ gänger allerdings stellt sie fest, dass nur Frauen selbst in der Lage seien, Frauenlob zu üben. So kritisiert sie die Tatsache, dass zu wenige Frauen sich gegen die Grausamkeiten der Frauenfeinde wehren würden ( XXXVII , 3, 4) und fordert ihre Geschlechtsgenossinnen auf, sich mehr zu bilden. 24 Tatsächlich wird die Geschlechterfrage von Laura Terracina vertieft und die ambigue Darstellung Ariostos zugunsten der Frauen entschieden. Das Frauenlob wird von Terracina unter anderem auch durch die zahlreichen weiblichen Adressatinnen untermauert, deren Tugendhaftigkeit und Vorbildhaftigkeit jeweils in den 31 Rezeption des Orlando furioso von Ariosto 25 Terracina, (XXII, 4), Von Kulessa und Perocco, S. 127: „Qual donna sia, che con un solo amante / stia lieta, stia beata, e stia contenta? / Chi vuol, chi sprezza, e chi sia incostante, / Ogni picciol desio tosto l’ha spenta: / Dai crini infino a i piè tutt’è vacante, / E ne vorria cambiare il giorno trenta; / Bench’io tengo per fermo nel presente / Che rarissime siete in questa mente.“ 26 Ariosto, Ludovico: Orlando furioso, XXII, 1, 1-4: „Cortesi donne e grate al vostro amante,/ voi che d’un solo amor sète contente,/ come che certo sia, fra tante e tante,/ che rarissime siate in questa mente; […]“. Siehe auch: Waring, Caroline: „Laura Terracina’s Feminist Discourse (1549). Answering the Furioso“. Laboratorio di Nuova Ricerca. Investigating Gender, Translation & Culture in Italian Studies. Hgg. Monica Boria und Linda Risso. Leicester 2007, S. 151-167. enkomiastischen Gesängen gelobt werden (1. Teil: Gesänge II , X, XII , XVI , XX , XXVI , XXVII , XXXII , XXXV , XXXVIII , XLIII ). Auch trifft die moralische Kritik, die in zahlreichen Gesängen des ersten Teils geübt wird, vor allem die Männer, denn menschliche Laster werden von Terracina generell zu männlichen Lastern umgedeutet ( VII , VIII , XI , XV , XXIII , XXIV , XXIX ). So wird der Discorso zu einer Streitschrift gegen die männlichen Laster und Unzulänglichkeiten. Während in den misogynen Schriften des Geschlechterstreits die ver‐ meintliche Falschheit und Untreue der Frauen zur Debatte stehen, sind es bei Terracina die Männer, die ihre Frauen betrügen und verlassen ( VII , XXI , XXIII ). Der Gesang XXII , der den „Magnifiche donne“ gewidmet ist und auf den ersten Blick eine Kritik der wollüstigen und untreuen Frauen zu sein scheint, negiert die Ironie Ariostos im korrespondierenden Gesang des Orlando vollständig. So heißt es bei Terracina: Welche Frau sei denn mit einem einzigen Liebhaber Froh, glücklich und zufrieden? Wer will, wer verachtet, wer wankelmütig sei, befriedigt alsbald jedes noch so kleine Bedürfnis. Von den Haarspitzen bis zu den Füßen, ist alles unzuverlässig Und würde am Tage 30 Liebhaber wechseln, Obwohl ich heute davon ausgehe, dass ihr sehr wenige von dieser Art seid. 25 Während Ariosto schreibt: Ihr Frauen, die ihr wohl erzogen und eurem Liebhaber dankbar seid, die ihr euch mit einer einzigen Liebe zufrieden gebt, so ist es doch sicher, dass ihr unter so vielen, nur sehr wenige dieses Geistes seid. 26 Auch wenn von Hochmut, Ehrgeiz und Neid die Rede ist, handelt es sich im Discorso um rein männliche Fehler, unter denen allein die Frauen zu leiden haben. Auf der diskursiven Ebene wird Terracina spätestens in den Gesängen V und XXVIII , die jeweils den Männern als „Feinde der Frauen“ („uomini nemici delle donne“) gewidmet sind, explizit. Im V. Gesang des ersten Teils des Discorso nimmt sie die Einleitungsoktave des korrespondierenden Ge‐ sangs des Orlando auf, die ebenfalls von der Grausamkeit handelt, mit der die Männer Frauen behandeln. In ihrer Widmungsoktave gibt Terracina so vor, ihre Geschlechtsgenos‐ sinnen rächen zu wollen. Im Bewusstsein der gesellschaftlichen Grenzen, die ihrem Ge‐ schlecht auferlegt sind, hofft sie dabei auf die göttliche Gerechtigkeit. Der Gesang scheint einen Anklagemonolog zu inszenieren, der ganz in der Tradition der Geschlechterpolemik 32 Rotraud von Kulessa und Daria Perocco steht, indem die Dichterin, analog zu Ariosto, auf den Vergleich mit dem Tierreich rekur‐ riert. Dort schützen die Männchen ihre Weibchen und bekämpfen sie nicht, wohingegen Männer häufig Gewalt gegen Frauen walten ließen (Gesang V, 3, 4). Im Gesang XXVIII vertieft L. Terracina die Klage gegen die Verleumder der Frauen, indem sie die Geschichte des Gastwirtes aus dem korrespondierenden Gesang des Orlando anzitiert. Es handelt sich um die Episode über die wollüstige Fiammetta. Die Geschichte wird von Terracina nicht nacherzählt, da sie davon ausgeht, dass diese bei den zeitgenössischen Lesern bekannt war. Als Antwort auf diese Episode wird im folgenden Gesang, der sich an die „wankelmütigen Männer“ („Alli instabili, e infermi uomini“), richtet und praktisch keinen Bezug zum kor‐ respondierenden Gesang des Orlando aufweist, der Topos der wankelmütigen und wollüs‐ tigen Frau nun vollkommen dekonstruiert, indem das Bild der untreuen und wankelmütigen Männer entworfen wird. Die aufmerksame Lektüre des Discorso der Terracina zeigt uns also eine sehr kritisch distanzierte Auseinandersetzung mit dem Bezugstext. So spielt die Handlung des Orlando für Terracina eine sehr untergeordnete Rolle und wird allenfalls anzitiert, da beim Leser als bekannt vorausgesetzt. Tatsächlich konzentriert Terracina sich ganz auf die Einleitungs‐ oktaven der Gesänge des Orlando, die in der Regel moralische oder gesellschaftliche Fragen fokussieren. Diese schreibt die Dichterin jeweils im Hinblick auf ihre eigene, vornehmlich pessimistische, Weltsicht um. Auf der inhaltlichen Ebene erscheint das Werk des Ariosto so nur noch als ‚Vorwand‘ oder ‚Aufhänger‘, um unter dem Deckmantel der imitatio die eigenen gesellschaftlichen und politischen Positionen der Dichterin zum Ausdruck zu bringen. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Ariosto, Ludovico: Orlando furioso. Hg. Gioacchino Paparelli. Dritte Auflage. Milano 1997. Colonna, Vittoria: Rime. Hg. Alan Bullock. Roma und Bari 1982. Terracina, Laura: La prima parte del Discorso sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso. Venezia 1567. Terracina, Laura: La Seconda Parte de‘ Discorsi sopra le seconde stanze de‘ canti d’Orlando Furioso. Venezia 1567. Terracina, Laura: Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando Furioso. Hgg. Rotraud von Kulessa, Daria Perocco. Firenze 2017. Sekundärliteratur: Bock, Gisela und Margarete Zimmermann: „Die Querelle des femmes in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung“. Querelles - Jahrbuch für Frauenforschung 1997. 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Ausführlichere Verweise finden sich in meiner im Litera‐ turverzeichnis aufgeführten Thoreau-Monographie (s. dort bes. Kap. 5). 2 Vgl. z. B. Coetzee, J. M.: , „What is a Classic? A Lecture“ (1991). Stranger Shores: Essays 1986-1999. London 2002, S. 1-19; Mukherjee, Ankhi: What is a Classic? Postcolonial Rewriting and Invention of Henry David Thoreau: Walden Dieter Schulz Walden ist das Hauptwerk eines amerikanischen Autors, dessen 200. Geburtstag kürzlich in aller Welt gefeiert wurde. Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 geboren, in Con‐ cord, Massachusetts, einer Kleinstadt knapp 30 km westlich von Boston (heute ca. 17000, damals ca. 2000 Einwohner). Von kürzeren Reisen abgesehen, hat er Concord nie verlassen. Er starb daselbst 1862, im auch für damalige Verhältnisse jungen Alter von 44 Jahren. Die Totenrede hielt sein einstiger Lehrer, Mentor und Freund, Ralph Waldo Emerson, der füh‐ rende Kopf der sog. Transzendentalisten, einer Gruppe von Intellektuellen, die in den 1830er und 1840er Jahren Concord zum „American Weimar“ machte. 1 Thoreaus weltweiter Ruhm beruht neben Walden vor allem auf dem Essay „Civil Disobedience“ (1849). Dessen Titel wurde schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort von Protest- und Bür‐ gerrechtsbewegungen; er hat die englischen Fabianer ebenso inspiriert wie Mahatma Gandhi, die französische Résistance ebenso wie Martin Luther King und Nelson Mandela und schließlich in neuester Zeit Bewegungen wie Occupy Wall Street und die gegen die Deportationspolitik der US -Regierung aufbegehrenden Sanctuary Cities. 1854 mit dem Untertitel Life in the Woods veröffentlicht, besteht Walden aus 18 Kapiteln, in denen der Autor über ein Experiment berichtet. Im Frühjahr 1845 hatte er sich eine Hütte im Wald gebaut, am Ufer des Walden Pond, eines kleinen Sees etwa drei km von Concord entfernt. Dort hatte er zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage gewohnt, relativ abge‐ schieden, einfach, naturnah, um nichts weniger herauszufinden als den Sinn des Lebens. Ich möchte Walden als ‚Klassiker‘ betrachten, eine andere Bezeichnung für das ‚große Werk‘, um das es in dieser Reihe geht, zugleich ein Etikett, das der Erläuterung bedarf. Denn darüber, was unter einem Klassiker zu verstehen sei, wird seit der Antike nachgedacht. Soweit möchte ich nicht zurückgehen, vielmehr beschränke ich mich auf eine Diskussion, die mit großen Kritiker-Namen wie Sainte-Beuve, T. S. Eliot und Frank Kermode verbunden und in neuerer Zeit im Rahmen der Kanon-Debatten wieder aufgegriffen worden ist. In den neueren Kontroversen geht es dabei vor allem um die Revision des Literaturkanons im Zeichen von Multikulturalismus, Feminismus und Postkolonialismus. 2 Demgegenüber stelle ich ‚klassische‘ Fragen der Klassiker-Diskussion in den Vordergrund: Wie lange muss the Canon. Stanford 2014; Löffler, Philipp (Hg.): Reading the Canon: Literary History in the 21 st Cen‐ tury. Heidelberg 2017. 3 Kermode, Frank: The Classic. London 1975, S. 117. 4 Twain, Mark: A Tramp Abroad, Following the Equator, Other Travels. Hg. Roy Blount, Jr. New York 2010, S. 567. 5 Eliot, T. S.: „What is a Classic? “ (1944). Selected Prose of T. S. Eliot. Hg. Frank Kermode. London 1975, S. 116. 6 Eliot, T. S.: „From Poe to Valéry“ (1948). The Recognition of Edgar Allan Poe. Hg. Eric W. Carlson. Ann Arbor 1970, S. 212 und 213. ein Werk gelesen werden, um als Klassiker zu gelten? Horaz‘ Faustregel - hundert Jahre - bietet ein scheinbar simples, aber noch von Kermode zustimmend zitiertes Kriterium. 3 Wie erklärt es sich, dass ein Werk lange nach seinem Erscheinen immer noch gelesen und auch von späteren Epochen noch als aktuell empfunden wird? Wie verhalten sich Universalität und Dauer zu kulturspezifischen und zeitbedingten Faktoren? In welchem Verhältnis stehen innovative und konservative Momente zueinander? Was ist dran an der Behauptung, einen Klassiker erkenne man unter anderem daran, dass ihn jeder ‚kennt‘, ohne ihn wirklich gelesen zu haben - frei nach Pudd’nhead Wilsons Definition in Mark Twains Following the Equator (Motto zu Kap. 25): „‚Classic.‘ A book which people praise and don’t read.“ 4 Zu Beginn greife ich ein Kriterium auf, das Eliot in die Diskussion eingebracht hat und das auf den ersten Blick geeignet erscheint, Walden den Status des Klassikers abzusprechen: das der Reife. Im Hauptteil meiner Ausführungen konzentriere ich mich dann auf die Ver‐ schränkung von Innovation und Restauration, Radikalität und Konservatismus, die bereits Sainte-Beuve als Merkmal des Klassikers herausstellte. Dabei werden auch Thoreaus ei‐ gene, vor allem im „Reading“-Kapitel von Walden formulierte Gedanken zur Geltung kommen. Klassiker, so Thoreau, sind ‚natürlich‘ in dem Sinne, dass sie, wie die Natur, im Wandel lebendig bleiben; indem wir sie lesen und studieren, teilt sich uns, wie beim Erfor‐ schen der Natur, ihre Regenerationskraft mit. Abschließend werde ich die Frage ansprechen, inwieweit das Prestige eines Klassikers sich von der tatsächlichen Lektüre lösen kann - in welchem Maße auch für Walden eine Bemerkung Balz Englers gilt, der nach eingehender Würdigung der Klassiker-Debatte von Sainte-Beuve bis Kermode und Hans-Robert Jauss den Vorschlag macht, unter dem Klassiker ein Werk zu verstehen, das unabhängig von dem Buch existiert, als das es ursprünglich erschienen ist. In „What is a Classic“ (1944) formuliert T. S. Eliot, der Kritikerpapst der anglo-amerika‐ nischen Moderne, gewohnt apodiktisch: „A classic […] must be the work of a mature mind.“ 5 Ich stelle das Kriterium der Reife an den Anfang, weil es die Gelegenheit bietet, einige der gewichtigsten Einwände gegen Thoreaus Buch aufzugreifen, scheint es doch auf den ersten Blick wie kein anderes geeignet, Walden als Klassiker zu demontieren. Es gibt meines Wissens keine expliziten Kommentare Eliots zu Thoreau, aber er hätte er ihn mit Sicherheit in derselben Schublade abgelegt wie Edgar Allan Poe, von dem er sagt, Poes Werk illustriere „the intellect of a highly gifted young person before puberty“; er stelle ihn sich vor als „a man of very exceptional mind and sensibility, whose emotional development has been in some respect arrested at an early age.“ 6 Aus zwei Gründen bin ich mir sicher, dass Eliot mit Thoreau genauso verfahren wäre wie mit Poe. Zum einen ist es Thoreau in der Tat so ergangen, und zwar schon 1865, wenige Jahre nach seinem Tod, in einer vernichtenden ‚Würdigung‘ James Russell Lowells, des zu 38 Dieter Schulz 7 Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Thoreau, Henry David: Walden. Hg. J. Lyndon Shanley. Princeton, NJ 1971. seiner Zeit einflussreichsten Kritikers in den USA , und dann erst kürzlich wieder in einem New Yorker-Aufsatz von Kathryn Schulz. Beide diagnostizieren an Thoreau narzisstisch-re‐ gressive Züge, die Unfähigkeit zu Selbstkritik und Selbstironie. Zum anderen war dies auch meine erste Reaktion auf Walden. Nach über vierzigjähriger Beschäftigung mit den ameri‐ kanischen Transzendentalisten erinnere ich mich immer noch gut an die Irritation, die Thoreau anfangs in mir auslöste. Bereits im zweiten Absatz blieb ich hängen, an der Passage, in der Thoreau dem Leser ankündigt, er werde im Folgenden vorwiegend über sich selbst schreiben und dabei ausgiebigen Gebrauch von der Ersten Person Singular machen: In most books, the I, or first person, is omitted; in this it will be retained; that, in respect to egotism, is the main difference. We commonly do not remember that it is, after all, always the first person that is speaking. I should not talk so much about myself if there were any body else whom I knew as well (3). 7 Thoreaus Tonfall hatte etwas vom Quengeln eines Teenagers; wollte hier jemand, der es trotz Harvard-Diplom zu nichts gebracht hatte, seine Unsicherheit und Unreife mit einem Ego-Trip kompensieren? Schließlich war unsereinem schon in der Oberstufe des Gymna‐ siums beigebracht worden, dass man, wenn man etwas zu sagen hat, unpersönlich formu‐ liert - ein Stilprinzip, das im Studium durch die in meiner Generation epidemische Adorno-Lektüre bestärkt wurde, hatte doch unser Frankfurter Guru immer wieder darauf bestanden, in Wort und Schrift ‚die Sache selbst‘ zur Sprache zu bringen. Walden war für mich auf Seite 1 erledigt. Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Ich von Walden zwar autobiogra‐ phisch grundiert ist - hier berichtet einer mit dem auf persönlicher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Authentizität - , dass es aber zugleich eine persona ist, eine Maske, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt wird, hinter der der Autor sich ebenso verbirgt wie er sich durch sie enthüllt. Das Insistieren auf dem persönlichen Erfahrungsgrund verbindet sich mit einem raffinierten, alles andere als pubertären Spiel, mit einer sophistication, die den Erzählstrategien eines Jonathan Swift oder eines Nathaniel Hawthorne (dem Kermode in The Classic fast ein ganzes Kapitel widmet) in nichts nachsteht. Einmal als Spiel erkannt, erweist sich die Ich-persona als höchst wirkungsvolles Instru‐ ment des Selbstausdrucks ebenso wie der sozialkritischen Analyse. Denn genau das leistet Walden, für den Leser am leichtesten nachvollziehbar im ersten und mit großem Abstand längsten Kapitel mit der Überschrift „Economy“. Hier dient das Ich in erster Linie der Po‐ lemik; es wird in Stellung gebracht gegen eine Gesellschaft, deren Ideologie - plakativ ausgedrückt - Glück verspricht und Frustration liefert. „The mass of men lead lives of quiet desperation“ (8) - der Satz aus „Economy“ gehört mit Recht zu den meistzitierten des Bu‐ ches, fasst er doch eine Zeitdiagnose zusammen, die an Radikalität und Schärfe ihresglei‐ chen sucht. Drei Generationen nach der Unabhängigkeitserklärung der USA , in deren Prä‐ ambel neben dem Recht auf Leben und Freiheit die Verwirklichung des Glücks - ‚the pursuit of happiness‘ - zu den unveräußerlichen Menschenrechten gezählt wird, entwirft Thoreau das Panorama einer Gesellschaft, die systematisch die Ideale verrät, unter denen sie ange‐ 39 Henry David Thoreau: Walden treten ist. So ist insbesondere der freie Bauer, die Idealfigur der von Thomas Jefferson an‐ visierten Republik, alles andere als frei; Tag für Tag rackert er sich ab, um die auf seiner Farm lastenden Hypothekenzinsen zu bedienen. Der hochgepriesene technische Fort‐ schritt - in den 1840er Jahren besonders markant sichtbar in der gerade in Concord ange‐ kommenen Eisenbahn sowie an den Telegraphendrähten - geht nicht nur auf Kosten der Arbeiter, vor allem irischer Einwanderer, er entfremdet uns von der Natur als Erfahrungs‐ raum und untergräbt damit auch die Zivilisation, als deren Triumph er gefeiert wird. Witzig und unterhaltsam reiht Thoreau Beispiel an Beispiel, um aufzuzeigen, wie die ökonomischen Mechanismen, die doch der Theorie nach der Befriedigung unser Grund‐ bedürfnisse dienen - Arbeit und Produktion, Privatbesitz, Arbeitsteilung, Standardisierung, Wettbewerb und Markt - nicht nur diese Bedürfnisse nicht wirklich befriedigen im Sinne eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Zur gleichen Zeit wie Karl Marx liefert Thoreau eine umfassende Darstellung der Entfremdung, indem er die zahllosen sekundären Bedürfnisse entlarvt, die unser Leben beherrschen: das Diktat der Mode und der Status‐ symbole, vor allem aber das - schon von Swift in Gulliver’s Travels mit ätzender Satire gegeißelte - Verlangen nach Luxus, das seinerseits kollektive Verbrechen wie die Sklaverei und den kolonialen Expansionismus des Mexican War antreibt. Mit unseren natürlichen Bedürfnissen haben diese Fehlentwicklungen nichts zu tun, aber dank Adam Smith, David Ricardo und Jean-Baptiste Say (von Thoreau in Walden genannte Nationalökonomen) be‐ sitzen sie geradezu axiomatisches Prestige. Angesichts dieser desaströsen Entwicklungen geriert sich das Thoreausche Ich bald amüsiert, bald empört; bald höhnisch, bald empathisch-mitleidig, stets aber witzig und immer wieder auch mit einem Schuss Selbstironie, der allein ausreichen müsste, das Verdikt pubertärer Nabelschau auszuräumen. Thoreau versteht sein eigenes Experiment als Ver‐ such einer alternativen Ökonomik; die einfache selbstgebaute Hütte, relative Bedürfnislo‐ sigkeit in Kleidung und Nahrung, ein selbst angelegtes Bohnenfeld - all das befreit ihn weitgehend vom Leistungsdruck, unter dem seine Nachbarn in Concord leiden. Zugleich ‚verkauft‘ er (im Unterschied zum Benjamin Franklin der Autobiography) sein Beispiel nicht als Erfolgsrezept, er warnt ausdrücklich davor, es ihm nachzutun, und wenn er sich mit den Farmern von Concord vergleicht und meint, er sei nicht nur freier, sondern auch im mate‐ riellen Sinne erfolgreicher gewesen als sie, so macht er sich auch immer wieder über sich selbst lustig. Dabei hilft ihm seine stilistische Brillanz, greifbar etwa an den zahllosen Wortspielen, die das Buch gelegentlich zum Albtraum für Übersetzer machen können, sind Wortspiele doch selten eins-zu-eins übersetzbar. Eine Ausnahme gehört zu meinen Lieblingspassagen. Dahinter steht die seit John Locke in England und später auch in den USA als grundlegend akzeptierte Auffassung, dass Landbesitz in dem Maße moralisch legitim sei, wie der Bauer den Boden bearbeite, ihm (buchstäblich etwa in Form seines Schweißes) etwas von sich selbst beimische und damit seinen Wert steigere. So wird die Bearbeitung des Bodens zur Quelle des Wohlstands ebenso wie zur Basis bürgerlicher Tugenden. Produktiver Landbesitz schafft freie, verantwortungsvolle Bürger, das Rückgrat der Republik als Staatsform. Hier liegt die theoretische Legitimation von Jeffersons bereits angesprochener Vision der USA als einer Republik freier Bauern. 40 Dieter Schulz Thoreaus juristischer Status während seines Walden-Aufenthalts war nun aber nicht der des Landbesitzers; er hatte die Hütte auf Emersons Land gebaut, war also ein Squatter, der das Land nutzen, aber nicht sein Eigen nennen und entsprechend darüber verfügen durfte. Darauf ebenso wie auf das Locke-Jeffersonsche Theorem des Besitzindividualismus an‐ spielend bemerkt Thoreau: „I enhanced the value of the land by squatting on it“ (64). Sein Beitrag zur Verbesserung des Bodens beschränkte sich darauf, ihn mit seinen Exkrementen zu düngen. „Squat“ heißt ja zunächst „sich hinhocken“. Wir treffen hier auf eines von un‐ zähligen Wortspielen in Walden, und auf den seltenen Glücksfall, dass ein englisches Wort‐ spiel problemlos ins Deutsche übertragen werden kann: Statt als Farmer profiliert Thoreau sich als Squatter, der buchstäblich und metaphorisch aufs Land ‚scheißt‘ - ein glänzendes Beispiel für die burleske Seite des Buches. Die Strategie der Burleske besteht ja darin, etwas mehr oder weniger Triviales ins Heroische hochzustilisieren, und dann diese Blase platzen zu lassen. Eine drastischere Demontage des Heroischen als sie hier, am Beispiel des Farmer-Mythos vorgeführt wird, ist schwer vorstellbar; burlesk ist sie insofern, als Thoreau an dessen Anspruch, den Boden zu ‚verbessern‘, festhält und damit in Konkurrenz zum Farmer tritt, sich also seinerseits zugleich heroisch aufplustert und durch den Kakao zieht. Die burlesken Züge zeugen von einer Souveränität, die das Gegenteil von pubertärem Narzissmus signalisiert. Für sich schon ein Ausweis von Reife, dient sie überdies einem Anliegen, das ernster und gewichtiger kaum sein könnte. Schließlich ist Ökonomie, wie Thoreau vermerkt, ein Thema, über das man sich lustig machen kann, aber damit ist es nicht erledigt: „Economy is a subject which admits of being treated with levity, but it cannot so be disposed of “ (29). Denn die von Jefferson in die Declaration of Independence einge‐ fügte Formel von ‚the pursuit of happiness‘ läuft für Thoreau im Zeichen zeitgenössischen Wirtschaftens auf den Tod der Seele hinaus. Vom ersten Spatenstich an gräbt sich der Farmer sein Grab, das Haus wird ihm schon zu Lebzeiten zum Sarg und Mausoleum. Eine Antwort auf die Welt der Wirtschaft besteht in Askese und Verweigerung. Dem Gewinn‐ streben setzt Thoreau die Forderung nach freiwilliger Armut und drastischer Einschrän‐ kung der Bedürfnisse entgegen: „a man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone“ (82). Das erste Kapitel von Walden befasst sich mit Ökonomie, um sie hinter sich zu lassen. Die andere Antwort auf eine dem business verfallene Welt findet Thoreau in der Natur. In „Qu’est-ce qu’un classique? “ (1850), einer seiner Causeries du lundi, erörtert Sainte-Beuve das für den Klassiker charakteristische und auf den ersten Blick paradox er‐ scheinende Ineinander revolutionärer, gar ikonoklastischer Züge einerseits, konservativer Momente andererseits. Revolutionär erscheint der Klassiker insofern, als er uns aus ver‐ trauten Vorstellungen reißt, in denen wir es uns bequem gemacht haben. Zugleich ist der Klassiker rückwärtsgewandt, es geht ihm darum, Gewissheiten freizulegen, die verschüttet waren. Daher seine hohe Akzeptanz und Langlebigkeit: Er verhilft uns nicht zu absolut neuen Einsichten, vielmehr erinnert er an etwas, das wir immer schon wussten. So ist er letztlich restaurativ in dem positiven Sinne, dass er ein ge- oder zerstörtes Gleichgewicht, eine verzerrte Harmonie und Schönheit wiederherstellt. Uns werden die Augen geöffnet für etwas, das immer schon da war und bleibende Gültigkeit beanspruchen darf: 41 Henry David Thoreau: Walden 8 Sainte-Beuve, Charles Augustin: „Qu’est-ce qu’un classique? “ Causeries du lundi. Tierslivre, S. 42. (h ttp: / / www.tierslivre.net/ litt/ lundi/ classique). Im Blickwinkel moderner Literaturtheorie lässt sich aus Sainte-Beuves Kriterien eine in besonderem Maße „kulturökologische“ Funktion ableiten, indem der Klassiker „kulturkritischen Metadiskurs“, „imaginativen Gegendiskurs“ und „reintegrativen Inter‐ diskurs“ verbindet. Vgl. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion ima‐ ginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002, S. 63-68; ders.: Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts. London 2016. Un tel classique a pu être un moment révolutionnaire, il a pu le paraître du moins, mais il ne l’est pas; il n’a fait main basse d’abord autour de lui, il n’a renversé ce qui le gênait que pour rétablir bien vite l’équilibre au profit de l’ordre et du beau. 8 Etwa um die gleiche Zeit wie Sainte-Beuves Causerie verfasst Thoreau Zeilen, die sich auf den ersten Blick merkwürdig in einem Buch ausnehmen, das ein einfaches Leben im Ein‐ klang mit der Natur propagiert. Im dritten Kapitel von Walden, „Reading“, bietet er ein rückhaltloses, ausgesprochen elitär wirkendes Plädoyer für das Studium der Klassiker, der antiken zumal, vorzugsweise in der Originalsprache! Auch wenn er im ersten Sommer am See kaum zur Lektüre gekommen sei, habe die Ilias stets griffbereit auf seinem Tisch ge‐ legen. Der Leser reibt sich die Augen, wird aber alsbald mit der verblüffenden Auskunft belehrt, dass das Studium der Klassiker dem Studium der Natur nicht nur nicht entgegen‐ stehe, beide seien vielmehr aus dem gleichen Holz geschnitzt, die Klassiker nämlich genauso natürlich wie die Natur selbst. Sie zu vernachlässigen wäre gerade so, als würde man sich auch nicht für die Natur interessieren: Men sometimes speak as if the study of the classics would at length make way for more modern and practical studies; but the adventurous student will always study classics, in whatever language they may be written and however ancient they may be. For what are the classics but the noblest recorded thoughts of man? They are the only oracles which are not decayed, and there are such answers to the most modern inquiry in them as Delphi and Dodona never gave. We might as well omit to study Nature because she is old (100). Klassiker konfrontieren uns mit Neuem, aber es ist nicht das Neue der Mode, sondern das vergessene Alte der Natur. Ähnlich wie Sainte-Beuve sieht Thoreau in ihnen eine nur scheinbar paradoxe Verquickung von revolutionären und konservativen Impulsen. Klas‐ siker altern nicht, sie sind lebensprall wie die Natur, und wie diese vermitteln sie Zeit und Zeitlosigkeit, Besonderes und Universales miteinander: No wonder that Alexander carried the Iliad with him on his expeditions in a precious casket. A written word is the choicest of relics. It is something at once more intimate with us and more universal than any other work of art. It is the work of art nearest to life itself (102). Klassiker sind „heroic books“ (100). Sie spiegeln das in ihrer Zeit, was dem Verschleiß - „the corrosion of time“ (102) - entzogen war und deshalb auch uns nachhaltig zu faszinieren vermag. Wie die Morgendämmerung, in der sie vorzugsweise gelesen werden sollten, er‐ füllen sie uns mit Hoffnung und Lebensfreude. Besonders sinnfällig wird die Affirmation des Lebens in den Rhythmen von Tag und Nacht sowie im Zyklus der Jahreszeiten. Kein Tag, kein Frühling ist wie der andere, doch mit großer Verlässlichkeit wiederholt sich das Grundschema ihrer Abfolge. Die natürlichen 42 Dieter Schulz Zyklen werden Thoreau nicht nur zum wichtigsten thematischen Anliegen, als Vorbild, an dem der Mensch seinen Tagesablauf ausrichten sollte; darüber hinaus gewinnt er aus ihnen die Struktur seines Buches, das damit nicht nur thematisch-stofflich, sondern auch formal den Status eines Klassikers im Sinne eines ‚natürlichen‘ Buches beansprucht. Bisher lag der Akzent meiner Betrachtung von Walden auf der polemisch-kritischen Seite: Das Buch vollführt, insbesondere im „Economy“-Kapitel, eine großangelegte Auf‐ räumaktion, indem es bald aggressiv, bald witzig Grundannahmen zeitgenössischer Öko‐ nomik in Theorie und Praxis attackiert. Die Radikalität dieser Aufräumaktion ist jedoch nicht revolutionär in dem Sinne, dass sie etwas völlig Neues ins Werk setzen will, vielmehr ist sie ‚radikal‘ im ursprünglichen Wortsinn, als Erinnerungsarbeit, die jene ‚Wurzeln‘ frei‐ legt, jene Prinzipien, die eigentlich selbstverständlich und seit jeher anerkannt sind. So geht es im Sinne Sainte-Beuves in einem ersten Schritt um die Identifikation und Diagnose jener Kräfte, die dem Leben entgegenstehen, seine legitimen Impulse beschädigen oder ver‐ schütten. Die dabei eingesetzten, bisweilen ikonoklastischen Strategien dienen letztlich der Wiederherstellung einer gestörten Ordnung, eines Gleichgewichts, das durch die zerstö‐ rerische Dynamik des Status quo verlorengegangen oder in Vergessenheit geraten ist. Bei seiner Analyse zeitgenössischen Wirtschaftens kommt Thoreau zu dem Ergebnis, dass das System auf der elementaren Ebene der Bedürfnisbefriedigung versagt. Hier ist in der Tat eine gewaltige Entrümpelung fällig, ein busk: Would it not be well if we were to celebrate such a ‚busk,‘ or ‚feast of first fruits,‘ as Bartram describes to have been the custom of the Mucclasse Indians? ‚When a town celebrates the busk,‘ says he, ‚having previously provided themselves with new clothes, new pots, pans, and other household utensils and furniture, they collect all their worn out clothes and other despicable things, sweep and cleanse their houses, squares, and the whole town, of their filth, which with all the remaining grain and other old provisions they cast together into one common heap, and consume it with fire. After having taken medicine, and fasted for three days, all the fire in the town is extinguished. During this fast they abstain from the gratification of every appetite and passion whatever. A general amnesty is proclaimed; all malefactors may return to their town.-‘ (68). Die zeitkritische Polemik, der auf den ersten Blick ‚revolutionäre‘ Impuls von Walden weicht jedoch mehr und mehr einer affirmativen Haltung. Denn jene Schönheit, jene Har‐ monie, auf deren Wiederherstellung der Klassiker zielt, findet Thoreau vorzüglich im Er‐ fahrungsraum der Natur. Die Natur führt eine Ökonomie vor, von der wir lernen können. Indem der Mensch sich ihrem Einfluss öffnet, sich in ihre Rhythmen einbettet, kann er auf Heilung hoffen. Denn im Unterschied zur Gesellschaft ist die Natur durch und durch ge‐ sund. Die Akzentverschiebung von der Gesellschaft zur Natur verweist auf die Genese von Walden. Das 1854 erschienene Buch ist das Ergebnis eines langen und mühevollen Entste‐ hungs- und Reifeprozesses. Die Forschung hat sieben Fassungen identifiziert, ferner zwei Hauptschaffensphasen, von denen die erste in die Jahre 1846-49, die zweite in die Jahre 1852-54 fällt. Die Unterschiede von Erst- und Endfassung sind dramatisch, vergleichbar denen zwischen Melvilles ‚Ur-Moby-Dick‘ und dem 1851 veröffentlichten Meisterwerk. Wie kam es dazu? Thoreau hatte gehofft, sich wie sein großes Vorbild Emerson eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. Mit seinem ersten Buch jedoch, A Week on the 43 Henry David Thoreau: Walden 9 Thoreau, Henry David: Journal. Bd. 7. Hgg. Elizabeth Hall Witherell (u. a.). Princeton, NJ 1981, S. 123. Concord and Merrimack Rivers (1849), gelang ihm ein Achtungserfolg bei der Kritik, der Verkauf aber war derart miserabel, dass der Autor vier Jahre später auf Bitten des Verlegers die Restauflage - 706 von 1000 auf eigene Kosten gedruckte Exemplare - zurücknahm. Der launige Vermerk im Journal müsste an sich schon ausreichen, den Vorwurf auszuräumen, Thoreau habe keinen Humor besessen: „I have now a library of nearly nine hundred volumes, over seven hundred of which I wrote myself.“ 9 Nach dem finanziellen Fiasko der Week konnte Thoreau um 1849 nicht damit rechnen, einen Verleger für ein weiteres Buch zu finden. Walden war einstweilen nicht zu veröffentlichen, aber weder das Manuskript noch die darin abgehandelten Themen waren damit erledigt. Nach einer Zäsur von knapp zwei Jahren nimmt Thoreau einen neuen Anlauf, und was nun mit dem Text geschieht, ist atem‐ beraubend. Die auf die economy-Thematik fokussierten Tiraden werden angereichert, zu‐ gleich aber von einer Sicht ergänzt und überwölbt, die die gefallene Welt des zeitgenössi‐ schen Wirtschaftens in einer Hymne an die Natur aufhebt. Und in dem Maße, wie die Natur in den Vordergrund rückt, verliert das Thoreausche Ich an Aggressivität, es wird ruhiger, ja über weite Strecken nimmt es sich ganz zurück und entäußert sich in der Hingabe an die Natur. Die Natur ist für Thoreau ein ständig wiederkehrender Geburtsvorgang, Geburt aber geht mit Wehen einher, und die können heftiger sein als die Schmerzen, die der Tod ver‐ ursacht. Walden ist ein (im Sinne Schillers) sentimentalisches, aus der Erinnerung geschrie‐ benes Buch, aber es ist nicht sentimental, es ergeht sich nicht in Gefühlsduselei und Na‐ turschwärmerei. Davor bewahrt Thoreau nicht zuletzt ein persönlicher Entwicklungsschub, der mit der zweiten Entstehungsphase von Walden zusammenfällt und vor allem im Journal eindrucksvoll dokumentiert ist. Seit den frühen 1850er Jahren macht er während der Ausflüge detaillierte Notizen über seine Naturbeobachtungen, die er entweder noch am selben Abend oder später zu ausführlichen Berichten mit genauen Zeit- und Da‐ tumsangaben ausarbeitet. Die Intensität der Naturstudien hat die letzten Fassungen von Walden nachhaltig beeinflusst. Schon vorher Thoreaus bevorzugter Aufenthalt, wird die Natur nun zum zentralen Erfahrungsraum. Als Inbegriff des Lebens zeichnet sie sich durch Wandel aus, durch den Rhythmus von Tod und Geburt, und nirgends erscheint dieser Rhythmus dramatischer als im Wechsel der Jahreszeiten. Bereits in einem der ersten Kapitel, „Solitude“, spricht er von ihrer heilenden Kraft: „While I enjoy the friendship of the seasons I trust that nothing can make life a burden to me“ (131). Mit den Jahreszeiten ‚befreundet‘ zu sein heißt zum einen, ihren Ablauf in allen Details und Zusammenhängen zu studieren und zu dokumentieren. Zum anderen kommt es darauf an, das Ich den Jahreszeiten anzu‐ passen, deren Rhythmen und die eigenen aufeinander abzustimmen, im Idealfall nicht nur mit ihnen, sondern - wie es am Schluss des posthum erschienenen Essays „Huckleberries“ heißt - in ihnen zu leben. Der thematischen Fokussierung entspricht die literarische Form. Es ist möglich, die ein‐ zelnen Kapitel von Walden für sich als Essays zu lesen, ihre Anordnung ist jedoch schon im ersten Teil keineswegs beliebig. Motivische Parallelen und Kontraste, die Überleitungen, Wiederholungen und Variationen folgen dem Prinzip der inneren, organischen Form im Sinne Coleridges: Ein Kapitel wächst gleichsam aus dem anderen heraus, führt Gedanken 44 Dieter Schulz und Bilder weiter, oder stellt sich quer zum vorher Gesagten. Geradezu straff aber wird die Struktur nach „Higher Laws“ und „Brute Neighbors“. In den folgenden Kapiteln schlägt die - angeblich „for convenience“ (84) getroffene - Entscheidung, die beiden Jahre am See zu einem zusammenzufassen, voll auf die Form durch. An die Stelle der bis dahin eher lockeren Essay-Folge tritt eine Art Plot, beherrscht vom Fortgang der Jahreszeiten. Im Ok‐ tober zwingt die einsetzende Kälte zum Verputzen der Hütte („House-Warming“), der Winter mit Schnee und Eis schränkt den Radius des Wanderers ein („Winter Visitors“, „Winter Animals“, „The Pond in Winter“), bis sich im Frühjahr mit dem Aufbrechen des Eises das Wiedererwachen der Natur ankündigt („Spring“). Am Ende steht der Entschluss, die Hütte zu verlassen und nach Concord zurückzukehren („Conclusion“). Was genau ihn dazu bewegt, kann Thoreau offenlassen, schließt doch die Zukunft nach allem, was er ge‐ lernt hat, die Aussicht auf „several more lives“ (323) ein. Die destruktive Dynamik des den ersten Teil beherrschenden Todes-im-Leben wird im Zyklus des neuen Lebens aufgehoben, einem Regenerationsvorgang, der sich Jahr um Jahr wiederholen wird: „And so the seasons went rolling on into summer“ (319). Im Unterschied zur gefallenen Welt von Ökonomie und Politik ist diese ‚Revolution‘ kein Leerlauf, sie kennt Tod und Leben, aber keinen Verschleiß. Wie das Leben im Wald sich um den Walden Pond herum und auf ihm abspielt, so finden sich im See auch die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der Natur ge‐ bündelt. Thoreaus praktische und literarische Strategien umfassen ein breites Spektrum, vom Vermessen des Sees, der Beschreibung des Wassers aus verschiedenen Blickwinkeln und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, seiner ökonomischen Nutzung durch Angler und Eis-Arbeiter (Eisblöcke dienen als Kühlmittel) bis hin zu symbolischen und allegori‐ schen Zuschreibungen. Am Gegenpol zur quantitativen Vermessung und zur kommer‐ ziellen Nutzung stehen die symbolisch-allegorischen und die rituellen, sakralen Funkti‐ onen. Das Wasser ist nicht nur physisch ungewöhnlich sauber, es steht auch für moralische Lauterkeit. Das Fehlen eines sichtbaren Zu- und Abflusses deutet auf Autonomie, auf ‚Cha‐ rakter‘. Als Spiegel des Himmels vermittelt das Wasser Ahnungen von Transzendenz, Ge‐ rüchte über seine bodenlose Tiefe sprechen die Fantasie an. Symbolik gerinnt zur Allego‐ rese, wenn er als „earth’s eye“ (186) oder „God’s Drop“ (194) apostrophiert wird. Dem Bewohner der Hütte dient der See zum Wasserschöpfen, als „my well ready dug“ (183), dem Angler bietet er mit seinen Fischen reichlich Nahrung. Im morgendlichen Bad verbinden sich praktische und sakrale Elemente; es dient der Reinigung und Erfrischung, zugleich ist es ein „religious exercise“ (88), in dem der Badende sich der Regenerationskraft des Wassers versichert. In der Regel frühmorgens absolviert, ist das Baden einer von mehreren Modi dessen, was Thoreau als „morning work“ (36) bezeichnet. Wie das Jahr seine Jahreszeiten durchläuft, so hat auch der Tag seine Zyklen, mehr noch, der Tag ist das Jahr im Kleinen: „the day is an epitome of the year“ (301). Die privilegierte Tageszeit aber ist - dem Frühling des Jahres entsprechend - der Morgen. Er steht für das Erwachen, im Erwachen wiederum zeigt sich das Leben in gesteigerter Intensität. Glücklich der, dem es gelänge, mit der Sonne Schritt zu halten und den Morgen in den Tag hinein zu verlängern: „To him whose elastic and vigorous thought keeps pace with the sun, the day is a perpetual morning“ (89). Als höchste Form des Lebendigseins ist Wachsein nichts weniger als die Freisetzung des Göttlichen in uns; einem, der ganz wach wäre, könnte man, wie einem Gott, nicht ins Angesicht schauen: 45 Henry David Thoreau: Walden 10 Pavese, Cesare: „The Literary Whaler“ (1960). The Recognition of Herman Melville. Hg. Hershel Parker. Ann Arbor 1970, S. 196. „I have never yet met a man who was quite awake. How could I have looked him in the face? “ (90). Walden Pond ist ein Mikrokosmos. Im See kristallisiert sich eine Fülle konkreter Natur‐ beobachtungen ebenso wie symbolischer Assoziationen. Zugleich bietet er Anlass zu glo‐ balen Spekulationen, etwa wenn er mit anderen heiligen Gewässern wie dem Ganges in Dialog tritt. Immer wieder verbinden sich zentripetale und zentrifugale, erdgewandte und transzendente Dynamik. Als sich die Gedanken beim nächtlichen Angeln in „vast and cos‐ mogonal themes in other spheres“ (175) verloren haben, werden sie durch ein Zupfen an der Angel wieder ‚geerdet‘. Kontemplation und Meditation wechseln mit Phasen, in denen Thoreau aktiv und bisweilen massiv in die Natur eingreift, etwa wenn er durch Paddel‐ schläge Echoeffekte erzeugt oder durch Positionswechsel den Blickwinkel zum See verän‐ dert. Dass Thoreau bei allem Drang, der Natur nahezukommen, auch ein Gefühl für ihre Fremdheit bewahrt, zeigt die Jagd nach dem Taucher (loon). Was immer er anstellt, der Vogel schlägt ihm ein Schnippchen, ja mit seinem ‚Lachen‘ scheint er sich über die Anstrengungen des Jägers lustig zu machen (234-236). Thoreaus Naturbegriff - wenn man denn von einem ‚Begriff ‘ sprechen will - ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Den einen erscheint er widersprüchlich, andere sehen in der femininen Konnotation vieler Naturbeschreibungen eine Verlängerung des altvertrauten patriarchalischen Bedürfnisses nach Herrschaft, nach Dominanz über die Natur. Hier ist durchaus Spielraum für Kontroversen, und er wird von der Kritik ausgiebig genutzt. Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen Thoreaus stilistische Brillanz. Selbst seine schärfsten Kritiker stehen einigermaßen fassungslos vor Sätzen und Absätzen, die zu den komple‐ xesten in englischer Sprache gehören und dabei stets transparent und kontrolliert daher‐ kommen. Der Reichtum des Wortschatzes; der Wechsel von griffigen Aphorismen und an‐ spruchsvollen Perioden; die zwanglose Kombination abstrakter Gedanken mit schlichten, der Alltagserfahrung entnommenen Bildern; eine Syntax, die wie die Prosa eines Melville in Moby-Dick die Lungen und das Hirn zu weiten scheint (so Cesare Pavese über Moby-Dick  10 ); schließlich eine überzeugende, den Kriterien der organischen Form genü‐ gende Gesamtstruktur: Mit Walden ist Thoreau ein Buch gelungen, das seinem Traum von einem ‚natürlichen Buch‘ so nahe wie nur irgend möglich kommt. Jeder Thoreau-Leser hat seine Lieblingsstellen, ich selbst finde seinen Stil am eindrucks‐ vollsten dort, wo er zugleich locker und prägnant Beschreibung und Reflexion ineinander übergehen lässt, ein Verfahren, das er schon an Goethes Italienischer Reise bewundert hatte. Zu diesen Passagen gehört der Anfang von „Solitude“: This is a delicious evening, when the whole body is one sense, and imbibes delight through every pore. I go and come with a strange liberty in Nature, a part of herself. As I walk along the stony shore of the pond in my shirt sleeves, though it is cool as well as cloudy and windy, and I see nothing special to attract me, all the elements are unusually congenial to me. The bullfrogs trump to usher in the night, and the note of the whippoorwill is borne on the rippling wind from over the water. Sympathy with the fluttering alder and poplar leaves almost takes away my breath; yet, like the lake, my serenity is rippled but not ruffled. These small waves raised by the evening wind 46 Dieter Schulz are as remote from storm as the smooth reflecting surface. Though it is now dark, the wind still blows and roars in the wood, the waves still dash, and some creatures lull the rest with their notes. The repose is never complete. The wildest animals do not repose, but seek their prey now; the fox, and skunk, and rabbit, now roam the fields and woods without fear. They are Nature’s watchmen, - links which connect the days of animated life (129). Die Häufung phonetischer Figuren (Alliterationen und Assonanzen); Wortwiederholungen in bald kürzeren, bald länger ausschwingenden Sätzen; asyndetische im Wechsel mit po‐ lysyndetischen Fügungen; die Positionierung des Ichs, das ganz auf die abendliche Szenerie eingestimmt ist, ohne sich in ihr zu verlieren; die Verbindung von Beschreibung und Re‐ flexion: Thoreaus Gedichte wurden und werden nur von wenigen geschätzt, aber Passagen wie diese verbinden Anschauung und Nachdenken zu einer Poesie, die den Vergleich mit der Gedankenlyrik etwa William Wordsworths herausfordert. Im Blickwinkel des Gesamt‐ werks ist man kaum überrascht, auch hier eines von Thoreaus Lieblingsbildern zu finden: das der gekräuselten Wellen. Zum einen verweist es auf das lebendige und belebende Zu‐ sammenwirken verschiedener Elemente, von Wasser und Wind (wobei man die alte, uni‐ versale Gleichung von Wind und Geist mitrealisieren darf), und damit auf das Ganze der Natur. Zum anderen spiegelt das Bild die Stimmung des Sprechers, der sich in großer Frei‐ heit der Heiterkeit der Natur, ihrer „serenity“ öffnet. Damit wird der Gegenpol zu jenem Tod-im-Leben erreicht, der über weite Strecken den ersten Teil von Walden beherrscht. In „Economy“ klagt Thoreau: „There is nowhere re‐ corded a simple and irrepressible satisfaction with the gift of life, any memorable praise of God“ (78). Walden will diesem spirituellen und kulturellen Defizit abhelfen und daran er‐ innern, dass die Schöpfung keineswegs beendet ist. So heißt es bereits im 2. Kapitel: „The morning wind forever blows, the poem of creation is uninterrupted; but few are the ears that hear it“ (85). Indem das Ich in den Lobpreis dieses ,Gedichts‘ einstimmt, hat es teil an einer Resakralisierung der Natur. Was das Ritual des Badens im See auf der Alltagsebene zu leisten vermochte, wird in „Spring“ ins Kosmische gesteigert. Darauf verweisen die zahlreichen Bezüge auf Mythos und Religion. Der Frühling reproduziert „the creation of Cosmos out of Chaos“, jedes Jahr beginnt mit ihm aufs Neue das Goldene Zeitalter der Ovidschen Metamorphosen (313-316). Und wie in den Anfangskapiteln Bibelzitate und -anspielungen auf die Verurteilung des Materialismus zielen, so kommt jetzt das Evange‐ lium, die ‚frohe Botschaft‘ von der Auferstehung zum Tragen, und zwar mit der zugespitzten rhetorischen Frage des 1. Korintherbriefs (15, 55): „O Death, where was thy sting? O Grave, where was thy victory, then? “ (317). Mit und in den Jahreszeiten leben heißt, dem Lauf der Sonne folgen. Im Zusammenhang mit dem Bohnenfeld war von einer ‚solaren‘ Perspektive die Rede; uns allen würde manche Sorge erspart, wenn wir uns klar machten, dass die Sonne ohne Unterschied auf bebaute wie unbebaute Felder scheint. Der Leser mag sich an Platons Sonnengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia erinnern, im „Spring“-Kapitel wird der Sonnenmythos jedoch eher christ‐ lich gewendet, um am Ende einer kosmischen Sicht Platz zu machen. Der Schluss von Walden bündelt die Motiv- und Bildbereiche des Erwachens, des Morgens und der Sonne, zugleich überhöht er sie mit einem Wortspiel (sun - son) und einem Bild (der Morgenstern), das den Walden-Aufenthalt in die Nachfolge Christi stellt, und schließlich lässt er - mit einem zutiefst transzendentalistischen Gestus - sowohl den Solarmythos wie auch das 47 Henry David Thoreau: Walden 11 Engler, Balz: „What is a Classic? “. Poetry and Community. Tübingen 1990, S. 55. Christentum hinter sich: „Only that day dawns to which we are awake. There is more day to dawn. The sun is but a morning star“ (333). Jedes Frühjahr triumphiert das Leben über den Tod, und in dem Maße, wie wir an diesem Ereignis teilhaben, werden auch wir neu geboren. Die Überwindung des Todes ist ein spi‐ ritueller Vorgang, sein Gelingen aber hängt für Thoreau wesentlich vom Kontakt des Men‐ schen mit der Natur ab. So folgt in Walden auf das Paulus-Zitat ein Plädoyer für die unbe‐ rührte, wilde Natur; ohne deren belebende Kraft würde unsere Zivilisation absterben: Our village life would stagnate if it were not for the unexplored forests and meadows which sur‐ round it. We need the tonic of wildness […]. At the same time that we are earnest to explore and learn all things, we require that all things be mysterious and unexplorable, that land and sea be infinitely wild, unsurveyed and unfathomed by us because unfathomable. We can never have enough of Nature (317 f.). Nach mäßiger Anerkennung im 19. Jahrhundert ist Walden im 20. Jahrhundert in den Kanon amerikanischer Meisterwerke aufgerückt. Daran haben die im Zuge der culture wars seit den 1970er Jahren durchgeführten Revisionen nichts geändert. Während Franklins Auto‐ biography in den maßgeblichen College-Anthologien drastisch zugunsten weiblicher und ethnischer Autoren gekürzt wird, druckt die Norton Anthology of American Literature nach wie vor den kompletten Text von Walden ab - ein erstaunliches Phänomen, zumal Thoreau als WASP (White Anglo-Saxon Protestant) mit misogynen Anflügen voll ins Feindbild eines im Namen von gender-Gleichheit und Multikulturalismus vorgetragenen Revisionismus passt. Bedeutende Künstler haben sich von Thoreau inspirieren lassen, allen voran die Alt‐ meister der musikalischen Avantgarde, Charles Ives und John Cage, und neuerdings Chris‐ topher Shultis. Seit den 1960er Jahren besitzt Walden geradezu Kultstatus. Zur ‚Bibliothek‘ der Hippies gehörten neben Hermann Hesses Steppenwolf und Siddharta, Robert Heinleins Stranger in a Strange Land und Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance auch Tho‐ reaus „Civil Disobedience“ und Walden. Um die gleiche Zeit begann das Buch ein Kriterium des Klassikers zu erfüllen, das erst kürzlich, im Zuge der Rezeptionsästhetik, in die Debatte eingeführt worden ist. Balz Engler zufolge ist ein Klassiker „a work of literature that has left the book.“ 11 Wer von denen, die ein Verhalten als „quixotic“ bezeichnen und vom „Kampf gegen Windmühlen“ sprechen, hat Cervantes‘ Roman gelesen? Figuren wie Robinson, Frankenstein, Faust oder Don Juan, Wendungen wie „Sein oder Nichtsein“ und „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ sind längst sprichwörtlich geworden, sie führen ein Eigenleben jenseits der Romane oder Dramen, denen sie entstammen. 1948 fand Thoreaus Experiment eine Fortsetzung in B. F. Skinners Walden Two (1948), einer behavioristischen Utopie, die in das Programm einer bis heute existierenden Kommune einging. Die Hütte am Walden Pond ist zur Chiffre für Ökos, Alternative und Aussteiger geworden, von den militanten tree huggers Kaliforniens über die moderateren wise use-Ökologen im Sinne eines Wendell Berry, die Tiny House-Bewegung und Occupy Wall Street bis hin zu extremen, ja terroristischen Formen libertärer Staatsfeindlichkeit und schließlich der selbstzerstörerischen Zivilisati‐ onsflucht eines Christopher McCandless in Jon Krakauers Into the Wild. 48 Dieter Schulz 12 Walden 2015 ff. Gruner+Jahr Verlagsgruppe. (http: / / www.waldenmagazin.de/ download/ Walden_Fac tsheet_2015.pdf) 13 Walden 2017. (http: / / www.gujmedia.de/ print/ portfolio/ walden/ leserschaft/ ). 14 Walden, a Game. (https: / / www.waldengame.com/ ). 15 Emerson, Ralph Waldo: „Hymn: Sung at the Completion of the Concord Monument“. Collected Poems and Translations. Hgg. Harold Bloom und Paul Kane. New York 1994, S. 125. Die amerikanischen Trends wiederum haben längst weltweite Resonanz bzw. Parallelen gefunden. Dem Beispiel Anne Donaths, der Lehrerin, die sich im Oberschwäbischen ein Holzhaus ohne Strom und fast ohne Möbel eingerichtet hat, ihre Kleidung und Schuhe nach Möglichkeit selbst herstellt und im Garten eigenes Gemüse zieht, lassen sich in den letzten Jahren zahlreiche vergleichbare Experimente hinzufügen, und immer wieder fällt dabei der Name Thoreau als Inspirationsquelle oder Bestätigung für diverse Formen alternativen Le‐ bensstils, vom einfachen, anspruchslosen Leben bis hin zum entschiedenen Aussteigertum. Eine kuriose Blüte hat der Thoreau-Kult kürzlich auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt getrieben; das Lifestyle-Magazin Walden gibt Tipps, wie ‚Mann‘ das Abenteuer der Wildnis ‚vor der Haustür‘ erleben kann, seine Leser „leben vorwiegend in der Stadt, telefonieren mit Apple, lesen Monocle, fahren DriveNow und Golf Variant für den Wochenendausflug, tragen RedwingBoots und 3Sixteen-Jeans.“ 12 Besonders amüsiert hätte Thoreau das Er‐ gebnis einer Leserumfrage, wonach 69 % eine „hohe Ausgabenbereitschaft für Outdooraus‐ rüstungen“ 13 haben. Thoreaus Heimatstadt Concord, insbesondere Walden Pond und die (nachgebaute) Hütte gehören zu den Touristenattraktionen, wenn nicht gar Wallfahrtsorten Neuenglands. Der „different drummer“ (326), mit dem im Schlusskapitel von Walden das Bild des Nonkon‐ formisten beschworen wird, hat sich zum Markenartikel für zahlreiche Produkte von Kü‐ chengeräten und Kochkursen zu CD -Labels und T-Shirts entwickelt. Mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen hat Thoreau seinen Mentor Ralph Waldo Emerson eingeholt, ja überholt, indem er nicht nur wie jener zur Institution der elitären Hochkultur, sondern darüber hinaus auch zur Pop-Ikone avanciert ist. Neben den zahllosen Thoreau-Karika‐ turen, die offenbar nicht nur von Lesern des New Yorker goutiert werden, zeugt davon neuerdings auch ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Computerspiel, mit dem das Walden-Experiment virtuell nachvollzogen werden kann. 14 Wem diese Seite des Thoreau-Kults auf die Nerven geht, sei ein Besuch Concords emp‐ fohlen. Bei aller Kommerzialisierung hat sich das Städtchen ein erstaunliches Maß an Be‐ schaulichkeit bewahrt. Neben Boston, Philadelphia und Gettysburg gehört es zu den großen Erinnerungsorten der USA ; es war hier, an der über den Concord River führenden North Bridge, dass erstmals die Miliz der amerikanischen Kolonisten das Feuer auf reguläre bri‐ tische Truppen eröffnete und jenen Schuss abfeuerte, der sich im Rückblick als Signal für den Unabhängigkeitskampf der USA und damit für eine Zäsur der Weltgeschichte dar‐ stellen würde. Wie es Emerson 1836 in seiner Hymne zur Einweihung des Denkmals an der Old North Bridge formulierte: Here once the embattled farmers stood, And fired the shot heard round the world. 15 49 Henry David Thoreau: Walden Damit ist ein Bezugsrahmen angedeutet, der zum Schluss kurz skizziert werden soll, lädt er doch zu einer ebenso aktuellen wie zwiespältigen Pointe ein. Ich habe Walden als Klas‐ siker betrachtet und damit Vorstellungen von Überzeitlichkeit und Universalität verbunden. Nachzutragen ist die nationale, ja bis zu einem gewissen Grade nationalistische und gar (im positiven Sinne) lokalpatriotisch-chauvinistische Dimension des Buches. Thoreau bezog seine Hütte am 4. Juli - reiner Zufall, wie der Autor behauptet, aber selbst als Zufall ein bedeutsamer Fingerzeig: Thoreau versteht sich als Amerikaner, sein Experiment knüpft an jene Emanzipation an, für die im Kalender der USA noch heute Independence Day steht, in Erinnerung an den 4. Juli 1776, an dem die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten, die Declaration of Independence, unterzeichnet wurde. Thoreau als Amerikaner, Walden als Ausdruck eines amerikanischen Selbstbewusstseins - normalerweise mache ich um diesen Aspekt nicht allzu viel Aufhebens, gehört Walden doch längst zur Weltliteratur. Aber es gibt Zeiten, da kann man gar nicht genug Aufhebens darum machen, steht doch Thoreau mit seiner Biographie wie mit seinem Werk für ein nobles, anspruchsvolles und nicht zuletzt weltoffenes Amerika ein, das umso größeren Respekt verdient, als es seit einiger Zeit Tag für Tag in einen Morast primitiver Tweets ‚getrumpelt‘ wird. Literaturverzeichnnis Primärliteratur: Emerson, Ralph Waldo: „Hymn: Sung at the Completion of the Concord Monument“. Collected Poems and Translations. Hgg. Harold Bloom und Paul Kane. New York 1994, S. 125. Thoreau, Henry David: Walden. Hg. J. Lyndon Shanley. Princeton 1971. — : Journal. Bisher 8 Bände. Hgg. Elizabeth Hall Witherell (u. a.). Princeton 1981. Deutsche Übersetzungen: Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Zürich 2004. Walden: Ein Leben mit der Natur. Übers. Erika Ziha. München 1999. Walden, oder Leben in den Wäldern. Übers. Anneliese Dangel. Köln 2009. Sekundärliteratur: Coetzee, J. M.: „What is a Classic? A Lecture“ (1991). Stranger Shores: Essays 1986-1999. London 2002, 1-19. Donath, Anne: Wer wandert, braucht nur, was er tragen kann: Bericht über ein einfaches Leben. Mün‐ chen 2006. Eliot, T. S.: „From Poe to Valéry“ (1948). The Recognition of Edgar Allan Poe. Hg. Eric W. Carlson. Ann Arbor 1970, 205-219. — : „What is a Classic? “ (1944). Selected Prose of T. S. Eliot. Hg. Frank Kermode. London 1975, 115-131. Engler, Balz: „What is a Classic? “ Poetry and Community. Tübingen 1990, 42-57. James, Henry: The American Scene (1907). Collected Travel Writings: Great Britain and America. Hg. Richard Howard. New York 1993, 351-736. Kermode, Frank: The Classic. London 1975. Löffler, Philipp (Hg): Reading the Canon: Literary History in the 21 st Century. Heidelberg: 2017. 50 Dieter Schulz Lowell, James Russell: „Thoreau“ (1865). The Writings of James Russell Lowell. Riverside Edition. Boston 1890, 1: 361-381. Mukherjee, Ankhi: What is a Classic? Postcolonial Rewriting and Invention of the Canon. Stanford. Redwood City CA 2014. Pavese, Cesare: „The Literary Whaler“ (1960). The Recognition of Herman Melville. Hg. Hershel Parker. Ann Arbor 1970, 194-203. Sainte-Beuve, Charles Augustin: „Qu’est-ce qu’un classique? “ Causeries du lundi, 21. 10. 1850, 38-54. (http: / / www.tierslivre.net/ litt/ lundi/ classique). Schulz, Dieter: Henry David Thoreau: Wege eines amerikanischen Schriftstellers. Heidelberg 2017. Schulz, Kathryn: „Pond Scum: Henry David Thoreau’s Moral Myopia“. The New Yorker (19. 10. 2015). (http: / / www.newyorker.com/ magazine/ 2015/ 10/ 19/ pond-scum). Twain, Mark: A Tramp Abroad, Following the Equator, Other Travels. Hg. Roy Blount, Jr. New York 2010. Walden 2015 ff. Gruner+Jahr Verlagsgruppe. (http: / / www.waldenmagazin.de/ download/ Walden_Fact sheet_2015.pdf). Walden 2017. (http: / / www.gujmedia.de/ print/ portfolio/ walden/ leserschaft/ ). Walden, a Game. (https: / / www.waldengame.com/ ). Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Bei‐ spielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. — : Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts. London 2016. 51 Henry David Thoreau: Walden 1 Vgl. Verf., „Von der ‚menschlichen Bestie‘ zum ‚unbekannten Gott‘. Theorie des Europäischen Na‐ turalismus“. Theorien der Literatur. Bd. VI. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2013. S. 181-204. S. 194 ff. 2 Der Vortrag, erstmals gehalten zu Gunter Gottliebs 70. Geburtstag und jetzt überarbeitet und erwei‐ tert, trug ursprünglich den Titel: Suchbild Europa. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus. Vgl. Weber, Gregor (Hg.): Europa im Blick. Siebtes gemeinsames Symposion der Universitäten Augsburg und Ossiek. München 2006. S. 15-29. ‚Effi Briests arme Schwestern‘ Theodor Fontane: Cécile, Irrungen, Wirrungen, Stine Hans Vilmar Geppert für Gunther Gottlieb Ein Text, ein ‚textum‘, das ist, wie der lateinische Name sagt, zunächst einmal ein ‚Gewebe‘, ein Gewebe wie Tweed beispielsweise, ein Gewebe aus vielen feinen, verschiedenfarbigen Fäden. Ein solcher ‚Text‘ käme der Erzählkunst Theodor Fontanes in der Tat recht nahe. Wenn man ein unifarbenes Kleidungsstück, einen dunkelblauen Pullover beispielsweise oder eine rostrote Krawatte gegen eine Tweed-Jacke hält - alles natürlich aus Schottland, das Fontane bekanntlich sehr liebte -, dann werden in dem vielfarbigen Gewebe blaue oder rote Muster sichtbar, die man ohne diesen Kontext vielleicht übersehen hätte. Lässt sich so vielleicht auch Literatur neu lesen? Denn wenn Fontane in vielen Farben angelegte ‚Gewebe‘ aus feinen Fäden erzählt, dann hat der so gut wie zeitgleich um ihn her dominierende europäische Naturalismus eines Zola, Ibsen, Arno Holz, Hardy, Gissing oder Giovanni Verga oft etwas farbig Kräftiges, Drasti‐ sches und bewusst Provozierendes, ja Plakatives. Man setzte auf „Totalanschauungen“. 1 Das war Fontanes Sache nicht. Aber hält man solche kräftigeren, eindeutiger geprägten und farbig expliziten ’Kon-Texte‘ gegen ein Textkorpus wie das Fontanes, so wie eben einen blauen Pullover gegen eine grau-beige-blaue Tweedjacke, es können Spuren und Fäden feiner Muster sichtbar werden, die gleichwohl klar konturiert hervortreten. Hier setzt mein Vortrag an. Denn so schließen sich vielleicht solche feinen, oft jedoch sehr deutlichen und kontrastreichen Spuren zu einem kohärenten Muster zusammen, 2 das vielleicht, wenn ich so sagen darf, ‚Effi Briests arme Schwestern‘ wie ein Suchbild in den drei Erzählungen Cécile, Irrungen, Wirrungen und Stine sichtbar machen könnte. Denn was diese drei, ihrer Entstehung nach ineinander verschachtelten Texte verbindet, das ist, so meine heutige These, Fontanes ganz spezifische Auseinandersetzung mit dem Europäischen Naturalismus. 3 Zur Entstehung vgl. Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 2. Hgg. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1971. Dieser Band wird im Text zitiert. 4 Es kommt in der Tat darauf an, die „ungewöhnliche Dichte der Vernetzung seiner [Fontanes] Texte mit zeitgenössischen Kontexten“ zu untersuchen (Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Roman‐ kunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt / M. 1998, S. 40), wobei die vergleichende Perspektive gerade auch das ansprechen könnte, was Mecklenburg für Fontane ausschließt, nämlich den naturalistischen Diskurs, Gesellschaft als „absolut determinierendes, inhumanes Zwangssystem zu denunzieren“ (ebd., S. 50). Dies allerdings geschieht bei Fontane auf dessen eigene, feine, gleichwohl klare Weise. 5 Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen (wie Anm. 3), Bd. 4.1973, S. 294. 6 Das ist, im Germanisten-Jargon gesprochen, die „positive Akzentuierung weiblichen Andersseins“, Becker, Sabina: „Literatur als ‚Psychographie‘. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen“. Realismus? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts. Hgg. Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Sonderband der Zeitschrift für deutsche Philologie 120. Berlin 2001. S. 90-110, S. 94. Fontane begann 1881 damit, die Erzählung Stine zu konzipieren und nieder zu schreiben. Doch ein Jahr später 1882 brach er diese Arbeit ab und begann die an Irrungen, Wirrungen. Auch hier machte er zwei Jahre später halt, um zwischen 1884 und 1887 Cécile kontinuierlich auszuarbeiten und abzuschließen. Wieder ein Jahr später schloss er 1888 Irrungen, Wir‐ rungen ab, und noch einmal zwei Jahre danach lag schließlich 1890 Stine vor. 3 Die drei nacheinander erschienenen Erzählungen rahmen einander also ihrer Entstehung nach ein. Die letzte ist zugleich die erste, die zweite die vorletzte, und so fort. Aber das macht die mittlere keinesfalls zum Zentrum. Cécile ist, was Konflikt und Milieu betrifft, gegenüber den anderen beiden Erzählungen, die sie einrahmen, eher ein exzentrischer, wenn man will, peripherer Teil dieser Trilogie. Wo das ‚Zentrum‘ dieses Textkorpus liegt und was die drei Erzählungen wesentlich verbindet, ist überhaupt gar nicht so leicht zu sagen. Hier setzt meine heutige These an. Denn so wie verschiedene Dessins und Schnitte gleichwohl be‐ stimmte Muster gemeinsam haben können, die eigentlich erst ein mehr unifarbener fremder Text deutlicher sichtbar macht, könnte es dann so sein, dass die drei Erzähl-‚Texte‘, Er‐ zähl-Gewebe: Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine um so etwas wie eine ‚externe Mitte‘ kreisen: um Motive und Strukturen des europäischen Naturalismus? 4 Erzähl-Fäden und -Muster Ich beginne meine Beobachtungen und Überlegungen mit einer kleinen, aber wichtigen Szene aus Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888). Der ursprüngliche Untertitel: Eine Berliner Alltagsgeschichte, passt zur Alltäglichkeit der Szene. In ihr - man merkt gleich das Kräftige im Feinen - geht es um kleine alltägliche Tragik, um die Erfahrung, alltäglich ein wenig zu sterben. Die beiden Hauptpersonen, indem sie sich dem Alltag gesellschaftlicher Konventionen unterworfen haben, erleiden einen leisen, allmählichen, kalten Tod: Sie sterben erst in ihren Gefühlen, dann in ihrem humanen Selbstbewusstsein, in ihrem ‚Herzen‘, wie man zu Fontanes Zeit gesagt hätte, bis sie immer mehr nur noch wie Auto‐ maten weiterleben. Denn „ohne rechte Liebe“, 5 wie es später Effi Briest (1894) formulieren wird, eine Liebe, die Freiheit und Aufrichtigkeit voraussetzt, können manche Menschen, können vor allem viele Frauen bei Fontane, nicht überleben. 6 Problem-, Dreh- und Angelpunkt der Handlung in Irrungen, Wirrungen ist die unmög‐ liche Liebe zwischen einem Baron, Gardeoffizier, von Schulden bedrängt - was sonst? -, 54 Hans Vilmar Geppert 7 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Fontane, Theodor: Sämtliche Romane (wie Anm. 3), Bd. 2. München 1971. 319-475 sowie 906-949. 8 Die erzähltheoretisch relevante Form dieser Bedeutungsübertragung ist die der Metonymie: pars pro parte in einem umfassenden Kontext, also nicht, das ist das „Feine“ daran, nicht deren (synekdochi‐ sche) Verallgemeinerung. Die Begriffe erklärt jede Einführung in die Rhetorik, am trennschärfsten m.E. z.B. Jacques Dubois, Francis Edeline, Jean-Marie Klinkenberg u. a., Allgemeine Rhetorik (Rhéto‐ rique générale, 1970), übersetzt [leider sehr schlecht] und hg. von Arnim Schütz, München 1974, S. 52 ff. und 152 ff.; als knappe Einführung vgl. Verf., „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der und einer jungen, hübschen, kleinbürgerlich lebenden Textilarbeiterin. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sich beide getrennt und Botho von Rienäcker hat eine reiche Erbin ge‐ heiratet. Eines Tages, auf dem Heimweg von der Arbeit, geht Lene die Lützowstraße in der Nähe des Tiergartens hinunter: Aber mit einem Male hielt sie und wußte nicht wohin, denn auf ganz kurze Entfernung erkannte sie Botho, der, mit einer jungen, schönen Dame am Arm, grad auf sie zukam. Die junge Dame sprach lebhaft und anscheinend lauter heitre Dinge, denn Botho lachte beständig, während er zu ihr niederblickte. Diesem Umstand verdankte sie’s auch, dass sie nicht schon lange bemerkt worden war, und rasch entschlossen, eine Begegnung mit ihm um jeden Preis zu vermeiden, wandte sie sich, vom Trottoir her, nach rechts hin und trat an das zunächst befindliche große Schaufenster heran, vor dem, mutmaßlich als Deckel für eine hier befindliche Kelleröffnung, eine viereckige geriffelte Eisenplatte lag. Das Schaufenster selbst war das eines gewöhnlichen Materialwarenla‐ dens, mit dem üblichen Aufbau von Stearinlichtern und Mixed-Pickles-Flaschen, nichts Beson‐ deres, aber Lene starrte darauf hin, als ob sie dergleichen noch nie gesehen habe. Und wahrlich, Zeit war es, denn in ebendiesem Augenblicke streifte das junge Paar hart an ihr vorüber, und kein Wort entging ihr von dem Gespräche, das zwischen beiden geführt wurde. […] Lene fühlte das Zittern der dünnen Eisenplatte, darauf sie stand. Ein waagerecht liegender Mes‐ singstab zog sich zum Schutze der großen Glasscheibe vor dem Schaufenster hin, und einen Au‐ genblick war es ihr, als ob sie, wie zu Beistand und Hilfe, nach dem Messingstab greifen müsse, sie hielt sich aber aufrecht, und erst als sie sicher sein durfte, dass beide weit genug fort waren, wandte sie sich wieder, um ihren Weg fortzusetzen. Sie tappte sich vorsichtig an den Häusern hin, und eine kurze Strecke ging es. Aber bald war ihr doch, als ob ihr die Sinne schwänden, und kaum, dass sie die nächste nach dem Kanal hin abzweigende Querstraße erreicht hatte, so bog sie hier ein und trat in einen Vorgarten, dessen Gittertür offen stand. Nur mit Mühe noch schleppte sie sich bis an eine kleine zu Veranda und Hochparterre hinaufführende Freitreppe, wenige Stufen, und setzte sich, einer Ohnmacht nah, auf eine derselben. Als sie wieder erwachte, sah sie, dass ein halbwachsenes Mädchen, ein Grabscheit in der Hand, mit dem sie kleine Beete gegraben hatte, neben ihr stand und sie teilnahmvoll anblickte […]. (415 / 416) Und als Lene wieder etwas zu Kräften kommt und weggeht, sieht ihr das Kind „traurig verwundert nach, und es war fast, wie wenn in dem Kinderherzen eine erste Vorstellung von dem Leid des Lebens gedämmert hätte“ (ebd.). 7 Dies könnte eine naturalistisch genaue Theater- oder Filmszene sein. Aber die feinen Fäden der Erzählkunst Fontanes zeigen viel mehr als nur Szene und Handlung. Hier ist alles voll Bedeutung, die weit voraus- und zurückführt. 8 Zunächst ist es die Kunst der Perspektiven, 55 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ Literatur. Bd. II. Hgg. H. V. Geppert und Hubert Zapf. Tübingen, Basel 2005, S. 49-83, S. 61 ff.; auch in Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotk, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006, S. 49 ff.; dazu unten mehr unter der Überschrift Metonymien des Natura‐ lismus. 9 Beispielhaft wären etwa die gezielten Spiegel-Inszenierungen in Rainer Werner Fassbinders, Fontane Effi Briest (1974). Vgl. Verf., „‚Nicht so wild Effi! ‘ Verfilmung eines literarischen Felds“. Literatur im Mediendialog (Anm. 7). S. 107-127, v.a. S. 116 ff. 10 Er spielt mit diesem Namen an auf die Königsmätresse aus Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orléans (1802), was Lene nicht versteht, aber in der Tendenz ahnt. die die ‚Fäden‘ sozusagen ‚auseinander zieht‘, also die Aussagen differenziert. Wir, die Leser, sehen genau und fühlen geradezu körperlich mit Lene mit, sehen aber auch hinter ihrem Rücken wie Botho und Käthe vorbeigehen. Botho bewegt sich, was eine weitere Perspektive eröffnet, auf Lene zu, aber ohne sie zu bemerken. So macht die Konstellation der Figuren auch sie für ihn zu einem Ding unter so vielen anderen Dingen. Und wir Leser sollen alles registrieren: die vielen Leute und die Einzelnen, die Intensität von Lenes Betroffenheit und die Tatsache, dass ihr Geliebter sie übersieht, die Welt der Gefühle und die Oberfläche der Dinge, die Detailgenauigkeit der „geriffelten Eisenplatte“ beispielsweise, oder die der „Ste‐ arinlichter“ oder die des „waagerecht liegenden Messingstabes“, den wir in der Vorstellung beim Lesen geradezu anfassen können. So wird Lene ganz wörtlich und vor unseren Augen ‚verdinglicht‘. Und was bedeutet das Schaufenster? Es wäre von hier nur ein kleiner Schritt gewesen zu einer Film-Inszenierung, etwa im Stile Rainer Werner Fassbinders: 9 Wirkt die Schaufensterscheibe nicht bereits jetzt in der Vorstellung beim Lesen wie ein Spiegel, in die wir Leser, ganz wie es im Film die Kamera täte, über Lenes Schulter hinweg hineinschauen und in dem wir die junge Frau erblicken, überblendet von Dingen, Straße, Passanten, ’gleich-gültig‘ im Blick des sie nicht bemerk‐ enden, selbst aber ebenfalls im Spiegel sichtbaren Geliebten, eine unter vielen und Ding unter Dingen? Doch diese Spiegelung sagt noch mehr: ‚Ding unter Dingen‘ ist jetzt nicht nur Lene, das ist hier auch Botho. Und das hat, wenn man richtig hinschaut, weit reichende Bedeutungen. Denn was so verfremdet wird, das wird bedeutsam herausgehoben. Es verweist auf an‐ dere Details und Szenerien außerhalb des engeren Kontextes. Man sieht, wie mehrere Er‐ zählfäden sich treffen. Bothos Lachen und Nichtbemerken erinnert etwa retrospektiv daran, wie er Lene früher einmal, als sie noch meinten, zusammen glücklich zu sein, „mit leichter Handbewegung“ als „Mademoiselle Agnes Sorel“ vor seinen befreundeten Offiziers-Kame‐ raden, beiläufig, aber unüberhörbar, beleidigt hatte (390). 10 Und dem entspricht dann auch ein nach vorn weisender Bruch in Lenes Leben, der genau jetzt beginnt. Sie wird wegen dieser Begegnung in der Lützowstraße von der nahe gelegenen Gärtnerei, ihrem früheren kleinen Refugium und „Liebesgärtlein“, wegziehen. Diese Fremde, auch der immer noch offenkundige Gegensatz von Natur und Stadt, sind jetzt schon spürbar als plötzliche Kälte und Anonymität um sie her, durch das Motiv des kleinen Vorgartens, wo sie zusammen‐ bricht, noch unterstrichen. Noch genauer und feiner: Von der jetzigen Erschütterung wird die junge Frau „eine weiße Strähne“ in ihrem Haar behalten (423), ein feiner, aber erkenn‐ barer Verweis zurück auf ihr Haar, mit dem sie einmal ein paar Blumen für Botho gebunden hatte, und zugleich ein Blick voraus, eben ein Zeichen für Alter und Tod, so dass das Zer‐ 56 Hans Vilmar Geppert 11 Was den genauen, kritischen Umgang mit kindlichem Leiden und kindlicher Angst nicht verdeckt, sondern kontrastierend vertieft, z. B. in der Autobiographie Meine Kinderjahre (1893). In Der Stechlin (1898) stoßen in der Figur der kleinen Agnes die romantisch-symbolistische Verklärung der Kinder‐ gestalt und ihre geradezu naturalistische, allerdings nur angedeutete Unterdrückung (Agnes droht am Ende des Romans ja doch wohl das Waisenheim) explizit aufeinander. (Vgl. z. B. Verf., „Theodor Fontane ‚Der Stechlin‘“. Große Werke der Literatur. Bd. VI. Hg. H.V. Geppert. Tübingen, Basel 1999. S. 103-115, v.a. S. 107 / 108. brechen dieses Verbundenseins - „Haar bindet“, hatte sie damals ahnungsvoll gesagt (379) - nach und nach den inneren, den emotionalen und im weiteren Sinn auch den hu‐ manen Tod bedeuten wird, auch wenn es nur ein leiser Tod ist. Botho hat dem „Herkommen gehorcht“ und weiß, dass er daran innerlich „zugrunde gehen“ wird, aber auf komfortable Weise, oder, wie er sich ausdrückt: „Er geht besser zu‐ grunde, als der, der […] widerspricht“ (405). In einer viel späteren, dieser hier aber immer noch korrespondierenden Szene auf dem großstädtischen Friedhof - ein kultivierter Natur-Raum innerhalb der Großstadt, wie der Tiergarten-Park und natürlich die Gärtnerei und jetzt der kleine Vorgarten - wird er von Zeichen des Todes umgeben sein, die zugleich eine Welt gefühlskalter Oberflächlichkeit und universaler Käuflichkeit vorstellen, so wie jetzt schon die Dinge im Schaufenster. Ich meine jene Episode, in der er einen Kranz auf das Grab von Lenes Mutter legen will: Gerade im Versuch, an eine für ihn eigentlich le‐ benswichtige Kontinuität zumindest in einer Geste anzuknüpfen, erlebt er deren endgül‐ tiges Zerreißen, auch dies wieder in einer alltäglichen und doch zugleich viel tiefer be‐ deutsamen Weise. Er fährt, von einem dürren, fast verhungerten Klepper gezogen, endlos durch öde Vorstadtstraßen und an Wänden voll wirrer Reklameplakate hin, bekommt nur einen billigen, massenhaft hergestellten Kranz, und braucht schließlich einen Führer, um - das muss der Leser sich hinzudenken - im Wirrsaal der Friedhofswege zwischen Gräbern, die alle fast gleich aussehen, nicht verloren zu gehen (vgl. 446-453). Und diese Szene, diese das Innere veräußernde fremde Todeswelt - sie erinnert nicht zuletzt an den Friedhof am Ende von Germinie Lacerteux (1865) der Brüder Goncourt - wäre nun wirklich sehr gut in einen Film umzusetzen. Sieht man die beiden Szenen zusammen, dann verstärkt die Korrespondenz der Motive erneut deren Zeichenfunktion, eine Funktion des Verweisens auf Anderes; und je mehr diese Intensität wächst, umso mehr kann sie auch Konträres bezeichnen: Die Fremde spricht von verlorener Nähe und Heimat als etwas Lebensnotwendigem, die beliebige oder auch wirr zugebaute Stadtwelt spricht von der Sehnsucht nach harmonischen Naturland‐ schaften, einer Sehnsucht, die noch über die Verweis-Kette von Vorgarten bzw. Friedhof, Gärtnerei, Park, Ausflugsort am Fluss und so fort hinausführt. Wenn dort der entscheidende Bruch in der Liebesgeschichte geschehen war, der sich im endgültigen Abschied nach der plötzlichen Begegnung und im Wegziehen aus der Gärtnerei wiederholt, so spricht auch das vom Bedürfnis nach umfassenderer, lebendiger Geborgenheit und ganz einfach Liebe. Der „Ring“ aus Haar, der gerundete Kranz aus „Immortellen“, das Anteil nehmende und gärtnernde Kind - bei Fontane durchaus noch von romantischer Symbolik des sich erneu‐ ernden Lebens geprägt -, 11 all das erinnert gerade in seinen großstädtisch-modernen Ver‐ fremdungen, die ja auch ein Moment zeitlicher Unwiederbringlichkeit markieren, an eine zyklisch sich erneuernde Natur, harmonisch, liebevoll, groß im Sinne Rousseaus, der Ro‐ 57 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 12 Zur Frage nach einem „Europäischen Naturalismus“ und seinen Naturbegriffen vgl. grundlegend die Arbeiten von Yves Chevrel, insbesondere: Le Naturalisme dans les littératures européennes. Nantes 1983; Le naturalisme en question. Paris 1980; Le naturalisme. Étude d’un mouvement littéraire inter‐ national. 2. Aufl., Paris 1993; vgl. auch Verf., Von der menschlichen Bestie zum „unbekannten Gott“ (wie Anm 1), v.a. S. 181 ff. und 189-194. 13 Romane von Gustave Flaubert, LeoTolstoi, George Eliot u. Henry James. Vgl. z. B. die Hinweise auf die Arbeiten von Böschenstein, Degering, Furst, Glaser, Mayer, Pótrolau.a., in: Aust, Hugo: Theodor Fontane. Tübingen, Basel 1998, S. 238-242; oder Rippon, Maria R. Judgement and Justification in the Nineteenth century Novel of Adultery. Westport, Conn. 2002. 14 „So stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen“, Fontane, Theodor: Sämtliche Romane (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 28. mantik, Ludwig Feuerbachs, durchaus auch noch bei Karl Marx, erst recht bei Friedrich Engels zu finden, und vor allem eben - und damit erkennen wir vielleicht einen Teil des Suchbilds - eine zur Zivilisation und Technik alternative Natur, der wir, und das mag viele überraschen, immer wieder im Roman des Europäischen Naturalismus begegnen. 12 Cécile, Lene, Stine - und Effi Dass die Europäischen Naturalisten auch, und meines Erachtens sogar wesentlich, geradezu Rousseauisten und Romantiker waren, und dass Fontane in feinen Verweisen und Ver‐ knüpfungen daran Teil hat, soll uns gleich beschäftigen. Vorerst wollen wir die andere Hälfte des naturalistischen Kontexts im Œuvre Fontanes in den Blick nehmen: die Natur im Sinne Darwins, den ‚natürlichen‘ Überlebenskampf in der modernen Zivilisation und Gesellschaft. Die Komparatistik hat sich bei Fontane ganz überwiegend für Effi Briest interessiert und diesen Roman immer wieder in den Kontext von Madame Bovary, Anna Karenina, Middle‐ march oder A Portrait of a Lady gestellt. 13 Aber das ist nur zum Teil überzeugend. Effi Briest ist bei allem feinen psychologischen Takt materialistisch härter konzipiert als die anderen genannten Romane. Wird nicht Effi, wenn sie von ihrem Mann umworben und von ihren Eltern verheiratet wird, wird sie nicht letztlich wie ein Ausstattungsstück behandelt, das richtig „stehen“ muss, 14 um gut zu wirken? Wird sie nicht, wie gesellschaftlich gesittet und leichthin immer, eigentlich doch geradezu verkauft, und hat sie das nicht von vornherein akzeptiert? Natürlich hat Tolstois Anna den mächtigen Karenin letztlich wegen gesell‐ schaftlicher und materieller Vorteile geheiratet. Aber das ist nicht der Konflikt, an dem sie verzweifelt. Sie stirbt an der Enttäuschung ihrer totalen Liebe. Effi hat ihren Verführer Krampas nie geliebt, sehnt sich weder nach ihm, noch leidet sie an Schuldgefühlen. Auf‐ gerieben wird sie davon, dass sie abhängig bleibt: Abhängig ist sie im Sorgerecht, ja Be‐ suchsrecht für ihr Kind, abhängig ist sie lebenslang von den Vorurteilen anderer, vor allem denen ihres geschiedenen Mannes; und eben auch materiell und in ihrer ganzen Lebens‐ führung ist sie abhängig. Nur ein Detail sei vergleichend genannt. In Madame Bovary ist viel von Geld die Rede. Aber wenn die Bovary das Geld ihres Mannes verschwendet und Schulden macht, sie würde ja auch stehlen oder sich prostituieren, dann letztlich aus verzweifelter Sehnsucht nach einem von Liebe erfüllten Leben, so geprägt von Clichés, illusionär, ja teilweise dumm sie sich das immer vorstellen mag. In dem Augenblick, in dem sie das Gift nimmt, von ihren Schulden gehetzt, ist sie doch strahlend schön wie nie zuvor, und, wie es ausdrücklich heißt: 58 Hans Vilmar Geppert 15 Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Hg Bernard Ajac. Paris 1986, S. 387: „Elle ne souffrait que de son amour“. Alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, von mir. 16 Fontane, Theodor: Sämtliche Romane (wie Anm. 3), S. 253. 17 „Mit Macht drängt die Erzählung den Naturraum des Harzes in den Vordergrund“ (Blasberg, Cornelia: „Das Ratsel Gordon oder: Warum eine der ‚schönen Leichen‘ in Fontanes Erzählung „Cécile“ männ‐ lich ist“. Realismus? [wie Anm. 5]. 111-127, S. 115), aber, und das scheint mir nun sehr wichtig, die metonymischen Verweise „zielen“ eben gerade nicht „darauf, das Signifikat ‚Frau‘ mit dem der ‚Natur‘ zu verschmelzen“ (S. 116, das würde eine synekdochische Verallgemeinerung bedeuten), sondern zeigen (metonymisch) an, dass etwas Lebensnotwendiges fern, ja genau genommen „abwesend“ ist. Genaueres im folgenden Kapitel: Metonymien des Naturalismus. „Sie litt nur an ihrer Liebe“. 15 Wenn Effi Briest dagegen den Brief öffnet, in dem ihre Eltern ihr von Duell und Scheidung berichten, liegt höchst materiell ein Bündel Banknoten bei. Auf dem umhüllenden Papierstreifen steht die Summe, und ausdrücklich vermerkt der Er‐ zähler: „von des Vaters Hand“. 16 Das ist viel unauffälliger erzählt als die Geldverwicklungen der Bovary, aber heißt es nicht ganz fein, ganz hart und ganz anders: Innstetten hat Effi ihren Eltern wie eine fehlerhafte Ware zurückgegeben, und sie mögen von jetzt an bitte für ihren Unterhalt aufkommen? Wie steht es nun mit Effi Briests ‚armen Schwestern‘, zunächst einmal denen bei Fontane selbst? Noch viel drastischer als Effi war Cécile, eine sehr schöne, sensible, innerlich auf‐ richtige, aber nahezu völlig ungebildete ‚femme fragile‘, seinerzeit ‚gekauft‘ worden. Der alte Fürst hat sie ihrer verwitweten und verarmten Mutter abgenommen, und dann wurde sie an dessen Sohn geradezu ‚vererbt‘: ein schöner, wertvoller Besitz’, bewundert und geliebt wie ein edles Pferd, aber eben genau das. Und als Fürstenmaitresse hatte sie die ökonomi‐ sche Basis erworben (z. B. „das Gut […], das will sagen, [das] Gut der Frau“, 252), wovon ihr Mann und sie jetzt gut leben können. Allerdings, eine adlige Fürstenmaitresse gehörte da‐ mals zur großen Gesellschaft. Aber so ist sie freilich auch mit einer ‚Geschichte‘ belastet, die Gordon, der sie zu lieben meint, nicht erträgt. Wenn er Cécile beleidigt, beleidigt er auch die Liebe, zu der er nicht finden kann. Und wie eine erinnerte Heimat, in die man ebenfalls, wie in die verweigerte Liebe, nicht hinein findet, stehen hier die Waldlandschaften des Harz dagegen und die üppigen Blumengärten in Berlin, die „Blumenwelt“ (259), die die kranke Cécile von ihrer Terrasse aus sieht. Sie stehen da wie eine Natur, die man durch ein Fenster betrachtet. Hinter allem Zwang und Krampf gesellschaftlicher ‚Wirrungen‘ wird eine Natur sichtbar, die schmerzlich, ja tödlich fehlt. 17 In Irrungen, Wirrungen, wie Cécile eine Geschichte unlebbarer Anpassung an gesell‐ schaftliche Konventionen, schlägt die Beleidigung noch klarer auf den Beleidigten zurück. Und auch hier, im Kern der ‚Wirrungen‘, geht es nur oberflächlich um Standesunterschiede: Botho hat, wie die Leser genau erfahren, „9 000 jährlich und gibt 12 000 aus“ (361): für Rasse-Pferde, eine Gemälde-Sammlung und dergleichen. Die Hypothek auf seinen Famili‐ enbesitz wurde eben gekündigt. Er muss, er muss, er kann nicht anders, als sich an eine reiche Erbin zu ‚verkaufen‘, heiter und komfortabel gewiss, alles wird im Plauderton ver‐ einbart, so wie ja auch Céciles Vorgeschichte als Fürstenmaitresse ganz gesittet verlaufen und nach ‚höfisch‘ geprägten Moralgesetzen auch völlig akzeptabel gewesen war, wie sie nur als ‚Klatsch‘ weiter lebt, und schließlich ja auch bürgerlich wohl situiert zu Ende geht. Aber prinzipiell herrschte hier derselbe materielle Zwang wie bei Stines Schwester Pauline, die sich vom Baron aushalten lassen muss. Und nun erkennt man auch den komplementären 59 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 18 Erklärungen gibt jede Einführung in die Rhetorik, z. B. Ueding, Gert / Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986; vgl. auch oben Anm. 7. 19 Im Sinne der Rhetoric of Fiction von W. C. Booth und anderen. Zur Orientierung vgl. z. B. Bauer, Matthias: Romantheorie. Stuttgart, Weimar 1997. Wertekonflikt zu den Beleidigungs-Konstellationen. Stine weiß neben vielem anderen, dass ihr kranker junger Graf, krank durch eine „standesgemäße“, ganz „ritterliche“ Kriegsver‐ letzung, so er wegen solch einer Mésalliance sein Erbe verlöre - wohlgemerkt: Was sein Adel wert ist, wird durch ein „Majorat“ (541), also durch einen Erbschafts-Vertrag bürger‐ lichen Rechts geregelt -, dass er dann so gut wie mittellos wäre und als gewöhnlicher Invalide auch so gut wie erwerbsunfähig. Und für alles, was dann das Leben an Härte und Misere bringen wird, fragt ihn Stine, „soll das Herz aufkommen“ (552)? Bei Fontane ist alles taktvoll gemildert, aber das ‚Herz‘ hat keine Chance. So geht es letztlich sehr klar auch jetzt um Menschen, die vom Geld definiert werden, die sich ver‐ kaufen müssen, deren Humanität dagegen, wie die Stines, hilflos ist, oder um Menschen die, wie in den Beleidigungen gegenüber Cécile und Lene, zuletzt sich selbst zerstörend gegen die Welt opponieren. Und es geht auch bereits um arbeitende Menschen: Gordon ist zwar ein ehemaliger Offizier und wird satisfaktionsfähig sein, aber jetzt ist er ein akade‐ misch gebildeter ‚höherer Angestellter‘; Lene und Stine sind Arbeiterinnen. Sie machen saubere, feine, anspruchsvolle Textilarbeit, teilweise, und nicht ungemütlich, zu Hause; und die Industriearbeit bei Borsig wird in einer oft zitierten Szene in Stine gerade als Mittags‐ pause dargestellt. Gleichwohl, die Verweisfunktion auch feiner Fäden und Spuren auf eine harte Realität der Zeit ist unverkennbar. Anders gesagt, und das scheint mir jetzt wichtig, Fontane erzählt nur, aber dies durchaus und gezielt. Metonymien des Naturalismus Metonymien sind rhetorische Figuren, 18 und dazu zählen im Sinne einer Rhetoric of Fiction auch Erzählfiguren, 19 die Bedeutungsübertragungen herstellen nach dem Prinzip partes pro partibus (Teile stehen für Teile). Der Name des Firmengründers ‚Horch‘ beispielsweise (das ist der eine pars bzw. ‚Teil‘), steht im übergreifenden Kontext der Produktion und des Ge‐ brauchs von Automobilen (das wäre das implizite totum), auch wenn er inzwischen in la‐ teinisch ‚Audi‘ übersetzt wurde, er kann für einen anderen ‚Teil‘ dieses ganzen Kontexts stehen, nämlich für ein einzelnes Auto. So können wir etwa sagen: „Ich fahre jetzt einen Audi“, und dies wird seit je problemlos verstanden. Und genauso, nach demselben Mechanismus wechselseitiger Bedeutungs-Vertretung, können dann auch umfangreichere Texte und Kultur-Phänomene bedeutsam aufeinander bezogen werden. Metonymien stellen also ein Wechselspiel her von Verallgemeinerung und Vereinzelung, von Verbindung und Trennung, Konnex und Identität, einen wechselseitigen Bezug von Teilen, Ganzheiten und anderen Teilen auf einender, und so fort. In diesem Sinne war das eingangs skizzierte ‚Textum‘-Modell von ‚Tweed und Kaschmir‘, in dem vielfarbige Fäden auftauchen, verschwinden, irgendwo sonst, vielleicht sogar weit getrennt, wieder hervortreten und so fort, ein solches ‚Gewebe‘ war immer schon eine metonymische Kon‐ figuration. Dazu nun gleich ein weiteres Beispiel zum Thema „Fontane und der europäische Natu‐ ralismus“. Die Szene: 60 Hans Vilmar Geppert 20 Fontane, Theodor: (wie Anm. 3), S. 141-145; das vorhergehende und die folgenden wörtlichen Zitate entstammen, sofern nichts anderes vermerkt ist, alle diesem Textabschnitt. 21 Zola, Émile: La bête humaine. Hg. Robert A. Jouanny. Paris 1972, S. 53. 22 Der Blick durch ein Zugfenster auf den sich ereignenden Mord erinnert inzwischen an Agatha Christies Roman 4.50 from Paddington (1957). Der ältere Herr […] reichte seiner Dame den Arm und ging im langsamen Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zugs […], diese Szene und überhaupt die ganze gepflegte Langeweile - „niemand sprach“ - in einem Abteil des Schnellzuges von Berlin in den Harz am Anfang von Fontanes Cécile  20 hat auf den ersten Blick sicher wenig zu tun mit der Brutalität der Handlung in Zolas Eisen‐ bahn-Roman La bête humaine / Die menschliche Bestie (1890). Aber das Eisenbahnnetz ist ganz wörtlich ein großer „Konnex“, in dem dieses betont „leere […] Compartiment“, in dem man „allein“ zu bleiben hofft, Station für Station und explizit anschaulich (in praesentia würden die Rhetoriker sagen) nicht nur mit Berlin („die Siegessäule halb gespenstisch“) und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit („Sahst du Saldern? “) verbunden bleibt, sondern dieses ganz Europa umspannende Netz verknüpft, implizit gewiss (und jetzt natürlich in ab‐ sentia), aber genau gesehen dann doch fest, diese kleine und leise Eisenbahn-Szene aus Cécile durchaus mit dem großen, lauten Bahnhof des „quartier de l’Europe“ in Paris 21 - „quartier de l’Europe“: ein bezeichnender Name -, wo La bête humaine beginnt. Und dieser reale Nexus der beiden Szenerien (in der Tat ein totum für zwei getrennte partes), anders gesagt: dieser fern reichende, bei Fontane ganz feine, für Zola starke und laute, gleichwohl gemeinsame ‚Erzählfaden‘ scheint mir alles andere als beliebig. Sieht man nur etwas ge‐ nauer hin, dann entdeckt man hier viele weitere solcher metonymischen Gemeinsamkeiten. In La bête humaine geht es, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt, um die menschliche Fähigkeit zu töten, ja zu morden, die sich in der technisierten Genauigkeit und Brutalität der Eisenbahn spiegelt: Mord aus Gier, aus Eifersucht, vor allem aber, so ist das bei Zola, aus ererbter, triebhafter, unentrinnbarer Aggressivität. Die bricht zuletzt beim Roman‐ helden Jacques Lantier durch. Und diese ‚menschlich bestialische‘ Brutalität spiegelt sich auch im zentralen Eisenbahn-Unfall wieder, zuletzt im Krieg von 1870, in den dieser Roman mündet. Dieser ‚Erzählfaden‘ der Eisenbahn, bei aller Verschiedenheit der beiden ‚partes‘ bei Fontane und Zola zeigt nun durchaus auch ein ‚Muster‘: Wie hat bei Zola die drastische Serie von Mord und Totschlag begonnen? Der reiche und mächtige Eisenahndirektor hatte vor Jahren sein Mündel Sévérine sexuell ausgebeutet. Ihr Mann ermordet ihn später aus Eifersucht und verletztem Stolz, und das auf brutale und zugleich raffinierte Weise. Damit setzt die eigentliche Handlung ein. 22 Der einzige Zeuge, Jacques Lantier, schweigt. Aber die beobachtete Tat ‚weckt‘ den Triebtäter in ihm auf, und am Ende des Romans wird er Sé‐ vérine ermorden. Alles sehr kräftig und laut und weit entfernt von den feinen Erzählfäden Fontanes. Aber wenn in Cécile der alte Fürst die sehr junge Cécile ihrer Mutter sozusagen ‚abgekauft‘ hat, und sein Sohn sie als Maitresse weiter ‚beschäftigt‘, zeigt sich da nicht ganz fein letztlich doch dieselbe ‚Erzählfarbe‘ der ökonomisch-sexuellen Ausbeutung? St. Arnaud, der sich selbst zu den „Leuten vom Fach [des Tötens]“ zählt (212), und der überhaupt von Anfang an von Todes-Motiven umgeben ist, erschießt seine Gegner ganz gesittet im Duell, aber die 61 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 23 Am Ende von La bête humaine fährt ein dahin rasender Eisanbahnzug französische Soldaten in den Krieg von 1870 / 1871. Der liegt für die Handlung von Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine bereits zurück, wird aber regelmäßig noch erwähnt (St. Arnaud hat knapp überlebt, S. 148; Botho hat einen „Kriegskameraden“, S. 338; Graf Haldern wurde im Krieg zum Invaliden), derlei wird zu oft genannt, um nicht bedeutsam zu sein. 24 „Qu’importaient les victimes que la machine écrasait en chemin! N’allait elle pas quand même à l’avenir […]? / Was bedeuteten die Opfer, die die Maschine auf ihrem Weg zermalmte! Führte sie nicht trotz allem in die Zukunft? “, Zola, Émile: La bête humaine (wie Anm. 21), S. 382. ’Ich-Kränkung‘, die aus seinem Handeln spricht, reicht offensichtlich, und letztlich doch wie die in La bête humaine, viel weiter und tiefer zurück, als der jeweilige Anlass. Und so wie es erzählt wird, scheint er den ‚Kick‘ des Tötens durchaus zu genießen. Lebt da nicht doch irgendwo ein eleganter ‚Triebtäter‘ in ihm, der töten will, eine verfeinerte und de‐ kadente bête humaine? Cécile, eine schöne, aber schwache Frau wie Sévérine (beide zeit‐ typische femmes fragiles), wird nicht ermordet, aber leidet an der Ächtung durch ihre bür‐ gerliche Umwelt, nicht zuletzt an der fast reflexhaften Beleidigung durch ihren Geliebten, und sie stirbt daran. Und hier wie dort verstärkt das Verschweigen und Verdrängen das Konfliktpotential von verletzter Natur und gesellschaftlichem Druck. Hier wie dort entsteht eine unentrinnbar gefährliche, letztlich naturalistische Dramatik, die sich, bei allen Unter‐ schieden, dann ja auch in Cecile gewaltsam entlädt. 23 Doch nun gilt es natürlich auch das Trennende zu sehen. Zu verbinden und in eins damit zu trennen, gehört ja ganz wesentlich zur Figur der Metonymie. Für Zola ist die Eisenbahn Teil eines ‚natürlichen‘ Systems, in dem physikalisch-technische, wirtschaftliche, physio‐ logische und eben auch psychische Gesetze zur Anwendung kommen und sich wechsel‐ seitig potenzieren. Dieses System von Gesetzen kann viel zerstören, aber es wird auf lange Sicht, der Gedanke prägt vor allem die letzten Romane des Rougon-Macquart-Zyklus, durch alle Katastrophen hindurch sich selbst regenerieren und heilen. Die Maschinerie der Ei‐ senbahn ist Teil dieses Systems, und vor allem die Lokomotive wird zu einem lauten, kraft‐ vollen, oft zerstörerischen, geradezu mythischen Monster überhöht. Aber letztlich führt sie eben doch in eine bessere Zukunft hinein. 24 Fontane erzählt lediglich Metonymien dieses naturalistischen Systems, weil er ganz an‐ ders argumentiert. Seine Metonymien übersetzen die naturalistischen ‚Fäden‘ in ein ganz anderes ‚Gewebe‘, einen ganz anderen Diskurs. Bezeichnenderweise bewegt sich der Zug in Cécile völlig lautlos und geruchsfrei. Die Eisenbahn steht nicht wie bei Zola für eine Dynamik von Gesetzen, ja Zwängen; sie steht für eine Dynamik der Gefühle und des Den‐ kens. Die Eisenbahn, genauer, denn deren Technik oder Organisation interessiert hier nie‐ manden, die Reise, die Fahrt durch deutsche Geographie („die Siegessäule halb gespens‐ tisch“, „Magdeburg und sein Dom“), dies alles ist in Cécile nicht Teil eines Netzes von Gesetzmäßigkeiten, sondern Teil eines Netzes von Informationen. Entlang der Strecke zwi‐ schen Berlin und dem Harz werden Erfahrungen ausgetauscht: ‚Geschichten‘ reisen hin und her („täuschte nicht alles, so lag eine ‚Geschichte‘ zurück“, (143)), Emotionen, Wert-Set‐ zungen, auch Vorurteile und Traumatisierungen, Missverständnisse, Täuschungen und so fort, trennen, verbinden, überlagern und klären sich. Das sind alles ‚Nachrichten‘, Infor‐ mationen, die zwischen den Personen, zwischen Teilen der Gesellschaft (man denke an die wichtigen Briefe) und zwischen Berlin und dem Harz hin und her ‚reisen‘. Und nicht zuletzt 62 Hans Vilmar Geppert 25 Man könnte sich eine Bühne in Form einer verdichteten Lokalität aus Haus und Garten vorstellen, etwa wie die Bühnen von Anton Tschechow in Die Möwe (1896), oder Onkel Wanja (1897) oder Der Kirschgarten (1904), die ja in der Tat ’Welt-Metonymien‘ sind, Ausschnitte von Netzen von Bezügen. 26 Vgl. Verf., Theorie eines Europäischen Naturalismus. (wie Anm. 1), S. 181 ff. 27 So hat beispielsweise auch die oben an der Szene: „Lene vor dem Schaufenster“ beobachtete Detail‐ genauigkeit, ja Übergenauigkeit, etwas ‚Naturalistisches‘, jetzt freilich beispielsweise im Sinne der Prosa von Arno Holz (etwa Papa Hamlet, 1889; Der erste Schultag, 1889). Auch der Zusammenhang und Übergang von Naturalismus und Décadence klingt in der für Fontane charakteristischen „dis‐ tanzierten Teilnahme“ bei ihm immer wieder an. werden sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein transportiert und ausgetauscht. Das Eisenbahn-Netz signalisiert, ja vertritt bei Fontane, ein Kommunikations-Netz. Es ist ein Teil davon. Und in diesem ist Verständigung und Konsens prinzipiell zumindest möglich. Insbesondere wenn dieses Kommunikations-Netz auf die Ebene des literarischen Erzählens gehoben und so erst recht verallgemeinert wird. Fontane erzählt das alles ganz illusionslos und durchaus auch ein wenig brutal, aber er erzählt immer nur ‚Teile‘ von ‚Teilen‘ des europäischen Naturalismus, und er erzählt zugleich gegen diesen an. Er ‚transferiert‘ ge‐ milderte und verfeinerte ‚Teile‘ aus dessen ‚grober‘ Erzähl-Welt in seinen eigenen Diskurs, so dass sie zu ‚Teilen‘ (pars pro parte) eines nun letztlich, und zumindest als Ziel, human verfassten Kommunikations-, je Gesprächs-Netzes werden. Solche ‚naturalistischen‘ Fragmente, hier also die Eisenbahn-Szene, die in ein kommu‐ nizierendes, ja reflektierendes Medium übertragen werden, zeigte etwa auch die weiter oben bereits untersuchte Spiegelung der Umwelt in Irrungen, Wirrungen: Lene wird zum Ding unter Dingen, aber dies wird zugleich ganz wörtlich auf die Ebene der Spiegelung, also der ’Re-Flexion‘ gehoben. Noch raffinierter argumentiert in diesem Sinne der „Dreh- und Straßenspiegel“ in Stine (482), der Distanz zur ‚Straße‘ wahrt, diese aber zugleich auch pars pro parte heranholt. Und Stine wird diesem Sog letztlich nicht entgehen, so wie auf ihre Weise auch Lene nicht und auch nicht Cécile. Und, um ein vorerst letztes Beispiel zu nennen, die vielfach verschachtelte, in Teilen verborgene, in Teilen zur Erzähl-Bühne 25 erweiterte Gärtnerei am Anfang von Irrungen, Wirrungen hängt sicher metonymisch mit der großen und harten Großstadt-Welt ‚draußen‘ zusammen; man denke nur an die Betrü‐ gereien und die sexuellen Anspielungen des Dürr-Paares. Aber präsent ist die Welt ‚draußen‘ auf dieser erzählten ‚Bühne‘ vor allem in der Musik vom Tiergarten her und natürlich in den weit hinaus schweifenden Gesprächen. Fordern sie die Leser nicht geradezu auf, mit hinein zu hören und zu reden und zu denken? Effi Briests ‚ganz arme Schwestern‘ Freilich ‚den‘ Naturalismus gibt es nicht. Es gibt, wie anderswo gezeigt, 26 klare gemeinsame Voraussetzungen und durchaus widerstrebende Folgerungen. Und genau in diese Vielfalt sind Fontanes Metonymien zwar distanziert, aber farbig und fest hinein „verwoben“. 27 Für eine transnational interessierte Lektüre Fontanes nun besonders aufschlussreich scheint mir zuvorderst jene zweifache Bedeutung, die ‚Natur‘ im europäischen Naturalismus oft hat: ‚Natur‘ im Sinne eines soziologisch gewendeten Darwinismus - das kann hier natürlich nur ganz allgemein so benannt werden, bleibt aber richtig -; und mindestens ebenso wichtig ist hier eine ‚Natur‘ im Sinne Rousseaus und der Romantik. In diesem doppelten metony‐ mischen Verweis treten die feinen ‚naturalistischen Fäden‘ in Fontanes Erzählkunst kräf‐ 63 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ tiger hervor und verknüpfen die drei in ihrer Entstehung einander einrahmenden Erzäh‐ lungen: Cécile, Irrungen, Wirrungen, und Stine. Immer ist es dabei der Roman des Naturalismus, den es auf einem Niveau wie dem Fontanes in der Deutschen Literatur ganz einfach nicht gibt, der diese kräftigen Farben liefert. Wo etwa Fontanes Stine nur fürchtet, dass „das Herz“ gegen die Alltagsmisere nicht „aufkommen“ wird - „es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder es wirklich führen“ (552) -, da wird genau dieser Konflikt, „ein armes […] Leben […] wirklich [zu] führen“, im europäischen Naturalismus immer wieder drastisch zu Ende er‐ zählt. Und dieser Konflikt ist, was es bei Fontane nie gibt, eigentlich immer schon vorweg entschieden. Man kann hier völlig zu Recht von ‚Effi Briests ganz armen Schwestern‘ spre‐ chen und sehen, wie Lene oder Stine sich ihnen nähern. Der Ring aus Haar, der Kranz aus Blumen bleiben in Fontanes Irrungen, Wirrungen fern hin verweisende Spuren, feine Fäden, die aber mit drastischeren Texten verbunden werden können. In George Gissings The Nether World (1889) etwa muss alles, was an eine bergende, zyklische Natur auch nur erinnert, sofort verkauft werden: der Ehering gleich am Tag nach der Hochzeit an den Pfandleiher - so plakativ ‚determiniert‘ geht es bei Fontane nie zu, aber sagt nicht Lenes Ring aus Haar letztlich genau dasselbe? -, die Kinder zur Arbeit, der Rhythmus von Morgen und Abend an die Sorge um Essen und Alkohol, die Familien-Kontinuitäten an das Milieu bzw. an das Geld, ein Geld, das verdient wird nicht nur durch Arbeit, sondern eben auch durch Ver‐ brechen und Prostitution. Sind aber nicht auch solche Farben in den feinen Motiv-Fäden Fontanes präsent? Am nächsten kommt Fontane vielleicht dem Naturalismus, wenn der Versuch, aus ge‐ sellschaftlichen Konventionen auszubrechen, sich nur als neue Form der Anpassung rea‐ lisieren ließe und erst recht tödlich endet. Freilich bleibt es bei Fontane lediglich beim Ge‐ danken an ein Ausbrechen, und der Tod ist mild: Der Selbstmord des jungen Grafen in Stine ist ein resigniertes, aber auch versöhntes Einschlafen; die Duelle in Cécile und Effi Briest haben etwas Rituelles, fast Spielerisches; selbst Krankheit und Tod wie in Cécile, Stine, und erst recht in Effi Briest werden umsorgt und gepflegt erlitten, verstanden und akzeptiert. Man könnte bei Fontane fast von ‚Metonymien des Todes‘ reden. Und doch sind sie ein leidendes Plädoyer für das Atmen- und Leben-Wollen der Menschen schlechthin. Auch so aber wird auf das viel drastischer erzählte naturalistische Paradigma immer noch deutlich verwiesen. Der männliche Held in Theodore Dreisers Sister Carrie (1900), oder die Prota‐ gonistin in Emile Zolas L’Assommoir (1877) sind allerdings aus ihren angestammten sozialen Räumen ausgebrochen: nach New York und nach Paris. Aber das ist eine neue Form der Anpassung, und der soziale Abstieg, den sie mit sich bringt, wird langsam und detailliert ausgearbeitet. Sie sterben im Obdachlosenasyl und im Verschlag unter der Treppe des großen Mietshauses. Dieser Tod ist ein Protest ganz ohne subjektive Versöhnung. Wenn er Perspektiven eröffnet, dann nur im radikalen Verweis auf andere und anderes, das es im weiteren Œuvre dieser Autoren dann freilich auch gibt. Bei Fontane dagegen lässt sich über alles reden, lässt sich alles bedenken und aus allem lernen. Betrachten wir andere Konfliktkonstellationen: Lene und Stine bei Fontane werden von Standesvorurteilen beiseite geschoben, Cécile und Lene werden von moralischen Gewohn‐ heiten beleidigt, wenn auch leichthin, im gesitteten Gespräch, ja im Plauderton. Effi Briest wird verletzt, weil man sie nicht versteht, nicht verstehen will. Thomas Hardys Tess of the 64 Hans Vilmar Geppert 28 Verga, Giovanni: I Malavoglia. Hg. Sarah Zappulla Muscara. Milano 1987, S. 299. 29 Ebd., S. 300. 30 „Il y a un fonds de bête humaine chez nous“ (wir sind im Grunde menschliche Tiere), Zola, Émile: Le roman expérimental. Hg. Aimé Guedji. Paris 1971, S. 152. Vgl. auch Verf., Theorie eines europäischen Naturalismus. (wie Anm. 1). d’Urbervilles (1891) aber wird von Standesprivilegien vergewaltigt und von Unverständnis und moralischen Vorurteilen in ihrer Identität nahezu zerstört. Sie stirbt nicht versöhnt, sondern wird hingerichtet. Umso kräftiger tritt diesen sozialen Konflikten das Thema der ‚reinen Natur‘ entgegen (A pure woman, so der Untertitel). Denn hier gibt es eben auch eine nährende, bergende, zugleich freilich wuchernd vitale, ja wilde Natur, bis hin zu grausam ‚natürlichen‘ Szenen („the rat-catching“ in Kap. 48 etwa) und bis hin zum ‚mörderischen‘ Aufstand der Kreatur am Ende. Sich als Ehepartner ‚verkaufen‘ zu müssen, ist für Botho in Irrungen, Wirrungen etwas zum Lachen: laut, albern, und dies immer wieder - darin freilich verräterisch -; in Effi Briest wird es sogar nur ein vermeidbares Missverständnis bedeuten, wie die Eltern am Ende einsehen. In Giovanni Vergas Romanen dagegen wird die Qual der Anpassung langsam und intensiv dramatisiert: als unwiderstehlicher, täglich neuer materieller Druck für die Tochter der armen Fischer in I Malavoglia (1881), oder als Sog für den Aufsteiger in Maestro Don Gesualdo (1889), in beiden Fällen als unerbittlich fortschreitende Zerstörung des humanen Selbstbewusstseins. Man verfolgt ganz direkt, wie das Herz gegen Druck und Sog materi‐ eller Bedingungen „nicht aufkommen“ kann (Stine) - „il cuore stretto in una morsa / das Herz in einen Schraubstock eingespannt“, heißt es bei Verga -, 28 und wie zugrunde gehen wird, wie es in Irrungen, Wirrungen heißt, wer, wie Gesualdo, sich anpasst. Doch geradezu mythisch steht hinter allem bei Verga die Präsenz der in ihren natürlichen Rhythmen, auch denen der Arbeit, lebenden sizilianischen Landschaft und erst recht das große, machtvolle Meer. Das freie, offene Meer - „il mare non ha paese / das Meer hat keinen Ort“ 29 - das nicht ‚determinierte‘ Meer spricht in I Malavoglia immer mit hinein, lauter als der Wald in Cécile (der Harz), oder die Flussauen in Irrungen Wirrungen („Hankels Ablage“), oder die Dünen‐ landschaft in Effi Briest, viel lauter gewiss, aber auch bei Fontane ist diese ‚Stimme der Natur‘, wenn ich so sagen darf, immer zu hören. Der Autor nun, der ganz gegensätzlich orientierte naturalistische Paradigmen, die An‐ tithesen der ‚Natur‘ im Naturalismus, vielleicht am konsequentesten gegeneinanderstellt, ist Emile Zola. Die Erfolge und Katastrophen innerhalb einer weit verzweigten Familie unter dem Zweiten Kaiserreich erreichen die höchsten politischen Intrigen am Kaiserhof und in der Regierung oder etwa die der Börsen - und Immobilienspekulation, die Romane dringen aber auch vor in die Tiefen der Arbeitswelt in den Bergwerken, auf den Großbau‐ stellen oder den Eisenbahnen, und führen hinein in die letzten Winkel von Alkoholismus, Prostitution oder Krankheit. Zola begreift - aber das ist eben nur eine seiner Orientie‐ rungen - in seinem antithetisch-monistischen Weltbild die Realität seiner Zeit als Natur im Sinne Darwins oder des Positivismus: 30 als Überlebenskampf der Evolution, wobei freilich immer auch die Selbstheilungskräfte der erzählten Gesetzmäßigkeiten, die starken und oft auch freundlichen ‚Triebe‘ weiter verfolgt werden. Andererseits aber - und das wurde oft übersehen, schon von Fontane selbst - ist Zola unter den Naturalisten vielleicht der am tiefsten gläubige Rousseauist und Romantiker. Immer wieder trifft man auf groß und farbig 65 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 31 ‚Heliotrop‘ ist allerdings auch ein anderer Name für den oft rot-schwarz gefleckten ‚Blutstein‘ (den Hinweis verdanke ich Klaus-Dieter Post). Wäre das - einerseits auf ‚blutige‘ Konflikte (auf das Duell oder z. B. auch auf Roswitha) verweisend, andererseits auf ‚Sonne‘ und Leben - eine naturalistische Metonymie in praesentia? 32 Man kann als deutscher Leser hier nicht anders als an Fontanes vielleicht berühmtestes Gedicht Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889) zu denken. Dafür brauchte Fontane freilich keine fremden Anregungen. Aber ist nicht auch dies eine heitere Metonymie des Naturalismus? 33 Zola, Émile: La fortune des Rougon. Hg. Robert Ricatte. Paris 1969, S. 38. 34 Ebd., S. 48. ausgemalte Bilder ‚mütterlicher‘, nährender, bergender, zyklisch sich erneuernder und den Menschen freundlicher Natur. Und beide Orientierungen zusammen geben nun in der Tat einen sprechenden Kontext ab für Fontanes metonymische, wohlgemerkt, lediglich meto‐ nymische Verweise. Zumindest ein Beispiel dazu möchte ich vorzustellen: Der Friedhof im letzten Teil von Irrungen, Wirrungen - ich habe ihn oben ausführlicher betrachtet - erinnert nur von fern und auch geradezu in negativer Entsprechung an die reichere und lebendigere Natur an‐ derswo. Fontane lässt seinen Romanhelden, wenn er mit einem billigen, industriell gefer‐ tigten Kranz für das Grab der Mutter seiner Geliebten im Gewirr genormter Friedhofswege herumirrt, er lässt ihn, sieht man genau hin, eine Kontinuität suchen, die Botho selbst abgebrochen hat, die aber die Leser begreifen. Und sie begreifen ihre Notwendigkeit. Effi Briests einsames Grab befindet sich nicht auf dem Friedhof, sondern, als stünde sie außer‐ halb der ehrbaren Gemeinde, im Garten; und dort ruht sie bezeichnenderweise anstelle der Sonnenuhr, aber unter dem eigens für sie bewahrten Heliotrop: in ihrem verlorenen Kind‐ heitsparadies, dessen Zeit verloren ist, dem aber bildhaft, wie der griechische Name es sagt, sein Sinn, die Ausrichtung auf die Sonne, bewahrt wurde. 31 Erinnert nicht gerade dies noch deutlicher als das Großstadt-Grab in Irrungen, Wirrungen an das Leben, das volle, freie Leben, das hier fehlt? Und es erinnert eben von ferne auch an Zola. Auf einem aufgegebenen Friedhof beginnt Zolas zwanzig bändiger Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893), also der Anfang der ganzen Familiengeschichte, mit dem Roman La fortune des Rougon (1871). Aber dies ist jetzt ein vegetativ wuchernder Natur-Ort, wo immer wieder ganz zyklisch Tod in Leben, also wo ganz drastisch menschliche Verwesung in Pflanzen und Blumen übergegangen war, und in, ja, auch dies, in Früchte, etwa in saftige, wohlschmeckende Birnen, die ihrerseits wieder gegessen werden, so dass der Zirkel von Leben und Tod, tatsächlich geschlossen wird. 32 Zola macht aus dieser Friedhofs-Wiese einen geradezu mythischen Ort: „une mer d’un vert sombre, profonde (d‘)une fertilité formidable“, 33 „ein tief dunkel-grünes Meer“ - „la mer“, „das Meer“, ist im Französischen phonematisch gleich mit ‚la mère‘, ‚die Mutter‘, was hier natürlich bedeutsam ist -, ein, wörtlich genommen, ‚mütterliches Meer‘ von ‚au‐ ßerordentlicher Fruchtbarkeit‘. Und die beiden ersten Romangestalten, die nachts aus ro‐ mantischem Walddunkel heraustreten: ‚Miette‘, wörtlich ‚Brotkrume‘, und ‚Silvère‘, ‚der Waldige‘, ihr Aussehen, z. B. Miettes prächtiges Haar „pareils à une mer crépue“, 34 das einem „gekräuselten Meer“ gleicht, nehmen das Thema lebendiger Naturtotalität ebenso auf, wie die ganze romantische Liebes- und Revolutionsgeschichte dieser beiden Kinder. Nur in solchen Naturräumen können Zolas Liebende glücklich sein: im Kontrast zu den gierigen Meuten, die sich um Erfolg und Besitz raufen, oder den todbringenden Maschi‐ 66 Hans Vilmar Geppert 35 Zola, Émile: L’Assommoir. Hg. Jacques Dubois. Paris 1969, S. 267-271. 36 „La terre, seule demeure l’immortelle, la mère d’où nous sortons et où nous retournons / Die Erde alleinbleibt unsterblich, die Mutter, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren“, Zola, Émile: La terre. Hg. Marcel Girard. Paris 1973, S. 482; auch hier wird ein Friedhof symbolisch überhöht (vgl. S. 469 ff.). nenwelten der Mietshäuser, Destillen und Fabriken. Die Gärtnerei in Irrungen, Wirrungen, der freilich „alles Feinere fehlte“ (324), ein kleinbürgerliches Paradiesgärtlein zwischen Ka‐ rotten und Lauch, an das der vielfach belebte Tiergarten-Park angrenzt, ist gleichwohl für Lene und Botho ihr Natur-, Freiheits- und Seelen-Raum voller „Duft und Frische“ (342), wo sie sich außerhalb von Konvention und Verstellung ihrer Liebe, ja lediglich deren Illusion hingeben können. Und diese Liebe ist für Fontane, wie eigentlich im ganzen 18. und 19. Jahrhundert, ein bedeutsamer Teil, pars pro toto, für Humanität. Sehr viel deutlicher und kräftiger nun kann man die Variation solcher Natur- und Humanitätsinseln, freilich auch ihre entschiedene, farbenfrohe Vergrößerung in den Rougon Macquart wieder finden: Von dem Großstadtgarten, kostbar und gepflegt wie ein Salon, in dem Roman mit dem be‐ zeichnenden Titel Une page d’amour/ Ein Blatt Liebe (1878), über die luftige und helle Dach‐ terrasse mit ihren Kübelpflanzen hoch über der Seine in La Curée/ Die Meute (wörtlich ‚Beute der Hunde‘ nach der Hetzjagd, 1874), einem paradiesischen Kinderzimmer, aus dem heraus die Romanheldin noch brutaler als Cécile oder Effi an einen viel älteren Mann ‚verkauft‘ wird, oder kontrapunktisch entsprechend später über den großen warmen Wintergarten, der zum bevorzugten Treffpunkt der Liebenden im selben Roman wird (wie in Fontanes L’Adultera, 1882), ja bis hin zu dem kleinen Grasplatz mit dem vertrockneten Baum in L’Assommoir (1877), wo Gervaise und ihr Goujet von ihrer Liebe nur zusammen reden und träumen, wo der Anblick von ein paar Buchsbaumhecken vor einer Kneipe sie fast zu Tränen rührt und Goujet für Gervaise viele Löwenzahnblüten pflückt, 35 so wie Stine und Waldemar bei Fontane, die durch das Fenster nur auf ein paar Bäume blicken können. Aber hat dann nicht auch in Irrungen, Wirrungen der kleine Vorgarten, in dem das „gärtnernde“ Kind mit Lenes „Leid des Lebens“ mitfühlt, eine Bedeutung, die solche Zusammenhänge wachruft? Alle diese Räume verweisen bei Fontane und in den bis jetzt gezeigten Kontexten auch bei Zola lediglich auf freiere sinnerfüllte Natur in der Tradition der Romantik. Doch bei Zola gibt es solche all-lebenden Vegatations-Welten auch ganz farbig und direkt. Denn von den domestizierten Natur-Räumen in der Großstadt reicht bei dem wichtigsten Romancier des europäischen Naturalismus die erzählte und imaginierte Galerie der Naturentwürfe bis zu dem mythisch-tellurischen Raum einer nun in der Tat zyklischen Natur, Inbegriff der „forces mères / mütterlichen Kräfte“, in La terre (1887), 36 oder zu der Garten-, Fluss- und Inselwelt im Mittelteil des Künstlerromans L’Œuvre (1886), in der die das Leben verzehrende künstlerische Arbeit keinen Platz hat, in der aber die Liebe und das Kind, die Antithesen, ja Anti-Mythen der Kunst, leben und gedeihen, ein Naturraum, den Lene und Botho ver‐ gleichbar in ‚Hankels Ablage‘ noch kürzer auch nur durchqueren dürfen, oder, - und hier, so könnte man sagen, wird Effi Briests Kindheitsgarten in großem Maßstab explizit ge‐ macht - bis hin zu dem verwilderten Park ‚le Paradou‘, ein Garten Eden voll Blumen, Früchten, von Bächen durchzogen usw., in La Faute de l’abbé Mouret (1875), „une île (de) 67 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 37 Zola, Émile: La faute de l’abbé Moret. Hg. Colette Becker. Paris 1972, S. 86,vgl. S. 77 u. S. 163 ff. („une mer de verdure“ etc.). 38 Vgl. Zola, Émile: Le docteur Pascal. Hg. Jean Borie. Paris 1975, S. 231 ff. 39 Ebd., S. 386. 40 Theodor Fontane: Emile Zola. In: Fontane, Theodor: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinne‐ rungen. Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen. Hg. Jürgen Kolbe, München 1969, S. 534-550 u. S. 915-918. 41 „Vielleicht lese ich [von einem Band Zola] nur zwei, drei oder vier Kapitel“, ein Brief Fontanes an Emilie vom 8. Juli 1883, ebd., S. 915. Meines Erachtens kannte Fontane die ersten beiden Bände der Rougon-Macquart sowie L’Assommoir. nature tout à fait primitive“ (eine Insel ganz ursprünglicher Natur), 37 wo der von seinen Zwängen befreite Priester und das vollkommene romantische ‚Naturkind‘ - Effi Briest ist dies ja nur mit einem Teil ihres Wesens - jenes Liebesglück finden, freilich auch den ro‐ mantischen Liebestod, an dem Effi (nicht zufällig heißt der Name ‚Eva‘) allenfalls von ferne teilhat. Und bei Zola wird dieser Garten ‚le Paradou‘ im Schlussroman des Zyklus Le docteur Pascal (1893) und in der Vorstellung und im Gefühl zweier Liebender ausdrücklich, und wie ein Bekenntnis, neu erschaffen. 38 Zuletzt beherrscht dann bei Zola ein neugeborenes Kind die allerletzte Roman-Szene, das als „appel à la vie / als Anruf an das Leben“, sein Fäustchen in den Himmel reckt. 39 Freilich, hat nicht auch in Effi Briest ein symbolischer Garten, von einem Eva-Kind bewohnt, auch wenn es ein totes ist, zumindest ein letztes Wort, zumindest eines von mehreren, allerdings eben als metonymisches Argument in absentia, als Hinweis auf etwas Lebensnotwendiges, das fehlt? Fontane und der Europäische Naturalismus Natürlich gäbe es jetzt über die verschiedenen Argumentationsformen und ihre Sinnper‐ spektive bei Fontane, das was er ‚Verklärung‘ nannte, über die Verschiedenheit seiner Me‐ tonymien zu den naturalistischen antithetischen Totalisierungen bei Zola und anderen noch viel mehr zu sagen. Fontane hat sich ja auch von Zola in Aufzeichnungen und Briefen zwischen 1880 und 1883 40 in fast schon übertriebener Lautstärke abgegrenzt (ihn freilich auch wohl nur sehr selektiv gekannt). 41 Aber die distanzierten, gleichwohl festen Gemein‐ samkeiten bleiben sprechend: Die farbigeren, großflächigeren, expliziteren Texte Zolas können auch bei Fontane feine Fäden sichtbar machen, die ihn mit dem Europäischen Na‐ turalismus verbinden. Aber Fontane verweist nur darauf, wie auf einen Rahmen von Zwang und Sog, von Sehnsucht und Gefahr, der nicht zuletzt eben auch unsere drei Erzählungen, Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine verbindet. Doch übersehen wir bitte die tiefen Unterschiede nicht! Der naturalistische Rahmen mit seinen kräftigen Farben gilt, aber die feinen Fäden im Erzähl‐ werk Fontanes sagen letztlich etwas anderes. Die antithetischen Natur- und Gesellschafts‐ entwürfe Zolas: Natur als vitale, liebende Heimat, Natur als Kampf ums Dasein, diese Ge‐ genwelten heben sich evolutionär auf. Das Gesamtsystem lebendiger Naturgesetze, das auch Zivilisation, ja Technik und Intellekt beherrscht, heilt sich auf lange Sicht selbst. Die Kranken leben nicht fort, gesunde neue Triebe sprießen überall hervor, die bösen Anlagen zerstören sich wechselseitig oder werden vertrieben, Arbeit, Klugheit, Liebe, Kunst und Literatur, nicht zuletzt patriotisches Engagement, tun das ihre; auch das Geld ist zugleich „empoisonneur et destructeur“, „zerstörerisches Gift“ und notwendiger „Dünger“ des Fort‐ 68 Hans Vilmar Geppert 42 Zola, Émile: L’Argent. Hg. Émilien Cararsus. Paris 1974, S. 452. 43 Zola, Émile: Le Docteur Pascal, S. 385. 44 Vgl. ausführlich Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994; zu Fontane vgl. v.a. S. 19, S. 111-113, S. 313 / 314. „Pragmatisch” heißt hier im Sinne von Kant (und etwa Habermas): der allgemeine Zweck eines vernünftigen, also zwangfrei selbstbestimmten Konsens; vgl. auch Verf., Theodor Fontane „der Stechlin“ (wie Anm. 10); sowie Verf., „‚Morgens im Spielkasino‘. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert“. Theorien der Literatur. Bd. IV. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen, Basel 2011. S. 117-139, S. 135 / 136. 45 Fontane, Theodor: Sämtliche Romane (wie Anm.3), Bd. 5. München 1980, S. 271. schritts, „le ferment de toute végétation sociale“, bis hin zur Bedingung einer neuen Welt, „le réveil d’un monde, l’humanité élargie et plus heureuse“, bis hin also zur Ankunft freierer und glücklicherer Humanität. 42 Die Zukunft gehört der freien Evolution des Lebens: La vie, la vie qui coule en torrent, qui continue et recommence, vers l’achèvement ignoré! La vie où nous baignons, la vie aux courants infinis et contraires, toujours mouvante et immense, comme une mer sans bornes / Das Leben, das Leben, das wie ein Strom dahin fließt, das sich fortsetzt und wieder beginnt, einer unbekannten Vollendung entgegen! Das Leben, in dem wir schwimmen, mit seinen unendlichen gegenläufigen Strömungen, unendlich und immer in Bewegung, wie ein Meer [eine Mutter] ohne Grenzen. 43 Der alte Fontane steht solchen Visionen tief skeptisch gegenüber. Er erzählt eher eine Aporie bloßer Ideen und Utopien, als sich ihnen hinzugeben. Die Deutschen Naturalisten, vor allem Gerhart Hauptmann und Arno Holz, teilen Zolas Antithesen, sehen sie aber prin‐ zipiell unaufgelöst. Natur im Sinne Rousseaus oder der Romantik ist bei ihnen der handel‐ nden Außenwelt gegenüber buchstäblich Erinnerung, so aber hat sie immer noch ihren Sehnsuchtswert. Wie durch ein Fenster schaut sie manchmal in die Gefängnisse der natu‐ ralistischen Dramen-Räume herein. Und Sehnsuchtswert hat eine freundliche, humane Natur auf alle Fälle auch für Fontane. Man denke über die bisher vorgestellten Natur- und Liebes-Räume hinaus überhaupt an den Mythos der Ozeanien, Undinen und Melusinen, der Natur-Wesen, ein Mythos der Fontane zeitlebens faszinierte. Aber Sehnsüchte oder Mythen haben bei ihm nicht einfach Recht. Ich habe gezeigt, wie beide Seiten der antithetischen Naturauffassung, z. B. der Zolas, sich bei ihm finden lassen; sie erscheinen freilich feiner, sozusagen homöopathisch gemildert - das Medizinische ist für die Naturalisten immer eine Orientierung gewesen, und Fontane war ja von Haus aus Apotheker. Fontane argumentiert, was man ihm ja auch oft vorgeworfen hat, lediglich in indirekten Verweisen. Und er verfolgt - das darf nicht verwischt oder gar gleichgesetzt werden - ein von den Naturalisten grundsätzlich verschiedenes, erzählstrategisches Ziel. 44 Bei Zola sollen sich die Leser von der Evolution mittragen lassen und ihrerseits an ihr arbeiten. Die Deutschen Naturalisten provozieren Alternativen, vielleicht auch Protest. Fontane sucht im Netz der Metonymien den „großen Zusammenhang der Dinge“, wie es im Roman Der Stechlin heißt. 45 Genauer: Die Kunst des Verweisens will die Antithesen der zuletzt nicht weniger deutlich als bei den Naturalisten gesehenen ‚harten‘ Realität übersetzen in Refle‐ xion, Sprache, Bewusstsein der Gefühle und in Denken. Der ‚große Zusammenhang‘ ist für Fontane alles andere als eine evolutionäre Utopie, wie Zola sie entwirft, sondern ein bewusst gesuchter und ganz illusionslos, ja durchaus skeptisch gesehener, allenfalls möglicher in‐ 69 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 46 Ebd., S. 270 u. S. 274. tersubjektiver Konsens: ein gesuchter, allenfalls möglicher, aber keinesfalls gegebener oder gar sicherer humaner Fortschritt. So formuliert gerade das vollkommen humanisierte Na‐ turwesen Melusine, eine liberal und progressiv denkende Aristokratin in Fontanes letztem Roman Der Stechlin (1889), diese sozusagen regulative Idee der Humanität am klarsten, wenn sie sagt, dass „wir […] den großen Zusammenhang der Dinge“ in allen „neuen“ Be‐ strebungen suchen und dafür „recht eigentlich leben“ sollen. Aber sie hält diesen „revolu‐ tionären Diskurs“ 46 nicht als Vision oder Hymne, wie Zolas Sprachrohr, der Docteur Pascal, sondern gerade auch den Lesern gegenüber von gleich zu gleich, nur so ist intersubjektiver Konsens möglich, als Gespräch, ja, - und warum nicht? - im Plauderton. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 2. Hgg. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1971. 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Große Werke der Literatur. Bd. VI. Hg. H. V. Geppert. Tübingen, Basel 1999. 103-115. -: „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der Literatur. Bd. II. Hgg. H. V. Geppert und Hubert Zapf. Tübingen, Basel 2005. 49-83. -: „Suchbild Europa. Theodor Fontane und der Europäische Naturalismus“. Europa im Blick. Siebtes gemeinsames Symposion der Universitäten Augsburg und Ossiek. Hg. Gregor Weber. München 2006. 15-29. -: „Von der ‚menschlichen Bestie‘ zum ‚unbekannten Gott‘. Theorie des Europäischen Natura‐ lismus“. Theorien der Literatur. Bd. VI. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2013. 181-204. Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane, Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt / M. 1998. Rippon, Maria R.: Judgement and Justification in the Nineteenth century Novel of Adultery. Westport, Connecticut 2002. Ueding, Gert und Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986. Verga, Giovanni: I Malavoglia. Hg. Sarah Zappulla Muscara. Milano 1987. Zola, Émile: La faute de l’abbé Moret. Hg. Colette Becker. Paris 1972. -: L’Argent. Hg. Émilien Cararsus. Paris 1974. -: L’Assommoir. Hg. Jacques Dubois. Paris 1969. -: La bête humaine. Hg. Robert A. Jouanny. Paris 1972. -: La fortune des Rougon. Hg. Robert Ricatte. Paris 1969. -: La terre. Hg. Marcel Girard. Paris 1973. -: Le docteur Pascal. Hg. Jean Borie. Paris 1975. -: Le roman expérimental. Hg. Aimé Guedji. Paris 1971. 71 ‚Effi Briests arme Schwestern‘ 1 Für wertvolle Hinweise und Diskussionen danken wir Berta Wörmann. 2 Vgl. Arnold, Armin: Die Literatur des Expressionismus. Sprachliche und thematische Quellen. Stuttgart [u. a.] 1971, S. 112-123. 3 Vgl. Holz, Arno: „Revolution der Lyrik“ [Auszug]. Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890-1910. Hgg. Erich Ruprecht und Dieter Bänsch. Stuttgart 1970, S. 52-59, hier S. 52 f. 4 Der Ursprung dieser Konzeption im italienischen Futurismus, insbesondere in Marinettis Manifesto tecnico della letteratura futurista aus dem Jahr 1912, ist bekannt. Um die moderne Sprache der tech‐ nischen Beschleunigung anzupassen, verlangt Marinetti eine Steigerung des Sprachtempos und for‐ dert hierfür die Abschaffung der Adjektive und Adverbien (als typische Vertreter des poetischen Ornatus) wie auch der personalen Verbformen, der Zeichensetzung und nicht zuletzt der ersten Person Singular; stattdessen setzt er auf die Häufung von Nomen und willkürlich gereihten Bildern (Marinetti, F.[ilippo] T.[ommaso]: „Manifesto tecnico della letteratura futurista“. Manifesti, proclami, interventi e documenti teorici del futurismo. Hg. Luciano Caruso. Bd. 1. Firenze 1980, o.P. [S. 1-3]). Dieses Programm der Freisetzung der Worte (parole in libertà) kann als erste konsequente Materi‐ Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  1 Günter Butzer und Cornelia Wörmann avant-garde / avant-art / event-art / even-art / ab-art / bart-ab / no-art Vienna Art Orchestra, Concerto Piccolo I. Kurt Schwitters‘ künstlerische Tätigkeit hat einen doppelten Ursprung: zum einen in der expressionistischen Wortkunst von Herwarth Waldens seit 1910 erscheinender Zeitschrift Der Sturm, in der er seine ersten Gedichte veröffentlichte, zum andern im internationalen Dadaismus, dem er seit dessen Entstehen im Frühjahr 1916 in kritischer Distanz verbunden blieb. Dass ihn am Expressionismus v. a. die Wortkunst interessierte, ist kein Zufall, denn anders als die meisten Autoren dieser Strömung (von Georg Heym bis Georg Trakl), be‐ schränkt sie die Konzentration des Ausdruckswillens nicht auf den semantischen Bereich (v. a. durch eine innovative Bildlichkeit und Bildkomposition), sondern unterwirft auch die Grammatik einer weitreichenden Transformation, um auf diese Weise ein Höchstmaß an Expressivität zu erzielen. 2 Die damit einhergehende Befreiung des Gedichts vom Reim‐ zwang und seine Neubegründung auf dem allein vom Inhalt her motivierten „notwen‐ dige[n] Rhythmus“ hatte bereits Arno Holz 1899 in seinem Essay Revolution der Lyrik gefordert und dabei von einer „neue[n] Wende der Wortkunst“ gesprochen. 3 Diese Formel machten sich die Autoren des Sturm-Kreises zu eigen, um damit eine poetische Rede zu bezeichnen, die sich jenseits der sprachlichen Normen bewegt, indem sie die Regeln der Grammatik auflöst und die einzelnen Wörter als autonome Elemente behandelt, wodurch deren maximale Energie freigesetzt werden soll. 4 Zur Veranschaulichung kann ein Gedicht alästhetik der europäischen Literatur verstanden werden, weil die Sprache weder rhetorisch noch künstlerisch geformt, sondern als Gegenstand technischer Operationen der Zerlegung, Transforma‐ tion und Neukonstruktion behandelt wird. Die Nähe der Verfahren zum technisierten Stil des Tele‐ gramms, bei dem es, ganz kybernetisch, um die Erhöhung des Informationsgehalts der Texte unter weitgehender A usschaltung von Redundanzen geht, hat Friedrich Kittler herausgestellt (vgl. Kittler, Friedrich A., Aufschreibesysteme 1800 / 1900. 4., vollst. überarb. Neuaufl. München 2003, S. 230 f.). Dass damit auch einem ökonomischen Bedürfnis Rechnung getragen wird - insbesondere in Form der Werbung: vom Plakat bis zur Leuchtreklame -, war Marinetti weniger bewusst. Walter Benjamin hat später nachdrücklich darauf hingewiesen (vgl. Benjamin, Walter: „Einbahnstraße“. Ders.: Ge‐ sammelte Schriften. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / M. 1980. Bd. IV / 1, S. 83-148, hier S. 102-104). 5 Stramm, August: Gedichte, Dramen, Prosa, Briefe. Hg. Jörg Drews. Stuttgart 1997, S. 35. 6 Zu Stramms Strategie der „Sprachverknappung und Transformation von Wortklassen“ vgl. Vietta, Silvio und Hans-Georg Kemper: Expressionismus, München 1997, S. 407-412. August Stramms dienen, des entschiedensten Vertreters dieser Richtung des Expressio‐ nismus: Trieb Schrecken Sträuben Wehren Ringen Ächzen Schwächen Stürzen Du! Grellen Gehren Winden Klammern Hitzen Schwächen Ich und Du! Lösen Gleiten Stöhnen Wellen Schwinden Finden Ich Dich Du! 5 Das seit dem Naturalismus literaturfähige Thema der Sexualität wird hier nicht einfach besprochen oder geschildert, vielmehr unternimmt Stramm den Versuch, die Dynamik des sexuellen Akts unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, und zwar durch infinite, substanti‐ vierte Verben, die nurmehr lose auf die beiden Pronomina der ersten und zweiten Person Singular bezogen sind. 6 Nicht intentionale Handlungen werden hier präsentiert, sondern ein weitgehend entpersönlichtes Geschehen, das die grammatische Korrelation von Sub‐ jekt, Prädikat und Objekt hinter sich zu lassen sucht. Der Einfluss Stramms auf Schwitters‘ frühe Lyrik ist unbestreitbar, wie etwa das folgende Gedicht belegt, das im Juni 1919 im Sturm erschienen ist: 74 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 7 Schwitters, Kurt: Das literarische Werk. Bd. 1: Lyrik. Hg. Friedhelm Lach. Köln 1973, S. 41. 8 Eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses von Schwitters’ Lyrik zu derjenigen Stramms gibt Philipp, Eckhard: Dadaismus. Einführung in den literarischen Dadaismus und die Wortkunst des ‚Sturm‘-Kreises. München 1980, S. 267-271. 9 Vgl. Jäger, Georg: „Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese“. Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. Michael Titzmann. Tübingen 1991, S. 221-244, der sich bei der systemtheoretischen Modellierung des avantgardistischen Literatursystems vornehmlich auf den Dadaismus (und Neo-Dadaismus) bezieht. 10 Plumpe, Gerhard: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 205. Vgl. auch Erickson, John D.: Dada: Performance, Poetry, and Art. Boston 1984, der von den „varied and chaotic performances“ der Dadaisten als „not only a metaphor of life processes but a mode of exorcism and individual and social regeneration“ (S. 72) spricht. 11 Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt / M. 1974, S. 72. Ich werde gegangen Gedicht 19 Ich taumeltürme Welkes windes Blatt Häuser augen Menschen Klippen Schmiege Taumel Wind Menschen steinen Häuser Klippen Taumeltürme blutes Blatt 7 Auch hier ist das dekompositorische Prinzip unübersehbar: Die Lockerung der Grammatik führt zu Wortisolierung und analoger Transformation von Substantiven in (in-)finite Verben („Häuser augen“, „Menschen steinen“), wobei jedoch die Subjektstellung des Per‐ sonalpronomens wie auch die Folge von Substantiven und Verben, zusammen mit der Kombination von Adjektiven und Nomen, durchaus noch an die freie, multifunktionale Syntax traditioneller Lyrik erinnert - eine Ambivalenz, die auch für Schwitters’ späteres Werk von Bedeutung sein wird. 8 Neben dem Expressionismus existiert eine zweite zeitgenössische Referenz, mit der Schwitters vornehmlich in Verbindung gebracht wurde und wird: der im Frühjahr 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire aus der Taufe gehobene Dadaismus. Diese in vielem paradigma‐ tische Avantgarde-Bewegung 9 geht insofern deutlich über die Wortkunst hinaus, als sie die zentralen Konzepte der Ästhetik des 19. Jahrhunderts mit großer Konsequenz in Frage stellt: Autorschaft, Intentionalität, Werk, Sinn und die damit verbundene kontemplative Rezeptionsweise werden in der dadaistischen Performance und im Happening - freilich mit je unterschiedlicher Intensität - aufgelöst und in ein „optisch-akustische[s] Tohuwabohu“ 10 transformiert, bei dem die Unterscheidung zwischen Künstlern und Publikum nicht mehr zu greifen vermag. Peter Bürger, der diese ebenso destruktiven wie produktiven Tendenzen des Dadaismus in seiner Theorie der Avantgarde erstmals einer systematischen Analyse unterzogen hat, ordnet sie einem Willen zur „Überführung der Kunst in Lebenspraxis“ zu, der für ihn das Charakteristikum der Avantgarde-Bewegungen schlechthin bildet. 11 Dementsprechend schreibt der niederländische Maler, Konstruktivist und zeitweilige Dadaist Theo van Doesburg in einem Text aus dem Jahr 1923: „Dada ist keine Kunstrichtung. Dada 75 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  12 Van Doesburg, Theo: „Was ist Dada? “ [1923]. Dada. Eine literarische Dokumentation. Hgg. Richard Huelsenbeck. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 45-50, hier S. 45 f. 13 Richter, Hans: DADA - Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts. 4. Aufl. Köln 1978, S. 17 f. 14 „Kunstarten gibt es nicht, sie sind künstlich voneinander getrennt worden. Es gibt nur die Kunst“ (Schwitters, Kurt: „[Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt]“ [1923]. Ders.: Das literarische Werk. Bd. 5: Manifeste und kritische Prosa. Hg. Friedhelm Lach. Köln 1981, S. 133-135, hier S. 134). - Vgl. auch Schwitters’ Aufsatz über die sog. Merzbühne: „Im Gegensatz zum Drama oder zur Oper sind sämtliche Teile des Merzbühnenwerkes [= Bühnenbild, Musik, Geräusche, Text, Aufführung, d.Verf.] untrennbar mit einander verbunden; es kann nicht geschrieben, gelesen oder gehört, es kann nur im Theater erlebt werden. […] Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk“ (Kurt Schwitters: „Die Merzbühne“ [1919], Das literarische Werk, Bd. 5, S. 42). 15 Schwitters, Kurt: „An alle Bühnen der Welt“ [1919], Das literarische Werk, Bd. 5, S. 39-41, hier S. 39. ist eine Richtung des Lebens selbst.“ 12 Umgekehrt gilt aber auch, nun gegen Bürger: Jede Lebensäußerung kann zum Teil eines Dada-Kunstwerks werden. Das belegen die dadaisti‐ schen Aktionen, indem sie alles, was auf der Bühne und jenseits davon geschieht, zu Kunst erklären, sodass das erboste Publikum nolens volens selbst zum wesentlichen Teil der Vor‐ führung wird. In diesem Sinn beschreibt der Dadaist und Dada-Chronist Hans Richter einen Dada-Abend im Zürcher Cabaret Voltaire: Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schläge auf den Tisch oder auf leere Kisten belebten die wilde Forderung der neuen Sprache in der neuen Form und erregten, rein physisch, ein Publikum, das anfänglich völlig benommen hinter seinen Biergläsern saß. Dann wurde es aus diesem Zustand der Erstarrung in einem solchen Grade herausgetrieben, daß es in eine reguläre Frenesie der Be‐ teiligung ausbrach. DAS war Kunst, das war das Leben, und das WOLLTE man. 13 Diesem Programm scheint auch Schwitters‘ Konzeption eines Gesamtkunstwerks zu folgen, das er in mehreren Artikeln seit 1919 ausführt und das die Verbindung aller Künste (Musik, bildende Kunst, Literatur, Theater) realisieren soll, deren Trennung er als künstlich em‐ pfand. 14 In einem dieser Texte schreibt er: Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamt‐ kunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. 15 Außer der für Dada typischen Kunstfähigkeit jeglichen Materials und der ebenso genuin dadaistischen Künstlerschaft jedes produktiven Apparates wird in Schwitters‘ Entwurf eines Gesamtkunstwerks auch deutlich, wo eine wesentliche Grenze zwischen ihm und dem Dadaismus verläuft: Im Gegensatz zu diesem hält er streng an der Trennung zwischen Kunst und Leben fest, sodass dieses letztlich - ganz im Sinne des jungen Nietzsche - nur als Kunst gerechtfertigt ist, diese sich jedoch nach wie vor deutlich von allem unterscheidet, was noch nicht oder nicht mehr Kunst ist. Schwitters vollzieht also die eine Bewegungs‐ richtung des Dadaismus - vom Leben zur Kunst - durchaus mit, verweigert jedoch die inverse Bewegung von der Kunst zurück ins Leben - und ist damit im strengen Sinn kein Dadaist. Dies war niemand bewusster als Schwitters selbst, der sich zeit seines Lebens, wenngleich ironisch, immer wieder vom Dadaismus abgegrenzt hat - gerade, weil er in der 76 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 16 So Schwitters rückblickend in einem Brief an Raoul Hausmann vom 29. 03. 1947, zit. nach Franz, Sigrid: Kurt Schwitters‘ Merz-Ästhetik im Spannungsfeld der Künste. Freiburg i.Br. [u. a.] 2009, S. 43. 17 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Luzern 1946, S. 98. - Die Anspielung auf die Musik (hier in Form von Mendelssohns Liedern ohne Worte) ist offensichtlich und wird uns später bei der Frage nach dem musikalischen Charakter der Ursonate noch ausführlicher beschäftigen. 18 Beispielsweise bei Paul Scheerbart und Christian Morgenstern, vor allem aber, im Kontext des rus‐ sischen Futurismus, in der sog. Zaum-Dichtung Aleksej Kručënychs, die auf die Kreation einer po‐ etischen Rede mit unbestimmter Bedeutung gerichtet ist (vgl. Janecek, Gerald: Zaum: The Transra‐ tional Poetry of Russian Futurism. San Diego 1996, S. 4). Zur abweichenden Zaum-Konzeption Velimir Chlebnikovs siehe unten, Fn. 22. 19 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 100. - Ball schließt hier eng an die Ausführungen Wassily Kandinskys zum Wort als „innere[m] Klang“ in seinem Essay Über das Geistige in der Kunst an, wo es heißt: „Geschickte Anwendung (nach dichterischem Gefühl) eines Wortes, eine innerlich nötige Wieder‐ holung desselben zweimal, dreimal, mehrere Male nacheinander kann nicht nur zum Wachsen des inneren Klanges führen, sondern noch andere nicht geahnte geistige Eigenschaften des Wortes zutage bringen. Schließlich bei öfterer Wiederholung des Wortes […] verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstakt gewordene Sinn des bezeichneten Gegen‐ standes vergessen und nur der reine Klang des Wortes entblößt“ (Kandinsky, Wassily: Über das Geis‐ tige in der Kunst, insbesondere in der Malerei. Rev. Neuaufl. Hg. Jelena Hahl-Fontaine. Bern 2009, S. 49 f.). Zu Kandinskys Einfluss auf den Dadaismus vgl. Philipp, Dadaismus, S. 62-66. Kandinsky soll es nach Raoul Hausmann auch gewesen sein, der Ball mit der Zaum-Dichtung der russischen Futu‐ risten bekannt gemacht hat (vgl. Hausmann, Raoul: „Zur Geschichte des Lautgedichtes“. Ders.: Am Anfang war Dada. Hgg. Karl Riha und Günter Kämpf. 3., völlig neu gestaltete Auflage. Gießen 1992, S. 35-37, hier S. 38; vgl. dazu auch Orphal, Stefanie: Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium. Berlin, Boston 2014, S. 164 f.). 20 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 96. Öffentichkeit stets mit diesem identifiziert wurde: „Ich war Dadaist, ohne die Absicht zu haben, einer zu sein.“ 16 Trotz dieser, obschon ambivalenten, Distanzierung Schwitters’ vom Dadaismus als avantgardistischer Bewegung ist der werkästhetische Ursprung der Ursonate im dadaisti‐ schen Lautgedicht zu suchen. Über dieses schreibt Hugo Ball anlässlich des ersten Vortrags seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire in seinem Tagebuch: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚Verse ohne Worte’ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird“. 17 Zwar hat das Lautgedicht als ein zentrales Element moderner Materialästhetik durchaus einen präda‐ daistischen Ursprung, 18 Hugo Ball fügt ihm jedoch eine für den Dadaismus wesentliche Dimension hinzu: die der ästhetischen Performativität. Als Ball seine ersten Lautgedichte vorträgt, erklärt er vorab, er verzichte „mit dieser Art Klanggedichte […] auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache“, ziehe sich „in die innerste Alchemie des Wortes zurück“ und bewahre so „der Dichtung ihren letzten heiligsten Be‐ zirk“. 19 Er behauptet also, die Dichtung durch die vollendete Sinnlosigkeit ‚bewahren‘ zu können - tatsächlich entsemantisiert er die Worte so stark, dass es fast nur noch auf die Klanglichkeit ankommt. Balls Intention lag darin - die Rede von der „innerste[n] Alchimie des Wortes“ deutet es an -, die kommunikative Leistung der Sprache aufzuheben und zu einer Äußerungsform zurückzukehren, die „von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden“ 20 ist. An ihre Stelle tritt eine Ausdruckssprache, die im Sinne von Walter 77 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  21 Vgl. Benjamin, Walter: „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. Ders., Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frank‐ furt / M. 1980. Bd. II / 1, S. 140-157, hier S. 143. - Philipp spricht davon, Ball wolle „durch magische Benennung Quasi-Identitäten schaffen“ (Philipp, Dadaismus, S. 187). 22 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 31. - Dazu trägt auch die Mischung verschiedener Sprachen bei, die Ball in seinen Lautgedichten, wie etwa dem bekannten Karawane, konsequent praktiziert. Dies lässt sich mit dem ‚universalistischen‘ Anspruch von Balls Lautpoesie begründen (vgl. Philipp, Dada‐ ismus, S. 195), der - wie jede Form der Sprachmystik - die Überwindung der babylonischen Sprach‐ verwirrung und die Rückkehr zur einen (‚adamitischen‘) Ursprache zum Ziel hat (zu dieser Tradition der Lautdichtung vgl. Kemper, Hans-Georg: Vom Expressionismus zum Dadaismus. Eine Einführung in die dadaistische Literatur. Kronberg / Ts. 1974, S. 154-156). Ähnlich formuliert es Benjamin, Über die Sprache, S. 147: „Das Unvergleichliche der menschlichen Sprache ist, daß ihre magische Gemein‐ schaft mit den Dingen immateriell und rein geistig ist, und dafür ist der Laut das Symbol.“ Auch die Zaum-Konzeption Chlebnikovs zielt auf „a new [universal, d.Verf.] language of the f uture which would be better, more expressive and more functional than current language“ ( Janecek, Zaum, S. 135). Eine Parallele hierzu stellen in den 1920er Jahren die Versuche Dziga Vertovs, Béla Balázs’ u. a. dar, den Stummfilm zu einer solchen universellen Sprache zu entwickeln (vgl. etwa Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt / M. 2001, der vom Film als der „erste[n] inter‐ nationale[n] Sprache“ und der „Erlösung von dem babelschen Fluch“ [S. 22] spricht). Von all diesen Konzeptionen wird sich Schwitters abgrenzen, dessen Ursonate mit dem Deutschen als Referenz‐ sprache arbeitet (vgl. Schuldt, Herbert: „Lautgestaltung. Beitrag zu einer Klärung des Begriffs an Hand der ‚Ursonate‘“. Kurt Schwitters. Hg. v. Helmut Heißenbüttel. München 1972, S. 10-12, hier S. 11). 23 Vgl. Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 95 f. - Das gemahnt nicht von ungefähr an die schöpferische Sprache Gottes in Genesis 1, die seit jeher den zentralen Bezugspunkt magischer Sprachkonzeptionen gebildet hat - so auch bei Benjamin: „Im Wort wurde geschaffen, und Gottes sprachliches Wesen ist das Wort. Alle menschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes im Namen“ (Benjamin, „Über die Sprache“, S. 149). Man kann es aber auch etwas profaner formulieren: „An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen“, lasse, so Ball, das „spielende […] Wesen des Hörers er‐ klingen“ (Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 96). Diese Beschreibung paraphrasiert Formulierungen, die aus der Bestimmung der ästhetischen Idee in Kants Kritik der Urteilskraft vertraut sind, wo diese als Vorstellung bezeichnet wird, die das Spiel von Einbildungskraft und Verstand in Gang hält, weil sie „viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann“ (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. Karl Vorländer. Hamburg 1974, S. 168). Mo‐ dern formuliert, könnte man sagen, dass die Laute ein bestimmbares Denotat verweigern zugunsten der Freisetzung eines möglichst großen Konnotationsfeldes, das nun keineswegs asemantisch ist, sondern gerade eine Fülle von, freilich nicht eindeutig fixierbaren, Bedeutungen produziert (wie dies ja bereits der Symbolismus im Anschluss an Mallarmé gefordert und praktiziert hat). Auch das hat Kant bereits recht präzise ausgedrückt, wenn er die ästhetische Idee als Vorstellung der Einbildungs‐ kraft bestimmt, „welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen [= Konnotationen, d.Verf.] in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen be‐ stimmten Begriff [= Denotat, d.Verf.] bezeichnet, gefunden werden kann“ (ebd., S. 171). Benjamins Sprachtheorie nicht etwas mitteilen, sondern benennen will. 21 Durch die De‐ struktion der kommunikativen Sprachfunktionen will Ball also den „einzelnen Vokabeln und Laute[n] […] ihre Autonomie“ zurückgeben. 22 Demgemäß spricht er von „magisch er‐ füllte[n] Vokabel[n]“, die beschwören und gebären, also im Akt der Benennung dasjenige, was benannt wird, hervorrufen. 23 Die religiösen Bezüge des Lautgedichts kommen nicht zuletzt in der Vortragssituation zum Ausdruck. Für Ball ist Dichtung, zumal Lautdichtung, nicht „am Schreibtisch erklügelt“, 78 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 24 Riha, Karl: „Übers Lautgedicht“. Ders.: Da Dada da war ist Dada da. Aufsätze und Dokumente. Mün‐ chen, Wien 1980, S. 176-227 und 291-298, hier S. 193. 25 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 99 f. sondern „für die Ohren lebendiger Menschen gefertigt“. 24 Und so wurden Balls Texte von vornherein für den Vortrag vor Publikum geschrieben, aus dem dann oftmals ein großes Spektakel wurde. Als Ball seine ersten Lautgedichte im Cabaret Voltaire aufführte, trug er ein selbstgemachtes Kostüm mit Schamanenhut: Abb.1: Hugo Ball beim Vortrag seiner Lautgedichte im Cabaret Voltaire Die Form des Vortrags scheint hier noch durchaus improvisiert, wenn man Balls Beschrei‐ bung Glauben schenken darf: Ich merkte sehr bald, daß meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. […] Da be‐ merkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priester‐ lichen Lamentation annahm […]. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen […]. 25 79 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  26 Ebd., S. 100. 27 Vgl. Riha, Karl: „Das Experiment in Sprache und Literatur“. Propyläen Geschichte der Literatur. Lite‐ ratur und Gesellschaft der westlichen Welt. Bd. 6: Die moderne Welt. 1914 bis heute. Berlin 1982, S. 440-463, hier S. 450. 28 Vgl. Nündel, Ernst: Kurt Schwitters. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 82 f. 29 Schwitters, Kurt: „Meine Sonate in Urlauten“ [1927]. Ders., Das literarische Werk. Bd. 5, S. 288-292, hier S. 290. Wie ernst man diese Beschreibung nehmen soll, kann offen bleiben. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Ball hier mit dem religiösen Kultus ein kulturelles Referenzsystem ins Spiel bringt, das für ihn als selbsternannten „magische[n] Bischof “ 26 offenbar nahelag, das jedoch nicht das einzig mögliche ist. Kurt Schwitters wird dieses religiöse Referenzsystem dezidiert nicht teilen, sondern - wie wir sehen werden - durch den profanen bürgerlichen Musik‐ betrieb ersetzen. II . Die Inspiration zu seiner Ursonate erhielt Schwitters 1921 in Prag, als sein Freund Raoul Hausmann, der unabhängig von Ball über die von ihm kreierte ‚lettristische Poesie‘ zum Lautgedicht gekommen war, bei einer gemeinsamen Dada-Veranstaltung das Plakatgedicht fmsbwtzäu vortrug. Dies veranlasste Schwitters zu einer langen Reihe von Experimenten mit Lautfolgen wie „fmsbwtözäu, pgiff, pgiff, mü“ und „fms und fms und immer wieder fmsbw“, aus denen schließlich die Ursonate hervorgehen sollte. 27 Jahrelang arbeitete Schwit‐ ters an dem Monumentalwerk. Der erste schriftliche Beweis seiner Arbeit erschien 1923 in der sechsten Ausgabe seiner Zeitschrift Merz in Form einer Lautfolge, die später kaum verändert im Scherzo der Ursonate wieder auftaucht. 1926 war diese so weit zur Zufrie‐ denheit Schwitters’ vollendet, dass sie hätte gedruckt werden können, aber Diskussionen über die Typographie verzögerten ihre Publikation. 28 1932 endlich, über zehn Jahre nach ihrer Ursprungsidee, wurde die komplette Ursonate in Merz Nr. 24 veröffentlicht (Abb. 2). Anschließend reichte Schwitters noch zusätzliche Erklärungen nach, u. a. einen „Schlüssel zum Lesen von Lautgedichten“ und v. a. einen kommentierenden Essay mit dem Titel „Meine Sonate in Urlauten“. „Die Sonate“, schreibt Schwitters im letztgenannten Text, „besteht aus 4 Sätzen, einer Einleitung, einem Schluß, und siebentens einer Kadenz im vierten Satz.“ 29 Über die damit postulierte musikalische Struktur wird später noch einiges zu sagen sein, zunächst soll jedoch das verwendete Lautmaterial der vier Teile vorgestellt werden, was angesichts des erheblichen Umfangs der Themen und Motive nur in Bezug auf den allgemeinen Charakter des jeweiligen Teils anhand von Beispielen erfolgen kann, um im Anschluss daran die wichtigsten Verfahren der Motiv- und Themenentwicklung zu erläutern. Dabei greifen wir, mit der gebotenen Vorsicht, auf die linguistischen Ansätze zur Lautsymbolik zurück, die im Wesentlichen drei Arten unterscheiden: Die physische Lautsymbolik artikuliert kör‐ perliche sowie emotionale Vorgänge und Zustände (z. B. Husten, Niesen, Schmerz- oder Angstlaute); die imitative Lautsymbolik ahmt Klänge oder Geräusche mit sprachlichen Mitteln nach (Onomatopoetik); die synästhetische Lautsymbolik verknüpft akus‐ 80 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 30 Vgl. Elsen, Hilke: Einführung in die Lautsymbolik. Berlin 2016, S. 17. - Zur Berechtigung dieser zwei‐ fellos nicht unproblematischen Semantisierung sprachlicher Laute siehe unten in diesem Abschnitt. Die synästhetische Lautsymbolik gewinnt an Plausibilität durch neuere kognitionswissenschaftliche Untersuchungen, die die Kommunikation zwischen visuellen und auditiven Hirnarealen und in der Folge einen „link between synaesthesia and cross-modal sound symbolism“ (Bankieris und Simner, zit. ebd., S. 203) belegen. Auch Jakobson spricht vom „valeur synesthétique latente de certaines op‐ positions phonémiques“ ( Jakobson, Roman: „À la recherche de l’essence du langage“. Collection Di‐ ogène: Problèmes du langage. Paris 1966, S. 22-38, hier S. 34). 31 Schwitters, Kurt: „Ursonate“ [1932]. Ders.: Das literarische Werk. Bd. 1: Lyrik. Hg. Friedhelm Lach. Köln 1973, S. 214-242, hier S. 214. Die folgenden Nachweise mit der Sigle ‚US‘ und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text. 32 Vgl. Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 226. tisch-sprachliche Äußerungen mit nichtakustischen Wahrnehmungen und deren Konno‐ tationen (z. B. Verbindung des Lautes u mit der visuellen Wahrnehmung ‚dunkel‘ und der Konnotation ‚unheimlich‘). 30 Abb. 2: Erste Seite von Kurt Schwitters’ Ursonate Der erste Teil der Ursonate ist sehr vielseitig und verwendet ein umfangreiches Lautreper‐ toire. Quantitativ dominieren helle Vokale (oft Umlaute), Plosive und Frikative, was diesem Teil einen äußerst dynamischen, energischen und zugleich hellen bis schrill-aggressiven Charakter verleiht. Das zeigt sich bereits im ersten Thema „Fümms bö wö tää zää Uu, / pögiff, / kwii Ee“, 31 das zunächst nur lange und kurze Umlaute beinhaltet, zu denen später der dunkle Vokal u sowie in den letzten drei Silben die hellen Vokale i und e hinzukommen; damit wird ein komplexer Eindruck von Ernst und Verspieltheit erweckt. 32 Als Konsonanten 81 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  33 Schwitters hält sich in vielen Fällen an die Silbenbildungsregeln der deutschen Sprache, Abwei‐ chungen betreffen v. a. die Reduplikation von Konsonanten („tillff “, „[l]ümpff “) und Vokalen („tää zää“, „müü“, „toooo“), Lautverbindungen ohne Vokale („trrgll“, „[r]rmmp / [r]rnnf “) und Konsonan‐ tenkombinationen, die im Deutschen nicht möglich sind („kwiiee“, „mpiff “). 34 Die Assoziation von „Dedesnn“ zur Stadt Dresden stammt von Schwitters selbst. Zugleich erklärt er jedoch, er habe „alle […] Lautverbindungen […] frei erfunden, teilweise unbewußt angeregt durch abgekürzte Aufschriften auf Firmenschildern oder auf Drucksachen, besonders aber durch die inte‐ ressanten Aufschriften auf Eisenbahnstellwerkhäusern, die immer so interessant wirken, weil man den Sinn nicht versteht“ (Schwitters, „Meine Sonate in Urlauten“, S. 290). benutzt Schwitters, wie bereits erwähnt, zum einen Plosive (b, t, ts, p und g) und zum an‐ deren Frikative (f und w) sowie den Nasal m, die im Kontrast zueinander einen harten, plötzlichen Silbenanlaut und einen weicheren, allmählichen Silbenabschluss markieren. 33 In der imitativen Lautsymbolik erinnert das „kwii Ee“ zudem an ein quiekendes bzw. quietschendes Geräusch. Das zweite Thema besteht aus den beiden Hälften „Dedesnn nn rrrrr, / li Ee“ ( US 214) 34 und „mpiff tillff too, / tillll“ mit dem fragenden Zusatz „Jüü Kaa? “ (ebd.). Es fügt dem Material des ersten den Nasal n hinzu, der durch Wiederholung inten‐ siviert wird und in den aggressiven Trill-Laut (rr) übergeht. Dieser wird in der zweiten Hälfte durch den dominanten weichen Lateral l und den Frikativ f ausgeglichen. Im ab‐ schließenden, kürzesten Thema des ersten Teils „Rrummpff tillff toooo? “ (ebd.) taucht die physische Lautsymbolik des Grunzens („Rrummpff “) auf, die durch den dunklen Vokal u, den wiederholten Vibranten r und den Plosiv p in Verbindung mit dem Frikativ f synäs‐ thetisch eine bedrohlich-aggressive Vorstellung evoziert, welche durch das nachfolgende „tillff “ etwas besänftigt erscheint. Der zweite Teil ist gegenüber dem ersten sehr homogen und getragen, was gut zur Be‐ zeichnung „largo“ (it. ‚langsam, breit‘, US 227) passt, mit der er überschrieben ist. Schwitters erzeugt diesen Charakter v. a. durch die langgezogenen Vokale o und a, die er in jeder zweiten Zeile wiederholt. In der ersten Strophe sieht das wie folgt aus: 82 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 35 Vgl. Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 226. 36 Die Affinität der Lautdichtung zur Vogelsprache kommt nicht von ungefähr. Wie Riha erwähnt, un‐ ternimmt bereits Johann Matthäus Bechstein im 19. Jahrhundert in seiner Naturgeschichte der Hof- und Stubenvögel den Versuch eines Notationssystems für die Aufzeichnung von Vogelstimmen und kann damit als ein Vorläufer der modernen Lautpoesie gesehen werden (vgl. Riha, „Übers Lautge‐ dicht“, S. 185 f.). Auf mittelalterliche und frühneuzeitliche okkulte bzw. mystische Auffassungen zu‐ rückgreifend, die mit der ‚Sprache der Vögel‘ eine perfekte göttliche Sprache bezeichnen, welche mit der adamitischen Ursprache oder der Sprache der Engel identifiziert wird, begreift Benjamin das Verstehen der Sprache der Vögel in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen als Ausdruck einer versöhnten Beziehung von Mensch und Natur und damit als utopische „Sprache […], die von allen Menschen verstanden wird“ (vgl. Benjamin, Walter: „[Notizen und Vorarbeiten zu den Thesen Abb. 3: Erste Strophe des zweiten Teils der Ursonate Die zwischen die langen Vokale eingeschobenen Silben und Silbenkombinationen („bee“, „zee“, „Rinnzekete“ und „änn ze“ bzw. „enn ze“) sind fast vollständig aus dem ersten Teil übernommen und beinhalten als Kontrast zu dem langen o bzw. a die hellen Vokale e, i und ä; lautsymbolisch sind damit synästhetisch Gegensätze wie ‚schwer vs. leicht‘, ‚tief vs. hoch‘ und ‚dunkel vs. hell‘ verbunden. 35 Als Konsonanten benutzt Schwitters hauptsächlich Plo‐ sive (b, t in Verbindung mit s, k) sowie den Vibranten r und markiert damit den vergleichs‐ weise harten Beginn der Silben. Um den ruhigen, klagenden Grundcharakter des zweiten Teils aufrechtzuerhalten, fügt er längere Pausen zwischen den einzelnen Lautfolgen ein. Im „Scherzo“ überschriebenen dritten Teil finden sich drei Abschnitte: zu Beginn eine fröhliche Passage, die am Schluss wiederholt wird, und dazwischen das von dunklen Vo‐ kalen und Diphtongen dominierte Trio. Das erste Scherzo-Thema „Lanke trr gll / pe pe pe pe pe / Ooka ooka ooka ooka / Lanke trr gll / pii pii pii pii pii / Züüka züüka züüka züüka“ ( US 228) ist zunächst parallel aufgebaut und besitzt als imitative Lautsymbolik starke Anklänge an das Gezwitscher eines Vogels; dieser Eindruck wird durch die Vortragsanweisung „munter“ (ebd.) noch verstärkt. 36 In der anfänglichen Lautfolge verwendet Schwitters kaum 83 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  ‚Über den Begriff der Geschichte‘]“. Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I / 3. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / M. 1980, S. 1223-1252, hier S. 1239). Solche Vorstellungen finden sich auch bei Chlebnikov, der in seinen Zaum-Texten - neben der ‚Sprache der Götter‘ und der ‚Sprache der Sterne‘ - auch die ‚Sprache der Vögel‘ verwendet, ohne diese allerdings mit der avisierten Universalsprache zu identifizieren: „In his all-encompassing interest in language, Khleb‐ nikov might have thought to find source material or confirmation of his design for a universal lang‐ uage in this natural sphere, but he seems not to have pursued it very far“ ( Janecek, Zaum, S. 146). Ähnlich verhält es sich auch bei Schwitters, der im Unterschied zu sprachmystischen bzw. utopischen Konzeptionen nicht auf die (Re-)Konstruktion einer wie auch immer gearteten Ur- oder Universal‐ sprache abzielt, sondern die ‚Sprache der Vögel‘, sprich die imitative Lautsymbolik, als ein Element unter anderen verwendet und damit die Sprachmystik gewissermaßen zitiert, ohne sie zu prakti‐ zieren. In Bezug auf die „Vogelsprache“ bei Schwitters von einer „Naturlautsprache“ (Heißenbüttel, Helmut: Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters. Wiesbaden 1983, S. 13) zu sprechen, wird demnach Schwitters’ Werk nicht gerecht. 37 Vgl. Elsen, Einführung in die Lautsymblik, S. 226. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd. Vokale, dafür aber den Nasal n und den Lateral l, die dem Motiv einen weichen, runden Charakter geben; der Plosiv t und der Vibrant r erinnern an einen Triller. Die nächste Laut‐ reihe imitiert das Piepsen eines Vogels durch kurze Silben mit dem Plosiv p und den Vokalen i oder e, die spitz und hell wirken und etwas Fröhliches, Schnelles implizieren. 37 In der Schlusszeile der beiden Sequenzen benutzt Schwitters jeweils einen langen und einen kurzen Vokal im Wechsel; synästhetisch symbolisieren sie eine Spannung zwischen ‚zart‘ und ‚kräftig‘. 38 Außerdem findet man die Lautverbindungen „Rrmmp“ und Rrnnf “ (ebd.), die durch fehlende Vokale mit dem ‚Vogelgezwitscher‘ kontrastieren. Der anfängliche Trill-Laut wirkt recht aggressiv, was durch die nachfolgenden weicheren Nasale m bzw. n wieder relativiert wird. Das abschließende p bzw. f erweckt den Eindruck, der Sprecher sei abgewürgt worden. Mit der Frage „Ziiuu lenn trll? “ (ebd.) wird die Vogelstimme wieder aufgegriffen, dazu passen die Dominanz der hellen Vokale, das z mit seinem Anklang ans Zwitschern und die Lautkombination trll, die auf ein Trillern anspielt. Die Antwort „Lümpff tümpff trll“ (ebd.) scheint von einem anderen Wesen zu kommen, hier herrschen die Plosive t und p sowie der Doppel-Frikativ ff vor. Das Thema des Trios dagegen besteht fast nur aus Vokalen: „Ziiuuu iiuu / ziiuu aauu / ziiuu iiuu / ziiuu Aaa“ bzw. „[…] Ooo“ ( US 229). Durch deren Länge und den ständigen Wechsel zwischen ‚hell‘ und ‚dunkel‘ (i und u) klingt diese Sequenz wie eine Klage, verstärkt durch die Lautfolge „aauu“, die in der physischen Laut‐ symbolik ein Ausdruck von Schmerzen ist. Das abschließende „Aaa“ bzw. „Ooo“ wirkt dann eher schlicht. Der vierte Teil knüpft mit seinen vier Themen, die zehn neue Motive einführen, an die Vielfalt des ersten an. Zu Beginn des ersten Motivs „Grimm glimm gnimm bimbimm“ ( US 230) wird ein aggressiver Ton angeschlagen, der jedoch zunehmend abgeschwächt und in das Bimmeln einer kleinen Glocke überführt wird (imitative Lautsymbolik). Der durch‐ gängig verwendete Vokal i gibt der Abfolge synästhetisch etwas Helles und Spitzes, der häufig auftretende Nasal m hingegen wirkt eher weich. Auch das zweite und dritte Motiv („Bumm bimbim bamm bimbim“ [ebd.] und „Bemm bemm“ [ US 231]) ahmen durch die Konnotationen ‚groß‘ und ‚tief ‘ der dunklen Vokale a und u sowie ‚klein‘ und ‚hoch‘ des hellen Vokals i Glocken unterschiedlicher Größe nach. 39 Der Nasal m steht für ein anhal‐ 84 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 40 Vgl. ebd. 41 Dies ist zugleich ein zentrales Prinzip der musikalischen Sonate. Vgl. Kolago, Lech: Musikalische Formen und Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Anif, Salzburg 1997, der feststellt, dass Schwitters durchweg „das für die Musiksonate so charakteristische Prinzip der Kontrastierung der Themen“ (S. 173) befolge. Näheres dazu in Abschnitt III. 42 Kolago spricht vom „aus der Komposition der Musiksonate übernommenen Prinzip der ständigen Entwicklung und Wiederholung eines einzigen Gedankens“ (ebd., S. 175). tendes Klingen der Glocke, während b als stimmhafter Plosiv den Anschlag verdeutlicht. In den Motiven „Tilla loola luula loola“ (ebd.) und „Tilla lalla tilla lalla“ ( US 232) wird imi‐ tative Lautsymbolik verwendet, die an das Lallen von Kleinkindern erinnert; die häufige Benutzung des l-Lauts steht synästhetisch für ‚weich‘ und ‚rund‘. 40 Ebenso imitativ rufen die Lautverbindungen in „Tatta tatta tuiEe tuiEe“ ( US 231) mit ihren harten (wiederholter Plosiv t) und weicheren (Doppelvokal ui) Bestandteilen den Eindruck von Vogel- oder Tier‐ lauten hervor, zu denen im Weiteren auch das Motiv „Graaaaa“ ( US 234) gehört, das wie der Schrei eines Raubvogels klingt. Die wiederholte Lautfolge „EkeEke“ ( US 236) fügt sich optimal in den Kontrast von weichen, lieblichen und harten, aggressiven Glocken-, Kinder- und Tierlauten, die den gesamten vierten Teil charakterisieren. Zu dieser Gestaltung in Gegensätzen 41 passt auch das einzige neue Motiv der abschließenden Kadenz „Priimiititti tuutaatoo“ ( US 239) mit seinem Übergang von ‚hohen‘ zu ‚tiefen‘ Vokalen, der mit einem Wechsel von kurzen zu langen Lauten verknüpft ist. Zum Abschluss seines Werkes wie‐ derholt Schwitters das Alphabet rückwärts zweimal fragend bis zum „beee“ ( US 242), nur das dritte Mal gelangt er bis zum „Aaaaa“ (ebd.), das Ende jedoch bleibt mit einem „schmerz‐ lich“ vorzutragenden „beeee? “ (ebd.) offen. Bei der Verarbeitung von Motiven verwendet Schwitters unterschiedliche Verfahren, die er auch kombiniert. Am deutlichsten sticht die Wiederholung heraus, die im gesamten Werk durchgehend auftaucht, wie bei „Fümms bö wö tää zää Uu“ ( US 214) im ersten oder „Lanke trr gll“ ( US 228) im dritten Teil. Zudem gibt es Reihungen, die bis zu acht Mal dasselbe Motiv beinhalten (z. B. im ersten Teil „rakete rinnzekete“ [ US 215] und im vierten Teil „Grimm glimm gnimm bimbimm“ [ US 230]). Häufig werden die Wiederholungen auch in Variati‐ onen überführt, bspw. „Ziiuu iiuu“ in „ziiuu aauu“ ( US 229, dritter Teil) oder „Tilla loola luula loola“ in „Tilla luula loola luula“ (U 231, vierter Teil). 42 In einigen Passagen ist die systematische Steigerung (Augmentation) eines Kernmotivs durch zusätzliche Lautverbin‐ dungen zu finden, die eine enorme Komplexität erreichen kann; so entsteht im ersten Teil aus der Silbe „bö“ über mehrere Stufen hinweg am Ende die Lautkette „fümmsböwötää‐ zääUu pögiff “ (Abb. 4). 85 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  43 Solche Projekte sind im ästhetischen Feld gar nicht so selten. So hat Michail Bachtin seine Konzeption sprachlicher Polyphonie in den 1930er Jahren als metalinguistisch bezeichnet, worunter er „das noch nicht in bestimmten Einzeldisziplinen betriebene Studium jener Seiten im Leben des Wortes ver‐ Abb. 4: Augmentation eines Kernmotivs im ersten Teil der Ursonate Auch das gegenteilige Phänomen einer schrittweisen Motivreduktion (Diminution) kommt vor: „dll rrrrrr beeeee bö“ wird zu „bö“ ( US 214), „Dedesnn nn rrrrrr“ zu „nn rrrrrr“ ( US 219). Auf der Ebene der Themen erkennt man v. a. parallele und gegensätzliche Konstruk‐ tionen, die z.T. in satzartigen Verbindungen immer wieder in eine Art Gespräch treten. So antwortet auf das bereits erwähnte Glockenthema „Bumm bim bim bamm bimbim“ ( US 230) ein knappes „Bemm bemm“ ( US 231), das auch rhythmisch die Reihe abschließt. Im Scherzo des dritten Teils folgt auf die Frage „Ziiuu lenn trll? “ die Antwort „Lümpff tümpff trll“ ( US 229). Was ergibt sich nun aus all dem für die ästhetische Verfahrensweise der Ursonate? Die Antwort muss lauten: Sie kann, wie die Lautpoesie schlechthin, als metalinguistisches Ge‐ genprojekt zur zeitgleich entstehenden modernen Linguistik und Semiotik angesehen werden, 43 die die allgemeine Sprachauffassung bis heute prägt, und das in mindestens drei‐ 86 Günter Butzer und Cornelia Wörmann steht, die - völlig zu Recht - die Grenzen der Linguistik überschreiten“ (Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt / M. [u. a.] 1985, S. 202). 44 Vgl. Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Frz.-dt. mit Einl., Anm. u. Komm. Hg. Peter Wunderli. Tübingen 2013, S. 170, sowie zur Motiviertheit der Lautsymbolik Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 15 f. - Die Allgemeingültigkeit des Saussureschen Arbitraritäts-Postulats wurde gelegentlich auch innerhalb der Linguistik in Frage gestellt, so von Roman Jakobson unter dezidierter Bezugnahme auf die Semiotik Charles Sanders Peirce’. Jakobson kommt zu dem Ergebnis: „Les con‐ stituants iconique et indiciel des symboles verbaux ont été souvent sous-estimés ou même ignorés“ ( Jakobson, „À la recherche de l’essence du langage“, S. 36). Vgl auch Martinet, André: La linguistique synchronique. Etudes et Recherches. Paris 1974, S. 27-41. 45 Der Begriff in dem Verständnis, das Peirce ihm gegeben hat: als „the effect the sign first produces or may produce upon a mind, without any reflection upon it“ (Peirce, Charles Sanders: Semiotic and Significs. The Correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby. Hg. Charles S. Hard‐ wick. Bloomington, London 1977, S. 110). An anderer Stelle spricht Peirce statt vom unmittelbaren auch vom emotionalen Interpretanten (vgl. Apel, Karl-Otto: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt / M. 1975, S. 230 f.), was weiter unten bei der Bedeutung von Lauten wie auch musikalischen Zeichen eine Rolle spielen wird. 46 Vgl. Bünting, Karl-Dieter: Einführung in die Linguistik. 7., erg. u. erw. Aufl. Kronberg / Ts. 1978, S. 85. - Insofern ist es zu traditionell linguistisch gedacht, wenn Helmut Heißenbüttel das Lautpoem als „Gedicht aus Phonemen als ‚reinen und leeren Unterscheidungszeichen‘“ (Heißenbüttel, Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters, S. 5) bestimmt. 47 Vgl. Bünting, Einführung in die Linguistik, S. 94 u. 97. 48 Vgl. Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967, S. 16: „Le signifié y fonctionne toujours déjà comme un signifiant. […] Il n’est pas de signifié qui échappe, éventuellement pour y tomber, au jeu des renvois signifiants qui constitue le langage.“ erlei Hinsicht: 1.) widerspricht sie dem von Saussure formulierten und bis heute für die Linguistik fundamentalen Postulat der Arbitrarität sprachlicher Zeichen, da es sich bei der Lautsymbolik durchweg um, wenn auch nicht natürliche, so doch motivierte Zeichen han‐ delt. 44 Die Lautpoesie im Allgemeinen und die Ursonate im Besonderen zeigen mehr als deutlich, dass die Beziehung zwischen sprachlichen Signifikanten und Signifikaten keines‐ wegs willkürlich ist, sondern dass jeder Laut - auch wenn er nicht onomatopoetisch ver‐ wendet wird - einen unmittelbaren Interpretanten 45 evoziert und dass dieser semiotische Vorgang unvermeidlich ist. Das widerspricht 2.) dem Grundsatz insbesondere der struktu‐ ralen Phonologie seit Trubetzkoy und Jakobson, dass Laute bzw. Phoneme zwar bedeu‐ tungsdifferenzierend, aber nicht bedeutungstragend sein können. 46 Nimmt man diesen Grundsatz ernst, dann dürften sie eigentlich auch nicht als Signifikanten bezeichnet werden, da streng genommen nicht Signifikant sein kann, was nicht auch mindestens ein Signifikat besitzt. Dass sich die Linguistik diesbezüglich recht unklar äußert und etwa von Lauten als ‚unechten sprachlichen Zeichen‘ redet, bei denen es sich nicht um „Vollzeichen“ handelt, 47 weist darauf hin, dass hier ein ungelöstes Problem liegt, das aus Sicht der Laut‐ poesie nur in Richtung auf eine totale Ausweitung des Signifikantenfeldes auf sämtliche sprachlichen Erscheinungen (und darüber hinaus auf das gesamte Feld kultureller Produk‐ tion) zu lösen ist. Daraus ergibt sich schließlich 3.) ein Pansemantismus, der insbesondere der neostrukturalistischen Privilegierung des Signifikanten im Sinne Lacans und Derridas widerspricht, die davon ausgehen, dass - wie es Derrida im „programme“ seiner Gramma‐ tologie formuliert - letztlich jedes Signifikat nichts anderes als ein Signifikant für ein neues Signifikat ist, das wiederum zum Signifikanten wird und so einen Prozess unendlicher Se‐ miose in Gang hält 48 bzw. dass, mit Lacan, die Sprache eine durchaus stabile Signifikanten‐ 87 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  49 Vgl. Lacans berühmte Formulierung in „L’instance de la lettre dans l’inconscient“: „La notion d’un glissement incessant du signifié sous le signifiant s’impose donc“ (Lacan, Jacques: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“. Ders.: Écrits. Paris 1966, S. 493-528, hier S. 502). 50 Als eine der ersten Semiotikerinnen hat dies Julia Kristeva konsequent vertreten, z. B. in „Le mot, le dialogue et le roman“. Dies.: ∑ημειωτική. Recherches pour une sémanalyse. Paris 1969, S. 82-112. 51 Vgl. Lotman, Jurij M., „Über die Semiosphäre“. Zeitschrift für Semiotik 12. 4 (1990): S. 287-305. 52 Vgl. Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg i.Br. 1995, S. 234-246, und die Studie von Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel [u. a.] 1978, der von einem Paradigmenwechsel in der Musikauffassung um 1800 spricht, welcher auf eine Neudefinition des Musibegriffs abzielt, basierend auf der „Überzeugung, daß Instrumentalmusik gerade dadurch, daß sie begriffs-, objekt- und zwecklos ist, das Wesen der Musik rein und ungetrübt ausspricht“ (S. 13). 53 Näheres dazu unten in diesem Abschnitt. 54 Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelli‐ genz“. Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II / 1, S. 295-310, hier S. 296. 55 Schwitters, „Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt“, S. 134. kette bildet, unter der der Sinn (also die Signifikate) beständig gleitet. 49 Die Lautpoesie und mit ihr Schwitters’ Ursonate weisen stattdessen darauf hin, dass diese Nachträglichkeit eines stets aufgeschobenen Sinns so nicht existiert, sondern dass vielmehr jede sprachliche Pro‐ duktivität in einem Feld von Sinnhaftigkeit operiert, das sie beeinflusst und verändert, das jedoch - im Sinne der Phänomenologie - im Zeichenprozess nicht erzeugt wird, sondern bereits gegeben ist. 50 Man kann also innerhalb der Semiosphäre (um einen Begriff Jurij Lotmans zu verwenden) 51 gar nicht nicht bedeuten! III . Von hier aus stellt sich nun auch die vieldiskutierte Frage nach dem musikalischen Cha‐ rakter der Ursonate neu, sofern auch die Musik - im Gegensatz zu allen seit der Romantik kursierenden Ideologemen der absoluten Musik als reiner, bedeutungsloser Kunst 52 - diesem Pansemantismus kultureller Produktion nicht zu entgehen vermag. Aus einer pu‐ ristischen Auffassung heraus hat man Schwitters’ Werk als unmusikalisch kritisiert bzw. als misslungenen Versuch der Sprachmusik verworfen, weil es mit seinem keineswegs sinnfreien Lautmaterial die Reinheit des musikalischen Ausdrucks nicht erreiche und statt bloßer Signifikanten - die dann (siehe oben) gar keine mehr wären - einen bedeutungsru‐ dimentären Sprachmüll präsentiere. 53 Auf den ersten Blick wirkt es so, als arbeite Schwitters diesem Missverständnis zu, indem er in seiner eigenen Ästhetik mit dem Konzept des ‚Ent‐ formelns‘ ein Prinzip formuliert hat, das scheinbar auf die totale Desemantisierung des künstlerischen Materials abzielt, sodass, wie Walter Benjamin einmal in Bezug auf den Surrealismus schrieb, „für den Groschen ‚Sinn‘ kein Spalt mehr“ übrigbliebe. 54 Denn beim Entformeln werden laut Schwitters die kulturellen Materialien aus ihrem Zusammenhang gerissen, sodass sie ihre Bedeutung verlieren. „Was das verwendete Material vor seiner Verwendung im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleichgültig“, schreibt er. 55 Dieses Material wird dann aber in einem zweiten Schritt, dem ‚Werten‘, nach formalen Kriterien neu zu einem Kunstwerk organisiert, wobei die Desemantisierung wieder aufgehoben wird und eine 88 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 56 Schwitters schreibt hierzu: „L’art c’est la forme. Transformer, c’est changer la valeur“ (Schwit‐ ters, Kurt: „[Merzfrühling]“ [1924]. Ders., Das literarische Werk, Bd. 5, S. 188), und formuliert damit nebenbei ein Grundprinzip der Saussureschen Semiotik, sofern dieser den Wert eines Zeichens aus der Summe seiner Differenzen im Sprachsystem ableitet („[…] la langue ne peut être qu’un système de valeurs pures […] dans la langue il n’y a que des différences.“ Saussure, Cours de linguistique géné‐ rale, S. 242 und 258) - ein Prinzip, das Derrida später bekanntlich gegen Saussure selbst ins Feld geführt hat (vgl. Derrida, De la grammatologie, S. 77). Auch die Musiksemiotik geht vielfach von einer differenziellen Bedeutung musikalischer Zeichen aus, vgl. paradigmatisch Faltin, Peter: Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache. Aachen 1985, S. 128: „Die Töne, aus denen Beziehungen gebildet werden, haben für sich genommen keine musikalischen Bedeutungen. Sie haben Bedeutung nur als Elemente einer intendierten, d. h. gedachten oder vorgestellten Beziehung“. Émile Benveniste hat dementsprechend die Erzeugung von Bedeutungen als differenzielle Funktionen durch und in kulturellen Texten - bei allen sonstigen wesentlichen Unterschieden - als grundlegende Gemein‐ samkeit von Sprache und Musik hervorgehoben (vgl. Benveniste, “Sémiologie de la langue”. Ders.: Problèmes de linguistique générale II. Paris 1974, S. 43-66. hier S. 54-56). In gleicher Weise nehmen Theoretiker der Lautsymbolik an, dass nicht einzelnen Lauten eine distinkte Bedeutung zugewiesen werden kann, sondern dass diese vielmehr aus den differenziellen Beziehungen der Laute im kon‐ kreten Text resultieren: „Die Konnotationen der Laute entstehen über phonemische Gegensätze und den jeweiligen Ko-/ Kontext, die Bedeutungen von Lauten sind nicht absolut“ (Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 161). Daraus ergibt sich eine systematische Äquivalenz von Tönen und Pho‐ nemen, die bereits Jakobson postuliert hat (vgl. Jakobson, Roman: „Musikwissenschaft und Lingu‐ istik“. Ders.: Selected Writings. Bd. 2. The Hague, Paris 1971, S. 551-553, hier S. 552). 57 Vgl. Scheffer, Bernd: Anfänge experimenteller Literatur. Das literarische Werk von Kurt Schwitters. Bonn 1978, der in kritischer Reflexion des Schwittersschen ‚Formalismus‘ schreibt: „Die ‚Merzdich‐ tungen‘ von Schwitters ‚entformeln‘ ohne Zweifel den Sprachgebrauch, aber die ‚entformelten‘ Ma‐ terialien fungieren in den betreffenden Texten nicht als pure ‚Form-Teile‘ […]. Sprachliches Material entstammt einem Konnex, und in der künstlerischen Verarbeitung tritt es wieder in einen Sprach-Zusammenhang ein, nicht aber in einen rein ‚abstrakten‘ Kunstzusammenhang“ (S. 41). Neusemantisierung stattfindet. 56 Dem entspricht die Ursonate sehr genau: Sie reduziert die Sprache auf ihre kleinsten, nicht mehr bedeutungstragenden Einheiten (‚Entformeln‘) und strukturiert diese nach neuen, rein formalen Gesichtspunkten (‚Werten‘), die sie der musi‐ kalischen Gattung der Sonate entlehnt. Dadurch werden dem Werk und seinen Elementen neue, aus der Form resultierende Bedeutungen verliehen. 57 Insofern ist die formale Gestal‐ tung der Ursonate alles andere als zufällig und muss in jeden Fall ernst genommen werden. Das zeigt sich bereits in der Verwendung grundlegender musikalischer Kompositions‐ techniken. So können die im vorherigen Absatz beschriebenen Methoden der Motiv- und Themenentwicklung sowohl als literarische als auch als musikalische Verfahren verstanden werden. Ein weiterer Grund, die Ursonate als musikalisches Werk einzustufen, ist die Be‐ nutzung entsprechender Bezeichnungen, die sich z.T. in der Ursonate selbst und z.T. in den nachgereichten Anmerkugen finden. Dabei handelt es sich einerseits um Taktangaben („takt genau 4 / 4“ [ US 227]) und Anweisungen zu Dynamik (z. B. „laut“ und „leise“ [ US 227]), Tempo (z. B. „largo“ [ebd.] und „presto“ [ US 230]) sowie Vortragsweise (z. B. „ge‐ sungen“ [ US 214], „munter“ [ US 228] und „gekreischt, mit erhobener Stimme“ [ US 221]). Andererseits gebraucht Schwitters speziellere Fachbegriffe aus der Musik, die er entweder korrekt verwendet (Takt, Überleitung, Rezitation, Scherzo, Trio und Kadenz) oder spiele‐ risch verändert (z. B. ‚durcharbeitung‘ statt ‚Durchführung‘, ‚ablösung‘ statt ‚Reprise‘, ‚teil‘ statt ‚Satz‘). 89 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  58 Vgl. zur klassischen Sonatenform Mielke-Gerdes, Dorothea und William S. Newman: Art. „Sonate“. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Sachteil Bd. 8. Zweite, neubearb. Ausg. Hg. Ludwig Finscher. Kassel [u. a.] 1998, Sp. 1572-1607, hier Sp. 1581-1593. - Auf den Widerspruch zwischen dem (scheinbaren) avantgardisti‐ schen Anspruch der Ursonate einerseits und der Traditionslastigkeit der Sonatenform andererseits wurde verschiedentlich hingewiesen. Vgl. etwa Kolago, Musikalische Formen und Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, der im Anschluss an Siegfried Borris eine „Verpö‐ nung“ (S. 169) der Sonatenform in der klassischen Moderne seit etwa 1910 konstatiert, welche laut Borris erst Mitte der 1930er Jahre insbesondere durch das Sonatenwerk Paul Hindemiths wieder rehabilitiert wird (vgl. Borris, Siegfried: „Die Krise der Sonate im 20. Jahrhundert“. Musa - Mens - Musici. Im Gedenken an Walther Vetter. Hg. Institut für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Leipzig 1970, S. 361-378, hier S. 375). Schwitters’ Komposition der Ursonate fällt exakt in diesen Zeitraum und stellt insofern ein musikästhetisches Statement dar. Auch Heißenbüttel (Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters, S. 11) spricht vom traditionellen und überholten Charakter der Sonatenform zur Zeit von Schwitters. Vgl. aber unten, Anm. 62. 59 Borris, „Die Krise der Sonate im 20. Jahrhundert“, S. 361. 60 Vgl. Schwitters, „Meine Sonate in Urlauten“, S. 289 f. 61 Ebd., S. 291. 62 Vgl. Heißenbüttel, Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters: „Indem Schwitters die Sonate phonetisch auffüllt, macht er sich darüber lustig, ja, man versteht Details wie Fortgang nur dann, wenn man das Moment der Parodie mitliest“ (S. 11). Das offenkundigste Argument für den musikalischen Charakter der Ursonate ist jedoch ihre Form: die einer Sonate. Hier benutzt Schwitters ein Kompositionsschema, das am pro‐ minentesten in der Klassik verwendet wurde und das ein Instrumentalstück in vier Sätzen umfasst. 58 Diese werden üblicherweise schnell und kontrastreich (1. Satz), langsam und lyrisch (2. Satz), als stilisierter heiterer Tanz (3. Satz) sowie schnell und wieder mit ver‐ schiedenartigen Themen (4. Satz) gestaltet. Wie Haydn in seinen Sinfonien (als „Sonate[n] für Orchester“) 59 beginnt Schwitters sein Werk mit einer Einleitung, in der bereits Themen des ersten und zweiten Teils zu hören sind. Den ersten Teil der Ursonate verfasst er zunächst nach den dafür vorgesehenen klassischen Kompositionsregeln der sog. Sonatenhauptsatz‐ form: Zu Beginn werden die vier Themen vorgestellt (Exposition), nach einer „überleitung“ folgt die „durcharbeitung“ ( US 215), in der sie weiterentwickelt werden. In diese ‚durchar‐ beitung‘ streut Schwitters allerdings immer wieder völlig unverändert die vier Ausgangs‐ themen wie einen Refrain ein, was ein musikalisches Rondo kennzeichnet und von Schwit‐ ters in seinen Anmerkungen auch als solches benannt wird. 60 Hier zeigt sich zum ersten Mal, dass er die Form einer Sonate nicht vollkommen ernst nimmt, da ein Rondo nach dem klassischen Schema für deren letzten Satz vorgesehen ist. Danach bringt er wieder vor‐ schriftsgemäß die unveränderten Themen in der Reprise, gefolgt von einer Schlussgruppe. Im zweiten Teil (largo) hält sich Schwitters zwar den Kompositionsregeln entsprechend an eine dreiteilige Liedform, bei der sich der erste und dritte Abschnitt gleichen ( ABA -Form). Der gesangliche Charakter wird aber verfremdet: „Das Largo ist metallisch und unbestechlich, es fehlt Sentiment und alles Sensible“. 61 Damit wird endgültig klar, dass Schwitters die strenge Sonatenform ironisch bricht. 62 Außerdem enthält der zweite Teil untypischerweise Elemente des ersten. Der dritte Teil dagegen ist konventionell: ein Scherzo, dessen erster Abschnitt in ABA -Form gehalten ist, gefolgt von einem Trio ( CDC ), das mit seinem lyrischen Ton einen starken Gegensatz zum munteren ersten Abschnitt 90 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 63 Die auf diese Weise entstehende ABA-CDC-ABA-Form wurde v. a. durch Mozart geprägt. Vgl. Grötz, Thomas: „‚Meine Herrschaften, Ihre eingerosteten Ohren klingen‘. Überlegungen zur ‚Ursonate‘ von Kurt Schwitters“. Kurt Schwitters: „Bürger und Idiot“. Beiträge zu Werk und Wirkung eines Gesamt‐ künstlers. Hg. Gerhard Schaub. Berlin 1993, S. 41-51, hier S. 45. 64 Vgl. ebd., S. 46. 65 Schwitters, „Meine Sonate in Urlauten“, S. 292. 66 Ebd., S. 291. 67 Vgl. Grötz, „Überlegungen zur ‚Ursonate‘ von Kurt Schwitters“, S. 46. 68 Scheffer, Anfänge experimenteller Literatur, S. 242. 69 Nündel: Kurt Schwitters. S. 85. 70 Schuldt, „Lautgestaltung“, S. 11. 71 Ebd., S. 12. bildet, der anschließend wiederholt wird. 63 Aber auch hier finden sich unübliche Anklänge an den ersten Teil, wie bspw. „Rrmmp“ bzw. „Rrnnf “ ( US 228) oder „ziiuu“ ( US 229). Den letzten, vierten Teil - wie im klassischen Schema schnell gehalten (presto) - lehnt Schwitters erneut an die Sonatenhauptsatzform (als erlaubte Alternative zum Rondo) an. Dabei taucht eine in dieser Form häufig verwendete Wiederholung der Exposition auf; die vorgestellten Themen werden stärker und früher als üblich miteinander vermischt. In der ‚durcharbeitung‘ greift Schwitters Lautmaterial aller drei vorhergehenden Sätze auf, was einen zusammenfassenden Charakter vermittelt. 64 Die darauf folgende „ablösung“ ( US 237) ist zunächst parallel zur Exposition aufgebaut, besteht jedoch nur aus deren ersten zwei Themen. Damit ist sie deutlich kürzer gehalten als im Rahmen der musikalischen Form vorgesehen. Danach hängt Schwitters eine „kadenz“ ( US 238) an, die bis auf ein einziges neues Thema aus Themen und Motiven der gesamten Ursonate besteht. Wie im klassischen Instrumentalkonzert gibt dies jedem Vortragenden die Möglichkeit, „nach seinem Ge‐ schmack eine beliebige Kadenz aus den Themen der Sonate“ 65 zusammenzustellen. Im „schluss“ ( US 242) verwendet Schwitters mit dem wiederholt rückwärts gereihten Alphabet gänzlich neues Material und bricht damit vollends mit der klassischen Norm, nach der die Motive des vierten Satzes wiederaufgegriffen werden müssen. Um diese Regelwidrigkeit noch zu verstärken, verwehrt er dem Publikum am Ende zudem die Auflösung des ab‐ schließenden Themas, indem er das letzte Alphabet nur bis zum „beeee? “ ( US 242) intoniert. Dadurch vermeidet Schwitters die „Banalität“ 66 eines abgerundeten Endes und schließt die Ursonate in ironischem Ton ab. 67 Ist das nun echte Musik oder lediglich Sprachschrott in musikalischen Formen? Folgt man der Argumentation des Linguisten und Semiotikers Manfred Bierwisch, der sich wie‐ derholt mit dem Vergleich sprachlicher und musikalischer Zeichensysteme befasst hat, kann man die Frage einer zumindest vorläufigen Antwort zuführen. Angesichts der er‐ wähnten Debatten um den musikalischen Charakter der Ursonate, in denen das Werk ab‐ wechselnd als „Fehlversuch“, 68 „weit entfernt […] von den Anforderungen der musikali‐ schen Kompositionslehre“, 69 oder als „Kinderstuben-Unsinnssprache[]“ 70 und „Geröll aus einer Sprache“ 71 bezeichnet wurde, scheint eine grundsätzliche Klärung vonnöten. Da mutet es erst einmal beruhigend an, wenn Bierwisch feststellt, dass Sprache und Musik aus se‐ miotischer Sicht zahlreiche Gemeinsamkeiten besitzen, da beide Zeichensysteme aus akus‐ tischen Signalen bestehen, die zeitlicher Natur sind (was sie etwa von Bildern unterscheidet) und mit Notationssystemen (Schrift / Noten) verknüpft werden können. Damit hängt zu‐ 91 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  72 Vgl. Bierwisch, Manfred: „Sprache und Musik - Zeichentypen und ihre Konsequenzen“. Sprache(n) und Musik. Hgg. Anja Overbeck und Matthias Heinz. München 2012, S. 3-21, hier S. 3 und S. 12. - Die Parallelen zwischen Sprache und Musik bilden den Ausgangspunkt zahlreicher Entwürfe einer Musiksemiotik, etwa bei Martin, Serge: Le langage musical. Sémiotique des systèmes. Paris 1978, S. 39-44, oder bei Stefani, Gino: Introduzione alla semiotica della musica. Palermo 1976, S. 21-35. Vgl. auch den historischen Exkurs „Musik als Sprache“ bei Schneider, Reinhard: Semiotik der Musik. Dar‐ stellung und Kritik. München 1980, S. 148-158, und die kritische Diskussion bei Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 173-190. Ihren Ursprung hat diese Parallelisierung in der engen Beziehung von Musik und Rhetorik in der frühen Neuzeit (vgl. Buelow, George J.: „Rhetoric and music“. The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Bd. 15. Hg. Stanley Sadie. London [u. a.] 1980, S. 793-803). Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht wenige Forscher der Musik einen semiotischen Charakter generell absprechen. Vgl. z. B. Ruwet, Nicolas: Langage, musique, poésie. Paris 1972, S. 12 und ders.: „Théorie et méthodes dans les études musicales: Quelques remarques rétro‐ spectives et préliminaires“. Musique en jeu S. 17 (1975): 11-36, wo er schreibt: „[…] je ne vois pas bien ce qu’on gagne à considérer la musique comme un système de signes ou de communication, à parler de signifiants et de signifiés musicaux ou de sémantique musicale. […] Surtout, je crains qu’une ‚sémiologie musicale‘ […] amène à négliger des aspects fondamentaux de la musique, à propos des‐ quels parler de signes n’a vraiment plus de sens“ (S. 33). 73 Vgl. Bierwisch, „Sprache und Musik“, S. 13 f. - Damit formuliert Bierwisch einen Grundsatz, der bis in die musikalischen Affektenlehren des 17. Jahrhunderts zurückreicht (vgl. Unger, Hans-Heinrich: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert. Würzburg 1941. Repr. Hildes‐ heim [u. a.] 2000, S. 99-112), in der neueren Musiksemiotik jedoch nicht auf das Gefühl (als moderne Form des Affekts) reduziert erscheint, sondern insbesondere die körperliche Komponente musika‐ lischer Zeichen hervorhebt. Vgl. Nattiez, Jean-Jacques: Fondements d’une sémiologie de la musique. Paris 1975, der im Anschluss an Mukařovský von einer „geste sémantique“ (S. 160) spricht, in der sich „manifestations corporelles et l’état émotionnel du sujet“ (S. 148) verbinden; Nicolas Ruwet be‐ tont demgemäß die „aspects concrets, ‚biologiques‘, qui rapprochent la musique de la danse“ (Ruwet, “Théorie et méthodes dans les études musicales”, S. 33). Die körperliche Dimension musi‐ kalischer Zeichen hat auch Roland Barthes in seinen Arbeiten zur Musiksemiotik als „figures du corps“ (Barthes, Roland: „Rasch“. Ders., Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. v. Éric Marty. Paris 1995, S. 295-304, hier S. 300) herausgestellt. Für die Lautsymbolik wurde ein Zusammenhang zwischen physischer Lautartikulation und Bedeutung nahegelegt, auch bei der Verarbeitung lautsymbolischer Reize im Gehirn scheinen die Querverbindungen zwischen auditiven und motorischen Regionen eine wichtige Rolle zu spielen (vgl. Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 130-134 und 203). sammen, dass sowohl Sprache als auch Musik abstrakte Zeichensysteme sind, die (wie‐ derum im Gegensatz zu Bildern) einen Unterschied zwischen dem Zeichentypus (type) und dessen konkreter Realisierung (token) aufweisen, was die prinzipielle Wiederholbarkeit desselben Texts in unterschiedlichen Realisierungsakten (Äußerungen / Vorträgen / Auf‐ führungen) ermöglicht. 72 Die Unterschiede hingegen liegen in den Referenzbereichen, auf die sich die beiden Zei‐ chensysteme beziehen, und in der Art ihrer Bezugnahme auf diese. Können natürliche Sprachen aufgrund des weitgehend konventionellen Symbolcharakters ihrer Zeichen prin‐ zipiell jeden Gegenstand thematisieren, so ist der Bereich musikalischer Zeichen auf das beschränkt, was Bierwisch ‚gestische Form‘ nennt, d. h. auf motorisch-emotionale Kom‐ plexe, 73 die nicht symbolisch-arbiträr, sondern ikonisch-analog repräsentiert werden. Letzteres erläutert Eero Tarasti wie folgt: „In music […] this relation [between the signifier and signified, d.Verf.] is not arbitrary: expression and content are inseparably connected with each other. The slightest change on the level of ex‐ 92 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 74 Tarasti, Eero: A Theory of Musical Semiotics. Bloomington, Indianapolis 1994, S. 11. 75 Bierwisch, „Sprache und Musik“, S. 15. 76 Vgl. ebd., S. 16. 77 Vgl. bereits Jakobson, „Musikwissenschaft und Linguistik“: „Linguistisch formuliert, besteht die Ei‐ genart der Musik gegenüber der Dichtung darin, daß ihre Gesamtheit von Konventionen (langue nach der Terminologie von Saussure) sich auf das phonologische System beschränkt und keine ety‐ mologische Verteilung der Phoneme, also keinen Wortschatz besitzt“ (S. 553). 78 Vgl. Elsen, Einführung in die Lautsymbolik, S. 23. 79 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auf anderem Weg auch Marcel Schellong, wenn er schreibt: „Die Musikalisierung des Textes der Ursonate ist also nicht auf der Ebene ihrer akustischen Realisie‐ rung oder auf der Ebene der Form- und Strukturparallelen zu beobachten, vielmehr kann sie im pression produces a change of content as well. […] Consequently, the relation between signifier and signified in music should be viewed as iconic“. 74 Hinzu kommt, dass in der Sprache die phonetische Form der Signifikanten wegen des prin‐ zipiell willkürlichen Charakters der Zeichenrelation anders organisiert ist als die semanti‐ sche Form der Signifikate (nämlich linear-zeitlich vs. hierarchisch-simultan). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Musik, bei der aufgrund der ikonischen Zeichenbeziehung die Klangform der Signifikanten zugleich die Form der bezeichneten emotional-motor‐ ischen Gesten strukturiert. Musikalische Bedeutung wäre demnach „die Affektstruktur, die der Hörer mit einem Musikstück aufgrund seines Verstehens der Musikalischen Form ver‐ bindet“ 75 - was übrigens nicht heißt, dass er die bezeichneten Affekte tatsächlich in der Rezeption empfinden muss. Zugleich wird dadurch aber auch ein gemeinsamer Bereich von Sprache und Musik ab‐ gesteckt, der sich aus der parallelen Strukturierung von sprachlichen Lauten und musika‐ lischen Klängen ergibt. Die Art, in der die musikalische Form die Struktur ihrer Wahrneh‐ mung (und Artikulation) bestimmt, ist nämlich vergleichbar mit der Funktion der phonetischen Form im Sprachverhalten. Nicht vergleichbar ist hingegen auf der Ebene der Signifikate die Rolle der gestischen Form in der Musik mit der semantischen Form in der Sprache, da hier die unterschiedlichen Zeichentypen und damit auch die gegensätzlichen Zeichenrelationen (ikonisch vs. symbolisch) ins Spiel kommen. 76 Die Kombination musi‐ kalischer Zeichen entspricht demnach - so die für die vorliegende Argumentation zentrale Konsequenz - der Organisationsform sprachlicher Laute. 77 Für die Lautdichtung im Allge‐ meinen und für Schwitters‘ Ursonate im Besonderen bedeutet dies, dass die Sistierung der symbolisch bezeichneten und daher arbiträren Bedeutungsebene die sprachlichen Zeichen auf diejenige Ebene reduziert, die sie mit der Musik gemeinsam haben. Daraus resultiert auch eine andere Bezeichnungsweise der auf ihre Lautform reduzierten sprachlichen Zei‐ chen, die nun nicht mehr symbolisch, sondern ikonisch repräsentieren, sowie ein verän‐ derter Referenzbereich, der nicht mehr das gesamte Feld der Erfahrungen umfasst, sondern sich - wie die Musik - auf die gestische Form i.S. Bierwischs, d. h. auf motorisch-emotionale Strukturen beschränkt. Damit ist nichts anderes gemeint als das, was die Lautsymbolik mit ihren unterschiedlichen Arten - von der physischen über die imitative bis hin zur synäs‐ thetischen Lautsymbolik - im Blick hat. 78 Schwitters Ursonate ist also tatsächlich Lautmusik 79 - und nicht religiöses Rezitativ, wie dies Ball mit seiner Lautdichtung beabsichtigte; sie ist Lautmusik trotz ihrer Anspielungen 93 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  theoretischen Fundament - ihrem Programm - erkannt werden. Lautpoesie - so ist die These - wird also nicht zur Lautmusik, weil sie aus desemantisiertem Sprachmaterial besteht, das möglicherweise zusätzlich noch einem bestimmten musikalischen Syntagma folgt, sondern das desemanti‐ sierte Sprachmaterial und die musikalische Syntax sind Hinweise, dass hier eine literarische Ver‐ handlung einer musikalischen Sache geführt wird. Zugespitzt formuliert: Es geht nicht um musika‐ lische Form im Medium der Literatur, sondern um musikalische Theorie als Form im Medium der Literatur“ (Schellong, Marcel: „Was klingt an ‚Fümms bö wö tää zää Uu…‘? Überlegungen zur Laut‐ poesie und der Konstitution des Musikalischen“. Beobachtungen mit allen Sinnen. Grenzverwi‐ schungen, Formkatastrophen und emotionale Driften. Eine Festschrift für Bernd Scheffer. Hgg. Oliver Jahraus, Marcel Schellong und Simone Hirmer. Frankfurt / M. [u. a.] 2008, S. 181- 194, S. 186). Heiß‐ enbüttel spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „Musikstück mit den Mitteln freier phonetischer Artikulation“ (Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters, S. 8). Um so merkwür‐ diger mutet seine Behauptung an, in Schwitters’ Werk sollten „die beiden Bereiche der Literatur und der Musik miteinander vereint und ineinander verschränkt werden, und zwar von der Seite der Literatur aus“ (ebd., S. 10). 80 Vgl. Fuhrmann, Axel: „Lange vergessen, neu entdeckt! Kurt Schwitters ‚Ursonate‘ - ein visionäres Werk“. Österreichische Musikzeitschrift, 1994, 367-371, hier S. 369. - Sehr genau hingegen notiert Schwitters aufgrund des verwendeten Lautmaterials die Klangfarbe, weshalb Peters die Ursonate als „Klangfarbenkomposition“ (Peters, Manfred: „Die mißlungene Rettung der Sonate“. Musica 31. 3 (1977): S. 217-223, hier S. 218) bezeichnet. Schwitters hat für sein Werk das phonetische Repertoire der deutschen Sprache weitgehend ausgeschöpft, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Gewichtung. Vgl. dazu Fuster-Duran, Angela: „Die Phonetik der Ursonate“. Jack Ox: Die Sonate in Urlauten von Kurt Schwitters. Köln 1993, 18-20, hier S. 18 f. 81 Vgl. beispielhaft die eher puristisiche Hörfunk-Performance des Scherzos durch den Autor: Kurt Schwitters: Ursonate (1932), (https: / / www.youtube.com/ watch? v=6X7E2i0KMqM), die stark rhyth‐ misierte Aufführung des ersten und vierten Teils: URSONATE - kurt schwitters performed by michael schmid (2011), (https: / / www.youtube.com/ watch? v=PXtDkAnJx7o&t=26s), die multiinstrumentale Volleinspielung von Voigt, Alexander: Kurt Schwitters Ursonate. CD. Conträr Musik 2004, die Jazz-Fassung der Einleitung und von Auszügen des zweiten und dritten Teils: Merz Jazz aus Kurt Schwitters‘ „Ursonate“ (2009), (https: / / www.youtube.com/ watch? v=44jRh_kybCI), sowie die theatrale Inszenierung des ersten Teils als Monodrama von Feldman, Shaya: Kurt Schwitters - Ursonate (2012). (https: / / www.youtube.com/ watch? v=svOZr2zN-jc). auf die sprachliche Lexik des Deutschen und trotz ihrer teilweisen Übernahme sprachlicher Prinzipien, wie etwa der Silbenbildungsregeln; sie ist Lautmusik nicht nur und nicht vor‐ nehmlich wegen ihrer lautmalerischen Qualitäten, sondern v. a. aufgrund der semiotischen Eigenschaften ihres Zeichenmaterials, der Lautfolgen: durch die Art ihrer Bezeichnungen (ikonisch statt symbolisch) und durch den Bereich, der damit bezeichnet wird (moto‐ risch-emotional statt universell). An dieser grundsätzlichen Feststellung ändert sich nichts, wenn man zugleich konstatiert, dass die Ursonate ihre Signifikanten weit weniger struk‐ turiert als dies eine originär musikalische Sonate in der Regel tut: Während diese mit einer Vielzahl von Parametern, die etwa den Rhythmus bzw. Takt, das Tempo, die Tonhöhe, die Tondauer, die Dynamik und die Klangfarbe betreffen, ihr Klangmaterial mit großer Präzi‐ sion organisiert, verwendet Schwitters die Parameter Takt, Tempo, Tonhöhe und Dynamik nur gelegentlich, während die Tondauer durch die Anzahl der Lautwiederholungen eini‐ germaßen genau festgelegt wird. 80 Das führt dazu, dass Schwitters‘ Werk in hohem Maße offen für unterschiedliche Realisierungsweisen bleibt, was durch seine inzwischen fast hundertjährige Auffürungsgeschichte (angefangen mit Schwitters‘ eigener Grammophon‐ aufnahme des Scherzos aus dem Jahr 1925 bis zu den Vorführungen im Rahmen des 100-jährigen Dada-Jubiläums 2016) bestätigt wird. 81 Diese Offenheit ändert jedoch nichts 94 Günter Butzer und Cornelia Wörmann 82 Schwitters, „Meine Sonate in Urlauten“, S. 289. - Peter Froehlich spricht in Bezug auf Texte wie den der Ursonate von „‚Vorführungs-Vorlagen‘ (performance scores)“ und fährt fort: „Solche Stücke sollte man von herkömmlichen Texten, die sich, schriftlich oder gedruckt, als in sich geschlossene Kunst‐ werke geben, unterscheiden. ‚Vorführungs-Vorlagen‘ sind, wie die Noten oder Partituren in der Musik, in Wirklichkeit nur Notierungen für etwas anderes. Als solche und an sich sind sie in ihrer schriftlichen Fixierung unvollständig und lassen sich erst dann richtig würdigen, wenn sie zur Vor‐ führung gebracht werden“ (Froehlich, A. J. Peter: „Reaktionen des Publikums auf Vorführungen nach abstrakten Vorlagen“. Sinn aus Unsinn: Dada international. Hgg. Wolfgang Paulsen und Helmut G. Hermann. Bern, München 1982, S. 15-28, hier S. 15). 83 Vgl. Schwitters, Kurt: „Leseabend“ [1921]. Ders., Das literarische Werk, Bd. 5, S. 409-410, hier S. 409. 84 Franz, Kurt Schwitters’ Merz-Ästhetik, S. 48. daran, dass der gedruckte Text der Ursonate denselben Stellenwert wie eine musikalische Partitur einnimmt und demnach das eigentliche Werk einen strikt performativen Charakter hat - mit den Worten Schwitters’: „Besser als zu lesen ist die Sonate zu hören“. 82 Damit kann zu guter Letzt auch die Frage nach dem Status der Ursonate im Kontext der Avantgarde-Bewegungen beantwortet werden: Gerade sein Doppelcharakter von fixiertem Text / Partitur und Vortrag stellt es nur scheinbar in die Tradition dadaistischer oder sur‐ realistischer Aktionen und Happenings, die sich im performativen Akt erschöpfen und auf die Zerstörung der Grenze zwischen Akteuren und Publikum gerichtet sind. Demgegenüber hat Schwitters nicht nur bei seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks, sondern auch in Bezug auf die Aufführungspraxis der Ursonate stets auf der Einhaltung der Grenze zwischen performendem Künstler und Publikum bestanden. So verliefen seine eigenen Aufführungen wie ein klassisches Musikkonzert: Er trug vor, das Publikum verhielt sich still und hörte zu 83 - und so ist es, wenn man die zahlreichen, auf Youtube dokumentierten oder auf CD verbreiteten Performances der Ursonate verfolgt, bis heute geblieben. Schwitters’ Ziel war nicht die Überführung von Kunst in Lebenspraxis, sondern die Schöpfung einer „eigene[n] ästhetische[n] Kunstwelt mit eigenen Regeln“, 84 die sich deutlich von ihrer Umwelt ab‐ grenzt. Zwar bedient er sich in der Ursonate der von den Dadaisten wenn nicht erfundenen, so doch konsequent praktizierten und theoretisch reflektierten Lautpoesie; deren Übertra‐ gung in ein konventionelles musikalisches Formenrepertoire sowie das bei aller Provoka‐ tion dennoch geforderte Festhalten an den Strukturen des bürgerlichen Musikbetriebs mit Aufführung vor kontemplativem Publikum weisen jedoch unmissverständlich darauf hin, dass Schwitters mit der Ursonate, anders als die Avantgarde-Bewegungen, die traditionellen Kunstinstitutionen nicht zerstören wollte, sondern darauf abzielte, eine zumindest teilweise prä-avantgardistische Kunstwelt wiederherzustellen, oder besser: eine autonome Kunst‐ welt mit avantgardistischen Verfahren zu errichten. 95 Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate  Literaturverzeichnis Apel, Karl-Otto: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt / M. 1975. 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Kurt Schwitters’ Ursonate  1 Esterházy, Péter: „Dankesrede“. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2004. Peter Esterhazy. Hg. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2004, S. 9-15. Online abrufbar unter: https: / / www.frieden spreis-des-deutschen-buchhandels.de/ sixcms/ media.php/ 1290/ 2004%20Friedenspreis%20Reden.pdf, S. 14. 2 Beauvoir, Simone de: La Force de l’âge I. Paris 1960, S. 157. 3 Trotzki, Leo (Trotsky, Léon): „Céline et Poincaré“ [Auszug]. Cahiers de l’Herne - L. F. Céline (voll‐ ständiger Neudruck der Cahiers de l’Herne n° 3 und n° 5). Paris 1972, S. 434-435, S. 434. 4 Unter dem Begriff „argot“ fasst man im Französischen eine Reihe soziolektaler Abweichungen von der Standardsprache zusammen, die mitunter bis in die frühe Neuzeit zurückreichen. So kann im ursprünglichen Argot ähnlich dem seit dem Mittelalter belegten deutschen Rotwelsch eine Gauner- Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit Till R. Kuhnle „Was für ein beschissener Mensch, was für ein großer Schriftsteller! ” 1 Mit diesen Worten würdigt Péter Esterházy in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhan‐ dels das Werk Louis Ferdinand Célines, Pseudonym des aus dem Pariser Industrievorort Courbevoie stammenden französischen Arztes und Schriftstellers Louis-Ferdinand Des‐ touches. In der Tat verfügte Céline über eine Persönlichkeit, die nicht nur literarisch, sondern auch politisch und nicht zuletzt menschlich zu spalten vermochte - und noch immer vermag. Nachdem er verwundet und offenkundig schwer traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen war, promovierte er 1924 mit einer Arbeit über den Pionier der Hygiene im Kreissaal Ignaz Semmelweis und ließ sich dann als Armenarzt in der Pariser Banlieue nieder. Seine Dissertation - La Vie et l’œuvre de Philippe Ignace Semmelweis - zeichnete sich indes eher durch ihre literarischen als durch ihre wissenschaftliche Qualität aus: Sie ist eine Erzählung, in welcher der Wiener Arzt zu einem verkannten maudit stilisiert wird. Das Erscheinen seines ersten Romans Voyage au bout de la nuit (Reise ans Ende der Nacht) im Jahr 1932 kam einem Paukenschlag gleich. 2 Der Roman fand enthusiastischen Zuspruch sowohl bei Linksintellektuellen wie dem engagierten Schriftsteller Paul Nizan, dem jungen Claude Lévi-Strauss und dem Revolutionär Leo Trotzki, der in ihm einen Mo‐ ralisten erkannte, 3 als auch bei einem der Vordenker der extremen Rechten in Frankreich, Léon Daudet. Der Roman sollte in den darauffolgenden Jahren, ja Jahrzehnten, die franzö‐ sische Literatur und Philosophie nachhaltig beeinflussen. Dennoch erhielt der Bestseller nicht den renommierten Literaturpreis Goncourt, obwohl er für diesen als Favorit nominiert worden war. Der Grund hierfür lag vor allem in der heftigen, sich in einem regelrechten Stakkato entladenden Sprache, die keine Obszönität scheut und sich eines ins Künst‐ lich-Manierierte gesteigerten Argots bedient: 4 ein Stil, der eine deutliche Affinität zum Ex‐ und Vagantensprache mit kryptolektaler Funktion gesehen werden. Die für den Argot charakteris‐ tischen Abweichungen von der Schriftsprache in Morphologie und Syntax folgen meist festen Mus‐ tern. Von besonderer Produktivität ist indes die Wortbildung, insbesondere in den Bereichen der Körper- und Sexualfunktionen sowie auf vielen Feldern der Alltagskommunikation. Besondere Ver‐ breitung findet der Argot noch heute im sogenannten Milieu, aber auch in vielen überwiegend an geschlossenen Orten und meist von Männern ausgeübten Berufen, wobei er hier eine oft mit tech‐ nischen Fachbegriffen durchsetzte Form annimmt (Beispiele: Armee, Strafvollzug, Seefahrt, Bergbau …). Vielen Sprechern des Französischen gilt heute der Argot als eine besonders vulgäre Form der Volkssprache. 5 Avec la médecine, moi, pas très doué, tout de même je m’étais bien rapproché des hommes, des bêtes, de tout. (V 240). 6 Der in der Reihe Bibliothèque de la Pléiade besorgten Edition der Romane Célines wurde eigens ein Glossar beigefügt. 7 Voyage au bout de la nuit wurde erstmals von Izak Grünberg ins Deutsche übersetzt. Die Zeitschrift Blaue Hefte veröffentlichte am 16. Oktober 1933 erste Auszüge. Das Buch Reise ans Ende der Nacht erschien im Dezember 1933 im Verlag Julius Kittels Nachfolger (Leipzig-Mährisch-Ostrau). Von den drei Auflagen, die gedruckt wurden, vermerkte allerdings nur die erste den Namen des jüdischen Übersetzers, der von seinem Pariser Exil aus gegen die verstümmelte Ausgabe seiner Arbeit protes‐ tierte. 1937 erschien Tod auf Borg (Mort à crédit) ohne Angaben zum Übersetzer, gefolgt von Mea culpa und das Leben des Arztes Semmelweis, übertragen von Margarete Stern. Der Zwinger-Verlag in Dresden veröffentlichte 1938 unter dem Titel Die Judenverschwörung in Frankreich die gründlich ‚überarbeitete‘ und im Sinne des NS-Regimes ideologisch ‚gereinigte‘ Version von Bagatelles pour un massacre, in der vor allem die antisemitischen Tiraden akzentuiert wurden. Zu den hier gemachten pressionismus aufweist. In Deutschland etwa begrüßte Gottfried Benn den Roman, der in seiner gewagten Sprache zum Vergleich mit dem expressionistischen Meisterwerk Berlin Alexanderplatz (1929) von Alfred Döblin herausfordert. Für Benn und Döblin, die wie Céline Ärzte waren, dürfte wohl auch die Selbsteinschätzung des Armenarztes Ferdinand Bar‐ damu, des Protagonisten und Ich-Erzählers von Voyage au bout de la nuit, zutreffen: „Ob‐ wohl ich nicht gerade eine Leuchte war, war ich dank der Medizin den Menschen, den Tieren, allem viel näher gekommen“ (R 318). 5 Vier Jahre später, 1936, legte Céline, der die Niederlage bei der Vergabe des Goncourt nie überwinden sollte, mit Mort à Crédit (Tod auf Kredit) kräftig nach: Die expressive Sprache steigerte sich in ihrer Aggressivität und der eigenwillige Argot nahm zusehends verstie‐ genere, mitunter auch für den französischen Muttersprachler nur schwer zu verstehende Formen an. 6 Die Kritik zeigte sich irritiert, zumal der Romancier sich nun definitiv nicht mehr im linken Spektrum verorten ließ: Unter dem Eindruck einer enttäuschenden Mos‐ kaureise schockierte er schließlich die literarische Szene mit der antikommunistischen Hetzschrift Mea culpa (1936 / 37). Die anfangs pazifistische Haltung des im Ersten Weltkrieg verwundeten Céline, der noch in Voyage au bout de la nuit einen schonungslos entlarvenden Blick gerade hinter die Ku‐ lissen des Krieges geworfen hatte, wich der eines Hetzers gegen die Regierung Blum - noch immer unter dem Vorwand, Europa vor dem Krieg mit Hitler bewahren zu wollen. Gleich‐ zeitig steigerte sich sein Judenhass ins Pathologische und entlud sich mit dem aggressiven Pathos seines Stils in einer Reihe wüster Pamphlete: Bagatelles pour un massacre (1937, wörtlich: Kleinigkeiten für ein Massaker), L’École des cadavres (1938, wörtlich: Die Kadaver‐ schule) und schließlich Les beaux Draps (1941, sinngemäß: Das haben wir uns was einge‐ brockt), in dem er dann 1941 offen für Nazideutschland Partei ergriff. 7 102 Till R. Kuhnle Angaben vgl. Alain de Benoist: Céline et l’Allemagne (1933-1944). Une mise au point. Paris 1996. Nach dem Krieg erschienen Neuübersetzungen von Voyage au bout de la nuit / Reise ans Ende der Nacht (1958 von Werner Rebhuhn) und Mort à crédit / Tod auf Kredit (1963 von Werner Bökenkamp) bei Rowohlt. 8 Levinas, Emmanuel: „De l’Évasion“. Recherches philosophiques V (1935-36): S. 373-392. [Buchaus‐ gabe: De l’Évasion. Paris 1998], hier S. 384, Übersetzung T. R. K. 9 Vgl. hierzu den Beitrag zur Genese des existentialistischen Diskurses von Kuhnle, Till R.: „L’insou‐ tenable fardeau de l’être: Benjamin Fondane devant Sartre et la ‚nouvelle génération existentielle’“. Europe N° 972 - Dossier: Kierkegaard / Penseurs existentiels des années trente / Paul Gadenne. Hg. Mo‐ nique Jutrin. Paris 2010, S. 233-254. Nach der Befreiung Frankreichs floh der wegen Kollaboration mit den deutschen Besat‐ zern verfolgte Céline zunächst nach Deutschland. Nach einer Odyssee durch das zerfallende Reich, zu deren wichtigsten Stationen Sigmaringen und Berlin gehörten, gelang es ihm schließlich, nach Dänemark zu entkommen, wo er für längere Zeit inhaftiert wurde. Eine Auslieferung an Frankreich, wo ihm - wie Robert Brasillach, der 1945 hingerichtet worden war - wegen Kollaboration die Todesstrafe drohte, kam indes nicht zustande. Schließlich wurde er in Abwesenheit zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Erst nach einer Amnestie im Jahr 1951 sollte er unter Auflagen nach Paris zurückkehren und seinen Beruf als Arzt wiederaufnehmen. Ungeachtet seiner exzessiven rechtsextremen Rhetorik gilt Céline, wie Esterházy zu‐ treffend feststellt, noch immer als ein großer Schriftsteller, dessen Erstling zumindest einen festen Platz in der französischen Geistesgeschichte beanspruchen kann. Überdies er‐ schienen ab 1981 seine Romane und Briefe in der für Frankreich kanonbildenden Biblio‐ thèque de la Pléiade. Beeinflusst von den jansenistischen Moralisten Blaise Pascal und La Rochefoucauld, von den deutschen Philosophen Nietzsche und Schopenhauer, von der Psychoanalyse Sigmund Freuds, aber auch von dem genialen Abenteuerschriftsteller Joseph Conrad, trug Céline dazu bei, dass der aufkommende französische Existentialismus sich von der deutschen Existenzphilosophie lösen und zu seinen eigenen Metaphern und schließlich Begriffen finden konnte. So schrieb 1935 der junge Emmanuel Levinas in seinem bahnbrechenden Essay De l’Évasion (in der deutschen Übersetzung: Ausweg aus dem Sein), es sei das große Verdienst von Voyage au bout de la nuit gewesen, „dank einer wunderbaren Sprachkunst, das Universum mit einem traurigen und verzweifelten Zynismus bloßgestellt zu haben“. 8 Levinas erkannte in Célines Roman die literarische Transposition jener unerträglichen Ausweglosigkeit des Seins, die zum herausragenden Thema eines zusehends existentialis‐ tisch gestimmten Geisteslebens - nicht nur in Frankreich - werden sollte 9 . Aus der hier skizzierten philosophisch-literarischen Perspektive heraus wollen wir uns im Folgenden Ferdinand Bardamu annähern, während wir ihn auf einigen Stationen seiner Reise ans Ende der Nacht begleiten. Dem sei vorausgeschickt, dass Célines Protagonist sich keineswegs in die Rolle eines nüchternen Erzählers fügt. Im Gegenteil: Er nimmt die Pose eines Redners ein, der sich direkt an den Leser wendet, wobei seine Rhetorik mit ihrer dezidiert persuasiven Diktion zumeist die Oberhand über den narrativen Diskurs gewinnt. Am besten stelle man sich Bardamu als jemanden vor, der uns in einer Kneipe mit dem Pathos jener, die alles zu kennen glauben, seine Lebensgeschichte aufdrängt, wobei er zum Nachdruck seinen Oberkörper über den Tisch schiebt und unerbittlich unsere Gläser nach‐ 103 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit 10 Je me disais toujours que la première lumière qu’on verrait ce serait celle du coup de fusil de la fin (V 27). 11 Mais quand on a les feux à regarder la nuit passe bien mieux, c’est plus rien à endurer, c’est plus de la solitude (V 29). 12 On faisait la queue pour aller crever (V 30). 13 Pascal, Blaise: Pensées. ders.: Œuvres complètes. Hg. Jacques Chevalier. Paris 1954. [Der deutsche Text folgt der Übersetzung durch Karl Adolf Blech von 1840, wiedergegeben in der digitalen Bibliothek Philosophie von Platon bis Nietzsche], S. 1180, im Original: Qu’on s’imagine un nombre d’hommes dans les chaînes, et tous condamnés à la mort, dont les uns étant chaque jour égorgés à la vue des autres, ceux qui restent voient leur propre condition dans celle de leurs semblables, et, se regardant les uns et les autres avec douleur et sans espérance, attendent à leur tour. C’est l’image de la condition des hommes. Kursive Ergänzungen von T. R. K. füllt - nicht im Geringsten gewillt, seine Zuhörer aus dem Gespräch zu entlassen, zumindest nicht ohne ihnen zu Sentenzen gebündelte Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben. So beginnt auch der Roman mit einem Kneipengespräch im Jahr 1914. Angestachelt von der erhitzten Diskussion und schließlich mitgerissen von einer Militärparade, meldet sich Ferdinand Bardamu als Freiwilliger für den Krieg gegen die Deutschen. An der Front aber wird er rasch von jeglicher pathetischen Begeisterung kuriert: Der Krieg zeigt seine absurde und brutale Fratze. Auf den nächtlichen Schlachtfeldern Flanderns muss Bardamu erfahren, dass Leben und Tod zu einer unverbrüchlichen Einheit gerinnen, ja das Leben erst im Au‐ genblick des Todes in seiner ganzen Fülle aufscheint: „Ich dachte immer, das erste Licht, das wir sehen, das wird der Funke des Schusses, das Ende sein“ (R. 26). 10 Die Suche der versprengten Soldaten nach ihrem Kommandanten lässt hic et nunc allen Sinn auf eben diese Suche zusammenschrumpfen (vgl. V 27; R 36). In der Orientierungslo‐ sigkeit der Nacht auf dem Schlachtfeld setzen brennende Dörfer so etwas wie Wegmarken, die Orientierung verheißen (vgl. V 29; R 40). Das Aufscheinen tödlichen Lichts markiert seltene und daher besonders intensive Momente des Lebens, in denen sich der Soldat nicht allein auf sich verwiesen fühlt: „Aber wenn man einem Feuer zuschauen kann, vergeht eine Nacht viel angenehmer, es ist keine Strapaze mehr, keine wirkliche Einsamkeit“ (R 40). 11 Doch angesichts der schnell niedergebrannten Dörfer bleibt allein die Erkenntnis, in der Falle zu sitzen: „Wir standen Schlange zum Krepieren“ (R40). 12 Diese Schilderungen sind ein erster deutlicher Hinweis im Roman auf Blaise Pascal, der in seinen Pensées schrieb: Man denke sich eine Anzahl Menschen in den Ketten und alle zum Tode verurteilt, die einen werden jeden Tag vor den Augen der andern erwürgt und die, welche bleiben, sehen ihre eigene Lage in der Lage ihrer Genossen und sich einer den andern mit Schmerz und ohne Hoffnung betrachtend, erwarten sie, daß die Reihe an sie komme. Das ist das Bild von der Lage der Men‐ schen - de la condition des hommes [lat. conditio humana]. 13 Bardamu wird Zeuge wie sich ein Offizier einfach über den Haufen schießen lässt. Er irrt über die nächtlichen Schlachtfelder Flanderns, wo er auf Léon Robinson trifft - ein Kamerad der des Öfteren noch seine Wege kreuzen wird. Andes als dieser beschließt Bardamu, nicht zu desertieren, und so ereilt ihn dann das schon unvermeidliche Schicksal: Er wird ver‐ wundet und kommt nach Paris in ein Lazarett. Als ihm eine Medaille überreicht wird, trifft er die amerikanische Krankenschwester Lola, mit der er eine oberflächliche Beziehung 104 Till R. Kuhnle 14 Alors je suis tombé malade, fiévreux, rendu fou, qu’ils ont expliqué à l’hôpital, par la peur. C’était possible. La meilleure des choses à faire, n’est-ce pas, quand on est dans ce monde, c’est d’en sortir ? Fou ou pas, peur ou pas (V 60). 15 Ainsi passèrent des jours et des jours, je reprenais un peu de santé, mais au fur et à mesure que je perdais mon délire et ma fièvre dans ce confort, le goût de l’aventure et des nouvelles imprudences me revint impérieux. À 37° tout devient banal (V 190). 16 Plus de mystère, plus de niaiserie, on a bouffé toute sa poésie puisqu’on a vécu jusque-là. Des haricots, la vie (V 210). eingeht. Eines Abends, als er Lola ausführt, erleidet er einen Anfall: Er sieht sich und seine Mitmenschen von einem Kugelhagel bedroht und muss abgeführt werden. Der Krieg hat ihn wieder eingeholt. Lapidar kommentiert er selbst diesen Anfall mit den Worten: Und dann wurde ich krank, bekam Fieber, wurde verrückt, aus Angst, wie sie mir im Krankenhaus erklärten. Schon möglich. Das Beste, was man tun kann, wenn man auf der Welt ist, das ist doch, sie schnellstens wieder zu verlassen, ob aus Angst oder ohne (R 80). 14 Der Wahnsinn erscheint hier als eine - wenn nicht die - Möglichkeit, der unerträglichen Ausweglosigkeit des Seins, der conditio humana, zu entfliehen. Für den Patienten Bardamu folgt jedenfalls eine Reihe von Aufenthalten in verschiedenen Krankenhäusern: der kläg‐ liche Versuch ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Nachdem ihn Lola verlassen hat, lernt er die leichtlebige Musikerin Musyne kennen, die sich alsbald von ihm abwenden wird. Nach dem Abschied aus der Armee und mit einigen Semestern Medizin als Qualifikation in der Tasche bricht er nach Afrika auf. An Bord der Amiral-Bragueton, fühlt er sich als Außenseiter von seinen Mitreisenden gedemütigt, wo‐ rauf er sich bei einem ersten Halt vor der afrikanischen Küste vorzeitig davonmacht. In der Colonie de la Bambola-Bragamance findet er Arbeit: Ihm wird der Kontor von Fort-Gono in der Wildnis anvertraut. Dort trifft er wieder auf Robinson, der sich anschickt, auch dieser neuen Hölle zu entfliehen. Bardamu harrt zunächst aus, doch bald befällt ihn heftiges Fieber und im Delirium macht er sich auf den Weg durch die Wildnis, wo er nur knapp dem Tod entgeht. Hier indessen gelangt er zu einer für ihn fundamentalen Einsicht: So verging Tag um Tag, ich erholte mich wieder etwas, doch je weniger ich in diesem komfortablen Dasein fieberte und fabulierte, desto unausweichlicher machte sich mein Drang nach Abenteuer und nach neuen Dummheiten bemerkbar. Bei 37° wird alles banal (R 252). 15 Er entdeckt das unhintergehbare Paradox des Lebens, das Ungemach, Grausamkeit und Hinterlist erfordere, nur um sich halbwegs bei 37° Celsius zu halten. Mit anderen Worten, ein tiefer Lebensekel befällt ihn: Kein Geheimnis mehr, keine Unverdorbenheit, man hat seine ganze Poesie gefressen, während man bis jetzt gelebt hat. Ein Scheißspiel, das Leben (R 278). 16 Die angestrebte normale Körpertemperatur ist Ausdruck eines Bedürfnisses nach Sicher‐ heit, das den Bürgern wie den armen Schluckern eigen sei. In seinem Pamphlet Les beaux Draps wird er das Bild noch zuspitzen: Das ist alles dasselbe Gefühl, dieselbe Krankheit, dasselbe Grauen. Das Ideal einer Boa mit ihren vierzehn Tage andauernden Verdauungsprozessen. Alles rollt sich ein, rollt sich zu einem Knäuel, 105 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit 17 Céline, Louis-Ferdinand: Les beaux Draps. Paris 1941, S. 70, im Original: Mais c’est tout ce même sentiment, la même maladie, même horreur. L’idéal « boa », des digestions de quinze jours. Tout ça roule, roule en pelote, reptiles. Tout ça roule tout venin, tiédasse, dépasse pas 39°, c’est un malheur pire que tout, l’enfer médiocre, l’enfer sans flamme. Y a des guerres qu’arrivent heureusement des plus en plus longues, c’est fatal. La terre se réchauffe. Übersetzung: T. R. K. 18 Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authoritative Text, Backgrounds and Contexts, Criticism. Hg. P. B. Armstrong. New York / London 2006, S. 47. 19 Zu den Quellen vgl. Kuhnle, Till R.: „Céline célébrant l’apocalypse de l’Ennui“. Alkemie. Revue se‐ mestrielle de littérature et de philosophie. Paris 2016, S. 157-169. Reptilien. Alles rollt sich zusammen giftig, lauwarm, übersteigt nicht 39°: das ist ein Unglück, schlimmer als alles andere, Hölle der Mittelmäßigkeit, Hölle ohne Flammen. Kriege gibt es, die zum Glück immer länger werden. Das ist fatal. Die Erde heizt sich auf. 17 Diese Kritik an einem sich selbst genügenden Dasein erinnern an Joseph Conrads Heart of Darkness. Im Herzen der Finsternis - inmitten des Kongo - widerfährt dem Erzähler ein existentiellen Abenteuer, dem der Begriff ‚Abenteuer’ eigentlich nicht mehr gerecht wird, da sich das dort Erlebte definitiv der narrativen Transposition entzieht: ‚Absurd! ‘ he cried. ‚This is the worst of trying to tell. . . . Here you all are, each moored with two good addresses, like a hulk with two anchors, a butcher round one corner, a policeman round another, excellent appetites, and temperature normal—you hear—normal from year’s end to year’s end. And you say, Absurd! Absurd be—exploded! Absurd! ‘ 18 Nach unserem Dafürhalten hat Conrads Novelle Heart of Darkness nicht nur die Ausge‐ staltung der Afrikasequenz in Célines Voyage au bout de la nuit beeinflusst, sondern auch den Titel des Romans. 19 Doch wollen wir Bardamu weiter auf seiner Reise begleiten. Noch von der Tropen‐ krankheit gezeichnet begibt er sich an Bord eines spanischen Schiffes, das den von heftigen Krankheitsschüben und Fieberwahn Geschüttelten nach New York bringt. Bei seiner An‐ kunft in Manhattan muss Bardamu sich zunächst in Quarantäne begeben, und endlich in der verheißungsvollen Stadt New York angekommen, stürzt er wieder in Armut und Ein‐ samkeit. Er trifft dort auch auf die verwöhnte Lola, die ihn als Kuriosität in mondänen Kreisen herumreicht, um ihn dann mit ein paar Dollar abzuspeisen. In Detroit erhält er nach einem erniedrigenden Einstellungsgespräch in den Ford-Werken Arbeit. Dem gnadenlosen, von den Maschinen bestimmten Rhythmus der Produktion ist er jedoch nicht gewachsen: Tief gedemütigt rutscht er bald auf die unterste Stufe in der Pro‐ duktionshierarchie. Die großherzige Prostituierte Molly rettet ihn aus diesem Moloch. Sie liebt ihn und hofft auf eine gemeinsame kleinbürgerliche Zukunft. Doch Bardamu ist ein Getriebener und drängt zum Aufbruch, zumal ihn die Vergangenheit wieder in Gestalt Ro‐ binsons eingeholt hat, der sich ebenfalls in den USA durchzuschlagen sucht. Schließlich kehrt nach Paris zurück, wo er mehr schlecht als recht sein Medizinstudium abschließt. In Rancy, einem der armen Vororte der banlieue parisienne, eröffnet er seine Praxis. Hier sind es seine zahlungsunfähigen und meist auch zahlungsunwilligen Patienten, die ihn mit den tiefsten und brutalsten Niederungen menschlicher Existenz konfrontieren. So masturbiert die Mutter einer kleinen Patientin Bardamus unaufhörlich am Sterbebett ihres Kindes, was der Armenarzt mit dem lapidaren Satz kommentiert: 106 Till R. Kuhnle 20 Ça prouve qu’on ne peut pas exister sans plaisir même une seconde et qu’il est difficile d’avoir vraiment du chagrin. C’est comme ça l’existence (V 351). 21 Contre l’abomination d’être pauvre, il faut, avouons-le, c’est un devoir, tout essayer, se soûler avec n’importe quoi, du vin pas cher, de la masturbation, du cinéma (V 212). 22 Pascal, Pensées, S. 1147, im Original: Sans cela nous serions dans l’ennui, et cet ennui nous pousserait à chercher un moyen plus solide d’en sortir, mais le divertissement nous amuse et nous fait arriver sensiblement à la mort. Kursive Ergänzungen von T. R. K. Was beweist, dass man nicht ohne Freude leben kann, auch nicht eine Sekunde lang, und wie schwierig es ist, wirklich Kummer auszuhalten. So sieht das Leben aus (R 459). 20 Die Masturbation gerät zur Zwangshandlung, da die schale Befriedigung unweigerlich in den Abgrund des alles lähmenden Lebensekels - des ennui - mündet. Der Zwang zur stän‐ digen Masturbation ist mit den Mechanismen des Produktionsapparates vergleichbar, den Bardamu bei den Ford-Werken in Detroit kennengelernt hat. Nicht die Befriedigung ist das Ziel, sondern ausschließlich der Akt der Lustgewinnung selbst, womit - um es frei mit Freud und Marcuse zu formulieren - das Lustprinzip im Realitätsprinzip aufgeht. Zu den schalen Formen der Lustbefriedigungen seien, so Bardamu, vor allem die Angehörigen der Unterschicht verurteilt: Gegen das widerwärtige Gefühl, arm zu sein, muss man einfach alles versuchen, geben wirs zu, das ist unsere Pflicht, man muss sich egal womit betäuben, mit Wein, keinem teuren, mit Mastur‐ bation, mit Kino (R 280). 21 Auch hier ist wieder die Stimme Pascals zu vernehmen. Dieser schrieb in seinen Pensées, dass zwar das divertissement - die Zerstreuung - den Menschen in seinem Elend tröste, jedoch lenke ihn dieser einzige Trost davon ab, sich auf sich selbst und vor allem auf Gott zu besinnen. Die Folge sei, dass er sich verliere: Ohne dieses würden wir nur Mißbehagen - ennui - empfinden und dies Mißbehagen - dieser ennui - würde uns treiben irgendein sicheres Mittel zu suchen um demselben zu entgehen. Aber die Zerstreuung - das divertissement - betrügt uns, ergötzt uns und bringt und unmerklich bis zum Tode. 22 An dieser Stelle sei eine kurze Digression zu dem für Pascal - und später für Céline - zentralen Begriff des ennui eingefügt. In der Tat befriedigen die Übersetzungen mit „Miss‐ behagen“ oder „Elend“, die man in den deutschen Ausgaben der Pensées von Pascal findet, nur wenig. Bei dem jansenistischen Philosophen und Theologen, der sich hier der Sprache des französischen Hofes bedient, geht der ennui auf eine der sieben Todsünden zurück: die acedia, oft mit „Trägheit des Herzens“ übersetzt. Damit ist eine mit Überdruss und Ekel einhergehende spirituelle Lähmung gemeint - zu der auch die bloße Langeweile zählt. Vor allem mit der nachhaltig von Pascal geprägten Lyrik Baudelaires erscheint der den roman‐ tischen Weltschmerz (für den oft ebenfalls der Terminus „ennui“ steht) ablösende ennui als das für die Pathogenese der Moderne charakteristische Symptom, dessen Darstellung sich durch die französische Literaturgeschichte hindurchzieht und mit dem sich etwa auch Mi‐ chel Houellebecq intensiv auseinandersetzt, der inzwischen wohl etwas müde gewordene Skandalautor der französichen Gegenwartsliteratur. Für Célines Bardamu ist der ennui allgegenwärtig: 107 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit 23 Vivre tout sec, quel cabanon! La vie est une classe dont l’ennui est le pion, il est là tout le temps à vous épier d’ailleurs, il faut avoir l’air d’être occupé, coûte que coûte, à quelque chose de passionnant, autrement il arrive et vous bouffe le cerveau. Un jour, qui n’est rien qu’une simple journée de 24 heures c’est pas tolérable. Ça ne doit être qu’un long plaisir presque insupportable, une journée, un long coït une journée de gré ou de force (V 354). Kursive Ergänzung im Text von T. R. K. 24 On l’a bien été chassés du Paradis (V 362). 25 L’ordure elle, ne cherche ni à durer ni à croître. Ici, sur ce point nous sommes plus malheureux que la merde, cet enragement à préserver dans notre état constitue l’incroyable torture (V 337). Nur einfach so leben, da wäre man ja bald reif für die Klapsmühle! Das Leben ist ein Klassenzimmer, und der Aufseher darin ist dann die Langeweile - der ennui -, sie ist die ganze Zeit da, um uns zu beäugen, wir müssen so tun, als wären wir beschäftigt, koste es, was es wolle, mit irgendwas ganz Tollem, sonst kommt sie und frisst einem das Hirn weg. Ein Tag, der nur ein schlichter Tag von vierundzwanzig Stunden wäre, der wäre ja nicht auszuhalten. Ein Tag muss ein einziges lang gestrecktes, fast unerträgliches Vergnügen sein, ein Tag muss ein langer Koitus sein, ob man nun will oder nicht (R 463 f.). 23 Céline nimmt die jansenistische Tradition auf, welche die Lehre von der Erbsünde und damit von der unaufhebbaren Verderbtheit des Menschen zugespitzt hat: „Aus gutem Grund hat man uns aus dem Paradies gejagt“ (R 474). 24 Die Allgegenwart des skatologischen Vokabulars bei Céline - „merde“, „fiente“, „caca“… - ruft fortwährend die dem heiligen Augustinus zugeschriebenen Worte in Erinnerung: Inter faeces et urinam nascimur - zwischen Kot und Urin werden wir geboren. Der Mensch, so Céline, sei nur eine Hülle für lauwarme und halb verweste Eingeweide; er stehe noch übler da als der Müll und der Schmutz, welche die in der Nacht auszulotende Dunkelheit aus‐ mache: Der Mist will weder überleben noch wachsen. In diesem Punkte sind wir viel schlechter dran als die Scheiße, unsere unermessliche Folter besteht eben darin, dass wir so beharrlich in unserem Zustand fortdauern wollen (R 442). 25 Die Grausamkeit der conditio humana besteht demnach darin, dass dem Menschen die In‐ differenz des Schmutzes verwehrt bleibe. Der ennui Pascals meint einen abgrundtiefen Lebensekel, die Zerstreuung (divertisse‐ ment) dagegen die Flucht aus dem Trübsal (tristesse). Nur der Verzicht auf diese Flucht eröffnet die Möglichkeit zu einem wahrhaften Aufbruch. Dieses ‚Mittel‘ ist bei Pascal der Glaube, dem der Weg durch den ennui hindurch gebahnt wird. Bei Céline hingegen - der wie Pascal gegen das schale divertissement, die bloße Zerstreuung angeht - bleiben als einzig authentische Optionen nur der Abstieg in die Nacht und die Ekstase des délire. Schon in den Tiefen Afrikas, in Fort Gono, hat Bardamu die Erfahrung gemacht, dass für ihn der délire - was hier einnmal mit „Wahn“ übersetzt sei - einen besonderen Moment zeitigt. Im délire wähnt sich Bardamu dem Menschlich-Allzumenschlichen enthoben: Er fühlt sich in der erhabenen Position des Übermenschen. Auf seine eigene Weise hat er sich die Reden von Nietzsches Zarathustra, aber auch Elemente aus Die Geburt der Tragödie angeeignet. So wird er in Bagatelle pour un massacre erklären, dass er - wie Nietzsches Zarathustra - nur an einen Gott glauben könne, der zu tanzen verstünde. In anderen Worten: über die dionysische Ekstase führt der Weg in die Sphären des höheren Menschen. 108 Till R. Kuhnle 26 Elle a tout pris la nuit et les regards eux-mêmes. On est vidé par elle. Les gens du jour ne vous comprennent plus. On est séparé d’eux par toute la peur et on en reste écrasé jusqu’au moment où ça finit d’une façon ou d’une autre et alors on peut enfin les rejoindre ces salauds de tout un monde dans la mort ou de la vie (V 341). Man geht daher nicht fehl, bei Céline Nietzsches Diktum vom Umwerten aller Werte zu bemühen, was auf den nächsten Stationen von Bardamus Reise ans Ende der Nacht noch deutlicher wird. Das unentrinnbare Elend in der Pariser Vorstadt verurteilt den Arzt Bardamu zu einem Gefühl der Ohnmacht, das er vor allem während der Agonie eines kleinen Jungen, Bébert, erfahren muss. In Rancy trifft er erneut auf Robinson, der sich von der Familie Henrouille für 10000 Francs anheuern lässt, um deren alte Mutter zu ermorden. Der Freund zieht den Arzt in seine Machenschaften hinein. Allerdings scheitert der Anschlag und die der alten Henrouille zugedachte Schrotladung trifft Robinson ins Gesicht. Dieser erblindet und wird nun von der Familie Henrouille und Bardamu gepflegt. Mit Hilfe des Abbé Protiste gelingt es, die alte Henrouille und den verunglückten Attentäter nach Toulouse abzuschieben, wo sie gemeinsam eine Gruft mit mumifizierten Leichen, eine Touristenattraktion, verwalten. Als Komplizen in dem widerwärtigen Spiel um die Abschiebung der alten Henrouille hat sich der Priester die Hände schmutzig gemacht und sich damit unwiderruflich in einen Compagnon jener Nacht verwandelt, von der aus das Leben aufscheint: „Das ist das Leben: Ein bisschen Licht, das in der Nacht verlischt - La vie c’est ça, un bout de lumière qui finit dans la nuit“ (R 445; V 340). Dort in der Nacht indes, jenseits der Gesellschaft, regiert die nackte Angst: Die Nacht hat alles an sich gerissen, sogar die Blicke. Sie saugt einen ganz aus. Trotzdem muss man einander an der Hand nehmen, sonst stürzt man. Die Tagmenschen verstehen einen nicht mehr. Man ist von ihnen durch all die Angst getrennt, die einen erdrückt, bis zu dem Moment, an dem alles vorbei ist, so oder so, und dann kann man sich ihnen endlich wieder anschließen, den Schweinehunden einer ganzen Welt, im Tod oder Leben (R 446). 26 Die Nacht und die in ihr durchlebte Angst verweisen auf die wahre Natur menschlicher Existenz: Erst wenn man durch die alles lähmende Angst hindurchgegangen ist, trifft man auf einen gemeinsamen Kern des Menschseins, wobei offenbleibt, ob man zu diesem über‐ haupt noch im Leben vorstößt oder erst im Tod. Die anderen, die um den Bestand der Gesellschaft und ihren Ort in derselben ringen, sind die Schweinehunde, die salauds, oder die feinen Pinkel, die chiqués, die Angeber, die qua Selbstinszenierung eine herausragende Stellung in der Gesellschaft begleiten. Doch sie alle sind auch nur Sklaven ihrer Triebe, und ihr gesellschaftliches Dasein verdeckt die Verwesung, die sie in sich tragen (vgl. V 353, R 466). Sechs Jahre später übrigens sollte der Protagonist von Sartres La Nausée / Der Ekel die Pose eines in die französische Provinz hinabgestiegenen Zarathustra einnehmen und die Bourgeois der Stadt Bouville - dahinter verbirgt sich Le Havre - als salauds, als Schwei‐ nehunde bezeichnen. Gemeint ist hier der unaufrichtige Rückzug des Bürgers auf einen zum ontologischen Ort verklärten sozialen Status - oder in den Worten von Heideggers Sein und Zeit: die Uneigentlichkeit. Bardamu dagegen macht nicht bei den Bürgern halt. 109 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit 27 Mes clients, eux, c’étaient des égoïstes, des pauvres matérialistes tout rétrécis dans leurs sales projets de retraite, par le crachat sanglant et positif. Le reste leur était bien égal (V 351). 28 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (2 Bde.), ders.: Werke. Züricher Ausgabe 1-4. Bd. 2. Hg. Arthur Hübscher. Zürich 1977, S. 673. Schonungslos entlarvt er die Mediokrität der Armen, denunziert den Lumpenproletarier als Lump, der sich egoistisch durch seine Existenz beißt: Meine Patienten aber, das waren Egoisten, arme Schlucker, Materialisten, ganz in ihrem blöden Rentenraum verkrochen dank ihrem blutigen, infizierten Auswurf. Der Rest war ihnen wurscht (R 438). 27 Nein, hier gibt es keinen Raum für das von den Marxisten beschworene Klassenbewusstsein. Bardamus Rede kann durchaus dahingehend verstanden werden, dass die Compagnons der Nacht die eigentlichen - und somit höheren - Menschen ausmachen. Bei Schopenhauer ist übrigens eine weitere Begründung für Célines Apologie des délire zu finden: „[…] nur Schmerz und Leid können positiv empfunden werden und kündigen daher sich selbst an: das Wohlsein hingegen ist bloß negativ“. 28 Mit anderen Worten: Nur des Schmerzes werden wir uns unmittelbar gewahr, des Wohlseins jedoch erst, wenn wir es verloren haben. Indes bedarf es an Größe, dies zu erkennen, doch daran gebricht es den egoistischen, einzig ihren Instinkten gehorchenden Armen in Célines Universum. Dessen ungeachtet sind allein aus der conditio des Erniedrigten heraus wahre Gefühle und eine Art höhere Erkenntnis möglich (vgl. V 364; R 476). So jedenfalls lässt sich die Erkenntnis Bar‐ damus zusammenfassen, der Rancy inzwischen fluchtartig verlassen hat, um sich als Statist im Pausenprogramm des einer trügerischen Glitzerwelt huldigenden Varieté-Theaters Ta‐ rapout zu verdingen. Es ist wohl nicht zu verwegen, bei Céline von der Geburt des Über‐ menschen aus der Kloake zu sprechen. Jedenfalls gehört Nietzsche nicht weniger als Pascal und Schopenhauer zum elementaren philosophischen Rüstzeug des Romanciers. Nach diesen Bemerkungen wollen wir uns noch den letzten Etappen von Bardamus Reise ans Ende der Nacht zuwenden. Noch in Toulouse nützt er die anhaltende Blindheit Robin‐ sons, um ein Verhältnis mit dessen scheinbar von ihm noch nicht berührten Verlobten Madelon zu bginnen. Da sich Robinson nichts aus Frauen macht, erscheint der ménage à trois zunächst auch als ein allen zuträgliches Arrangement. Doch bald wendet sich Madelon ausschließlich Robinson zu, der sein Augenlicht allmählich wiedererlangt. Bardamu be‐ schließt daraufhin, nach Paris zurückzukehren. Kurz vor seiner Abreise stürzt die alte Henrouille auf der Treppe zur Gruft in den Tod - offensichtlich hat jemand dabei nachge‐ holfen. Zurück in Paris erhält Bardamu eine Anstellung in einer Nervenklinik, vermittelt durch seinen ehemaligen Medizinprofessor Parapine, der schon mehrmals seinem Leben eine andere Richtung gegeben hat. Der Direktor der Anstalt nimmt bei Bardamu Englisch‐ unterricht und ist von den Geschichten des Vielgereisten fasziniert. Eines Tages überfällt daraufhin den von einem tiefen Lebensekel heimgesuchten Psychiater das Fernweh; er überträgt seinem Englischlehrer die Leitung der Klinik und begibt sich auf eine Reise von unbestimmter Dauer. Unterdessen tritt der unvermeidliche Robinson wieder ins Leben Bardamus, der den ‚Freund‘ vor der eifersüchtigen Madelon in der Klinik versteckt. Die Geliebte des Arztes, die dralle slowakische Krankenschwester Sophie, drängt auf eine Versöhnung Robinsons 110 Till R. Kuhnle 29 Jünger, Ernst: „Das erste Pariser Tagebuch“. Strahlungen I (= Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tage‐ bücher. Band 2. Tagebücher II). Stuttgart 1979, S. 223-406, hier S. 281. 30 Benjamin, Walter: Das Passagenwerk (= Gesammelte Schriften V.1-2). Hg. Rolf Tiedemann. Frank‐ furt / M. 1991, S. 507. 31 Benjamin, Das Passagenwerk, S. 590. 32 Ebd. 33 Benjamin, Walter: „Über einge Motive bei Baudelaire“. Gesammelte Schriften I.2. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt / M. 1991, S. 615. mit dessen Verlobten. Doch auf der Rückfahrt von einem gemeinsamen Rummelplatzbesuch schießt Madelon auf den beziehungsunwilligen Robinson. Bardamu kann nichts mehr für den tödlich Verletzten tun - und bleibt alleine zurück. Doch kaum hat der Leser dieses Buch des großartigen Schriftstellers Célines geschlossen, muss er sich mit dem „beschissenen Menschen“ Céline auseinandersetzten. Seine antise‐ mitischen Vernichtungsphantasien und seine Besessenheit erfüllten 1941 etwa den Wehr‐ machtsoffizier Ernst Jünger, der in seinem Tagebuch den Romancier „Merlin“ nannte, mit einer Mischung aus Schaudern und Faszination: Er sprach sein Befremden, sein Erstaunen darüber aus, daß wir Soldaten die Juden nicht erschießen, aufhängen […]. Es war mir ungeheuerlich lehrreich, ihn derart zwei Stunden lang wüten zu hören, weil die ungeheure Stärke des Nihilismus durchleuchtete. […] Solche Naturen wurden in Zeiten, in denen sich der Glaube noch prüfen ließ, früher erkannt. Jetzt dringen sie unter der Kapuze der Ideen vor. 29 Der reaktionäre deutsche Apologet eines romantischen Heroismus verklärte diesen kom‐ promisslosen Nihilismus zum Symptom einer an Schrecken reichen Zeit der Bewährung. Sichtlich erschüttert von seiner Lektüre brachte Walter Benjamin den „anthropologischen Nihilismus” 30 von Gottfried Benn und Louis-Ferdinand Céline mit C. G. Jungs Lehre von den archaischen Bildern in Verbindung, die „eruptiv vom Expressionismus zuerst an den Tag gefördert worden” 31 seien: „Dieser Nihilismus ist aus dem Chock [sic! ] hervorgegangen, den das Innere unseres Leibes den mit ihm Umgehenden erteilt hat“. 32 In der Tat kann Célines Roman als die wohl sprachgewaltigste Umsetzung einer posttraumatischen Störung gelten, eine literarische Transposition des Unsagbaren, aus dem es kein Entrinnen gibt, der unerträglichen Ausweglosigkeit des Seins. In diesem Sinne ist hier Benjamins Rede vom „Chock“ zu verstehen. 33 Das Gefühl, das den Ich-Erzähler Bardamu schon zu Beginn des Romans bei seiner Mo‐ bilisierung befällt, verweist auf das geschlossene Universum von Voyage au bout de la nuit: „Sie hatten still und leise hinter uns Zivilisten das Tor dichtgemacht. Die Falle war zugeschnappt - Ils avaient refermé la porte en douce derrière nous les civils. On était faits, comme des rats“ (R 10; V 10). In Célines Roman werden zwar weite geographische Räume und größere zeitliche Distanzen durchmessen, die Narration hingegen verengt das episo‐ dische Geschehen auf wenige Fixpunkte, denn über den Célineschen Raum herrscht eine einzige Macht: der Krieg, der Vater einer jeden neuen Psychologie. So doziert in Voyage au bout de la nuit ein Psychiater: 111 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit 34 La guerre, voyez-vous, Bardamu, par les moyens incomparables qu’elle nous donne pour éprouver les systèmes nerveux, agit à la manière d’un formidable révélateur de l’Esprit humain! (V 93) 35 Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze. 1932-1945. Wiesbaden und München 1977, S. 206. 36 Ebd. 37 Céline, Louis-Ferdinand: Entretiens avec le Professeur Y. Paris 1955, S. 102. 38 Dieses Stilelement schon an vielen Stellen in Voyage au bout de la nuit angwandte Stilmittel sollte in der Folgezeit die écriture célinienne bestimmen. 39 Stellvertretend genannt sei hier das Buch des Philosophen Pierre-André Taguieff und der Historikerin Annick Duraffour: Céline, la race, le Juif. Paris 2017. 40 Hierzu einige der zahlreichen Pressestimmen: „La sortie annoncée de trois pamphlets antisémites de Céline fait scandale“. Le Parisien, 30. 12. 2017; „Gallimard renonce à publier les pamphlets de Céline“. Le Monde, 12. 01. 2018; „Gallimard „suspend“ son projet de publication des pamphlets antisémites de Céline“. Le Figaro, 11. 1. 2018. Die Diskussion provozierte eine kritische Stellungnahme des Zentral‐ rats der französischen Juden (Crif): „Louis-Ferdinand Céline, invité surprise du dîner du Crif “. L’Ex‐ press, 4. 3. 2018. Der Krieg nun, sehen Sie, Bardamu, gibt uns unvergleichliche Mittel zur Erprobung des Nerven‐ systems an die Hand und erweist sich so als hervorragender Enthüller des menschlichen Geistes (R 123 f). 34 Für Gottfried Benn galt der Autor von Mort à crédit - worin Bardamu weitere Episoden aus dem Leben preisgibt - und den Pamphleten nur noch als „ein primärer Spucker u. Kotzer“, als ein paranoider Misanthrop, dessen Hass sich gegen alles und jeden richte: „Er hat ein interessantes elementares Bedürfnis, auf jeder Seite, die er verfasst, mindestens einmal je Scheiße, Pisse, Hure, Kotzen zu sagen. Worüber ist nebensächlich.” 35 Seine Kritik an Céline schloss er indes mit der Bemerkung: „Trotzdem verdanke ich dem ersten Buch [Voyage au bout de la nuit] sehr starke Eindrücke u. werde es nicht vergessen“. 36 André Gide dagegen sah in Mort à crédit ein Voyage au bout de la nuit zumindest ebenbürtiges Werk an, fand aber auch lobende Worte für Bagatelles pour un massacre. Und der Literaturpapst Gide er‐ kannte wohl, dass die Pamphlete unverbrüchlich Teil des Célineschen Werkes sind, schon in der Kontinuität der Rhetorik, aber auch in ihrer poetologischen Relevanz. An ihnen lässt sich in der Tat am besten studieren, was Céline mit der métro émotif   37 - der emotionalen U-Bahn - meinte, auf deren Gleise er mit seinem Stakatostil - den vor allem durch Aus‐ lassungspunkte akzentuierte Sätze kennzeichnen 38 - den Leser setzen wollte. Und dennoch kann und darf man nicht über die antisemitischen Exzesse hinwegsehen, die unlängst in einigen gut dokumentierten Publikationen erneut unterstrichen wurden. 39 Die neu aufgeflammte Diskussion veranlasste den Verlag Gallimard zu dem Entschluss, die kommentierte Neuausgabe dieser Schriften vorerst auf Eis zu legen. 40 Eine Entscheidung, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht nur zu bedauern ist! Die causa Céline ist noch lange nicht zu den Akten. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Werke von Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. 10. Auflage Reinbek b. Hamburg 2017 [im Text zitiert: R + Seitenzahl]. 112 Till R. Kuhnle Voyage au bout de la nuit [Erstausgabe: Paris 1932]. Romans I (Pléiade). Hg. Henri Godard. Paris 1981 [im Text zitiert: V + Seitenzahl]. Weitere Texte von Céline: La Vie et l’œuvre de Philippe Ignace Semmelweis (Dissertation 1923 / 24). Mort à crédit [Erstausgabe: Paris 1936]. Romans I (Pléiade). Hg. Henri Godard. Paris 1981. Mea culpa. Paris 1936. Bagatelles pour un massacre. Paris 1937. L’École des cadavres. Paris 1938. Les beaux Draps. Paris 1941. Entretiens avec le Professeur Y. Paris 1955. Sekundärliteratur: Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze. 1932-1945. Wiesbaden und München 1977. Beauvoir, Simone de: La Force de l’âge I. Paris 1960. Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“. Gesammelte Schriften I.2. Hgg. Rolf Tiede‐ mann. Frankfurt / M. 1991, 605-653. — : Das Passagenwerk (= Gesammelte Schriften V.1-2). Hgg. Rolf Tiedemann. Frankfurt / M. 1991. Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authoritative Text, Backgrounds and Contexts, Criticism. Hg. P. B. Armstrong. New York / London 2006. Esterházy, Péter: „Dankesrede“. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2004. Peter Esterhazy. Hg. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2004, 9-15. (https: / / www.friedenspreis-des-deutschen-b uchhandels.de/ sixcms/ media.php/ 1290/ 2004%20Friedenspreis%20Reden.pdf) Gide, André: „Les Juifs, Céline et Maritain“. Cahiers de l’Herne - L. F. Céline [vollständiger Neudruck der Cahiers de l’Herne n° 3 und n° 5]. Paris 1972, 468-470. Jünger, Ernst: „Das erste Pariser Tagebuch“. Strahlungen I (= Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Ta‐ gebücher. Band 2. Tagebücher II). Stuttgart 1979, 223-406. Levinas, Emmanuel: „De l’Évasion“. Recherches philosophiques V (1935-36): 373-392. [Buchausgabe: De l’Évasion. Paris 1998]. Pascal, Blaise: Pensées. ders.: Œuvres complètes. Hg. Jacques Chevalier. Paris 1954. [Der deutsche Text folgt der Übersetzung durch Karl Adolf Blech von 1840, wiedergegeben in der digitalen Bibliothek Philosophie von Platon bis Nietzsche]. Sartre, Jean-Paul: La Nausée. ders.: Œuvres romanesques. Hgg. Michel Contat und Michel Rybalka. Paris 1981. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (2 Bde.), ders.: Werke. Züricher Ausgabe 1-4. Bd. 2. Hg. Arthur Hübscher. Zürich 1977. Trotzki, Leo (Trotsky, Léon): „Céline et Poincaré“ [Auszug]. Cahiers de l’Herne - L. F. Céline (voll‐ ständiger Neudruck der Cahiers de l’Herne n° 3 und n° 5). Paris 1972, 434-435. Taguieff, Pierre-André und Duraffour, Annick: Céline, la race, le Juif. Paris 2017. Publikationen von Till R. Kuhnle zum Thema: zu Céline: „Céline célébrant l’apocalypse de l’Ennui“. Alkemie. Revue semestrielle de littérature et de philosophie. Paris 2016, 157-169. 113 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit „Céline, Voyage au bout de la nuit“. 20. Jahrhundert. Roman. Hg. Wolfgang Asholt. Tübingen 2007, 153-218 [Dieser Beitrag enthält eine ausführliche Bibliographie zu Voyage au bout de la nuit]. Zum literaturhistorischen und philosophischen Kontext: „L’insoutenable fardeau de l’être: Benjamin Fondane devant Sartre et la ‚nouvelle génération exis‐ tentielle‘“. Europe N° 972 - Dossier: Kierkegaard / Penseurs existentiels des années trente / Paul Gad‐ enne. Hg. Monique Jutrin. Paris 2010, 233-254. „,Es gibt kein richtiges Leben im falschen‘. Ein Versuch zu Adorno, Nietzsche und Port Royal“. Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauss zum 60. Geburtstag. Hgg. Hanspeter Plocher, Till R. Kuhnle, Bernadette Malinowski. Tübingen 2003, 358-383. „Der Ekel auf hoher See. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen im Ausgang von Nietzsche“. Archiv für Begriffsgeschichte XLII. Bonn 1999, 161-261. 114 Till R. Kuhnle Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel Helmut Koopmann Hesses Kritik an seiner Gegenwart ist vernichtend - man könnte meinen, es sei unsere Zeit, die da die Peitsche bekommt. In den Feuilletons der Tagespresse wird geplaudert: über tausenderlei Gegenstände des Wissens, aber im Grunde sind es nur Tändeleien, die aus den Redaktionen der Zeitungen kommen. Es sind nicht nur Schriftsteller, die sich dort äußern, sondern auch Hochschullehrer von Rang, aber was sie von sich geben, ist nichts anderes als geistiger Schrott: seien es nun Anekdoten aus dem Leben berühmter Männer und Frauen und deren Briefwechsel, sei es ein Artikel über Friedrich Nietzsche und die Frauenmode um 1870 oder über die Lieblingsspeise des Komponisten Rossini. Der feuilletonistische Spielraum ist schier unbegrenzt. Da finden sich Betrachtungen über Gesprächsstoffe der Wohlhabenden, über den Traum von der künstlichen Herstellung des Goldes im Lauf der Jahrhunderte oder über Versuche zur chemisch-physikalischen Beeinflussung der Witte‐ rung - dergleichen wird als tägliche Lektüre verschlungen. Es gibt eine riesige Menge an interessanten Nichtigkeiten; dazu gehören auch Befragungen bekannter Persönlichkeiten. So äußern sich Klaviervirtuosen über Politik, Politiker über Schauspieler und Tänzer, Schriftsteller über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, Theologen sprechen über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und anderes mehr. Wichtig ist nur, dass man einen bekannten Namen mit einem gerade aktuellen Thema zusammenbringt; alles wird mit mehr oder weniger gutgläubigem Ernst hingenommen. Wenn ein berühmtes Gemälde den Besitzer wechselt oder eine wertvolle Handschrift versteigert wird, ein altes Schloss abbrennt oder Träger eines altadeligen Namens in einen Skandal verwickelt sind - die Zeitungsleser erfahren es prompt, bekommen meist auch noch am gleichen oder spätestens am nächsten Tag eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, eroti‐ schem und anderem Zusatz-Material zum jeweiligen Stichwort. Über jedes Tagesereignis ergießt sich eine wahre Flut von eifrigem Geschreibe: alles rasch und verantwortungslos hergestellte Massenbetäubungsware. Eine besonders wunderliche Angelegenheit sind die Kreuzworträtsel. Menschen, die zum größeren Teil schwer arbeiten oder ein schweres Leben haben, beugen sich in ihren freien Stunden über Quadrate aus Buchstaben, die sie nach gewissen Spielregeln ausfüllen; aber es sind nicht harmlose Spießer, die damit ihr Wissen oder nur zu oft auch ihr Unwissen darin unter Beweis stellen; es sind Leute, die vor Kriegen, wirtschaftlichen und politischen Wirren, vor moralischen Erdbeben ihre Augen schließen und sich aus ihren Untergangsstimmungen in eine möglichst harmlose Schein‐ welt flüchten. Dem Tod, der Angst, dem Schmerz, Übeln aller Art stehen sie alle beinahe schutzlos gegenüber, von den Kirchen schon lange nicht mehr getröstet, vom Geist unbe‐ raten - und sie widmen sich träumerisch dem Auflösen von Kreuzworträtseln, falls sie sich nicht mit dem Spielen schwieriger Kartenspiele begnügen. Dann gibt es noch die unendliche Flut der Vorträge, gehalten von oft selbsternannten Fachleuten, geistigen Buschkleppern, Festrednern, in wilder Konkurrenz und kaum be‐ greiflicher Masse. Die Bürger einer mittelgroßen Stadt können jede Woche einmal, in grö‐ ßeren Städten aber so ziemlich jeden Abend Vorträge hören über irgendein Thema, über Kunstwerke, Dichter, Gelehrte, Weltreisende, Vorträge, bei denen der Zuhörer rein passiv bleibt. Häufig ist irgendeine Vorbildung, zumindest Aufnahmebereitschaft notwendig - die wird stillschweigend vorausgesetzt, ist aber oft gar nicht vorhanden. Es gibt witzige, un‐ terhaltende, temperamentvolle Vorträge etwa über Goethe, in welchen er im blauen Frack aus Postkutschen steigt und Wetzlarer Mädchen verführt, oder über arabische Kultur, bei denen intellektuelle Modeworte wie in einem Würfelbecher durcheinandergeworfen werden und jeder sich freut, wenn er eines von ihnen annähernd wiedererkennt. Man hört Vorträge über Dichter, deren Werke man niemals gelesen hat und auch nicht zu lesen ge‐ sonnen ist, lässt sich dazu Abbildungen vorführen und kämpft sich durch eine Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes beraubten Bildungswerten und Wissensbruchstücken. Eigentlich alles eine grauenhafte Entwertung des Wortes, die im Grunde nur einen Schluss zulässt: Mit der schöpferischen Periode unserer Kultur ist es vorbei. Es herrscht Abenddämmerung, und es gibt ihrer viele beängstigende Zeichen: die Mechanisierung des Lebens, das Tiefer‐ sinken der Moral, die Glaubenslosigkeit der Menschen. Es gibt eine ebenso gewaltige wie dilettantische Überproduktion in allen Künsten, eine Demoralisierung des Geistes und eine Inflation der Begriffe hat eingesetzt: Spätzeit einer Kultur. Junge Menschen naschen an den Hochschulen herum, wo ihnen von berühmten und redseligen Professoren ohne Autorität die Reste der einstigen höheren Bildung dargereicht werden. Dann sind da noch die Dichter mit den hohen Auflagen, die Nobelpreisträger mit den hübschen Landhäusern, die Medi‐ ziner mit Orden, die Akademiker mit ihren glänzenden Salons, die Chemiker mit Auf‐ sichtsratsstellen in der Industrie, die Philosophen mit hinreißenden Vorträgen in über‐ füllten Sälen mit Applaus und an die Gattin übergebenen Blumensträußen: eine gespenstische Welt. Ja, es könnte eigentlich kein besseres Bild der Zeit geben als das, was hier skizziert worden ist. Ein sinnloser Überfluss an Informationen, Orientierungslosigkeit nicht nur in der Politik, Mangel an Ordnungsvorstellungen und Leitbegriffen, größenwahnsinnige Staatsmänner und deren kleingläubige Trabanten, Bildungskrisen und mancherorts ver‐ lotterte Schulsysteme, verwirrende Unsicherheit in der Bewertung von geistigen Leis‐ tungen, Wissenschaft als Unterhaltung, Verlust an Autorität, Fehlen an Legitimität aller‐ orten, Käuflichkeit des Geistes: Es braucht nur ein paar Pinselstriche, um das Gemälde der Zeit weiter auszumalen. Es ist von beängstigender Aktualität - wir könnten die zahllosen allabendlichen Fernseh-Talkshows, das Rätselraten in den Unterhaltungssendungen, die buntbeleuchteten Quiz-Veranstaltungen mit ihren zerfledderten Bildungsrelikten, jeder‐ mann auf dem Bildschirm zugänglich, diesem Zeitgemälde hinzufügen, und wir hätten ein sarkastisch ausgemaltes Abbild unserer Tage im 21. Jahrhundert. Aber Hesse war kein Pro‐ phet, jedenfalls keiner, der damit vorausschauend den Zustand unserer fragwürdig gewor‐ denen Kultur aufs Korn nehmen wollte. Mit seiner Charakteristik der Zeit beginnt jener Roman, den er wohl um 1932 begann, der 1943 zunächst in Zürich in einer Auflage von 116 Helmut Koopmann 1 Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften. Hg. Hermann Hesse, Berlin und Frankfurt / M. 1951. Zitate daraus im Folgenden mit Seitenangaben im Text. 3000 Exemplaren erschien und der in Deutschland erst 1946 herauskam - das Jahr, in dem Hesse nicht nur der Goethepreis der Stadt Frankfurt zuerkannt wurde, sondern auch der Nobelpreis für Literatur. Er beschrieb im Glasperlenspiel so die Zwanzigerjahre, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also eine Welt, wie sie uns etwa in Bildern von George Grosz, Das Gesicht der herrschenden Klasse und Die Stützen der Gesellschaft, oder von Otto Dix, Die Großstadt, auch malerisch porträtiert worden ist. Diese Jahre haben bei Hesse einen sehr zutreffenden Namen bekommen: Es ist das ‚feuilletonistische Zeitalter‘, mit dem er erbar‐ mungslos abrechnet - und gegen das er mit seinem Roman vom Glasperlenspiel angeht. Doch dieser Blick zurück ist gebrochen, und das ist einer großen Zeitdistanz geschuldet. Denn die Haupthandlung des Romans spielt etwa um 2400; das feuilletonistische Zeitalter wird als etwas längst Vergangenes beschrieben, und das von einer Position her, die weit in die Zukunft hineinverlegt ist. Mit anderen Worten: Es ist ein Zukunftsroman, der zu Beginn eigentlich von Vergangenem handelt: Er reicht tief in die Geschichte hinab, es geht voran und zurück, in die Zukunft und in die Vergangenheit gleichermaßen hinein, und das lässt zunächst einmal nur den Schluss zu: Dieser Roman ist kein historischer Roman, aber er ist eigentlich auch kein utopischer Roman, sondern irgend etwas dazwischen. Eine ungemein artistische, fast schwebende Konstruktion eines Erzählers, der in besonderer Sicht allge‐ genwärtig ist: kennt er sich doch in den unterschiedlichsten Zeitdimensionen gleicher‐ maßen gut aus. * Vor allem in jener Zeit, die noch Jahrhunderte fern ist und für den Erzähler doch schon vergangen. Denn er liefert den „Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“, 1 der in weiter Zukunft gelebt hat: etwa um 2400. Aber dessen Name hat auch mit der Vergangenheit zu tun, denn er lässt die Vermutung aufkommen, dass hier ein Gegen‐ roman geschrieben werden sollte gegen einen anderen, von dem es gleich zwei Folgen gab: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre, Goethes entscheidender Beitrag zum Bildungsroman, der die Romanliteratur bis tief in das 20. Jahrhundert hinein beschäftigte, in Nachahmung und Widerspruch gleichermaßen. Man wird also an Goethes Romanhelden denken, wenn man den Namen Knecht liest, muss das aber nicht unbedingt, denn Hesse hat den Namen seines Helden wohl eher von einer gleichnamigen Figur seiner Kinderzeit: Da gab es nämlich einen gewissen Jakob Knecht, 1886 im Dienst des Calwer Verlagsvereins. In Calw ist Hesse 1877 geboren worden, im Calwer Verlagsverein war Hesses Vater beschäftigt. Doch das eine schließt das andere nicht aus. Im übrigen ist kaum zu bezweifeln, dass ‚Kastalien‘, der Lebensraum, in den die Biographie jenes Josef Knecht führt, der Konzeption nach auf die pädagogische Provinz in Goethes Roman zurückgeht. Aber der Name Kastalien soll wohl zugleich an die Kastalienquelle in Delphi erinnern, an jenen Ort, an dem die Pilger sich zu reinigen hatten, bevor sie dort das Apollon-Heiligtum betraten. Ein Roman also mit Hintergründen und literarischen Anspielungen, und damit gehört auch er noch zu den großen Romanen der ‚klassischen Moderne‘, die ähnliches kennen. 117 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel Die Lebensbeschreibung jenes Josef Knecht setzt ein mit Details aus seiner Kindheit und Jugend: der Anfang also als Jugendroman, wie ihn Hesse nicht zum ersten Mal schrieb: Unterm Rad ist ein solcher, 1906 erschienen, ebenfalls Knulp, 1915. Jugendromane waren kurz nach der Jahrhundertwende literarische Mode, Erziehungsromane, Schülerromane, Anstaltsromane, wie ihn etwa auch Musil mit seinen Verwirrungen des Zöglings Törleß verfasste; vorher schrieb schon Frank Wedekind sein Drama Frühlingserwachen, später kamen Franz Kafka mit Das Urteil und Walter Hasenclever mit Der Sohn hinzu. Es waren bis in den Expressionismus hinein eigentlich Katastrophengeschichten, angeschrieben gegen den euphorischen Jugendkult am Ausgang des fin de siècle, denn diese Jugendtragö‐ dien zeigten zumeist eine gequälte, orientierungslose und gedemütigte Jugend, die aus Ver‐ zweiflung selbst vor Vatermord nicht zurückschreckte; sie waren im weitesten Sinne Zeit‐ kritik an jener Aufbruchsstimmung, die mit dem andernorts alles verschönenden Jugendkult um 1900 zu tun hatte. Jugend in dergleichen Romanen und Dramen also als Verhängnis, alles andere als ein glorreicher Zustand. Die Lebensgeschichte des Josef Knecht verläuft jedoch anders. Auch wenn wir von seiner Geburt und Herkunft nichts erfahren: Seine Jugend ist frei von Be‐ drängnissen. Der Leser gerät in eine ebenso fremde wie verführerisch heile Welt, die nichts mehr von dem kennt, was das feuilletonistische Zeitalter ausgemacht hatte. Wir begegnen Knecht erstmals, als er etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt ist und Stipendiat einer Latein‐ schule. Seine Lehrer empfehlen ihn zur Aufnahme in eine Eliteschule; er gehört fortan zu den „electi“, zur „flos juventutis“ (73) und lebt in Kastalien, einem stillen und heiteren Bezirk jenes gebirgigen Landes, in dem Josef Knecht geboren wurde. In diesem Kastalien gibt es vier Eliteschulen, und über sie wacht eine Erziehungsbehörde; aus den Eliteschülern rekrutiert sich der „Orden“ (81), und als dessen Mitglieder können die Auserwählten, sofern sie nicht Fachlehrer an öffentlichen Schulen und Hochschulen werden, ihren Neigungen freien Lauf lassen: Der Orden, zu dessen Regeln Besitzlosigkeit gehört, sorgt für sie, sie führen ein zwar einfaches Leben, aber sie haben herrliche Bibliotheken zur Verfügung, auch Laboratorien, und sie können unbeschränkt forschen; einer etwa hat in dreißigjähriger Arbeit alle überlieferten altägyptischen Texte sowohl ins Griechische wie auch ins Sanskrit übersetzt, ein anderer drei große Bände über die Aussprache des Latein an den Hochschulen des südlichen Italien gegen Ende des 12. Jahrhunderts verfasst: Nichts scheint entlegen genug, um nicht untersucht zu werden. Eine Art mönchischer Gemeinschaft also, in die Josef Knecht eintritt, Kastalien eine heile Welt. Sie ist als strenge Hierarchie aufgebaut: An der Spitze steht der Magister Ludi, der Glasperlenspielmeister, der das große jährliche Spiel zelebriert. Er ist einer von zwölf Magistern; unter denen wiederum rangieren Beamte, Ge‐ lehrte und Studierende. Sie alle leben in ihrer „pädagogischen Provinz und ihrem Orden“ (199). Es gibt dort auch eine kleine Gruppe von Vertretern des politischen Departements, die das Verhältnis zur Außenwelt regeln; aber das eigentliche Leben spielt sich im Inneren dieser Provinz ab. Über allem steht eine Erziehungsbehörde; sie leitet den Orden. Das Ganze „eine stabile, ewige und sich von selbst verstehende Welt“, Kastalien ein kleiner Staat für sich, und unser Vicus Lusorum ein Stätchen innerhalb des Staates, eine kleine, aber alte und stolze Republik, ihren Schwestern gleichgeordnet und gleichberechtigt, aber in ihrem Selbstbewußtsein bestärkt und gehoben durch die besondere musische und gewissermaßen sakrale Art ihrer Funktion (316). 118 Helmut Koopmann 2 Hesse, Hermann: „Vom Wesen und von der Herkunft des Glasperlenspiels“. Materialien zu Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“. Erster Band. Texte von Hermann Hesse. Hg. Volker Michels. Frank‐ furt / M. 1977 (1973), S. 10. 3 Schneider, Christian Immo: Hermann Hesse. Beckʼsche Reihe. Autorenbücher [= BsR 620], München 1991, S. 97. 4 Hermann Hesse: Materialien (wie Anmerkung 2), S. 13 ff. 5 Ebd., S. 20 f. 6 Ebd., S. 25. So der Magister Ludi, und dieses Kastalien ist in der Tat so etwas wie ein säkularisierter katholischer Orden, aus dem Frauen, Familie, Ehe, Erotik, Sexualität ausgeschlossen sind, ein Orden ohne Religion, ohne Gott und ohne Kirche, zu dem aber dennoch eine spezifisch „kastalische Frömmigkeit“ (355) gehört. Man spielt traumverloren in einem Raum, der nicht von dieser Welt ist. Was hat es mit diesem Spiel auf sich? Hesse hat sich im Frühsommer 1932 über die Herkunft und die Beschaffenheit des Glasperlenspiels geäußert und gemeint, dass ein ge‐ wisser Reinhold Klaiber, ein Beamter mit dem Titel Oberrechnungsrat in Frankfurt am Main, das Glasperlenspiel 1940 erfunden habe 2 - Name und Datum sind aber offenbar fiktiv. Die eigentlichen Anregungen dürften wohl von zwei Büchern seines Vaters gekommen sein, nämlich von Johann Hesses Das Spiel im häuslichen Kreise und Rätselraten - beide noch vor der Jahrhundertwende erschienen, „überaus phantasievolle, aus internationalen Spiel- und Rätselschätzen geschöpfte ›Ratgeber für Jung und Alt‹“, so ein Hesse-Kommen‐ tator. 3 Es sei, so Hesse in einem Essay über seinen Roman, eine Art Kartenspiel gewesen, ein Dichterquartett, aber es wurden später auch Musiker, Maler und Baumeister aufge‐ nommen; es gehörten stets ein paar Karten zusammen, nicht immer vier, manchmal auch drei, fünf oder sogar sechs. Man konnte die Karten tauschen. Hesse schrieb: es reizt zum Lächeln, wenn man sich vorstellt, wie Herren und Damen um den Tisch herum einander fragten: ‚ Bitte, haben Sie Schuberts Forellenquintett, Gruppe K? ‘ oder ‚Können Sie mir den Palazzo Barberini von Bernini geben? ‘ Es wurde aber trotzdem den Spielern nicht langweilig, denn einmal war es eine Art von Wahrzeichen und Devise: wer das Bildungsquartett spielte, gehörte zu den Gebildeten, zu den Altmodischen, zu den Trägern und Verteidigern der ‚Kultur‘, der heiligen Tradition. Und dann hatte das Künstlerkartenspiel etwas Hübsches: es war nicht fertig im Laden gekauft, man machte es sich selber, es war unbegrenzt, man konnte es beliebig ausdehnen und einschränken, spezialisieren oder verallgemeinern. Das gefiel den Leuten sehr. 4 Eine harmlose Spielerei also, „ein kleinbürgerliches Allerwelts-Bildungs-Kartenspiel, eine Art in Karten aufgelöstes Künstler- und Gelehrtenlexikon“. Das Hübsche an diesem Kar‐ tenspiel sei seine unbegrenzte Beweglichkeit gewesen, jede kleine oder große Gesellschaft konnte damit umgehen; es brachte Tausenden zu Bewusstsein, „daß sie späte Erben eines unerschöpflich reichen Schatzes seien, den sie zwar nicht mehr durch neue Schöpfungen vermehren, dafür aber immerhin spielerisch genießen könnten“. Und es sei eine Mode auf‐ gekommen, „die gewonnenen Punkte beim Spiel durch Glasperlen auszudrücken, es wurden blaue Perlen für die Dichter, rote für die Musiker usw. verwendet“. 5 Mit der Zeit habe das Glasperlenspiel, „einst die seichte Unterhaltung halbgebildeter Rentiers, Spießer und Beamter” 6 das Greise wie Backfische entzückte und Witzblättern reichlich neuen Stoff 119 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 7 Ebd., S. 14 f. 8 Ebd. lieferte, eine Zeitlang auch „Spezialsport der Mathematiker“, mehr und mehr alle wahrhaft Geistigen angezogen, Gelehrte, Studenten, manche Künstler. Also variationsreicher als ein Schachspiel, dieses Bildungsquartett mit seinen fast unbegrenzten Kombinationsmöglich‐ keiten. Man spielte es besonders gern in einer Zeit, in der man „kaum über die Straße gehen konnte, ohne von Bewaffneten angebrüllt, in den Bauch getreten und häufig auch getötet zu werden“, 7 also in der Zeit der aufkommenden Nazi-Tyrannei, als „aus den nichtigsten Anlässen jeden Augenblick Straßenkrawalle und Totschlägereien ausbrachen“. 8 Es war ein Anspielen gegen die damals allgegenwärtige Angst, als die ganze Welt bankrott ging. So Hesse selbst. Aber auch der Roman selbst berichtet einiges über das Glasperlenspiel und differenziert das in jenem Essay Gesagte; er macht gleich zu Beginn klar, dass es zwar eine vollständige Geschichte und Theorie des Glasperlenspiels nicht gibt, wohl aber annäherungsweise Be‐ schreibungen: Das Glasperlenspiel ist ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unsrer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeit‐ altern hervorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe ge‐ bracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze ungeheure Material von geis‐ tigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren (16). An sich sei dieses Glasperlenspiel schon bei Pythagoras zu finden, dann in der Spätzeit der antiken Kultur, aber ebenso bei den alten Chinesen und auf den Höhepunkten des ara‐ bisch-maurischen Geisteslebens; die Spur führe weiter in das 17. und 18. Jahrhundert, zu den romantischen Philosophien und den magischen Träumen eines Novalis - so der Ro‐ manerzähler. Also ein Spiel mit Symbolen und ihren Kombinationen, „eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrü‐ cken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen“ (160). Zum Spielcharakter gehört, dass die entlegensten Phänomene miteinander verknüpft werden können, es ist eine Art ange‐ wandter Enzyklopädie, in der sich „alles Wissen seiner Zeit symmetrisch und synoptisch auf ein Zentrum hin“ zuordnet (222). Das Glasperlenspiel ist dabei immer mit Meditation verbunden, genauer: mit einer Reihe von Meditationen, die mit der „Wahl, Anordnung, Verschränkung, Verknüpfung und Gegenüberstellung der Inhalte“ eines Spieles aus den verschiedensten Phasen verschiedener Kulturen unterschiedlicher Völker den Spieler schließlich mit dem Gefühl entlassen, eine „restlos symmetrische und harmonische Welt aus der zufälligen und wirren gelöst und in sich aufgenommen zu haben“ (266f.). Das Jah‐ resfest der Glasperlenspiele hat denn auch eine quasi religiöse Bedeutung: Es vereinigt unterschiedlichste Gesinnungen und Tendenzen, schließt Frieden zwischen den Egoismen der einzelnen Disziplinen und deren Vertretern, es lässt eine Einheit ahnen jenseits aller 120 Helmut Koopmann Vielfalt, und mehr als das: Es besaß „für die Gläubigen die sakramentale Kraft echter Weihe, war für die Glaubenslosen zumindest ein Religionsersatz und für beide ein Bad in den reinen Quellen des Schönen“ (276). Das Spiel also eine ars combinatoria, von Gelehrten zelebriert; es hat sich im Lauf der Zeit zu einer Universalsprache ausgebildet, durch welche die Spieler in sinnvollen Zeichen Werte auszudrücken und zueinander in Beziehung zu setzen befähigt waren. Wir lesen: Zu allen Zeiten stand das Spiel in engem Zusammenhang mit der Musik und verlief meistens nach musikalischen oder mathematischen Regeln. Ein Thema, zwei Themen, drei Themen wurden fest‐ gestellt, wurden ausgeführt, wurden variiert und erlitten ein ganz ähnliches Schicksal wie das Thema einer Fuge oder eines Konzertsatzes. Es konnte ein Spiel zum Beispiel ausgehen von einer gegebenen astronomischen Konfiguration, oder vom Thema einer Bachfuge, oder von einem Satz des Leibniz oder der Upanishaden, und es konnte von diesem Thema aus, je nach Absicht und Begabung des Spielers, die wachgerufene Leitidee entweder weiterführen und ausbauen oder auch durch Anklänge an verwandte Vorstellungen ihren Ausdruck bereichern (50 f.). Es war, so lesen wir weiter, „eine erlesene, symbolhafte Form des Suchens nach dem Voll‐ kommenen, eine sublime Alchimie, ein Sichannähern an den über allen Bildern und Viel‐ heiten in sich einigen Geist, also an Gott“ (51). So wie die frommen Denker früherer Zeiten etwa das kreatürliche Leben darstellten als zu Gott hin unterwegs und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt in der göttlichen Einheit erst vollendet und zu Ende gedacht sahen, so ähnlich bauten, musizierten und philosophierten die Figuren und Formeln des Glasperlenspieles in einer Weltsprache, die aus allen Wissenschaften und Künsten gespeist war, sich spielend und strebend dem Vollkommenen entgegen, dem reinen Sein, der voll erfüllten Wirklichkeit (51 f.). Das Spiel also tatsächlich eine Art Gottesdienst ohne Gott, an dessen Stelle das Vollkom‐ mene, ein in sich einiger Geist getreten ist. Aber im Formelschatz der Glasperlenspiele können auch Hauptbegriffe des Glaubens oder der Wortlaut einer Bibelstelle, ein Satz aus einem Kirchenvater oder aus dem lateinischen Messetext ebenso leicht und exakt ausgedrückt und in das Spiel mit aufgenommen werden wie ein Axiom der Geometrie oder eine Mozartmelodie (52). Der einzige Sinn des Spieles: den Zustand einer coincidentia oppositorum herzustellen, eines Zusammenfalls aller Gegensätze, eine Versöhnung von vita activa und vita contemplativa, eben jenen Zustand der Heiterkeit, der vollendeten Ruhe, der Ausgeglichenheit der Seele, der sich auch physiognomisch durch ein Lächeln ausdrücken kann. Das Glasperlenspiel, das anfangs wohl nicht mehr als eine schlichte Gedächtnis- und Kombinationsübung war, fand, so der Roman, einen ersten Höhepunkt in mathema‐ tisch-astronomischen Formelspielen, setzte sich fort bei Logikern und Grammatikern, be‐ sonders bei Philologen, für die alle möglichen sprachlichen Gebilde zum Spielmaterial wurden, vor allem aber in der Musik, wo das Spiel Kompositionsübungen bezeichnete, doch einbezogen waren ebenfalls die Architektur, sogar die Biologie und natürlich auch die Phi‐ losophie - obwohl das Spiel, so sagt es der Glasperlenspielmeister, weder Philosophie noch Religion ist, sondern eine eigene Disziplin darstellt „und im Charakter am meisten der Kunst verwandt“ ist (188); es sei aber „eine Kunst sui generis“. Und er verwahrt sich gegen den 121 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 9 Vgl. Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Das Glasperlenspiel. Zweiter Band. Texte über das Glasperlenspiel. Frankfurt / M. 1974, S. 116. 10 So Joachim Kaiser 1969, in: Materialien (wie Anm. 9), S. 215 f. 11 So Karl Schmid, in: Materialien (wie Anm. 9), S. 132. Spott des Philosophen Kant, der vom theologischen Philosophieren nichts hielt und einmal meinte, das sei eine „Zauberlaterne von Hirngespinsten“ - so sollte das Glasperlenspiel nicht verstanden werden. Das Spiel also eigentlich durchaus im Sinne des Romantikers Novalis Kombinatorik, ein Spiel letztlich um seiner selbst willen, in dem sich eine alexand‐ rinische Gelehrsamkeit präsentieren und geradezu austoben konnte. In dem Gedicht Das Glasperlenspiel heißt es: Musik des Weltalls und Musik der Meister Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören, Zu reiner Feier die verehrten Geister Begnadeter Zeiten zu beschwören. 9 Und dann ist da noch die Rede von der „magischen Formelschrift, in deren Bann / Das Uferlose, Stürmende, das Leben / Zu klaren Gleichnissen gerann“. Also intellektuelle Auf‐ klärung, der weise Chinese als Ideal, Fernöstliches als Gegengewicht zur westlichen Ver‐ standesherrschaft, Weltabgeschiedenheit der Glasperlenspieler in klosterähnlicher Ge‐ meinschaft als Gegenwelt zur Zivilisationshektik, Heiterkeit als Antwort auf die Krisenhaftigkeit der Zeit, eine Vision von Geistigkeit, wie sie am Ende des oder auch nach dem feuilletonistischen Zeitalter erscheint, auch ein Bekenntnis zum Zeitlosen, Ziel des menschlichen Daseins Harmonie, ein Geistbegriff, der absolut gesetzt ist und der nicht hinterfragt werden muss - das alles verbindet sich mit dem Glasperlenspiel. * Aber der schöne Schein hat seine Kehrseite, und dem Leser wird auch diese bald sichtbar. Die hohe Aristokratie des Geistes ist steril bis ins Selbstzerstörerische hinein, spätzeitlich, eine fragwürdige Konstruktion von Leuten, die sich von der Welt abgewandt haben, das Spiel wie in die Luft hineinkonstruiert, und man fragt sich, ob das Glasperlenspiel nicht doch nur eine höhere Art Kreuzworträtsel ist, wo man irgendwo abgespeichertes Wissen kombinatorisch miteinander verbinden kann und wo sogar ganze Fortsetzungsreihen sol‐ cher Rätsel möglich sind. Ist das Ganze nicht nur eine Art von science-fiction, 10 Innerlich‐ keitspoesie, geboren aus Zivilisationsverachtung und einer bedenklichen Selbstgenügsam‐ keit des Geistes, Spielerei von Menschen, die nichts Besseres zu tun haben und denen es im übrigen recht gut geht? Östliche Meditation als Heilmittel gegen alles und jedes, intellek‐ tuelle Auflehnung gegen die Gesetze der Spielergemeinschaft sinnlos und auch nicht ge‐ wagt, das Ganze zugleich Psychotherapie, wenn es um die Aufheiterung der Seele geht, 11 Musik als Seelentröster, und Musik des Weltalls - hat sie je jemand gehört? Alles umgeben von quasi sakraler Geheimnistuerei, Bildungsromanelemente gekoppelt mit einer Sehn‐ sucht nach Gemeinschaft, eigentlich auch eine Aufkündigung der Kantischen Forderung „Bestimme dich aus dir selbst“ - denn in Kastalien bestimmt sich niemand aus sich selbst. Am Ende vielleicht sogar so etwas wie die Verherrlichung einer Lebensunfähigkeit, die man bei den Kastaliern insgesamt vermuten darf, dazu Autoritätsgläubigkeit in einem fast schon 122 Helmut Koopmann 12 In: Materialien (wie Anm. 9), S. 235. makabren, gefährlichen Sinn. Fromme Einfalt neben intellektueller Hochleistung? Ro‐ mantik in einer weit nachromantischen Zeit, mit allem Reiz, aber auch allen Fragwürdig‐ keiten eines solchen Zustands? Das fragt sich auch der Leser, und das nicht erst seit heute. Heinz Ludwig Arnold, der Gründer von text+kritik, hat 1971 einen Beitrag zum Glasper‐ lenspiel sogar sarkastisch in Bezug auf die Kastalienwelt überschrieben mit Kadettenanstalt für eine Ordinarien-Universität?   12 Da ist eine Art Geistesdiktatur am Werk, was die Auswahl der Schüler durch die oberste Behörde angeht, die ähnlich unsichtbar bleibt wie das höchste Gericht in Kafkas Roman Der Prozess, und wenn es wohl auch Auswahlverfahren geben muss - hier läuft das Ganze eher auf Selektion hinaus, und wer sich nicht fügt, kann sich, wie im Roman jener Fritz Tegularius, nur als ‚Opfer‘ verstehen. Hat die Magie katholischer Orden den Protestanten Hesse blind gemacht für die Gefährdungen, die mit einem Or‐ densdasein nun einmal verbunden sind? Oder ist das Ganze dann nicht doch bloß ein Spiel, ein geistvolles, freilich auch steriles Spiel mit Kulturinhalten, die dem 20. Jahrhundert in großer Auswahl zur Verfügung stehen? Anders gefragt: Wie wirklich ist das Ganze über‐ haupt zu nehmen, wenn man es nicht von vornherein als gelehrte Träumerei abtun will? Das alles verstärkt den Eindruck, dass nicht nur der Zeitraum, in dem das Glasperlenspiel Mode war, vom wirklichen Leben trennt, sondern nicht weniger das Dasein der Spieler in jener sonderbaren, das Misstrauen herausfordernden Welt. Scharfe Kritik an diesem welt‐ lichen Orden, an dem Dasein einer ebenso fragwürdigen wie hochmütigen Geistigkeit kommt auch innerhalb des Romans von der Seite eines katholischen Geistlichen, der im Leben des Josef Knecht eine bedeutende Rolle spielt: Es ist ein Pater Jakobus (hinter dem sich der von Hesse verehrte Jacob Burckhardt verbirgt), und sein Verdikt lautet: Kastalien sei ein Orden ohne Gut und Böse, ohne Zeit, ohne Gestern, ohne Morgen, und das Ganze „nur eine ewige, flache, mathematische Gegenwart“ (225). Die Spieler jenes Kastalien, so jener Pater, seien eine Clique von hochnäsigen Nichtstuern, geistreich verspielten Genies ohne Sinn für Leben und Wirklichkeit, eine anmaßende und im Grunde schmarotzerische Gesellschaft von Elegants und Strebern, deren Beruf und Lebensinhalt eine Spielerei, ein unfruchtbarer Selbstgenuß des Geistes sei (178). Diese pädagogische Provinz eigentlich „ästhetisches Dandytum“ (231), die Ausbildung der Kastalier ein „aparter Züchtungsversuch“ (254), um sie herum die „dünne sublimierte At‐ mosphäre ihres gelehrt-artistischen Daseins“, das nicht getrübt werden wolle (261). Eine „restlos symmetrische und harmonische Welt“ also (267), die sich aus der zufälligen und wirren Welt herausgelöst habe, Kastalien ein Teil der wirklichen Welt und ihr doch völlig entfremdet, eine Welt, in der Heiterkeit als oberste Tugend gilt und in der viel gelächelt wird - auch da, wo es nichts mehr zu lachen gibt. Sämtliche Triebe sind dort gezähmt, alles und jegliches geordnet, Katastrophen sind unbekannt, die hässlichen Seiten des Daseins sind nicht eingelassen, das Böse allzumal ist ignoriert, Krisen gibt es nicht. In Kastalien ist die Weltgeschichte zurechtdestilliert zur bloßen Geistes- und Kunstgeschichte. Denn ei‐ gentlich spielt man nur, nimmt das Spiel ernster als alles andere, und in Kastalien scheint damit auf fast kuriose Weise eine Feststellung Schillers in dessen Briefen Ueber die ästhe‐ 123 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 13 von Wiese, Benno (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann. Weimar 1962, S. 359. 14 Zitiert bei Ernst Robert Curtius: Der homo ludens, in: Materialien (wie Anm. 9), S. 69. tische Erziehung des Menschen umgesetzt zu sein, wo der Satz zu finden ist: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. 13 Es ist das Glasperlenspiel, das diese Freiheit ermöglicht. Im Roman selbst wird ein noch tiefreichenderer Vorbehalt gegen diese Welt des schönen Scheins vorgebracht: Es ist eine Welt ohne Geschichte. Des Paters Jakobus Kritik durchzieht wie ein roter Faden den ganzen Roman; eure Geschichte ist ohne Blut und Wirklichkeit; ihr wisset genau Bescheid über den Verfall des lateinischen Satzbaues im zweiten oder dritten Jahrhundert und habet von Alexander oder von Cäsar oder von Jesus Christus keine Ahnung (225). Geschichte treiben, so jener Pater Jakobus, aber heißt, „sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren“ (226). Die Glasperlenspieler fliehen die Geschichte. Pater Jakobus alias Jacob Burckhardt jedoch hält ein Plädoyer für die Historiographie: Geschichte treiben […] ist kein Spaß und kein verantwortungsloses Spiel. Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, daß man damit etwas Unmögliches und dennoch Notwendiges und höchst Wichtiges anstrebt (226). Nur darin zeige sich die ordnende Macht unseres Geistes - jede Wissenschaft sei ein Ordnen, ein Vereinfachen, ein Verdaulichmachen des Unverdaulichen für den Geist. „Wir glauben in der Geschichte einige Gesetze erkannt zu haben und versuchen, auf sie beim Erkennen der geschichtlichen Wahrheit Rücksicht zu nehmen“ (225 f.) - so jener Pater in der Verteidigung des Historikers. Er trifft bei Josef Knecht auf einigermaßen taube Ohren. Der katholische Orden der Benediktiner, der jener Pater angehört, verfügt reichlichst über Vergangenheit, in Kastalien wird sie nicht beachtet. Alles also doch nur gedankliche Akrobatik auf dem Hochseil eines elitären Zirkus, dem Spielen Selbstzweck ist? Ja, zum Teil sicherlich. Hesse selbst war so etwas wie ein homo ludens, 1927 etwa heißt es bei ihm in einem Notat: Was mich betrifft, so glaube ich, daß kein anständiger und arbeitsamer Mensch mir mehr die Hand geben würde, wenn er wüßte, wie wenig Wert die Zeit für mich hat, wie ich Tage und Wochen, ja Monate vergeude, mit welchen Spielereien ich mein Leben vertue. 14 Zu den Spielereien mit gelegentlich humoristischem Beiklang gehört wohl auch die Na‐ mensgebung in diesem Roman. Das Motto stammt von einem gewissen Albertus Secundus - einen solchen gab es gar nicht, wohl aber Albertus Magnus, der auch schon in der Mor‐ genlandfahrt begegnet. Ein gewisser Clangor soll einen Traktat des Albertus Secundus ediert haben, zusammen mit Collofino. Ein kaustischer Scherz Hesses - Clangor ist eigent‐ lich Franz Schall, ein Schulkamerad, und Collofino, der „Rauchzauberer“, als der er in der Morgenlandfahrt auftaucht, ist ebenfalls ein Freund Hesses namens Feinhals. Wenn ein Carlo Ferromonte erscheint, so ist sein Neffe Carlo Isenberg gemeint, Pater Jakobus steht 124 Helmut Koopmann 15 Ich folge hier Joseph Mileck: Die Namen in Hesses Glasperlenspiel, in: Materialien (wie Anm. 9), S. 169 f. Mileck hat noch weitere Namen entschlüsselt. 16 Ebd. für den Historiker Jacob Burckhardt, und Hesse nimmt sich selbst nicht aus in diesem be‐ ziehungsreichen Namensspiel: Jener Chattus Calvensis II , dessen vierbändiges Werk über die Aussprache des Lateins an den Hochschulen des südlichen Italien gegen Ende des 12. Jahrhunderts ein Fragment blieb, ist ein Selbstporträt: Chattus ist die latinisierte Form von Hesse, Calvensis bezieht sich auf Hesses Geburtsort Calw. Und Thomas von der Trave ist natürlich kein anderer als Thomas Mann. Hesse selbst kommt noch zweimal vor in selbstironischer Verkleidung: der Magister Musicae in Monteport, das ist er selbst in Mon‐ tagnola. Und der ältere Bruder in der Bambus-Eremitage ist wohl ein weiteres Selbst‐ porträt - auch in Hesses Garten in Montagnola gab es ein Bambusgehölz. Nicht alle Namen freilich sind derart durch die Übersetzung ins Lateinische in ein ironisches Licht getaucht - aber wo dem so ist, da ist es wohl nur aus spielerischer Neigung geschehen. Zu vermuten ist, dass Fritz Tegularius (rückübersetzt heißt er Ziegelbrenner oder Dachdecker) für Fried‐ rich Nietzsche steht und dessen Geringschätzung der Geschichte. 15 Und Knechts Vorname Josef - es kann der biblische Joseph gemeint sein, aber auch der Joseph aus Thomas Manns Josephs-Romanen. Hesse hat das absichtsvoll im Ungewissen gelassen und damit den Cha‐ rakter des Spielerisch-Unglaubwürdigen nur noch verstärkt. Folgt Hesse mit seinem Roman nur seinen eigenen spielerischen Neigungen? Er hat Für‐ sprecher. Der große Romanist Ernst Robert Curtius etwa hat das Spiel verteidigt und 1947 in seiner Besprechung des Glasperlenspiels gesagt: Spielen und spielen können ist eine der wichtigsten Funktionen des Verhaltens zur Welt […]. Tiere und Menschen, aber auch Götter spielen, in Indien wie in Hellas. Platon sieht im Menschen eine Gliederpuppe, die von den Göttern vielleicht bloß zu ihrem Spielzeug angefertigt wurde. 16 Homo ludens ist 1938 der Titel eines Buches von Johan Huizinga, der nachzuweisen suchte, wie bedeutsam spielerische Elemente in der menschlichen Kulturentwicklung gewesen sind. Dazu gehören zweifellos auch Utopien als ein Jenseits der Zeit, was mehr ist als ein Jenseits der Geschichte. Romane jenseits der Zeit hat es fast gleichzeitig auch anderswo gegeben: etwa bei Franz Werfel mit seinem Stern der Ungeborenen (1946), und utopischer Zukunftsroman im Sinne einer Darstellung zeitloser Welten ist Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947), ebenfalls Ernst Jüngers Heliopolis (1949). Doch Fragen bleiben. Ist auch der Roman Hermann Hesses wie jene anderen eine Flucht aus der Jetzt-Zeit? Also am Ende doch alles nur in die Luft gespiegelt, eine harmonische Welt vorgegaukelt, deren Bewohner so betulich miteinander umgehen, als könnten sie wegen Ruhestörung belangt werden, wenn sie einmal aus ihrem Kokon der Selbstzufriedenheit und des freundlichen Miteinanders ausbrechen möchten und etwas lauter werden? Eine heile Welt im Zukünf‐ tigen, um Jahrhunderte entfernt von jener zerstörten Welt, in der das Buch entstand? Viel‐ leicht sogar eine etwas altmodische Welt, auch literarisch gesehen? Wenn wir den literarischen Kontext des Romans betrachten, muss sich dieser Eindruck noch verstärken. Denn in der Idee Kastalien steckt unverkennbar Goethes pädagogische Provinz, wobei das Wort Provinz nicht negativ zu verstehen ist - wir wissen ja, wie groß 125 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel der Goethe-Einfluss vor allem nach 1945 in Deutschland gewesen ist. Doch da sind noch mehr literarische Bezüge aufzuspüren. Der ewigsuchende Josef Knecht: Das könnte auch Faust in etwas verschleierter Metamorphose sein, der immer unterwegs ist, alle Welten‐ kreise durchläuft, den Tod während des Traumes von einem neuen Leben findet. Aber es gibt auch einen höchst aktuellen nichtliterarischen Kontext. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die Frage aufgekommen, wie es um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bestellt sei; die Weltkriegsereignisse hatten Massenphänomene sichtbar gemacht, die vorher kaum wahrgenommen worden waren, und die Frage nach der Indivi‐ dualität stellte sich fast unausweichlich in Jahren, in denen Massenphänomene auch lite‐ rarisch behandelt wurden: bei Thomas Mann am Ende seines Romans Der Zauberberg, bei Döblin am Ende von Berlin Alexanderplatz, später bei Hermann Broch in seinem Roman von Massenwahn und Massenhysterie in Der Versucher. Das problematische Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, des Individuums zur Gemeinschaft durchzieht mit seinem Für und Wider als roter Faden auch Das Glasperlenspiel. Auf der Eliteschule in Kastalien zählt In‐ dividualität nicht. Sie ist zu überwinden, und als Josef Knecht zum Magister wird, da sagt der greise Musikmeister beziehungsvoll zu ihm: „Denke immer ans Ganze“ (304). Die Ge‐ meinschaft der Glasperlenspieler ist dieses Ganze, selbst in den von den einzelnen Spielern zusammengestellten Spielen zeigt sich nichts Individuelles oder Persönliches, und wenn auch die Hierarchie unverrückbar bleibt - der Einzelne gibt seine Individualität gleichsam auf, je höher er steigt. Es gibt für den Glasperlenspieler, selbst wenn er noch ein Adept ist, keinen Zwiespalt „zwischen Privat und Öffentlich“ (97), weil Privates nicht zählt und Öf‐ fentlichkeit nur diese Art mönchischer Gemeinschaft ist, auf die hin er erzogen wird. Der Kastalier kommt zu sich selbst, indem er, kurz gesagt, seine Individualität aufgibt, und wer dazu nicht bereit ist, muss Kastalien am Ende wieder verlassen. An der problematischen Figur des Fritz Tegularius, der immer aufmüpfig bleibt und sich nicht den kastalischen Regeln fügen will, wird gezeigt, wohin das führt: Er hat in den Augen eines echten Glas‐ perlenspielers einen „Charakterfehler“, nämlich „eine im tiefsten unhierarchische, völlig individualistische Gesinnung und Lebensführung“ (369), und das macht ihn zum Widersa‐ cher, macht ihn ungeeignet für ein Dasein in Kastalien. „Anpassung“ (393) ist die Forderung an die Eleven, Rebellion gegen die Gemeinschaft der Ordensbrüder undenkbar, und wenn sie dennoch gewagt wird, dann ist der Auszug aus der heilen Welt Kastaliens unvermeidbar. Diese Unmöglichkeit eines individuellen Lebenslaufes nun wird demonstriert in einem Roman, der nichts anderes beschreibt als den Verlauf eines einzelnen Lebens. Ein Wider‐ spruch in sich? Es sieht über weite Partien hin so aus. Aber der Lebenslauf des Josef Knecht erschöpft sich nicht im Dienst an der mystischen Gemeinschaft der Kastalier - Josef Knecht bricht schließlich aus, gibt sein hohes Amt auf. Er desertiert, will Erzieher werden in jener Welt außerhalb der kleinen Provinz Kastalien; er wird zum Lehrer des Sohnes eines früheren Freundes, der Kastalien früh verließ und der ein problematisches Verhältnis zur Welt der kastalischen Geistigkeit behalten hat. Kastalien, so lesen wir, war der alten Familie Desig‐ nori „etwas schuldig geblieben“ (580), und an Tito, dem Sohn, soll so gleichsam diese Schuld abgetragen werden. Das sieht Knecht als seine Aufgabe an, und es erscheint ihm sinnvoll, „daß diese Aufgabe gerade ihm zufiel, dem Ungehorsamen und scheinbar Abtrünnigen“ (580). Tito begegnet in dem flüchtig gewordenen Kastalier aber nicht einem beliebigen 126 Helmut Koopmann Schulmeister, sondern „einem Herrn, einem Edelmann“, „dem geistigen, dem erzogenen Adel“ (578); es ist unschwer zu erkennen, dass Hesse hier den Aufsatzband Thomas Manns Adel des Geistes zitiert. Ein Ausbruch also aus der Welt der mönchischen Geistigkeit, und damit ein Ende einer Utopie? Widerlegt der ungehorsam Gewordene damit jenen Traum von einer Geistigkeit, die sich im Spielen äußert und sich zugleich darin erschöpft? Tritt die Erziehung eines einzelnen Eliteschülers an die Stelle jener Spielermentalität, die vom Einzelnen nichts wissen wollte? Oder lässt Knecht den Ort hinter sich, weil er ohnehin seine beste Zeit überschritten hat? In dem Schreiben an die Erziehungsbehörde, in dem Knecht die Behörde ersucht, ihn seines Amtes als Magister Ludi zu entheben, lesen wir: Also ich betrachte für den Fall politischer und namentlich kriegerischer Umwälzungen das Glas‐ perlenspiel als verloren. Es wird rasch verkommen, auch wenn noch so viele Einzelne ihm die Anhänglichkeit bewahren, und es wird nicht wiederhergestellt werden. Die Atmosphäre, die einer neuen Kriegsepoche folgen wird, wird es nicht dulden. Es wird ebenso verschwinden wie gewisse höchstkultivierte Gepflogenheiten in der Geschichte der Musik […], und die, welche alsdann seine Geschichte, sein Entstehen, seine Blüte und sein Ende studieren, werden seufzen und uns darum beneiden, daß wir in einer so friedlichen, so gepflegten, so reingestimmten geistigen Welt haben leben dürfen (497). Das ist für Josef Knecht aber nun Vergangenheit; er beginnt ein neues Leben, vita nuova, und ihm fallen dazu Verse ein: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns be‐ schützt und der uns hilft, zu leben“ (511). Von wem stammen sie? Irgendwann kommt Josef Knecht auf den Verfasser: Er selbst war es, der Magister Ludi. Es geht also um etwas, womit Knecht diese seine Verse überschrieben hatte: um Transzendieren. Transzendieren: ein Zuruf und Befehl, eine Mahnung an sich selbst, als einen neu formulierten und bekräftigten Vor‐ satz, sein Tun und Leben unter dies Zeichen zu stellen und es zu einem Transzendieren, einem entschlossen-heitern Durchschreiten, Erfüllen und Hintersichlassen jedes Raumes, jeder Weg‐ strecke zu machen (514). Und dann zitiert er sich selbst noch eine Strophe: Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stufʼ um Stufe heben, weiten. Eine Art Besinnungslyrik, mit der wir es hier zu tun haben, so etwas wie die moralische Mobilmachung, einen neuen Anfang zu wagen. Über die Qualität dieser Verse, die später mit Stufen überschrieben wurden, kann man streiten; es ist ein wenig betulich, was Knecht da formuliert hat, und Freund Tegularius findet darin sogar „etwas Befehlendes, etwas Mo‐ ralisierendes oder Schulmeisterliches“ (515). Knecht ist offenbar selbst nicht so ganz von der Qualität seiner Verse überzeugt, doch er vernimmt die Stimme als nur für ihn bestimmte und meint: „es ist Zeit aufzubrechen“ (517). Er meditiert darüber, dass sein Weg nicht immer geradeaus gegangen sei, sondern eher eine Spirale glich - das Gradlinige gehöre offenbar nur der Geometrie, nicht der Natur, dem Leben an. Aber ins Leben, ins freie Leben will Josef Knecht zurück. Es ist eine Entscheidung gegen die Gemeinschaft, gegen das Auslöschen 127 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel des Individuums in einem größeren Ganzen. Und damit ein Beitrag Hesses zur Frage, wie sich der Einzelne zu jenem Anderen in der kastalischen Erscheinungsform einer mönchs‐ ähnlichen Gesellschaft verhalten sollte. Doch der frühere Glasperlenspiel-Meister, der die Spielergemeinschaft hinter sich ge‐ lassen hat, kommt nicht weit. Der junge Schüler Tito fordert Knecht, seinen neuen Lehrer, bald schon zu einem morgendlichen Wettschwimmen in einem Gebirgssee heraus, das Josef Knecht nicht überlebt: Tod im Wasser, durch Herzversagen. Knecht dürfte etwa sechzig Jahre alt gewesen sein - Genaueres erfahren wir nicht. Hesse ist nicht der einzige, bei dem ein Unglück einen Roman beendet; manchmal wird einem Liebespaar das Übersehen einer Kurve im Apennin zum Verhängnis (Günter Grass, Unkenrufe), manchmal gibt die Cholera Anlass zu einem unfreundlichen Abgang (Thomas Mann, Der Tod in Venedig), manchmal hilft ein Schlaganfall hinüber (Wolfgang Koeppen, Der Tod in Rom). Hier aber wirft das Ende neue Fragen auf. Sollte der Tod im Bergsee den entlassenen und davongelaufenen Glas‐ perlenspielmeister davor bewahren, ein neues Leben außerhalb Kastaliens zu beginnen, dessen Ausgang ungewiss ist? Wird damit das Ende der kastalischen Welt an seinem be‐ deutendsten Repräsentanten vorweggenommen? Oder entschließt sich Josef Knecht zu einem Dasein als Individuum, also zu einer Lebensform, die in Kastalien verachtet und verpönt war? Oder bestraft das Schicksal den abtrünnig gewordenen Josef Knecht auf seine Weise? Der Tod als Rache, als Sühne, als symbolisches Ende der Welt des Geistes? Kann sein. Oder der Tod als bedeutungsloses Ereignis, da in dem jungen Tito Designori die Bot‐ schaft des kastalischen Ethos auch ohne seinen Lehrer weiterleben wird? Kann ebenfalls sein. Der Roman bestätigt nichts von alledem, widerlegt aber auch nichts. Der Roman‐ schluss, der Tod Josef Knechts im Gebirgssee, hat viele Deutungen gefunden - befriedigend ist keine. * Wie wollen wir Hesses Glasperlenspiel am Ende lesen? Ist da nicht doch nur eine weltferne Utopie ausgemalt, aus Sehnsucht nach einer solchen in Zeiten der Unordnung? Manches ist sichtbarlich antiquarisch, die Romanform alles andere als revolutionär: Es ist ein Le‐ benslauf-Roman, wie es ihn im 19. Jahrhundert mannigfach gab. Die großen Romane jener Epoche sind fast alles Lebenslauf-Romane, von Mörikes Maler Nolten über Kellers Der grüne Heinrich bis zu Fontanes Effi Briest, von Meyers Jörg Jenatsch bis zu Raabes Hungerpastor, um nur die bekanntesten zu nennen. Es war das Jahrhundert, in dem das Individuum hoch‐ geschätzt war, Folgeerscheinung jener romantischen Verherrlichung der Individualität, die sich bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts überall abgezeichnet hatte. Manche dieser Le‐ bensläufe enden tragisch, viele präsentieren sich aber am Schluss doch im Einklang mit ihrer Welt. Diesem Muster folgt auch Hesses Glasperlenspiel. Aber diese Lebenslauf-Romane sind von heute her gesehen doch eher Relikte aus einer älteren Zeit. Denn im 19. Jahrhun‐ dert waren auch andere Romanformen genutzt worden: Mit Zeitromanen wie Immermanns Die Epigonen, mit den vielen sozialen Romanen zwischen 1840 und 1860, mit dem Gesell‐ schaftsroman und mit dem Experimentalroman des deutschen Naturalismus waren Erzähl‐ weisen aufgekommen, die den traditionellen Lebenslauf-Roman als antiquiert erscheinen lassen mussten. Mit Döblins Berlin Alexanderplatz war der Großstadtroman auf den Plan getreten, mit Kafkas Prozess und mit seinem Schloss waren kryptische Romane erschienen; 128 Helmut Koopmann 17 Curtius, Ernst-Robert: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart / Berlin 5, 6 1933. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 20. 20 Ebd., S. 24. mit Thomas Manns Zauberberg erhielt der Zeitroman eine neue Dimension, und im Ver‐ gleich damit ist der Roman vom Glasperlenspiel doch so etwas wie ein Rückfall in eine veraltete Erzählform. Hesse scheint nichts mitbekommen zu haben von Döblins frühem Berliner Programm aus dem Jahre 1913, der eine Absage war an alles, was den Roman im 19. Jahrhundert so berühmt wie berüchtigt gemacht hatte, nämlich seine „psychologische Manier“. Dinge sollten gefälligst, so Döblin, an die Stelle dessen treten, was vorher der psychologischen Erkundung eingeräumt worden war, der Tatsachenroman war aktuell, der traditionelle Roman abgehalftert; ungefähr in der Zeit, in der Hesse mit Überlegungen zu seinem Glasperlenspiel umging, schrieb Döblin den Aufsatz Der Bau des epischen Werks, 1929. Es war ein Plädoyer für einen Roman, der sich durchaus in der Sphäre der historischen, aktenmäßig belegten Fakten bewegt, der aber doch zugleich die Oberfläche der Realität durchstößt, der Ur-Situationen sichtbar machen soll, wie sie sich bei Odysseus, im Don Quijote des Cervantes, beim wandernden Dante zeigen - eben das war in den dreißiger Jahren literarische Modernität, Berlin Alexanderplatz kein Einzelfall, denn da gab es auch Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie und Musils Mann ohne Eigenschaften, und wenn Ich-Romane geschrieben wurden, dann waren es Romane, die das problematische Ver‐ hältnis eines Ich zur Welt darstellten und die in die Nähe der Existenz-Philosophie der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre gehörten. Nichts davon bei Hesse. Statt dessen der Roman eines in vieler Hinsicht ausgezeichneten Individuums, eines Glückskindes sogar, eines vom Schicksal in jeder Hinsicht Bevorzugten, der Selbstgewissheit ausstrahlt, der mit sich einig ist. Ein etwas antiquiert wirkendes literarisches Gebilde also; bezeichnenderweise sind an das eigentliche Romangeschehen noch drei unterschiedliche Lebensläufe ange‐ hängt, die als Variationen des einen großen Lebenslaufes des Josef Knecht gelten können. Aber man würde dem Roman nicht gerecht, sähe man ihn nur in seiner formalen Alter‐ tümlichkeit. Auf seine Art war Das Glasperlenspiel auch in anderer Hinsicht durchaus zeit‐ bezogen, auf die Jahre der Zwischenkriegszeit hin orientiert. Hinter der Kritik am „feuille‐ tonistischen“ Zeitalter verbirgt sich neben der Frage nach der Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft oder des Einzelnen zur Masse noch ein weiteres zeitgenössisches Thema: der Verlust an Geist und Geistigkeit. Jene Jahre der Zwischenkriegszeit waren auch für andere eine geistlose Zeit. Dafür gibt es ein prägnantes paradigmatisches Zeugnis. Aus dem Jahr 1932 stammt ein Buch mit dem Titel Deutscher Geist in Gefahr des schon erwähnten Ernst Robert Curtius, 17 und da wird ebenfalls Gericht gehalten über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. „Wir haben auch eine Not des Geistes“, ist dort zu lesen. 18 „Bildungsabbau und Kulturhaß“ ist ein Kapitel dieses Buches überschrieben. Curtius zitiert Max Scheler, nennt Hugo von Hofmannsthals Münchner Rede von 1927 über Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation ein letztes denkwürdiges Ereignis der deutschen Bildung. Selbst der damalige preußische Kultusminister Becker wird zitiert mit seiner Schrift Das Problem der Bildung in der Kulturkrise der Gegenwart, 1930. Und Curtius kommentiert: „Auch er stellt den Zusam‐ menbruch unserer Bildungsnormen fest“. 19 Curtius erwähnt neben dem völkischen Kultur‐ hass den sozialistischen Kulturhass, 20 aber als die eigentlichen Geistgegner sieht Curtius 129 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 21 Ebd., S. 43. 22 Ebd., S. 21. 23 Ebd., S. 20. 24 Ebd., S. 33. 25 Zitiert bei Schwarz, Egon: „Hermann Hesse und der Nationalsozialismus“. Hermann Hesse. Politische und wirkungsgeschichtliche Aspekte [= Vierzehntes Amherster Kolloquium zur deutschen Literatur] Hgg. Sigrid Bauschinger und Albert Reh. Bern 1984, S. 55-71; hier S. 64. nicht die Pöbelhorden von links und rechts, sondern „Intellektuelle“. 21 Anders gesagt: Die Intellektuellen haben versagt, sie haben dem Niedergang der Kultur, von dem seit Spenglers Untergang des Abendlandes von 1917 bzw. 1922 immer und überall die Rede war, nichts entgegengesetzt, sie haben ebenfalls dazu beigetragen, dass es zum Kulturhass kam, zum Bildungsabbau, zur „Kulturindifferenz eines schwächlichen Bürgertums, 22 zum Kulturver‐ lust auf der ganzen Linie, in Hesses Worten: zum feuilletonistischen Zeitalter. Curtius for‐ dert dagegen „eine straffere Zucht des Denkens und Lernens, eine höhere Achtung der Vernunft, eine größere Ehrfurcht vor der Tradition“. 23 In Kastalien, dieser Insel des Geistes im Jahr 2400, ist das alles zu finden; Das Glasperlenspiel ist auch ein Gegenmodell zu dem, was Curtius als Kulturverfall der zwanziger und frühen dreißiger Jahre beschrieben hat. Es ging ihm um eine „lebendige Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte“ 24 - und wir wissen nur zu gut, dass davon nicht erst seit 1933 nicht mehr die Rede sein konnte. Aber in dieser etwas pathetischen Formulierung von der lebendigen Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte ist das Wesen und der Sinn Kastaliens eigentlich gut erfasst. Der Roman also nichts weniger als auch ein Vorwurf an die Intellektuellen jener Jahre: Sie hatten versagt. Auch das spricht dafür, im Glasperlenspiel einen Zeitroman zu sehen und nicht oder doch nicht nur eine Biographie aus ferner Zukunft. Hesse stand mit seinem Plädoyer für eine bessere Gesell‐ schaft, wie sie in Kastalien verwirklicht ist, im übrigen nicht allein; Ideen von einer dem Geistigen sich allein verantwortlich fühlenden Gemeinschaft, von einem von der übrigen Welt abgetrennten und herausgehobenen Geistes-Orden finden sich auch im Kreis um Stefan George schon um 1900; selbst wenn es dort nicht katholisierende Vorstellungen von einer Ordensgemeinschaft waren, so gab es doch eine Gemeinschaftsideologie; der George-Kreis war ein Kreis von Jüngern um einen Meister, der sich bewusst aus der Zeit zurückzog, und das war nicht nur dichterische Fiktion, sondern durchaus Realität. Wunsch‐ träume von einer ordensähnlichen Gemeinschaft fanden sich auch anderswo, etwa in der deutschen Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit. Aber wir werden dem Roman auch damit allenfalls halbwegs gerecht - wir tun gut daran, Hesses Kastalien vor allem als Gegenentwurf zu Elitevorstellungen des Dritten Reiches zu verstehen, zur Naziwelt, in der es auch Ordensburgen gab und Eliteschulen, Napolas ge‐ nannt, nationalpolitische Erziehungsanstalten, auf denen die Elite der Nazis ausgebildet wurde. Hesse war über alles das trotz seiner schweizerischen Abgeschiedenheit ausge‐ zeichnet informiert. Er hatte schon der Weimarer Republik ablehnend gegenübergestanden, hat ihn als „haltlosen und geistlosen Staat“ bezeichnet, entstanden aus dem Vacuum, aus der Erschöpfung nach dem Kriege. Die paar guten Geister der ›Revolution‹, welche keine war, sind totgeschlagen, unter Billigung von 99 Prozent des Volkes. Die Gerichte sind ungerecht, die Beamten gleichgültig, das Volk vollkommen infantil. 25 130 Helmut Koopmann 26 Hesse, Hermann: Politik des Gewissens. Die politischen Schriften 1914-1932. Erster Band. Hg. Volker Michels. Frankfurt / M. 1977, S. 407. 27 So Egon Schwarz in Hermann Hesse (wie Anm. 25), S. 64. 28 Zitiert bei Egon Schwarz, ebd., S. 59. 29 So Egon Schwarz in Hermann Hesse (wie Anm. 25), S. 69. 30 Ebd., S. 180. 31 Below, Jürgen: Hermann Hesse-Handbuch. Quellentexte zu Leben, Werk und Wirkung. Frank‐ furt / M. 2012, S. 172. Bereits 1922 hatte Hesse sich genötigt gesehen, auch einmal ein Wort über eine der häßlichsten und törichtsten Formen jungdeutschen Nationa‐ lismus zu sagen, über die blödsinnige, pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarden und ihrer zahlreichen, namentlich studentischen, Anhänger. 26 Seine Äußerungen zum Nazistaat sind kompromisslos, obwohl man ihm nachträglich ge‐ legentlich ein geradezu „passioniertes Nicht-Engagement“ aus seiner sicheren Schweizer Distanz heraus vorgeworfen hat. 27 Von Rasse-Ideen hat er nichts gehalten, spottete schon 1919 über „Leute, die in organisierten Verbänden das blonde Haar und blaue Augen als höchste Tugenden pflegen“. 28 Das ist unmissverständlich. Auf der anderen Seite gibt es bei Hesse aber immer wieder auch Rückzugsideen; das war nicht unbedingt Eskapismus, wohl aber so etwas wie eine innere Emigration, wie man gesagt hat. 29 Hesse hat sich im übrigen direkt und immer wieder zu seiner Zeit geäußert; seine politischen Betrachtungen sind so lesenswert wie seine Romane, und die beiden voluminösen Bände seiner politischen Schriften, vom Herausgeber Volker Michels mit Politik des Gewissens überschrieben, lassen das Bild von dem versponnenen und verspielten Kleingärtner in Montagnola, der sich vor‐ nehmlich um seine Pflanzen kümmert, der gelegentlich dichtet und gelegentlich auch malt, als völlig verfehlt erscheinen. * Das Glasperlenspiel hatte kurz nach seinem Erscheinen der deutschen Ausgabe eine gewal‐ tige Resonanz. Da erfüllte sich, wie Siegfried Unseld schrieb, nach einer Zeit der Schrecken „die Sehnsucht nach einem reinen und höheren Dasein“. 30 Der Roman wirkte wie ein Heil‐ mittel gegen alles Zerstörte, und zerstört war damals nahezu alles. Später wurde es stiller. Hesse gelangte noch einmal zu Weltruhm, vor allem in den USA , in der Zeit des Vietnam‐ krieges - sein Steppenwolf wurde zum Kultbuch jener Generation, die protestierte, wurde zur Pflichtlektüre nicht angepasster, gegen den Krieg rebellierender Studenten; jeder, der damals etwas auf sich hielt, trug einen Bart und die amerikanische Übersetzung des Step‐ penwolf mit sich herum, und jener frühe Roman kam kurioserweise erst über die USA danach wieder nach Deutschland zurück. Darüber wurde das Glasperlenspiel fast in den Hintergrund gedrängt. Doch der Roman wurde in achtundzwanzig Sprachen übersetzt, und die deutsche Gesamtauflage ab 1943 beträgt etwa zwei Millionen Exemplare. 31 Ein großer Bewunderer des Glasperlenspiels war Thomas Mann, der wohl auch wesentlich dazu bei‐ getragen hat, dass der Nobelpreis 1946 an Hesse verliehen wurde. Er hat gemeint, sein Doktor Faustus und das Glasperlenspiel seien Bruderwerke, und hat auf die Verwandtschaft beider wiederholt und ausdrücklich hingewiesen. Als sein Doktor Faustus erschien, 131 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 32 Vaget, Hans Rudolf (Hg.): Thomas Mann - Agnes E. Meyer. Briefwechsel 1937-1955. Frankfurt / M. 1992, S. 543. 33 Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band VI. Frankfurt / M. 1974, S. 647. 34 In: Materialien (wie Anm. 2), S. 295. schenkte er Hesse ein Exemplar und schrieb in dieses hinein: „Hermann Hesse - dies Glas‐ perlenspiel mit schwarzen Perlen von seinem Freunde Thomas Mann“. 32 Und Thomas Mann wiederum erscheint als Thomas von der Trave ja deutlich genug im Glasperlenspiel. Ist die von ihm bekundete Brüderlichkeit, die Nähe, ja die Wahlverwandtschaft der beiden Romane überzeugend? In manchem schon. Am 7. März 1944 hatte Thomas Mann von Hesse das Glasperlenspiel erhalten, und es muss ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sein, dass die Verwandtschaft in einem Punkt tatsächlich gegeben war: Er schrieb an Agnes E. Meyer, seine amerikanische Mäzenatin: Das Glasperlenspiel etwas völlig Versponnenes, Einsames, Tiefsinniges, Deutsches und Dollar-Fernes, unübersetzbar, enorm deutsch. Dabei hat es, schon als fingierte Biographie, aber auch durch die Rolle, die die Musik darin spielt etc., eine unheimliche, geisterhaft brüderliche Verwandtschaft mit meiner eigenen gegenwärtigen Schreiberei. Es ist immer eine eigentümlich verletzende Entdeckung, dass man nicht allein auf der Welt ist. Goethe fragt einmal unverfroren: ‚Lebt man denn, wenn andre leben? ‘ 32 Ja, da ist Nähe. An sich hat Thomas Mann genau das gewollt, was Hesse in seinem Glas‐ perlenspiel ebenfalls vorschwebte: das vollkommen durchkomponierte Werk, im musikali‐ schen Sinne und Verständnis. Was im Roman vom Doktor Faustus von der Musik gefordert wird, dass es da nichts Unthematisches geben dürfe, dass die Musik polyphon sein müsse im Sinne dessen, dass sie ein „bewußtes Verfügen über sämtliche Ausdruckscharaktere“ betreibe, „die sich in der Geschichte der Musik je und je niedergeschlagen“ haben, wie es in Thomas Manns Roman heißt, 33 das hat sich eigentlich in Hesses Glasperlenspielerei er‐ füllt. Aber bei näherer Betrachtung werden auch die Unterschiede sichtbar: Musik ist bei Hesse höchstes Geisteserzeugnis, Musik im Doktor Faustus Teufelsmusik, Produkt eines bösen Paktes, die Dämonie der deutschen Seelengeschichte bekommt ihr Abbild in dem, was Adrian Leverkühn, der Held des Faustus-Romans, von Syphilis und dem Teufel infiziert, komponiert. Im übrigen: Thomas Manns Neigung ging ins Rückwärtige, ins Historische und Mythische hinein, auch im Doktor Faustus, und er hat nie erwogen, eine Zukunftsno‐ velle oder gar einen Zukunftsroman zu schreiben. Es war also allenfalls Brüderlichkeit auf große Distanz. Doch es ging Hesse sicherlich nicht nur um die kompositorischen Ideale der für ihn höchsten Kunst, der Musik und deren Übertragung in einen Roman. Im Januar 1955 hat er in einem Brief an Rudolf Pannwitz noch einmal erklärt, warum er auf das Glasperlenspiel überhaupt gekommen sei, und da wird deutlich, dass Hesse keinen unverbindlichen Zu‐ kunftsroman hatte schreiben wollen. Mit den Reden Hitlers und seiner Minister sei so etwas wie Giftgas aufgestiegen, heißt es in diesem Brief, „eine Welle von Gemeinheit, Verlogen‐ heit, hemmungsloser Streberei, eine Luft, die nicht zu atmen war“. 34 Die Sprache sei damals entheiligt worden und die Wahrheit entthront, das Leben in Frage gestellt. Das sei, so meinte Hesse, der Augenblick gewesen, in dem er alle rettenden Kräfte in sich habe aufrufen 132 Helmut Koopmann 35 Ebd., S. 296. müssen und alles, was er an Glauben besessen habe, nachzuprüfen und zu befestigen hatte. Das sei nicht mehr die Welt des eitlen Kaisers und seiner halbgötterhaften Generäle, son‐ dern das seien schwerste Drohungen und Gefahren für seine physische und geistige Exis‐ tenz gewesen. In dieser ungeheuerlichen Bedrohung der Sprache und des Lebens überhaupt habe er einen alten Plan wieder aufgegriffen, der sich aber sofort unter dem Druck des Augenblicks stark verwandelt habe. Er schreibt wörtlich: Es galt für mich zweierlei: einen geistigen Raum aufzubauen, in dem ich atmen und leben könnte aller Vergiftung der Welt zum Trotz, eine Zuflucht und Burg, und zweitens den Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte zum Ausdruck zu bringen. 35 Es habe nicht genügt, irgendeine Vergangenheit zu beschwören, sondern: Ich mußte, der grinsenden Gegenwart zum Trotz, das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie, das Bild wurde in die Zukunft projiziert, die üble Gegenwart in eine überstandene Vergangenheit gebannt. Und zu meiner eigenen Überraschung entstand die kastalische Welt wie von selbst. Sie brauchte nicht erdacht und konstruiert zu werden. Sie war, ohne daß ich es gewußt hatte, längst in mir präformiert. Und damit war der gesuchte Atemraum für mich gefunden. Auch im Roman selbst ist dem Ausdruck gegeben. Dort sagt der von Josef Knecht so verehrte Pater Jakobus: Es können Zeiten des Schreckens und tiefsten Elends kommen. Wenn aber beim Elend noch ein Glück sein soll, so kann es nur ein geistiges sein, rückwärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeit, vorwärts gewandt zur heitern und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte (500). Die Sprache ist es wohl, die heute noch neben dieser merkwürdigen Utopie eines mönchi‐ schen Ordens berühren kann. An Handlung passiert ja fast nichts in diesem Roman, man spricht und schreibt sich einander Briefe, und es sind diese langen Gespräche, diese in ihnen wogende Sprache, kultiviert bis in die sublim-sorgfältige Wortwahl hinein, es ist die erle‐ sene Rhetorik, es sind die sorgfältig ausbalancierten Sätze, die gleich Meereswellen immer wieder an den Leser heranbranden, es ist die hohe Kunst einer ebenso eleganten wie geistreichen Konversation, es ist auch das lento in allem, was beschrieben wird, dieses langsame Sichhineinschreiben und -hineinhören in Briefen und Gesprächen, dieses par‐ lando, das sich der Zeit fast entzieht, und es sind diese mitunter großartigen Bilder wie jenes vom Nachthimmel, als der Magister Musicae mit Plinius Designori spricht: Sieh [...] diese Wolkenlandschaft mit ihren Himmelsstreifen! Beim ersten Blick möchte man meinen, die Tiefe sei dort, wo es am dunkelsten ist, aber gleich nimmt man wahr, daß dieses Dunkle und Weiche nur die Wolken sind und daß der Weltraum mit seiner Tiefe erst an den Rändern und Fjorden dieser Wolkengebirge beginnt und ins Unendliche sinkt, darin die Sterne stehen, feierlich und für uns Menschen höchste Sinnbilder der Klarheit und Ordnung. Nicht dort ist die Tiefe der Welt und ihrer Geheimnisse, wo die Wolken und die Schwärze sind, die Tiefe ist im Klaren und 133 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel Heiteren. Wenn ich dich bitten darf: blicke vor dem Schlafengehen noch eine Weile in diese Buchten und Meerengen mit den vielen Sternen und weise die Gedanken oder Träume nicht ab, die dir dabei etwa kommen (432 f.). Das ist von eindringlicher Einfachheit, wie so vieles in diesem Roman Gesagte. Die in das Erzählen eingestreuten Gedichte - manches mag tiefsinnig und zugleich banal sein, man‐ ches mag an lyrischen Kitsch grenzen, manches nimmt sich wie Oberlehrerlyrik aus. Aber das nimmt der Prosa des Romans nicht ihren Reiz. Hesses Roman ist nichts für Schnellleser und nicht für solche, die vom Roman ein gehöriges Maß an action erwarten. Auch Roman‐ theoretiker finden wenig, da gibt es kein Thesen-talk und keinen Sprachmischmasch, der Roman ist auch nichts für eine just in time-Gesellschaft. Hesse lässt sich selbst heute noch gut lesen. Das ist auch ein Appell, Das Glasperlenspiel einmal oder auch wieder einmal in die Hand zu nehmen, das Buch dieses ‚Historikers der Zukunft‘, wie man Hesse gelegentlich genannt hat. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften. Hg. 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Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Fa‐ cetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Aufsätze. Frankfurt / M. 2004. von Wiese, Benno (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann. Weimar 1962. Zeller, Bernhard: Hermann Hesse. Eine Chronik in Bildern. Frankfurt / M. 1960. 135 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel 1 Harold Nicolson, „The Nazi Mentality Studied in Three New Works“ in: The Daily Telegraph, London, 14. April 1939, S. 12. 2 Brief an Guido Devescovi vom 1. Mai 1955. Mann, Thomas: Briefe 1948-1955 und Nachlese. Hg. Erika Mann. Kempten 1965, S. 397. Thomas Mann: Doktor Faustus Heide Ziegler Dem Andenken Klaus Harro Hilzingers Thomas Mann liebte es, ein bon mot des britischen Diplomaten Sir Harold Nicolson zu zitieren, der für seine Schlagfertigkeit bekannt war. Dieser hat die Familie Mann einmal „that amazing family“ 1 genannt, und Thomas Mann hat immer behauptet, dass er ein solches Lob jedem persönlichen vorziehe. Umso tiefer hat es ihn beeindruckt, als ihm sein älterer Bruder Heinrich Mann, den Thomas Mann nicht nur als Bruder bewunderte, sondern zeit‐ lebens auch als Rivalen ansah, kurz vor seinem Tod eines seiner Bücher mit den Worten widmete: „Meinem großen Bruder, der den ‚Doktor Faustus‘ schrieb.“ 2 Denn hier verlässt Heinrich Mann offenkundig den familiären Rahmen, um seinen jüngeren Bruder schlicht und neidlos als großen Schriftsteller zu beschreiben, und dies trotz der Tatsache, dass Thomas Mann mit Doktor Faustus ein Buch geschrieben hatte, das unverkennbar auch eine politische Dimension besitzt - ein Anspruch, der sonst eher auf die Romane von Heinrich Mann zutrifft. Denn Doktor Faustus, am 23. Mai 1943, das heißt: mitten im 2. Weltkrieg begonnen und im Februar 1947 abgeschlossen, ist ein sehr deutsches Buch, ein Buch über Deutschland zu einer Zeit, als es, wie schon der mittelalterliche Doktor Faustus, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und sich somit selbst dem Untergang geweiht hatte. Thomas Mann lässt seinen Roman, den sein Erzähler, Serenus Zeitblom, als Biographie des verstorbenen Freundes Adrian Leverkühn konzipiert und am selben Tag wie Mann selbst zu schreiben beginnt, etwas vage kurz vor der Kapitulation Deutschlands im Jahr 1945 enden, also etwa zwei Jahre, bevor er selbst den Roman fertig geschrieben hat. Bis zum Mai 1945 konnten somit beide, der Autor und sein Erzähler, die jeweils geltende politische Weltlage aufmerksam verfolgen und in dem Roman unmittelbar kommentieren. Danach musste Thomas Mann auf seine Tagebücher zurückgreifen, wenn er den Fortgang der Kriegsgeschehnisse korrekt wiedergeben wollte. Das führt dazu, dass der Roman in seinen späteren Teilen zur Allegorie neigt, und Thomas Mann beklagt sich nach dem Erscheinen des Romans häufiger, etwa gegenüber der Tochter Erika, die ihm beim Edieren des gewaltigen opus vor allem am Schluss hilfreich zur Seite gestanden hatte, dass die Rezensionen zu dem Buch sich allzu sehr auf die Parallelen zwischen dem Schicksal Deutschlands und demjenigen Adrian Le‐ 3 Brief an Erika Mann vom 6. Nov. 1948. Mann, Briefe 1948-1955, S. 55. 4 Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus: Roman eines Romans. Amsterdam 1949, S. 38. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. verkühns konzentrierten. Er fügt allerdings hinzu: „Es sieht doch nicht so schlimm aus. Nur daß alle die d-e-u-t-sche Allegorie so fürchterlich hervorkehren. Bin ja selber schuld. Weiß es.“ 3 Es durfte Mann in der Tat nicht verwundern, dass ein Roman, so kurz nach dem Kriegsende erschienen, in dem der ‚Biograph‘ Zeitblom ständig auf das Dritte Reich, das heißt: das dem ‚Teufel‘ und seinen Anhängern zu verdankende Schicksal Deutschlands verweist, vor allem in der Heimat große Aufregung und auch Ablehnung hervorrief, wo man ja gerade allenthalben bemüht war, sich eher als Mitläufer denn als Mittäter der Na‐ tionalsozialisten darzustellen. Thomas Mann glaubte auch selbst, dass in dem Maße, wie die Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit zunehmend im tiefen Brunnen des Ver‐ gessens versank, dieser allegorische Aspekt des Romans in den Hintergrund treten würde. Allerdings fürchtete er zugleich, dass die Bedeutung des Romans auf diese Weise ebenfalls abnehmen würde - und in dem Abschnitt, den er „Nachschrift“ nennt und der die Zeit nach Adrians geistigem Zusammenbruch im Jahr 1930 umfasst, spiegeln sich eindeutig mehr die Ängste des Autors Thomas Mann als diejenigen des Erzählers wider. Ich sollte in diesem Zusammenhang schon kurz darauf hinweisen, dass Thomas Mann dem Roman Doktor Faustus im Jahr 1949 ein Buch mit dem Titel Die Entstehung des Doktor Faustus folgen ließ, das er im Untertitel den „Roman eines Romans“ nannte. Wir werden auf dieses Buch häufiger zurückkommen, doch sei hier schon angemerkt, dass es dort um andere Themen geht und dass Die Entstehung des Doktor Faustus im Wesentlichen ge‐ schrieben wurde, um dem Leser den Anteil zu verdeutlichen, den Theodor W. Adorno, kri‐ tischer Freund Thomas Manns und Schüler des Komponisten Arnold Schönberg, an der Beschreibung der Werke des fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn besitzt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Thomas Mann mit seiner Vermutung oder seiner Befürchtung, dass Doktor Faustus zunehmend der Vergessenheit anheimfallen könnte, nicht recht hatte. Wenn die Anzahl sekundärer Texte ein Indiz für die Bedeutung eines Romans ist, dann ist das Interesse am Doktor Faustus weiterhin ungebrochen. Worin aber besteht denn dann die politische oder ‚deutsche‘ Dimension dieses Romans, die noch heute Aufsehen erregt? Man würde es sich zu einfach machen, wollte man davon ausgehen, dass Thomas Mann allgemein vor dem Faschismus warnen will, etwa weil er glaubt, dass Faschismus immer und überall dort entstehen kann, wo Menschen sich Macht durch die Diskriminierung anderer Gruppen zu verschaffen und zu sichern suchen - ob‐ wohl dieser Aspekt, wie wir sehen werden, bei ihm durchaus eine Rolle spielt. In der Entstehung des Doktor Faustus aber lässt uns der Autor wissen, dass er - anders als bei seinen früheren Romanen, die sich mehr unter der Hand zu Romanen entwickelten - dieses eine Mal genau wusste, was er wollte und was er sich zur Aufgabe gesetzt hatte: [N]ichts Geringeres als den Roman meiner Epoche, verkleidet in die Geschichte eines hoch-pre‐ kären und sündigen Künstlerlebens. Mir war, in aller Neubegier, nicht wohl bei der Sache. Ein Werk groß zu wollen, es gleich als groß zu planen, war wahrscheinlich nicht das Richtige, - für das Werk weder noch für das Gemüt dessen, der seiner sich unterwand. 4 138 Heide Ziegler 5 Mann, Thomas: Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. Hg. Ruprecht Wimmer. Frankfurt / M. 2007 S. 738. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. Dem großen Vorhaben entsprechend sammelte sich daher im Vorfeld ein umfangreiches Konvolut von Notizen an, das dem Autor mehr Sicherheit beim Schreiben verleihen sollte: An zweihundert Halb-Quartblätter, auf denen, ungeordnet und von durchlaufenden Strichen ein‐ gefaßt, ein buntes Zubehör aus vielen Gebieten, dem sprachlichen, geographischen, politisch-ge‐ sellschaftlichen, theologischen, medizinischen, biologischen, historischen, musikalischen, sich drängte. (Mann, Entstehung, S. 29) Beobachtungen und Details aus allen diesen Gebieten werden in der Tat von Thomas Mann seinem Roman ‚montiert‘, wie er den - dem Surrealismus verpflichteten - Vorgang selbst nennt. Es geht dabei dem Autor nicht nur darum, vielfach und kenntnisreich zu zitieren, sondern jedes Zitat muss dem Werk anverwandelt werden, es muss zum integrativen Teil des Romans seiner Epoche werden. Insofern möchte ich schon hier die These vertreten, dass es Mann letztlich um die erkenntnisfördernde und erlösungstaugliche Kraft der Kunst geht, sofern der Künstler sein Werk unter vollem intellektuellem Einsatz, in asketischer Haltung und im Leide vollzieht. Gewiss, die Parallelen zwischen dem Schicksal Adrian Leverkühns und Deutschlands sind im Doktor Faustus offensichtlich und weitgehend gewollt, aber doch nur, um letztlich den Unterschied zwischen beiden zu offenbaren - dem Schicksal Deutsch‐ lands einerseits, das, in den Worten des Erzählers, „die Wangen hektisch gerötet, … dazumal auf der Höhe wüster Triumphe“ taumelte, „im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des eines Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte; “ 5 (Mit diesem Vertrag ist der von seinem Führer einseitig geschlossene gemeint, dass sein eigener Untergang den des gesamten deutschen Volkes nach sich zu ziehen hätte.) - und dem Roman Doktor Faustus andererseits, der als eine Art Gesamtkunstwerk seiner Epoche gelten darf und der nicht auf grotesker Anmaßung und Verantwortungslosigkeit, sondern auf persönlicher Leistung und eigenem Opfer beruht. Diese meinem Vortrag zugrundeliegende These soll im Folgenden näher ausgeführt und kommentiert werden. Doch zuvor soll eine Erzählstrategie von Mann erläutert werden, ohne deren Verständnis meines Erachtens der Roman als solcher nicht zugänglich ist und die Verbindung von Deutschland-Roman und Musiker-Roman sich nicht so recht erhellt. Diese Erzählstrategie deutet sich schon an in dem Titel des Romans, Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Es handelt sich bei dem Roman von dem Aspekt des Genre her gesehen also um eine Biographie, und wie Mann selbst in der Entstehung betont, „eine Biographie mit allen Charakteristiken einer solchen“ (Mann, Entstehung, S. 32), das heißt: Der Erzähler fühlt sich der Wahrheit ver‐ pflichtet, er ist etwa vor allem am Anfang bemüht, dem Leser zu erläutern, wieso er auch dann von Adrians Erlebnissen Kenntnis hat, wenn er persönlich bei dem Geschehen nicht anwesend war. Er fühlt sich - als Altphilologe und Humanist - auch zum Quellenstudium und zur Genauigkeit bei seinen Angaben genötigt, obwohl er gern häufiger seiner Zunei‐ gung zu Adrian Ausdruck geben würde. Die Freundschaft wird Serenus Zeitblom, dem Heiteren und im Grunde gern in seiner Zeit Lebenden, jedoch dadurch von Anfang an 139 Thomas Mann: Doktor Faustus erheblich erschwert, dass Adrian Leverkühn ausnehmend distanziert ist, so sehr, dass er sich außer mit diesem Freund von Kindesbeinen an mit fast niemandem duzt und den Namen seines jeweiligen Gegenübers schnell zu vergessen pflegt, kurz: dass er intellektuelle und emotionale Kälte ausstrahlt - so wie derjenige, mit dem er schließlich einen verhäng‐ nisvollen Pakt schließt, um in der modernen Musik zu einem ‚Durchbruch‘ gelangen zu können: Was ich durch die Einschaltung des Narrators gewann, war aber vor allem die Möglichkeit, die Erzählung auf doppelter Zeitebene spielen zu lassen, die Erlebnisse, welche den Schreibenden erschüttern, während er schreibt, polyphon mit denen zu verschränken, von denen er berichtet, also daß sich das Zittern seiner Hand aus den Vibrationen ferner Bombeneinschläge und aus in‐ neren Schrecknissen zweideutig und auch wieder eindeutig erklärt. (Mann, Entstehung, S. 32-33) Auf Anhieb scheint es, als ob Mann hier nur zwischen den beiden Zeitebenen unterscheidet, welche Literaturwissenschaftler in der Regel schlicht als den Unterschied zwischen ‚Er‐ zählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘ bezeichnen, das heißt: der Kriegszeit, in welcher Serenus ge‐ genwärtig erzählt und dabei die „Vibrationen ferner Bombeneinschläge“ erlebt und der ‚erzählten Zeit‘, Adrians bewusster Lebenszeit, in der er zunehmend den dämonischen Ein‐ fluss des Teufels auf seinen Freund und dessen Genie begreift - was ein Gefühl wachsender Hilflosigkeit in ihm hervorruft, das seine Hände beim Schreiben erzittern lässt, selbst wenn es ihn in seinem Vorhaben nie wanken macht, die Biographie von Adrian Leverkühn zu verfassen. Aber mit einer solchen Unterscheidung ist nichts gewonnen. Was Mann statt‐ dessen meint, ist, dass sich die Erlebnisse auf diesen beiden Zeitebenen für den Erzähler wie polyphone Stimmen verschränken; sie erklingen ihm gleichzeitig, obwohl sie als ge‐ sonderte Stimmen bestehen bleiben. Dies ist das Strukturprinzip des gesamten Romans, der Grund, warum ich Doktor Faustus einen politischen, aber eher keinen historischen Roman nennen möchte. Ein Beispiel soll diesen Unterschied näher erläutern. Im Jahr 1903 beginnt Adrian Leverkühn ein Theologiestudium in Halle an der Saale, das er nach zwei Jahren abbricht, um sich in Leipzig dem Komponieren unter der Anleitung seines alten Lehrers Wendell Kretschmar zu widmen. In Halle wird Serenus sein Kommi‐ litone, nur um Adrian nahe zu sein, obwohl er offiziell Altphilologie studiert. Beide treten der christlichen Studenten-Verbindung „Winfried“ bei. Auf einer Wanderung durch Thü‐ ringen und zur Wartburg übernachten sie in der Scheune eines freundlichen Bauern, wo sie sich nachts mit den anderen Verbindungsbrüdern in theologischen und philosophischen Debatten bis zum Sonnenaufgang verlieren. Mann verwendete als Vorlage für diese De‐ batten eine deutsche Jugend-Zeitschrift aus der Wandervogel-Sphäre. Es handelt sich um das Heft: Die Freideutsche Position. Rundbriefe der Freideutschen Kameradschaft, Nr. 4: Winter 1931. Die geschilderten Gesprächs-Positionen der Studenten stellen dabei kaum eine Vorwegnahme nationalsozialistischen Gedankenguts dar, insofern als sie keineswegs ide‐ ologisch gefärbt sind. Im nächtlichen Stroh werden zwar ausführliche Gespräche über Deutschland, die deutsche Jugend, den Sozialismus und die Bedeutung des Nationalen ge‐ führt, dies alles aber eher freundschaftlich und voll gegenseitigem spöttischem Verständnis, solange bis sie alle der Schlaf übermannt. Adrian merkt denn am Schluss auch an, dass man solcherlei Diskussionen am besten immer ermüdet und mit der Rückendeckung des war‐ tenden Schlafes halten sollte. Das nähme ihnen die Peinlichkeit. (vgl. Mann, Doktor 140 Heide Ziegler 6 Kommentar zu Mann, Doktor Faustus, S. 382. Faustus, S. 184) Hans-Joachim Schoeps hatte das bewusste Heft 1931 Thomas Mann zuge‐ sandt, und Mann hat die darin enthaltenen Argumente, Anachronismen bewusst in Kauf nehmend, in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurückverlegt. Schoeps hat dieses Vorgehen von Thomas Mann vehement kritisiert: Die von mir seinerzeit veröffentlichten Gesprächsprotokolle entsprachen eben der Zeitlage von 1930, ihre Vorverlegung um 26 Jahre ist ungeschichtlich und muß darum unecht oder gar grotesk wirken. Das konnte nur ein Schriftsteller, der im Grunde keinen historischen Sinn hat, unter‐ nehmen. Der Zeitgeistforscher muß da sein Gesicht verhüllen. […] Ich hätte Thomas Mann diesen Rundbrief niemals zugesandt, wenn ich hätte ahnen können, welchen Wirrwarr er damit einmal anrichten würde. 6 Vielleicht hat Schoeps aus historischer Perspektive gesehen nicht ganz unrecht, aber Thomas Mann schreibt eben keinen historischen, sondern einen politischen und musika‐ lischen Roman. Dass sich die Argumente der Verbindungsbrüder später zu den Haltungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus verhärten würden, ist in diesen lockeren, spielerischen Diskussionen noch nicht zu spüren. Worum es dem Autor ging, war zu zeigen, dass Jugend eines romantischen Verhältnisses zur Natur, zur Stallwärme und dem Schlaf‐ stroh, nicht entbehren kann, dass sie aber gerade deshalb sehr gefährdet ist, weil sie sich als Jugend, um mit einem Faust-Zitat eines anderen großen Deutschen aufzuwarten, immer strebend bemühen muss - ein Gefühl, dass diese Studenten alle als sehr angemessen und sehr ‚deutsch‘ empfinden. Es bleibt daher, genau genommen, im Doktor Faustus nicht bei den beiden genannten Zeitebenen, die man vielleicht ohnehin eher als Wirklichkeitsebenen bezeichnen sollte. Denn Thomas Mann nennt den Roman von Anfang an „Geheimwerk und Lebensbeichte“ und verweist in der Entstehung auch auf das „eigentümlich Wirkliche“ (Mann, Entstehung, S. 33), das ihm anhaftet. Thomas Mann hatte die Angewohnheit, seiner Familie und auch seinen engeren Freunden die Romankapitel, die er gerade geschrieben hatte, vorzulesen, und er beschreibt daher auch, wie seine Zuhörer ihn mehrfach darauf hinweisen, dass er doch fast alle Nebenfiguren im Doktor Faustus auch äußerlich genau beschreibe, so genau, dass sie für Leser seiner Zeit wiedererkennbar waren (so wie Angehörige seiner Familie schon in den Buddenbrooks wiedererkennbar gewesen waren oder Gerhart Hauptmann im Zauberberg), dass er aber vermeide, das Aussehen von Adrian oder Serenus zu schildern. Nun gibt es dafür gute Gründe: die äußeren Lebensumstände von Adrian Leverkühn sind denjenigen von Friedrich Nietzsche nachgebildet, dessen Namen im gesamten Roman des‐ halb niemals erscheint, weil Adrian gewissermaßen seine Stelle besetzt. Es erscheint auch sinnvoll, ihm in diesem Fall nicht etwa Nietzsches Züge zu verleihen. Adrian, so Mann zu seinen damaligen Zuhörern, sei sozusagen „eine Idealgestalt, ein ‚Held unserer Zeit‘, ein Mensch, der das Leid der Epoche trägt.“ (Mann, Entstehung, S. 81) Und dass Serenus Zeitblom sich nicht durch eine Selbstbeschreibung in den Vordergrund drängt, hängt mit seinem Selbstbildnis, dem des verehrenden und dienenden Freundes zusammen. Dennoch geht Thomas Mann noch einen Schritt weiter, wenn er fortfährt: 141 Thomas Mann: Doktor Faustus 7 Als Adrian zuerst bei den Schweigestills in der Nähe von München einzieht, heißt es, dass er dort die nächsten neunzehn Jahre zubringen wird, denn nach seinem geistigen Zusammenbruch holt ihn seine Mutter heim nach Buchel in Thüringen. Da der Teufel im Gespräch mit Adrian häufig von den fünf Jahren spricht, die seit dem Beginn des Paktes schon vergangen seien, scheint sich damit die Summe der genialischen Jahre des Adrian Leverkühn wie im Volksbuch vom Doctor Faust von 1587 auf insgesamt 24 zu addieren. Doch das Teufelsgespräch findet 1913 statt, und Leverkühns Zusamm‐ bruch erfolgt 1930. Die Differenz zwischen diesen beiden Daten ist 17, nicht 19 Jahre. Aber Zeitblom deutet an, dass er nicht genau weiß, wann das Teufelsgespräch stattgefunden hat. Mann hat die Daten wohl bewusst etwas vage gehalten, weil die Lebensdaten Leverkühns und die historisch relevanten Daten sich manchmal schwer vereinbaren ließen. Ein Verbot war hier einzuhalten - oder doch dem Gebot größter Zurückhaltung zu gehorchen bei einer äußeren Verlebendigung, die sofort den seelischen Fall und seine Symbolwürde, seine Re‐ präsentanz mit Herabsetzung, Banalisierung bedroht. Es war nicht anders: Romanfiguren im pit‐ toresken Sinn durften nur die dem Zentrum ferneren Erscheinungen des Buches, alle diese Schild‐ knapp, Schwerdtfeger, Roddes, Schlaginhaufens etc. etc. sein - nicht seine beiden Protagonisten, die zu viel zu verbergen haben, nämlich das Geheimnis ihrer Identität. (Mann, Entstehung, S. 81-82) Und - so möchte ich ohne Scheu hinzufügen - das Geheimnis ihrer Identität mit dem Autor. Nicht in dem banalen Sinn, dass die beiden Protagonisten Schöpfungen ihres Autors sind, ihm sozusagen ohnehin angehören. (Das dekonstruktivistische Problem vom Tod des Au‐ tors soll hier einmal außer Betracht bleiben.) Sondern in dem Sinn, dass die Zeit- oder Wirklichkeitsebene des Autors diejenigen seiner Protagonisten ergänzt - wie die dritte Stimme in einem polyphonen dreistimmigen Kanon. Adrians erzählte Welt umfasst die Jahre von 1885 bis 1930, wo Leverkühns letztes Werk, „Dr. Fausti Weheklag“ entsteht. 7 In dem Moment, als der Komponist seinen versammelten Freunden und Bekannten die ersten Noten des Werkes am Klavier vorspielen will, bricht er zusammen, und als er zwölf Stunden danach aus seinem Koma erwacht, ist er - wie Nietzsche am Ende seines Lebens - in einen Zustand der Unmündigkeit zurückgefallen. Im August 1940 stirbt Adrian Leverkühn im Alter von 55 Jahren in geistiger Umnachtung. Da der zwei Jahre ältere Serenus Zeitblom erst im Jahr 1943 mit der Niederschrift der Biographie Leverkühns beginnt, überschaut er daher das gesamte Leben seines Freundes aus einer gewissen lebensgeschichtlichen Dis‐ tanz, befindet sich aber noch mitten in der Zeit des Weltkriegs und erwartet Deutschlands Untergang. Was politisch während der Zeit der Niederschrift geschieht, findet also unmit‐ telbar Eingang in die Biographie, scheint dem Biographen ganz offensichtlich noch relevant in Bezug auf das aus Leverkühns Leben Mitgeteilte zu sein, obwohl Adrian es nicht mehr erlebt. Das tertium comparationis ist die - vermutliche - Höllenfahrt von Leverkühn und Deutschland. Ort der Niederschrift ist Freising an der Isar, wo der Schreiber - Gymnasial‐ lehrer und seit einigen Jahren im unfreiwilligen Ruhestand beziehungsweise der inneren Emigration - zurückgezogen lebt. Die Erschütterung, mit der er das täglich furchtbarer werdende Geschehen in Deutschland verfolgt, wird von dem sieben Jahre älteren Thomas Mann geteilt, der es aber als Emigrant in Pacific Palisades in California lebend nur aus der Ferne mitverfolgen kann. Mann schreibt bis 1947, also zwei Jahre länger als sein Erzähler an dem Roman Doktor Faustus, beschäftigt sich aber, wenn man Die Entstehung des Doktor Faustus mit einrechnet, insgesamt vier Jahre länger als Zeitblom mit dem Stoff. Die Le‐ 142 Heide Ziegler 8 Brief an Fritz Grünbaum vom 20. Febr. 1947. Mann, Thomas: Briefe 1937-1947. Hg. Erika Mann. Kempten 1963, S. 527. benszeiten von Thomas Mann, Serenus Zeitblom und Adrian Leverkühn setzen also nach‐ einander ein, überlappen sich dann stimmlich und die der fiktiven Charaktere werden zudem notwendigerweise von der Lebenszeit von Thomas Mann umfasst. Was Thomas Mann dadurch gewinnt, ist nicht nur die Möglichkeit, ein Epochenwerk zu schreiben, sondern er kann auch aus den verschiedenen Genres, die er verknüpft, ein po‐ lyphones Gesamtkunstwerk gestalten, in dem er eine eigene - rahmende - Stimme erhält. Er selbst schreibt zwar den ganzen Roman, doch er rahmt ihn auch noch deutlich mit dem Roman eines Romans; Zeitblom schreibt auf einer anderen Wirklichkeitsebene eine Bio‐ graphie, und Leverkühn kommt zentral in Gesprächen, Briefen, einer letzten Ansprache an seine geladenen Gäste und einem (inneren) Dialog, dem in Palestrina in Italien, dem Land Dantes, geführten Gespräch mit dem Teufel zu Wort. Er schreibt diesen Dialog auf Noten‐ papier auf - was darauf verweist, dass man ihn selbstverständlich auch seinen Kompositi‐ onen zurechnen muss (obwohl deren ‚Beschreibungen‘ im Roman von Serenus, oder Mann, oder Adorno, oder aus weiteren Quellen der Epoche stammen). Die von Adrian selbst auf‐ gezeichnete, zwischen „Ich“ und „Er“ stattfindende Auseinandersetzung, die allerdings hauptsächlich von Ihm bestritten wird, bildet den strukturellen Kern des Romans. Zunächst ist allerdings nicht ganz ersichtlich, ob es sich hier überhaupt um einen Dialog oder nicht vielmehr um eine Projektion von Adrian Leverkühn handelt, der sich den Teufel als Wi‐ derpart imaginiert. (Eine vergleichbare Situation findet sich am Schluss von Lotte in Weimar, wo Goethe Lotte nach einer Theateraufführung scheinbar in seinem Wagen er‐ wartet und mit ihr ein letztes Mal spricht, bevor er sie vor ihrem Hotel, dem Weimarer ‚Elephanten‘, absetzt. Mann selbst hat das Gespräch zwischen diesen beiden in einem Brief an Fritz Grünbaum als „Geistergespräch“ bezeichnet, „worin das, was Goethe sagt, sein ist, obgleich er nicht körperlich neben ihr sitzt, und das also doch eine höhere Wirklichkeit hat.“ 8 ) Adrian besteht jedenfalls lange darauf, dass der Teufel, so wie er da vor ihm sitzt, Ausgeburt seiner eigenen Phantasie sei. Doch der Teufel überzeugt ihn schließlich, dass es spießbürgerlich wäre, das rein Subjektive für unwert zu halten: Du siehst mich, also bin ich dir. Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, - und wär es unterm tugend‐ lichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. Das will ich meinen, daß eine Unwahrheit von kraft‐ steigernder Beschaffenheit es aufnimmt mit jeder unersprießlich tugendhaften Wahrheit. Und ich will’s meinen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist, als die zu Fuße latschende Gesundheit. (Mann, Doktor Faustus, S. 354) Diese Argumentation ist wirklich teuflisch, denn sie verführt Adrian mehr und mehr, als Teufelspakt zu akzeptieren, was ihm vor fast fünf Jahren bei einem Bordellbesuch zustieß, wo er, gewarnt von dem Mädchen selbst, sich bewusst die Syphilis zugezogen hat. Jedenfalls ist Adrian am Ende des Gesprächs so sehr davon überzeugt, dass er mit dem Teufel spricht, dass er auch die zuvor nie ausgesprochene Klausel des Paktes akzeptiert, die der Teufel 143 Thomas Mann: Doktor Faustus altdeutsch und nach traditionellem Muster verpackt vorträgt und um deren Übermittlung willen er wohl auch Adrian überhaupt aufgesucht hat: Wir sind im Vertrage und im Geschäft, - mit deinem Blut hast du’s bezeugt und dich gegen uns versprochen und bist auf uns getauft - dieser mein Besuch gilt nur der Konfirmation. … Herwi‐ derumb wollen wir dir unterweilen in allem untertänig und gehorsam sein, und dir soll die Hölle frommen, wenn du nur absagst allen, die da leben, allem himmlischen Heer und allen Menschen, denn das muß sein. … Du darfst nicht lieben. (Mann, Doktor Faustus, S. 362-63) Von diesem Augenblick an ändert Adrian Leverkühn sein gesamtes Verhalten. Während er in den Jahren zuvor sich nur noch kühler und abweisender jeder menschlichen Annäherung verweigerte als auch früher schon, weil er sich von der Krankheit infiziert weiß, versucht er nun mehrfach, das Liebesverbot zu umgehen, was jedes Mal katastrophale Folgen hat - für seinen Freund, den Violinisten Rudi Schwerdtfeger, den er bewusst in den Tod schickt, nachdem ihm dieser persönliche Nähe und das Du abgerungen hat, und für das geliebte Gotteskind Echo, seinen kleinen Neffen Nepomuk Schneidewein, der sich bei einem Auf‐ enthalt bei seinem Onkel die Meningitis holt und daran grausam zugrunde geht. Schon der Teufel hat Adrian mitgeteilt, dass er an Metaspirochaetose leidet, „das ist der meningeale Prozeß, und ich versichere dich, es ist gerade, als hätten gewisse von den Kleinen eine Passion fürs Obere, eine besondere Vorliebe für die Kopfregion, die Meningen, die Dura mater, das Hirnzelt und die Pia, die das zarte Parenchym im Inneren schützen.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 340) Mit anderen Worten: Adrian glaubt, Echo geradezu angesteckt zu haben durch seinen giftigen Blick. „Denn ihr müßt wissen,“ so sagt er zum Schluss, „daß, wenn eine Seele heftig zur Schlechtigkeit bewegt worden, so ist ihr Blick giftig und natte‐ risch, am meisten für Kinder.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 725) Es sollte an dieser Stelle eingefügt werden, dass es für Nepomuk Schneidewein ein un‐ übersehbares Modell gab, den kleinen Frido, den ältesten Sohn von Manns jüngstem Sohn Michael Mann und dessen Schweizer Frau Gret Moser, dem der Großvater eine so große Zuneigung entgegenbrachte, dass es ihn sehr schwer ankam, ihn in seinem Roman sterben lassen zu müssen. Auch die Verwandten und Freunde, denen Mann die Echo-Kapitel nach deren Fertigstellung vorlas, waren erschüttert, und man kam überein, wenigsten der Mutter des Kindes dessen Rolle im Doktor Faustus möglichst lange zu verheimlichen. Thomas Mann meinte, dieses Lebensopfer im Interesse seines ‚Schmerzensbuches‘ und der Identität zwi‐ schen ihm selbst und seinen Protagonisten erbringen zu müssen, aber es war ihm nicht wohl dabei, und noch kurz vor seinem 80. Geburtstag und seinem kurz darauffolgenden Tod, schrieb er am 11. Mai 1955 an Robert Faesi: Besonders dankbar bin ich Ihnen, daß Sie, was an Schweizerischem in den „Faustus“ hineinspielt, da und dort in Ihrem Buch vermerkt haben, was sonst noch nie geschehen war. Sogleich im Ein‐ gangsbrief, und dann gelegentlich des kleinen Nepomuk, dessen „Funktion“ es war, die Sprache aus dem Lutherischen weiterzurückzuführen ins Mittelhochdeutsche. … Gottlob hat der Kleine seine Ermordung durch den Bösen gut überstanden. Er ist jetzt schon fast fünfzehn geworden und wird … zum Geburtstag nach Kilchberg kommen. Er weiss nichts davon, dass ihn einmal der Teufel 144 Heide Ziegler 9 Mann, Brief an Robert Faesi vom 11. Mai 1955. Briefe 1948-1955, S. 398. geholt, aber ich fühle mich immer etwas in seiner Schuld und freue mich an jedem Jahr, um das er älter wird. Übrigens hat er nichts Epiphanienhaftes mehr an sich. 9 Immerhin heißt ein spätes Interview mit Frido Mann im Tagesspiegel vom 14. Dezember 2008 „Thomas Mann war mein Retter.“ Hier hat er schließlich die Zuneigung, die sein Großvater ihm entgegenbrachte, gewürdigt. Er sagt in diesem Interview auch, dass Thomas Mann, solange er lebte, als pater familias Kinder und Kindeskinder zusammenhielt, während nach seinem Tod die Familie auseinanderbrach. Heute ist Frido Mann 80 Jahre alt. Das Schicksal des kleinen Nepomuk erklärt auch die anderen sogenannten ‚Morde‘ im Doktor Faustus, die beim Erscheinen des Romans große Erregung bei den noch lebenden Abgeschilderten hervorriefen, obwohl sie wohl dazu dienen sollten, den zentralen ‚Mord‘ an Echo in einen ‚humaneren‘ Zusammenhang zu stellen. Doch die ‚gemordeten‘ Gestalten im Doktor Faustus konnten ihre Stimme kaum öffentlich erheben und sich auch kaum wehren gegen die Rolle, die sie im Roman zu spielen hatten, wenn sie nicht noch mehr Aufsehen hervorrufen wollten. Mit einer Ausnahme. Arnold Schönberg, wie Theodor Adorno ein Nachbar von Thomas Mann in dessen deutschem Emigranten-Exil in Pacific Palisades, verlangte, dass sein geistiges Eigentumsrecht an der von Adrian Leverkühn ‚er‐ fundenen‘ Zwölf Ton-Technik in jeder Neuauflage des Buches deutlich gemacht werde. Und so weist in der Tat jede Ausgabe des Romans seit der dritten, der Suhrkamp-Ausgabe des Doktor Faustus von 1948, folgende abschließende Anmerkung auf: Es scheint nicht überflüssig, den Leser zu verständigen, daß die im XXII. Kapitel dargestellte Kompositionsart, Zwölf Ton- oder Reihentechnik genannt, in Wahrheit das geistige Eigentum eines zeitgenössischen Komponisten und Theoretikers, Arnold Schönbergs, ist und von mir in be‐ stimmtem ideellem Zusammenhang auf eine frei erfundene Musikerpersönlichkeit, den tragischen Helden meines Romans, übertragen wurde. Überhaupt sind die musiktheoretischen Teile meines Buches in manchen Einzelheiten der Schönbergschen Harmonielehre verpflichtet. (Mann, Doktor Faustus, S. 740) Im Grunde aber war Thomas Mann davon überzeugt, dass die Schönberg’sche Zwölf Ton-Technik durch ihn in seinem Roman Leverkühn anverwandelt wurde und letztlich nur Grundlage für den auch vom Teufel nur geförderten musikalischen ‚Durchbruch‘ darstellt, der Leverkühns eigentliches Verdienst ist: [D]as Buch soll in Zukunft auf Schönbergs Wunsch, einen Nach-Vermerk führen, der für Unkun‐ dige das geistige Eigentumsrecht klarstellt. Es geschieht ein wenig gegen meine Überzeugung. Nicht so sehr, weil solche Aufklärung eine kleine Bresche in die sphärische Geschlossenheit meiner Romanwelt schlägt, als weil die Idee der Zwölf Ton-Technik in der Sphäre des Buches, dieser Welt des Teufelspaktes und der schwarzen Magie, eine Färbung, einen Charakter annimmt, die sie - nicht wahr? - in ihrer Eigentlichkeit nicht besitzt, und die sie wirklich gewissermaßen zu meinem Eigentum, das heißt: zu dem des Buches machen. (Mann, Entstehung, S. 36) Thomas Mann hat recht. Die Anmerkung stellt nicht so sehr, wie die Herausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe meinen, eine letzte Komplettie‐ 145 Thomas Mann: Doktor Faustus 10 Thomas Mann geht auf diesen Sachverhalt indirekt ein, wenn er in einem Brief an Arnold Schönberg vom 19. Dezember 1949 schreibt: „Bei dieser Gelegenheit eine Frage: Wenn es mir unter dem Hagel Ihrer Angriffe nun schlechter und schlechter geht, darf ich dann, in höchster Not, den Brief veröf‐ fentlichen, den Sie mir am 15. Oktober 1948, nach Empfang der englischen Ausgabe des „Dr. Faustus“ mit der Schlußnote, schrieben, und worin Sie aufs herzlichste mir für die Erfüllung Ihres Wunsches dankten, sich für vollkommen befriedigt erklärten und hinzufügten: ‚ Ich war fest davon überzeugt, daß ich von Ihnen nichts anderes zu erwarten habe, als von mir selbst und bin sehr froh, daß mein Vertrauen in dieser Weise belohnt wurde‘ - ? Damals also war die erläuternde Notiz kein ‚Racheakt‘. Wie sie in Ihren Augen dazu geworden ist, weiß ich nicht.“ (Mann, Briefe 1948-1955, S. 122) 11 Theodor W. Adornos Skizzen für Adrian Leverkühns späte Kompositionen sind in dem Kommentar zu Doktor Faustus auf den Seiten 1153-1158 abgedruckt. 12 Vgl. Kommentar zu Doktor Faustus, S. 221. rung des Romantextes dar, sondern sie steht völlig außerhalb dieses Textes und hat keinen Anteil an seiner inneren Geschlossenheit als literarische Komposition. Schönberg hat dies wohl auch allmählich erkannt, nachdem er sich zuerst aufgrund dieser Anmerkung als völlig ausgesöhnt mit Thomas Mann erklärt hatte. Später, möglicherweise nach der Lektüre der Entstehung, nannte er jedoch zu Manns berechtigtem Erschrecken die Anmerkung einen ‚Racheakt‘. Wofür aber hätte Thomas Mann sich an Schönberg rächen sollen? Er hatte sich ja umgekehrt an ihm orientiert. Doch Schönberg hat sich wahrscheinlich bei dem kaum fassbaren Widerhall, den der Mann’sche Roman nach seiner Veröffentlichung weltweit er‐ fuhr, zunehmend als Pedant empfunden, der Thomas Manns Roman im Kern nicht ver‐ standen hatte. 10 Sehr viel besser erging es Theodor W. Adorno, der Thomas Mann während der Abfassung des Doktor Faustus als Musikwissenschaftler treulich zur Seite gestanden hatte, aber auch leicht gekränkt war, als er merkte, dass Mann aus seinem Manuskript Zur Philosophie der modernen Musik, das er Mann überlassen hatte, lange Passagen einfach abgeschrieben hatte. Und schlimmer noch: Adorno, der den Roman ja auf weite Strecken hin schon vor der Veröffentlichung aus privaten Lesungen kannte, hatte für Thomas Mann Skizzen Ad Klage Dr. Fausti verfasst, die Mann schlicht als eigenes Konzept übernahm. 11 Adorno hat Thomas Mann jedoch verziehen, und ihr Briefwechsel blieb bis zu Thomas Manns Tod bestehen. Außerdem: Die Entstehung des Doktor Faustus ist zu einem guten Teil, wie schon gesagt, geschrieben worden, um die Teilhabe Adornos an dem Roman zu erläutern, und Adorno ist im Doktor Faustus selbst an einer entscheidenden Stelle schön zitiert. Während ihrer Gym‐ nasialzeit in Kaisersaschern, einer fiktiven protestantischen Stadt (deren Beschreibung eine Synthese mehrerer mittelalterlicher Städtebilder darstellt, etwa Lübeck, Naumburg, Nürn‐ berg und Aachen) 12 hören Adrian und Serenus regelmässig die Vorträge von Wendell Kretz‐ schmar, der als Organist in Kaisersaschern tätig ist. Einer dieser Vorträge widmet sich der Frage, warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben hat. Es ist übrigens ein vorzügliches Beispiel Thomas Mann’scher Ironie, dass dieses Kapitel des Doktor Faustus, heute eins der bekanntesten des Romans, das Mann mehr als jedes andere immer wieder überarbeitet hat, nach Aussage von Serenus Zeitblom kein Publikum in Kaisersaschern fand. „Aber man denke sich die Anzeige angeschlagen am Hause der ‚Gemeinnützigen Thätigkeit‘, eingerückt in die Kaisersascherner ‚Eisenbahnzeitung‘, und frage sich dann nach dem Maß von öffentlicher Neugier, die sie erregen konnte. Man wollte schlechterdings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe.“ (Mann, Doktor 146 Heide Ziegler 13 Es scheint, dass wir es hier auch mit einer Anspielung Thomas Manns über „Goethes Werther“ (1938) zu tun haben. Denn Mann betont in diesem Aufsatz mehrfach, dass Lotte Buff, Goethes Lotte, blau‐ äugig war, während die schwarzen Augen, die Lotte im Wertherbuch hat, von Maximiliane Brentano stammen, die Goethe in Frankfurt traf, nachdem er Lotte verlassen hatte. Mann, Thomas: „Goethes Werther“. Altes und Neues: Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt / M. 1953, S. 198-214. Faustus, S. 79) Kretzschmar spielt daher die Sonate vor kleinstem Publikum auf dem Klavier vor und ruft, darin offenbar Adorno ähnlich, seine Kommentare ständig in das eigene Spiel hinein. Dann beginnt er den Variationen-Satz zu spielen: Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Un‐ schuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und spricht sich in sechszehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelen‐ vollen Rufe gleich, hervortritt - drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechszehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: „Him-melsblau“ oder: „Lie-besleid“ oder: Leb’-mir wohl“ oder: Der-maleinst“ oder: „Wie-sengrund,“ - und das ist alles. (Mann, Doktor Faustus, S. 83) Es verwundert nicht, dass Adorno entzückt war, als er diesen Text zuerst vernahm. Denn Theodor W. Adorno heißt Theodor Wiesengrund Adorno - der Name Adorno war der Mädchenname seiner Mutter. Und der Kontext, in dem der Name auftaucht, ist für den Roman wesentlich. Denn zwei Augenfarben haben es Adrian angetan: das Himmelsblau (die Augenfarbe seines Vaters und die seines kleinen späteren Neffen Echo) und das Pech‐ schwarze (die Augenfarbe der Marie Godeau, die er eine Zeitlang zu heiraten gedenkt). 13 Wie immer, liebt Adrian die Extreme. Liebesleid ist darüber hinaus eins der zentralen Themen des Buches, ebenso wie Leb‘ mir wohl oder Dermaleinst. Diese Themen müssen allerdings unter dem Deckmantel der Parodie erscheinen, denn Thomas Mann war der Meinung, dass man heute große Kunst nur noch als Parodie schreiben könne. Bei der Darstellung des Faust-Themas hält sich Thomas Mann in der Regel zwar an das Archaische - dessen Wiederbelebung auch eine bedeutende Rolle beim Auf‐ kommen des Nationalsozialismus bildete. Er zitiert bis zum Ende des Romans, einschließlich der Ansprache Adrians an die Freunde vor dem Eintritt seiner Paralyse, sprich: vor der Erfüllung des Teufelspakts nach Abschluss seiner vierundzwanzig Jahre genialischer Zeit, das Volksbuch vom Doctor Faust, das zuerst 1587 erschien. Aber wie könnte es einem Autor, der Lotte in Weimar geschrieben hatte und der 1949, im selben Jahr, als Die Entstehung des Doktor Faustus veröffentlicht wurde, seine Reden zum Goethe-Jahr gehalten hat, nicht be‐ wusst gewesen sein, dass er mit seinem eigenen Roman eine Parodie von Goethes Faust vorlegte? Diese Parodie konzentriert sich in der Beziehung von Adrian Leverkühn zu der Prostituierten, die sich am Klavier neben ihn stellt, nachdem der Teufel in der Verkleidung eines Dienstmannes ihn am ersten Tag in Leipzig abends in ein Bordell geführt hat und von der Adrian seinem abwesenden Freund Serenus brieflich berichtet: „Neben mich stellt sich dabei eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Man‐ delaugen, Esmeralda, die streichelt mir mit dem Arm die Wange.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 209) Adrian flieht daraufhin erst einmal. Aber es ist die Parodie der Gretchen-Gestalt aus Goethes Faust, der wir hier zum ersten Mal begegnen. Nur muss man zunächst verstehen, was Parodie im Doktor Faustus bedeutet. Etymolo‐ gisch meint „Parodie“ griechisch zunächst nichts anderes als „Gegengesang“, und „in den 147 Thomas Mann: Doktor Faustus 14 Schweikle, Günther und Irmgard (Hgg.): „Parodie“ Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definiti‐ onen. Zweite, überarbeitete Auflage, Stuttgart 1990, S. 342 f. ältesten [antiken] Quellen wird als Parodie eine neue, gesprochene, gegenüber einer älteren musikalisch-rezitativen Vortragsart des Epos bezeichnet.“ Daraus entwickelt sich allerdings eine umfassendere Bedeutung, die ein literarisches Werk immer dann als Parodie kenn‐ zeichnet, wenn es in satirischer, kritischer oder polemischer Absicht „ein vorhandenes, bei den Adressaten der Parodie als bekannt vorausgesetztes Werk unter Beibehaltung kenn‐ zeichnender Formmittel, aber mit gegenteiliger Intention nachahmt.“ 14 Ich zitiere hier die Definition des Metzler Literatur Lexikons von 1990. Je grösser die Fallhöhe vom Parodierten zur Parodie ist, desto grösser ist dabei übrigens der komische Effekt, der grundsätzlich aus der Diskrepanz der beiden Texte erwächst. Betrachtet man unter diesem Aspekt noch einmal Adrians Initiation, die dieser in die Aussage darüber einkleidet, was er unbewusst auf dem Klavier angeschlagen hat, dann fällt auf, wie verzweifelt, aber auch hoffnungslos Adrian sich gegen diese Erfahrung wehrt: [W]eiß noch, was es war, weil mir das Klangphänomen gerade im Sinne lag. Modulation von Hnach D-dur, aufhellender Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-Finale, bei dem Eintritt von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. […] Amen hiemit und betet für mich! (Mann, Doktor Faustus, S. 209) Serenus, der selbst übrigens keineswegs prüde ist, ist außer sich, als er dies liest, weil er spürt, dass Adrian hier zum ersten Mal vom Weib berührt worden ist und dass er dem Effekt dieser Berührung nicht mehr wird entfliehen können. Das „Amen hiemit und betet für mich! “ macht ihm vollends klar, dass es sich hier nicht um eine Farce, um etwas Komisches oder gar eine lächerliche Begebenheit handelt. Mit der Haltung des Serenus ändert sich aber auch für den Leser die Bedeutung von „Parodie“ im Doktor Faustus im Verhältnis zu seinem großen Vorbild, Goethes Faust. Sie wird hier in der Tat zum Gegengesang, zur ernstesten Prosa im Gegensatz zur heiteren Metrik des Faust, welche die kommende Erlösung von Goethes Protagonisten fast schon vorwegnimmt - was Mephistopheles im Grunde ge‐ nommen auch von vornherein weiß. Dies wird schon in Goethes „Prolog im Himmel“ klar, als der Herr dem Mephistopheles Faust zwar auf Erden überlässt, aber zugleich auf dessen jenseitige Erlösung anspielt, so dass am Ende Mephistopheles zwar nicht ganz zufrieden ist, aber immerhin anerkennt, dass es doch gar hübsch von einem großen Herrn sei, so ‚menschlich‘ mit dem Teufel selbst zu sprechen. Bei Adrian Leverkühn aber geht es gar nicht menschlich zu, wie Serenus, der wesentlich für das ‚Menschliche‘ in der Doppelgestalt Leverkühn / Zeitblom steht, sofort begreift: „Der Hochmut des Geistes hatte das Trauma der Begegnung mit dem seelenlosen Triebe erlitten.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 217) Adrian hat bezeichnenderweise zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Wort mit derjenigen, die er Esmeralda, später Hetaera esmeralda nennt, ge‐ wechselt, und der Leser erfährt auch nie ihren eigentlichen Namen. Interessant ist dagegen, dass Adrian den Namen eines Schmetterlings wählt, um sie zu kennzeichnen, eines per definitionem ephemeren Geschöpfs. Was später geschieht, erfahren wir nur über die Ver‐ mittlung von Serenus Zeitblom. Wir wissen zwar nicht genau, woher dieser seine intime Kenntnis bezieht, aber wir nehmen es hin, dass der Erzähler berichtet, weil wir als Leser 148 Heide Ziegler inzwischen verstanden haben, dass er und Adrian ‚identisch‘ sind und weil wir Adrians Distanz zu uns, dem ‚menschlichen‘ Leser respektieren. Als Adrian nach einem Jahr der strengen Enthaltsamkeit in die Leipziger ‚Schlupfbude‘ zurückkehrt, um die brünette Prostituierte wiederzutreffen, wird ihm bedeutet, dass diese sich wegen einer Hospitalbehandlung, der sie sich habe unterziehen müssen, nicht mehr in Leipzig, sondern in einem Bordell im fernen Preßburg in Ungarn befinde. Adrian unter‐ nimmt die lange Reise, weil er genau sie und nur sie treffen will - was Zeitblom zu Recht als eine freie ‚Wahl‘ bezeichnet. Hetaera esmeralda erinnert sich an den jungen Mann, der vor ihrer Berührung in Leipzig floh, und es ist menschlich mehr als beachtenswert, dass sie ihn vor ihrem Körper warnt. Doch Adrian besteht auf dem Genuss dieses Körpers, und sie vergilt es ihm mit allem an Wärme, was sie aufbringen kann: Die Unglückliche warnte den Verlangenden vor „sich“, das bedeutete einen Akt freier Existenz, einen Akt menschlicher Abstandnahme davon, einen Akt der Rührung, - das Wort sei mir ge‐ währt, - einen Akt der Liebe. […] Nie habe ich ohne ein religiöses Erschauern dieser Umarmung gedenken können, in welcher der Eine sein Heil darangab, der Andere es fand. Reinigend, recht‐ fertigend, emportragend muß es die Elende beglückt haben, daß der weither Gereiste auf jede Gefahr hin den Verzicht auf sie verweigerte; und es scheint, daß sie alle Süßigkeit ihres Weibtums aufbot, um ihn zu entschädigen für das, was er für sie wagte. Es war dafür gesorgt, daß er sie nicht vergaß; aber auch um ihrer selbst willen hat er, der sie nie wieder sah, sie niemals vergessen, und ihr Name - derjenige, den er ihr von Anfang an gegeben - geistert runenhaft, von niemandem wahrgenommen, als von mir, durch sein Werk. […]So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünfbis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wech‐ selndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder […]: zuerst in dem wohl schönsten der noch in Leipzig komponierten dreizehn Brentano-Gesänge, dem herzzerwühlenden Liede „O lieb Mädel, wie schlecht bist du“, das ganz davon beherrscht ist, dann namentlich in dem Spätwerk, worin Kühnheit und Verzweiflung sich auf eine so einzigartige Weise mischen, der in Pfeiffering ge‐ schriebenen „Weheklag Dr. Fausti“, wo sich noch mehr die Neigung zeigt, die melodischen Inter‐ valle auch harmonisch-simultan zu bringen. Es bedeutet aber diese Klang-Chiffre h e a e es: Hetaera esmeralda. (Mann, Doktor Faustus, S. 226-27) Hier wird die Parodie als die ernsteste, prosaische Verkehrung von Goethes Gretchen-Bild eindringlich zelebriert. Denn bei Goethe ist Faust der Verführer von Gretchen, nicht um‐ gekehrt, und sie ist es, die ihm alles aus Liebe opfert. Sie opfert ihm nicht nur ihre Unschuld; sie verabreicht ihrer Mutter auch den Schlaftrunk, den Faust ihr gibt, damit sie beisammen sein können, und die Mutter stirbt daran. Als sie danach von Faust schwanger wird, verlässt er sie und begibt sich mit Mephistopheles auf weitere Erkundungsfahrt. Trotzdem ist es schließlich Gretchen, die im Faust II dazu beiträgt, dass er erlöst wird, und sie zieht ihn als Ewig-Weibliches himmelwärts. Alles ist bei Adrian Leverkühn, Thomas Manns Faust, an‐ ders. Es ist eindeutig Hetaera esmeralda, die ihn verführt, und sie opfert ihm beileibe nicht ihre Unschuld, sondern sie infiziert ihn mit der Syphilis, die sie sich von einem ihrer anderen Kunden geholt hat. Es ist Adrian, der ihr seine Unschuld opfert und sie damit möglicher‐ weise erlöst. In dem Teufelsgespräch zitiert übrigens der Teufel sie mit dem Namen, den ihr Adrian gegeben hat und der sie als einen Schmetterling kennzeichnet, welcher - nur 149 Thomas Mann: Doktor Faustus 15 Die Bedeutung dieses Werks wird noch dadurch unterstrichen, dass Mann ursprünglich nicht vor‐ hatte, Leverkühn seine Symphonische Kantate „Dr. Fausti Weheklag“ abschließen zu lassen; sie sollte Fragment bleiben. Adorno hat Mann dann davon überzeugt, dass dieses Werk in seiner Gesamtheit Teil des Romans werden müsse und, wie schon erwähnt, auch einen Entwurf Ad Klage Dr. Fausti geliefert. mit einem dunklen Farbfleck in Violett und Rosa auf ihren Flügeln - einem windgeführten Blütenblatt gleicht. Er, der Teufel, lässt es dabei absichtlich so erscheinen, als sei sie unbe‐ deutend, ein Nichts, als diene sie Ihm allein. Er ist der Wind, der sie führt. Er nennt sie „meine Kleine“ (vgl. Mann, Doktor Faustus, S. 362; meine Hervorhebung), während Goethes Gretchen Zuflucht bei der Mutter Maria sucht - welche ihr eine solche Zuflucht und letzt‐ lich die Erlöser-Rolle gewährt. Adrians Hetaera esmeralda dagegen verschwindet, nachdem sie Adrian mit der Genie-vermittelnden Krankheit infiziert hat, aus dem Roman; sie wird für den Leser uninteressant. Und dennoch vergisst Adrian sie nie. Sie ist die einzige Frau, die er je liebend berührt hat und berühren wird, und die Tatsache, dass er, wenn man dem Erzähler glauben will, auf diese Weise ihre Erlösung bewirkt hat, kann letztlich möglicher‐ weise - wie durch ein Wunder, das über den Glauben geht - auch seine Erlösung durch die unendliche Güte bedeuten. Jedenfalls leitet sich aus dem Umstand, dass Adrian weiß, was Liebe ist, sein unbedingter Widerspruch gegen die Botschaft des Teufels ab, dass er nicht lieben darf. Nie wieder wird lieben dürfen, müsste der Teufel wenigstens ehrlicherweise sagen; aber ehrlich war der Teufel ja noch nie: Was ich mir zugezogen, und weswegen du willst, ich sei dir versprochen, - was ist denn die Quelle davon, sag, als die Liebe, wenn auf die von dir mit Zulassung Gottes vergiftete? Das Bündnis, worin wir nach deiner Behauptung stehen, hat ja selbst mit Liebe zu tun, du Dummkopf. (Mann, Doktor Faustus, S. 363) Adrian Leverkühn wird zum Märtyrer der Liebe, und so mag sein Schicksal am besten durch sein Hauptwerk gekennzeichnet werden, die „Apocalipsis cum figuris“. 15 Vorlage für dieses Oratorium sind die 15 Holzschnitte von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1498, beziehungsweise 1511, die also aus einer Zeit stammen, welche - ähnlich wie die Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dem späteren Aufstieg der Nationalsozialisten - von Endzeiterwartungen und den politischen sowie religiösen Umwälzungen kurz vor der Reformation geprägt war. Zeitbloms Einsicht, dass der Freund - noch über die Johannes-Apokalypse hinausgehend - ein Werk zu schaffen sucht, das gewissermaßen auf ein Résumé aller mit‐ telalterlichen Verkündigungen des Endes hinausläuft, nimmt ihn außerordentlich mit. Er spürt, dass sich hier eine Epoche endigt, die nicht nur das neunzehnte Jahrhundert umfasst, sondern zurückreicht bis zum Ende des Mittelalters, als scholastische Bindungen gesprengt wurden, als das Individuum sich emanzipierte und die Idee der Freiheit geboren wurde, kurzum: die Epoche des bürgerlichen Humanismus, deren Verlust Zeitblom mehr als alles andere fürchten muss, da er im Roman für diesen bürgerlichen Humanismus steht. Die „Apocalipsis cum figuris“ wurde übrigens in Dürers Zeit als das Werk des Evange‐ listen Johannes verstanden, dem dann auch die Offenbarung des Johannes zugeschrieben wurde. Der erste Holzschnitt von Dürer zeigt Johannes als Märtyrer, wie er im siedenden Ölkessel sitzt, während hinter einer Mauer das neugierige Volk gespannt seine Pein verfolgt. Nach der Legende konnte der Vorgang Johannes jedoch nichts anhaben, so dass ihn der 150 Heide Ziegler Kaiser Domitian schließlich auf die Insel Patmos in der Aegeis verbannte, wo er - illumi‐ niert - die Offenbarung des Johannes verfasste. Als Serenus seinen Freund Adrian während der Zeit, als dieser sein Hauptwerk verfasst, nebenbei fragt, wie es ihm denn gesundheitlich so gehe, beschreibt ihm dieser genau diesen Dürer’schen Holzschnitt: „Wie mir zu Mute ist? “ sagte er damals zu mir. „Ungefähr wie Johanni Martyr im Ölkessel. Ziemlich genau so mußt du dir’s vorstellen. Ich hocke als frommer Dulder im Schaff, unter dem ein lustiges Holzfeuer prasselt, gewissenhaft angefacht von einem Braven mit dem Hand-Blasebalg. […] Ich werde begossen nach der Kunst wie ein Braten, ein Höllenbraten, es ist sehenswert, und du bist eingeladen, dich unter die aufrichtig interessierten Zuschauer hinter der Schranke zu mischen, die Magistratspersonen, das geladene Publikum, in Turbanen teils und teils in gut altdeutschen Kappen mit Hüten noch obendrauf. (Mann, Doktor Faustus, S. 514-15) Hier wird klar, dass Adrian inzwischen seinen Kindheits- und Jugendgefährten im ge‐ heimen als Menschenfreund verachtet: Er möge sich doch, bedeutet er ihm, unter die Zu‐ schauer hinter der Schranke mischen, wo er hingehöre. Denn Serenus versteht noch nicht, was Adrian schon längst begriffen hat: Deutschland wird in der Barbarei des Nationalso‐ zialismus versinken, und die kommenden Bilder der Apokalypse, die Adrian musikalisch bis ins äußerste Extrem heraufbeschwört, stellen die göttliche Strafe für die unsägliche Anmaßung seines Führers und seiner intellektuellen Anführer dar. Adrian macht deutlich, dass Serenus, seinem Namen gemäß, den Guten, aber auch Naiven verkörpert, mit dem er, der Eingeweihte, im Bunde mit dem Satan, im Grunde nichts zu tun hat. Wenn jedoch Adrian und Serenus, die so verschieden sind und zwischen denen Kälte und Wärme so ungleich verteilt sind, nach der Aussage von Thomas Mann heimlich iden‐ tisch sind, dann können sie es nur über die Vermittlung des Autors selbst sein. Die Frage ist, anders ausgedrückt: Warum teilt Thomas Mann in der Entstehung seinem Freund Le‐ onhard Frank - und damit indirekt dem Leser - mit, dass er von allen seinen Romanfiguren ausgerechnet Adrian Leverkühn, das kälteste und abweisendste aller seiner Geschöpfe, am meisten geliebt habe? Ich sprach die Wahrheit. Buchstäblich teilte ich die Empfindungen des guten Serenus für ihn, war sorgenvoll in ihn verliebt von seinen hochmütigen Schülertagen an, vernarrt in seine „Kälte“, seine Lebensferne, seinen Mangel an „Seele“, dieser Vermittlungs- und Versöhnungsinstanz zwischen Geist und Trieb, in sein „Unmenschentum“ und „verzweifelt Herz“, seine Überzeugung, verdammt zu sein. (Mann, Entstehung, S. 81) Am einfachsten wäre es, wenn man sagte, Adrian und Serenus stellten die beiden Seiten des Thomas Mann’schen Wesens dar, letzterer die menschliche, ersterer die künstlerische. Aber so einfach ist es nicht. Thomas Mann ist ja nicht in den Morgenstunden, in denen er regelmäßig an seinem Roman arbeitet, der Künstler, am Nachmittag, wenn er liest oder Briefe schreibt, oder abends wenn er Gäste hat, der Mensch. Denn wer könnte daran zwei‐ feln, dass Thomas Mann, wenn er beschreibt, wie Serenus, an seinem Schreibtisch in Frei‐ sing sitzend, nicht unterscheiden kann, ob ihm die Hände zittern ob dessen, was er be‐ schreibt oder weil die immer näher rückenden Bombeneinschläge in den letzten Wochen des Krieges die Wände seines Hauses erbeben lassen, nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch empfindet? Oder gar, dass er, wenn er die Schrecken der Hölle beschreibt, auch 151 Thomas Mann: Doktor Faustus als Mensch erschauert, obwohl er selbst diese Schilderung für den besten Teil des Teufels‐ gesprächs hält - welche Beurteilung zweifellos wieder aus der Perspektive des Künstlers erfolgt? Vielleicht kann uns ein Blick auf diesen Abschnitt des Teufelsgesprächs der Antwort auf die Frage näherbringen und uns auch verdeutlichen, warum sich Thomas Mann vor allem im Anschluss an das Teufelsgespräch zunehmend in seinen Roman einschreiben musste, um die Verbindung zwischen Adrian und Serenus aufrecht erhalten zu können. Auf die Frage Adrians an den Teufel, was ihn denn eigentlich erwartet in der Hölle, sobald er den Preis zahlen muss für die vierundzwanzig Jahre genialer Zeit, die Er ihm gönnt, lacht der Teufel und antwortet, dass Er ihm schon erklären wolle, was auf ihn dann warte, dass dies aber nicht leicht sei: Nur, nicht leicht ist es, eigentlich davon zu reden, - das will sagen: eigentlich kann man überhaupt und ganz und garnicht davon reden, weil sich das Eigentliche mit den Worten nicht deckt; man mag viel Worte brauchen und machen, aber allesamt sind sie nur stellvertretend, stehen für Namen, die es nicht gibt, können nicht den Anspruch erheben, das zu bezeichnen, was nimmermehr zu bezeichnen und in Worten zu denunzieren ist. Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Höllen, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist, daß sie eben nur ist, aber nicht in die Zeitung kommen, nicht publik werden, durch kein Wort zur kritisierenden Kenntnis gebracht werden kann, wofür eben die Wörter ‚unterirdisch‘, ‚Keller‘, ‚dicke Mauern‘, ‚Lautlosigkeit‘, ‚Ver‐ gessenheit‘, ‚Rettungslosigkeit‘ die schwachen Symbole sind. Mit Symbolis, mein Guter, muß man sich durchaus begnügen, wenn man von der Höllen spricht, denn dort hört alles auf, - nicht nur das anzeigende Wort, sondern überhaupt alles … jedes Erbarmen, jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht auf den beschwörend ungläubigen Einwand ‚Das könnt und könnt ihr doch mit einer Seele nicht tun‘: es wird getan, es geschieht, und zwar ohne vom Wort zur Re‐ chenschaft gezogen zu werden, im schalldichten Keller, tief unter Gottes Gehör, und zwar in Ewig‐ keit. (Mann, Doktor Faustus, S. 357-58) Hier kommen wir dem Kern der Aufregung nahe, die Thomas Mann während des Schreibens an diesem Roman ständig quälte: Es war ihm bewusst, dass er versuchte, mithilfe eines literarischen Textes, das heißt: mit Worten gegen ein barbarisches Drittes Reich an‐ zugehen und seine Anführer zur Rechenschaft zu ziehen. Er versuchte zwar ohnehin, mit‐ hilfe der Radiosendungen Deutsche Hörer! , die in den Jahren 1942 bis 1945 nach Deutschland gesendet wurden, seine Landsleute zu erreichen, aber einen Sieg der Kunst gegen die Bar‐ barei konnte er nur innerhalb der Gebundenheit eines Romans erzielen, weil nur auf diese Weise die politische Bedeutung seines Tuns als Modell Bestand haben würde. Und hier müssen wir uns ganz der Verbindung von Worten und Tönen zuwenden, denn der ‚Durch‐ bruch‘, der Adrian Leverkühn in der Musik gelingen soll und der möglicherweise die Er‐ lösung bringt, kann nur als Ausbruch aus der deutschen Enge in die kosmopolitische Weite der Musik geschehen - und zwar, paradoxerweise, mithilfe von deutschen Worten. Thomas Mann glaubte, während er am Doktor Faustus arbeitete, genauso wie Adrian, an den - deutschen - Teufel. Er deutet in Briefen, Tagebüchern und Notizen fast immer nur ihn an (und seinen Propaganda-Minister Goebbels), wenn es um das deutsche Schicksal geht. Mann war damals der festen Überzeugung, dass dieser Teufel das deutsche Volk ver‐ führt hatte und dass es deshalb dem Untergang geweiht war. Doch die Zeit und die Um‐ 152 Heide Ziegler stände des Untergangs waren unbestimmt, und da es Thomas Mann zur Zeit der Abfassung des Romans gesundheitlich gar nicht gut ging, lassen sich seine Aufregung und Beklem‐ mung voll verstehen. Nur der Gedanke, den Roman, seinen ‚Parsifal‘, abschließen zu müssen, hielt ihn aufrecht. (Thomas Mann war an Lungenkrebs erkrankt und musste in Chicago operiert werden; seine Familie ließ ihn allerdings bis zu seinem Tod über die da‐ malige ärztliche Diagnose im Unklaren.) Thomas Mann wusste: Er musste bei der Fertig‐ stellung des Doktor Faustus sein Letztes geben; er musste aus seinem eigenen Leiden einen Erlösungswillen entwickeln und diesen dem Teufel in seinem Roman entgegensetzen. Oft verzweifelte er an seiner selbstgesetzten Aufgabe. Und so leuchtet ein leiser Hoffnungs‐ schimmer nur sehr prekär und vage aus den dunkelsten Tiefen auf, in die er zuvor seinen Protagonisten stürzt. Adrians letzte Liebe ist sein kleiner Enkel Nepomuk Schneidewein, das elfenhafte Kind, das sich selbst „Echo“ nennt. Als es im Roman deutlich geworden ist, dass Echo sterben wird, bricht es aus Adrian in seiner Verzweiflung Serenus gegenüber heraus, dass es in der Welt nicht sein soll, das Gute und Edle. „Es wird zurückgenommen. Ich will es zurück‐ nehmen.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 692) Auf die Frage des Freundes, was er denn zurück‐ nehmen will, erwidert Adrian nur: „Die Neunte Symphonie.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 693) In der Welt des Doktor Faustus kann kein Zweifel daran bestehen, wessen Neunte Sym‐ phonie Adrian Leverkühn zurücknehmen will. Ludwig van Beethoven ist in dem ganzen Roman die vordringlichste musikalische Präsenz. Es ist Beethovens „Lied an die Freude“, die am Ende von „Dr. Fausti Weheklag“, dem letzten Stück, das Leverkühn komponiert, in ein großes Lamento umschlägt, in ein „Lied an die Trauer“, in eine Klage über die Negativität des Religiösen. Es geht nicht um die Verneinung des Religiösen - schon der Teufel hat im Gespräch mit Adrian bekannt, dass die Musik, so wie die Sünde, so wie er selbst, eine hochtheologische Angelegenheit ist. In „Dr. Fausti Weheklag“ weist Adrian den Gedanken einer möglichen Rettung als Versuchung selbst zurück, er sagt Nein! zu falscher und matter sogenannter „Gottesbürgerlichkeit.“ (Mann, Doktor Faustus, S. 710) Seine Absage kommt auch nicht mehr als ein Lied oder als Chorgesang daher, sondern als ein symphonischer Adagiosatz, der in den Worten des Erzählers „das kongeniale Negativ jenes Überganges der Symphonie in den Vokal-Jubel“ Beethovens ist (Mann, Doktor Faustus, S. 709) - eben dessen Zurücknahme. Das Ornament, die Arabeske, das Spiel, die Variation, die menschliche Stimme - sie alle haben in Leverkühns einsam-faustischer Musik keinen Platz mehr. Gerade hiermit aber gelingt Adrian Leverkühn der Durchbruch zu einer neuen Musik, der ihm zuletzt allein, jenseits jeder Hilfe durch den Teufel gelingt. Dieser Durchbruch kann als neue Form des Ausdrucks nur aus einer völligen Strenge der Musik, in der es keine freie Note mehr gibt, als ein expressiver Umschlag geschehen: Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, - Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (Mann, Doktor Faustus, S. 711) 153 Thomas Mann: Doktor Faustus 16 Wunsch und Bedürfnis, diese „Nachschrift“ zu verfassen, ergaben sich aus der meinem Vortrag am 16. Mai folgenden Diskussion. Nachschrift 16 In der Entstehung berichtet Thomas Mann, wie Adorno in einem Gespräch über die letzten Teile des der Kantate „Dr. Fausti Weheklag“ gewidmeten Kapitels am Musikalischen nichts auszusetzen fand, dass er sich aber der abschließenden Sätze wegen „grämlich“ zeigte, in denen es nach all der Finsternis um Hoffnung, die Gnade geht, und die nicht dastanden, wie sie jetzt dastehen, sondern einfach mißraten waren. Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zu viel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen. Die Bedenken, die mein Kritiker dagegen erhob, mußte ich als nur zu berechtigt anerkennen. (Mann, Entstehung, S. 194-195) Wenn man den überarbeiteten Text genau anschaut, erkennt man auch sofort, dass das - in den Rezensionen zum Doktor Faustus viel zitierte - „Licht in der Nacht“ nur aus der Erinnerung an den schon vergangenen, jetzt nur noch „im Schweigen hängende[n] Ton“ erhellt. Es ist also fraglich, ob dieses hoffnungsvolle Licht auch für Adrian Leverkühn gelten kann; denn es ist Serenus Zeitblom (oder der Autor), der uns zum Nachhören des imagi‐ nativen Tons auffordert. Was dagegen im Text des Romans folgt, ist - nach der Ansprache an die Freunde - eindeutig Adrians Höllenfahrt, als er mit einem letzten Klagelaut am Klavier zusammenbricht. Obwohl also Thomas Mann Adornos Kritik akzeptierte und ihr in seinem überarbeiteten Text Rechnung trägt, machen seine Worte in der Entstehung dennoch deutlich, dass er am Schluss des Romans der Höllenfahrt Adrians gern eine letzte Komposition gegenüberge‐ stellt hätte, in der ein Goethe’sches Erlösungsmoment enthalten gewesen wäre. Dieser Wunsch, dem geliebtesten seiner Protagonisten, den er als ‚Helden seiner Zeit‘ bezeichnet hatte und der das Leid der Epoche, vielleicht und gerade auch für seinen Autor, auf sich genommen hatte, Gnade zuteilwerden zu lassen, ließ ihn danach offenbar nicht mehr los. Adrians Stimme war erloschen, aber seine eigene lebte über den Doktor Faustus hinaus fort und hatte soeben in der Entstehung des Doktor Faustus wieder Ausdruck gefunden. Doch handelt es sich bei der Entstehung wirklich nur darum: um die Geschichte der Entstehung des Romans, den Roman eines Romans, den er Adorno und zunehmend auch anderen schuldete. Das Buch endet mit dem Hinweis auf die gerade erfolgte Veröffentlichung des Doktor Faustus. Danach aber stand es Thomas Mann frei, dem inneren Anliegen nachzu‐ geben, für Adrian - und für das allmählich wieder zu sich findende Deutschland - etwas zu schreiben, das der Hoffnung Raum gab. In diesem Kontext ist ein früher Abschnitt aus der Entstehung höchst bemerkenswert: Ich stand in Kapitel XXXI, das das Ende des [Ersten Welt-]Krieges […] und die Wendung Adrians zur Puppen-Oper bringt, und „las abends lange in den Gesta Romanorum. Die schönste und über‐ raschendste der Geschichten ist die von der Geburt des Heiligen Papstes Gregor. Die Erwählung, verdient durch die Entstehung aus Geschwister-Verkehr und durch Blutschande mit der Mutter, - was alles freilich durch eine siebzehnjährige unglaubliche Askese auf dem wilden Stein abgebüßt wird. Extreme Sündhaftigkeit, extreme Buße, nur diese Abfolge schafft Heiligkeit.“ - Ich wußte 154 Heide Ziegler 17 Woerner, Gert: „Gregorius“. Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Band 5 (F, G). München 1986, S. 4122. 18 Wapnewski, Peter: Hartmann von Aue. 7. ergänzte Auflage. Stuttgart 1979, S. 29. Wapnewski tendiert zwar deutlich dazu, die Entstehung des Gregorius in dem Zeitraum zwischen 1190 bis 1197 anzu‐ setzen, aber auch bei ihm handelt es nur um einen - wenn auch wohl begründeten - Vorschlag. 19 Mann, Thomas: Der Erwählte. Hamburg 1956 [1951], S. 8. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. nichts von den vielfachen Erscheinungsformen der Legende, hatte besonders von Hartman [sic! ] von Aues mittelhochdeutschem Gedicht kaum gehört. Aber sie gefiel mir so gut, daß ich gleich damals mit dem Gedanken umging, den Stoff meinem Helden eines Tages wegzunehmen und selbst einen kleinen archaischen Roman daraus zu machen. (Mann, Entstehung, S. 130) Dieser kleine archaische Roman ist Thomas Manns Der Erwählte, den er in den folgenden beiden Jahren schrieb und der 1951 herauskam. Es ist jedoch interessanterweise nicht so, dass Mann diesen Stoff Adrian Leverkühn wegnimmt, sondern dass er sich mit diesem Roman Adrian Leverkühn noch einmal zuwendet, um ihm darin die späte, heimlich längst ersehnte Erlösung angedeihen zu lassen. Zunächst muss festgehalten werden, dass in Der Erwählte deutlich zwischen Form und Inhalt unterschieden werden muss - wobei der Form vorrangige Aufmerksamkeit gebührt. Denn nicht nur unterscheidet sich die Form des Romans von der des Versepos von Hartmann von Aue, sondern auch der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Romanen Doktor Faustus und Der Erwählte lässt sich an der jeweiligen Erzählerfigur und dessen Er‐ zählweise sowie der entsprechenden Haltung des Autors festmachen. Inhaltlich erzählt Thomas Mann in Der Erwählte ziemlich genau die Geschichte vom ‚guten‘ Sünder Gregorius nach, die Hartmann von Aue in seinem Gregorius beschreibt. Dies lässt sich schon aus der Anmerkung am Ende des Romans entnehmen, wenn uns der Autor mitteilt, dass er hier einen legendären Stoff wiedererzählt, der sich in eine lange Tradition einreiht. (Als Quelle diente Hartmann von Aue letztlich die bereits Ende des 12. Jahrhunderts entstandene fran‐ zösische Vie du pape Grégoire, von deren überlieferten Handschriften aber keine die un‐ mittelbare Vorlage des Dichters gewesen sein kann. 17 ) Thomas Mann befindet sich hier also in einer langen Tradition, zu der er sich stolz be‐ kennt, und muss nicht - wie im Doktor Faustus - mehr oder weniger gezwungen Arnold Schönbergs Einfluss auf seinen Roman eingestehen. Andererseits gewährt ihm der Umstand erzählerischen Freiraum, dass es sich bei Hartmann von Aues Gregorius um eine Quellen‐ lage handelt, bei der vieles noch nicht ganz geklärt ist, etwa die genaue Zeit der Entstehung. (Die Verslegende ist entweder 1187 / 89 oder zwischen 1190 und 1197 entstanden, je nachdem welchen historischen Kreuzzug Hartmann mitgemacht hat. 18 ) Diese Unbestimmt‐ heit schlägt sich bei Mann parodistisch unmittelbar in der Mitteilung des Erzählers nieder, dass er, ein Mönch, Clemens der Ire, beim Schreiben des Textes zwar in der Bibliothek des Klosters Sankt Gallen im Alamannenlande sitze, dass er dem Leser aber nicht mitzuteilen gedenke, wann er seine Fassung der Legende niederschreibt, denn er selbst sei als Erzähler im Grunde eine Abstraktion, er sei „Der Geist der Erzählung“. 19 Nur so viel wolle er sagen: er werde diese „entsetzliche und hocherbauliche Geschichte“ nicht in „Verselein“ mitteilen, sondern in Prosa, aber in welcher Sprache sie niedergeschrieben werde, sei nicht ganz klar: ob lateinisch, französisch, deutsch, angelsächsisch oder thiudisc, wie die Alamannen reden; 155 Thomas Mann: Doktor Faustus 20 Hartmann von Aues Versepos wurde von einem anonymen Verfasser im 14. Jahrhundert in Prosa umgeschrieben, möglicherweise um „den Prosa-Gregorius in den Zusammenhang eines größeren Legendars zu stellen“. (Plate, Bernwald (Hg.): Gregorius auf dem Stein. Texte zur Forschung, Band 39. Darmstadt 1983, S. 1.) Thomas Mann kann sich also auch mit diesem Wechsel zwischen Vers und Prosa auf eine Hartmann von Aue-Tradition berufen, welche er als eine Art Palimpsest wiederauf‐ nimmt. die Sprachen „rinnen mir ineinander in meinem Schreiben und werden eins, nämlich Sprache.“ (Mann, Der Erwählte, S. 13) Es rinnen dem Erzähler aber nicht nur diese verschie‐ denen Sprachen ineinander, sondern - entgegen seiner Aussage - auch Prosa und Verse, und zwar dergestalt, dass viele der Charaktere unter der Hand plötzlich in Versen reden - wobei der Erzähler allerdings äußerlich in der Regel die Form der Prosa beibehält. 20 Manchmal ärgert sich ein Charakter sogar darüber, dass er immer wieder gegen seinen Willen ins Versemachen verfällt, etwa Herr Poitewin, der Bürgermeister von Bruges, als er von den ritterlichen Heldentaten des jungen Gregorius zu seinem Freunde spricht. Manchmal geschieht das Versemachen im heiligsündigen Scherz, etwa wenn Sibylla im Gebet die Jungfrau Maria darum bittet, den jungen Gregorius zu ihrem Herrn und Herzog machen zu dürfen, obwohl sie doch doppelt so alt ist wie er mit seinen siebzehn Jahren (und obwohl sie ganz tief unten in ihrer Seele weiß, dass er ihr Sohn ist, den sie mit dem geliebten verstorbenen Bruder Wiligis gezeugt hat, dem Gregorius so ähnlich sieht): Frau, vergib, daß ich scherze in all meinem Schmerze! Denn auch um den Knaben ist mir weh, da ich ihn so jung erseh, und bin doch selbst schon bei Jahren, ein Weib, viel lieb- und leiderfahren, wenn auch gottlob noch recht wohl instand, dazu Herrin über das ganze Land. (Mann, Der Er‐ wählte, S. 172) Als einziger verfasst Gregorius sein Gebet in echten Versen, als er begreift, dass Gott ihn zum Papst erhöht, ihn, den größten aller Sünder, der nicht nur keineswegs nach seinen Eltern gesucht hat, als er von der Bewandtnis seiner Geburt erfuhr, um deren Sünde abzu‐ büßen, sondern der stattdessen stolzes Rittertum wählte und schließlich die Ehe mit einer Herrin, deren Alter ihm zu denken hätte geben müssen. Was der Erzähler in Der Erwählte betreibt, ist somit frommes Spiel. Er sitzt in seiner Klause, wohlversorgt und behaglich. Er kennt die Legende, der auch er lediglich eine neue Fassung verleihen will. Er weiß, dass sie gut ausgeht; und dass es mehrere Varianten von ihr gibt, ist für ihn obendrein von Vorteil, weil es ihm die Möglichkeit gibt, mit ihr - wenn auch in demütig-christlicher Weise - locker umzugehen. So setzt er etwa mit seiner Er‐ zählung dort ein, wo die Legende endet: „Glockenschall, Glockenschwall supra urbem, über der ganzen Stadt, in ihren von Klang überfüllten Lüften“ (Mann, Der Erwählte, S. 7), das heißt: mit dem Einzug des Gregorius als Papst in Rom, nachdem er siebzehn Jahre lang auf einem Fels im See äußerste Buße geleistet hat. Wenn sich aber der Erzähler in Der Erwählte im Gegensatz zu Serenus Zeitblom im Doktor Faustus frei und sicher im Schutz der Legende bewegen kann, so gilt dies nicht für den Protagonisten Gregorius - genauso wenig wie es je auf Adrian Leverkühn zutraf. Beide sind gefangen in ihrer Auserwähltheit. Ihre Schuld besteht mehr in ihrem Stolz als in an‐ rechenbarer Sünde. Dabei beweist sich dieser Stolz vor allem darin, dass sie beide die Größe ihrer Schuld und das ganz unverhältnismäßige Ausmaß ihrer Buße selbst bestimmen. Es 156 Heide Ziegler 21 In seinem bekannten Aufsatz „Bruder Hitler“ (1938) untersucht Thomas Mann fasziniert die „tief schwärende Rachsucht des Untauglichen, Unmöglichen, zehnfach Gescheiterten, des extrem faulen, zu keiner Arbeit fähigen Dauer-Asylisten und abgewiesenen Viertelskünstlers, […] wie er, der nichts gelernt hat, aus vagem und störrischem Hochmut nie etwas hat lernen wollen, der auch rein technisch steht dahin, ob sie auf diese Weise die unendliche Güte zur Gnade bewegen können, und sie wissen, dass sie nicht auf Gnade hoffen dürfen. Fest steht nur, dass sie beide ihr Schicksal annehmen, der eine als der Erwählte Gottes, der andere als der des Teufels - wobei letzterer aber, wie Adrian Leverkühn erkennt, in der teuflischen Zeit des Nationalsozialismus allein noch Kunst ermöglichen konnte: Es ist die Zeit, wo auf fromme, nüchterne Weis, mit rechten Dingen, kein Werk mehr zu tun und die Kunst unmöglich geworden ist ohne Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel. (Mann, Doktor Faustus, S. 723) Anders als Faust in Goethes Drama nimmt Adrian Leverkühn nur im Bereich der Kunst die Hilfe des Teufels an. Darum ist sein Durchbruch in der modernen Musik von äußerster Askese in allen anderen Lebensbereichen begleitet. Und Gregorius steigert sich in seinem Dankgebet an den Herrn in Verse hinein, die Gott zwar einerseits preisen, aber im We‐ sentlichen die eigene Aufgabe benennen, die er aus seiner ihm ohne eigenes Verdienst verliehenen Fähigkeit, Menschen auf Erden zu binden und zu lösen, ableitet: Soll ich meines Lebens Grauen Nun in Deiner Klarheit schauen - Herr! Wie sehr bewundr‘ ich sie, Deine heilige Alchimie, Die des Fleisches Schmach und Leid Läutert in die Geistigkeit, Daß der Buhlgespons der Sünde Höchlichst sich gewürdigt finde, Irdscher Notdurft allerorten Öffne Paradieses Pforten. (Mann, Der Erwählte, S. 257) Thomas Manns Einfall, dass seinem Adrian ebenso wie dem Gregorius im Rahmen einer freieren erzählerischen Form Gnade zuteilwerden könnte, sofern man die Romane Doktor Faustus und Der Erwählte zusammen liest, erhält seine letzte Rechtfertigung durch die große Ähnlichkeit zwischen dem jungen Adrian und dem jungen Gregorius und durch ihre Ver‐ ankerung in einem vergleichbaren mittelalterlichen Kontext. (Das Volksbuch vom Doctor Faust entstand zwar erst 1587, aber der Stoff Gregorius wurde in fast allen europäischen Sprachen zwischen dem 12. und dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen. Und die Funktion von Echo im Doktor Faustus war es ja ebenfalls, die Sprache des Romans ins Mit‐ telhochdeutsche zurückzuführen.) Adrians Schicksal wird somit wieder Teil einer durch‐ gängigen deutschen Kultur, die - wahrscheinliche - ‚Entartung‘ seiner Kunst im Dritten Reich wird aufgehoben. Dass Adrian sich selbst als erwählt empfinden durfte, wenn auch nur durch den Teufel, der das Besondere an ihm, der feinen Kreatur, eifersüchtig liebt, das unterscheidet ihn von demjenigen, der in Deutschland die Massen in unbescheidener An‐ maßung in ein historisches Verderben führte. 21 Adrian Leverkühn macht seine dem Teufel 157 Thomas Mann: Doktor Faustus und physisch nichts kann, was Männer können, kein Pferd reiten, kein Automobil oder Flugzeug lenken, nicht einmal ein Kind zeugen …“. Mann, Altes und Neues, S. 623. geschuldete Sündhaftigkeit durch seine Kunst fruchtbar, er leidet und lässt es sich schwer werden, aber er führt die moderne Musik zu neuen Höhen. Und dieser Gedanke des Er‐ wählt-Seins ist offensichtlich auch der vorherrschende Aspekt in Der Erwählte - wobei die Wahl des Gregorius nach langer Buße zum Papst nur der Abschluss einer Entwicklung ist, die sich durch seine Feinheit und Schönheit, seinen Ernst und Einsatzwillen im Kampf schon vorbereitet hatte. Nicht nur lernt der junge Gregorius so schnell und leicht und ohne er‐ sichtliche Mühe wie Adrian, er versteht es, wenn es darauf ankommt, genau wie jener, sich zusammenzunehmen und durchzuhalten: Kein Eisen brauchte mich festzuhalten an meiner Buße, ich selbst hielt an ihr fest mit festhaltender Hand. Meiner Sündhaftigkeit war es gegeben, mich in jedem Kampf über das übliche Maß zusam‐ menzunehmen. (Mann, Der Erwählte, S. 251) Gregorius ist immer sehr angenehm anzusehen, aber im Kampf wird er geradezu schön, und seine Augen sind schwarz, mit einem bläulichen Schimmer - die Kombination der Augenfarben, die Adrian liebt. Und dieser Gregorius wird zum Schluss von Gott selbst zum Papst erhoben, der über den Menschen steht und binden und lösen kann. Er könnte und kann somit auch Adrian rückwirkend lösen - so wie er rückwirkend zu aller Erstaunen den heidnischen Kaiser Trajan aus der Hölle losbetet. (vgl. Mann, Der Erwählte, S. 262-63) [K]lug ist es freilich im Sünder den Erwählten zu ahnen, und klug ist das auch für den Sünder selbst. Denn würdigen mag ihn die Ahnung seiner Erwähltheit und ihm die Sündhaftigkeit fruchtbar machen, so daß sie ihn zu hohen Flügen trägt. (Mann, Der Erwählte, S. 286) Dies ist eher eine Beschreibung von Adrian Leverkühn als von Gregorius, obwohl auch dieser seine ihm von Gott übertragenen Aufgaben sofort angeht, so dass er schließlich allenthalben als ‚Der sehr große Papst‘ gilt. Thomas Mann hielt es für angemessen, seinem Roman Doktor Faustus einen rahmenden Roman über dessen Entstehung beizugeben, der im Großen und Ganzen eher persönlichen und erklärenden Charakter hat. Mit dem Erwählten aber hat er dem Roman noch die Ge‐ schichte der möglichen Erlösung seines Helden angefügt. Nachdem sich die Lebensge‐ schichte von Adrian Leverkühn und Serenus Zeitblom aus den Fängen des deutschen Na‐ tionalsozialismus zeitlich gelöst hatte, konnte Der Erwählte auch als ein wertender Kommentar zu dem schicksalhaften Bemühen eines deutschen Tonsetzers gelesen werden, der den Durchbruch in das Kosmopolitische und in die Gnade geschafft hatte. Ein solcher Kommentar scheint heute mehr denn je lesenswert. Literaturverzeichnis Mann, Thomas: Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. Hg. Ruprecht Wimmer. Frankfurt / M. 2007. 158 Heide Ziegler — : Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Kommentar von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt / M. 2007. — : Die Entstehung des Doktor Faustus: Roman eines Romans. Amsterdam 1949. — : Der Erwählte. Hamburg, 1956 [1951]. — : „Goethes Werther“ (1938). Altes und Neues: Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt/ M. 1953, 198-214. — : „Bruder Hitler“ (1938). Altes und Neues: Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt / M. 1953. 622-629. — : Briefe 1937-1947. Hg. Erika Mann. Kempten 1963. — : Briefe 1948-1955 und Nachlese. Hg. Erika Mann. Kempten 1965. Nicolson, Harold: „The Nazi Mentality Studied in Three Works.“ The Daily Telegraph, London, 14. April 1939, 12. Plate, Bernwald (Hg.): Gregorius auf dem Stein. Texte zur Forschung, Band 39. Darmstadt 1983. Schweikle, Günther und Irmgard (Hgg.): „Parodie“. Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Defi‐ nitionen. Zweite, überarbeitete Auflage, Stuttgart 1990, 342 f. Wapnewski, Peter: Hartmann von Aue. 7., ergänzte Auflage. Stuttgart 1979. Woerner, Gert: „Gregorius“. Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Band 5 (F, G). München 1986, 4122. 159 Thomas Mann: Doktor Faustus Arthur Miller: Death of a Salesman Hubert Zapf Arthur Miller ist sicher neben Eugene O’Neill, Tennessee Williams und Edward Albee der international bekannteste amerikanische Dramatiker des 20. Jahrhunderts. All diese Au‐ toren stellen die Selbstentfremdung des Menschen in der modernen Gesellschaft, gerade auch in den vom Mythos des American Dream geprägten USA , in den Mittelpunkt, aber beleuchten sie aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven. Während Eugene O’Neill in Stücken wie Mourning Becomes Electra oder Long Day’s Journey into Night Anleihen bei Nietzsches Aktualisierung des antiken Mythos nimmt und den Sinn- und Beziehungsverlust des Menschen im Licht von anthropologischen und persönlichen Grundbedürfnissen the‐ matisiert, sind die Dramen von Tennessee Williams wie A Streetcar Named Desire oder Cat on a Hot Tin Roof durch eine stärker psychologische Betrachtungsweise charakterisiert, die die verdrängte Triebnatur des Menschen im Spannungsfeld zwischen Normalität und All‐ tagstrauma auf die Bühne stellt, und rückt Edward Albee in Stücken wie The Zoo Story und Who’s Afraid of Virginia Woolf ? die Thematik der menschlichen Selbstentfremdung als existentielles Problem innerhalb eines absurden Theaterkonzepts in den Fokus. Demgegenüber gilt die spezifische Aufmerksamkeit Arthur Millers gerade der Wechsel‐ beziehung zwischen individueller und gesellschaftlicher, privater und öffentlicher Sphäre, eine Verbindung, die in der Charakterisierung seines Dramenkonzepts als eines social do‐ mestic drama deutlich wird, also eines Dramas, das sich weder nur auf die sozialen Ver‐ hältnisse, noch auf die häusliche Binnenstruktur familiärer Privatwelten, sondern auf deren unaufhebbare wechselseitige Durchdringung bezieht. Dadurch werden die Probleme, Kon‐ flikte und Beziehungsstrukturen innerhalb von Familien im unmittelbaren Zusammenhang mit Problemen und Konflikten der sozialen Außenwelt dargestellt, ohne deterministisch auf diese zurückgeführt zu werden. In diesem Sinn verfolgt Miller zugleich stärker als an‐ dere Autoren eine ethische Fragestellung, in der die Werte, an denen sich Individuen ori‐ entieren, zugleich auf die kollektiven Werte der Gesellschaft bezogen und in Auseinander‐ setzung mit diesen kritisch reflektiert werden. Immer wieder deckt Miller die Mechanismen auf, in denen äußerlich aufrechterhaltene kulturelle Normen und Selbstbilder, die sich um das Thema Erfolg und Anerkennung in der Gesellschaft drehen, grundlegenden ethischen Werten widersprechen und destruktive Kon‐ sequenzen für das Zusammenleben der Menschen haben. Miller enthüllt bevorzugt jene sozialpsychologischen Prozesse, in denen das vermeintlich individuelle Selbst erst durch die Projektion eines Fremden auf das Eigene - im Sinn der Verinnerlichung gesellschaftlich vorgegebener Idealbilder - entsteht, und in denen umgekehrt das Eigene auf das Fremde gespiegelt wird in dem Sinn, dass die Ängste und Schwächen, die verdrängten Aspekte der eigenen Person als Negativbilder nach außen projiziert werden. Die Dynamik und reali‐ tätsbestimmende Macht solcher kulturell vermittelter Selbst- und Fremdbilder in ihrem gebrochenen Verhältnis zu den persönlichen Lebenswelten der einzelnen Menschen ist ein zentrales Anliegen, das Millers Werke durchzieht. 1. Biographische Vorbemerkungen Zunächst aber einige Bemerkungen zur Biographie des Autors. Arthur Miller wuchs als Sohn einer deutsch-jüdischen Familie in New York auf. Zu einer prägenden Erfahrung wurde die Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1929, in der auch der Betrieb seines Vaters bankrott ging. Im Gegensatz zu dem etwa gleich alten Tennessee Williams, der sich aufgrund einer frühen Krankheit auf das Lesen von Büchern zurückgezogen hatte, war der heranwachsende Miller sehr viel stärker an sportlicher Betätigung - vor allem dem Foot‐ ball-Spiel - als an Büchern interessiert. Seine Abgangsnoten von der Highschool waren schlecht, ein Universitätsstipendium schien zunächst ausgeschlossen und Arthur Miller lernte die Kehrseite des amerikanischen Erfolgsmythos bereits als Jugendlicher kennen, als er vom Tellerwäscher bis zum Lastwagenfahrer, vom Lagerarbeiter bis zum Seemann eine Vielzahl bescheiden bezahlter Jobs ausübte. Konnte sich Tennessee Williams‘ psychologi‐ sche Sensibilität und poetische Phantasie gewissermaßen im Treibhausklima einer haupt‐ sächlich literarisch, über Bücher laufenden Imagination entfalten, die allerdings immer wieder mit einer ihr feindlichen Außenwelt kollidierte, wie es in seinem Drama The Glass Menagerie beispielhaft deutlich wird, so ergab sich das Interesse Millers an Literatur erst, nachdem er in der Realität mit den verschiedensten Aspekten und Problemen amerikani‐ schen Lebens konfrontiert worden war. Es stehen sich hier offenbar zwei Wege der literarischen Kreativität gegenüber, die es in der amerikanischen Literatur immer wieder gab - so etwa bei den bedeutendsten Roman‐ schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Nathaniel Hawthorne und Herman Melville, von denen der Autor des Scarlet Letter in einer literarisch geprägten Umwelt aufwuchs und sich nach der College-Zeit für zwölf Jahre in die Einsamkeit seiner Bücherstube zurückzog, um sich auf ein Leben als Schriftsteller vorzubereiten, während Melville erst spät mit Büchern in Kontakt kam und zuvor die Weltmeere auf Walschiffen bereiste, woraus er nicht zuletzt die Inspiration für sein Hauptwerk Moby-Dick bezog und was er selbst auf die Formel brachte: „A whaleship was my Yale college and my Harvard.“ (Moby-Dick, chapter XXIV ) Ähnliches ließe sich über die beiden wichtigsten Figuren der amerikanischen Lyrik sagen, Emily Dickinson und Walt Whitman, von denen Dickinson weitgehend von der Welt zurückge‐ zogen umgeben von Büchern im oberen Stock ihres bürgerlichen Elternhauses lebte und dort ihre vom Wissen der gesamten Weltliteratur durchdrungenen hochkomplexen expe‐ rimentellen Gedichte schrieb, während Whitman dem Handwerkermilieu entstammte und wie Melville keine formale Hochschulausbildung genoss, sondern neben seiner vielfältigen journalistischen Tätigkeit u. a. als Druckergehilfe, Zimmermann und Immobilienmakler arbeitete, bevor er sich ganz der Literatur widmete und mit seinem Lebenswerk Leaves of Grass eine neue Form der demokratischen Poetik schuf. Im 20. Jahrhundert wären William Faulkner und Ernest Hemingway oder T. S. Eliot und Allen Ginsberg solche Beispiele, die von jeweils entgegengesetzten Seiten einer literarischen und einer lebensbezogenen Sozi‐ 162 Hubert Zapf alisation zu ihrer spezifischen Produktivität fanden - wobei in allen Fällen dann die jewei‐ lige Verbindung der Pole charakteristisch war. So gilt auch für Arthur Miller, dass er sich mit Verspätung dann umso intensiver mit der literarischen Tradition auseinandersetzte. Er schrieb sich in einen Dramakurs an der Uni‐ versity of Minnesota ein und wurde vor allem von Shakespeare, G. B. Shaw und Eugene O’Neill, aber auch von Ibsen und Strindberg in seiner Auffassung vom Drama geprägt. Zeitweise war er Schüler des in die USA emigrierten Erwin Piscator und arbeitete vorü‐ bergehend für das staatlich subventionierte Federal Theater Project, das in den Zeiten der Großen Depression und des New Deal die Teilhabe der sozial abgehängten Schichten am Kulturleben ermöglichen sollte. Sein Broadway-Debut mit der Tragikomödie The Man Who Had All the Luck allerdings wurde ein Misserfolg. Miller verteidigte in einem späteren In‐ terview das Stück gegen seine Kritiker, die nicht verstanden hätten, dass darin bereits ein Grundthema seiner Werke aufgeworfen sei, nämlich die spannungsreiche Verbindung von Determination und freiem Willen in seinen Figuren, die ihre tragischen Lebenswider‐ sprüche nie auflösen könnten und dennoch um die Aufrechterhaltung einer selbstbestimmten persönlichen Identität kämpften. Ein erster großer Theatererfolg gelang Miller dann aber 1947 mit All My Sons, das die Machenschaften von Kriegsgewinnlern des ersten Weltkriegs und deren zerstörerische menschliche Folgen vor Augen führt. 1949 folgte Death of a Salesman, das rasch zu einem Welterfolg wurde und dem Autor internationale Berühmtheit einbrachte. 1953 veröffent‐ lichte er The Crucible, das die Zeit der Hexenverfolgung in Salem, Massachusetts im aus‐ gehenden 17. Jahrhundert zum Thema hat, indirekt aber auch auf die antikommunistischen Exzesse der MyCarthy-Ära anspielt, von denen Miller selbst später betroffen sein sollte. Es lohnt sich, auf diesen zeitgenössischen Kontext seiner Dramen kurz einzugehen, weil er ein Licht auf das Klima der Epoche wirft und auf die konformistischen Zwänge der Gesellschaft, mit denen Miller sich in seinen Stücken kritisch auseinandersetzt. Der Anti‐ kommunismus der Nachkriegszeit war in den frühen 50er Jahren zu einem bis dahin nicht gekannten Höhepunkt gelangt. Der zuständige Senator McCarthy steigerte sich in para‐ noide Bedrohungsszenarien für die USA hinein, die er bis in Regierungskreise hinein von feindlichen Spionen durchsetzt sah, und erstellte mit Hilfe eines ihm zuarbeitenden Macht‐ apparats schwarze Listen von angeblichen Gefährdern, die mit repressiven, bis zum Be‐ rufsverbot gehenden Maßnahmen verfolgt wurden. Unter den Filmemachern waren bereits 1948 die Hollywood Ten in diese repressive Maschinerie geraten, und in den 50er Jahren folgten eine ganze Reihe von Intellektuellen und Kulturschaffenden, zu denen dann auch Arthur Miller gehörte. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die 30er Jahre, die sogenannte Red Decade, bis hinein in die frühen 40er Jahre in den USA von einer starken Sympathie für sozialistische Ideen unter den amerikanischen Intellektuellen, aber auch unter den Gewerkschaften und der Arbeiterschicht gekennzeichnet war. Viele der Künstler und Literaten, die in den späten 40er und frühen 50er Jahren erst zum Erfolg kamen, waren von dieser Phase geprägt und gerieten unter dem Druck der neuen antikommunistischen Ideologie in den Verdacht vaterlandsfeindlicher, subversiver Tätigkeit. Und dieses Schicksal ereilte auch Arthur Miller. Im Jahre 1955 hatte er das Angebot erhalten, ein Drehbuch über die Sozialarbeit mit Jugendbanden in New York zu schreiben. Zur gleichen Zeit wurde er in der Zeitung New 163 Arthur Miller: Death of a Salesman York World Telegram heftig wegen angeblicher linksradikaler Aktivitäten attackiert, und das von McCarthy etablierte Komitee für unamerikanische Aktivitäten, das House Un-Ame‐ rican Activities Committee des Senats unterstützte die Forderung der Zeitung, dass die Stadt New York den Vertrag mit Miller rückgängig machen solle. Der Bürgermeister von New York ordnete die Erstellung eines Hintergrundberichts zur Person Millers an, doch wurde nichts anderes entdeckt, als dass Miller in seiner Jugend Sympathien für den Sozialismus hatte und, als die kommunistische Partei zu Beginn des Kalten Kriegs verboten wurde, einen Protest mitunterzeichnet hatte. Der Bürgermeister kam zu dem Ergebnis, dass es keinen Anlass gebe, vom Vertrag mit Miller zurückzutreten. Die zuständige Kontrollbehörde wi‐ dersetzte sich diesem Vorhaben und forderte Miller auf, eine öffentliche Entschuldigung für seine vergangenen Beziehungen zur politischen Linken abzugeben, was er verärgert ablehnte. Dadurch geriet er noch mehr ins politische Abseits, und als er 1956 einen Pass beantragte, um für die Aufführung seines Stücks A View from the Bridge nach England zu reisen, wurde er vor das bereits genannte Senatskomitee für unamerikanische Umtriebe zitiert. Die Ausschussmitglieder warfen ihm Verwicklung in kommunistische Aktivitäten und vor allem seine satirischen Angriffe auf das Komitee selbst vor. Der Höhepunkt der Aus‐ einandersetzung kam, als der Ausschuss von ihm verlangte, die Namen anderer Schrift‐ steller zu nennen, die bei vergangenen Treffen linker Autoren anwesend gewesen waren. Miller betonte, dass er jederzeit Fragen über sich selbst beantworten würde, aber unter keinen Umständen über andere auszusagen bereit wäre. Daraufhin wurde er wegen Miss‐ achtung des Kongresses angeklagt und zu 500 $ Strafe und einem Monat Gefängnis auf Bewährung verurteilt - und dann erst 1958 wieder rehabilitiert. Man erkennt die Umrisse dieses Konflikts, wenn man das Stück The Crucible betrachtet, in dem die Hauptfigur John Proctor im Kontext der Salemer Hexenverfolgungen ebenfalls im Konflikt zwischen Gerichtsverfahren und verweigerter Konformität steht und verurteilt wird - in diesem Fall allerdings zum Tod - weil er die Namen angeblicher Hexen nicht nennen will. Das 1953 entstandene Stück antizipiert also bereits mehrere Jahre zuvor in fiktionaler Form eine Situation, die Miller in seinem Leben tatsächlich einholen sollte - womit die Fähigkeit seiner Dramen, gesellschaftspolitische Prozesse über historische Epo‐ chen hinweg auf ihre typischen Grundmuster hin zu durchleuchten, auf eine wenn auch unerfreuliche, so doch eindrucksvolle Weise beglaubigt wird. Was Millers Privatleben anbelangt, so war neben der McCarthy-Affäre das wohl publi‐ kumswirksamste Ereignis, dass er 1956 in zweiter Ehe Marylin Monroe heiratete und für mehrere Jahre deren Manager wurde. Für Monroe schrieb er auch das Drehbuch ihres letzten Films The Misfits (1959). Die Ehe ging jedoch schließlich auseinander und wurde 1961 geschieden. Ähnlich wie bei Williams hat die Kritik auch bei Miller in seiner späteren Lebensphase ein Nachlassen seiner künstlerischen Produktivität konstatiert, auch wenn eine Reihe meist kürzerer Stücke und auch einige abendfüllende Dramen wie das psycho‐ analytische Holocaust-Stück Broken Glass entstanden, die aber nicht die Resonanz der frü‐ heren Werke fanden. In seinen letzten Lebensjahren blieb Miller bis zu seinem Tod im Jahr 2005 weiterhin als public intellectual in der internationalen Öffentlichkeit präsent und äußerte sich vor allem kritisch gegenüber dem damaligen Präsidenten George W. Bush - was er zweifellos heute 164 Hubert Zapf mindestens ebenso engagiert auch gegenüber dessen Nachfolger Donald Trump getan hätte. In der Tat werde ich nachher noch zeigen, dass Miller in Death of a Saleman eine Nebenfigur geschaffen hat, die recht deutlich Charaktermerkmale des heutigen amerika‐ nischen Präsidenten antizipiert. Bevor ich auf Death of a Salesman zu sprechen komme, möchte ich noch kurz auf ein anderes Stück eingehen, das seinem bedeutendsten Drama vorausging, All My Sons (1947), in dem die Hauptthematik und die Grundzüge des social domestic drama bereits erkennbar werden, die das spätere Stück kennzeichnen. Ähnlich wie bei Millers Vorbild Ibsen ist die Handlung im Stil eines analytischen Dramas aufgebaut und auf Gespräche und Begeg‐ nungen beschränkt, die das Vorangegangene im Rückblick aufrollen und in weniger als 24 Stunden zur tragischen Lösung führen. Im Mittelpunkt steht wie in Death of a Salesman die Vater-Sohn-Beziehung, an der die größere gesellschaftliche Problematik entfaltet wird. Der Vater ist der Fabrikant und Rüs‐ tungslieferant Joe Keller, in der Gesellschaft angesehen und wohlsituiert, der im Stück von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt wird. Aus Profitgier hatte er im Krieg schad‐ hafte Flugzeugmotoren an die Armee geliefert und hat damit das Leben ahnungsloser Pi‐ loten auf dem Gewissen, die den Absturz nicht überlebten. Es ist Joe Keller aber gelungen, die strafrechtlichen Folgen dieser Manipulationen seinem Geschäftspartner Deever aufzu‐ bürden, während er selbst zu Reichtum und Ansehen aufgestiegen ist. Doch der aus dem Krieg heimgekehrte Sohn Chris wird zum moralischen Ankläger des Vaters, der sich damit verteidigt, aus Familiensinn und zur Existenzsicherung gehandelt zu haben. Die dramati‐ sche Wende kommt mit dem Abschiedsbrief des anderen Sohns Larry, der nicht, wie es zunächst schien und vom Vater bereitwillig aufgegriffen wurde, als Held im Krieg gefallen ist, sondern aus Scham und Verzweiflung über die korrupten Machenschaften des Vaters Selbstmord begangen hat. Keller verliert auch Chris, den überlebenden Sohn, der das El‐ ternhaus für immer verlässt. In seiner Persönlichkeit gebrochen und seiner Illusionen be‐ raubt, nimmt Keller sich das Leben. Der Traum von Glück und Erfolg, den er für sich und seine Familie auf Kosten der Gemeinschaft zu realisieren versuchte, führt nicht nur zur Zerstörung fremden, sondern auch des eigenen Lebens, und die Maske der sozialen Aner‐ kennung und des äußeren Erfolgs, die sich das individuelle Selbst zulegt, höhlt am Ende das Selbst aus, das seinen pursuit of happiness allein von ihr her definiert. Miller zielt also nicht so sehr auf die Kritik eines kriminellen Einzelnen, sondern auf das Auseinanderklaffen von privater und öffentlicher Moral, von individualistischem Erfolgsdenken und einer Ethik der Gemeinschaft, die durch die Verabsolutierung dieses Individualismus in ihrem Zusam‐ menhalt zu zerbrechen droht. 2. Handlungsskizze Wird diese Thematik in All My Sons von der Seite eines Täters beleuchtet, so rückt in Death of a Salesman die Sicht eines Opfers dieser Durchdringung von privater und sozialer Sphäre im Rahmen eines kapitalistisch definierten pursuit of happiness in den Mittelpunkt, wobei allerdings die Hauptfigur Willy Loman selbst bis ins Innerste seiner Identität hinein in die Denk- und Verhaltensmuster verstrickt ist, denen er zum Opfer fällt. Das Stück wurde sofort zu einem überwältigenden Erfolg und lief unter der Regie von Elia Kazan am Broadway 165 Arthur Miller: Death of a Salesman nahezu zwei Jahre. Unzählige weitere Aufführungen in den USA und Europa schlossen sich an, es wurde zu einem Bestseller, u. a. mit Dustin Hoffmann verfilmt und zu einem der meistgespielten Stücke des modernen Dramas. Die kompositorische Dichte des Stücks ist beachtlich und übertrifft All My Sons bei weitem. Die vielen zeitlichen Umstellungen, Fi‐ gurenwechsel und Szenenveränderungen folgen nicht einem linearen Plot, dennoch lässt sich die Handlung umrisshaft folgendermaßen skizzieren. Zu Beginn ist Willy Loman, ein alternder und erfolglos gewordener Handlungsreisender, in einer schweren Krise. Er ist im Zustand des Burnout, würde man heute sagen, erschöpft und dem Selbstmord nahe. Nach mehr als dreißig Jahren hat Willys Arbeitgeber ihm das Gehalt entzogen und ihm nur noch die Provision auf seine Verkäufe gelassen, und er ist gezwungen, sich von seinem Nachbarn Charley Geld zu leihen, damit er vor seiner Frau Linda seine Unfähigkeit verbergen kann, den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Willy ist trotz ständiger Rückschläge nach wie vor vom Glauben an den Erfolg besessen und hat versucht, den Kult der überzeugenden Persönlichkeit eines salesman - gewinn‐ endes Lächeln, charmantes Auftreten, joviales Wesen - seinen beiden Söhnen einzuimpfen. Diese oberflächlichen Lebensprinzipien haben sich als Ruin für den älteren Biff und den jüngeren Happy herausgestellt. Während Happy als mittlerer Angestellter immer noch vom verheißenen großen Erfolg träumt, ist der auf der Gegenwartsebene des Stücks 34jährige Biff, auf den der Vater die größten Hoffnungen gesetzt hatte, zu einem Herumtreiber und gesellschaftlichen Versager geworden, der die Verheißung seiner Jugend, als er der beste Spieler der Football-Mannschaft der High School war, ganz und gar nicht erfüllt hat. Im ersten Akt des zweiaktigen Stücks, das mit einem Requiem endet, ist Biff von seinem unsteten Wanderleben quer durch die USA wieder einmal ins Elternhaus in Brooklyn, New York zurückgekehrt, wo sich auch Happy, sein jüngerer Bruder eingefunden hat. Vor allem das Verhältnis von Willy und Biff ist von gegenseitiger Enttäuschung, ja Feindseligkeit geprägt, die umso heftiger ist, als eine besonders emotionale Beziehung zwischen Vater und Sohn besteht. Für Biff ist diese Beziehung durch ein traumatisches Erlebnis belastet, das er als entscheidenden Grund für sein eigenes Scheitern ansieht. Als er nämlich einst sein Abschlussexamen an der High School, das ihm den Weg zu einem Universitätsstipendium ermöglich hätte, wegen Mathematik nicht bestanden hatte und den auf Geschäftsreise in Boston befindlichen Vater aufsuchte, um bei ihm Hilfe für ein Gespräch mit dem Lehrer und eine Korrektur der Prüfungsnote zu suchen, überraschte er den Vater mit einer fremden Frau im Hotelzimmer. Seit jener Zeit ist Willy in den Augen seines Sohnes ein ‚fake‘ - gleichzeitig aber damit auch ein Vorwand für Biffs eigenes Versagen. Linda, Willys Frau, ist das Musterbeispiel einer verständnisvollen Ehefrau, die bedin‐ gungslos zu ihm steht und ihn über seine permanenten Enttäuschungen hinwegzutrösten versucht, obwohl er sie ihr gegenüber mit geradezu paranoider Hartnäckigkeit leugnet und an dem völlig realitätsfernen Erfolgsbild seiner selbst bis zum bitteren Ende festhält. Als weitere wichtige Figur taucht in Erinnerungsszenen aus der Vergangenheit immer wieder der schwerreiche Uncle Ben auf, Willys verstorbener älterer Bruder, der in einer in Willys Phantasie freilich völlig übersteigerten und idealisierten Version den amerikanischen Er‐ folgsmythos verkörpert. Am Ende des ersten Aktes sieht es zunächst so aus, als bahne sich nach heftigen Konflikten zwischen den Familienmitgliedern eine Lösung der Probleme an: Die beiden Brüder überlegen, ein gemeinsames Unternehmen für Sportwaren zu starten, 166 Hubert Zapf 1 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf Miller, Arthur: Death of a Salesman. Certain Private Conversations in Two Acts and a Requiem. Harmondsworth 1949. und Willy nimmt sich vor, seinen Chef Howard um Versetzung aus dem Außendienst mit seinen langen, zermürbenden und finanziell ertraglosen Reisen in ein Büro im Innendienst zu bitten. Der zweite Akt knüpft zunächst an diese optimistische Stimmung an - die allerdings aufgrund der vorausgegangenen Konflikte von vornherein nicht wirklich tragfähig er‐ scheint. Die Söhne laden den Vater für den Nachmittag zum Dinner in der Stadt ein, um nach der erhofften Kreditbeschaffung für das geplante Unternehmen und nach Willys Ge‐ spräch mit seinem Arbeitgeber gemeinsam den erhofften Neuanfang zu feiern. Doch als Willy im Büro seines Chefs Howard auftaucht, stellt dieser sich taub für seine Versetzungs‐ wünsche und, als Willy darauf insistiert, entlässt er ihn aus der Firma. In seiner Einsamkeit und Erschöpfung flüchtet Willy sich in die Vergangenheit und in die Erinnerung an seinen vergötterten Bruder Ben sowie in Biffs große Zeit als Football-Star. Wieder in der Gegen‐ wart sehen wir Willy im Büro seines Nachbarn Charley, um sich von ihm ein weiteres Mal Geld zu leihen, wobei er aus Stolz Charleys Angebot, einen Job in dessen Firma zu über‐ nehmen, geradezu aggressiv ablehnt mit der Behauptung, er habe schon einen Job, obwohl er weiß, dass Charley weiß, dass dies nicht zutrifft. Die Szene im Restaurant, die sich anschließt, ist weit von der Feierstimmung entfernt, für die sie gedacht war. Es stellt sich heraus, dass Biff in seinem Versuch, von seinem frü‐ heren Arbeitgeber einen Kredit für die Unternehmensgründung zu erhalten, ebenso ge‐ scheitert ist wie Willys eigenes Vorhaben. Den letzten Anstoß zur Katastrophe aber gibt das Verhalten der beiden Söhne, die ihren Vater, von dem sie wissen, dass er verzweifelt und selbstmordgefährdet ist, allein im Lokal zurücklassen und sich mit zwei Prostituierten davonmachen. Der Verrat der Söhne am Vater wird durch die Formulierung Happys un‐ terstrichen, als ihn eine der beiden Callgirls fragt: „Don’t you want to tell your father? “, und Happy antwortet: „No, that’s not my father, it’s just a guy.“ (91) 1 - eine Verleugnungs‐ szene, die deutliche biblische Resonanzen hat. Als die beiden Söhne spät nach Hause kommen, ist die Mutter Linda entrüstet über ihr Verhalten. Biff entdeckt den Vater draußen in dem kleinen, von Hochhäusern umstellten Vorgarten, der vom früheren, weit größeren Garten übriggeblieben ist, wo Willy mitten in der Nacht im Licht einer Taschenlampe Samen einsetzt und einen imaginären Dialog mit seinem Bruder Ben führt. Dabei wird sein Plan deutlich, wie er allein noch seinen Stolz und sein lebenslang aufgebautes Erfolgsideal vor den anderen aufrechterhalten zu können meint: nämlich indem er einen als Autounfall getarnten Selbstmord begeht und damit der Familie die Versicherungssumme zukommen lässt, um ihr im Tod die finanzielle Zukunftssicherung zu ermöglichen, die er im Leben nicht zu erreichen vermochte. Er meint zu erkennen, dass er tot mehr wert ist als lebendig und inszeniert sein Ende als das nunmehr endlich erfolgreiche business-Modell, nach dem er im Leben vergeblich gestrebt hat. Ein anschließendes Gespräch zwischen Biff und Willy führt über deren fast reflexhafte Konfrontation hinaus zum ersten Mal zu einem Moment der Ehrlichkeit, wenn auch nur einer einseitigen Ehrlichkeit Biffs gegenüber dem Vater, während Willy in typischer Rea‐ litätsverweigerung an seiner Traumwelt festhält. Dennoch findet eine emotionale Annä‐ 167 Arthur Miller: Death of a Salesman herung statt, und als Biff in seiner Enttäuschung über die Hartnäckigkeit des Vaters weint, erkennt Willy - und das ist für ihn ein Augenblick tiefempfundenen Glücks - dass sein Sohn ihn noch immer liebt. Ironischer Weise bestätigt ihn gerade dies in seinem zuvor gefassten Vorsatz, und als am Schluss die Geräusche eines rasch beschleunigenden Wagens zu hören sind, ist klar, dass er sich durch nichts mehr von seinem tödlichen Plan abbringen lässt. Wahnhafter Eigensinn und tragische Verirrung sind hier untrennbar miteinander vermischt, und das Requiem bei der Beerdigung Willy Lomans, in das die Szene nahtlos übergeht und zu der außer der Familie und dem Nachbarn Charley keiner seiner angeblich so zahlreichen Freunde und Kollegen gekommen ist, unterstreicht noch einmal die wider‐ sprüchliche, fast schizophrene Verbindung von Sinnsuche und Sinnlosigkeit, Erfolg und Scheitern, die das Stück durchzieht und die auch sein Ende kennzeichnet: Während Biff über seinen Vater sagt, „He had the wrong dreams. All, all wrong“(110), insistiert Happy „He had a good dream“(111), und der Meinung Charleys, der Lomans Traum eines salesman als legitim anerkennt, steht die Verständnislosigkeit Lindas gegenüber, die Willys Verhalten nicht begreift, da gerade an diesem Tag alle Schulden für ihr Haus abbezahlt sind. Der Freitod Willys entspringt also nicht eigentlich einem materiellen Zwang oder der objektiv gegebenen Situation, sondern den psychologischen Zwängen seiner verselbstständigten Tagträume, die stärker dem Erfolgsmythos der Gesellschaft als den realen Bedürfnissen seiner selbst und seiner Familie entsprechen. Dass das Stück in dem mehrfach wiederholten Ausruf Lindas an Willys offenem Grab endet „We are free! “ (112), steht daher nicht nur in ironischem Kontrast zum Verhalten ihres Mannes, sondern auch zur amerikanischen Ide‐ ologie individualistischer Freiheit und Glückssuche, nach der er sein gesamtes Verhalten ausgerichtet hat. Wie kaum anders möglich, ist in die vorstehende Handlungszusammenfassung schon ein Teil Interpretation eingeflossen, und diese Interpretation dürfte bereits klar gemacht haben, dass Miller keine eindeutigen Charakterprofile, Wertungen oder Lösungswege an‐ bietet, sondern dass er im Gegenteil gerade die Widersprüchlichkeit der Figuren, das Schwanken zwischen Selbstbestimmung und Zwangsläufigkeit, zwischen Individualität und gesellschaftlichem Konformismus herausarbeitet und auch die vermeintliche Lösung der Handlung durch die Verzweiflungstat Willys kontrapunktisch mit der ungelösten Prob‐ lematik in Beziehung setzt, die diese für die Hinterbliebenen aufwirft. In der Zusammen‐ fassung sind dabei schon einige der wesentlichen formalen, figuralen und thematischen Merkmale angeklungen, um die herum das Stück komponiert ist und auf die ich im Fol‐ genden etwas näher eingehen möchte. 3. Thematik und Form Wie in seiner Thematik ist Death of a Salesman auch in seiner Form und Dramenkonzeption nicht linear, sondern komplex und spannungsreich angelegt. Expressionistische Züge ver‐ binden sich mit sozialkritisch-realistischen Elementen und Elementen des analytischen Dramas. Der ursprüngliche Titel lautete The Inside of His Head, und entsprechend sollte das Bühnenbild zunächst dem Inneren eines menschlichen Kopfs nachempfunden sein - ein Konzept, das Miller wieder aufgab und an dessen Stelle er die gegenseitige Überblendung von äußerer Realität und subjektiver Innenwelt seiner Hauptfigur setzte, wobei das Ge‐ 168 Hubert Zapf schehen ständig zwischen beiden Ebenen hin und her schaltet. Diese Konzeption ist in dem revidierten Bühnenbild berücksichtigt. Einerseits sind die Umrisse, Räume, Trennwände und Türen des Hauses deutlich erkennbar, andererseits aber ist die Bühnenkulisse jedenfalls zum Teil durchsichtig und so für die Repräsentation von Willys Fantasiewelt verwendbar: Whenever the action is in the present the actors observe the imaginary wall-lines, entering the house only through its door at the left. But in the scenes of the past the boundaries are broken, and characters enter or leave a room by stepping ‚through‘ a wall on to the forestage (7). Dabei wird der Wechsel von der Realität zur Imagination und zurück durch Beleuchtungs‐ effekte und musikalische Leitmotive unterstützt, insbesondere durch das Flötenmotiv, das an eine unentfremdete Naturexistenz erinnert und mit den unrealisierten Lebensträumen Willys verbunden ist. Miller gelingt es hier, mit verschiedenen Mitteln Innen- und Außen‐ welt in ihrem gebrochenen Verhältnis zu zeigen und gleichzeitig aufeinander zu beziehen und damit den subjektiven Bewusstseinszustand eines Einzelnen, der sich angesichts nur halbverstandener Herausforderungen seiner Umwelt in seiner persönlichen Würde zu be‐ haupten versucht, immer wieder mit einem gesellschaftlichen Umfeld zu konfrontieren, in dem die individuellen Sinnvorstellungen Züge einer paranoiden, ja schizophrenen Persön‐ lichkeitsstörung annehmen, ohne dass einer der beiden Sichtweisen eine klare Dominanz oder eine überlegene Glaubwürdigkeit zukommt. Gegenwart und Vergangenheit sind dabei nicht eigentlich kontrastiert, sondern greifen wie selbstverständlich ineinander und tragen in diesem Zusammenspiel nicht nur zur emo‐ tionalen Intensivierung des Eindrucks, sondern auch zur analytisch fortschreitenden Frei‐ legung der Charakterbeziehungen und darüber hinaus zur Steigerung der Handlung auf den abschließenden, immer wieder verzögerten und gerade dadurch umso vielschichtiger vorbereiteten Schluss bei. In gewisser Weise lässt sich hier von einer stream-of-conscious‐ ness-Technik sprechen, insofern die Abfolge der Szenen nicht einem äußeren Verknüp‐ fungsprinzip, sondern einem Bewusstseinsprozess folgt, der allerdings, so muss man ein‐ schränken, nicht auf Willy Lomans Innenwelt beschränkt ist, sondern zugleich einen überindividuellen, Familie und Gesellschaft einbeziehenden Bewusstseinszustand mit auf‐ ruft. 4. Figurenkonstellation Im Folgenden seien nun die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen näher betrachtet, aus deren ‚Konversationen‘ das Stück besteht, wie es im Untertitel heißt. Trotz der zentralen Rolle von Willy Loman, des sprichwörtlichen einfachen Mannes, ist es ist ja keineswegs so, dass man ihn losgelöst vom Geflecht und der Wechselbeziehung mit anderen Figuren, ins‐ besondere seiner Frau, den beiden Söhnen, dem Bruder Ben, den früh verstorbenen Eltern, den Nachbarn und Arbeitskollegen sehen kann, vielmehr wird seine Persönlichkeit erst im Verhältnis zu und der Prägung durch diese anderen Figuren verständlich - es handelt sich in der Figurenkonstellation des Stücks eben nicht um eine Entsprechung zur amerikani‐ schen Ideologie des Individualismus und des self-made man, sondern gerade um deren Kritik und um den Versuch der Erhellung der vielfältigen Einflüsse und Wechselwirkungen, aus 169 Arthur Miller: Death of a Salesman denen solche vermeintlich autonome Individualität entsteht und in denen sie sich, auch in ihren Problemen und Widersprüchen, erst definiert. Die Hauptfigur Willy Loman befindet sich von Anfang an in einer extremen Krise, und die Szenen folgen den Fieberkurven seiner gestörten Persönlichkeit. Diese Zerrissenheit zeigt sich in den geradezu eklatanten Widersprüchen, die sein Verhalten kennzeichnen: Seinem nach außen demonstrierten übersteigerten Selbstwertgefühl stehen abgründige Selbstzweifel gegenüber, seinem Anspruch der souveränen Selbstbestimmtheit die Furcht davor, ausgelacht zu werden, seiner Sensibilität das launische Verhalten gegenüber seiner Frau Linda, seiner Idealisierung Amerikas das Wissen um die zunehmende Verachtung und Indifferenz, die ihn bei seinem beruflichen Abstieg begleitet. Gerade im Verhältnis zu an‐ deren werden seine Charakterzüge in ihren verschiedenen Facetten beleuchtet. Da ist zum einen der Sohn Biff, den er in der Jugend vergöttert hat, zumal als Biff in der High School zum Football Star aufsteigt und damit schon früh Willys Erfolgsrezept zu be‐ stätigen scheint, dass alles auf die Wirkung der Persönlichkeit auf andere ankommt, auf Talent, Ausstrahlung, und Charisma, aus denen sich die Anerkennung, ja die Liebe anderer von selbst ergibt, „to be well-liked“(23) eben, das Willy zu seinem Lebensmotto erhebt. In der Tat wird Biff als Kapitän der Footballmannschaft eine solche geradezu kulthafte Aner‐ kennung und Verehrung im Übermaß zuteil. Nicht nur scharen sich Mädchen um ihn, auch seine männlichen Altersgenossen reißen sich darum, in seiner Nähe zu sein, seine Sport‐ sachen zu tragen, ihm sogar zu Hause bei Reparatur- und Reinigungsarbeiten zu helfen. Doch gerade in dieser bedingungslosen frühen Bestätigung Biffs durch den Vater und die soziale Umwelt liegt bereits ein wesentlicher Grund für sein späteres Scheitern. Biff erliegt derselben Illusion wie Willy und nimmt sich das Recht heraus, gesellschaftliche Regeln nach Gutdünken zu brechen. Bereits in der Schulzeit stiehlt er einen Football aus dem Sportzentrum, was von Willy ebenso nachsichtig toleriert wird wie der Umstand, dass er sich vom Nachbarjungen Bernard, den er als Streber verachtet, regelmäßig seine Klau‐ suren schreiben lässt. Dies geht gut bis zu dem Moment, als bei der Abschlussprüfung kein Betrug mehr möglich ist und Biff das Examen nicht schafft, womit sein Absturz beginnt, der ihn zum notorischen Dieb und Kleinkriminellen werden lässt und für eine Zeit ins Gefängnis bringt. Erst auf der Gegenwartsebene des Stücks löst Biff sich aus seinen Illusi‐ onen und konfrontiert die Wahrheit über sich selbst und über Willy, wodurch er erstmals überhaupt einen Weg zu einem möglichen Neuanfang findet. Sein jüngerer Bruder Happy ist weit weniger profiliert als Figur, er teilt weit unkritischer die stereotypen Vorstellungen, die sein Vater den Söhnen einimpft. Obwohl nur ein mitt‐ lerer Angestellter, führt er nach außen hin ein protziges Leben, übernimmt unreflektiert die Vorurteile seiner Umgebung, die inbrünstige Idealisierung Amerikas, aber auch die in‐ nere Einsamkeit und den populistischen Hass gegen ‚die da oben‘, der die Mentalität und soziale Wirklichkeit der vom Erfolg Abgehängten kennzeichnet. Sein Name weist ihn als klischeehafte Version des pursuit of happiness aus, die als Leitmotiv des Stücks das Glücks‐ versprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in die Figurenkonzeption aller Figuren einschreibt und es an ihren konkreten Lebensumständen kritisch hinterfragt. Es lohnt sich, an dieser Stelle besonders auf Willys Frau Linda einzugehen, die oft in Besprechungen des Dramas zu kurz kommt, aber eine nicht unmaßgebliche Rolle in diesem Familiendrama spielt. Auffällig ist zunächst die geradezu unbegrenzte Loyalität, die sie 170 Hubert Zapf gegenüber ihrem Mann zeigt und mit der sie ihn gegenüber ihren Söhnen und allen anderen Menschen stets vehement verteidigt und rechtfertigt, ja gewissermaßen wie einen stets gefährdeten Patienten gegenüber einer feindlichen Außenrealität beschützt. Und wenn Loman tatsächlich eine Art Patient ist, so ist er nicht nur im Zustand eines beruflichen Burnouts, sondern auch eines Suchtkranken, für den die Welt seiner Illusionen eine Art Droge ist, die ihn allein den Druck der Wirklichkeit einigermaßen aushalten lässt. Linda ist also nicht einfach eine besonders loyale Ehefrau, sondern gleichzeitig eine Therapeutin, die ihr Verhalten ganz auf die psychologische Stabilisierung ihres Mannes ausrichtet. Sie sieht weit mehr als Willy die Wirklichkeit und weiß um die Lügen, mit denen er ihr gegenüber sein Selbstbild als erfolgreicher salesman aufrechterhält, aber auch um seine Selbstmord‐ versuche, die er sowohl im Auto als auch im Keller des Hauses bereits mehrfach unter‐ nommen hat. Sie erträgt seine dominante, starrsinnige Art und spielt die Rolle der fröhli‐ chen, glücklichen Ehefrau, obwohl er sie immer wieder an den Rand der Verzweiflung bringt. Trotz allem unterstützt sie ihn bedingungslos auch in seinen widersprüchlichsten Seiten und hält die wohl flammendste Verteidigungsrede für Willy im Stück: Willy Loman never made a lot of money. His name was never in the paper. He’s not the finest character that ever lived. But he’s a human being, and a terrible thing is happening to him. So attention must be paid. He’s not allowed to fall into his grave like an old dog. Attention, attention must be finally paid to such a person (44). Linda formuliert hier nicht nur ihre persönliche Haltung, sondern die Ethik des Stücks selbst, das eine Tragödie des einfachen Mannes sein will und das, so Millers explizite Ab‐ sicht, die Merkmale der traditionellen Tragödie und der Dignität des Menschen als tragi‐ scher Figur auch in den unspektakulären und anonymen Verhältnissen der modernen Mas‐ sengesellschaft zur Geltung bringen will. Diese Einforderung eines Respekts auch für die Erfolglosen, Durchschnittlichen und Scheiternden ist also einerseits eine besondere Stärke der Figur Lindas. Andererseits hat ihr Verständnis aber auch eine problematische Seite, weil sie mithilft, den Anschein der Normalität und damit das Lügensystem Willys aufrechtzuerhalten. Wenn es stimmt, dass Willy Loman aus Realitätsverweigerung illusionsabhängig geworden ist, so hätte eine adä‐ quate Therapie wohl eher darin bestehen müssen, ihn Schritt für Schritt zur Realität zu‐ rückzuführen. Lindas zweifellos aus noblem Motiv entspringende Schutz- und Abschir‐ mungshaltung stellt sich am Ende als Irrweg dar, da sich ihr an Willys Grab schockartig zeigt, dass er ihr in seiner Persönlichkeit trotz oder vielleicht wegen ihrer dauernden Ver‐ stehenshaltung letztlich völlig unverständlich geblieben ist. Willy, dear, I can’t cry. Why did you do it? I search and search and I search, and I can’t understand it. Willy, I made the last payment on the house today. Today, dear. And there’ll be nobody home (112). Auch die Figur Lindas ist also weit komplizierter als sie zunächst scheint, und das Stück ist letztlich auch ihre Tragödie, die sich lange Zeit fast unbemerkt im Schatten von Willys dominierender Selbstdramatisierung vollzieht und Linda am Schluss in einem menschli‐ chen Vakuum zurücklässt. Die Tragödie Lindas ist also eine unausgesprochene Implikation der Geschehnisse, die dadurch, dass sie die unaufgelöste Schlussdissonanz des Dramas 171 Arthur Miller: Death of a Salesman bildet, in besonderer Weise und gerade im Gegensatz zu ihrer vorherigen Unterbelichtung, umso greller hervorgehoben wird. 5. Der American Dream in Death of a Salesman Wir haben bereits gesehen, dass der American Dream ein zentrales Thema des Dramas ist, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Konfigurationen wirksam ist. Eine in diesem Zusammenhang besonders wichtige Figur ist Willys Bruder Ben, der in der Gegen‐ wartshandlung des Stücks zwar schon tot ist, aber umso stärker ins Leben der Figuren, insbesondere Willys, hineinwirkt. Ben ist wie ein strange attractor im Energiefeld des Stücks, der nicht nur Willys Denken und Verhalten, sondern auch seine Beziehung zur Gesellschaft und zu den anderen Charakteren entscheidend mitbestimmt. An ihm kann man wesentliche Merkmale einer Variante des American Dream erkennen, die sich gegenüber anderen Ausprägungen historisch immer wieder durchgesetzt hat und in unserer Gegen‐ wart erneut eine unrühmliche Bedeutung erlangt hat - die Figur des self-made man, der das Leben in sozialdarwinistischer Manier als brutalen Überlebenskampf ansieht und zur Erlangung des Erfolgs alle legalen und illegalen Mittel einsetzt. Der self-made man hatte ja zu Beginn bei Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert durchaus eine ethische Komponente beinhaltet, die harte Arbeit und Selbstdisziplin, aber auch Fairness gegenüber andern als Teil eines demokratischen Selbstverwirklichungsideals etablierte. Die Nachbarn Willys, Charley und dessen Sohn Bernard, repräsentieren in gewisser Weise diese Franklinsche work ethic, die im Fall Bernards denn auch tatsächlich zum sozialen Erfolg führt. Denn Bernard, der in der abschätzigen Meinung Willys als Jugendlicher zwar „liked, but not well-liked“(23) war, schafft es durch zielbewusstes Studieren und Arbeiten, das sich wie bei seinem Vater Charley durchaus auch mit Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit verbindet, als Anwalt aufzusteigen und schließlich für den Supreme Court zu arbeiten, während Biff vom gefeierten Footballstar zum gescheiterten Kleinkriminellen abgestiegen ist. In der sozialdarwinistischen Variante des kapitalistischen Überlebenskampfs jedoch, die Willys Bruder Ben repräsentiert, fehlt diese ethische Komponente vollkommen. Er hat eine eigentümliche unpersönliche Aura um sich, eine coole Art der rücksichtslosen Indifferenz, die sich gleichzeitig mit großspuriger Weltläufigkeit und überlegener Wichtigtuerei ver‐ bindet. Gegenüber den längst gestorbenen Eltern, um die er sich nie gekümmert hat, si‐ muliert er nachträgliche Anteilnahme und bezeichnet die Mutter in klischeehafter Ignoranz als „fine specimen of a lady“ (35). Was Willy vor allem an ihm bewundert, und was Ben ihm bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er auf der Durchreise zwischen seinen business deals bei Willy Station macht, als Quintessenz seines Lebens auf den Weg gibt, ist sein rasanter früher Erfolg im Geschäftsleben, den er in formelhafter Wiederholung mit den Worten beschreibt: „When I was seventeen I walked into the jungle. When I walked out I was twenty-one. And, by God, I was rich“ (40-41). Der „jungle“ ist hier die Welt der sa‐ genhaften kapitalistischen Anhäufung von Reichtum unter Ausbeutung anderer Menschen und Kulturen und nicht zuletzt der Natur, die Ben über seine Börsengeschäfte mit Ölfeldern in Alaska und Diamantenminen in Afrika betreibt. Willy trauert chronisch dem Moment nach, an dem er sich entschied, Bens Angebot, ihm nach Alaska zu folgen, nicht anzu‐ nehmen und stattdessen bei seiner Familie in Brooklyn zu bleiben. Sein Leben ist auch 172 Hubert Zapf dadurch fremdbestimmt, dass er innerlich fortwährend diese Entscheidung bedauert und die Gegenwart nur als unzulängliches Abziehbild wahren Erfolgs ansieht, den Ben für ihn verkörpert. Dabei ist Willy gar nicht der Mensch, der Bens Rücksichtslosigkeit aufbringen würde, die dieser einst als seine Lebenslehre Willys Söhnen vermittelte. Bei einem seiner stets kurzen Besuche forderte Ben im Garten Biff zu einem spielerischen Boxkampf auf und stellte plötzlich Biff ein Bein, so dass er rücklings zu Boden stürzte, worauf Ben ihm seine Schirmspitze an die Augen hielt und erklärte: „Never fight fair with a stranger, boy. You’ll never get out of the jungle that way“ (38). Dennoch bleibt Willy bis in den Tod im Bann dieser imaginären Figur, und es ist ein wichtiges Merkmal seiner undurchschauten Tragödie, seines realitätsblinden Festhaltens an diesem bizarren Traum, dass er gerade das verehrt, was ihn zerstört. Während Linda ihn vergeblich zurückzuhalten versucht, folgt er am Ende Ben aus dem nächtlichen Haus und bespricht mit ihm in seinen letzten Worten im Stück seinen Plan zum Selbstmord, um seinem Sohn eine große Zukunft zu ermöglichen. „Can you imagine that magnificence with twenty thousand dollars in his pockets? “ (107) Es ist eine Art business deal, in dem allein Willy die Liebe zu seinem Sohn auszudrücken in der Lage ist und den Ben mit Anerkennung zur Kenntnis nimmt, „A perfect proposition all around“, meint er, wodurch Willy noch einmal in seinem Glauben bestärkt wird: „Oh, Ben, I always knew one way or another we were gonna make it, Biff and I“ (107). Ben wird in dieser zunehmend phantastischen und expressionistischen Szene zum Phantom von Willys unerbittlichem Überich, das ihn als Fährmann auf dem bereits wartenden Schiff („The boat. We’ll be late“ (108) ermahnt ihn Ben) in die Unterwelt eines kapitalistischen Jenseits entführt „It’s dark there, but full of diamonds “ (107). Dass dies zugleich einen radikalen Irrweg, eine nochmalige Steigerung seiner Selbstentfremdung bedeutet, wird dadurch unterstrichen, dass er zwar der Sogkraft dieser Verheißung erliegt, aber zugleich in einen Wirbel von Angst, Orientierungslosigkeit und anschwellenden inneren Stimmen gerät, die in einem „almost unbearable scream“ gip‐ feln (108). Der innere Schrei ist der Kontrapunkt zur Geste der Beruhigung, „Shhh! “, mit der er auf Lindas letzten Versuch, ihn abzuhalten, reagiert - womit er noch im endgültigen Abschied die Negierung der menschlichen Katastrophe bestätigt, die sein ganzes Leben als salesman beherrscht hat. Im Unterschied zu dieser inneren Komplexität von Willys Charakter ist derjenige Bens als Repräsentant eines rein ökonomisch verstandenen American Dream verblüffend unge‐ brochen und eindimensional. Seine Geschäftspraktiken: „I have many enterprises, Willie, and I never kept books“ (37), und sein Motto, „Never fight fair with a stranger“, mit dem er seinen Erfolg erklärt, lässt uns heute ziemlich unmittelbar an einen zeitgenössischen ame‐ rikanischen Präsidenten denken, auf den dieses Motto und die anderen genannten Cha‐ rakterzüge Bens in ganz ähnlicher Weise zutreffen - womit die erstaunliche, wenn auch beunruhigende Aktualität unterstrichen wird, die dieses Stück in den gegenwärtigen welt‐ politischen Verhältnissen gewonnen hat. 173 Arthur Miller: Death of a Salesman 6. Kultur und Natur Abschließend sei ein weiterer Aspekt des Stücks angesprochen, der ebenfalls in der Se‐ kundärliteratur oft unterbelichtet bleibt, nämlich die vielfältigen Bezüge zur Natur, die das Stück durchziehen, auch wenn sie weitgehend im Modus der Entfremdung oder des Ver‐ schwindens erscheinen, man würde heute sagen im Zeichen des heraufziehenden Anthro‐ pozäns. Die Natur stellt einen stets hintergründig präsenten Gegendiskurs dar, der die Ge‐ fangenschaft der Figuren in den realen und imaginären Strukturen der Gesellschaft unterstreicht und letztlich illustriert, wie der Mensch sich durch seine zivilisatorische Ent‐ wicklung von den Wurzeln und Bedingungen sinnhaften Lebens abzuschneiden droht. Dieser Gegendiskurs beginnt bereits am Anfang des Stücks mit dem Flötenmotiv, das auch später leitmotivisch wiederkehrt: „A melody is heard, played upon a flute. It is small and fine, telling of grass and trees and the horizon“ (8). Es wird also hier eine naturhafte Umwelt evoziert, die in der realen Umgebung des Hauses der Lomans nicht mehr existiert oder auf armselige Hinterhofpflanzen zusammengeschrumpft ist. Das kleine Haus, einst mit geräumigem Garten, ist inzwischen auf allen Seiten umstellt von Hochhäusern, von „towering, angular shapes“ (7). Die Weite des Horizonts und die Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur, die im Flöten‐ motiv anklingen, rufen eine andere Seite des American Dream ins Gedächtnis, die vor allem in der frühen Phase der Republik und in der Literatur Ausdruck fand, nämlich die Vorstel‐ lung Amerikas als einer der Natur besonders nahen und durch die Verbindung der Kultur mit der Natur erst zu ihrer eigentlichen Bestimmung kommenden Nation - der ‚Nature’s Nation‘, wie Perry Miller sie genannt hat, die sich gerade durch diesen in den riesigen Räumen und wilden Landschaften eröffneten Naturbezug von den überzivilisierten, natur‐ entfremdeten europäischen Nationen unterscheide. Der amerikanische Traum hat also, wie zu Recht gesagt wurde, von Anfang an auch eine ökologische Seite, die etwa zur Gründung der National Parks, zur Herausbildung des amerikanischen Nature Writing in der Tradition von Henry David Thoreau, zur Entstehung der Umweltbewegung und neuerdings des Ecocriticism als umweltorientierte Literatur- und Kulturbetrachtung an den Universitäten führte, die allerdings in der realen Geschichte und Politik der letzten Zeit zunehmend zu‐ rückgedrängt wurde. In gewisser Weise wird in Millers Stück dieser Konflikt und diese Verdrängung des ökologischen durch den ökonomischen amerikanischen Traum bereits zentral mitthematisiert. Dieser gegendiskursive Naturbezug zeigt sich nicht nur im genannten Flötenmotiv, das auf Willys Vater anspielt, der seinen Lebensunterhalt durch die Herstellung von Flöten verdiente, die er auf Reisen durch die Weiten Amerikas verkaufte. Er manifestiert sich in einer Vielfalt miteinander verwobener Szenen und Motive, von denen ich hier nur einige nenne: Bei seinen Fahrten durch Neuengland, bei denen Willy wiederholt von der Straße abzukommen droht, spielt nicht nur sein Burnout, sondern auch die sirenenhafte Anzie‐ hungskraft der Natur eine Rolle: „I opened the windshield and let the warm air bathe over me. And then all of a sudden I’m going off the road! “ (9) - wobei die traumhafte Qualität dieser Erfahrung dadurch unterstrichen wird, dass sich die Fenster seines technisch neuen Autos gar nicht öffnen lassen. Auch Biff hat ähnliche Erlebnisse, und sein unerfüllbarer Traum ist kein Leben in der Stadt, sondern eine Ranch, in der er den von ihm geliebten 174 Hubert Zapf Pferden nahe sein kann. Und besonders eindrücklich wird diese gebrochene, aber dennoch unverzichtbare Beziehung zur Natur betont, wenn Willy noch in der Nacht seines geplanten Todes im winzigen Hinterhof Samen anpflanzt, eine völlig aussichtslose, allein in Willys Imagination noch sinnstiftende Aktion. Auch auf der Ebene der Dramenästhetik selbst zeigt sich dieser Naturbezug in der ge‐ nannten musikalischen Motivik, aber auch in Beleuchtung und Bühnenbild, insofern bei den Erinnerungsszenen Willys sich ein Vorhang von grünen Blättern über die Bühnensze‐ nerie legt („The light of green leaves stains the house, which holds the air of night and a dream“ (86)), die erneut eine abwesende Natur als sowohl inneres wie äußeres Ökosystem des Menschen evozieren, das durch die gesellschaftlichen Transformationen, denen Willy zum Opfer fällt, gleichfalls in seinem Überleben gefährdet ist. Das Motiv des Grases und der Blätter, das im Flötenmotiv und der Lichtregie aufgerufen wird, bringt im Drama die ökologische Seite des amerikanischen Traums zur Geltung, die immer wieder in der ame‐ rikanischen Literatur und zentral in Walt Whitmans Lebenswerk Leaves of Grass artikuliert wurde und die der egozentrisch-destruktiven Seite des amerikanischen Traums entgegensteht, die die Handlung des Stücks bestimmt. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Miller, Arthur: Death of a Salesman. Certain Private Conversations in Two Acts and a Requiem. Har‐ mondsworth 1949. Deutsche Übersetzung: Miller, Arthur: Tod eines Handlungsreisenden. Gewisse Privatgespräche in zwei Akten und einem Re‐ quiem. Übersetzt von Volker Schlöndorff mit Florian Hopf. Frankfurt / M. 2008. Sekundärliteratur: Bigsby, Christopher (Hg.): The Cambridge Companion to Arthur Miller. New York 1997. Bloom, Harold (Hg.): Arthur Miller’s Death of a Salesman: Contemporary Literary Views. New York 1995. Brater, Enoch (Hg.): A Student Handbook to the Plays of Arthur Miller. London 2013. Goetsch, Paul (Hg.): Das amerikanische Drama. Düsseldorf 1974. Miller, Perry: Nature’s Nation. Cambridge MA 1969. Murphy, Brenda und Susan B. W. Abbotson: Understanding ‚Death of a Salesman‘: A Student Ca‐ sebook to Issues, Sources, and Historical Documents. Westport 1999. Schäfer, Jürgen: Geschichte des amerikanischen Dramas im 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1982. Sternlicht, Sanford: A Reader’s Guide to Modern American Drama. Syracuse 2002. 175 Arthur Miller: Death of a Salesman 1 Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Hg. Hans Höller. Frankfurt / M. 1998, S. 155. Die nach Höller letzte überlieferte Fassung des Gedichts (T10) ist der jüngeren textkritischen Analyse Dirk Göttsches zufolge die vorletzte, in der ansonsten unverän‐ derten letzten Fassung tilgt Bachmann die Widmung an Hans Werner Henze (in der Edition Höller T9). Göttsche, Dirk: „Textkritische Überlegungen zur späten Lyrik Ingeborg Bachmanns“. „Über die Zeit schreiben“. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Bd. 3. Hgg. Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Würzburg 2004, S. 189-204, hier S. 200. Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma Joachim Jacob I. Enigma für Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI Nichts mehr wird kommen. Frühling wird nicht mehr werden. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus. Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen wie „sommerlich“ hat - es wird nichts mehr kommen. Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik. Sonst sagt niemand etwas. 1 Das Gedicht Enigma von Ingeborg Bachmann gehört zu einer Gruppe von Gedichten, an denen die Autorin gearbeitet hat, bevor sie sich Ende der 1960er Jahre vor allem der Arbeit an ihrem Romanprojekt Todesarten widmete, innerhalb dessen sie den Roman Malina (1971) noch abschloss. Die Bachmann-Biographin Ina Hartwig kommentiert in einem Interview zu ihrem Buch Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken (2017) diesen Wechsel von der Lyrik zur Prosa: 2 Hartwig, Ina: „Es hat sich etwas zusammengebraut“. Interview mit Christian Thomas. Frankfurter Rundschau. 30. Januar 2018. (https: / / www.fr.de/ kultur/ literatur/ sich-etwas-zusammengebraut- 11108980.html). Gegen die verbreitete Auffassung, dass sich Bachmann mit der Arbeit am Todes‐ arten-Projekt, vollständig von der Lyrik abgewendet habe, siehe die Hinweise bei Göttsche, Textkri‐ tische Überlegungen, S. 191 f. 3 Bachmann, Ingeborg: „Vier Gedichte“. Kursbuch 15 (1968): S. 91-95, hier S. 91. 4 Aus der neueren Forschung ragt der Aufsatz von Dieter Burdorf: „Ingeborg Bachmanns Enigma. Textgenese und Intermedialität“. Germanisch-romanische Monatsschrift 51 (2001): S. 323-348, heraus. Verwiesen sei hier außerdem noch auf Behre, Maria: „Ingeborg Bachmanns Gedicht Enigma - ein Der jungen Lyrikerin sind die Metaphern zugeflogen, die späte Prosaautorin musste kämpfen. Als Lyrikerin war sie im Zustand der Gnade, es fiel ihr die Sprache zu, die Form, der Erfolg. Die Prosa hat sie sich hart erarbeitet, sie hat darin viele Themen vorweggenommen, die später in Mode kamen, wie die Genderthematik, die Frage nach der Souveränität des - weiblichen, schreibenden - Ich. 2 Enigma lässt sich mit „Rätsel“ übersetzen und tatsächlich gehört das Gedicht zu den be‐ sonders schwierigen Gedichten der deutschsprachigen Literatur. Es erscheint, zusammen mit drei anderen Gedichten Bachmanns, im November 1968 in dem von Hans Magnus En‐ zensberger im Suhrkamp-Verlag herausgegebenen Kursbuch Nr. 15. Nicht wegen Bach‐ manns Gedichten oder weil in dieser Nummer unter anderem auch ein unveröffentlichtes Gedicht des damaligen chinesischen Partei- und Staatsführers Mao Tse-tung erschien, machte das Kursbuch Nr. 15 Furore, sondern weil in ihm der ‚Tod der Literatur‘ - besser: einer bestimmten Art von schöngeistiger, der Realität abgewandter Literatur - ausgerufen wurde. Zu dieser Absage passt gut das zusammen mit Enigma im Kursbuch veröffentlichte Gedicht Bachmanns Keine Delikatessen, dessen erste Verse lauten: Nichts mehr gefällt mir. Soll ich eine Metapher ausstaffieren mit einer Mandelblüte? die Syntax kreuzigen auf einen Lichteffekt? 3 Und auch Enigma scheint sich auf den ersten Blick ganz in diese Programmatik einzufügen, wenn es - wie bei einem endgültigen Abschied und dazu noch wie bekräftigend wieder‐ holt - heißt: Nichts mehr wird kommen. […] es wird nichts mehr kommen. Verse zum Aufhören. Der Rest ist Schweigen. II . Dennoch, oder auch gerade darum, ist Enigma von der literaturwissenschaftlichen For‐ schung mit viel Aufmerksamkeit bedacht worden. 4 Eine besondere Möglichkeit für die Be‐ 178 Joachim Jacob letztes Gedicht als Neuanfang“. „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …“. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Hgg. Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 264-278; Graf, Daniel: „Wenn Künstler sich verschreiben. Bemerkungen zu Enigma und einem Missverständnis der Bachmann-Forschung“. Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006): S. 333-353; und mit kritischer Würdigung älterer Forschung, Eberhardt, Joachim: „Es gibt für mich keine Zitate“. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns. Tübingen 2002, S. 241-250. schäftigung mit dem Gedicht eröffnet darüber hinaus die von Hans Höller erarbeitete, ein‐ gehend kommentierte Edition des Gedichts aus dem Nachlass Ingeborg Bachmanns: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen (1998), die alle erreichbaren Fassungen und Überarbeitungen einzelner Textstufen von Enigma zusammenstellt, in ihrem originalen Erscheinungsbild dokumentiert und im mutmaßlichen Zusammenhang ihrer Entstehung situiert. Anders als es das von Ina Hartwig gezeichnete Bild der Lyrikerin Bachmann „im Zustand der Gnade“ suggeriert, der, im Gegensatz zur „hart erarbeitet[en]“ Prosa, im Ge‐ dicht Sprache und Form mühelos zugefallen seien, zeigt sich angesichts der großen Zahl überlieferter, immer wieder überarbeiteter Fassungen des Gedichts, dass zumindest auch Bachmanns späte Lyrik ‚harte Arbeit‘ gewesen ist. Genau um sie soll es im Folgenden gehen, um Ingeborg Bachmanns ‚Arbeit am Werk‘, die im Fall der Arbeit an Enigma mit nicht weniger als zehn verschiedenen Textfassungen dokumentiert ist. Hans Höllers Ausgabe macht es möglich, diese Arbeit so genau, wie man möchte, nachzuvollziehen. III . Was ist ein Werk? Dieser Grundbegriff der Literaturwissenschaft, gewissermaßen auch die Geschäftsgrundlage der Augsburger Vorlesungsreihe Große Werke der Literatur, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts problematisch geworden. Zum Zeitpunkt der Gründung der Augs‐ burger Ringvorlesung im Wintersemester 1988 mag das Beharren auf ‚großen Werken‘ manchen Ohren wie ein trotziges Statement gegenüber einem postmodernen Theoriedis‐ kurs geklungen haben, der sich von großen, souveräner Autorschaft verdankenden Werken eigentlich gerade verabschiedete. Aber schon in den 1960er Jahren - genau zu der Zeit, in der Bachmann an Enigma arbeitete - wurde die Idee des Werks zum Gegenstand heftiger Debatten. Auf der einen Seite standen die Vertreter eines traditionellen Werkbegriffs, für die das Werk (zumindest das ‚große‘ Werk) eine abgeschlossene, in sich ruhende, feste und besondere, unverwechselbare Einheit darstellte (bis heute, so scheint mir, die leitende Auf‐ fassung der schweigenden, überwältigenden Mehrheit aller, die mit Literatur umgehen). Auf der anderen Seite standen diejenigen, die für die Auflösung des Werks und seiner fi‐ xierten Grenzen eintraten und eine sich häufig mit quasi-religiöser Andacht verbindende autoritäre Werk-Geste durch die Vorstellung der Offenheit und Unabschließbarkeit von Texten ersetzen wollten (mit den unübersehbaren Informationsmengen, die Big Data und Digital Humanities mittlerweile und in unabsehbarer Progression zur Verfügung stellen werden, erleben wir gerade eine sehr interessante, noch einmal ganz anders perspektivierte Neuauflage dieser Diskussion). Ingeborg Bachmanns Gedicht Enigma hängt mit dieser Auseinandersetzung um das Werk und den durch sie aufgeworfenen Fragen in mehrfacher Weise zusammen. Ich hebe nur drei heraus: 179 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma 5 Vgl. Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 137, S. 140, S. 146 (T1, T3, T6). 6 Ich folge hier Gunter Martens Verständnis und Erläuterung von ‚Fassungen‘ (gegenüber ‚Varianten‘): „[…] wird Text als Komplex aller zu einem Werk gehörenden Fassungen und Abweichungen ver‐ standen. Dem auch außerhalb der Textphilologie verbreiteten Begriff der ‚Textfassungen‘ (= ver‐ schiedene Fassungen eines Textes) liegt genau diese Auffassung zugrunde: Varianten konstituieren demnach nicht verschiedene Texte, sondern verschiedene Fassungen eines Textes; der Prozeß der Veränderungen - soweit in der Überlieferung dokumentiert - ist somit in diesem Textbegriff mit eingeschlossen, die dynamische Charakteristik gehört zum Wesen des Textverständnisses.“ „Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie“. Poetica. Zeitschrift für Sprache und Literaturwissenschaft 21 (1989): S. 1-25, hier S. 3. 7 Martens, Was ist ein Text, S. 13. 8 Martens, Was ist ein Text, S. 4-9. Dass eine solche aus der Sicht des Autors kaum bestehen wird, übersieht Martens nicht, die nur „spekulativ zu ermittelnde Autorintention“ löst jedoch das ‚poeti‐ sche Faktum‘ jedes Werkstadiums (Tomaševski) nicht auf, ebd. S. 6. 9 Fohrmann, Jürgen: „Textherstellung. Ein Resümee“. Die Genese literarischer Texte. Modelle und Ana‐ lysen. Hgg. Axel Gellhaus u. a. Würzburg 1994, S. 339-351, hier S. 349 f. 1.) historisch-poetologisch, indem die Entstehung von Enigma zeitlich, wovon gleich noch die Rede sein soll, mit den werkkritischen Debatten der 1960er Jahre zusammenfällt und man sich fragen kann, inwiefern das Gedicht bzw. seine Autorin von ihnen berührt ist; 2.) gattungspoetisch, indem sich Bachmanns (vorläufige) Abkehr von der lyrischen Form, die traditionell besonders eng mit einem Werkbegriff des Geschlossenen und Durchgear‐ beiteten verbunden ist, auch als eine Abkehr von der werkhaften Lyrik zu offeneren, pro‐ saischen Formen des Schreibens deuten lässt, wie sie sich im - nicht abgeschlossenen - Todesarten-Projekt Bachmanns zeigen, das sie in dieser Zeit aufnimmt; 3.) rezeptionsästhetisch, insofern man sich schließlich fragen kann, wie mit verschiedenen überlieferten Fassungen eines Werks umzugehen ist, wie und mit welchen Argumenten dokumentierte Stadien eines Werkprozesses zu dem schließlich von einem Autor veröf‐ fentlichten und damit autorisierten Werk in Beziehung zu setzen sind. Konkret und in un‐ serem Fall: Sind die verschiedenen Fassungen von Enigma bzw. Auf der Reise nach Prag, wie Bachmann auch als Titel des Gedichts erwog, 5 von Belang? Stellen sie einen Werkzusam‐ menhang dar oder stellen sie die Idee des in sich vollendeten Werks, gar die Vorstellung ‚großer Werke‘ infrage? Ich möchte vorschlagen, das Werk und seine Fassungen zusammenzudenken und den ‚Prozess‘, das fortlaufende Arbeiten und Überarbeiten des eigenen Textes, als integralen Bestandteil des Werks zu würdigen. Dabei sollte die Arbeit am Werk nicht automatisch nach dem dominanten Modell der Entelechie (der fortschreitenden Vervollkommnung) auf ein Ziel hin, auf eine beste Fassung, auf ein Werk ‚letzter Hand‘ entwicklungslogisch re‐ duziert werden, sondern auch vermeintliche Vor- und Zwischenstufen, verschiedene über‐ lieferte ‚Fassungen‘ 6 eines Werks könnten demnach zum Gegenstand einer vergleichenden Analyse genutzt werden. Gunter Martens, der schon 1989 im hier vorgeschlagenen Sinne von der „Arbeit eines Autors an seinem Werk“ gesprochen hat, 7 referiert auch die Diskus‐ sion um die prinzipielle „Gleichwertigkeit“ aller überlieferten Fassungen eines Textes. 8 Damit ist nicht zwingend „eine Art ironischer Selbstkommunikation“ eröffnet, in der „die ‚eigentliche Gestalt‘ des Textes konturlos wird“, wie Jürgen Fohrmann mit Sympathie für das Verfahren gefolgert hat, 9 sondern zunächst einmal nur verlangt, das, was jeweils als 180 Joachim Jacob 10 Grundsätzliche Überlegungen und Stichproben zum Gegenteil: dem Aufbewahren von Spuren der Arbeit am Werk, präsentiert jetzt der von Kai Sina und Carlos Spoerhase herausgegebene Band Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-2000. Göttingen 2017. Siehe dazu auch die ein‐ leitenden Bemerkungen bei Gellhaus, Genese literarischer Texte. 11 Vgl. Thierse, Wolfgang: „‚Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.‘ Problemge‐ schichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs.“ Weimarer Beiträge Zeitschrift für Li‐ teraturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie 36 (1990): S. 240-264, hier S. 243. 12 Aristoteles: Poetik. Kap. 23 (1459a). Vgl. Thierse, Das Ganze, S. 243-245. ‚eigentliche‘ Gestalt angenommen wird, genauer zu bestimmen und zu begründen - oder eben Fassungen ohne Hierarchisierung nebeneinander gelten zu lassen. Bevor ein solches, die Arbeit der Autorin am Werk nachvollziehendes Verfahren an Bachmanns Gedicht Enigma wenigstens andeutungsweise vorgeführt werden soll, möchte ich zunächst jedoch auf die oben unter 1.) angesprochene historisch-poetologische Situierung von Bachmanns Arbeit am Gedicht in den werkkritischen Debatten der 1960er Jahre ein‐ gehen. IV . Allgemein wird unter einem ‚Werk‘ - nicht nur in Kunst und Literatur - das ‚Ergebnis‘ eines Schaffensbzw. Arbeitsprozesses verstanden. Das Werk steht an dessen Ende und fixiert ein fertiges, gültiges Resultat, das zumeist die Spuren seiner Entstehung nicht mehr sehen lässt. Nicht selten legten und legen Künstler Wert darauf, Studien, Vorarbeiten und Entwürfe zu vernichten, um das fertige Werk ‚rein‘ dastehen zu lassen. 10 Sprachgeschichtlich hängen jedoch ‚Arbeit‘ und ‚Werk‘ eng miteinander zusammen. 11 Und auch wenn man die Etymologie nicht überbewerten soll, ist es doch interessant, dass ‚Werk‘ in älterer Redeweise auch die Arbeit selbst bezeichnet, z. B. als ‚Tagewerk‘ die an einem Tag geleistete Arbeit oder die ‚guten Werke‘, die wir nach Luther tun sollen, ohne sie uns anrechnen zu lassen. Gegen diese Nähe von Arbeit, Prozess und Werk hat bereits Aristoteles, um Klärung des unübersichtlichen Feldes bemüht, die grundsätzliche Unterscheidung von ‚Hervorbringen‘ und ‚Handeln‘ eingeführt. Hat das Hervorbringen (poiesis) Aristoteles zufolge seinen Sinn außerhalb seiner selbst, nämlich im Herstellen eines Werks (wie z. B. das Bauen eines Hauses darauf abzielt, ein Haus herzustellen, das man bewohnen kann), trägt das Handeln (praxis) seinen Sinn in sich selbst, nämlich als gutes Handeln für den Mensch zuträglich zu sein, ohne durch einen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck gerechtfertigt werden zu müssen. Aristotelesʼ Unterscheidung zwischen Hervorbringen und Handeln hat auch in seiner Poetik ihre Spuren hinterlassen. So enthält die Poetik keine Ausführungen über den Prozess des Hervorbringens, sondern nur über das Resultat der dichterischen poiesis: das Werk, das Aristoteles als eine geschlossene Form von ‚Anfang, Mitte und Ende‘ 12 vorstellt, als ein geordnetes, übersichtliches, schönes Ganzes. Aristotelesʼ Entscheidung für das Werk und gegen den Prozess mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass man sich in Bezug auf Kunst und Literatur sehr lange Zeit (und in der Praxis weitgehend heute noch) in aller Regel auf das Werk, auf das Hervorgebrachte, kon‐ zentriert und den Prozess seiner Entstehung hintanstellt bzw. als biographisches Interesse 181 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma 13 Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Clare, Jennifer: „Textspuren und Schreibumgebungen. Schreiben, Schreib-Szene und Schrift aus kulturpoetologischer Perspektive“. Textpraxis 13 (2017): S. 5 f. und S. 8 f. (http: / / www.uni-muenster.de/ textpraxis/ en/ jennifer-clare-textspuren-schreib umgebungen) 14 Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. 3. Auflage. Mün‐ chen, Zürich 1989, S. 6. 15 Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, S. 6. 16 „Wie dem auch sei, Sie werden reichlich aufgeklärt, und es werden Ihnen sogar Geheimnisse verraten, die gar keine sind. So vielerlei Neugier da ist - so vielerlei Enttäuschung ist möglich“. Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, S. 6. mehr oder weniger isoliert und auf die außerliterarischen Bedingungen des Schreibens reduziert. Schließlich wäre noch die grundsätzlich auf das Schreiben gerichtete Forschung zu nennen, die ‚Schreibszenen‘ als solches thematisiert, jedoch auch zumeist mit eher lo‐ ckerer, wenn nicht kritischer, Anbindung an Werkvorstellungen. 13 Kurz: Die Aufmerksam‐ keit für den Prozess des Hervorbringens verbindet sich nicht auf eine nachhaltigere Weise mit seinem Ergebnis, mit der Wahrnehmung des Werks selbst. Und auch Ingeborg Bach‐ mann ist skeptisch. Im Wintersemester 1959 / 1960 hält sie die erste deutsche, an einer Uni‐ versität institutionalisierte Poetikvorlesung in Frankfurt am Main und beginnt ihre Vorle‐ sung am 25. November 1959 mit den Worten: Meine Damen und Herren, Neugier und Interesse, die Sie in diesen Saal geführt haben, glaube ich zu kennen. Sie entspringen dem Verlangen, über die Dinge etwas zu hören, die uns beschäftigen, also Urteile, Meinungen, Verhandlungen über Gegenstände, die uns an sich, in ihrem Vorhandensein genügen müßten. Also etwas Schwächeres, denn alles, was über Werke gesagt wird, ist schwächer als die Werke […]. Nicht zuletzt haben die Schriftsteller selber immer das größte Interesse bewiesen für die Zeugnisse anderer Schriftsteller, für Tagebücher, Arbeitsbücher, Briefwechsel und die theoretischen Mitteil‐ ungen, neuerdings mehr und mehr für die Enthüllung von „Werkstattgeheimnissen“. 14 Auch Ingeborg Bachmann scheint also eine Anwältin des ‚Werks‘ in reiner Gestalt zu sein. Und wenn, wie es weiter heißt, heutzutage „besonders die Lyriker […] nicht mit Kundma‐ chungen“ über ihre Arbeitsweise geizen, „volle Einigkeit herrscht aber nicht …: ein Gedicht wird gemacht, ein Gedicht wird geahnt, gebraut, gebaut, montiert“, 15 lautet Bachmanns lakonischer Kommentar: „Wie dem auch sei […]“. 16 Die entschiedenste kunstphilosophische Bestätigung für eine Werk-Emphase, die von allen Fragen seiner Genese absieht, geht im 20. Jahrhundert vermutlich von der Kunstphi‐ losophie Martin Heideggers aus (mit dessen Existenzphilosophie und ihrer Kritik sich In‐ geborg Bachmann in ihrer Dissertation intensiv auseinandergesetzt hatte). In seiner zuerst 1950 veröffentlichten Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerks ‚offenbart‘ sich im ‚Werk‘ das Wesen und die Wirklichkeit der Kunst - jenseits des Schaffens, jenseits subjektiven Erlebens, allein in seiner in sich ruhenden Größe. Ihr literaturwissenschaftliches Pendant in Gestalt der sogenannten ‚werkimmanenten‘ Interpretation vertritt zur selben Zeit etwa Wolfgang Kayser, dessen 1948 zuerst erscheinende, überaus erfolgreiche Einführung in die Literaturwissenschaft Das sprachliche Kunstwerk 1968 bereits in 13. Auflage vorliegt. Streng auf die Analyse des einzelnen literarischen Werks fokussiert, erlauben verschiedene Fas‐ 182 Joachim Jacob 17 Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1956, S. 30. 18 Foucault, Michel: „Was ist ein Autor? “. Schriften zur Literatur. Hgg. Daniel Defert, François Ewald, unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt / M. 2003, S. 234-270, hier S. 240. 19 Höller, Hans: „Einleitung“. Bachmann, Letzte, un veröffentlichte Gedichte, S. 7-13, hier S. 9. Vgl. auch den Kommentar zu Enigma, ebd. S. 163 f. Ausführlicher hierzu wie auch zum Gedicht jetzt Höller, Hans, und Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von „Böhmen liegt am Meer“. München, Berlin, Zürich 2016. 20 Wesentlich anspruchsvoller und theoretisch fundiert hat Annette Gilbert unter dem schönen Begriff der „Werkwerdung“ Experimente mit Werkvorstellungen und -konzepten seitens Künstler und Au‐ toren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Literatur und Kunst untersucht: Gilbert, Annette: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren. Paderborn 2018. 21 So Graf, Wenn Künstler sich verschreiben, S. 337 f., der Bachmanns Arbeit an Enigma „ein Musterbei‐ spiel dessen, was lyrische Verdichtung h eißt“, nennt: „Den Begriff ‚Verdichtung‘ verwende ich hier durchaus ästhetisch wertend. Der Weg von den Textstufen der Blätter Nr. 425 [bei Höller T5; J. J.] und 463a [T4; J. J.] zur Endfassung ist der Weg von einem Entwurf (der noch von ganz offensichtlichen Schwächen behaftet ist) zu einem Gedicht, in dem das Potenzial, das bereits in der Frühfassung angelegt ist, voll ausgeschöpft und in äußerster Komprimierung zur Geltung gebracht wird.“ S. 338, sungen desselben immerhin, „die innere Entwicklung des Künstlers zu erforschen“ (aber natürlich eine Entwicklung zum immer ‚besseren‘ Werk hin). 17 Diese streng werkzentrierte Literaturwissenschaft gerät in den literaturtheoretischen Debatten der 1960er Jahre in die Kritik. Umberto Eco plädiert für das ‚offene‘ Kunstwerk (Opera aperta, 1962), das der Mitarbeit des Rezipienten bedürfe; Roland Barthes beschreibt eine Öffnung des in sich geschlossenen, autoritären ‚Werks‘ auf eine unendliche Bewegung des ‚Texts‘ (De l’oeuvre au texte, 1971); Michel Foucault schließlich stellt in Qu’est-ce qu’un auteur 1969 im Zuge seiner Kritik einer naiven Vorstellung von Autorschaft auch die ein‐ fache Gegebenheit seines Werks in Frage: „Was ist ein Werk? Worin besteht diese merk‐ würdige Einheit, die man als Werk bezeichnet? […] Wie lässt sich aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren? “ 18 Aber so kritisch diese Äußerungen auch sind, sie stellen in der Praxis eigentlich nicht, wie mir scheint, die Konzentration auf das eine Werk in Frage, das jetzt nur eben ‚offenes‘ Werk oder ‚Text‘ heißt, sondern hinterfragen vielmehr seinen Status, seine Aura des Einzigartigen, seinen vermeintlich in ihm fixierten Sinn oder die Souveränität seiner Deutung und Deutbarkeit. Einer Wahrnehmung der ‚Arbeit am Werk‘ dagegen müsste es nun darum gehen, die polemische Gegenüberstellung von Werk und Text (die historisch ihren guten Sinn gehabt hat, weil sie einen gleichsam starren Werkbegriff verflüssigte, dynamisierte) aufzulösen. Ob eine solche Arbeit immer eine zielgerichtete ist, gar geeignet, „die innere Entwicklung des Künstlers zu erforschen“, wie Wolfgang Kayser es sich vorstellte, oder ganz im Gegen‐ teil, wie Hans Höller im Falle Bachmanns zu erkennen meint, ein kontinuierlicher Vorgang der Selbstunterwerfung „des lebendigen Ich“ der Autorin „unter die Idee des Werks“, 19 sei erst einmal dahingestellt. Neben die traditionelle Vorstellung einer vom Künstler kontrol‐ lierten, zur ‚eigentlichen Gestalt‘ durchdringenden ‚Werkgenese‘ sollte, meine ich, der Ge‐ danke eines offenen Werkprozesses hinzutreten, eines Durchspielens und spielerischen Erkundens von Möglichkeiten. 20 Verschiedene Fassungen eines Werks folgen demnach nicht immer zwingend einer Logik der Verbesserung, „Verdichtung“ 21 und Vollendung oder 183 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma Fußnote 19. Besprochen, gar für den Befund argumentiert, wird die ganz offensichtlich[]“ mindere Qualität im Weiteren von Graf nicht. 22 Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 330. Dieter Burdorfs höchst erhellende Analyse und Interpreta‐ tion des Gedichts ist gleichwohl vorbildlich, insofern sie sich tatsächlich sehr genau auf Bachmanns Arbeitsprozess und seinen Fassungen einlässt. 23 Siehe dazu die oben in Anmerkung 4 genannte Literatur. So bleiben u. a. auch die aus dem Gedicht herausweisenden musikalischen Bezüge unbesprochen, etwa zum Widmungsträger der veröffent‐ lichten Fassung des Gedichts, Hans Werner Henzes, oder auf die verdeckten Hinweise auf Gustav Mahler und Alban Berg, auf die die Forschung zu diesem Gedicht ausführlich eingegangen ist. 24 So Behre, Letztes Gedicht, S. 266, zu der ähnlichen Fassung T3 (Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 141). 25 Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 331. sind Ausdruck „noch nicht erreicht[er]“ „Sicherheit“ ihrer Autoren, 22 sondern sie können auch Möglichkeiten eigenen Rechts sein, das die Interpretation wahren kann. Solche Möglichkeiten möchte ich im Folgenden am Beispiel von Bachmanns Gedicht Enigma wenigstens andeuten. Eine erschöpfende Interpretation ist damit nicht bean‐ sprucht. 23 V. Die erste überlieferte Fassung des Gedichts Enigma, hier zunächst noch mit dem Titel Auf der Reise nach Prag niedergeschrieben, lautet: Auf der Reise nach Prag Nichts mehr wird kommen. Das Heulen des Winterwolfs ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. Aber auch Frühling wird nicht mehr werden. Alle sind wie alles zu Eis erstarrt. Zutode gekommen, angekommen stürzt einer aufs Knie. Sommer, und was so gute Namen hat, sommerlich - es wird nichts mehr kommen. Ein Gesicht, untröstlich, mimt Verharren in Heiterkeit. Das Gedankenspiel sei erlaubt: Fänden wir dieses Gedicht in einer Bachmann-Ausgabe, kämen wir kaum auf die Idee, es misslungen zu finden. Zur „Vorstufe“ 24 oder zu einem „Entwurfstyposkript“ 25 wird es, weil weitere Fassungen des Gedichts überliefert sind, aber nichts spricht dagegen, Auf der Reise nach Prag zunächst als eine eigene Fassung wahrzu‐ nehmen. Das Gedicht stellt auf radikale Weise Zukunft in Frage. Es ist der Versuch, so könnte man vielleicht sagen, Zukunftslosigkeit oder zumindest die Leere zukünftiger Zeit darzustellen. „Nichts mehr wird kommen“, heißt es im ersten Vers, und wie zur Bekräfti‐ gung: „es wird nichts mehr kommen“, im vorletzten Vers des Gedichts. Dieses sehr abstrakte Thema erhält im Verlauf der Verse auf mehrfache Weise eine konkrete Gestalt, am auffäl‐ ligsten im Aussetzen des Jahreszeitenzyklusʼ im Zentrum des Gedichts. 184 Joachim Jacob 26 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 30. Berlin 1960, Sp. 487. 27 Dreizeilige - vier - Strophen umfasst nur noch und ganz anders im Charakter Unter dem Weinstock aus Anrufung des Großen Bären (1956). 28 Höller, Einleitung, S. 9. Höllers Deutung dieser ersten Fassung verbindet das Gedicht stattdessen mit Bachmanns Der Fall Franza: „Bruchstückhaft sind in der eiszeitlich erstarrten Geschichtslandschaft, die das Gedicht entwirft, die Gestalten und affektiven Bewegungen eines persönlichen Dramas ver‐ gegenwärtigt“, Höller, Hans: „‚Enigma‘. Ingeborg Bachmanns ‚An die Musik‘“. Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 157-165, hier S. 162. 29 Siehe dazu Höller, Hans, und Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Ge‐ schichte von „Böhmen liegt am Meer“. München, Berlin, Zürich 2016. Die Dynamik der dargestellten Welt ist durch Abnehmen und Verschwinden bestimmt: Das Leiserwerden (der Wölfe) und das Leererwerden (des Landes). Der Endpunkt der ab‐ nehmenden Bewegung ist das ‚Erstarren‘ genau in der Mitte des Gedichts, im fünften Vers: „Alle sind wie alles zu Eis erstarrt“, das Belebtes wie Unbelebtes, ‚alle‘ und ‚alles‘, umfasst. Mit dem sprichwörtlichen ‚Zu Eis erstarren‘ ist zudem eine Metapher gewählt, die eine Verwandlung ursprünglich bewegter, lebendiger Materie assoziieren lässt. Gegenüber Verlust und Tod wird in traditionellen Naturgedichten gerne der tröstliche Zyklus der Jahreszeiten aufgeboten: Nach Herbst und Winter kehren neues Leben oder neue Liebe mit dem Frühling zurück. Dieses Gedicht kennt nur den Winter (hier in Gestalt des ‚Winterwolfs‘, nach dem Grimmʼschen Wörterbuch ein ‚junger Wolf ‘, den die Wölfin wirft, bevor es auf den Winter zugeht 26 ), nach dem nichts mehr, so heißt es, kommen wird. Über der ausgesetzten zyklischen Ordnung der zudem unvollständig aufgerufenen, auf die drei Strophen verteilten, drei Jahreszeiten liegt in dieser ersten Fassung des Gedichts in auffälliger Weise eine symbolisch vollkommene Verskonstruktion von drei dreizeiligen Strophen - singulär in Bachmanns zugänglichem lyrischen Werk. 27 Aus der Perspektive der ‚Werkwerdung‘ (Annette Gilbert) ließe sie sich als augenscheinlicher Wille zum perfekten, formal geschlossenen Werk deuten, der so - im Widerspruch zu Höllers Annahme einer sich erst „im Entstehungsprozeß der einzelnen Gedichte […] durchsetzenden Werkidee“ 28 - am Anfang, nicht am Ende der Arbeit an Enigma stehen würde. Neben der aus den Fugen geratenen Naturwelt sind auch Anzeichen des Menschlichen im Gedicht zu bemerken. Zunächst in Gestalt des Titels Auf der Reise nach Prag (eine solche unternimmt Bachmann im Januar 1964 29 ), der in der ansonsten ganz abstrakten Geographie des Gedichts den einzigen konkreten Anhaltspunkt gibt und kontrapunktisch zur Erstar‐ rung, die das folgende Gedicht inszeniert, die Sprecherposition und mit ihr das Dargestellte in Bewegung versetzt. Der sechste Vers: „Zutode gekommen, angekommen stürzt einer aufs Knie“ bleibt dagegen uneindeutig in seiner Referenz und kann sich ebenso auf einen der zuvor angesprochenen Wölfe wie auch auf ein menschliches Wesen beziehen. Die letzte Strophe des Gedichts jedoch rückt Menschliches in den Mittelpunkt: Das Namengeben („Sommer, und was so gute Namen hat […]“) und das Betrachten („Ein Gesicht, / untröstlich, mimt Verharren in Heiterkeit.“). In seiner Position wie in seiner wahren Haltung schwer zu bestimmen (Heiterkeit vortäuschend „untröstlich“), wird am Ende die Szenerie als ‚be‐ trachtete‘ Natur aller Trostlosigkeit zum Trotz immerhin zum Gegenstand einer Wahrneh‐ mung und eines Sprechens. Nichts spricht dagegen, dieses Gedicht als ein interessantes Gedicht zu lesen und zu interpretieren. Seine vermeintlichen Schwächen, die Dieter Burdorf benennt: der Eindruck 185 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma 30 Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 332. 31 Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 333. 32 Alle Zitate von Korrekturen folgen der Umschrift im kritischen Apparat der Edition Hans Höllers. der ‚erhabenen Lächerlichkeit‘, der vom „Bild des einzelnen Menschen, der im Tode ‚ange‐ kommen‘ ist und dessen Ende als tödlicher Glatteisunfall dargestellt wird“ ausgehe, weil man „zugleich auch an einen Kniefall zum Gebet“ denke, „[d]as Ambivalente und damit Unbefriedigende“ dieser Formulierung, „die schlecht in den Kontext passende individuelle Komponente“, 30 schließlich das Urteil, dass der „Gedichtschluß [nicht] trägt“, da er zwie‐ spältig die heitere Gelassenheit als scheinhaft charakterisiere, 31 scheinen mir nicht wirklich begründet zu sein. Denn seit wann etwa wäre Ambivalenz, auch in Schlussversen, ein Makel? Oder warum sollte Individualität in oder gegenüber dieser Landschaft fehl am Platze sein? Burdorfs Urteile - die als Beobachtungen die besondere Faktur späterer Fassungen deut‐ lich werden lassen - scheinen in ihrer kritischen Wertung vor allem durch die Autorin selbst geleitet zu sein, die offenkundig selbst nicht zufrieden mit diesem Gedicht ist, wie die schon auf dem Blatt vorgenommenen ersten Korrekturen bezeugen: Der Titel Auf der Reise nach Prag ist im Nachhinein durchgestrichen und mit einem Fragezeichen versehen. Und unterhalb des maschinengeschriebenen Texts finden sich zwei handschriftliche Vari‐ anten, die die zweite Hälfte des - von Burdorf angesprochenen - sechsten Verses „ange‐ kommen stürzt einer aufs Knie“ ersetzen: „beugt einer das <Knie>“, „bricht ein<er ins Knie>“. 32 Eine auch die Autorin befriedigende Lösung findet sich offensichtlich nicht. Sie lässt das Motiv fallen. Dafür erfährt das Gedicht in der Fassung T4 an anderer Stelle eine bedeutende Erweiterung: Enigma Nichts mehr wird kommen. Das lei<s>e Gebell des reissenden Winterwolf<s? > ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. Nichts mehr wird kommen. Aber auch Frühling nicht. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus. Erst<a>unt gehen die Tage aus dem Land. Aber auch Sommer wird nicht mehr werden und weiterhin nichts mehr, was solche Namen hat, die Leben machen. Ein menschliches Gesicht artet in eine Mumie aus und mimt Verharren in Heiterkeit. Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik, sonst sagt niemand etwas. Du sollst ja nicht, und wie ich, nicht leben, sagt das Kind, 186 Joachim Jacob 33 Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 143 (T4). Parallel zu den letzten beiden Versen sind zwei weitere notiert: „schau dich um, da ist keiner / er vermisst dich nicht.“ 34 Vgl. Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 147 (T6). 35 Siehe zu ihrer Verbindung zum Todesarten-Projekt und zur 2. und 3. Symphonie Gustav Mahlers Höller, Enigma, S. 163 f. 36 Ich folge Höller, Enigma, S. 164. aber du sollst ja nicht weinen. Sag mir, warum, sagt es, mich niemand gezeugt hat, mich jemand ermordet hat, und mein Vater, hab ich einen. Du sol<l>st nicht weinen. 33 Der ursprüngliche Textumfang hat sich fast verdoppelt, die strenge Form des triadischen Baus ist aufgegeben. Ein neuer Titel, Enigma, ist gefunden, an dem die Autorin bis zur letzten erhaltenen Textfassung festhalten wird (nicht ohne in einer weiteren Version noch einmal auszuprobieren, wie es ist, beide Titel nebeneinander zu stellen: „En<i>gma (auf der R<>eise nach Prag).“ 34 Der ‚tausendjährige Kalender‘ ist als Motiv hinzugekommen und drei neue Strophen, die einer Gegenstimme zur bislang das Gedicht dominierenden Trostlosig‐ keit Raum geben: „Du sollst ja nicht, […] / aber du sollst ja nicht weinen.“ Mit Musik, Kind und Vater eröffnen sich weitere Kontexte, 35 die - der Begriff wird fallen - zum schon ge‐ wählten Material hinzutreten und wie das Experimentieren mit den Bestandteilen einer Collage verstanden werden können, zu der sich das Gedicht erweitert. VI . Die im Typoskript mit (in meinem folgenden Zitat stillschweigend korrigierten) Tippfeh‐ lern übersäte Fassung T6 stellt insofern einen Einschnitt dar, als sie nicht nur zu einer deutlichen Reduktion des Textes zurückkehrt, sondern auch einen erläuternden Kom‐ mentar der Autorin erhält, mit dem der Eindruck erweckt ist, 36 dass mit dieser Fassung die Arbeit am Werk zu einem Abschluss gekommen ist: Enigma (auf der Reise nach Prag) Nichts mehr wird kommen. Das Geheul der Winterwölfe ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. Aber auch Frühling wird nicht mehr werden. Sommer, und was so gute Namen wie „sommerlich“ hat. Es wird nicht mehr kommen. Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik. Sonst sagt niemand etwas. 187 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma 37 Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 147 (T6); offenkundige Tippfehler in Gedicht und Kommentar von mir korrigiert. 38 So auch im Original der Texte auf Ansichtskarten bei Peter Altenberg: „Fräulein Barbara von G.“ (1911). Siehe dazu Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 338-342. 39 Hierzu Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 342-345, sowie Graf, Wenn Künstler sich verschreiben. Dieses Gedicht ist eine Collage es bezieht sich auf die Peter Altenberglieder von Alban Berg und auf die 2. Symphonie von Mahler. also eines Textes, den Altenberg auf eine Postkarte geschrieben hat, und einen Kinderchor in der 2. Symphonie von Gustav Mahler. 37 Neben der Gattungszuweisung: „Dies Gedicht ist eine Collage“, macht der Kommentar Bachmanns ausdrücklich auf die musikalisch inspirierten ‚Bezugnahmen‘ des Gedichtes aufmerksam: auf das „Nichts mehr wird kommen“ (1. Vers), das frei aus dem Text des Altenberg-Lied op. 4, Nr. 4, von Alban Berg zitiert ist (in dem es mit deutlich subjektiverem Akzent heißt: „Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele“ 38 ), und auf die Wendung „Du sollst ja nicht weinen“ aus dem, wie es hier heißt, „Kinderchor in der 2. Symphonie von Gustav Mahler“, tatsächlich aus dem Frauenchor Armer Kinder Bettlerlied aus Mahlers 3. Symphonie. 39 Bachmann spricht in ihrem Kommentar von ihrem Gedicht als „Collage“ - also von einer Werkeinheit, die aus vorgefundenem, heterogenem Material zusammengesetzt ist. Dies kann man, wie Bachmann nahelegt, auf die momentane Gestalt der vorliegenden Textfas‐ sung beziehen, die Textteile Peter Altenbergs bzw. Alban Bergs, Gustav Mahlers und der Autorin durch das Herausgreifen von Bruchstücken aus anderen Werkzusammenhängen zu einer neuen Werkeinheit zusammenfügt, ‚collagiert‘ - in Kenntnis von Bachmanns ei‐ gener Arbeit am Werk lässt sich die Collagetechnik jedoch auch diachron auf die Auswahl und das neue Zusammenfügen eigener Textpassagen beziehen: Vom Titel „Enigma (auf der Reise nach Prag)“ angefangen über die „Winterwölfe“, den unvollständigen Jahres‐ zeiten-Zyklus bis zur Aufforderung „Du sollst ja nicht weinen“. In diesem Sinn lässt sich dann beobachten, wie Bachmann mit einzelnen Bruchstücken des eigenen Texts durch die verschiedenen Fassung hindurch experimentiert, beispiels‐ weise mit der den Altenberg-Liedern Alban Bergs entnommenen Formel „Nichts mehr wird kommen“. In den ersten Strophen der bislang besprochenen Fassungen T1, T4 und T6 stellt sich dies so dar: Nichts mehr wird kommen. Das Heulen des Winterwolfs ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. (T1) Nichts mehr wird kommen. Das lei<s>e Gebell des reissenden Winterwolfs ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. (T4) Nichts mehr wird kommen. Das Geheul der Winterwölfe ist leiser geworden. Die Wölfe verlassen das Land. (T6) 188 Joachim Jacob 40 Ab T7, Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, S. 149. 41 Ich folge den m. E. sehr guten Argumenten gegen eine solche Lesart bei Burdorf, Bachmanns „Enigma“, S. 345 f. 42 Behre, Letztes Gedicht, S. 272, sieht dagegen den Sprachduktus im Gedicht „in einer absteigenden Leiter, einer Skalierung vom Pathos des ersten Verses zur Nüchternheit des letzten“ begriffen. ‚Nüch‐ tern‘ schiene mir vielmehr die vorhergehende Schreibweise in einer Zeile: „Sonst sagt niemand etwas.“ 43 Hans Höller weist auf „noch im Privatbesitz der Bachmann-Erben sich befindenden Gedichtentwürfe aus der Zeit der Arbeit an den Todesarten-Romanen“ hin, Höller, Einleitung, S. 11. 44 Martens, Was ist ein Text, S. 22. Die Idee des isolierten, absolut gesetzten Altenberg-Zitats „Nichts mehr wird kommen“ ist offensichtlich von Anfang an gefasst und erfährt, so weit in den Textzeugen überliefert, nirgendwo eine Modifikation. Aber erst in der Fassung T6 erscheint es für sich genommen, als eine eigene Wortgruppe, der - nach der Auflösung der Enjambements in den Fassungen T1 und T4 - in der Fassung T6 im gleichsam festschreibenden Zeilenstil das ‚Geheul der Winterwölfe‘ und deren ‚Verlassen des Landes‘ folgt. Fassung T4 probiert, den Winterwolf mit dem Attribut ‚reißend‘ zu versehen, was in T6 wieder aufgegeben wird. Die Darstellung der lautlichen Äußerung der Tiere geht vom „Heulen“ (T1) über das „lei<s>e Gebell“ (T4) zum „Geheul“ (T6), in dem sich Verb und Nomen, Tätigkeit und ausgestoßener Laut, über‐ lagern - bevor sich Bachmann ab der Fassung T7 der Wölfe ganz entledigt (ich vermisse sie …). Die auffallendste Änderung in den folgenden, letzten noch überlieferten Fassungen des Gedichts ist neben dem Einfügen der Widmung an Hans Werner Henze (mit T7) die Ver‐ teilung des letzten Verses „Sonst sagt niemand etwas“ (T 6) auf vier einzelne Zeilen: Sonst sagt niemand etwas. 40 In der Bachmann-Forschung sind diese Worte, nicht sehr überzeugend, 41 als ‚Verstummen‘ und als „Selbstnegation des poetischen Sprechens“ gedeutet worden; mir scheint vielmehr, dass sie im Vertrauen auf formsensible Leserinnen und Leser ein Maximum an Pathos mo‐ bilisieren, 42 in dem die Alleinstellung jedes einzelnen Worts äußersten Nachdruck auf jedes einzelne legt. Bachmanns Abschied von der Lyrik, wenn es denn ein solcher sein sollte, 43 wäre dann jedenfalls einer, der emphatisch noch einmal die Form, die Darstellungs- und die Wirkungskraft der Lyrik aufruft. VII . Die Wahrnehmung der Weise, wie der Autor Befunde seiner Wirklichkeit, Gedanken- und Bildassoziationen oder auch die Übernahme fremder Vorstellungen und Formen durch fortwährende Veränderung und durch freies Spiel allmählich in eine andere, eine poetische Gestalt überführt, kann dem Rezipienten ein eigenes Modell für den Umgang mit literari‐ schen Texten vermitteln. 44 189 Arbeit am Werk - Ingeborg Bachmann: Enigma Ingeborg Bachmanns Anhänglichkeit an die Spuren ihrer Arbeit am Werk, der Verwah‐ rung ihrer Fassungen und Hans Höllers Edition ermöglichen es im Falle von Enigma in besonders eindringlicher Weise, die „Wahrnehmung der Weise, wie ein Autor […] durch fortwährende Veränderung und durch freies Spiel“ seinen Erfahrungen „poetische Gestalt“ verleiht, nachzuvollziehen. Ist Martens Formulierung der ‚allmählichen Überführung‘ noch der Idee eines kontinuierlichen Prozesses der Poetisierung von Nicht-Poetischem ver‐ pflichtet, so kann die Beschäftigung mit Bachmanns Gedicht Enigma zeigen, dass auch bereits (soweit dokumentiert) am Anfang der Arbeit am Werk eine durch und durch „poe‐ tische Gestalt“ stehen kann, die gleichwohl noch „fortwährende Veränderung“ in einem Werkprozess erfährt, der ausprobiert, hinzufügt, zurücknimmt, neu verteilt und darin gut als „freies Spiel“ bezeichnet werden kann - so qual- oder lustvoll, so getrieben oder inspi‐ riert man sich das tatsächliche Schreiben vorstellen mag. Für den „eigene[n] Umgang mit literarischen Texten“ eröffnet die Wahrnehmung ihrer „fortwährende[n] Veränderung“ nicht nur die Chance, mit dem Begriff des (End-)Gültigen behutsam umzugehen, sondern auch, durch vergleichende Analyse die Einsicht in das Vorliegende zu steigern. 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Vgl. auch: Merilai, Arne: „Of hard Joy: Half a Century of Viivi Luik’s Creations. Poetry.“ Interlitteraria 18 / 1 (2013): S. 211-225, hier S. 215. 2 Es handelt sich um die Rezension Jaan Kaplinskis von Luiks Gedichtband Lauludemüüja (Die Lied‐ verkäuferin). Vom Staat wurde ebenso kritisch der im selben Jahr veröffentlichte Band Hääl (Stimme) gesehen. Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegen‐ wart. Berlin 2006, S. 216. 3 Das System der nachfrageorientierten Folgeauflagen wurde in der Sowjetunion nicht praktiziert. Eine gemessen an der estnischen Leserschaft immense Auflage, in diesem Fall in Höhe von 36000, wurde nach dem Erscheinen direkt in den Verkauf gebracht. Die zweite estnische Auflage erschien erst im Jahr 2000. 4 Im Nachbarland Finnland, dessen Sprache und Kultur dem Estnischen nahesteht, das aber kein NATO-Mitglied ist, erscheint der Roman schon ein Jahr später, nämlich 1986. Eine Russische Über‐ setzung erschien in Tallin 1988. Die Kreissäge und das Radio, das sind die zwei wichtigsten Sachen im Leben Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling Frank Mardaus Viivi Luik, geboren 1946 in der Ud SSR , wurde von einem ihrer Schriftstellerkollegen als „Kanarienvogel in der Kohlengrube bezeichnet“, 1 als sie ihren dritten Gedichtband über die Ereignisse des Jahres 1968 veröffentlichte. 2 Nostalgiker würden hier ein Kompliment für eine junge schöne Dichterin inmitten des sprichwörtlich grauen Sowjetalltags vermuten. Gemeint indes war anderes: Kanarienvögel wurden zur Anzeige von Giftgasen insbeson‐ dere von Kohlenmonoxyd in den Berggruben eingesetzt. Der Vogel stirbt bereits bei einer geringen Konzentration des Gases und warnt dadurch die Bergleute. Viivi Luiks Seitsmes Rahukevad (Der siebte Friedensfrühling) erscheint mit in dieser Ti‐ telgestaltung 1985 mit einer Druckauflage von 36000 in Tallinn. Im vorliegenden Roman über die Hochphase des Stalinismus überrascht, dass bereits vor der Demokratisierung unter Gorbatschow eine drastische, historisch genaue Dichtung die Zensurbehörde in der Zeit 1984 / 85 hatte passieren können und damit deren Weg frei war für eine große Leserschaft im Lande selbst. 3 In die zur NATO gehörenden Staaten gelang das Werk erst, als die Sowjetunion aufhörte zu existieren. 4 Der Roman ist mittlerweile in sieben europäischen Sprachen erschienen, darunter in der deutschen Ausgabe mit der 5 Zwei Belege dafür seien genannt: Der in der Originalausgabe genannte Autor des Gedichts „Dunkler Engel leitet meine Schritte“ (8), J. R. Becher, ist nicht genannt (in Original 4). Die Passage der Erin‐ nerung der Erzählerin an Ihren Aufenthalt in Thüringen samt J. S. Bach und M. Luther fehlen völlig (Im Original 113 f., In der deutschen Ausgabe 181). 6 Luik, Viivi: Der siebte Friedensfrühling. Aus dem Estnischen von Horst Bernhart. Reinbek 1991. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. Übersetzung von Horst Bernhardt im Jahr 1991, die manche Bezüge zu Deutschland aus‐ lässt. 5 Zum Roman: Wir befinden uns in der sozialistischen Sowjetrepublik Estland zwischen dem Spätsommer 1950 und dem Frühjahr 1951. Das Land an der Ostsee verlor seine staatliche Unabhängigkeit 1940 an die Sowjetunion, ein Jahr später wurde es von Deutschland besetzt. Zahlreiche Esten kollaborierten mit den Deutschen in der Hoffnung, die Unabhängigkeit wieder zu erlangen. Der Titel des Romans Seitsmes Rahukevad, zu Deutsch Der siebte Frie‐ densfrühling  6 , bezieht sich auf das siebte Jahr nach dem Wiedereinzug der Roten Armee 1944, also auf den Frühling 1951. Viele Esten flohen ins Ausland oder gingen als Guerilla‐ kämpfe in die Wälder. Und so beginnt der Roman: IN DEN GROSSEN GRAUEN HÖFEN am Weg hatten die Kulaken gewohnt und ihr Gold in den Füßen der Eisenbetten versteckt. Eine Bauersfrau hatte sich sogar am Bett erhängt. Ein paar ver‐ rottete Bettgestelle lagen jetzt in den Brennnesseln (7). 194 Frank Mardaus 7 Eine naheliegende literaturhistorische Parallele wäre Kindheitsmuster von Christa Wolf von 1977. Zur Einordnung dieser Konstruktion in die estnische Literaturgeschichte vgl. Merilai, Arne: „Longing for the Bosom of the Rowan-Tree: Viivi Luik.“ Estonian Literary Magazine 24 (200): S. 4-11. 8 Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den Siebten Friedensfrühling betreffend“. Estonia. 1987, H. 3, S. 109-111, hier S. 110. 9 So der deutsche Titel (isländisch: Sjálfstætt fólk). Er ist als Roman zwar nicht genannt, kann aber mit Blick auf die Romanhandlung als Bekenntnis für ein prekäres, aber autonomes Estland gewertet werden: Die Hauptfigur gibt trotz zahlreicher Misserfolge ihre Lebensart als unabhängiger Bauer nicht auf. Die estnische Übersetzung erschien unter dem Titel Iseseisvad inimesed: kangelassaaga 1960 in Tallinn. 10 Möglicherweise beginnt er mit dem großen Jot, das sie im Spätsommer übt (78). 11 Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Luik, Viivi“ in Munzinger Online / KLfG Kritisches Lexikon zur fremd‐ sprachigen Gegenwartsliteratur: „Viivi Luik begann als Dreijährige Lesen zu lernen und verfasste bereits als Erstklässlerin Gedichte.“ Luik berichtet aus der Perspektive eines etwa fünfjährigen Kindes. 7 Es ängstigt sich vor den in Waldbunkern versteckten Widerstandskämpfern, fürchtet sich vor Luftangriffen (12), zeigt aber ansonsten eine große Lebensfreude: Es nimmt verlassene und enteignete umlie‐ gende Höfe samt der hinterlassenen Bücher für sich in Beschlag, ihre Unternehmungen, allein und mit den Nachbarsmädchen, zeugen von einem vitalen, draufgängerischen und mitunter rücksichtslosen Charakter oder schlicht von den „Erfahrungen eines Kindes als Kind“. 8 Die berichtende Erzählstimme vergleicht die Atmosphäre eines ihrer Abenteuer mit dem Eröffnungskapitel des isländischen Romans Sein eigener Herr von Halldór Laxness (133 f.). 9 Dem Vorschulkind gelingt es spätestens im Frühjahr 1951, seinen Namen sicher und fehlerfrei zu schreiben (128). 10 Es ist, und darin gleicht es der Autorin, eine begabte Früh‐ leserin. 11 Ihre Medienkompetenz geht über das Lesen von Kinderbüchern weit hinaus - sie trägt ihrer Familie flüssig vor. Fremdwörter wie „Portrait“ in „Stalinportrait“ unterschlägt das Kind dabei geflissentlich (159). Zweifach etwa analysiert es den Bildband „Zehn Jahre sowjetisches Estland“ (226 u. 278) aus der lokalen Bücherei, man ist geneigt zu sagen: in‐ termedial. Die Umschlaggestaltung hat sich daran orientiert. „Moodne Lasthaigla“ ist das Warenhaus „Moderne Kinderwelt“, „Oktoobrilaste“ die kommunistische Jugendorganisa‐ tion „Oktoberkind“. Doch nun weiter zur Zeitungslektüre der Fünfjährigen: ‚In den Schulen unserer Republik kommen alle Schüler in den Genuß einer warmen Mahlzeit (oben)’ hatte ich vorher noch nicht gesehen. Es war ausgefüllt von einem langen Tisch, an dem saßen Mädchen mit gesenktem Kopf. Vor jedem stand ein Aluminiumnapf mit Brei, und hinter ihnen ging eine beleibte ältere Frau mit einer Schleife auf der Brust auf und ab. Das mochte die Lehrerin sein. Das Bild machte mich wachsam. Ich mochte diese Mädchen und diese Aluminium‐ näpfe nicht, allenfalls die resolute Lehrerin ließ ich noch gelten (279). Vorsicht gegenüber einer Gleichschaltung des Menschen in der Masse, zugleich aber Ver‐ ständnis gegenüber einer autoritären Führung scheinen im frühen Verständnis des Kindes einander gegenüber zu stehen. In der autobiographischen Auseinandersetzung der Autorin mit der Sowjetzeit ihrer Kindheit traf sie den Nerv vieler ihrer Landsleute. Doch umfang‐ reiche literarische Bezüge weisen deutlich darüber hinaus. Der kritische Umgang des Kindes mit Literatur umfasst beinahe zwanzig namentlich genannte Titel von Kinderbü‐ 195 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 12 Der Roman des russisch schreibenden Esten Hans Leberecht erschien als Svet v Koordi in Leningrad und wurde auf Anweisung Stalins in über 20 Sprachen übersetzt und auch als Oper aufgeführt. In Berlin erschien er als Licht über Koordi 1950. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006, S. 556 f. 13 Zweig, Stefan: Buchmendel. Erzählung. Frankfurt / M. 1993. Die Autorin lernte die Novellen Stefan Zweigs Ende der 1960er Jahre kennen. Tatsächlich las sie als Vorschulkind u. a. Victor Hugo oder Romain Rolland. Vgl. Merilai, Arne: „Of hard Joy: Half a Century of Viivi Luik’s Creations. Poetry“, S. 211-225. 14 Wie dies der Fall ist bei dem zeitgleich über die Stalinzeit erschienenen estnischen autobiographi‐ schen Roman Üksi rändan (Allein wandere ich) von Mats Traats. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Üksi rändan (dt. Allein wandere ich).“ Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 16. Hg. Walter Jens. München 1996, S. 745 f. 15 Das gilt auch selbst für den (ab-)gerissenen Altkleiderhändler: „Schau mich an: ich bau mir jetzt in der Stadt ein Haus von meinen Plünnen, und aufs Land spuck ich“ (233). chern sowie zehn von Zeitungen und Magazinen. Es liest und trägt vor aus mindestens zwei Schulbüchern der vierten Klasse, worin sich etwa ein Kapitel des Romans Licht in Koordi (159) über die Gründung einer Kolchose befindet. 12 Die Fünfjährige zitiert aus über 15 Gedichten und Erzählungen, zeigt ihre flüchtige Bekanntschaft mit weit mehr als zehn Romanen und Ratgebern aus der Erwachsenenbibliothek. Intensiv rezipiert sie zwei neu erschienene illustrierte Kinderbücher des 19. Jahrhunderts, nämlich Wie Jaromil das Glück fand (67) der tschechischen Autorin Božena Nĕmcová und Die Schilfinsel des Deutschen Robert Reinick. Genannt werden ferner Märchen und Romane aus Russland, Dänemark, aus der Schweiz und Norwegen. Die frühe Erstleserin kennt sogar Isaac Landauer aus Lion Feuchtwangers historischem Roman Jud Süß oder den Buchhändler Mendel in Stefan Zweigs Novelle Buchmendel (63), letzterer ein osteuropäischer Jude, der sich der „Vielgöt‐ terei der Bücher“ ergeben hatte. 13 Insgesamt verweist der Roman auf etwa hundert na‐ mentlich auffindbare Medien, darunter viele Veröffentlichungen außerhalb der beschrie‐ benen Stalinära. Dabei wächst das bildungsbeflissene Kind keineswegs in einer bildungsorientierten Fa‐ milie der Hauptstadt Tallinn auf. 14 Ganz im Gegenteil: Die gut Fünfjährige durchlebt im Verlauf des Romans nach einem kühlen Spätsommer und Herbst einen dunklen, bitterkalten Winter in einem waldreichen Landstrich zu einer Zeit, als Feuerholz, Brot und Milch zu den raren Gütern gehören. Trotz einer nahegelegenen Hochspannungsleitung hat das Dorf keinen Stromanschluss. Ihre etwa 22-jährige Mutter ist zwar von schweren Frondiensten wie dem Torfstechen befreit, doch Normtage etwa für das Flachsraufen sind ebenso wie „freiwillige Arbeitseinsätze“ (264) abzuleisten. Ihr kräftiger, aber im Gesicht bereits abge‐ magerter Onkel Hans schlingt am Festtag zu Silvester nach schwerer körperlicher Arbeit als Schlachter und Waldarbeiter ein grünliches, breiiges Brot mit weißem Kohl herunter - das Korn des Brotmehls war bereits gekeimt. (248) Die Städte sind für das kleine Mädchen weit entfernte Visionen einer verheißungsvollen Zukunft, wie ihr erster Besuch in der 15 km entfernten Kreisstadt Viljandi (einst: Fellin) belegt: 15 War das ein Abglanz wirklicher Stadthimmel vor Hochhausfenstern? […] Dann standen wir mit einemmal an einer langen roten Backsteinmauer, und ich hatte die vage Hoffnung, ich dürfte schon jetzt den Geruch von Espressokaffee, frisch gespitzten Bleistiften und U-Bahntunneln schnuppern (51). 196 Frank Mardaus 16 Besser bekannt sind die Partisanen unter dem Namen „Metsavendlus“ (Waldbrüder). Zu Ende des Krieges kämpften bis zu 30000 von ihnen. Vgl. Laar, Mart: The War in the Woods. Estonia’s Struggle for Survival (Söda metsas) 1944-1956. Washington D. C. 1992. Von der Sowjetmacht wurden sie als „Banditen“ bezeichnet. So auch in Lebrechts Roman Licht in Koordi. 17 Dieser Bezug ist indirekt über die Frage nach der - vermeintlichen - Hauptstadt Deutschlands (74) und den Blick auf das verwüstete Deutschland herzustellen. Ebenso ihre Kinderbilder, in denen Häuser durch Flugzeuge angegriffen werden (259 f.). Ferner spricht die deutsche Lederjacke der Mutter dafür (9). 18 Evangelisches Gesangsbuch Nr. 341, das Hauptlied am Reformationstag. 19 Merilai, „Longing for the Bosom of the Rowan-Tree: Viivi Luik“, S. 4-11. 20 „Stimme“ wird hier nicht als ein um Hörbarkeit bemühter, in irgendeiner Form untergründiger Er‐ zählausdruck gesehen, sondern schlicht als „[…] an umbrella term for the field of questions relating Ihre Mutter und Großmutter mütterlicherseits sind über den südestnischen Landkreis Vil‐ jandi nicht hinausgekommen. Sie sprechen den Dialekt des Südwestens, den Luik im est‐ nischen Original in direkter Rede einfließen lässt. Die Höfe des Dorfs Tänassilma sind zumeist enteignet und verlassen, viele Männer „in das kalte Land“ (18) - gemeint ist Sibi‐ rien - deportiert. Widerstandskämpfer, sogenannte Waldleute, halten sich in Erdbunkern versteckt, um Vergeltungsanschläge zu verüben und den Razzien zu entkommen und zu überleben. 16 Von den Männern der unmittelbaren Nachbarschaft sind einzig der alte Dorf‐ bibliothekar Ilves und ein geistig behinderter Mann namens Koddern-Eevald geblieben. Der Vater ist während des halben Jahres, von dem uns berichtet wird, nur zweimal kurz anwe‐ send - er wird als Elektromonteur in Molkereien eingesetzt, sein Lohn teilweise in Natu‐ ralien ausgezahlt. Sein beständiges Unterwegssein minimiert die Gefahr einer Verhaftung und willkürlicher Anklage, etwa mit den Deutschen kollaboriert zu haben. 17 Durch heim‐ liches Setzen von Apfelkernen will er der Hässlichkeit vernachlässigter Siedlungsecken die Schönheit und Nützlichkeit von Apfelbäumen entgegensetzen. Zugleich verdrängt sein mitgebrachtes Akkuradio alte, religiöse Andachtsformen durch Parteipropaganda: Oma griff zum Gesangsbuch und setzte sich in der großen Stube an den Tisch […]. Sie las vor: Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren. Plötzlich begann das Radio zu rauschen, und ein unsichtbarer Mann sagte mit tief salbungsvoller Stimme: „Das estnische Volk hat sich mit voller Kraft und mit unermüdlichem Eifer ans Werk gemacht, um den neuen Fünfjahresplan in die Tat umzusetzen und unser wirtschaftliches und kulturelles Leben bisher unerreichten Höhen entge‐ genzuführen.“ (78). Dem alten Glauben, hier vertreten durch zwei Verse aus Martin Luthers „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“, wird dem Sprechgesang des neuen Glaubens gegenübergestellt. 18 Ähnlich kontrastierend stellt der gesamte Roman ein vielstimmiges Gewebe unterschied‐ licher Textsorten dar: Die erzählende Rede wechselt mit dialogischer und alltäglicher Sprechweise der Landbewohner. Der Text ist durchsetzt von Ausschnitten aus Zeitungen, Radiobeiträgen und Schallplattenliedern. Er besteht aus nationalen estnischen Balladen, Kirchenliedern und bürgerlicher Unterhaltungsliteratur, sowie Anspielungen auf klassische Gedichte und birgt sogar erste literarische Experimente des Kindes selbst. 19 Die Ich-Erzählung wird von vier unterscheidbaren, einander unterstützenden Stimmen getragen. Da ist die Stimme der vergegenwärtigenden und innerhalb einer Episode struk‐ turierenden Erzählerin. 20 Hinzu kommt die Stimme eines vitalen, wachsenden optimisti‐ 197 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling of the speech acts of the narrator.“ Vgl. Aczel, Richard: „Voice“. Routledge Ecyclopedia of Narrative Theory. Hg. David Herman. London 2005, S. 634 ff. 21 Der wichtigste Textbeleg dazu: „Nach und nach drehte der Erdball mich und meine Altersgenossen heraus aus der Finsternis unserer Geburt […] Unsere Knochen, Zähne und Nägel für die künftigen Jahrzehnte wuchsen noch (151). Zur Einordnung dieses Körpergefühls vgl. Jaanus, Marie: „The Self in Language: Viivi Luik’s ‚Seitsmes rahukevad‘“. Lituanus, 34,1 (1988): S. 36-53, hier S. 36: „The bodily self, lusty, ecstatic, rejoicing in its own mobility and senses, described here [im Siebten Friedens‐ frühling. d.Verf.] has its origins in the nineteenth century Romantic conception of the body, […].“ 22 Zwei Beispiele hierfür: Der Blick in das Fenster eines verlassenen Hauses lässt die Söhne der ehe‐ maligen Besitzer aus dem Wald treten und singen (20). In der Finsternis der zugeschneiten Brücke lässt die bloße Nennung des Namens „Anton“ eine Person Wirklichkeit werden, die das Mädchen nie gekannt hat (230). 23 Zum Beispiel: „Inzwischen habe ich so viele Betten, Tische, Garderoben und Strickjacken gesehen, daß es mir seltsam und undenkbar vorkäme, würden sie in irgendeinem Teil der Welt fehlen“ (81). 24 Vgl. Kurvet-Käosaar, Leena: „Multidimensional Time-Space in Margaret Atwood’s ‚Cat’s eye‘ and Viivi Luik’s ‚The seventh Spring of Peace‘“. Interlitteraria 3 (1998): S. 248-266, hier S. 255: „Although the narrator uses the past tense, the nervous tension of her discourse and attention to detail […] leave the impression that the events are unfolding under the reader’s eyes. However, the occasional foreshadowings have the effect of crystalizing the story time as past.“ 25 Etwa denen des Augusts 1978 (28): Diese Zeitebene hat indes keine bevorzugte Stellung gegenüber anderen Einschüben; etwa den Umständen im August 1968 oder Winter 1964 im zweiten Kapitel oder Frühling 1981 im zwölften Kapitel (246). Das Verfahren ähnelt also nicht dem der klar geordneten Zeitebenen wie etwa in Christa Wolfs Kindheitsmuster von 1976, bei dem Zeitpunkt der Niederschrift, der Besuch in Landsberg und die referierte Erinnerungszeit eine voneinander getrennte Erzählfunk‐ tion einnehmen. schen Körpers jenes jungen Mädchens, das - stellvertretend für die nächste Generation - ihren natürlichen Anspruch auf Neugestaltung der Welt formuliert. 21 Eine weitere Stimme nimmt die unheimliche Atmosphäre dieses ländlichen Lebens zum Anlass, eine eigene Welt und Wirklichkeit aus ihrer Vorstellung und Phantasie zu erschaffen und dabei die Fiktion gelesener Literatur mit unmittelbarem Erleben in eins zu setzen. 22 Und schließlich finden wir ab und zu die Stimme einer welterfahrenen Schriftstellerin, die von ihrer frühen Berufung berichtet. 23 Jene vierfache Perspektivierung ermöglicht es, die Abenteuer des Mädchens, obgleich sie in der Vergangenheitsform erzählt werden, deutlich als sowohl unmittelbar erlebte und doch zugleich längst vergangene Gegenwart zu er‐ schaffen. 24 So seltsam die Belesenheit des Kindes im Angesicht der Literaturliste sein mag: Für den Handlungsverlauf des Romans bleibt die erzählte Welt glaubhaft, plausibel und schlüssig. Die rot leuchtenden Farben der tief stehenden Wintersonne spiegeln sich auf den Glas‐ flächen der Giebelfenster und Bücherschränke (63). Die Lichtführung des augenblicklich Wahrgenommenen unterstützt die Unmittelbarkeit des Erzählten. Dabei wird dem Licht eine personen- und zeitübergreifende Perspektive gegeben - die Waldleute nehmen aus ihren Bunkern (90) genau dasselbe Licht wahr wie namentlich genannte Personen unter ganz anderen zeitlichen Umständen. 25 Im Motiv leuchtender Wolkenränder etwa - einem in Estland tatsächlich auffallenden Phänomen - verbindet Luik unterschiedliche Zeit‐ ebenen (24), aber nicht als Transmitter der Erzählperson in ganz unterschiedliche histori‐ sche Zeiten, sondern als ein umfassendes Zeitgewölbe estnischer Landschaft inmitten einer 198 Frank Mardaus 26 Bei Luik fehlen gegenwärtige Ankerpunkte für eine je konkrete Erinnerung in Form eines be‐ stimmten Lichtes: Die Umrisse der konkreten Gegenwart verschwimmen nicht und machen den Weg nicht für Erinnerungen an eine vergangene Zeit ähnlicher Lichtstimmung frei, wie wir dies etwa aus Uwe Johnsons Jahrestage kennen. 27 Vgl. Merilai, „Of hard joy: Half a Century of Viivi Luik’s Creations. Poetry“, S. 211-225. Zwei (in deutscher Übersetzung vorliegende) Gedichte seien beispielhaft genannt: „Wer sich in den Regen verirrt, hinterläßt keine Spuren“ aus dem Jahr 1968 genannt. Luik, Viivi: On aastasaja lõpp (Das Jahrhundert ist zu Ende). Zweisprachig. Gedichte übersetzt von Giesbert Jänicke. Tallinn 1993, S. 14. „Sieh hin, sei so wie die Wolken aus Schnee“. Die Freiheit der Kartoffelkeime. Poesie aus Estland. Hg. Gregor Laschen. Bremerhaven 1999, S. 82-103, hier S. 83. 28 So könnte man in Anschluss an Henri Lefebvres Theorie des Moments (Kritik des Alltagslebens. München 1974, S. 180.) formulieren. 29 Somit bildet die materiale Grundlage der dichterischen Stimmen ein technisch versiertes ‚Merken‘, wodurch selbstverständlich ein Gegensatz zum subjektiveren ‚Erinnern‘ gesetzt wird. Die Tätigkeit des Merkens als eines (technischen) Aufzeichnens wird im Roman übrigens sogar den Kühen zuge‐ schrieben (167). 30 Das Kind spricht in der deutschen Übersetzung beschönigend nicht von „vertreiben“, sondern von „fortschaffen“. (21) „Häuserwegbringen“ (281). zumindest europäischen Kultur. 26 Die Lichteindrücke folgen symbolistischen Bildmotiven ihres lyrischen Schaffens. Sie sind zum einen nach alten Bildern geformt - genauer: nach dem Buch der Offenbarung Johannes im Neuen Testament - zum anderen aber nach mo‐ dernen Vervielfältigungsverfahren. 27 Luiks bildhaftes Moment ist „eine höhere Form der Wiederholung“, was besonders deutlich wird, als von den Fotoaufnahmen ihres Vaters er‐ zählt wird: 28 Bilder, die gewährleisten, daß dieser warme Spätsommernachmittag Jahr für Jahr neu von den Toten aufersteht. Weiße Wolken mit leuchtenden Rändern ziehen über dem Himmel. Aus Dillstengeln, Johannisbeerblättern und Phloxbüschen steigt ein unbeschreibliches Herbstfieber, die Heuschrecken zirpen noch - und schon ist der Moment vorbei, der Wind hat sich gedreht, die Schatten sind weitergewandert, die Gesichter gealtert (85). Der Roman schildert episodenhaft in 15 Abschnitten die Lebensumstände der Zeit. Durch die Perspektive eines Kindes erscheinen die Erlebnisse eines einzelnen Tages als kaum überblickbare Fülle von Spielen und Begegnungen samt deren aufgenommenen Erfah‐ rungen. Im Folgenden ist das Romangeschehen unter dem Aspekt der mangelhaften Heu‐ versorgung umrissen, wobei ein besonderes Merkmal seiner Perspektivierung hervorge‐ hoben wird: In der Metapher technischer Apparaturen werden ihre Erlebnisse als isolierte Szenen präzise aufgenommen, behalten und erinnert. 29 Anna Kitzing, die Oma und wichtigste Bezugsperson der Erzählerin, ist der Haushalts‐ vorstand eines Neubauernhofes (165) in einem „Labyrinth von bedrohlichen Wäldern, Feldrainen und blutigen Neubauerparzellen.“ (66) Ihr Haus ist bewacht von einem Garten von sorgfältig umhegten Blumen (35). Von den drei Kühen mussten bereits zwei an die Kolchose abgetreten werden. Für die verbliebene Kuh und ihr Kalb ist nicht genug Heu da, ihr Besitz ist als „vormalig“ deklariert (165) - die Androhung der vollständigen Vertreibung von Haus und Hof steigert am Ende der Erzählung die ohnehin prekäre Situation. 30 Schon im Spätsommer treiben faulige Heuschwaden auf eisigem Wasser neben den Heureutern (14), es muss an einem letzten heißen Augusttag zwischen den Bülten zusammengeharkt 199 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 31 Bülten sind bis zu 50 cm hohe, moos- und grasbewachsene Bodenerhebungen im Moor oder Bruch. 32 Bereits der benachbarte Hof ist etwas höher gelegen, dort kann die Kuh von Liisu noch neues Gras fressen, nachdem sie an einen Tüderpflock angebunden wird. Die Benutzung norddeutscher Aus‐ drucke wie Tüder für das Seil zum Anbinden für Tiere kennzeichnet die Übersetzung von Horst Bernhard. 33 Diese als fotografisch zu bezeichnende Wahrnehmung begegnet uns im Roman häufiger: Die Kuh bewegt sich vor der Landschaft wie vor einem Bild (154), Oma verwandelt sich in eine graue Statue (155). Oma ist „endlos mit jener Unterschrift beschäftigt“ (166). Oma und eine Nachbarin sehen wie Wiedergänger aus (207), die hustende Oma als Bild, dass die Erzählerin wieder ansieht (299). Die Erzählerin erklärt, dass sie „den Kummer der anderen wie eine kleine kühle Kamera, ein Geheim‐ dienstmodell neuerer Bauart“ registrierte (241). Auch das Fotografieren selbst, die Inszenierung der Fotografie sowie magische Vorstellungen darüber, finden sich im Roman (85 ff., 185 f.). 34 Diese Metapher der Pupille als ein mit Schallplatten zu vergleichendestechnisches Aufzeichnungs‐ verfahren ist im Werk Luiks kein Einzelfall. Im Roman Schattenspiel heißt es „Jedes Mal, wenn ich jemanden sah, der auf der anderen Seite der Grenze gewesen war, schien mir, dass man seinen Pu‐ pillen etwas ansehen konnte. Dass auf der schwarzen Vinylplatte der Pupille eine Welt gespeichert war, die jeden Moment sichtbar und hörbar werden konnte“ (57). 35 Das Programm der „Liquidation des Kulakentums als Klasse“ hatte im Jahr 1949 die Deportation von über 20000 Bauern zur Folge. Der Begriff „Kulake“ war vage und politisch motiviert und bezeichnete keinen estnischen Bauernstand. Vgl. Zimmermann-Schulze: Ländliche Siedlungen in Estland. Deutsch‐ baltische Güter und die historisch-agrarische Kulturlandschaft. Stuttgart 2004, S. 259. 36 Die Beschreibung der Gartenblumen und Apfelbaumsorten in diesem Roman bilden diese Kultur noch einmal ab. Zur estnischen Kultur auf dem Land vor dem zweiten Weltkrieg vergleiche auch: Luik, Viivi: „Grabrede auf ein Schulhaus.“ Estonia Jahrbuch Estnischer Literatur Hg. Irjy Grönhol. Bremen 2006, S. 154-159. Die Großmutter ist in Võisiku (120) geboren, auf einem bis zur Unabhän‐ gigkeit baltendeutschen Familien gehörenden Hofs Woiseck, etwa der Familie von Manteuffel. werden (34). 31 Trotz vieler Entwässerungsgräben ist das Land erst im Juni trocken genug um Kartoffeln zu setzen (37), und schon der August kann so kalt werden, dass Frostschäden an ihnen befürchtet werden. 32 Der Hof liegt derart tief, dass der Grund bei Regen weder Pferd noch Vaters Motorrad tragen (37). Vom höher gelegenen Hof der Nachbarin aus un‐ ternimmt die Erzählerin einen Motorradausflug mit ihrem Vater zu seinem Elternhaus, einem Bauernhof: Die ungewohnte Geschwindigkeit beeinflusst auch die Wahrnehmungs‐ weise des Kindes: 33 Ich hatte das Gefühl, daß meine Pupillen ernst waren und schwarz wie Grammophonplatten; alles Gesehene blieb ihnen aufbewahrt. (95) […] Weiter weg standen Heuhaufen, und das junge Gras wuchs dort üppig und hellgrün […] Wir jagten an fremden Heuwiesen und Gehölzen vorüber. Milde Sonne beschien die braunen Wiesenflächen und aus dem Gehölz stieg bitterer Pilzgeruch (97 f.). 34 Eine dem Gehöft Tuudaku zugewiesene Bewohnerin zerstört den Fußboden der Stube, indem sie dort auf einen Erdhaufen Kartoffeln lagert. Die Großmutter väterlicherseits ist in das „ferne Tartu“ gezogen, ihr Bett steht noch in der Stube. Durch die ungenehmigte Abwanderung in die Städte kamen viele Grundbesitzer einer Enteignung oder Deportation als diffamierter „Kulake“ zuvor. 35 Der beklagenswerte Zustand der dortigen Apfelbäume steht für die Vernichtung einer alten, keineswegs allein von den Baltendeutschen geprägten Kulturlandschaft. 36 Gutes Weidegras findet sich noch auf der neu gegründeten Kolchos‐ weide, wo Enkelin und Großmutter im Herbst bei einsetzendem Schneefall stundenlang die Kuh beaufsichtigen. 200 Frank Mardaus Der deutschen Übersetzung nach wählt die Erzählerin für ihre Großmutter die familiäre Bezeichnung „Oma“, obwohl die Eltern außerhalb der direkten Rede mit Mutter und Vater bezeichnet werden (93). Diese Übersetzung ist möglich, da das estnische „vanaema“ sowohl für den familiären, als auch hochsprachlichen Ausdruck gilt. Indem wir hier diese Über‐ setzung übernehmen, teilen wir die offensichtliche Auffassung des Übersetzers, dass die „Oma“ mehr ist als erinnerte Bezeichnung einer wichtigen Person der Familie. Nicht die Großmutter, sondern die Oma ist die überzeitliche Instanz der beschriebenen und wieder gefundenen Vergangenheit. Nicht umsonst wird ihrer in Form von Bildern erinnert, die das Kind unbewegt und eingefroren im Gedächtnis bewahrt. Oma also erklärt, dass die eigene Weide derart verschlammt ist, dass dort kein Heu mehr zu finden ist. Doch weder der begeisterte Vortrag des Kindes aus dem Kolchosroman noch das Löwenspiel des verrückten Koddern-Ewalds verhindern, dass die Oma von einem Of‐ fiziellen erwischt wird. Er kann sie verpflichten, mit einem Gewehr fremden Personen den Weg in das Dorf zu versperren (165). Doch als Tage später die wasserbedeckten Moorflächen am Flussufer zugefroren sind, hält es Oma nicht auf ihrem Wachposten: Gemeinsam mit den Nachbarn wird das Heu eingebracht, welches erst durch die gefrorene Eisfläche zu‐ gänglich geworden ist. Trotz des Verbots schlittert das Kind auf das dünne Eis des halb zugefrorenen Flusses und entkommt knapp einem Einbruch. Das Heu wird auf Heureutern getürmt, um nach dem Schneefall mit Schlitten zu den Höfen gebracht zu werden (175). Die Abwesenheit der Oma vom Wachposten hatte indes zur Folge, dass eine Kuh getötet wurde. Diese Situation lässt zugleich jene körperliche Stimme zu Wort kommen, die in ihrem Heranwachsen aller schwierigen Aussichten zum Trotz als optimistisch zu kennzeichnen ist: Wo der Weg zum Stall abzweigte, lag das Bein einer toten Kuh. Die Hunde hatten es schon ange‐ nagt. Das bläuliche nackte Schienbein schimmerte trübe und trostlos, als wäre es Teil vom Kno‐ chenbau der Welt, so wie ich mit meinen lebenden wachsenden Schienenbeinen auch (189). Immer wieder kommt es zu Anschlägen auf kommunistische Funktionäre und Kollabora‐ teure. Die Frühleserin würde gerne die Waldleute verraten, deren verschwiegene Anwe‐ senheit, sichtbar an Emailgeschirr unter Bäumen oder versteckten Speck im Brennholz‐ stapel, sie ängstigen. Indem sie Oma eine Anzeige vorschlägt, stellt sie sich hinter das neue Regime. Ihre Großmutter jedoch hat andere Sorgen: Für das zur Färse herangewachsene Rind reicht das Heu nicht, weshalb es geschlachtet werden muss, natürlich unbemerkt von der lokalen Behörde, die im neuen Jahr eine Viehzählung anberaumen wird. Das Kind be‐ obachtet die Schlachtung vom mit wenig Heu bedeckten Stallboden aus: Ich wühlte mir ein bequemes Nest zurecht und sog erregt den Duft von knisternden Weiden‐ zweigen und rauhem Sumpfwiesenheu ein, unter den sich der Geruch von Schnee und Mist mischte. […] Ich war wie ein schwerer, in wattierten Mantel gehüllter Fotoapparat. Ich preßte ein Auge gegen den Bretterspalt, und in meiner Nase knackste etwas. […] Ich raffte einen Armvoll Heu an mich und schüttelte es heftig. Von der Färse konnte ich kein Auge mehr lassen (194 f.). Die Lebensumstände inmitten der Streuhofsiedlung sind also kein klassischer Hort höherer Bildung. Oma Kitzing, die 63-jährige (260) Tochter eines Leibeigenen (30,121) ist zunächst 201 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 37 „Seit fünfzig Jahren quetscht Oma hier Schweinekartoffeln“ (35). Es gab zwar in der Anfangsphase der Sowjetherrschaft auch Übereignungen, doch die hier beschriebenen Neubauerhöfe gehen auf die Zeit der estnischen Unabhängigkeit zurück. 38 Der Entstehungszeitraum liegt zwischen 1980 und 1982. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Luik, Viivi“. Munzinger Online / KLfG Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. Es sollten zwei weitere Romane folgen, aber erst zu völlig anderen politischen Umständen. Und zwar: Ajaloo ilu (deutsch: Die Schönheit der Geschichte) über den August 1968 erschienen im Jahr der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1991 und Varjuteater 2010 (deutsch: Schattenspiel 2018) fünf Jahre nach Aufnahme Estlands in der Europäischen Union 2010. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Kann Ge‐ schichte schön sein? Zur Konstruktion von Vergangenheit in zwei Romanen Viivi Luiks“. Nord-Ost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 2 (1999): S. 419-434. 39 Wie Luik in dem Vortrag „Raisons d’ecrire“ in Zürich 1989 erklärte: „Mais la poésie possède ses propres lois et limites; il est presque impossible d’exprimer par poésie une expérience historique.“ Abgedruckt in: Luik, Viivi: Le petit placard de l’homme. Essais. Traduit de l’estonien, préfacé et annoté par Katarina Kalda. Paris 2012. 40 Vgl. die Charakterisierung Luiks lyrischen Werks bei Iria Dittmann-Grönholm: „Viivi Luik“. Metzler-Autorinnen-Lexikon. Hg. Ute Hechtfischer. Stuttgart 1998, S. 320. 41 Man vergleiche zum Beispiel Luiks Darstellung mit dem derzeitigen Forschungsstand zur Sowjeti‐ sierung der Landwirtschaft in Fest, David: Zwangskollektivierung im Baltikum. Die Sowjetisierung des estnischen Dorfes 1944-1953. Köln u. a. 2007. 42 Der R oman erschien im März 1985. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den Siebten Friedensfrühling betreffend“, S. 109-111. Es handelt sich um die Rede vom 13. Februar 1987 zum 27. Parteikongress der KPdSU. Vgl. Gill, Graeme u. a.: Russia’s Stillborn Democracy? From Gorbatschev to Yeltsin. Oxford 2000, S. 42. als Dienstmagd, seit der estnischen Unabhängigkeit als Neubauerin tätig. 37 Unbegreiflich ist es dem wissbegierigen Kind, warum die Oma nur von „Mehl und Schweinekartoffeln und vom Tod“ redet (267). Wenngleich es die Gedanken und Gegenstände der Vergangenheit entschieden ablehnt, bilden die erfahrenen, für das Kind indes rätselhaften Antworten der Großmutter ein vorläufiges Fundament ihrer Erkenntnis der Welt - zusammen mit der Lektüre der biblischen Geschichten, des Gesangsbuchs und des Neuen Testaments. Sie ju‐ belt laut, als Jesus Jairus‘ Tochter erweckt (257), und bleibt dennoch überzeugt, mit einem Wort, nämlich dem Namen des „Staatenlenkers“ Stalin, die „biblischen Geschichten in einen Haufen von Altpapier“ verwandeln zu können (116). Durch den gesamten Roman zieht sich eine vorsichtige Begeisterung für die neue Herrschaft - selbst das angekündigte „Weg‐ nehmen“ des von ihrer Familie bewohnten Hauses begrüßt das Kind als notwendiges Zei‐ chen der neuen Zeit (262). Zu Beginn der 1980er Jahre schloss Viivi Luik ihr populär gewordenes lyrisches Werk mit neun Gedichtbänden weitestgehend ab und begann diesen ihren ersten Roman zu ver‐ fassen. 38 Luik wählt diese literarische Gattung, um über Zeitgeschichte zu schreiben. 39 Bei aller Bildhaftigkeit und Symbolik, die auch ihr lyrisches Werk prägen, 40 spricht die Genau‐ igkeit der Darstellung der in Südestland herrschenden Verhältnisse für den Befund eines Romans zur Zeitgeschichte. 41 Weil grundsätzlich systemkritische Romane über die Ereig‐ nisse der beginnenden Sowjetherrschaft auch zu Ende der Breschnew-Zeit nicht gestattet waren, bleiben Zeit und Ort der Veröffentlichung bemerkenswert: Lektorat, Prüfung durch die Zensur und Drucklegung der estnischen Originalausgabe liegen fast zwei Jahre vor der Rede des letzten Generalsekretärs der Sowjetunion, die unter dem Motto ‚Glasnost‘ aus‐ drücklich zur kritischen Revision der sowjetischen Geschichte aufforderte. 42 202 Frank Mardaus 43 Wie etwa die Säuberung von einer angeblichen Kulakenklasse, wie es etwa der Kirgise Tschingis Aitmatow 1981 dies in И дольше века длится день thematisiert (in deutscher Übersetzung 1982: Der Tag zieht den Jahrhundertweg; in Tallinn 1983 erschienen als Ja sajandist on pikem päev). Bei Luik indes ist die Atmosphäre der Vertreibungbereits im Romanbeginn belegt: „In den großen grauen Höfen am Weg hatten die Kulaken gewohnt und Gold in den Füßen der Eisenbetten versteckt“ (7). 44 Hasselblatt, Cornelius: „Üksi rändan“ (dt. Allein wandere ich). Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 16 München 1988-92, S. 745 f. 45 Auch gab es keine Änderungen durch die Zensurbehörde. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den ‚Siebten Friedensfrühling‘ betreffend“, S. 109-111. Später berichtet derselbe im Munzinger-Archiv, dass „Roter“ durch „Parteimitglied“ ersetzt wurde. Für die Zensur war keine Übersetzung ins Russische notwendig. 46 Wie etwa der im Jahr 1982 offenbar den Augen der Zensur entschlüpfte Gedichtband „Der Purpur der roten Abende“, der so unverblümt national freiheitliche Töne anschlug, dass die Behörden seine Rezension untersagten. Vgl. Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur, S. 627. 47 Folgende estnische Schriftsteller, die in der Zeit der Unabhängigkeit ihr Hauptwerk publizierten, finden im Roman Eingang [(Seite in deutscher Übersetzung)(Lebensdaten nach gregorianischem Kalender)]: Gustav Suits (24)(1883-1956), Karl August Hindrey (40, 214) (1875-1947), Karl Ristikivis (42)(1912-1977), Artur Alliksaar (41, nur im Original 144)(1923-1966), Oskar Luts (47, 182) (1887-1953), Henrik Visnapu (63)(1990-1951), Anton Hansen Tammsaare (126, 182)(1878-1940), Marie Under (246)(1983-1980), Ella Treffner (268)(1890-1969). Einzelne Fehlentwicklungen durften im Jahr 1985 bereits angesprochen werden: Doch der im selben Jahr erschienene Roman Allein wandere ich von Mats Traats zeigt, auf welch dünnem Eis sich Schriftsteller dieser Zeit bewegten. 43 Mats Traats und Viivi Luik waren die beiden einzigen estnischen Autoren, die eine „detaillierte Darstellung der politisch und gesellschaftlich bedrückenden Atmosphäre während der Endphase des Stalinismus“ in Sowjetestland zu veröffentlichen wagten. 44 Während Traats Roman allerdings um ein Sechstel gestrichen wurde, hatte Luik gerade einmal der Begriff ‚Roter‘ durch ‚Parteimit‐ glied‘ zu ersetzen. 45 Dennoch dürfte ihr Roman weniger als der Versuch einer engagierten Autorin gewertet werden, die Grenzen der Zensur auszutesten. 46 Dabei leugnet Luik die desolate politische und wirtschaftliche Lage Estlands, die Bevölkerungsverluste durch Krieg, Flucht und Deportation keineswegs. Die Stimme der Erzählgegenwart des Frühjahrs 1982 (130) blickt zurück auf ein „verfluchte[s], verlassene[s], eroberte[s] Land“ (17), wie es im Eröffnungskapitel heißt. Für bis heute nachhaltiges Erstaunen sorgt nicht allein der nüchterne Blick auf die Stalinzeit, sondern der Umstand, dass zahlreiche estnische Schrift‐ steller aus der Zeit der Unabhängigkeit oftmals sogar namentlich zitiert werden konnten. 47 Die Protagonistin indes trauert der von ihrer Oma repräsentierten, über Jahrhunderte gewachsenen Kultur der Esten, Deutschen und Russen nicht nach. Diese ist einfach nur „der befremdliche Geist der alten Zeit“ (240). Der die sie umgebende dunkle Fichtenwald „stank vor Geschichte“ (149). Als sie es mit dem Nachbarskind toll treibt, den ganzen Haus‐ halt auf den Kopf stellt, um den Hahn durch eine Gasmaske zu erschrecken und den Hund in einen Unterrock zu stecken, wehrt sie alle Gegenstände aus der Zwischenkriegs- und Zarenzeit ab und spottet über die Sorgen der Erwachsenen: Der kalte Vergangenheitsgeruch brachte einen in trübsinnige Laune, man hätte herumschlurfen mögen und lamentieren: „Weiß der Himmel, wo es mit diesem Leben hingehen soll, und das Schwein auch noch so klein und spack.“ (140) 203 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 48 Das Trauma des Vaters könnte zurückgehen auf die Erlebnisse als Zwangsarbeiter in Deutschland auch durch die Luftangriffe. Die Angst vor Luftangriffen, die die Erzählerin im ersten Kapitel zeigt, (12) ist anders nicht zu erklären, da sie ja eben in keiner Stadt aufgewachsen ist. 49 Zu nennen wäre hier Karl Ristikivi (1912-1977), der bekannteste unter den Exilschriftstellern, der von Stockholm aus zwar die Zeitgeschichte Estlands vor und mit der Rückeroberung schrieb, seine Trilogie über die Geschichte Estlands nach dem Krieg jedoch nicht vollendete. Seine erfolgreichen historischen Romane spielen in völlig unterschiedlichen historischen Zeiten und Ländern. Vgl. Has‐ selblatt, Cornelius, Geschichte der estnischen Literatur, S. 570. Luik geht dieser Sicht nicht aus dem Weg - sie zitiert auf Seite 42 ein Gedicht Ristikivis aus der Zeit seiner Flucht vor den Sowjets na‐ mentlich, was aus Sicht des Zensors nicht unproblematisch gewesen sein dürfte. 50 Vgl. Merilai, „Longing for the Bosom of the Rowan-Tree: Viivi Luik“, S. 4-11. 51 Die Autorin im Interview: „Als ich den Roman schrieb, hoffte ich, daß das Buch den Mitmenschen meiner Generation vielleicht etwas mitteilen dürfte (…)“ Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den Siebten Friedensfrühling betreffend“, S. 109-111. Die Figur des überaus wachen kleinen Mädchens ermöglicht der Autorin eine atmosphä‐ rische und zugleich realistische Darstellung des Stalinismus auf dem Lande. Eine konkrete Anklage gegen einzelne Verantwortliche oder gegen die zum Zeitpunkt der Veröffentli‐ chung noch herrschende Partei ist damit vermeidbar. Die Klage der Großmutter über die mangelnde Lebensmittelversorgung etwa ist an den „Herrgott“ gerichtet, und selbst diese ist in der Erinnerung des Kindes Bestandteil jenes „befremdlichen Geistes“, der „mit ihrem Tod verschwinden würde“ (240). Niemand bittet um etwas, nicht um Unterstützung, nicht um Gnade. Anna Kitzing stellt sich mit der Sense als Waffe unter den Hauseingang (263). Die Eltern des Kindes sind demgegenüber mit der neuen Zeit in ambivalenter Weise ver‐ bunden. Ihre Mutter wird die Früchte der Moderne genießen. 48 Ihr Vater bleibt von Kriegs‐ erlebnissen gezeichnet und versteht die Zeichen des Fortschritts auf traumartige Weise, ohne Sinn für ihre weitere Entwicklung (299). Der Blick auf die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich von vergleichbaren Werken estnischer Exilschriftsteller, in deren Mittelpunkt die Zeit der Unabhängigkeit Estlands und der Kämpfe darum stehen. 49 Die Autorin selbst erklärt, sie habe die Figur des Kindes nicht gewählt, um ihre eigene Kindheit darzustellen, sondern um den Pathos, die Naivität und den Optimismus der Zeit abzubilden. 50 Die Schrecken der allzu deutlich sichtbaren Kriegszeit werden gemindert durch Hinweise auf eine nahe Zukunft, zu der ein wesentlich verbesserter Lebensstandard gehört. Im Vorschulkind ist die Denkart eines Wohlstands für alle, der im Einklang steht mit dem dialektischen und historischen Materialismus jener Zeit, personifiziert: Ich war für sie ein Trost, ein Versprechen von Zukunft. Mein Anblick hätte Onkel vorausdenken lassen müssen an hohe Landarbeiterlöhne […] Oma an Tennisschuhe statt Pantinen […] das est‐ nische Volk an […] Farbfernseher und Cordjeans. Kein Volk kann vorher sicher wissen, was seine Kinder ihm bringen werden (42). Was ironisch und vermessen klingt, wirkt im Angesicht der geschilderten Armut als er‐ staunlicher Fortschritt, an dem die meisten Leser zu Mitte der 1980er Jahre bereits hatten teilhaben können. 51 Ihre Zukunft und die ihrer Generation richtete sich nach dem Plan des urbanisierten Fortschritts, ausgearbeitet in der Kapitale Moskau. Für Anna Kitzing aller‐ dings ist die herbeigesehnte Zeit ihrer Enkelin mit der Produktion von „Fertigbauwohnb‐ 204 Frank Mardaus 52 Im Friedensfrühling trägt das Kind das Märchen im vierten Kapitel vor (67 f.). Als „Jak Jaromil ke štěstí přišel“ erschien es als Teil einer Märchensammlung zwischen 1845 und 1848. Die Autorin ist bekannt geworden mit Babička (dt. Großmutter, 1855). Vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 12. Hg. Walter Jens. München 1996, S. 294 f. 53 Es ist davon auszugehen, dass Luik mit dem Motiv der Nixen eine estnisch-zeitgenössische Bedeu‐ tungsebne erweitert, wie sie von dem im Jahr 1983 erschienenen Roman Eesti näkiliste välimääraja (dt. Die Nixen in Estland) von Enn Vetemaa (1936-2017) angelegt wurde, nämlich als Kritik an den sozialistischen Verhältnissen. Vgl. Hasselblatt, Geschichte der estnischen Literatur, S. 670. 54 Nĕmcová, Božena: „Wie Jaromil das Glück fand.“ Diess: Das goldene Spinnrad und andere Märchen. Leipzig und Weimar 1983, S. 159. 55 Bei Viivi Luik sind es sieben Jahre, was als weiterer Hinweis auf die Symbolhaftigkeit der Zahl sieben im siebten Friedensfrühling verweist. 56 In Kapitel acht des Friedensfrühlings (156 f.) liest Oma das Märchen vor. locks, Rubiks Würfel, Taschenrechner“ nichts mehr als der „graue wirre Rest dieses Jahr‐ tausends“ (258). Jenseits des Sowjetsozialismus treffen hier zwei Welten zusammen: Die Welt einer dem Schicksal und zahlreichen Krankheiten ausgelieferten, abergläubischen, an den Teufel oder an Gott glaubenden alten Frau gegen eine Welt, die von Technik, Konsum und ewigen Fortschritt spricht. Omas Ablehnung stellt in Frage, dass die heraufziehende Welt der In‐ dustrialisierung für das ländliche Estland und natürlich für unsere Welt das moderne Him‐ melsreich abbildet. Aus ihrer Sicht ist nicht der Sozialismus, sondern der alles übergreifende Industrialismus der wahrhaft „Neue Glauben“. Und Stalin, der schon 1953 sterben wird, bloß ein Kopf jenes siebenköpfigen Tieres, das sein Maul öffnet, „um Gott und seinen Namen zu lästern“ (Off. 13). Ein Blick auf die jenseitige, mit Edelsteinen verzierten Gärten der bereits erwähnten Märchenbücher aus dem 19. Jahrhundert zeigt, dass Luik tatsächlich thematisiert, wie Orte des Heils und solche einer Verführung einander ähneln. Ein solches Bild des Heils liefert das Märchen Wie Jaromil das Glück fand der Tschechin Božena Nĕmcová. 52 Das Mädchen hatte den Band bei seinem ersten Ausflug in der Stadt bekommen und trägt daraus mit gehobener Stimme vor. Die lang erwartete Rückkehr des Vaters mit dem Akkuradio unterbricht die Lektüre. Was wird dem Leser dadurch vorent‐ halten? Der siebenjährige Köhlersohn Jaromil, dessen Berufswunsch Gärtner ist, wird von einem Singvogel in ein himmlisches Reich mit Zwergen und badenden Nixen gelockt: 53 „Soweit das Auge reichte, erblickte er einen einzigen großen Garten, ein wahres Paradies. In der Mitte des Parks aber stand ein Elfenbeinschloß, kunstvoll mit Edelsteinen ausgelegt.“ 54 Er wird von den Bewohnern herzlich aufgenommen, reich beschenkt und verlässt den Garten nach einem Rundgang, der nach der irdischen Zeitrechnung zehn Jahre gedauert haben wird. 55 Unheil indes birgt das andere Lieblingsmärchen des Kindes, nämlich Die Schilfinsel von Robert Reinick: 56 Als Oma und ihre Enkelin die Kuh verbotenerweise bei der Kolchosweide beaufsichtigen, beschäftigen sie sich mit dem Aussehen der Nixen und sehen sich dann die Bilder an, ohne dass jedoch der Leser Einzelheiten des Unterwasserreiches erfährt: Ange‐ zogen vom wunderbaren Gesang und einem „prächtigen Blumengarten“ übertritt die 13-jährige Fischerstochter Hella das väterliche Verbot, sich der bösen Schilfinsel mit ihren falschen Bewohnern, den Nixenkindern nämlich zu nähern. Nach Sonnenuntergang zeigt 205 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 57 Reinick, Robert: „Die Schilfinsel.“ Ders.: Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch. Bielefeld u. a. 1873, S. 128. 58 An dieser Stelle erinnert die ähnliche Situation an ein anderes Kinderbuch. 59 Vgl. Hasselblatt, Geschichte der estnischen Literatur, S. 637. 60 Das Bild der fliegenden Felsbrocken und des Rauches ist offensichtlich der Offenbarung Elija am Horeb (1 Kö 19) aus der Geschichte des Proheten Elija, der gegen die Anbetung Baals kämpfte, ge‐ staltet. Ein weiterer Hinweis auf einen solchen Bezug: Das Mädchen trägt das Gedicht „Herbststurm“ vor (63, 249), das Bezüge zu 1 Kö 19 aufweist. Neben dem „Sturmwind“ ist es der Ginsterbusch, der in der Lutherbibel mit dem (in Estland allgegenwärtigen) Wacholder übersetzt ist. Ferner deutet einiges auf die „Messiade“ Klopstocks als weitere Referenz für dieses apokalyptische Bild, etwa „das Antlitz des Todesengels“ auf Seite 161. sich unter Wasser ein „perlmutternes Schloß, ausgelegt mit rothen Korallen und farbigen Muscheln, und bei dem Schloß stand ein Thurm, der war von dem klarsten durchsichtigen Bernstein erbaut […]“ 57 Als Hella beim abendlichen Netzflicken ein Nixenlied vorträgt, wird sie von den Händen der Nixen ins Wasser gezogen und ertrinkt. Die Furcht, ihr könne es genauso ergehen, verfolgt die fünfjährige Estin bei jeder Überquerung von zahlreichen Dorfgräben (14). 58 War dies ein erster intertextueller Hinweis, so findet sich im Roman darüber hinaus ein direkter Beleg, dass Stalin oder die heraufziehende Welt der Industrialisierung insgesamt in gefährlicher Nähe zum prächtigen, aber gotteslästerlichen Idol der biblischen Offenba‐ rung steht: Am späten Wintertag, als Mutter und Oma mit den Nachbarn zusammen das Heu an den Eiswiesen schneiden und unsere Heldin nur durch Glück nicht in den Fluss einbricht, blättert sie im ungeheizten Giebelzimmer des Nachbarhofs in Zeitschriften und Büchern aus der Zeit vor dem Krieg. Anstelle der schon oft durchgesehenen Zeitschrift Kinderglück zwingt sie das Nachbarskind, das Buch Die Offenbarung des siebenfach versie‐ gelten Geheimnisses zu nehmen, dessen Titelbild das fahle Pferd mit seinem Reiter, dem Tod, ziert. Den ganzen Tag über schon tragen Himmel und Wolken im Spiegel der Hoffenster der beiden benachbarten Höfe flammende Zeichen des Jüngsten Tages (169). Das Mädchen ist im höchsten Maße irritiert von einer Illustration der Zerstörung des „großen Idols“: Hinter ihm segelten Wolken mit Strahlenrändern […] Inmitten von Rauch und Feuer zerbarst auf ihr gerade ein Mensch in Stücke. Durch den Rauch flog ein stämmiges Bein und Stücke von einem Arm. Haare und Bart des Menschen flatterten, um seine hohe Mütze leuchtete ein Glorienschein. […] Mit Entsetzen bemerkte ich, daß das zerschlagene Idol sich um den Rauch, den Felsbrocken und sein durch die Luft fliegendes Bein gar nicht kümmerte. Seine stechenden Augen […] mus‐ terten mich scharf (184). Viivi Luik stellt hier vielschichtige Bezüge zur jüdisch-christlichen Kultur her, die sie dem Austausch mit dem estnischen Lyriker und Theologen Uku Masing (1909-1985), einem Spezialist des Alten Testaments, verdankt: 59 Im Mittelpunkt der biblischen Apokalypse steht bekanntlich die Warnung des Verfassers Johannes an die sieben christlichen Gemeinden, eine irdische Großmacht als Gott anzuerkennen. Die Gläubigen sollen die Herrschaft des siebenköpfigen Tieres, sein technisches, wirtschaftliches und mediales Wunderwerk nicht mit der durchaus ähnlichen Metaphorik christlicher Visionen verwechseln und schon gar nicht Standbilder, also Idole dieses Tieres anbeten. 60 Anstatt eines (zurückgekehrten) Kai‐ sers Nero, auf den in der Offenbarung angespielt wird, ist hier selbstverständlich zunächst 206 Frank Mardaus Stalin als dasjenige Idol zu nennen, welches die Identität der Esten, insbesondere durch die Kollektivierung ihre bäuerlichen Lebensweise, bis heute verändert hat. Im Vergleich zu den technisch anmutenden Blicken vom Motorrad und Stallgiebel aus, wird nun das Mädchen selbst Objekt eines auf sie gerichteten starren Blicks. Das Idol, obwohl selbst in Auflösung begriffen, scheint mit diesem Blick zu fragen: ‚Bist du auf meiner oder auf der anderen Seite, auf der Seite der Sowjets oder auf der Seite der Großmutter, auf der Seite des neuen oder des alten Glaubens, auf der Seite der Moderne oder der alten Welt? Und wenn du bereits auf meiner, auf der Seite des Neuen bist: Bist du es immer noch im Wissen, dass alles Moderne so wie ich selbst, das Idol, zerstört werden wird? Bleib bei mir, dem Neuen: Denn sieh, ich kümmere mich nicht einmal um die Zerstörung meines Selbst, denn ich werde ewig sein und dich ansehen.‘ Sämtliche im Roman erwähnten Bücher existieren, so auch das hier vom Kind angesehene. Es ist eine estnische Übersetzung einer deutschen Originalausgabe mit dem Titel: „Das Geheimnis enthüllt oder Die sieben Siegel gebrochen“ 1909 von Ludwig Richard Conradi, eines damals führenden Siebenten-Tags-Adventisten. Illustriert ist hier das Standbild aus dem Traum Nebukadnezars aus dem Buch Daniel 2, auf das sich die Symbolik der Johan‐ nisoffenbarung insbesondere bezieht. 207 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 61 Hasselblatt, Geschichte der estnischen Literatur, S. 625. Hasselblatt bewertet diese Zeit weniger strikt. Vgl. auch Hasselblatt, Cornelius: „Die Siebziger“. Der Herbst kommt jedes Mal zu früh … Jüngere Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn. Hg. Maximilian Murmann. Göttingen 2014, S. 89-92, hier S. 89. 62 Für das Motiv innerhalb ihres Werks sei verwiesen auf das Kapitel „Die Hure Babylons“ im dritten Roman von Luik: Schattenspiel. Göttingen 2018 (Original: Varjuteater. Tallinn 2010). 63 Die technischen Geräte sind im Original gesperrt gedruckt, also als Zitate oder Fragmente gekenn‐ zeichnet. Luik zeigt mit dem stechenden Blick des Idols die beherrschende Macht und das ganze Ausmaß des Kampfes zwischen Anpassung und Untergang sowohl zur Hochzeit des Stali‐ nismus der 1950er Jahre als auch im Verlauf der Breschnew-Ära. Letztere war für Luik keineswegs golden, sondern „blutig, oder wenigstens schmutzig“, 61 auch wenn sie in dieser Zeit zusammen mit einer ganzen Generation bedeutender estnischer Autoren debütierte und auch dann begann, den hier vorliegenden Roman zu schreiben. Indem Luik nicht allein die sozialistische Moderne, sondern auch die industrielle Ent‐ wicklung insgesamt in den Blick nimmt, wird ihr Werk auch für Leser jenseits der geschil‐ derten Erfahrungswelt höchst relevant. So könnte nicht allein Moskau, sondern auch das nahe Helsinki und Stockholm als diejenige Welt angesehen werden, für die in der Apoka‐ lypse des Neuen Testaments Rom steht, nämlich das sündige Babylon. 62 Dabei ist es nicht allein Abscheu, sondern gleichermaßen Faszination, von der die Bibel in der Offenbarung Johannes über die materiellen Güter der Hauptstadt des römischen Kaiserreichs als die Luxusgüter Babylons berichtet: „[…] feines Leinen, Purpur, Seide und Scharlach, wohlrie‐ chende Hölzer aller Art, und alle möglichen Geräte aus Elfenbein […]“ (Of.18. 12). Diese Faszination ist auch bei der Erzählerin des Romans mit Händen zu greifen: 63 Geschirrspülmaschinen, Kühlschränke, Kacheln in Hellblau und Weiß, Plastiktischtücher, Hocker mit Stahlrohrbeinen, Toastbrot, Orangensaft, Dreiminutenfrühstückseier; all das existierte, be‐ ängstigend und unvorstellbar, nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt (25). Offenbar also ist mit der neuen Zeit nicht nur Moskaus Planwirtschaft, sondern die indust‐ rielle Entwicklung dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs gemeint. Die urbane Moderne als das sündige Babylon oder aber als das neue Jerusalem, dessen Mauern mit Edelsteinen geschmückt ist (Off 21)? Als am Ende des Romans bereits der Frühling anbricht, der Boden aber noch gefroren ist, nimmt Oma den Brennholzschlitten mit leeren Kartoffelsäcken darauf - nicht um zu betteln, wie sie dem fragenden Kind antwortet, sondern um liegengebliebenes Heu aufzu‐ sammeln: „Das hier war nicht das gelbe überjährige Gras, das man vom Eis abmähte, son‐ dern richtiges Futterheu, grün, süß duftend und voller Wiesenblumen“ (288). Als sie den vollen Schlitten zurückziehen, begegnet ihnen erneut der närrischen Koddern-Eewald (292 f.). Er erzählt den beiden, dass er vor mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten sein „Löwenspiel“ spielte. Indem er mit einem gelben Mantel schnell um die eigene Achse rotiert und „Ouh, ouh, ouh! “ ruft, mimt er die Harmlosigkeit eines Verrücken (163). Und kann so, während er Heu holen fährt, die Nachbarn vor einem bevorstehenden Militärein‐ satz warnen und damit auch deren Söhne, die sich in den Wäldern versteckt halten. Im 208 Frank Mardaus 64 „Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Sproß aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen“ (Off.5. 5). Vgl. Berger, Klaus: Kommentar zum Neuen Testament. Gütersloh 2011, S. 983 f. 65 Deviatkina, Tatiana: „Some Aspects of Mordvin Mythology“. Folklore 17 (2001): S. 9. Dass die Erzäh‐ lerin das Lebenswasser kennt, erwähnt sie bereits im ersten Kapitel (9). 66 ebd. S. 4. 67 Masing, Uki: „Die Stadt ohne Tod. Zur Genese einiger Legende.“ Semiosis. Semiotics and the History of Culture. Hg. Morris Malle. Ann Arbor 1984, S. 169-175. 68 Vgl. Weiss, Nelly: Die Herkunft jüdischer Familiennamen. Bern 1992, S. 198. In dem Vorwort wird das Werk des französischen Philosophen Emmanuel Levinas zu den Eigennamen erwähnt. Weitere In‐ dizien zum Bezug Löwe / Judentum / Apokalypse im Prosawerk Luiks: Der Vornamen des Freundes der Erzählerin in Luiks zweiten Roman, Die Schönheit der Geschichte, heißt Lew, respektive Lion (33). Im dritten Roman, Schattenspiel, werden die Länder des ehemaligen römischen Reiches „löwenfarbig“ genannt (105). 69 Lewin, Isidor: Märchen vom Dach der Welt. Überlieferungen der Pamirvölker. Köln 1986, S. 263. 70 Ebd. S. 264. Symbol des Löwen kann mit Blick auf die Illustration der „Offenbarung des siebenfach versiegelten Geheimnisses“ das „Zeichen wirklicher, legitimer Macht“ gesehen werden. 64 Damit schafft Luik jedoch keineswegs einen unumkehrbaren christlichen Bezug. Als Oma im Schneefall auf der Kolchosweide zur Wiedergängerin erstarren scheint, malt sich die Erzählerin aus, sie müsse nun ein Lebenswasser suchen (155), womit der Unterwelts‐ mythos eines am Ural lebenden finno-ugrischen Volks eingeführt ist. 65 Der Name der Au‐ torin selbst weist auf die vorchristliche Sagenwelt der Esten: Der Schwan, estnisch „Luik“, steht für den Mittler zwischen der Götterwelt und den Menschen. 66 So führen Nixen und ihre Wasserwelt, wie wir sie bereits kennenlernten, zur vorchristlichen Konzeptionen: Der Löwentanz Koddern-Eevalds führt geradewegs zu den Disziplinen der Ethnologie, Folklore und Semiotik an der Universität Tartu, das nur knapp 60 km vom Ort der Handlung entfernt ist. Der dort lehrende Orientalist Uku Masing berichtet in einem 1984 Juri Lotman gewid‐ meten Aufsatzband von weit verstreuten Erzählungen einer Stadt, in der der Todesengel keine Macht habe. 67 Es ist derselbe Wissenschaftler der währen der deutschen Besatzung einen jungen jüdischen Wissenschaftler namens Isidor Levin (1919-2018) vor der Depor‐ tation rettete. Der deutsche Familienname verweist seinem Ursprung nach unter anderem auf den Löwen, und damit auf das alttestamentarische Buch Daniels. 68 Dieses Buch ist das einzige apokalyptische Zeugnis des Alten Testaments und bekannt für den Aufenthalt seines Überlieferers in der Löwengrube; die Bezüge zur Johannesapokalypse sind vielfältig. Isidor Levin wiederum hat sich als Wissenschaftler mit den Märchen des Pamirgebirge beschäftigt und stellt in einem Nachwort zu diesen fest, dass die Erzählforscher an der zoroastrisch-manichäischen Vorstellungen vom Jüngsten Gericht wenig Einwendungen haben. 69 Wenn also Koddern-Eevald der Erzählerin zuraunt, dass ihre Zeichnung einer rus‐ sischen Kirche wohl kaum so glanzvoll wie „das Antlitz des Todesengels“ sein dürfte (161), so dürfte der Verweis noch über die Messiade Klopstocks hinaus auf in mündlichen Erzäh‐ lungen überlieferten Geschichten, wie etwa auf Azrail, dem Todesengel im Pamirgebirge weisen. 70 Und wer sich nun wundert, wie man von einer geistig gestörten Romanfigur zur eurasischen Religionsgeschichte und dem russischen Formalismus kommt, mag sich das Urteil des Dorfvolks über den Koddern-Eevald zu eigen machen - dort heißt es, er habe sich in Tartu „überstudiert“ (161). 209 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 71 Etwa 227 bei der Andacht aus dem evangelischen Gesangsbuch. 72 An literarischen Verweisen sei genannt: Das Gedicht „Dunkler Engel leitet meinen Schritt“ von Jo‐ hannes R. Becher (8), „Dem Teufel ich gefangen lag“ aus dem ev. Gesangsbuch Nr. 341, der Roman Der Neue Teufel im Höllengrund von Anton Hansen Tammsaare (126), der Erzählband Schuster und der Teufel von Anton Tschechow (126), sowie von Eduard Vilde, der Roman vom (falschen) Prophet Maltsvet, Prohvet Maltsvet (127). 73 Der vollständige Satz ist: „Oder meine eigene Zukunft, deren äußerliche und zufällige Kennzeichen zu einer gewissen Zeit sein würden: zwei Bleistifte, ein Kugelschreiber, ein Bleistiftspitzer, ein rotes, ein graues und ein grünes Schreibheft, ein aufgeschlagenes Buch, C. Malaparte ‚Die Haut‘, weit weg im Dunkel hinter nassen Fensterscheiben die Lichter einer Straßenbahn.“ Die Nennung des Buches von Malaparte ist in der deutschen Übersetzung ausgelassen. Vgl. Das Original S. 38. Unzweifelhaft indes bleibt die Oma weniger an die Barmherzigkeit Jesu‘ als an Hölle und Teufel interessiert. 71 Der Roman beschäftigt sich derart intensiv mit dem Reich des Bösen, dass die frohe Botschaft der Johannesapokalypse, das Idol zugunsten der eigentlichen himmlischen Macht entlarven zu können, beinahe in den Hintergrund gedrängt wird zu‐ gunsten einer zoroastrischen, mindestens aber heidnischen Vorstellung, in dem beinahe alles irdische dem Reich des Bösen anheimgefallen ist. Dagegen gilt es Vorkehrungen zu treffen. 72 Und so endet der Roman an einem Tag des siebten Friedensfrühlings mit einem ganz unchristlichen Gebet der Großmutter: Wind, Wind, heiliger Nordwind, blas fort alles Übel von meiner Wohnstadt. Höre Mond, hör mich! Scheine Sonne, schein! Abendstern hab Erbarmen! Lämmerzahn sei der Feind meines Feindes, mein Zahn reißender Wolfzahn (299)! Viivi Luiks Debütroman rief großes Erstaunen hervor, als er im Jahr 1985 erschien. Als Estland 1991 seine Unabhängigkeit erstritt, konnte ihr Roman ein international wachsendes Interesse an dem Land und seiner Nationalliteratur befriedigen. Heute zeugt der Roman von der Vielfalt einer alten Kultur, aber auch von der beständigen Herausforderung unserer Moderne. Die Autorin selbst lebt seit ihrem 16. Lebensjahr in der estnischen Hauptstadt Tallinn - sie sieht, wie die Erzählerin des siebten Friedensfrühlings „[…] weit weg im Dunkel hinter nassen Fensterscheiben die Lichter einer Straßenbahn“ 73 (63). Literaturverzeichnis Primärliteratur: Romane: Luik, Viivi: Seitsmes Rahukevad. Tallinn 1985. Deutsche Übersetzung: Luik, Viivi: Der siebte Friedensfrühling. Aus dem Estnischen von Horst Bern‐ hart. Reinbek 1991. — : Ajaloo ilu. Tallinn 1991. Deutsche Übersetzung: Die Schönheit der Geschichte. Aus dem Estnischen von Horst Bernhardt. Reinbek 1991. — : Varjuteater. Tallinn 2010. Deutsche Übersetzung: Schattenspiel. Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt. Göttingen 2018. 210 Frank Mardaus Umfangreichere deutsche Übersetzungen von Gedichten Viivi Luiks: Luik, Viivi: „Gedichte (Übersetzt von Giesbert Jänicke)“. Akzente 1 (1992). Hg. Michael Krüger. Mün‐ chen 1992, 38-48. — : „Gedichte“. Das Leben ist noch neu. Zehn estnische Autoren. Eine Anthologie. Übersetzt von Giesbert Jänicke. Karlsruhe 1992, 43-52. — : „Zehn Gedichte“. Hereinbrechende Ränder. Hg. Brigitte Labs-Ehlert. Detmold 1993, 43-52. — : On aastasaja lõpp (Das Jahrhundert ist zu Ende). Zweisprachig. Gedichte. Übersetzt von Giesbert Jänicke. Tallinn 1993. — : „Gedichte aus den Jahren 1968 bis 1975“. estonia. Zeitschrift für estnische Literatur und Kultur 2 (1999): 37-47. — : „Gedichte“. Die Freiheit der Kartoffelkeime. Poesie aus Estland. Zweisprachig. Hg. Gregor Laschen. Bremerhaven 1999, 82-103. Sekundärliteratur: Chalvin, Antoine: „Histoire et subjectivité dans les romans de Viivi Luik.“ La littérature face à l’His‐ toire : discours historique et fiction dans les littératures est-européennes. Hg. Maria Delaperrière. Paris 2005, 129-141. Dittmann-Grönholm, Iria: „Viivi Luik“. Metzler-Autorinnen-Lexikon. Hg. Ute Hechtfischer. Stutt‐ gart 1998, 320. Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den Siebten Friedensfrühling betreffend“. Estonia 3 (1987): 109-111. —: Geschichte der estnischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006. — : „Kann Geschichte schön sein? Zur Konstruktion von Vergangenheit in zwei Romanen Viivi Luiks“. Nord-Ost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 2 (1999): 419-434. — : „Die Siebziger“. Der Herbst kommt jedes Mal zu früh … Jüngere Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn. Hg. Maximilian Murmann. Göttingen 2014, 89-92. — : „Luik, Viivi“. Munzinger Online / KLfG Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartslite‐ ratur. (http: / / www.munzinger.de/ document/ 18000000283). Jaanus, Marie: „The Self in Language: Viivi Luik’s ‚Seitsmes rahukevad‘“. Lituanus 34. 1 (1988): 36-53. — : „Viivi Luik: War and peace; body and genotext in her novel ‚Seitsmes rahukevad‘“. Journal of Baltic Studies 3 (1989): 265-282. Kirss, Tina: „Viivi Luik’s The Beauty of History: Aestheticized Violence and the Postcolonial in the Contemporary Estonian novel“. Baltic postcolonialism. Hg. Violeta Kelertas. Amsterdam 2006, 271-290. Kurvet-Käosaar, Leena: „Multidimensional Time-Space in Margaret Atwood’s ‚Cat’s eye‘ and Viivi Luik’s ‚The seventh Spring of Peace‘“. Interlitteraria 3 (1998): 248-266. Merilai, Arne: „Longing for the Bosom of the Rowan-Tree: Viivi Luik“. Estonian Literary Magazine 24 (2007): 4-11. — : „Of hard Joy: Half a Century of Viivi Luik’s Creations. Poetry“. Interlitteraria 18 / 1 (2013): 211-225. 211 Viivi Luiks Roman Der Siebte Friedensfrühling 1 „Derek Walcott - Facts“. NobelPrize.org. (https: / / www.nobelprize.org/ prizes/ literature/ 1992/ walcott / facts/ ). 2 Poiss, Thomas: „Dante, karibisch: Derek Walcott schreibt ein Weltgedicht“. FAZ online. (http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristik/ rezension-belletristik-dant e-karibisch-11314474.html? printPagedArticle=true#pageIndex_0). 3 Vgl. Taterka, Thomas: „Die Nation erzählt sich selbst: Zum europäischen Nationalepos des 19. Jahr‐ hunderts“. Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Humaniora: Germanistica 5. Hgg. Heinrich Detering, Torsten Hoffmann, Silke Pasewalck, Eve Pormeister. Tartu: University of Tartu Press, 2011, S. 20-72. 4 Taterka, „Die Nation erzählt sich selbst“, S. 22. 5 Ebd. Derek Walcott: Omeros Annika McPherson Im Jahr 1992 wurde dem 1930 in Castries, St. Lucia, geborenen Derek Walcott der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er wurde ausgezeichnet für sein „poetisches Werk großer Leucht‐ kraft, getragen von einer historischen Vision, welche aus einer multikulturellen Verpflich‐ tung resultiert“. 1 Somit scheint die Frage, was Walcotts literarisches Schaffen insgesamt, und besonders das 1990 erschienene Langgedicht Omeros zu einem großen Werk der Lite‐ ratur macht, leicht beantwortet. So erklärte etwa Thomas Poiss in seiner Rezension zur 1995 erschienenen deutschen Übersetzung von Konrad Klotz: „Derek Walcott schreibt ein Welt‐ gedicht“. 2 Dies kann im Sinne eines Welten übergreifenden und sie verbindenden Epos verstanden werden, eröffnet aber auch die anhaltende Diskussion um den Begriff Weltli‐ teratur. Durch welche thematischen Verknüpfungen und mit welchen Stilmitteln Omeros Welten verbindet und sich dabei der epischen Tradition bedient, sie dadurch aber auch umformt, soll im Folgenden erläutert werden. Omeros wird oft als Nationalepos des Inselstaates St. Lucia bzw. als „Westindienepos“ bezeichnet, wie etwa in Thomas Taterkas Vergleich zu den europäischen Nationalepen des 19. Jahrhunderts im Kontext weltweiter epischen Traditionen. 3 Taterka bezeichnet Omeros allerdings sowohl als „anders gelagert“ als auch als „einschlägigen Fall“ eines Gattungs‐ modelles, welcher einer eigenen Diskussion bedarf. 4 Für ihn wie für die Walcott-Forschung allgemein ist Omeros ein Schlüsseltext […] in den Debatten um postkoloniale Identität und postkoloniales Schreiben. Es ist eine schneidende Erinnerung Europas daran, was das Epos ihm einst gewesen, dass Walcotts an die Wurzel gehende Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur im Prozess des writing back sich just des Epos bedient, als der literarischen Metasprache, in der Gründungsurkunden abend‐ ländischer Identität verfasst sind, die Epen unter dem Namen Homers. 5 6 Merten, Kai: Antike Mythen-Mythos Antike: Posthumanistische Antikerezeption in der englischspra‐ chigen Lyrik der Gegenwart. Paderborn 2004, S. 174. 7 Merten, Antike Mythen, S. 174. 8 Ebd., S. 175. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 176. Die Einreihung von Walcotts Text in die Traditionslinie europäischer Nationalepen eröffnet Bedeutungsebenen der Kontinuität, welche durch die Form des postkolonialen writing back als kritische Antwort auf und Auseinandersetzung mit diesen Traditionen gleichzeitig hin‐ terfragt werden. Unter einer solchen postkolonialen Perspektive wären allerdings auch die hier explizierten homerischen ‚Gründungsurkunden abendländischer Identität‘ diskurs‐ analytisch zu hinterfragen, denn Walcotts Umschreibung und kritische Aneignung dieser Traditionslinie betont stets auch die Ausgrenzungen, die mit einer identitätsstiftenden Lesart solcher ‚Gründungsurkunden‘ gezogen werden. Vermeintliche Verbindungslinien markieren in Walcotts Werk demnach immer auch Trennungslinien, indem sie eine kari‐ bische sowie lokale Partikularität und Individualität evozieren. Kai Merten diskutiert die Antikerezeption Walcotts ebenfalls „als eine Weiterführung einer vom Westen vernachlässigten Kultur“ mit dem Anspruch der Aneignung des epischen Genres durch die karibische Kultur. 6 Dabei geht es vornehmlich um die Kompensation der historischen Leerstellen, der „void of history,“ wie es der Schriftsteller Wilson Harris aus Guyana einmal in Bezug auf Vergil formuliert hat. 7 Harris bezieht sich dabei auf die Aeneis als „erstes Epos der Migration und der Umsiedlung über die Grenzen der antiken Welt hinaus,“ während die Briten dieses Epos eher als „Text einer legitimen und siegreichen Eroberung“ deuteten. 8 Im Gegensatz zur Lesart als Westindienepos strebt Walcott Merten zufolge jedoch eben kein karibisches Epos an, sondern macht vielmehr ein Spannungsfeld zwischen Ortsmythik und Aneignung auf. 9 In diesem Kontext verweist der Begriff writing back auf ein zentrales Paradigma postkolonialen Schreibens der Generation von Literatur‐ schaffenden, welche noch zu Zeiten des Empires mit exportierten „humanistischen Me‐ thoden der Elitebildung“ sozialisiert wurden, 10 die Unabhängigkeitsbewegungen in ihren Regionen aktiv miterlebt und den Prozess des nation-building oft sogar entscheidend mit‐ gestaltet haben, u. a. durch eine komplexe und teils widersprüchliche Position hinsichtlich der Diskussionen um Nationalkulturen, welche die Zeit der Dekolonisierung prägten und bis heute nachwirken. Walcott als Autor dieser Generation zu lesen bedeutet auch, die Ästhetik Omeros im Kontext der anglophonen karibischen Literaturen der Unabhängigkeitsbestrebungen und der post-independence era zu positionieren, greift das Langgedicht doch zahlreiche Topoi und Tropen auf, die Walcott bereits seit den 1950er Jahren beschäftigten. Taterkas Phrase des Epos als ‚literarische Metasprache‘ ist dabei hilfreich, um Omeros zu verstehen, zumal der Text gar nicht so viele homerische Bezüge aufweist, wie man angesichts des Titels vielleicht denken mag. Vielmehr verkompliziert Walcott diese Bezüge um zahlreiche wei‐ tere Traditionslinien, etwa zu Dante Alighieris Divina Commedia, sowie durch eine Vielzahl an inter- und extratextuellen Verweisen, von denen im weiteren Verlauf einige exempla‐ risch aufgezeigt werden. 214 Annika McPherson 11 Als Tochter Ledas und des Zeus in Schwanengestalt galt Helena als schönste Frau der Welt. Verhei‐ ratet mit König Menelaos von Sparta wurde sie von Prinz Paris von Troja entführt. Der Versuch ihrer Rückeroberung führte den Trojanischen Krieg herbei. In Christopher Marlowes Doctor Faustus (1604) evoziert Faust den Schatten Helenas mit den viel zitierten Worten „Was this the face that launch’d a thousand ships,/ And burnt the topless towers of Illium? “ (Akt V, Szene I), was im Falle Fausts auch eine Vorahnung auf seinen Abstieg in die Hölle darstellt. 1. Derek Walcott, St. Lucia und die anglophone karibische Literatur Der Inselstaat St. Lucia - benannt nach der frühchristlichen Märtyrerin Lucia - ist wie viele andere karibische Staaten von einer wechselhaften kolonialen Geschichte geprägt: franzö‐ sische Piraten, die von dort aus seit Mitte des 16. Jahrhunderts spanische Schiffe atta‐ ckierten, gestrandete englische Kolonialisten, die auf dem Weg nach Guyana waren, die Vereinnahmung durch die Franzosen, welche 1660 einen ‚Vertrag‘ mit den ansässigen ‚Ka‐ riben‘ unterzeichnet hatten, und zahlreiche Kriege zwischen England und Frankreich, die bis zur endgültigen britischen Besitznahme 1814 stetig um die Kontrolle der Insel kämpften und ihr dadurch den Beinamen „Helen of the West Indies“ einbrachten. 11 In Omeros räsoniert der alte Major Plunkett dazu: […] the island was once named Helen; its Homeric association rose like smoke from a siege; the Battle of the Saints was launched with that sound, from what was the “Gibraltar of the Caribbean,“ after thirteen treaties while she changed prayers often as knees at an altar, till between French and British her final peace was signed at Versailles. […] (31) Die häufigen Wechsel der Besatzungsmacht - hier sowie im weiteren Verlauf des Gedichts wiederholt durch die britisch-französische Seeschlacht 1782 vor der Inselgruppe Les Saints referenziert - sind auch der Grund, warum die Lokalsprache des Saint Lucian Creole French, auf der Insel auch als Patwá bezeichnet, trotz Englisch als Amtssprache eng ver‐ wandt mit den Varietäten Martiniques, Dominicas und Guadeloupes ist. Sie erklären auch, warum die Insel Mitglied der Francophonie und überwiegend römisch-katholisch ist. Als Teil der sogenannten kleinen Antillen war St. Lucia von 1958-62 Mitglied der westindi‐ schen Föderation, welche politische Unabhängigkeit im Rahmen einer Union der Insel‐ staaten anstrebte. Nach dem Scheitern dieser Föderation war St. Lucia von 1967 bis zur Unabhängigkeit 1979 ein assoziierter Staat des Vereinigten Königreiches und ist seitdem Mitglied des Commonwealth of Nations und darin als eines der 16 verbliebenen Common‐ wealth Realms weiterhin mit der britischen Regentin als Staatsoberhaupt verbunden. Walcotts methodistischer familiärer Hintergrund im katholisch geprägten St. Lucia und seine Sozialisation in diesem historischen und sprachlichen Kontext haben ihn und sein literarisches Schaffen zweifellos geprägt. Seinen Vater Warwick, der ebenfalls als Maler und Dichter tätig war, hat er nie kennengelernt, da dieser während der Schwangerschaft seiner Mutter Alix mit den Zwillingen Derek und Roderick, welcher später auch Dramaturg 215 Derek Walcott: Omeros 12 Hirsch, Edward: „Derek Walcott, The Art of Poetry No. 37“. The Paris Review 101 (Winter 1986). (htt ps: / / www.theparisreview.org/ interviews/ 2719/ derek-walcott-the-art-of-poetry-no-37-derek-walcot t). 13 In den1960er und 70er Jahren suchte etwa das bekannte Sistren Theatre Collective finanziell prekär situierte Frauen in den Städten zu ermächtigen, indem sie ihre Erfahrungen in Theaterimprovisati‐ onen verarbeiteten. 14 Government of Saint Lucia: „Independence Awards announced“. (http: / / www.govt.lc/ news/ indepen dence-awards-announced). 15 CARICOM: „The Order of The Caribbean Community (OCC): An Avowal of Excellence“. (https: / / ca ricom.org/ the-order-of-the-caribbean-community-occ-an-avowal-of-excellence/ ). wurde, verstarb. Die Walcotts waren eine künstlerisch engagierte Familie, die - wie für die Karibik allgemein kennzeichnend - verschiedenste Einflüsse miteinander verwob und deren Geschichte über mehrere Inseln hinweg neben den afrikanischen mit englischen und niederländischen Hintergründen auch zurück nach Europa verweist. Obschon Walcott seine Mutter in Interviews als „just a seamstress and a schoolteacher“ 12 bezeichnete, wenn er erläuterte, dass sie seine ersten Veröffentlichungen finanziell unterstützte, war sie auch als Schauspielerin aktiv. Während seines Studiums in Jamaika war Walcott Teil des dort zu dieser Zeit beginnenden theatre revivals, in dessen Rahmen zahlreiche sogenannte back yard theatres florierten, die das bis heute populäre Format des roots theatre begründeten. 13 Bereits 1958 schrieb Walcott ein Theaterstück zum Gründungsakt der nur vier Jahre währenden Westindischen Föderation und 1959 gründete er mit seinem Bruder den das karibische Theater fortan prägenden Trinidad Theatre Workshop. Seine Theaterstücke, v. a. Ti-Jean and His Brothers (1958), Dream on Monkey Mountain (1967 / 70), Remembrance (1979 / 80) und Pantomime (1978) zählen neben den zahlreichen Gedichtbänden wie White Egrets, für den er 2011 den ersten Bocas Prize erhielt, zu den wichtigsten Werken der ang‐ lophonen karibischen Literatur. 1993 adaptierte er auch die Odyssee für die Bühne - in einer Inszenierung, die v. a. auf der Verdoppelung der drei Figurenpaarungen Antinous und Ajax, Nausicaa und Melantho sowie Cyclops und Arnaeus basiert. Nach seinem Tod im März 2017 fanden sich weltweit unzählbare Nachrufe in nahezu allen Sprachen und Medienformaten auf den 2016 mit dem Ordenstitel Knight Commander of the Order of Saint Lucia ( KCSL ) 14 ausgezeichneten Sir Derek Alton Walcott, der ebenfalls die Verdienstorden Officer of the Most Excellent Order of the British Empire ( OBE , 1972) und Order of the Caribbean Community ( OCC , 1992) trug. 15 Diese Ehrungen können als symbo‐ lisch für Walcotts ambivalenten Umgang mit Fragen der literarischen Repräsentation his‐ torischer Zusammenhänge, insbesondere (aber nicht nur) des britischen Empire verstanden werden. Mit dem OBE -Titel werden besondere politische, wirtschaftliche, kulturelle, geis‐ tige oder ehrenamtliche Leistungen britischer Staatsbürger sowie Bürger des Common‐ wealth ausgezeichnet. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass nicht wenige Künstler den Orden mit Verweis auf seine imperialen Konnotationen oder auf ihre Ablehnung der Politisierung von Kunst und Kultur abgelehnt haben. Im gegebenen Kontext kann als präg‐ nantestes Beispiel der Dichter und Schriftsteller Benjamin Zephaniah genannt werden, welcher ihn 2003 als Erinnerung an die Vergewaltigung und brutale Behandlung seiner Vorfahren sowie als Symbol der Reduktion von Menschen afrikanischer Herkunft und ihrer 216 Annika McPherson 16 Zephaniah, Benjamin: „ME? I thought, OBE me? Up yours, I thought“. The Guardian, 27. 11. 2003. (h ttps: / / www.theguardian.com/ books/ 2003/ nov/ 27/ poetry.monarchy). 17 Diese Professur hatten u. a. der Kulturkritiker Matthew Arnold, der Shakespeare-Experte A. C. Bradley, W. H. Auden und Seamus Heaney inne. Die statt Walcott als erste Frau auf diesem Posten nominierte Ruth Padel zog ihre Kandidatur nach Vorwürfen der Verstrickung in den Medienskandal ebenfalls zurück, sodass in Folge des in der Presse als gender war bezeichneten Skandals die Professur ein Jahr unbesetzt blieb, was vorher nur um die beiden Weltkriege der Fall gewesen war. Siehe z. B. die Berichterstattung dazu vom Mai 2009 in The New York Times, in The New Yorker oder in The Guardian. 18 „Omeros - National Poetry Day 2015“. Shakespeare’s Globe. (https: / / www.youtube.com/ watch? v=W jubg7Ru1eI&t=1s). Geschichte auf den Kontext der Versklavung bezeichnete. 16 Die Auseinandersetzung mit dem Erbe der britischen Kolonialherrschaft ist jedoch zwangsläufig politisch, und so kann auch Omeros nicht außerhalb historischer, identitätspolitischer und gesellschaftskritischer Debatten gelesen werden, zumal der Text diese immer wieder explizit benennt oder sym‐ bolisch auf sie verweist. Diese Bezüge werden vor allem durch die Sprech- bzw. Erzähl‐ perspektiven sowie deren metafiktionale Thematisierung im Text erkennbar, welche neben Omeros auch zahlreiche weitere Gedichte und Essays Walcotts auszeichnen. Häufig finden sich in diesem Zusammenhang biographische Lesarten, welche jedoch ebenso problemati‐ siert werden müssen wie die ambivalenten Bezüge auf die Traditionslinien des National‐ epos. Große Werke der Literatur sowie deren Autorinnen und Autoren sind nicht selten von Kontroversen umgeben, und dies gilt neben Omeros auch für Walcott als Person. Als sich 2009 abzeichnete, dass er die Professur für Lyrik an der Universität Oxford bekommen sollte, wurden mehrere Fälle sexueller Belästigung aus seiner Zeit an den Universitäten Harvard und Boston aus den 1980er und 1990er Jahren bekannt und medienwirksam instrumenta‐ lisiert, worauf er seine Kandidatur zurückzog. 17 Ohne hier konkrete Bezüge aufmachen zu wollen, soll dieser Skandal nicht unerwähnt bleiben, da sich in Walcotts Gesamtwerk und auch in Omeros durchaus immer wieder problematische Repräsentationen von Frauen finden. In der postkolonialen Kritik wird ebenfalls kontrovers diskutiert, wie Walcotts Ver‐ handlungen der Sklaverei, der kulturellen Aneignung und v. a. der Repräsentation der Nachfahren der Kolonisatoren im karibischen Kontext zu deuten sind - Fragen, zu denen er sich Zeit seines Lebens auch in Interviews und Essays immer wieder geäußert hat. Hierin werden deutliche Unterschiede in seinem Werk sowohl zu anderen karibischen Literaten seiner Zeit als auch zur nachfolgenden Generation sichtbar. 2. Die Figurationen des Omeros Anlässlich des World Poetry Day 2015 wurde ein Ausschnitt aus der Inszenierung des The‐ aterstücks Omeros des Sam Wanamaker Playhouse, welches zu Shakespeare’s Globe in London gehört, veröffentlich. 18 Darin trägt der Schauspieler Joseph Marcell den auf das Thema Licht hin ausgewählten und in seinem Ablauf leicht veränderten Anfang von Omeros vor. Joseph Marcell wurde 1948 ebenfalls in St. Lucia geboren und ist Mitglied der Royal 217 Derek Walcott: Omeros 19 Obgleich er als Kind mit seinen Eltern nach Großbritannien zog und im Lauf seiner Schauspielkar‐ riere in den USA als britischer Schauspieler und von den Briten trotz zahlreicher Engagements in britischen Filmen, Serien und Theaterstücken nicht zuletzt aufgrund der sechs Jahre als Butler Ge‐ offrey in der US-amerikanischen Sitcom The Fresh Prince of Bel Air zunehmend als amerikanischer Schauspieler angesehen wurde, positioniert Marcell sich in Interviews als ‚St. Lucian‘. 20 Dass Transnationalität auch im Kontext des Commonwealth politisch bleibt, belegt der Windrush scandal im Jahr 2018, in dessen Rahmen karibische Migrantinnen und Migranten, die in den 1950er und 60er Jahren als British subjects in das Vereinigte Königreich gekommen waren, aufgefordert wurden, ihren rechtlichen Status zu belegen, da ihnen ansonsten die Deportation drohte. Viele hatten jedoch aufgrund des British Nationality Act von 1948, der ihnen automatisch den uneingeschränkten Aufenthalt gewährte, in den folgenden Jahren nie eine Bestätigung ihres Status erhalten, noch war dies bis zu weiteren Reformen 2010 nötig gewesen. Betroffen waren u. a. Personen, die bei Einreise als Kinder auf den Pässen ihrer Eltern eingetragen gewesen waren. Shakespeare Company. 19 Als sogenannter ‚Windrush‘-Migrant der Nachkriegszeit eröffnet Marcells Rezitation einen weiteren, sowohl für Omeros als auch für aktuelle Debatten sig‐ nifikanten transnationalen Bezug. 20 In Marcells Interpretation finden sich zahlreiche Ver‐ weise auf die karibische Flora und Fauna, die Walcott in Omeros wie in seinem lyrischen Werk insgesamt symbolisch belegt, v. a. Vögel wie den Fregattenvogel, den Segler oder Schwalben und Reiher, sowie Bäume wie den ‚Gommier‘, aus dem bereits die Arawaks Boote herstellten und dessen Harz sie zur Produktion von Kerzen und Fackeln nutzen (daher auch Candlewood genannt), oder die Zeder, aus der die Fischer ihre Kanus herstellten. Walcotts Text beginnt mit Philoctetes Passage, in der er die Fällung der Bäume zur Herstellung der Fischerboote für die Touristen inszeniert: “This is how, one sunrise, we cut down them canoes.” Philoctete smiles for the tourists, who try taking his soul with their cameras. “Once wind bring the news to the laurier-cannelles, their leaves start shaking the minute the axe of sunlight hit the cedars, because they could see the axes in our own eyes. Wind lift the ferns. They sound like the sea that feed us fishermen all our life, and the ferns nodded ‘Yes, the trees have to die.’ So, fists jam in our jacket, cause the heights was cold and our breath making feathers like the mist, we pass the rum. When it came back, it give us the spirit to turn into murderers. I lift up the axe and pray for strength in my hands to wound the first cedar. Dew was filling my eyes, but I fire one more white rum. Then we advance.” For some extra silver, under a sea-almond, he shows them a scar made by a rusted anchor, rolling one trouser-leg up with the rising moan of a conch. It has puckered like the corolla 218 Annika McPherson of a sea-urchin. He does not explain its cure. “It have some things”—he smiles—“worth more than a dollar.” (3-4) Die Omeros-Figur bleibt über den gesamten Text hinweg flüchtig und wandelt ihre Gestalt mehrmals. Angesichts des dramatischen wie lyrischen Gesamtwerks Walcotts ist es wenig verwunderlich, dass das analytische Vokabular von Lyrik und Prosa hier so eng beieinander liegt, dass es auch in der Rezeption nicht immer akkurat differenziert wird. In dieser Hin‐ sicht kann Omeros auch als einer der Texte gesehen werden, welche die Unterscheidung von Lyrik und Prosa hinterfragen. Der Dichter etwa wird aufgrund der Sprechsituation im weiteren Verlauf durch biographisch konnotierte Marker wie die Namen der Eltern als Walcott selbst markiert und in der Rezeption meist auch so gelesen. Ein Erzählstrang erinnert an die Liebesbeziehung des lyrischen Ichs mit der griechischen Bildhauerin Antigone in den Vereinigten Staaten von Amerika. Omeros erscheint hier auf einer ihrer Büsten: “O-meros,” she laughed. “That’s what we call him in Greek” stroking the small bust with its boxer’s broken nose, and I thought of Seven Seas sitting near the reek of drying fishnets, listening to the shallows’ noise. I said: “Homer and Virg are New England farmers and the winged horse guards their gas-station, you’re right.” I felt the foam head watching as I stroked an arm, as cold as its marble, then the shoulders in winter light in the studio attic. I said, “Omeros” and O was the conch-shell’s invocation, mer was both mother and sea in our Antillean patois, os, a grey bone, and the white surf as it crashes and spreads its sibilant collar on a lace shore. Omeros was the crunch of dry leaves, and the washes that echoed from a cave-mouth when the tide has ebbed. The name stayed in my mouth. […] (14) Omeros ist aber nicht nur die Stimme des Meeres, die hier evoziert wird, sondern auch der blinde alte Mann Seven Seas, dessen sechster Sinn ihn und die anderen Figuren durchs Leben leitet. Als „Old St. Omere“ hat er vor seiner Erblindung die Weltmeere umsegelt und wird daher liebevoll „Monsieur Seven Seas“ genannt, auch wenn nicht alle seinem See‐ mannsgarn Glauben schenken. Sein Gesang ist auch für Ma Kilman, die Heilerin des Dorfes, nicht immer zu verstehen und seine Worte erscheinen ihr und den anderen als „Greek“ oder „old African babble“ (18) - eine zugespitzte Synonymisierung, welche wiederum auf die Verwobenheit von Traditionslinien verweist und vermeintlich klare Grenzziehungen hin‐ terfragt. Die disparaten Orte der Handlung zeigen die transnationale Verwobenheit der Karibik nicht zuletzt durch die Person des reisenden Dichters auf. Neben St. Lucia umfassen die Schauplätze Massachussetts, Dakota, Lissabon, London, Dublin, Rom und Toronto sowie 219 Derek Walcott: Omeros 21 Lefkowitz, Mary: „Bringing Him Back Alive“. New York Times, 7. 10. 1990. (https: / / www.nytimes.com/ 1990/ 10/ 07/ books/ bringing-him-back-alive.html). 22 Walcott, Derek: „The Antilles: Fragments of Epic Memory“. Nobel Lecture, 7. 12. 1992. (https: / / www.nobelprize.org/ prizes/ literature/ 1992/ walcott/ lecture/ ). 23 Lansing, Richard: „Boccaccio, Giovanni“. The Dante Encyclopedia. London and New York: Routledge, 2000, S. 109-115. die (Traum-) Reise Achilles nach ‚Afrika‘ oder die Schlacht von Les Saints. Omeros taucht etwa in London als verwahrloster Schiffer auf, ein eselsohriges Manuskript der Odyssee unter den Arm geklemmt, sowie als Avatar des Dichters Virgil, der den Erzähler führt, wie er auch Dante in der Göttlichen Komödie durch die Hölle geführt hat. Demnach ist es vor‐ nehmlich der bettelnde und vereinsamt sterbende Dichter Homer, welcher Walcott hier als „everyman’s Homer“ inspiriert, wie Mary Lefkowitz ihn bezeichnet. 21 Entsprechend the‐ matisiert das Gedicht zunehmend prononciert und philosophisch die Relation von Dichtung und Wahrheit im Kontext von Geschichte und Literatur allgemein sowie besonders in Bezug auf die Repräsentation der karibischen Kultur. Das Licht der Opferung („light of sacrifice“, 5) der alten Bäume, auf welches auch Marcells Rezitation fokussiert ist, durchzieht dabei symbolisch den gesamten Band, häufig in Ver‐ bindung mit der Thematisierung der Tourismusindustrie, welche durch die Kreuzfahrt‐ schiffe als Ozeanriesen, die den Horizont säumen, verbildlicht wird. Diese Schiffe sind Ma‐ nifestationen der Privilegien des arroganten Westens, welcher der Karibik eine Geschichte und Identität aus sich selbst heraus verweigert. Sie stehen zudem für die neokoloniale Aus‐ beutung und korrupte wirtschaftliche Geschäfte, wie sie Walcott auch in seiner Nobel‐ preisrede thematisiert. 22 Episch erscheinen im Kontrast dazu v. a. die Wechselbeziehungen von Natur und Kultur der karibischen Landschaft und des Meeres als „epic horizon“ (13). 3. Die epische Tradition und Omeros: Struktur, Figurenkonstellation, Narration Omeros ist in sieben Bücher und insgesamt 64 Kapitel mit jeweils drei Teilen unterteilt. Die Terzine (terza rima) als Reimschema ist der eindeutigste Bezug auf Dantes Divina Commedia und die italienischen Humanisten des 14. Jahrhunderts. Neben Dante ließen sich auch Pet‐ rarca oder Boccaccio nennen, welche im Vergleich zu Dante jedoch bisher wenig Beachtung in der Walcott-Rezeption fanden. Durch diese Verweise würden sich für die Dynamik der Versform andere Analyse- und Interpretationszugänge eröffnen, sowohl hinsichtlich des Geschichtsverständnisses oder der Liebesrhetorik als auch in Bezug auf stilistische, sym‐ bolische und thematische Aspekte von Boccaccios Caccia di Diana, Ameto, Decamerone und Amorosa visione. 23 Zentral ist in diesen Vergleichen der Bezug auf den Renaissance-Huma‐ nismus, während die Form der Terzine trotz weitgehend zwölfsilbiger Konstruktion meist nicht (oder zumindest nicht als reines) Reimschema oder als hexametrisches Versmaß, son‐ dern vornehmlich als äußere Gestaltungsform des Dreizeilers mit einigen signifikanten Abweichungen dient. Im 4. Buch (Kapitel 33) etwa ist der dritte Teil in Zweizeilern mit Paarreimen gestaltet, beginnend mit „house“ und endend mit „home“. Das hierin angerufene Haus im US -amerikanischen Exil, mit dessen Invokation im Stil einer Verfluchung elf der sechzehn Strophen beginnen, ist dem Dichter kein Zuhause und er distanziert sich von ihm mit Beschreibungen und Aussagen wie „House I unhouse“ oder „I do not live in you, I bear 220 Annika McPherson 24 Hamner, Robert D.: Epic of the Dispossessed: Derek Walcott’s Omeros. Columbia, London 1997. 25 „Derek Walcott. Interview by Harriett Gilbert“. BBC World Book Club. BBC, 2008. (https: / / www.bbc.co.uk/ programmes/ p02r7n8v), 0: 30: 00-0: 30: 59. 26 Walcott, Derek: „The Antilles“. 27 Burton, Richard D. E.: „Names and Naming in Afro-Caribbean Cultures“. New West Indian Guide / Nieuwe West-Indische Gids 73.1-2 (1999): 35-58, hier S. 41. Zur Namensgebung in Omeros my house inside me, everywhere“ (173-4). Es muss erst langsam zu einem Heim werden, etwa durch das Ritual des „uncurse“ und die Auseinandersetzung mit der Fremdheitser‐ fahrung „by rites of genuflecting verse“ (173). Dieser sprachliche Kniefall evoziert eine spirituelle oder gar sakrale Dimension, dem Fluch des Exils entgegenwirkend. Im Gegensatz zu dieser Geste als Gegenmittel zur Erfahrung des Exils hat Walcott den Begriff der Diaspora als ‚unkaribisch‘ kritisiert und bemängelt, dass Omeros seit Robert Hamners Studie von 1997 häufig als „epic of the dispossessed“ bezeichnet wird. 24 Die Konnotation von Enteignung, welche Walcott mit dem Begriff Diaspora verbindet, lehnt er in Bezug auf die Karibik ab: I don’t know that the Caribbean people are dispossessed. You can talk about - people use it very much these days and I don’t like to hear it - diaspora. It’s a wrong language for the experience. Diaspora is not a Caribbean word. It’s whether you think that the Caribbean people have laid claim to where they have been taken to by force. The idea of dispossession is a political idea. The reality of possession is true in the Caribbean. If I’m talking to a fisherman on the beach in St. Lucia, he doesn’t feel dispossessed. He may not earn enough money and he can be vexed with white people if he wants, but he is not physically dispossessed from his country […]. 25 Walcott betont, dass die Bewohner der Karibik ihren Anspruch auf das ihnen historisch zunächst verwehrte Land trotz verbreiteter wirtschaftlicher Prekarität eingefordert haben und daher der Begriff der Enteignung unzutreffend sei. Walcotts Aufzählungen aus seiner Nobelpreisrede zufolge bezieht sich dieser Anspruch auf alle Gruppen, welche im Lauf der karibischen Geschichte dort unter sehr disparaten Umständen und Machtverhältnissen zu‐ sammengewürfelt wurden. So listet er neben der die Versklavung afrikanischer Menschen kennzeichnenden Middle Passage auch das Schiff Fatel Rozack [sic] als Transporter der nach Ende der Sklaverei im Rahmen der Schuldknechtschaft 1845 aus Indien nach Trinidad ver‐ schifften indentured labourers ebenso wie „the chained Cromwellian convict, the Sephardic Jew, the Chinese grocer and the Lebanese merchant“ auf, und nennt Port of Spain, Trinidad, als beispielhaft für dieses Zusammenleben. 26 Die Zusammenführung der Fragmente in eine gleichberechtigte und gerechte Gesellschaft verlangt allerdings eine detaillierte Auseinan‐ dersetzung mit der Vergangenheit sowie eine Überwindung der Traumata und kann nur in einer Geste der wechselseitigen Anerkennung gelingen - mit allen Widersprüchlichkeiten, die es dabei auszuhalten gilt. Als eine solche widersprüchliche Geste kann auch Omeros gelesen werden. Die Kapitel und Bücher fokussieren dabei unterschiedliche, aber eng miteinander ver‐ flochtene Figuren, Themenstränge, Perspektivierungen und Schauplätze. Zahlreiche Echos homerischer und weiterer antiker Referenzen finden sich bereits in der Namensgebung. Diese Namen rekurrieren aber auch auf die gewaltvolle Umbenennung im Kontext der Versklavung, als Plantagenbesitzer in einer perfiden satirischen Machtdemonstration ‚klas‐ sische‘ Namen vergaben. 27 Die beiden zunächst eng befreundeten Fischer Achille und 221 Derek Walcott: Omeros allgemein siehe Burnett, Paula: „Walcott’s Intertextual Method: Non-Greek Naming in ‚Omeros‘“. Callaloo 28. 1 (2005): S. 171-87. Hector („they had a common bond / between them: the sea“, 47) buhlen und duellieren um die schöne Helen. Helen verlässt jedoch Achille und zieht mit Hector zusammen, der auf‐ grund eines erhofften besseren Einkommens die identitätsstiftende Fischerei aufgegeben hat und zum Taxifahrer avanciert, infolge seines rasanten Fahrstils aber tödlich verun‐ glückt. Achilles Fischerboot trägt den Namen „In God We Troust“ inklusive überflüssigem ‚o‘, was jedoch nicht als Fehler oder Makel, sondern als Idiosynkrasie verstanden wird und ebenfalls als das Zeichen des Omeros gesehen werden kann, das ihn in seinem Boot be‐ gleitet. Achille beginnt zu Ende des zweiten Buches eine Traumreise nach Afrika, geleitet von einer Schwalbe als „mind-/ messenger“ (131). Sein Ziel ist es, seinen wahren Namen zu erfahren, nachdem er sich in der Erinnerung an die ertrunkenen Vorfahren der Middle Passage zum ersten Mal fragt, wer er eigentlich ist. Seine Seele ist erkrankt, und die ver‐ körperte Erinnerung lässt ihn - ähnlich wie Philoctete - nicht zur Ruhe kommen. Das dritte Buch beginnt mit Achilles Reise in die ‚andere‘ Welt in einer Umkehr der Rhetorik der neuen Welt. Mit der Schwalbe als Pilot wird ihm von Gott gewährt, in die Heimat zurückzukehren, aber es ist eine schmerzvolle Reise: „His heart and his bare head / were bursting as he tried to remember the name / of the river“ (134). Der Erzähler kann ihn nur zur Hälfte begleiten, denn er ist gleichzeitig mit den Vorfahren des Major Plunkett beschäftigt. Achille begegnet sich selbst in der Gestalt seines Vaters, der sich als ‚Afo-la-be‘ identifiziert. Als sein Vater ihn fragt, was der Name Achille bedeute, kann er sich nicht erinnern, sondern „yearn[s] for a sound that is missing“ (137), denn der Vater hat ebenfalls vergessen, wie er den Sohn einst genannt hat. Auch hier werden die Verse unterbrochen, die Syntax des Gedichts kann den Verlust der Bedeutung nicht halten und bricht in sich zusammen. Achilles Identitätssuche scheint somit unerfüllt, er ist „only the ghost of a name“ (138-9), sehnt sich aber zurück nach der Karibik als dem einzig möglichen heimatstiftenden Ort. Statt nur ein Schatten oder Geist eines verlorenen Namens zu bleiben, bildet er „his own memory“ (141) heraus und erkennt in den Karnevalsritualen der Insel die repetitiv verstärkten afrikanischen Wurzeln („The same, the same“, 143). Achille kann während seiner Reise in die Vergangenheit die Zukunft der Versklavung nicht verändern, sondern muss sie schmerzhaft nochmals er‐ fahren und akzeptieren, dass trotz des Verlustes etwas Neues geschaffen wurde: „But they crossed, they survived. There is the epical splendour“ (149), durch den jeder als „each man […] a nation in himself “ (150) zwar auf sich allein gestellt ist, aber dennoch geeint durch den Wind des Meeres als „one nation / of eyes and shadows and groans, in the one pain / that is inconsolable“ (151). Während Achille verschwunden ist, sitzen Philoctete und Seven Seas beieinander: Philoctete sat on the same step he chose every moonlight and said in Creole: “They say he drown.” The dog chewed noisily. “His name is what he out looking for, his name and his soul,” 222 Annika McPherson 28 Hall, Stuart: „Cultural Identity and Diaspora“. Colonial Discourse and Post-colonial Theory: A Reader. Hgg. Patrick Williams und Laura Chrisman. New York 1990, S. 392-403, hier S. 399. Seven Seas said. “Where that? ” They both looked at the moon. It made the yard clean, it clarified every leaf. “Africa,” the blind one said. “He go come back soon.” Philoctete nodded. […] (154) Philoctete versteht, dass Achille seinen Namen und seine Seele suchen muss. Es ist diese Selbstverständlichkeit der spirituellen Reise ins mentale ‚Afrika‘, aber auch der notwen‐ digen Rückkehr in die Karibik als Heimat, die Stuart Hall als die unausweichlich zirkulären symbolischen Reisen der Diaspora bezeichnet hat, 28 auch wenn Achilles Bootsmann dessen quest einem Sonnenstich zuschreibt. Philoctete, der wie sein homerischer Namensvetter durch eine nicht heilende Wunde markiert ist, schreibt diese ebenfalls nicht der Verletzung durch den Anker, sondern den Ketten der Fußfesseln seiner versklavten Ahnen zu. Die Vergangenheit ist auch in Form der rostigen Kessel aus den Ruinen der Zuckerplantagen auf Philoctetes Acker materiell prä‐ sent. Philoctetes Last wird nicht zuletzt durch das veränderte Schema der Endreimhäufung und die lautmalerische Gestaltung des zweiten Teils dieses Kapitels markiert (battle / rattle / cattle, found / bound / ground, 22). Die Kessel werden jedoch später umfunk‐ tioniert und dienen Ma Kilman zur Zubereitung der Substanz, die Philoctetes Wunde schließlich doch heilen kann, nachdem sie die Pflanze, an die sie sich aus den Erzählungen ihrer Großmutter erinnert, endlich findet und damit ihren eigenen quest erfolgreich be‐ enden kann. In der Umfunktionierung der verrosteten Symbole der Versklavung zu Gefäßen der Heilung zeigt sich, wie Omeros die Geschichte metaphorisch umschreibt. So kann Ma Kilman im Gespräch mit Seven Seas am Ende auch prophezeien: „We shall all heal“ (319). Die schwangere Helen, ehemals Haushälterin der Plunketts, auf deren Schweinefarm sich Achille während der hurricane season ein Zubrot verdient, zieht schließlich wieder zu Achille. Helen steht mit ihrem gelben Kleid, das Maud Plunkett ihr geschenkt hat, auch für die Insel St. Lucia als Licht der Karibik. Maud und Helen haben allerdings ein sehr ambi‐ valentes Verhältnis: Maud bezichtigt sie einerseits - ganz im Sinne des von Stereotypen geprägten angespannten Verhältnisses zwischen mistress und maid - der Lüge und des Diebstahls, während sie andererseits weibliche Solidarität zeigt, als Helen Geld von ihr erbittet, als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Fokalisiert durch Plunkett wird Helen als „the arrogant servant that ruled their house“ beschrieben (29). Gleichzeitig ergeht sich der alte Major Plunkett im doppelten Sinn in seinem Verlangen nach Helen - sowohl der schönsten Frau der Insel als auch der Insel selbst. Die insgesamt jedoch eher positive und verständnisvoll anmutende Darstellung der Plunketts ist ein zentraler Streitpunkt in der Omeros-Rezeption und dient als Paradebeispiel für Walcotts Versuch, die in der Karibik lebenden Kulturen von den alten Machtgefügen zu entkoppeln und in eine von Differenz geprägte, aber letztlich geeinte multikulturelle Gesamtgesellschaft zu überführen - quasi im Sinne des jamaikanischen Staatsmottos ‚out of many, one people‘. 223 Derek Walcott: Omeros Die Monotonie der Ehe der Plunketts wird durch ihre jeweiligen Obsessionen deutlich. Die des englischen Majors bezieht sich nicht nur auf Helen, sondern zunächst v. a. auf die Geschichte der Kriege und Schlachten der europäischen Kolonialmächte, welche ihn über die Materialschlacht Montgomerys gegen das Afrika Korps - „Pro Rommel, pro mori“ (25) - in die Karibik führten, um sich dort mit seiner irischen Frau zur Ruhe zu setzen und die Wunden des Krieges zu vergessen. Jedoch ist er sich seiner Komplizenschaft durchaus be‐ wusst: „We helped ourselves / to these green islands like olives from a saucer“ (25). Plunkett ist Täter, Komplize des Kolonialismus und zugleich als verwundeter Soldat ein Opfer des Krieges, der zunächst Kraft aus seiner Ehe zieht. Jedoch verkompliziert Walcott auch hier die Darstellung durch die metafiktionale Reflexion der Figur: This wound I have stitched into Plunkett’s character. He has to be wounded, affliction is one theme of this work, this fiction, since every “I” is a fiction finally. Phantom narrator, resume: Tumbly. Blue holes for his eyes. […] (28) Der ‚phantom narrator‘ tritt bereits zu Beginn des Textes deutlich markiert hervor und unterwandert damit jegliche simplifizierte Gleichstellung mit dem biographischen Walcott, der mit einer solchen Lesart geradezu paradigmatisch postmodern spielt. Major Plunkett widmet sich bezeichnenderweise der Geschichtsschreibung, denn er will die Perspektive wechseln: „Helen needed a history / that was the pity that Plunkett felt towards her./ Not his, but her story. Not theirs, but Helen’s war“ (30). Plunketts Versuch, die Geschichte aus Helens Perspektive zu schreiben, ist jedoch sowohl durch seine Komplizenschaft im Macht‐ gefüge des Kolonialismus als auch durch sein Mitleid ähnlich zum Scheitern verurteilt wie die Bemühung des Dichters, die karibische Realität in Worte zu fassen. Dieser erliegt eben‐ falls der Schönheit Helens: „that incredible / stare paralyzed me past any figure of speech“ (36). Allerdings perpetuiert der Vergleich Helens mit dem Rilke’schen Panther im Käfig (36) im Kontext kolonialer Diskurse befremdliche Tiermetaphern. Aber auch hier bezeichnet sich der Dichter bewusst als Jäger und markiert somit explizit seine Komplizenschaft. Da‐ durch suggeriert Omeros, dass es angesichts der komplexen und verwobenen Geschichte der Karibik keine eindeutigen, oder zumindest keine einfachen moralischen Zuschrei‐ bungen geben kann. Während der Major und der Dichter Helen erliegen, stickt Maud Plunkett eine mit den Vögeln der Insel verzierte Decke. Es ist später auch Maud, die alle zusammenbringt, aller‐ dings erst durch ihren Tod. Dass Achille, Helen, Philoctete, die Elite der Insel und der Dichter ihr im Rahmen ihres Begräbnisses allesamt Respekt zollen, hat unterschiedliche Gründe. Einer ist, dass der Major die Kadetten der Insel ausgebildet hatte (darunter auch den Dichter), zeugt also von kolonialer Loyalitätsverpflichtung. Während Mauds Beerdi‐ gung entscheidet sich Helen auch, zu Achille zurückzukehren. Dennoch ist es bezeichnend, dass Mauds Stickerei ebenfalls einen schmerzhaften und gewaltvollen Akt der Repräsen‐ tation der Vogelwelt und der Insel impliziert: „empire’s guilt / stitched in the one pattern of Maud’s fabulous quilt“ (263). Die Unmöglichkeit der Repräsentation der Schönheit der Insel, ohne ihr dabei Gewalt anzutun, spiegelt die Versuche des Majors, die Geschichte aus der Perspektive Helens neu zu schreiben. Mauds Versuch der Repräsentation ist zudem von 224 Annika McPherson 29 Rushdie, Salman: „Imaginary Homelands“. Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-1991. London 1991. 9-21.; Woodcock, Bruce: „Derek Walcott: Omeros“. A Companion to Twentieth-Century Poetry. Hg. Neil Roberts. Oxford 2001, S. 547-56. 30 Jameson, Fredric: „Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism“. Social Text 15 (1986): S. 65-88. Nostalgie geprägt, was wiederum das stereotype Bild der kolonialen mistress bedient, das aber gleichzeitig von ihrem häufig betonten Status als irische Frau unterlaufen wird. Auf der Ebene der Geschichtsschreibung und der Rolle der Künste erkennt der Dichter die Rolle der Nostalgie zudem an, wenn er feststellt: „Art is History’s nostalgia“ (228). 4. Postkoloniale Interpretationsansätze Bruce Woodcock versteht Walcott mit Bezug auf Salman Rushdies viel zitierten Essay „Imaginary Homelands“ als Produkt der kulturellen Übersetzung. 29 Rushdie bezeichnet darin das postkoloniale Subjekt und postkoloniale Autoren als „übersetzt“, als über die Welt getragene „translated men“ - allerdings nicht im Sinne eines Verlustes, wie die Phrase ‚lost in translation‘ impliziert, sondern in der Überzeugung, dass in einem solchen Überset‐ zungsprozess auch etwas dazugewonnen werden kann. In der postkolonialen Theorie wird auf ähnliche Weise mit dem Begriff der Hybridität nicht nur das ‚Dazwischen‘, sondern ein ‚sowohl-als auch‘ im Sinne eines spezifisch postkolonialen Bewusstseins und Blicks auf die Welt argumentiert. Dieser Blick ist jedoch grundlegend an die koloniale Erfahrung ge‐ bunden. Solche kulturellen Übersetzungen und ein postkoloniales Bewusstsein prägen auch das Verhältnis von Omeros zu Homer und Dante. Auf figuraler wie thematischer Ebene sind in Omeros alle miteinander verwoben. Der Dichter, der die anderen Figuren beobachtet, beschreibt und immer wieder mit ihnen in‐ teragiert, hinterfragt seine Darstellungen und Interpretationen zunehmend durch meta‐ fiktionale Verweise. Koloniale Kontexte und Machtpositionen lassen sich in Walcotts Werk nicht in ein binäres Täter-Opfer-Schema einpassen, und hierin liegt sicherlich ein Schlüssel zum Verständnis seines ‚unepischen‘ Epos. So kann auch Plunkett erst heilen, nachdem er sich nicht mehr obsessiv mit der Geschichte des Krieges befasst. Nach Mauds Tod widmet er sich anderer Lektüre und „began to speak to the workmen / not as boys who worked with him, till every name / somehow sounded different“ (309). Erst in der direkten Interaktion und im persönlichen Kontakt kann er die Arbeiter auf seiner Farm als Individuen wahr‐ nehmen und respektieren. Entsprechend thematisiert Omeros die kolonial geprägte und gewaltvolle kollektive Repräsentation namenloser Opfer und zeigt durch die komplexe Verwobenheit der Figuren die Notwendigkeit einer radikalen Individualisierung auf, um kolonialen Wunden zu heilen und ein Miteinander zu ermöglichen. Die allegorische Lesart, welche die literarische Produktion ehemaliger britischer Kolo‐ nien zu Zeiten der Unabhängigkeitsbewegungen und nationalkulturellen Bestrebungen prägte, wird dabei zwar nicht komplett unterwandert, doch zumindest hinterfragt. Gemäß der häufig simplifiziert dargestellten umstrittenen Annahme Fredric Jamesons, dass die literarische Darstellung des Lebens gewöhnlicher Menschen und ihres Alltags im Kontext der ‚dritten Welt‘-Literatur als nationale Allegorie zu verstehen sei und somit die Lage der Nation beleuchte, 30 kann die Omeros-Rezeption, die über ein National- oder Westindienepos 225 Derek Walcott: Omeros argumentiert, als symptomatisch für eine solche Lesart gelten. Die nationale Allegorie ist somit nicht unbedingt im Text selbst angelegt, sondern stellt vielmehr eine Rezeptionspo‐ sition dar. Walcotts ‚phantom narrator‘ hingegen erlaubt ihm, den Blickwinkel (wie Plun‐ kett) zwar nicht grundlegend zu ändern, wohl aber dadurch zu problematisieren, dass er auf der Notwendigkeit einer radikalen Individualisierung im Sinne einer Umkehr der Deu‐ tungsrichtung von der Nation auf das Individuum hin insistiert. Indem er die epischen Verweise ebenso deutlich und spielerisch markiert und problematisiert wie die metafikti‐ onalen Reflexionen des Dichters, sind diese nicht als einfaches writing back im Sinne einer Dekonstruktion oder Aneignung des Kanons zu verstehen, sondern weisen darüber hinaus. Bezeichnend hierfür ist eine Passage zu Anfang des letzten Buches, als der Dichter die Figur des Omeros am Strand von St. Lucia antrifft und ihm erzählt, dass er ihn mit seinem Ma‐ nuskript in London gesehen und beobachtet hatte, wie ein Vikar ihn der Kirchentreppen verwies. Omeros antwortet: “That’s because I’m a heathen. They don’t know my age. Even the nightingales have forgotten their names. The goat declines, head down, with these rocks for a stage bare of tragedy. The Aegean’s chimera is a camera, you get my drift, a drifter is the hero of my book.” “I never read it,” I said. “Not all the way through.” The lift of the arching eyebrows paralyzed me like Medusa’s shield, and I turned cold the moment I had said it. (282-3) Die Chimäre der Ägäis ist eine Kamera, und dieses Mischwesen bedroht (wie die Kameras der Touristen, die Philoctetes Seele rauben) die Weiterexistenz der kanonischen Erzählung. Der Dichter in der Karibik braucht diese jedoch gar nicht vollständig zu lesen, denn er kennt sie durch den Drill des kolonialen Bildungswesens. Aus dem Geständnis entspringt eine Chance der Heilung ähnlich Ma Kilmans Heilung von Philoctetes Wunde. Omeros begleitet nun als Seven Seas den Dichter in dessen quest auf den Vulkan Soufrière, den in Anlehnung an Dantes Divina Commedia explizit als Malebolge bezeichneten Kreis der Hölle. Durch den „circle of speculation“ (290) sieht er die Gefahr - allerdings nicht die der Chimären, denn Mischwesen können in der transnational verwobenen Karibik keine Gefahr darstellen, sondern der touristischen Kameras, welche den „postcard archipelago“ (290) in dem Ver‐ such, seine „photogenic poverty“ (311) einzufangen, seiner Seele berauben, was dem Ende jeglicher Lyrik gleichkommt. Der Dichter bekommt den Auftrag „to circle yourself and your island with this art“ (291), denn seine internationalen Reisen sind bedeutungslos für die Repräsentation seiner Insel. So sieht er in einer Grube die Dichter als „Selfish phantoms with eyes / who write with them only, saw only surfaces / in nature and men, and smiled at their similes,/ condemned in their pit to weep at their own pages“ (293). Die Erkenntnis, dass auch seine Lyrik von formalen und stilistischen Eitelkeiten getrieben ist, gibt ihm die Chance, eine andere Dichtung zu entwickeln. Aus Omeros Vorwurf, „You tried to 226 Annika McPherson 31 Etwa die audiovisuelle Installation „Paradise Omeros“ des Londoner Filmemachers und Künstlers Isaac Julien von 2002 (https: / / www.isaacjulien.com/ projects/ paradise-omeros/ ). 32 Derek Walcott. „The Sea is History“. Collected Poems 1948-1984. New York: Farrar, Straus & Giroux, 1984, S. 364-367. render / their lives as you could, but that is never enough“ (294) ergibt sich nach dem ka‐ thartischen Alptraum des Abstiegs in die Hölle die Möglichkeit einer neuen Sprache. Daher kann die fragmentierte Figur des Omeros und die damit verbundene epische Tradition auch als Heimsuchung verstanden werden, die es durch die neue Sprache Achilles, die Sprache des Meeres zu überwinden gilt: „The sea was my privilege“ (295). Wie Philoctetes Wunde der Last seiner Vorfahren muss auch die Wunde des Dichters geheilt werden: […] The ocean had no memory of the wanderings of Gilgamesh, or whose sword severed whose head in the Iliad. It was an epic where every line was erased yet freshly written in sheets of exploding surf in that blind violence with which one crest replaced another with a trench and that heart-heaving sough begun in Guinea to fountain exhaustion here, however one read it, not as our defeat or our victory; it drenched every survivor with blessing. It never altered its metre to suit the age, a wide page without metaphors. Our last resort as much as yours, Omeros. (295-6) Die Geschichte hat Achille, Philoctete und alle anderen Figuren simplifiziert und dadurch unangemessen repräsentiert. Bereits zuvor hat der Dichter „All that Greek manure under the green bananas“ angezweifelt (271). „What I had read and rewritten till literature / was guilty as History“ (271) verweist wiederum auf die Komplizenschaft und so sehnt sich der Dichter nach dem „light beyond metaphor“ (271), das ihm eine angemessene Repräsentation ermöglichen würde. Doch Walcott selbst ist vornehmlich ein Dichter der Metapher, und so stellt auch Omeros letztlich nur einen Versuch dar, die Karibik zu ‚übersetzen‘, der aber nicht gelingen kann, solange nicht die Sprache des Meeres gefunden ist: „When he left the beach the sea was still going on“ (325) ist demnach auch notwendigerweise die Schlusszeile dieses ‚unepischen‘ Epos, welches eine eigene Fortschreibung 31 und Mythenbildung nicht zuletzt durch seine Rezeption als Nationalepos erfahren hat. Ähnlich Walcotts bekanntem Gedicht „The Sea Is History“ hat bei ihm das Meer jedoch das letzte Wort: Where are your monuments, your battles, martyrs? Where is your tribal memory? Sirs, in that grey vault. The sea. The sea has locked them up. The sea is History. 32 227 Derek Walcott: Omeros Literaturverzeichnis Primärliteratur: Walcott, Derek: „The Sea is History“. Collected Poems 1948-1984. New York 1984, 364-367. — : Omeros. New York 1990. — : Omeros. Übers. Konrad Klotz. München und Wien 1995. 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Ich beginne mit der Entstehung von Tschick, die unmittelbar mit der Lebenssituation des Autors verbunden ist, gehe dann auf die Erzählweise des Romans ein und gebe eine kurze inhaltliche Zusammenfassung, greife dann aus der Fülle der intertextuellen und intermedialen Bezüge exemplarisch einige auf, die mein eigenes Leseverständnis erweitert haben, steige anschließend nochmals tiefer, zur Veranschaulichung auch mit vielen Zitaten, in den Text ein, in dem ich ihn - wiederum an ausgewählten Beispielen - als Adoleszenzroman interpretiere, füge dann noch kurz eine Leseweise als Bildungsroman an, um abschließend noch einige Schlaglichter auf die Re‐ zeption von Tschick zu werfen. 1 1. Wolfgang Herrndorf und die Entstehung von Tschick Wolfgang Herrndorf wurde am 12. Juni 1965 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur galt sein Interesse zunächst der Malerei; er begann ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. In einem der wenigen Interviews, die es mit ihm gibt, dem Gespräch, das Kathrin Passig mit ihm 2011 für die FAZ führte, berichtet er, warum er das Studium der Malerei aufgegeben habe: Ich konnte nicht das, was ich wollte. Außerdem war man mit Realismus und Lasurmalerei an einer Kunsthochschule in den Achtzigern nicht wirklich gut aufgehoben. Ich habe am Ende nur noch Comics gemacht. Bei denen wurden dann irgendwann die Bilder immer kleiner und der Text immer größer, und irgendwann gab es überhaupt keine Bilder mehr. Nach dem Abbruch des Kunststudiums zog Herrndorf nach Berlin und verdiente sein Geld als Illustrator, unter anderem für den Haffmanns Verlag und das Satiremagazin Titanic. Daneben begann er mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein Debüt gab er 2002 mit dem Berlin-Roman In Plüschgewittern. Im Frühjahr 2004 entstand bei ihm die Idee, einen Jugendroman zu schreiben. Im Interview mit Kathrin Passig begründet er dies folgender‐ maßen: 2 Passig, Kathrin: Im Gespräch: Wolfgang Herrndorf. Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Frankfurter Allgemeine, 31. 01. 2011. (http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ autoren/ im-ges praech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschick-gemacht-herr-herrndorf-1576165.html). 3 Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur. Berlin 2013, S. 112. Ich habe um 2004 herum die Bücher meiner Kindheit und Jugend wieder gelesen, ‚Herr der Fliegen‘, ‚Huckleberry Finn‘, ‚Arthur Gordon Pym‘, ‚Pik reist nach Amerika‘ und so. Um herauszufinden, ob die wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu sehen, was ich mit zwölf eigentlich für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich habe überlegt, wie man diese drei Dinge in einem halbwegs realistischen Ju‐ gendroman unterbringen könnte. Mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bun‐ desrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anzuheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf zusammen. 2 Er schrieb dann auch schnell 150 Seiten runter, ließ das Manuskript aber liegen. 2007 er‐ schienen sein Erzählband Diesseits-des-Van-Allen-Gürtels und die Erzählung Die Rosen‐ baum-Doktrin. Anfang 2010 wurde bei Herrndorf ein bösartiger Hirntumor, ein Glioblastom, entdeckt. Aussicht auf Heilung gab es nicht und es war ungewiss, welche Lebens‐ erwartung er noch hatte. Vor der vollständigen Verzweiflung rettete ihn nur ‚Arbeit und Struktur‘, wie er zunächst den nur für seinen Freundeskreis offenen, nach sechs Monaten aber auch für die Öffentlichkeit zugänglichen Tagebuch-Blog überschrieb, der seit Ende 2013 auch als Buch vorliegt. Nach der Diagnose stürzte sich Herrndorf ins Schreiben und entfaltete eine ungeheuerliche Produktivität. Er wollte die ihm verbliebene Zeit noch nutzen und gab seine bisherige Skrupulosität beim Schreiben auf. Es wäre einen eigenen Beitrag wert, sich mit dem Band Arbeit und Struktur zu beschäf‐ tigen, der Offenheit und Radikalität, mit der Herrndorf über die Erfahrungen mit seiner Krankheit, den Operationen mit anschließender Chemotherapie und ihren Folgen, seinen zunehmenden Verfall und die damit verbundenen Gefühlslagen schreibt, welchen zentralen Stellenwert Lesen und vor allem Schreiben in diesen verbleibenden Jahren für ihn haben und wie er sich dabei von den Lesern und Leserinnen über die Schulter schauen lässt. Für den Beitrag sind die Stellen in dem Band besonders interessant, in denen sich Herrn‐ dorf mit Tschick beschäftigt. Nach seinem Krankenhausaufenthalt fasst er den Entschluss, seinen Jugendroman zu vollenden: Das Erste, was ich zu Hause mache: Ich öffne die Dateien zum Jugendroman, um zu schauen, ob von da aus gestartet werden kann. Ob der Anfang geht, ob die Sprache geht, ob ich in meinem jetzigen Zustand dem Text überhaupt noch etwas abgewinnen kann. […] Das erste, was ich sehe, ist die Eintragung, wann ich die Idee zu dem Jugendroman hatte: am 1. März 2004. Auf den Tag genau vor sechs Jahren. Ich glaube nicht an Zeichen, aber damit ist klar: Das ist das Projekt. 3 Und er traut sich dessen schnelle Fertigstellung zu: Beim Blick in diese Dateien jetzt zum ersten Mal der Eindruck: Ich kann das, ich habe keine Mühe mehr, mich für einen Ton zu entscheiden, schlimmer als Thor Kunkel [deutscher Schriftsteller, der in seinem Debütroman „Das Schwarzlicht-Terrarium“ eine spezifische künstliche Gossensprache 232 Eva Matthes 4 Herrndorf, Arbeit und Struktur, S. 113. 5 Vgl. ebd., S. 33; S. 49. 6 Ebd., S. 51. 7 Vgl. ebd., S. 52. 8 Vgl. ebd. 9 Ebd., S. 63. 10 Ebd., S. 67 f. verwendete; E. M.] wird es auf keinen Fall. Ich hau das in einem Monat zusammen, wenn’s sein muss. 4 In mehreren Eintragungen berichtet Herrndorf über den Fortgang seines Jugendromans. 5 Parallel zur Arbeit an Tschick liest Herrndorf aktuelle und ältere Jugendliteratur, wobei sein Urteil über die jüngere Jugendliteratur tendenziell negativ ausfällt: C. hat mir einen Stapel Jugendliteratur hingestellt, damit ich sehe, was die Kollegen so treiben, darunter drei Gewinner des Deutschen Jugendbuchpreises. Bis auf ein Buch unternimmt keins die Mühe, eine Geschichte erzählen zu wollen. Sprachlich wirken sie, als wolle ein Kulturpessimist die Ansicht demonstrieren, Jugendliche könnten längere, zusammenhängende Sätze oder Ge‐ danken weder formulieren noch begreifen. 6 Selbst das von ihm noch relativ positiv bewertete Buch Heim von Mirijam Günter hält er sprachlich für problematisch. 7 Als Lieblingsjugendbücher neueren Datums nennt er Holes von Louis Sachar (1998) und Diary of a Wimpy Kid (2004 / 2007). Als eigene faszinierende Jugendlektüre hat er Die Abenteuer des Huckleberry Finn von Mark Twain in Erinnerung; er liest das Buch erneut mit sehr positiven Gefühlen und erinnert sich in diesem Kontext an eine für ihn sehr bedeutsame Jungenfreundschaft. 8 Hier sind Grundlagen für Tschick gelegt. Die Beteiligung seiner Blog-Leser und Leserinnen an Tschick kann auch so aussehen: Tagebucheintrag vom 1. 6. 2010: Müdigkeit weg. Und hey, ich kann auch drei Kapitel am Tag. Das wollen wir doch erst mal sehen, ob sie beim Deutschen Jugendbuchpreis ein rasend schnell zusammengeschissenes Manuskript von einem durchredigierten unterscheiden können. 9 Während der Fertigstellung des Manuskripts bekommt er mittelmäßige bis negative Rück‐ meldungen; die oben ausgedrückte, fast trotzige Zuversicht weicht immer wieder Zweifeln. So lesen wir am 29. Juni 2010: Elinor hat das Manuskript gelesen und ist enttäuscht. Ihr gefällt die Handlung nicht, die unglaub‐ würdige Action, sie hätte lieber wieder den vor sich hin reflektierenden Erzähler der ‚Plüschge‐ witter‘. Abends kommen mir so starke Zweifel an dem Buch, dass ich mich frage, ob der Vertrag mit Rowohlt auf regulärem Wege zustande gekommen ist oder Helfer ihre Finger im Spiel gehabt haben. Ich frage mich das ernsthaft. 10 Die Zweifel verstärken sich bei der Korrektur der Fahnen: Mitten in der Nacht springe ich aus dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer [sic! ], Kracht, Knowles aus dem Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei mir? Erinnere mich, wie ich im März in den ersten warmen Nächten am offenen Fenster 233 Wolfgang Herrndorf: Tschick 11 Ebd., S. 71. 12 Ebd., S. 182. saß, arbeitete und dachte, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Und das war es vielleicht auch. Aber es hat sich im Roman nicht abgebildet. Stilistisch fragwürdige Pennälerprosa mit Allerweltsein‐ fällen, als Ganzes strukturlos […] Was mich dagegen sofort wieder reißt: ‚Unterm Rad‘ 11 , also die Erzählung Hermann Hesses aus dem Jahr 1906 über den Knaben Hans Giebenrath, der an dem ihm gegenüber ausgeübten Leistungsdruck zerbricht. Herrndorfs Buch wird bei Rowohlt publiziert - und in kürzester Zeit zum Überra‐ schungserfolg des Jahres 2010. Am 15. Januar 2011 schreibt Herrndorf in seinem Blog: Gerade werden die Filmrechte [von Tschick; E. M.] verhandelt. Und das ist dann vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum herum‐ gekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre. 12 Herrndorf veröffentlicht 2011 noch den fast 500 Seiten umfassenden Roman Sand als nihi‐ listischen Gegenentwurf zu Tschick. Als seine tödliche Erkrankung immer weiter fortschreitet, nimmt er sich am 26. August 2013 in Berlin das Leben. Von Marcus Gärtner und Kathrin Passig wird - dem Willen von Herrndorf entspre‐ chend - 2014 posthum sein unvollendeter Roman Bilder deiner großen Liebe veröffentlicht, der die Geschichte der in Tschick geheimnisvoll bleibenden Nebenfigur Isa Schmidt mit ihr als Ich-Erzählerin in Form einer Road-Novel zu Fuß erzählt. 2. Die Erzählweise und der Inhalt von Tschick Der vierzehnjährige Maik Klingenberg ist der personale Ich-Erzähler des Romans. Alles, was erzählt wird, gibt seine Perspektive wieder. Es sind seine - in seiner Sprache ausge‐ drückten - Eindrücke und Erfahrungen und seine Erinnerungen, auch die vielen wieder‐ gegebenen Dialoge, die manchmal skurril, häufig komisch und anrührend zugleich sind. Der Erzählduktus ist allerdings so, dass der Eindruck entsteht, dass erzählte und erlebte Zeit einen hohen Authentizitätsgrad aufweisen, die Leser und Leserinnen fühlen sich mitten ins Geschehen versetzt. Allerdings erfahren wir selbst über die titelgebende Figur des Ro‐ mans Tschick wie auch über alle anderen Personen nur etwas aus der Wahrnehmung und dem Verständnishorizont von Maik, eines Vierzehnjährigen. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, der Hintergründe aufklärt. Die ersten vier Kapitel werden im Präsens erzählt, der Roman beginnt auf der Polizeistation, auf der Maik nach dem schweren Unfall mit einem Schweinelaster verletzt, voll Schweineblut und mit voll urinierter Hose gelandet ist, in Kap. 3 u. 4 beschreibt Maik seinen Krankenhausaufenthalt mit seinen Erfahrungen mit der aus dem Libanon kommenden Krankenschwester Hanna und dem für ihn zuständigen Arzt, der unbedingt verstehen möchte, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Die Kapitel 5-19 stellen einen Rückblick auf Kindheits- und Schulereignisse dar, wobei die Leser und Leser‐ innen zum einen einen Einblick in die so überhaupt nicht heile Welt seines noch reichen Elternhauses - einer Villa mit Swimmingpool und Hausangestellten - bekommen - sein 234 Eva Matthes 13 Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf folgende Ausgabe: Herrndorf, Wolfgang: Tschick. Reinbek bei Hamburg, 26. Aufl. Nov. 2013. Vater ist ein vor dem Bankrott stehender Immobilienmakler und seine Mutter schwere Alkoholikerin, die regelmäßig auf Entzug - in die „Beautyfarm“, wie sie es nennt, - muss, und der Vater betrügt die Mutter regelmäßig mit seinen Assistentinnen. Zum zweiten er‐ zählt Maik über seine Außenseiterposition in der Klasse - zunächst wird er als „Psycho“ tituliert, weil er in einem Aufsatz, den er in Teilen in der Klasse vorgelesen hat, wie er es von ihr gelernt hat offen und ungeschönt über das Alkoholproblem seiner Mutter und ihre skurrilen Erfahrungen in der Beautyfarm berichtet; ein Schülerneuling, Angeber und Mäd‐ chenschwarm, verpasst ihm allerdings das Etikett „Langweiler“, das er sich auch selbst zu eigen macht. Im Zentrum seiner Rückblende stehen sein unerwidertes Verliebtsein in seine Klassenkameradin Tatjana und das Auftauchen des neuen, aus Russland stammenden Schülers, Andrej Tschichatschoff, genannt Tschick, der wegen seines fremden, ‚mongoli‐ schen‘ Aussehens, seiner abgerissenen Kleidung und seines ungewöhnlichen Verhaltens ebenso eine Außenseiterposition in der Klasse innehat. Ab Kap. 12 beschreibt Maik seine zunächst ablehnende Haltung gegenüber den Bemühungen Tschicks um Kontaktaufnahme, ihre langsame Annäherung zu Beginn der Sommerferien, die Maik 14 Tage ohne Eltern verbringen muss, da seine Mutter wieder in der Entzugsklinik ist und sein Vater mit seiner Assistentin auf eine ‚Geschäftsreise‘ aufbricht. Beide sind nicht zu Tatjanas Geburtstags‐ feier eingeladen, was für Maik die größtmögliche Katastrophe darstellt. Tschick taucht mit gestohlenem Lada bei Maik auf; er nimmt Anteil an Maiks Liebeskummer und überredet ihn, Maiks extra für Tatjana angefertigte Bleistiftzeichnung von Beyoncé mit dem Lada auf der Party vorbeizubringen. Im Kap. 18 erzählt Maik, wie es zu ihren Reiseplänen mit dem Lada in die Walachei kommt; in den Kap. 19-44 erfahren die Leser und Leserinnen von Maik die Erlebnisse ihrer einwöchigen Reise durch Brandenburg, abenteuerliche Fluchten, die Begegnungen mit skurrilen, häufig aber sehr hilfsbereiten Menschen, die Entdeckung außergewöhnlicher Landschaften, eindrucksvolle Naturerfahrungen, die sich festigende Freundschaftsbeziehung zwischen ihm und Tschick, die Begegnung mit Isa, die sie auf einer Müllhalde kennenlernen, als sie nach Schläuchen suchen, um an einer Tankstelle Benzin für ihren Lada klauen zu können - alles in einer schnoddrigen, direkten, teilweise ordinären Sprache erzählt, immer wieder aber auch mit einer zweiten Tonspur von romantisch an‐ mutender, anrührender Gefühlsintensität. Einen ersten Unfall mit dem Lada überstehen sie noch dank der unkonventionellen Hilfe von Personen, auf die sie dabei treffen, der zweite Unfall mit einem Schweinetransporter führt zum Ende der Reise; Maik und Tschick landen auf der Polizeistation. Das Kap. 44 endet mit dem Satz „Und den Rest habe ich ja schon erzählt“ (226) 13 . In Kap. 45-49 erzählt Maik wiederum als Rückblende von seinem Konflikt mit seinem Vater wegen der bevorstehenden Gerichtsverhandlung - dieser möchte, dass Maik Tschick die Schuld zuschiebt, um gut wegzukommen - sowie von der Gerichtsver‐ handlung selbst mit dem Ergebnis, dass Maik Sozialstunden ableisten und Tschick wieder zurück ins Heim muss, in das er bereits nach dem Unfall gesteckt wurde. Maik berichtet stolz und glücklich von seiner veränderten Stellung in der Klasse, von der Beachtung, die ihm Tatjana nun endlich schenkt und von dem Liebesbrief, den er von Isa erhält. Der Roman endet mit einer Szene, die Maik in einer immer vorhanden gewesenen, nun auf eine be‐ 235 Wolfgang Herrndorf: Tschick sondere Weise reaktualisierten emotionalen Nähe mit seiner - erneut betrunkenen - Mutter zeigt, sie schließlich gemeinsam Gegenstände aus der Villa in ihren Pool werfen, sich damit von der Welt des Vaters loslösen und - als von den Nachbarn gerufene Polizisten auftau‐ chen - sie beide in den Pool springen und untertauchen lässt. Maik hat hierbei Glücksge‐ fühle: Ich dachte, dass ich das alles ohne Tschick nicht erlebt hätte in diesem Sommer und dass es ein toller Sommer war, der beste Sommer von allen und an all das dachte ich, während wir da die Luft anhielten (252 f.). 3. Intertextuelle und intermediale Bezüge in Tschick - ausgewählte Beispiele Herrndorf war ein umfassend belesener Mensch, wie in Arbeit und Struktur immer wieder zu Tage tritt, er hat sich für seinen Roman vielfältig aus der Weltliteratur inspirieren lassen. Er ist zudem ein genauer Beobachter seiner Zeit, nicht zuletzt auch in Bezug auf mediale Entwicklungen und mediale Vorlieben Jugendlicher. Die Geschichte und nicht zuletzt die den Jungen, aber auch anderen Personen im Roman in den Mund gelegten Dialoge sind so voll von Anspielungen und Referenzen, dass es un‐ möglich wäre, diese hier alle darzustellen. Leser und Leserinnen werden sicher auch nur einen Teil der Bezüge und - auch je nach Lebensalter - wohl auch unterschiedliche Bezüge wahrnehmen und vor allem verstehen / einordnen können. Manches wird schlicht über‐ lesen werden - was der Wirkung der Geschichte keinen Abbruch tut. Die Geschichte mit der von ihr ausgehenden Stimmung zieht wohl nahezu alle Leser und Leserinnen unter‐ schiedlicher Altersgruppen in ihren Bann. Allerdings kann das Leseverständnis, manchmal auch das Lesevergnügen, an der ein oder anderen Stelle durch die Aufklärung der Bezüge noch erweitert werden. Hiervon ist subjektiv auch meine folgende Auswahl bestimmt. Dem Roman ist folgendes Motto aus Herrndorfs Lieblingsfilm Welcome to the Dollhouse von Todd Solondz aus dem Jahr 1995 vorangestellt: „Dawn Wiener: I was fighting back: Mrs. Wiener: Who ever told you to fight back? “ Hier geht es um die Außenseiterin Dawn Wiener in einer von Doppelmoral gekennzeichneten amerikanischen Vorzeigefamilie, die auch in der Schule geächtet und drangsaliert wird, sich aber damit nicht abfinden möchte, obwohl ihr vom Elternhaus aus kein Widerstandsgeist gegen Ungerechtigkeit vermittelt wurde - hierdurch erfolgt bereits eine erste Einordnung seines eigenen Romans durch den Autor. Das schon mehrfach gelesene Lieblingsbuch von Maik ist der Seeteufel von Graf von Luckner, von Maik als Graf Luckner bezeichnet, in dem dieser seine Abenteuer und Erfolge als Schiffskommandant im Ersten Weltkrieg beschreibt. Maik begründet seine Vorliebe für dieses Buch folgendermaßen: Graf Luckner ist Pirat im Ersten Weltkrieg und versenkt einen Engländer nach dem anderen. Und zwar gentlemanlike. Das heißt, er bringt die nicht um. Er versenkt nur ihre Schiffe und rettet alle Passagiere (79). Am besten gefällt Maik allerdings die Beschreibung von Luckner als 15-jähriger in Aus- 236 Eva Matthes tralien als Leuchtturmwärter und Kängurujäger, der dorthin mit dem Schiff ausgerissen ist (ebd.). Hier wird das Motiv des In-eine-andere-Welt-Verschwindens und Dort-span‐ nende-Abenteuer-Erleben-Wollens schon vorweggenommen. Interessant ist noch Maiks Aussage: „Und das Buch ist nicht erfunden, das hat er wirklich erlebt“ (ebd.). Hier ist min‐ destens eine zweifache Assoziation möglich. Zum einen: Die Erzählungen von Graf Luckner sind gerade dafür bekannt, dass er es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, der 14-jährige ist jedoch gerade wegen ihrer angeblichen Authentizität von den Geschichten begeistert; zum anderen: Maik selbst tritt als Erzähler einer Geschichte auf, die er wirklich erlebt hat und deren Echtheitsanspruch er damit indirekt unterstreicht. Viele intertextuelle (und intermediale) Bezüge finden sich in Dialogen zwischen Maik und Tschick. Über den Versuch zu verstehen, was ein Kreiselkompass ist, kommen sie auf Bücher zu sprechen. Es entspinnt sich, nachdem Maik behauptet, dass in einem Kreisel‐ kompass Alkohol drin sei, folgender Dialog zwischen Maik und Tschick: ‚Das weiß ich aus einem Buch, wo die auf dem Schiff kentern, und dann bricht ein Matrose den Kompass auf, weil er Alkoholiker ist, woraufhin sie komplett die Orientierung verlieren‘. [Tschick] ‚Hört sich nicht gerade wie ein Fachbuch an.‘ [Maik: ] Stimmt aber. Das Buch hieß, glaube ich, Der Seebär. Oder Der Seewolf.‘ [Tschick: ] ‚Du meinst Steppenwolf. Da geht es auch um Drogen. So was liest mein Bruder.‘ [Maik: ] ‚Steppenwolf ist zufällig eine Band‘ (109). Maik bezieht sich auf den 1904 erschienenen Bestsellerroman Der Seewolf von Jack London. Tschick hat von dem Buch noch nie gehört, assoziiert aber einen anderen Buchtitel Der Steppenwolf, den sein Bruder gelesen habe und in dem es auch um Drogen gehe. Mit diesem kann wiederum Maik nichts anfangen. Hermann Hesse und sein Kultbuch Der Steppenwolf aus dem Jahr 1927 sind also Maik (und letztlich auch Tschick) kein Begriff. Das kultur- und gesellschaftskritische Werk Der Steppenwolf, in dem über Harry Haller erzählt wird, der innerhalb von zehn Monaten seine tiefe Depression und seinen Gesellschaftsekel mit Hilfe neuer Freunde und Freundinnen und vieler neuer Erfahrungen - unter anderem unter dem Einfluss von Drogen - überwindet, wurde in den 1960er Jahren zum Kultbuch der Hippie-Bewegung. Mit dem Begriff Steppenwolf verbindet Maik nur den Namen einer Hardrock-Band der 1960er und 1970er Jahre. Musik-, Computersowie Film- und Fernsehwelten dominieren generell die Freizeitwelt von Maik und Tschick. Maik hört die Rock- und Punkband White Stripes und fantasiert sich in direkte Begegnungen mit dem Gründer der Band Jack White und der Schlagzeugerin Meg White hinein (79; 81) - die im lädierten Lada einzig vorzufindende Kassette mit der 1976 von Richard Clayderman komponierten romantischen Ballade pour Adeline stellt hierzu ein absolutes Kontrastprogramm dar - einerseits, korrespondiert andererseits auch mit sich einstellenden romantischen Stimmungslagen Maiks. Eine ganz besondere Stelle im Buch stellt die gemeinsame Gewittererfahrung von Maik und Tschick dar. Der Erzähler beschreibt das so: Minutenlang schauten wir einfach nur. Kleinere, hellere Wolken flogen unter den schwarzen hin‐ durch. Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu (111). 237 Wolfgang Herrndorf: Tschick „‚Independence Day‘, sagte Tschick“ (ebd.) - nicht der Erlebnisdichter Klopstock ist die Assoziation des Jungen, der Science-Fiction-Film von Roland Emmerich von 1996 über einen Angriff Außerirdischer auf die Welt fällt ihm in diesem Augenblick ein. Ähnliches wiederholt sich bei einem gemeinsamen Blick in die Sterne, den sie beide mit „Wahnsinn“ (120) charakterisieren. Tschick sagt: „‚Das ist noch viel besser als Fernsehen‘“ (ebd.). Fügt aber dann sofort hinzu - die mediale Welt ist eben sehr präsent, auch wenn beide ihr Handy, um nicht geortet werden zu können, zu Hause zurückgelassen haben - „‚Obwohl Fernsehen auch gut ist. Kennst du Krieg der Welten? ‘“ (ebd.) - gemeint ist hier die von 1988 bis 1990 im US -amerikanischen Fernsehen ausgestrahlte Serie War of the Worlds; weiter fragt er nach Starship Troopers, einen satirisch gegen Faschismus und Mili‐ tarismus gerichteten Film aus dem Jahr 1997 von Paul Verhoeven über einen faschistischen Staat der Zukunft, der gegen Aliens kämpft, um die sich der Dialog der Jungen dann dreht und die sie zum Anlass nehmen, um über die Möglichkeit von Lebewesen außerhalb der Erde zu philosophieren. Dann packt sie wieder die Naturerfahrung, der bestirnte Nacht‐ himmel, sie stammeln „‚Wahnsinn‘“ und „‚Mich reißt’s gerade voll‘“ (121) - und dann meldet sich aber zugleich wieder das medialisierte Bewusstsein, wenn Maik sagt: ‚Und kannst du dir das vorstellen: Die Insekten [auf den Sternen; E. M.] haben natürlich auch ein Insektenkino! Die drehen Filme auf ihrem Planeten, und irgendwo im Insektenkino schauen sie sich gerade einen Film an, der auf der Erde spielt und von zwei Jungen handelt, die ein Auto klauen‘ (ebd.). Sie fabulieren darüber noch eine Weile weiter; am Ende dieser Episode schauen sie noch‐ mals in den Sternenhimmel, schauen sich wechselseitig in die Augen und bestätigen sich, dass das alles „Wahnsinn“ (122) sei. Der letzte Satz dieses Kapitels lautet: „Und die Grillen zirpten die ganze Nacht“ (ebd.). 4. Tschick als Adoleszenzroman Der Roman kann auf verschiedene Art und Weise gelesen werden. Er lässt sich sicher nicht nur in ein bestimmtes Genre einordnen und damit definitiv bestimmen. Eine sehr nahelie‐ gende Herangehensweise scheint mir allerdings zu sein, Tschick als Adoleszenzroman zu lesen. Dieser beschäftigt sich mit Protagonisten und Protagonistinnen zwischen 11 / 12 und 20 Jahren und beschreibt deren Auseinandersetzung mit dem Prozess des Erwachsenwer‐ dens. Thematisiert werden zentrale Entwicklungsaufgaben des Jugendalters: der Umbau der sozialen Beziehungen - Loslösung vom Elternhaus, Gestaltung von Peer-Beziehungen und Freundschaften, die Akzeptanz des eigenen Körpers, der Umgang mit Sexualität, die Reflexion existenzieller Fragen sowie - all dieses bündelnd - die Entwicklung einer eigenen Identität. Die Verarbeitung einiger dieser adoleszenten Herausforderungen im Roman soll exemplarisch beschrieben werden. 4. 1. Peer-Beziehungen und Freundschaft in Tschick Freundschaft ist ein Thema, das sich durch den ganzen Roman hindurchzieht. Maik Klin‐ genberg ist in seiner Klasse Außenseiter, er tut sich schwer mit Freundschaften, er gilt als Langweiler, die Peers interessieren sich nicht für ihn. Er sagt von sich selbst: „Es kann sein, 238 Eva Matthes dass man langweilig ist und keine Freunde hat. Und ich fürchte, das ist mein Problem“ (21). Maik hatte zwar einen Freund „seit dem Kindergarten“ (ebd.), der aber aus Berlin wegzog, als Maik aufs Gymnasium kam. Die beiden haben sich dann nur noch ganz selten gesehen und auch immer weniger verstanden und keine gemeinsamen Interessen mehr gehabt, so dass die Freundschaft sich dann auflöste. Im Gymnasium läuft es also schlecht für Maik, er ist isoliert, die ersehnte Beachtung und Wertschätzung durch die Mitschüler und Mitschü‐ lerinnen bleibt aus. Dann kommt Tschick in die Klasse. Maik betont, dass er ihn „von Anfang an nicht leiden“ (41) konnte - wie die anderen auch. Er ist voller Vorurteile gegenüber Tschick, gleichzeitig zeigt er doch ein gewisses Interesse ihm gegenüber; Tschick beschäf‐ tigt ihn. Am letzten Schultag vor den Sommerferien, nach der Zeugnisvergabe, spricht der sonst immer ganz auf Abstand agierende Tschick Maik an, indem er seine Jacke lobt. „‘Übertrieben geile Jacke […] Kauf ich dir ab. Die Jacke. Bleib mal stehen‘“ (61). Maik bleibt nicht stehen, aber Tschick läuft ihm hinterher und ruft: „‚Wo gibt’s denn die? Hey, halt doch mal an! Wo läufst du hin? ‘“ (62). Tschick sucht offensichtlich Kontakt zu Maik, dieser glaubt aber zunächst, dass Tschick ihm die Jacke gegebenenfalls auch gewaltsam abnehmen möchte; als er bemerkt, dass das nicht der Fall ist, wird er nur noch unfreundlicher Tschick gegenüber. Auf die Frage, was er jetzt mache, antwortet Maik „‚Geht dich einen Scheiß an‘“ (63). Tschick gibt jedoch trotz der Abweisung nicht auf. Just in dem Moment, als der älteste Sohn der Nachbarn Maik mit der Grillzange zuwinkt und Maik schnell wegschaut, „weil er ein Riesenarschloch ist wie alle unsere Nachbarn“ (75), kommt Tschick auf einem alten, lädierten Fahrrad angerollt. Maik erzählt im Rückblick: „Das war nach meinem Vater jetzt so ungefähr die letzte Person, der ich begegnen wollte.“ Wobei er mit einer gewissen Rela‐ tivierung der Aussage hinzufügt: „Wobei außer Tatjana jetzt im Grunde jeder die letzte Person war, der ich begegnen wollte“ (76). Aber Maik ist klar, das zeigt ihm „der Ausdruck auf dem Mongolengesicht“, dass „das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte“ (ebd.). Tschick sieht Flickzeug und beginnt sein Fahrrad zu reparieren, Maik zieht sich in sein Zimmer zurück. Tschick verschwindet nicht wieder, wie von Maik erhofft, sondern schaut sich im Garten den Swimmingpool an; Maik gesellt sich zu ihm, sie reden ein wenig und schließlich landen sie vor der Play Station und spielen das Computerspiel Grand Theft Auto, das für Tschick neu ist. Im Gespräch erfahren sie voneinander, dass sie beide nicht auf der Party von Tatjana eingeladen sind. Als Tschick kurz vor Mitternacht nach Hause fährt, erinnert Maik seine Gefühlslage so, dass das „Beste an diesem Tag“ gewesen sei, „dass er endlich zu Ende war“ (78). Am nächsten Tag taucht Tschick dann mit einem geklauten klapprigen Lada Niva auf und animiert Maik dazu, mit ihm eine Runde um den Block zu fahren. Dieser sträubt sich erst, ist dann aber doch dabei. Maik offenbart Tschick, dass er in Tatjana verliebt ist und zeigt ihm die Beyoncé-Zeichnung, die er für sie angefertigt, zerrissen und dann mit Tesafilm wieder zusammengeklebt hat. Tschick kommentiert: „‚Du hast ja Gefühle‘“ (87). Maik er‐ zählt: Er sagte das im Ernst, ohne jeden Scheiß. Das fand ich reichlich merkwürdig. Und es war das erste Mal, dass ich dachte: Der ist ja wirklich gar nicht so doof. Tschick hatte diesen Riss gesehen und sofort gemerkt, was los war. Ich glaube, ich kenn nicht viele Leute, die das sofort gemerkt hätten. Tschick schaute mich ganz ernst an, und das mochte ich an ihm. Er konnte ziemlich komisch sein. Aber wenn’s darauf ankommt, war er eben auch nicht komisch, sondern ernst (88). 239 Wolfgang Herrndorf: Tschick Maik beginnt nun also, positive Gefühle Tschick gegenüber zu entwickeln, die Freundschaft bahnt sich an. Auf den Vorschlag von Tschick hin bringen die beiden Jungs Tatjana auf ihrer Party, zu der sie beide nicht eingeladen sind, die Beyoncé-Zeichnung mit dem Lada vorbei. Den nächsten Tag verbringen sie wieder zusammen, sie spielen das Computerspiel Doom und baden im Pool. Es folgen wunderbare Dialoge zur Herkunft von Tschick, die schließlich in gemeinsamen Reiseplänen in die Walachei enden. Sie genießen beide die Freiheit der Fahrt, erleben gemeinsam romantische Naturereignisse, tauschen sich über existentielle Fragen aus und meistern gemeinsam skurrile oder auch gefährliche Situationen. Maik kann es nach einer erzwungenen Trennung gar nicht erwarten, Tschick wiederzusehen; als Treffpunkt geplant ist eine Aussichtsplattform. Maik erzählt: „Ich saß bis zum Abend glücklich auf der Aussichtsplattform, und dann unglücklich und immer unglücklicher. Tschick kam nicht.“ (142). Schließlich bemerkt er ihn doch. „Ich umarmte Tschick, und dann boxte ich ihn, und dann umarmte ich ihn wieder. Ich konnte mich überhaupt nicht beru‐ higen“ (142). Die Freundschaft zwischen den beiden bewährt sich im Besonderen, als Maiks Vater möchte, dass Maik alle Schuld auf ihre Fahrt mit dem geklauten Auto auf Tschick schiebt. Maik verweigert das, auch, als der Vater behauptet: Und der [Tschick] wird morgen [bei der Gerichtsverhandlung; E. M.] versuchen, um jeden Preis seine Haut zu retten - ist dir das klar? Der hat seine Aussage schon gemacht. Der gibt dir die ganze Schuld. Das ist immer so, da gibt jeder Idiot dem anderen die Schuld (229). Sein Vater schlägt Maik auf die andauernde Weigerung hin brutal zusammen. Im Bett liegend, denkt Maik an Tschick: Und ich freute mich darauf, Tschick wiederzusehen. Das war das Einzige, worauf ich mich freute. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen seit unserem Unfall auf der Autobahn, und das war jetzt schon vier Wochen her. Ich wusste, dass sie ihn in ein Heim gebracht hatten, aber es war ein Heim, wo man erst mal keinen Kontakt haben durfte, nicht mal Briefe bekam man da (231). Bei der Gerichtsverhandlung fallen sich Maik und Tschick in die Arme. Maik betont, dass die Reise mit dem gestohlenen Lada ihrer beider Idee gewesen sei. Tschick unterbricht immer wieder, er will alle Schuld auf sich nehmen und Maik entlasten. Ihre Freundschaft hält, sie bewährt sich gerade in herausfordernden Situationen, sie stehen füreinander ein. 4. 2. Der Umgang mit Sexualität Maik beschreibt, wie sein Interesse an Mädchen begann: Ich bin nicht wahnsinnig gut im Kennenlernen. Und das war auch nie das ganz große Problem für mich. Bis Tatjana Cosic kam. Oder bis ich sie bemerkte. Denn natürlich war Tatjana schon immer in meiner Klasse. Aber bemerkt hab ich sie erst in der Siebten. Warum, weiß ich nicht. Aber in der Siebten hatte ich sie auf einmal voll auf dem Schirm, da fing das ganze Elend an (23). Er räumt ein, dass er nichts über Tatjana weiß, was nicht alle anderen auch wissen. Ent‐ scheidend ist für ihn: „Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach ins‐ gesamt super. So kann man sich das vorstellen“ (ebd.). Doch Tatjana beachtet Maik nicht. Er ist sehr eifersüchtig auf den neuen angeberischen Klassenkameraden André, der schnell zum Mädchenschwarm wird und ständig wechselnde Freundinnen hat. Maik erzählt: 240 Eva Matthes Auch an Tatjana hat er mal kurz rumgegraben, da wurde mir wirklich anders. Ein paar Tage haben die beiden dauernd miteinander geredet, und kurz danach habe ich gehört, wie André Patrick erklärt hat, warum Männer und Frauen nicht zusammenpassen, wahnsinnig wissenschaftliche Theorien über die Steinzeit, über Säbelzahntiger und Kinderkriegen und alles. Und auch dafür habe ich ihn gehasst (33). Besonders schmerzt Maik, dass Tatjana - wie auch die anderen Mädchen - seine Spitzen‐ leistung im Hochsprung nicht beachtet, ihn einfach ignoriert. Resigniert spricht er vom „Scheißmädchenthema“ (40). Sein Frust steigert sich zum Höhepunkt, als er nicht zu Tat‐ janas Geburtstagsparty in den Sommerferien, die seit Wochen Klassengespräch ist, einge‐ laden wird. Doch das erfährt er nicht sofort, zunächst geht er von einer Einladung aus. Er überlegt fieberhaft, was er Tatjana schenken könnte. Er weiß, dass Tatjana Beyoncé mag; Maik hierzu: Was ich erst mal ein bisschen problematisch fand, weil ich Beyoncé scheiße fand, jedenfalls die Musik. Aber immerhin sah sie phantastisch aus, sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Tat‐ jana, und deshalb fand ich Beyoncé dann irgendwann auch nicht mehr ganz so scheiße. Im Ge‐ genteil, ich fing an, Beyoncé zu mögen, und auch ihre Musik mochte ich auf einmal. Nein, das stimmt nicht. Ich fand die Musik super. Ich hatte mir die letzten zwei CDs gekauft und hörte sie in Endlosschleife, während ich an Tatjana dachte und daran, mit was für einem Geschenk ich auf dieser Party auflaufen wollte (58). Er denkt sich dann eine Beyoncé-Bleistiftzeichnung für Tatjana aus und arbeitet wochen‐ lang jeden Tag an dieser Zeichnung. Am letzten Schultag merkt er dann, dass er nicht zur Party eingeladen ist. Er interpretiert das so: Die größten Langeweiler und Asis waren nicht eingeladen, Russen, Nazis und Idioten. Und ich musste nicht lange überlegen, was ich in Tatjanas Augen wahrscheinlich war. Weil, ich war ja weder Russe noch Nazi (60 f.). Er hofft bis zur letzten Schulstunde und bis nach der Zeugnisverleihung noch, dass alles ein Irrtum ist, aber vergebens - in dieser schlechtesten Stimmung wird er dann am Heimweg unter Hinweis auf seine tolle Jacke von Tschick angequatscht. Wie bereits be‐ schrieben, ergibt sich in den nächsten Tagen eine Annäherung zwischen Maik und Tschick; Maik vertraut Tschick schließlich sein Verliebtsein in Tatjana an und dieser überredet ihn, ihr doch noch sein Geschenk zu überbringen - mit dem gestohlenen Lada, also mit der größtmöglichen Auffälligkeit. Wie neben sich, völlig aufgeregt und eher stammelnd über‐ reicht Maik Tatjana seine Zeichnung - und ist dann sehr stolz auf sich, das geschafft zu haben. Durch die Reise, zu der Tschick und Maik mit dem gestohlenen Lada aufbrechen, gerät Tatjana aus dem Blick; auf der Reise, auf einer Müllhalde, tritt dann ein anderes gleichalt‐ riges Mädchen in Maiks Leben. Es ist Isa, die sich ihnen - zunächst sehr zum Unwillen Tschicks - eine Weile anschließt. Maik entwickelt emotional-sexuelle Gefühle gegenüber dem Mädchen. Er beobachtet Isa beim Brombeerpflücken: Ich hielt eine Ranke mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig von mir weg und schaute zwischen den Blättern durch auf das Mädchen, das da singend und summend und Brombeeren kauend im 241 Wolfgang Herrndorf: Tschick Gebüsch stand. Dazu dann noch der Brombeergeschmack in meinem eigenen Mund und die oran‐ gerote Dämmerung über den Baumkronen und im Hintergrund immer das Rauschen der Auto‐ bahn - mir wurde ganz seltsam zumute (158). Maik versucht Tschick in seinen Beschimpfungen von Isa zu mäßigen, der sie als „stinkende Asi“ bezeichnet (ebd.). Nachdem ihnen Isa geholfen hat, ihren Lada mit geklautem Benzin aufzutanken, nehmen sie sie mit, sie kommen an einen See, Tschick wirft erst Isa und dann Maik ins Wasser, Tschick kommt dann in Badehose hinterher. Isa hat ein sehr offenes Ver‐ hältnis zu ihrem Körper und zum Nacktsein, worüber Maik sehr erstaunt ist: Als wir an Land kamen, zog Isa sofort Shirt und Hose und alles aus und fing an, sich einzuseifen. Das war ungefähr das Letzte, womit ich gerechnet hatte […] Ich guckte mal hier-, mal dahin. Sie hatte eine wirklich tolle Figur und eine Gänsehaut. Ich hatte auch eine Gänsehaut (167). Am nächsten Morgen, als Tschick unterwegs ins Dorf ist, um Lebensmittel zu besorgen, möchte Isa, dass Maik ihr ihre verlausten Haare abschneidet. Sie zieht hierfür ihr T-Shirt aus. Maik erzählt: Also fing ich an. Anfangs versuchte ich, Isas Kopf nicht dauernd mit der Hand zu berühren, aber es ist schwer, jemandem mit einer so winzigen Schere einen Skinhead zu verpassen, ohne sich abzustützen. Und noch schwieriger ist es, nicht dauernd auf eine nackte Brust zu gucken, die gerade so vor einem hängt (169). Nach dem Haareschneiden flüstert Maik Isa tonlos zu: „‚Du siehst super aus‘“ (170). Sie sitzen nun zusammen, Isa hat ihr T-Shirt weiterhin ausgezogen, sie schauen auf im Mor‐ gennebel liegende Berge, Maik hat intensive romantische Gefühle - da bricht Isa mit der Frage rein „‚Hast du schon mal gefickt? ‘“ (171). Maik tut so, als ob er die Frage nicht ver‐ standen hätte, aber sie lässt nicht locker; dabei hat sie ihre Hand auf sein Knie gelegt. Er beantwortet die Frage mit nein, und sie schiebt nach, ob er mit ihr schlafen möchte, er lehnt das ab. Maik beschreibt seine Gefühlslage: „Meine Stimme war ganz hoch und fiepsig. Nach einer Weile nahm Isa ihre Hand wieder weg, und wir schwiegen mindestens zehn Minuten“ (ebd.). In Maiks Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander, schließlich kommt er zum Er‐ gebnis: […] tatsächlich wollte ich gar nicht mit ihr schlafen. Ich fand Isa zwar toll und immer toller, aber ich fand es eigentlich auch vollkommen ausreichend, in diesem Nebelmorgen mit ihr dazusitzen und ihre Hand auf meinem Knie zu haben, und es war wahnsinnig deprimierend, dass sie die Hand jetzt wieder weggenommen hatte (172). Er nimmt allen Mut zusammen und sagt Isa, dass er ihre Hand auf seinem Knie schön fand; er ist dabei unheimlich aufgeregt, eben wie ein 14-jähriger ohne sexuelle Erfahrung und mit viel Gefühl, er steht in der Knospe seines sexuellen Erwachens; Isa, die bereits viel abgebrühter ist, wundert sich wohl ein wenig über Maik und seine Ängstlichkeit - er zit‐ tert -, schlägt ihm dann aber schließlich vor: „‚Wir könnten ja auch erst mal küssen. Wenn Du magst‘“ (ebd.). In diesem Moment kommt allerdings Tschick zurück und die Szene endet - es ist eine meiner Lieblingsszenen in dem Roman. Auch die Darstellung von Tschicks Homosexualität gehört m. E. zu den Glanzstücken des Romans. Tschick ist sich seiner sexuellen Neigung wohl bewusst, traut sich aber zu‐ 242 Eva Matthes nächst nicht, sich dazu offen zu bekennen. Ganz im Gegenteil: Er operiert mit den unter den 14-Jährigen gängigen negativ konnotierten Begriffen und grenzt sich von Homosexu‐ ellen ab. So, wenn Maik zunächst so tut, als würde er überhaupt nicht zur Party von Tatjana wollen und jene als langweilig etikettiert. Tschicks Antwort lautet. „‚Ja, für Schwule viel‐ leicht. Aber für Leute wie mich, die noch im Saft stehen, ist diese Party ein must‘“ (77). Am nächsten Tag begrüßt Tschick Maik mit den Worten: „‚Du siehst aus wie’n Schwuler, den sie über Nacht den Garten vollgekackt haben‘“ (82). Dabei geht es Tschick immer auch darum, die sexuelle Orientierung von Maik heraus‐ zufinden (zunächst wohl noch auf einen Gleichempfindenden hoffend). Während ihrer ersten Spritztour um den Block verwendet Maik im Blick auf Tschick in einem Kommentar zu dessen Fahrweise in ironischer Weise den Begriff „Liebling“ (84). Daraufhin fragt ihn Tschick mehrfach, ob er schwul sei. Maik weist das entrüstet zurück; Tschick rechtfertigt seine Nachfrage mit Bezug auf Maiks Anrede „Liebling“ und „weil du dich nicht für Mäd‐ chen interessierst“ (85). Tschick bezieht diese Aussage nicht zuletzt auf Tatjana und bringt Maik damit völlig aus der Fassung. Tschick bekommt zunächst keine Antwort von Maik und unterstellt ihm weiterhin schwul zu sein. Er verweist in diesem Kontext auf seinen schwulen Onkel in Moskau - dabei das krasse Klischee bedienend „der läuft den ganzen Tag in einer Lederhose mit hinten Arsch offen rum“ -, um dabei zu betonen, dass dieser ja nichts dafür könne, schwul zu sein und hinzufügt „‚Ich find’s wirklich nicht schlimm‘“ (ebd.) und ein paar Zeilen später auf Maik bezogen „‚Ich komm damit klar‘“. Seine eigene schein‐ bare Heterosexualität hervorkehrend, sozusagen sich schützend, fügt er dann noch hinzu: „‚Hauptsache, du gehst mir nicht an die Rosette‘“ (86). Maik weist das angeekelt zurück und betont nun, dass er nicht schwul sei. Es dauert, bis er Tschick verklickern kann, dass er in Tatjana verliebt ist - Tschick will das wohl zunächst auch nicht verstehen, weil er damit ja eine Hoffnung fahren lassen muss. Allerdings akzeptiert er sehr schnell Maiks Gefühle und will ihm nun sogar helfen und hilft ihm dann auch, Tatjana sein Geschenk zu überbringen. Auf ihrer Reise entwickelt sich zwischen beiden eine innige heterosexuelle Jungenfreund‐ schaft; Tschick macht an keiner Stelle Maik gegenüber irgendwelche sexuellen Annähe‐ rungsversuche. Eifersüchtig reagiert er allerdings, als das Mädchen Isa auf der Müllkippe auftaucht und sich ihnen anschließen will. Es entzündet sich ein Akt wechselseitiger Be‐ schimpfungen mit vulgären Kraftausdrücken, Tschick tituliert sie als ‚Russenschwuchtel‘“ (151). Relativ eisern versucht Tschick Isa von ihnen fernzuhalten, er muss seinen Wider‐ stand gegen sie allerdings aufgeben, nachdem sie ihnen ermöglicht hat, ihren Lada wieder vollgetankt zu bekommen. Als Isa dann nach einer kurzen gemeinsamen Reise, während der sich Maik in Isa verliebt hat, mit einem Reisebus zu ihrer Halbschwester nach Prag entschwindet und Maik traurig zurückbleibt, kommentiert Tschick rhetorisch „‚Du hast dich nicht schon wieder verliebt? […] Im Ernst, du hast ja echt ein glückliches Händchen mit Frauen, oder wie sagt man so? “ (177). Interessant ist in diesem Kontext auch die Begegnung mit dem in einem verlassenen Dorf lebenden ehemaligen SA -Mann, dessen Homosexualität Tschick, anders als Maik, sofort erkennt. Auf dessen Frage, ob die beiden denn ein Mädel hätten, will Maik nein sagen, Tschick kommt ihm aber zuvor und antwortet „‚Seine heißt Tatjana, und ich bin voll in Angelina‘“ (184). Die Antwort gefällt dem alten Mann nicht, er sagt: „‚Weil, ihr seid zwei ganz hübsche Jungs‘“ (185). Tschick weist die versteckte Offerte mit „‚Nee, nee‘“ zurück 243 Wolfgang Herrndorf: Tschick und lässt auch auf Nachfrage keinen Zweifel an ihrer heterosexuellen Orientierung. Der alte Mann zeigt nun selbst auf ein Foto seines Mädels, er hat sich während der NS -Zeit wohl als Selbstschutz mit einem Mädchen liiert. Der Erzähler schreibt: Das Foto zeigte ein scharfgeschnittenes Gesicht, von dem ich auf den ersten Blick nicht hätte sagen können, ob es Junge oder Mädchen war. Aber ‚Else‘ trug eine andere Uniform als der Soldat oder Hitlerjunge neben ihr. Insofern war es vielleicht wirklich ein Mädchen‘ (185 f.) und der alte Mann weist in seiner Erzählung selbst darauf hin, dass das Mädchen wie ein Junge ausgesehen habe (186) - hier taucht das Thema der Androgynität auf. Nach dem Krankenhausaufenthalt Tschicks entspinnt sich im Auto ein intensiver Dialog zwischen ihm und Maik, der den Höhepunkt des sich wechselseitigen Öffnens darstellt: Maik bezeichnet sich als Langeweiler und berichtet Tschick, dass er nur deshalb mitge‐ fahren sei, um einmal im Leben nicht als Langeweiler zu gelten. Tschick betont, dass Maik überhaupt kein Langeweiler sei, „dass es [mit ihm; E. M.] im Gegenteil so ungefähr die aufregendste und tollste Woche seines Lebens gewesen wäre […]“ (213). Tschick beschwört Maik förmlich, dass er nicht denken solle, dass die Mädchen sich nicht für ihn interessierten, weil er langweilig sei, sondern weil sie den Eindruck hätten, dass er sich nicht für sie interessiere. Und er verweist auf Isa und deren Sympathien für Maik, die Tschick natürlich nicht entgangen waren. Er zeigt sogar die Größe, seine Eifersucht auf Isa ganz zurückzu‐ stellen und ihre Vorzüge gegenüber Tatjana zu preisen. Bei seinen Erklärungen hierzu er‐ folgt dann auch sein Coming-out als schwul: ‚Ja, ja du liebst sie (Tatjana; E. M.]. Aber im Ernst, im Vergleich zu Isa ist das eine taube Nuss. Und ich kann das beurteilen, im Gegensatz zu dir. Weil, soll ich dir auch noch ein Geheimnis verraten? ‘ (213). Jetzt geht es aber erst mal nicht weiter, Tschick schluckt und sagt fünf Minuten nichts mehr und dann, in vorsichtig-umschreibender Sprache, nicht mit den sonst verwendeten Aus‐ drücken, dass er eben nicht auf Mädchen stünde und dafür ja auch nichts könne, aber natürlich wisse, dass Maik sich in Mädchen verliebe und von ihm entsprechend auch nichts wolle (214). Und nun folgt wieder eine besonders schöne Szene des Buches: Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten ‚Ballade pour Adeline‘, und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme geworden, aber ich schaffte es nicht. Ich mochte Tschick wahnsinnig gern, aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber (214). Welche anrührende, unaufgeregte Schilderung! Das Coming-Out Tschicks stellt für die Jungenfreundschaft keine Belastung dar - anrührend auch, dass Maik im Angesicht des bevorstehenden, eventuell tödlichen Unfalls mit dem LKW noch denkt, dass er Tschick sagen sollte, dass er seinetwegen fast schwul geworden wäre (223). Beide überleben, Maik ist weiterhin in Mädchen verliebt, in der vorletzten Szene denkt er darüber nach, ob er jetzt mehr in Tatjana oder in Isa - die ihm inzwischen eine Art Liebesbrief geschrieben hat - verliebt sei und kommt zu dem Ergebnis, dass er es nicht wüsste (250). 244 Eva Matthes 14 Vgl. Koller, Hans-Christoph: „Bildung unter den Bedingungen kultureller Pluralität. Zur Darstellung von Bildungsprozessen in Wolfgang Herrndorfs Roman ‚Tschick‘“. Bildung unter Bedingungen kul‐ tureller Pluralität. Hgg. Florian von Rosenberg und Alexander Geimer. Wiesbaden 2014. 41-57. 15 Vgl. ebd., S. 48. 16 Vgl. ebd. 4. 3. Die Loslösung aus dem Elternhaus Diesen Aspekt will ich hier nur noch ganz kurz behandeln: Die entscheidende Loslösung, die Maik vollzieht, ist diejenige von seinem Vater. Sein Vater ist ein Materialist, er hintergeht seine Frau, er ist ein Misanthrop, für den die Welt schlecht ist und betrogen sein will, er steckt voller Vorurteile und er schreckt auch vor Gewalttätigkeit nicht zurück. Einschlägige Szenen / Aussagen hierzu sind sein permanentes Schimpfen über ‚Ökofa‐ schisten‘, die ihm sein Immobiliengeschäft kaputtmachten - „jahrelang redete mein Vater nur von Scheiße, Wichsern und Faschisten“ (65); das unehrliche Gespräch, das er mit seinem Sohn führt, als er ihn wegen eines Urlaubs mit seiner Assistentin, die seine Geliebte ist, in den Sommerferien 14 Tage allein lassen will, obwohl seine Mutter in der Entziehungsklinik ist (69 f.); die Lügen und schließlich auch die Gewalt, mit der er Maik dazu bringen will, bei der Gerichtsverhandlung gegen Tschick auszusagen, ihm - wie es nach Josef Klingenbergs Auffassung jeder andere auch täte - alle Schuld zuzuschreiben, Maik sich aber standhaft diesem immensen Druck verweigert, den Wert der Freundschaft hoch hält (227 ff.). Maik macht auf seiner Reise Erfahrungen, die ihn vom Menschenbild seines Vaters weg‐ führen. Er bringt es selbst auf den Punkt: Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch […] Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent be‐ gegneten, das nicht schlecht war (209). Maik erfuhr auf seiner Reise einen Veränderungsprozess. Dieser steht im Mittelpunkt einer weiteren Leseweise, auf die ich noch ganz kurz eingehen möchte. 5. Tschick als Bildungsroman Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Hans-Christoph Koller liest Tschick als einen Roman, in dem die Begegnung mit fremden symbolischen Ordnungen und kulturellen Deutungsmustern einen Anlass für Bildungsprozesse darstellt und somit zur Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstverständnisses führt. Bildung wird hier als „Transfor‐ mation“ verstanden. 14 Als entscheidend sieht er hierbei vertraute Wahrnehmungs- und Deutungsmuster irritierende Erfahrungen an. Er beschreibt in seiner Interpretation ein‐ schlägige Beispiele, etwa die Herkunft Tschicks und das damit verbundene Ziel der Reise, die Walachei; die nach Eindeutigkeit verlangende Zugehörigkeitsordnung werde aufge‐ brochen. 15 Als weitere Faktoren der Irritation bzw. Verwirrung nennt Koller die Begegnung mit Menschen, die ganz anders leben und agieren als es Maik und Tschick bisher vertraut war 16 - man denke etwa an die ökologisch-alternativ lebende Familie, bei der die beiden 245 Wolfgang Herrndorf: Tschick 17 Herrndorf, Tschick, S. 124. 18 Vgl. Koller, S. 52. 19 Ebd., S. 55. 20 Ebd., S. 54. 21 Ebd. Jungs zum Mittagessen eingeladen sind oder die Jugendlichen, die sich als „Adel auf dem Radel“ 17 bezeichnen oder die Sprachtherapeutin, die ihnen nach einem Unfall helfen will, ihnen ohne jeden pädagogischen Anspruch begegnet und Tschick ins Krankenhaus fährt. Auch die unvertrauten, fremden, herausfordernden Landschaften tragen nach Koller zur Irritation der Jugendlichen bei und lösen Veränderungsprozesse in ihnen aus. 18 Die Reise werde zu einem unbestimmten Möglichkeitsraum, „der etablierte Ordnungen außer Kraft setzt und das Experimentieren mit Neuem erlaubt“. 19 Die beiden Jungs kehren verändert, mit einem neuen Welt- und Selbstverständnis, von ihrer Reise zurück, wobei die Leser und Leserinnen das nur bei dem Ich-Erzähler Maik, der den Leser und Leserinnen Einblicke in seine Stimmungslagen und seine Sichtweisen gibt, explizit miterleben. Dennoch werde ja Tschick durch den Titel „zum eigentlichen Helden der Geschichte erklärt“. 20 Koller be‐ schreibt in diesem Zusammenhang Tschick als den „signifikanten Anderen“ 21 für Maik, der durch seine Beziehung zu Tschick sozusagen die Chance auf grundlegende Veränderung erfährt. 6. Die Rezeption von Tschick 6. 1 Beim Publikum und in der literarisch-künstlerischen Welt Gleich nach seinem Erscheinen stand das Buch viele Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, nach zweieinhalb Jahren hielt es sich immer noch auf der Spiegel-Bestsellerliste für Ta‐ schenbücher, es rangierte bei Amazon fast zwei Jahre unter den Top 100 der verkauften Bücher und wurde inzwischen in 25 Sprachen übersetzt. Bereits im Juni 2013 meldete der Rowohlt-Verlag, dass Tschick die Eine-Million-Grenze verkaufter Exemplare durchbrochen habe. 2013 ist eine von Herrndorf autorisierte und von Andreas Lindemann in einfache Sprache übersetzte Fassung des Romans im Spaß am Lesen-Verlag für Menschen mit ge‐ ringen Deutschkenntnissen erschienen. Der Roman wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet; für Tschick erhielt Herrndorf 2011 den Deutschen Jugendliteraturpreis und den Clemens-Brentano-Preis und 2012 den Hans-Fallada-Preis. Nahezu alle Kritiker ergingen sich in den Feuilletons in Lobeshymnen (eine Auswahl ist auf den ersten beiden Seiten der 2012 erschienenen Taschenbuchausgabe abgedruckt). So schrieb etwa Maxim Biller in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 2011: „Erst letztes Jahr erschienen und schon so wichtig für die deutsche Literatur wie Fausers ‚Rohstoff ‘, Koeppens ‚Tauben im Gras‘ und auch Grass‘ verdammte ‚Blech‐ trommel‘“. Kurz nach dem Erscheinen des Romans wurde von dem Dramaturgen Robert Koall, einem Freund von Herrndorf, der an seiner statt auch auf die Preisverleihungen ging, auch eine Bühnenfassung vorgelegt. Die Uraufführung fand am 19. November 2011 am Staats‐ schauspiel Dresden unter der Regie von Jan Gehler statt. Schnell nahmen auch andere The‐ 246 Eva Matthes 22 Herrndorf, Arbeit und Struktur, S. 212. 23 Vgl. ebd., S. 364. 24 Vgl. Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu Wolfgang Herrndorf, „Tschick“. 5. Auflage. Königs Erläuterungen, Bd. 493. Hollfeld 2017. 25 Herrndorf, Arbeit und Struktur, S. 436. ater in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz Tschick in ihren Spielplan auf. Bereits in der Saison 2012 / 13 und in weiteren Saisons war Tschick das meistgespielte Stück auf allen deutschen Bühnen. Inzwischen existieren außerdem ein Hörbuch- und eine Hörspielfassung, eine Opern‐ version mit der Musik von Ludger Vollmer und die Verfilmung des Romans durch den renommierten, vielfach ausgezeichneten Regisseur Fatih Akin. 6. 2. Im schulischen Kontext Tschick ist inzwischen auch fester Bestandteil des Lektürekanons im Deutschunterricht geworden. Vor allem 2012, aber auch in den folgenden Jahren wurden Unterrichtsmateri‐ alien für Schüler und Schülerinnen und Lehrkräfte von verschiedenen Bildungsmedien‐ verlagen bereitgestellt. Dazu kommen zahlreiche Verweise im Netz, etwa Unterrichtsanre‐ gungen auf dem ZUM -Wiki der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e. V. Herrndorf war darüber zunächst alles andere als erfreut, bekam die Rezeption in den Schulen aber noch recht unmittelbar mit: In seinem Blog-Eintrag vom 18. Juni 2011 schreibt er: Den ganzen Abend mit C. zusammen Briefe von Schülern einer Frankfurter Schule gelesen, die als Hauptaufgabe ein eigenes ‚Tschick‘-Kapitel schreiben mussten und einen Brief an den Autor. Wie ich das gehasst hätte in der Neunten. Und in jeder anderen Klasse auch. Briefe an irgendwelche Idioten schreiben. Glücklicherweise thematisieren das einige auch. Aber alle ziehen sich wie ohne Mühe aus der Affäre, auch die beiden Rüpel aus der letzten Reihe, einwandfrei, hätte ich nicht gekonnt in dem Alter. Montessori-Schule, wahrscheinlich mit eingebauter Sozialkompetenz. 22 Schließlich scheint Herrndorf jedoch seinen Frieden damit gemacht zu haben, dass Tschick Schullektüre geworden ist, wie ein Eintrag von ihm vom 22. Oktober 2012 zeigt, in dem er zwei Realschülerinnen zu Wort kommen lässt, die ihm geschrieben haben, dass es ihnen Spaß gemacht habe, sein Buch zu lesen. 23 Dennoch ist zu hoffen, dass Tschick in der Schule durch die Art und Weise der Analyse - wie ich in Unterrichtsmaterialien gesehen habe etwa durch die Behandlung von Themen wie „Jugendliche und Alkohol“ oder „Straftaten in Deutschland“ 24 - nicht seinen Reiz für die jugendlichen Leser und Leserinnen verliert und zur lästigen Pflichtlektüre verkommt. Das hätte Tschick nicht verdient! In einem irrte sich Herrndorf aber in jedem Fall: „Voraussagen: Zwei Gedanken von mir werden noch eine Zeitlang in einem kleinen Lada durch die Welt und den Schulunterricht kurven, dann nicht mehr“. 25 Tschick ist zum literarischen Klassiker geworden, gerne gelesen von Menschen unter‐ schiedlichen Alters. Er thematisiert einerseits immer wiederkehrende Entwicklungsauf‐ gaben für junge Menschen in einer Sprache und anhand von Episoden, die bei ihnen an‐ kommen, ihnen Spaß machen, und er schafft es, bei seinen älteren Leserinnen und Lesern 247 Wolfgang Herrndorf: Tschick ein sehnsuchtsvolles Retro-Gefühl auf ihre eigene Jugendzeit herbeizuführen, als noch alles im Aufbruch war. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Herrndorf, Wolfgang: Tschick. Reinbek bei Hamburg, 26. Aufl. 2013. — : Arbeit und Struktur. Berlin 2013. — : Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Berlin 2015. Sekundärliteratur: Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Wiesbaden, 3., durchgesehene Aufl. 2005. Gärtner, Marcus: „‚Tschick‘ : Eine Entstehungs- und eine Erfolgsgeschichte“. Wolfgang Herrndorf (Gesamtausgabe 2). Berlin 2015, 741-773. Klappert, Annina: Wolfgang Herrndorf. Weimar 2015. Kliewer, Annette: „Jenseits der Kategorien. Tschick im Zuge seiner Kanonisierung“. Wolfgang Herrndorf. Hg. Annina Klappert. Weimar 2015, 213-223. Koller, Hans-Christoph: „Bildung unter den Bedingungen kultureller Pluralität. Zur Darstellung von Bildungsprozessen in Wolfgang Herrndorfs Roman ‚Tschick‘“. Bildung unter Bedingungen kul‐ tureller Pluralität. Hgg. Florian von Rosenberg und Alexander Geimer. Wiesbaden 2014, 41-57. Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu Wolfgang Herrndorf, „Tschick“. Königs Erläute‐ rungen, Bd. 493. Hollfeld, 5. Aufl. 2017. Passig, Kathrin: Im Gespräch: Wolfgang Herrndorf. Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrn‐ dorf ? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 01. 2011. (http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher / autoren/ im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschick-gemacht-herr-herrndorf-15761 65.html). Rauch, Marja: Jugendliteratur der Gegenwart. Seelze-Velber 2012. Scholz, Eva-Maria: Wolfgang Herrndorf. Tschick. Reclams Universal-Bibliothek. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler, Bd. 15 442. Stuttgart 2014. Standke, Jan: Wolfgang Herrndorf lesen. Trier 2016. 248 Eva Matthes 1 Hummel, Maria: Motherland. A Novel. Berkeley 2014. 2 Butzer, Günter und Hubert Zapf: „Vorwort“. Große Werke der Literatur. Bd. XIII. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2015, S. 7-8, hier S. 7. 3 Bilder auf Seiten 3 f. der Studentenzeitung The Vermont Cynic vom 27. Februar 2018 illustrieren, wie in den letzten 2 Jahren ein Klima von Hass und Einschüchterung selbst auf dem Campus einer sozial progressiven Universität erzeugt worden ist - zum Beispiel die anonymen Plakate „It’s okay to be white“ und „Stop importing problems, start exporting solutions“. Vgl. The Vermont Cynic. Issue 22. Volume 134. Burlington 2018, S. 3 f. (https: / / issuu.com/ uvmcynic/ docs/ issue_22). Maria Hummel: Motherland Dennis Mahoney Im folgenden Beitrag geht es um ein zeitgenössisches Werk der amerikanischen Literatur, nämlich Maria Hummels Roman Motherland  1 , der 2014 erschienen ist, als die Autorin an der Stanford University unterrichtete, kurz nachdem ihre Gedichtsammlung House and Fire 2013 den APR / Honickman First Book Prize erhalten hatte. In der Zwischenzeit ist sie As‐ sistant Professor for Writing an der University of Vermont geworden, wo sie 1994 ihren Bachelor of Arts erwarb und wo ich das Vergnügen hatte, sie als Studentin unterrichten zu dürfen. Es geht allerdings um weit mehr als rein persönliche Gründe, warum ich dieses Werk ausgewählt habe. Im Vorwort zum 13. Band der Reihe Große Werke der Literatur betonen die Herausgeber bei einem Rückblick auf den Inhalt früherer Bände: […] dass immer wieder auch neueste Texte vetreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht. 2 Im Falle von Motherland wurde ich von der kreativen Behandlung eines vermeintlich be‐ kannten Stoffs beeindruckt: Hier haben wir einen Roman über die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive von Menschen, und zwar vorwiegend Frauen, die in den meisten Fällen die Nazis nicht aktiv unterstützt hatten, aber ebenfalls keine Wider‐ standskämpfer waren. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass die Lektüre dieses Werks gerade jetzt beim amerikanischen Lesepublikum Fragen über ihr eigenes sozial-politisches Verhalten anregen könnte in einer Zeit, wo die demokratischen Werte der USA von innen bedroht werden. 3 4 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf Hummel, Maria: Motherland. A Novel. Berkeley 2014. Handlungsskizze Das Epigraph für Motherland liefert einen ersten Hinweis auf den Sinn des Titels, der auch der Untertitel der letzten hundert Seiten des Romans ist. Es ist ein Gedicht der Exilautorin Rose Ausländer, das sowohl im deutschen Original als auch in der Übersetzung von Eavan Boland zitiert wird: mutterland Mein Vaterland ist tot sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland— Wort — Rose Ausländer motherland My Fatherland is dead They buried it in fire I live in my Motherland— Word (vii). 4 Zuerst wird jedoch der Tod des Vaterlandes in monatlichen Abschnitten von Dezember 1944 bis März 1945 behandelt. Hummel beginnt ihren Roman im fiktiven Ort Hannesburg bei Frankfurt, wofür Bad Homburg - der Geburtsort ihres Vaters Manfred Hummel - Pate steht. Dies ist die Stadt, wo Frank Kappus, der männliche Protagonist, aufgewachsen ist und dann Arzt wird im naheliegenden Bad Hartwald, einem Kurort für SS -Offiziere, Parteibonzen und deren Familien. Die Abschnitte in Hannesburg alternieren mit Szenen in dem Thüringer Militärkrankenhaus am östlichen Rand von Weimar, wo Frank seit Oktober 1944 als Chirurg an den Gesichtern schwer verletzter Soldaten operiert. In der Hannesburger Familienvilla sind Franks drei Kinder zurückgeblieben, deren Mutter Susi im Frühjahr bei der Geburt ihres dritten Sohnes Jürgen gestorben ist. Vor seiner Abfahrt nach Weimar hatte Frank Liesl Nye gefreit und geheiratet, die Be‐ treuerin des Kinderhauses in Bad Hartwald, deren liebevolle Pflege der ihr anvertrauten Kinder er seit langer Zeit bewundert hat. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Frank sogar gemeint, sie sei die Mutter des neunjährigen Jungen, den sie aus einem Teich im Kurpark gerettet hat. Wir Leser wissen allerdings bereits, dass die Ehefrau eines Dachauer SS -Ober‐ sten sowohl diesen Jungen als auch dessen Zwillingsbruder bei Liesl im Kinderhaus ge‐ 250 Dennis Mahoney 5 Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. 2. Bde. Ausgabe letzter Hand mit den Auf‐ zeichnungen der Brüder Grimm. Hg. Heinz Rölleke. Stuttgart 1983. lassen hat. Dort hatten die Zwillinge bei ihrem Spiel, sie seien Teil einer Panzereinheit, das Spielzeug derart zertrümmert, dass Liesl sie zum Teich brachte. Wie die Kinder, so auch der Vater: Oberst Steitz ist beim Personal in Bad Hartwald berüchtigt, seitdem er früher im Sommer einen Kellner zusammenschlagen ließ, der eine schnippische Bemerkung über den Führer gemacht hatte und seitdem halbtaub ist (100). Daher fürchtet Liesl, sie könnte auf jeden Fall von ihrer neuen Anstellung entlassen werden, weil sie vor Erschöpfung beim Teich eingeschlafen war und nur durch die schreienden Kinder aufgeweckt wurde, als der eine Zwilling seinen Bruder von einem Baumstamm ins Wasser stupste und dann auf die Suche nach seinem Vater wegrannte. Bald taucht Oberst Steitz auf, der schnaubend wissen will, was hier passiert sei. Frank Kappus entkräftigt die Szene, indem er dessen Sohn lobt: „‚Your son was just being a good German boy,‘ the doctor said. ‚He has to risk his life at least once a day‘“ (100). Dann aber fragt der Oberst brüllend, wo seine Frau ist. Frank weiß es nicht, obwohl Frau Steitz ihrem Mann von einem Termin um 14 Uhr bei Dr. Kappus erzählt hatte. Liesl rettet Frank aus dieser peinlichen Situation, indem sie beteuert, Frau Steitz habe gesagt, sie würde statt‐ dessen auf einen Spaziergang gehen, was nicht stimmt. Indem sich Liesl als frischgebackene Ehefrau an diese erste Begegnung erinnert, fragt sie sich: „[I]f he hadn’t defended Liesl that day, and she him, would she trust him now? Was love just made up of simple incidents in which you brought out the best in another? “ (98). Es ist kein Zufall, dass Liesl gerade dabei ist, „an old tome of fairy tales“ (98) zu lesen, als sie diese Bemerkung macht. Zugegeben: Frank Kappus ist kein Märchenprinz, obwohl er auch zu einem anderen kritischen Augenblick in Motherland unerwartet erscheinen wird, während Liesl viele At‐ tribute einer Märchenheldin wie Schneewittchen oder Aschenbrödel besitzt, wenn auch in einem modernen deutschen Kontext. Im Alter von 6 Jahren wurde sie verwaist, als ihre Mutter in Franken an der Grippe starb und ihr Vater - durch seine Erfahrungen im 1. Weltkrieg schon traumatisiert - seine Tochter zur Pflege bei ihrer Tante und deren Ehe‐ mann verlässt und nach Amerika fährt. Liesl will, dass ihre Stiefsöhne - der neunjährige Hans und der sechsjährige Anselm, sonst Ani gennant - beide wissen, dass sie deren Ein‐ samkeit kennt und versteht, mit einer verstorbenen Mutter und einem durch Kriegsdienst von ihnen weit entfernten Vater. Andererseits will sie nicht, dass die Kinder denken, dies sei der Lauf der Welt (13). Deshalb gibt sie nur indirekte Antworten auf Anis Fragen, warum ihre Eltern sie nie besuchen, bzw. wie sie gestorben sind. Sie übt ähnliche Zurückhaltung beim Erzählen eines Märchens an Ani und Hans, aber einzelne Details verraten, dass das alte Märchenbuch, das sie für sich beim Schlafengehen gelesen hat, nichts anderes ist als die Kinder- und Hausmärchen  5 der Brüder Grimm. Im Januar 1945 bekommt Liesl einen Besuch von Uta, ihrer ältesten Freundin, die sie noch während der späten Dreißiger Jahre aus ihrem gemeinsamen fränkischen Heimatdorf zum Kurort in Hannesburg gebracht hat. Liesl und Uta hatten damals beschlossen, ‚frei‘ zu bleiben, als Offiziere und Adjutanten um sie warben. Stattdessen hat Liesl dem Staat ihr Herz geschenkt; sie litt mit den Waisen in Ufa-Filmen wie Das Sowjetische Paradies und hörte geduldig einer Rede nach der anderen über den jüdischen Bolschewismus zu, obwohl 251 Maria Hummel: Motherland 6 Grimm, Jacob und Wilhelm: „Fundevogel“. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Aufzeichnungen der Brüder Grimm. 2. Bde. Hg. Heinz Rölleke. Stuttgart 1983, Bd. 1, S. 261-263: hier S. 261. sich diese Begeisterung schon lange vor Franks Heiratsantrag abgekühlt hat (95). Uta wollte ihrerseits Sängerin werden - ein Grund, warum sie im Laufe des Jahres 1944 nach Berlin gefahren ist, wo sie jetzt in einem Offiziersklub arbeitet. In der Zwischenzeit ist sie schwanger geworden, und zwar von einem Offizier beim Plötzensee-Gefängnis, der seine Arbeit mag (97) und der, wie wir später erfahren, eine Sammlung von Goldzähnen in einer Schublade besitzt (194). Uta will eine Abtreibung, erstens, weil sie Angst hat, ein Ungeheuer („monster“) zu gebären, und zweitens, weil sie meint, dass der Liebhaber ihr das Kind weg‐ nehmen würde, da sie keine richtige Mutter für das Kind wäre (96). Während sie vergeblich den Arzt zu finden versucht, der schon einmal eine Abtreibung bei ihr durchgeführt hatte, will Uta im Haushalt mithelfen, aber sie ist schroff zu den beiden älteren Kindern, die weder sie noch ihre Kochkunst mögen. Ani, der neuerdings unter Bauchschmerzen leidet, be‐ hauptet sogar, Uta sei die schlimmste Köchin auf der ganzen Welt. Liesl denkt an ihr Mär‐ chenbuch und erwidert: „Then you haven’t heard of the cook in Clever Lina’s house […]. Now, he was awful“ (108). Die mitgeteilten Details über Lina und deren kleinen Bruder „Birdie“ (Vögelchen) - so genannt, weil Lina ihn in einem Baumnest gefunden hat - machen deutlich, dass sie das „Fundevogel“-Märchen im ersten Band der Kinder- und Hausmärchen nacherzählt. Während aber die Brüder Grimm immer die Verkleinerungsform ‚Lenchen‘ verwenden, wenn sie über ihre Märchenheldin sprechen, betont Liesl stattdessen Linas Schlauheit bei der Verteidigung ihres Bruders vor dem Koch, der ihn deswegen so hasst: „He was an extra mouth to feed“ (100). Die Köchin in „Fundevogel“ ist eine stereotypische Hexe, aber Liesl wählt einen Mann als ihren Bösewicht und streicht die grausame Mitteilung der Brüder Grimm, dass Lenas Bruder lebendigen Leibes in einen siedend heißen Kochtopf geworfen werden soll, um als Speise zubereitet zu werden. 6 Vielleicht tut sie das, weil sie nicht will, dass Ani Uta mit der Köchin vermengt. Aber da sich Ani sofort mit Birdie iden‐ tifiziert und darüber hinaus an diesem Tag besonders zerstreut und betrübt erscheint, ver‐ sichert sie ihm, dass die schlaue Lina ihren Bruder rettet, und verspricht, dass sie das ganze Märchen erzählen wird, nachdem sie selber das Abendessen zubereitet hat. Beim Schlafengehen erinnert Ani seine Stiefmutter daran, die Geschichte mit dem Koch zu erzählen, indem er seinem älteren Bruder versichert, diese sei wirklich gut (109). Wäh‐ rend Hans behauptet, er wird das Märchen wohl bereits kennen, ist er derjenige, der es zu Ende anhört, während Ani eindöst: Clever Lina and her brother ran away together. Soon they heard the cook’s messengers coming after them. ‚Never forsake me, and I will never forsake you,‘ she said, and the boy promised. And she changed him into a rosebush, and herself, the rose, and the messengers went home, baffled. ‚You fools‘ cried the cook. ‚Cut down the rosebush and fetch me the rose.‘ But the next time, Lina made the boy promise again. Again, she changed him, this time into a church, and herself, into a bell, and again the messengers went home (110). 252 Dennis Mahoney 7 Grimm, „Fundevogel“, S. 262 f. 8 Grimm, „Fundevogel“, S. 263. 9 Vgl. dazu grundlegend Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion ima‐ ginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002, und Literature as Cultural Ecology. Sustainable Texts. London 2016. In der neueren deutschen Literatur hat Ulla Hahn ein „Fundevogel“-Gedicht geschrieben, das die Aufforderung „Verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich nimmermehr“ verwendet und verfremdet. Vgl. dazu Mädchen, pfeif auf den Prinzen! Märchengedichte von Günter Grass bis Sarah Kirsch. Hg. Wolfgang Mieder. Köln 1983, S. 91. 10 Zum finsteren Gebrauch solcher Sprichwörter während des Dritten Reichs, vgl. Mieder, Wolfgang: „Sprichwörter unterm Hakenkreuz“. Muttersprache, 93 (1983): S. 1-30. In englischer Fassung er‐ schienen als „Proverbs in Nazi Germany: The Promulgation of Anti-Semitism and Stereotypes Liesl erzählt auf bewundernswert konzise Weise, aber sie betont auch Linas aktive Rolle, indem die Schwester diejenige ist, die die wunderbare Verwandlung inszeniert, während in „Fundevogel“ Lenchen ihren Bruder bloß auffordert, sich in einen Rosenstrauch und in eine Kirche zu verwandeln, wobei sie zuerst Rose und später Kronleuchter wird. 7 Als Liesl zu dem Höhepunkt im Märchen kommt, wo die Köchin, bzw. der Koch selber auf die Jagd nach den Kindern geht, ist Ani schon eingeschlafen; so hört sie mit dem Erzählen auf. Nun ist es aber Hans, der wissen will, wie die Geschichte endet. Sowohl in Liesls Version als auch bei den Brüdern Grimm wird die Heldin eine Ente, die den Koch bzw. die Köchin in dem Teich ertränkt, in welchem ihr Bruder Gestalt annimmt und den ihr Feind leer trinken will. Bei den Grimms gibt es den klassischen Märchenschluss: „Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.“ 8 Liesl, aber, hat das Gefühl, dass die Geschichte lange vorher zu Ende ist: The true end was the vow that brother and sister had made to each other. Never forsake me, and I will never forsake you. They could change into anything—they could survive it all—as long as they promised that (110). Dies ist ein Versprechen, das Ani gehört hat und das sowohl Liesl und Hans zu Hause als auch Frank Kappus in Weimar halten wollen, trotz aller ‚Köche‘ und deren oft mörderischer Pläne im Laufe des Romans. Der Gebrauch dieses Märchens als Leitmotiv im Roman illust‐ riert vorbildlich Hubert Zapfs Vorstellung von Literatur als kultureller Ökologie in der dreifachen Interaktion von kulturkritischem Metadiskurs, imaginativem Gegendiskurs und reintegrierendem Zwischendiskurs. 9 Liesl hat ihre eigenen Ängste in Hannesburg, u. a. wegen ihrer roten Haare, im Gegensatz zu Franks blondhaariger erster Ehefrau, die anscheinend das Talent besaß, sich mit mäch‐ tigen Leuten in der Partei zu befreunden und dabei unpolitisch zu bleiben. Susi Kappus hat ihren Mann vergeblich dazu animiert, das Gleiche mit den Offizieren bei Bad Hartwald zu machen, einschließlich dem rabiaten Menschen, den wir später als Oberst Steitz kennen‐ lernen: „You could be a Gauleiter by now, if you’d just try to fit in“ (35). Bei einer Kaffee‐ stunde mit Frau Hefter, einer Nachbarin mit sechs Kindern und dem silbernen Mutterkreuz, wird Liesl nach ihrem Mädchennamen gefragt, während Frau Hefter ihre Hakennase an‐ starrt (25). Später hört Liesl die Nachbarin über sie mit Franks Putzfrau reden, die ihrerseits bemerkt: „‚Unkraut vergeht nicht.‘ Weeds do not perish“ (26), was Liesl daran erinnert, wie ihre Tante in Franken dasselbe herablassende Sprichwort in Bezug auf die Zigeuner und deren bettelnde Kinder verwendete. 10 Nachdem sich Frank bei Marta, der Putzfrau, be‐ 253 Maria Hummel: Motherland Through Folklore“. Proverbs are Never Out of Season. Popular Wisdom in the Modern Age. New York 1993, S. 225-255. schwert, sie habe seine Frau eine Halbjüdin genannt, kündigt diese sofort, was aber Liesl mit der alleinigen Sorge um ein dreistöckiges Haus und drei Kinder zurücklässt. Darüber hinaus fürchtet Liesl, dass Herr Geiss, ein Witwer im Nachbarhaus mit hohen Beziehungen in der Partei, sie für eine grausame Stiefmutter (8) hält, da sie ihn vor Franks Abreise nach Weimar sagen hörte, er würde zusehen, dass Franks Söhne auf ein Bauernhaus geschickt würden, wenn sie auf die Kinder nicht gut aufpassen sollte (6). Daher ist es kein Wunder, dass Liesl gleich zusagt, als Herr Geiss sie bittet, vor der Ankunft seiner jüngst verwitweten Schwiegertochter aus Berlin seine Villa zu putzen. Als Gegenleistung macht Herr Geiss guten Gebrauch von seinen Fachkenntnissen als Mitglied des hiesigen Luftschutzverbands, um einen Tunnel zwischen beiden Häusern zu bauen, damit im Fall einer Bombardierung von Hannesburg die Einwohner des einen Hauses zum anderen fliehen könnten. Wir Leser lernen bald, dass die verstorbene Frau von Herrn Geiss Malerin war, obwohl Liesl beim Putzen mit Ani wahrnimmt, dass sein Haus bilder- und spiegelleer ist. Es gibt allerdings einen Raum, der mit Gemälden vollgepropft ist, wovon ein paar alt und schmutzig aussehen. Dort findet sie Ani, der ein ungerahmtes Bild von einer jungen, blonden Mutter im weißen Kleid und mit einem kleinen Kind im weißummauerten Garten hält (29). Das Baby ist Ani, und an der linken Hand der Frau ist der Ehering, den Liesl jetzt trägt. In einem Korb neben dem Bild sind die Maltuben, die Frau Geiss verwendet hatte. Sie sind die Quelle der Bleivergiftung, die bei Ani immer schlimmere Denk- und Gehschwierigkeiten verur‐ sachen. Ani verheimlicht jedoch, was er isst; das gilt sowohl Liesl als auch dem Dr. Becker, der ihn zu Hause besucht und später eine genauere Untersuchung in seiner Praxis macht. Für Ani stellen diese Tuben, zu denen er dank dem Kellertunnel jetzt leichten Zugang hat, eine geheime Verbindung mit der Mutter dar: „Mother would be him, the image of her that was almost all he remembered now, her white dress warm with sun, her white arms around him“ (205). Dr. Becker bestätigt durch eine Blutprobe eine hohe Bleikonzentration in Anis Körper, was zu permanenten Denkschäden führen könnte: If his lead levels don’t go down in two weeks, I am filling out a form that requires you to take him to an institution for psychiatric evaluation and potential admission. […] And if Anselm’s case gets more serious, he can go on to Hadamar (156). Die bloße Erwähnung der letztgenannten Einrichtung entnervt Liesl derart, dass sie beim Verlassen der Arztpraxis gleich zum Telegrammbüro geht und eine dringende Bitte an ihren Mann in Weimar sendet, sofort nach Hause zu kommen. Wir lernen bald, warum Liesl so schnell handelt. Im Winter des Jahres 1940 hat Liesl durch Zufall einen Vortrag über Hadamar in einem Konferenzraum des Kurorts gehört, der gewöhnlich für die Besprechung von Feldzügen reserviert wird. Hier ist jedoch der Vor‐ tragende ein Arzt, der über das folgende Thema spricht: „the cost of long-term mental patient care in the current German system“ (169). Der Arzt redet wiederholt über „Minder‐ wertiger [sic! ] Kinder. Inferior children,“ so wie diejenigen Kinder in einem Ekel erregenden Kurzfilm über seine Patienten, den er gezeigt hat, und macht bekannt: 254 Dennis Mahoney 11 Für weitere Information über den Prozess, durch den Tausende Kinder, Jugendliche und am Ende auch Erwachsene, die Nazi-Ärzte für untauglich erklärt hatten, in Hadamar und anderen Einrich‐ tungen getötet worden sind, vgl. Gallagher, Hugh Gregory: By Trust Betrayed. Patients, Physicians, and the License to Kill in the Third Reich. New York 1990, S. 9-23 und Burleigh, Michael: Death and Deliverance: ‚Euthanasia‘ in Germany 1900-1945. Cambridge 1994, S. 144-161. A questionnaire is being prepared that will soon go out to all public health officials and mental insti‐ tutions. A qualified team will evaluate the answers and determine which patients must be admitted and which terminated (169). Hier erleben wir das bürokratische Äquivalent zu Liesls Erklärung, warum der böse Koch im Märchen ‚Birdie‘ so sehr hasste: „He was an extra mouth to feed“ (108). Wir lernen aber auch sowohl durch Liesls Erinnerungen als auch durch ihre künftigen privaten Hand‐ lungen, dass Widerstand selbst im totalitären Staat möglich ist: Hadamar. She vaguely remembered the bishop of Limburg later protesting the euthanizing of patients at the institution, and that the deaths had been officially stopped by Hitler’s own orders. But what had they done to those poor children in the film? She would never hand Ani over (170). 11 Bereits auf der ersten Seite des Romans lernen wir von dem Weihnachtsstollen, den sie Frank in Weimar zugeschickt hat: „If the officials found what she’d hidden inside, if, if -“ (3). Der Stollen dient nämlich als Tarnung für einen Filmkanister, der sowohl eine Deutsch‐ landkarte als auch Geld enthält - für den Fall, dass Frank desertiert und die 250 Kilometer zurück in seine Heimatstadt laufen muss, was er seit seiner Ankunft im Militärkrankenhaus auch plant (9, 14, 32-34). Vor der Ankunft des Pakets lernt Frank jedoch von Hauptmann Schnell, einem Parteifanatiker, dass er bis spätestens Mitte Februar 1945 in ein neues Kran‐ kenhaus in Berlin versetzt werden soll. Unter anderen Umständen würde eine solche Ver‐ setzung einen beruflichen Aufstieg bedeuten. Aber da Berlin jetzt fast täglich bombardiert wird und die Ostfront immer näher an die deutsche Grenze rückt, erkennt Frank: „Escaping Weimar would be far easier when the Red Army came“ (37). Und für ihn ist es eine Frage von wenn, nicht ob. Als Sohn eines Lateinlehrers auf dem Hannesburger Gymnasium ist Frank mit Weimars kulturellem Erbe wohlvertraut (33). Er bekommt jedoch Einsicht in die jetztige finstere Duplizität der Umgebung, wenn er die offenen Geschwüre auf dem Gesicht eines Patienten diagnostizieren soll, der bis vor kurzem beim Konzentrationslager an der westlichen Seite von Weimar gearbeitet hat (57). Frank vermutet eine parasitische Infektion. Auf die Frage, ob die Gefangenen krank seien, bekommt er jedoch die verblüffende Antwort: „If doctors get to them,“ was sein Patient folgendermaßen erklärt: „[D]octors at the camp were injecting live subjects with infected typhus blood. To perfect a vaccine“ (58). Ein schwarzunifor‐ mierter Unteroffizier überhört jedoch dieses Gespräch. Bald danach teilt Hauptmann Schnell Frank mit, sein Patient aus Buchenwald sei bedauernswerterweise an seiner Infek‐ tion gestorben. „What infection? “ will Frank wissen; Schnell antwortet mit einem stechend scharfen Blick. Frank wiederholt seine Frage kein zweites Mal (71). Frank und Liesl kommen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen, aber beide erleben ihre eigenen wahrhaft grimmigen Kinder- und Hausmärchen, die die 255 Maria Hummel: Motherland Furcht und Angst des Alltags im Dritten Reich enthüllen, selbst wenn Menschen nicht als „dangerous native foreigners“ klassifiziert werden, was mit zwei von Franks Medizinpro‐ fessoren geschah - der eine hat Deutschland verlassen, während der andere mit seiner Familie ins Getto zog, wonach Frank den Kontakt zu ihm verloren hat (59). Franks Ge‐ schichte hat mit einem Patienten zu tun, der aus dem Feldkrankenhaus transportiert wurde, nachdem eine Explosion sein Gesicht entstellt und ihn zum Tauben gemacht hat, so dass man mit ihm nur schriftlich kommunizieren kann. Es stellt sich heraus, dass sein Patient nicht nur aus Hannesburg kommt, sondern auch sein Klassenkamerad und der Primus in Latein bei seinem Vater war. Schon als Schüler, erinnert sich Frank, hat Heinrich Hartmann die Konfrontation mit Autoritätsfiguren gesucht. So war er z. B. wenig beeindruckt, als ihr Geschichtslehrer denjenigen König glorifizierte - gemeint ist Friedrich der Große von Preußen -, der zwar den Lärm einer Mühle in der Nähe seines Schlosses verabscheute, aber den Beschluss eines Richters akzeptierte, er müsse entweder sein Schloss woanders auf‐ stellen oder den Krach dulden: ‚This is law in Germany,‘ said Herr Nuss. ‚This is Rechtsstaat. Even our rulers have to bow to it.‘ Hartmann’s big head shot up. ‚Then how come you don’t have to wash your desk every day, and we do? ‘ he wanted to know, and most of the kids watched approvingly as Hartmann got the switch (47). Hartmann wurde später Dichter und Kritiker, der Studien zu Goethe und Heine publizierte und Frank immer auf den Laufenden über seine Leistungen hielt. Aber nun lernt er von Hauptmann Schnell, dass vor der Explosion einer von Leutnant Hartmanns Soldaten ihn beschuldigt hat, verräterische Mitteilungen gemacht zu haben, und dass es eine Untersu‐ chung geben wird. (71). Dies erklärt, warum Hartmann niemandem außer Frank von seinen Gedächtnislücken und den Stimmen und summenden Tönen berichtet hat, die er jetzt im Kopf hört: „I didn’t want to admit this. Because I want the surgery. I didn’t want to be sent somewhere else. ‚Unwertes Leben‘“ (69). Dieser Fachbegriff erinnert Frank daran, dass die Regierung jetzt von Ärzten fordert, dass sie deren psychisch kranke oder gehirnverletzte Patienten anmelden; diese werden dann auf staatliche Einrichtungen geschickt, die mit Bedacht schlecht finanziert seien: Unwertes Leben. Life unworthy of life. Frank watched Hartmann cross out each word he’d just written, making a black tangle of the page. He wished he still believed that the German law would protect Hartmann, a German soldier, the way it had protected the miller in the case against the king (69). Was Frank allerdings noch nicht weiß, ist die Tatsache, dass ein ähnliches Schicksal seinen eigenen jungen Sohn in Hannesburg bedroht. Durch solche Parallelhandlungen wird klar, dass am Ende die gesamte deutsche Bevölkerung ihrer politischen Führung zum Opfer fallen kann. Damit Hartmann vor seiner Versetzung nach Berlin behandelt wird, unternimmt Frank eine Operation im Januar 1945. Es ist kennzeichnend für die angsterfüllte Atmosphäre im Krankenhaus, das von SS -Schergen patroulliert wird, dass Frank zögert, bevor er das Stück Papier aufmacht, das Hartmann am Tag vor der Operation heimlich in seine Hand drückt: „If he opened it, he would be taking responsibility for what was inside. He could be impli‐ 256 Dennis Mahoney cated, He could be arrested“ (139). Aber nachdem er sich in einen Lagerraum zurückzieht, um seine Gedanken und Gefühle zu sammeln, beobachtet er aus einem Fenster die Furcht‐ losigkeit einer Frau in einer Gruppe von Flüchtlingen, als Hauptmann Schnell und seine Soldaten deren Pferdewagen umringen und sie mit Gewehren in der Hand auffordern, ihnen zu zeigen, was in der Kommode sei: Da fliegen Bienen aus der Schublade, die die Frau aufmacht. Erst dann wagt es Frank, das Papier zu lesen, das Hartmann ihm gegeben hat. Auf der ersten Seite steht die Inschrift: „Man without a Face - These poems are to be published in the event of my death. They are dedicated to Frank and Otto Kappus. - Heinrich Hart‐ mann“ (140). Zunächst wird Frank aus den reimlosen und unrhythmischen Gedichten nicht schlau. Aber Zeilen wie „black hands / swamp and clutch“ (140) erhalten eine besondere Bedeutung, als Frank zwei Schüsse hört und dann beobachtet, wie Schnells Soldaten mit seltsam bedrohlichen Grimassen auf die Erde losschießen: „It took Frank another moment to realize: They were shooting the bees“ (141). Der grausame Sadismus vom Totalen Krieg hat den Punkt erreicht, wo selbst auf einen Versuch, die bedrohte Natur zu retten, mit Gewehrkugeln geantwortet wird. Am nächsten Tag wird die siebenstündige Operation er‐ folgreich durchgeführt. Danach schaut Frank seinen friedlich schlafenden ehemaligen Klassenkameraden an und stellt fest, dass er nicht in der Lage ist, das Gedichtpäckchen zurückzugeben (148). Im Februar 1945, kurz bevor er nach Berlin versetzt werden soll, bekommt Frank von Liesl ein Telegramm mit der Mitteilung „ ANI ILL STOP SEND MEDICINE STOP “ - wobei „Medizin“ das Kennwort für Frank ist (210). Er bittet Schnell um Familienurlaub, aber bereits die Bitte wird als Zeitvergeudung bezeichnet (215). Währenddessen lässt ihn Hartmann wissen, dass morgen ein Ermittler kommt: „They’ll find what they want to find, he wrote. It’s likely I’ll be taken away“ (221). Am nächsten Tag wird aber das Militärkrankenhaus bombardiert, und auch Weimar und Buchenwald. Frank macht vom Chaos guten Gebrauch, um zu entfliehen. Zuerst nimmt er aber Abschied von Hartmann und reicht ihm eine der Zyanidkapseln, die die Patienten im Krankenhaus für den Fall einer sowjetischen Besatzung auf dem Schwarzmarkt anbieten. Am selben Abend in Hannesburg teilt Liesl Hans mit, dass sie nach dem letzten Termin mit Dr. Becker an seinen Vater geschrieben und ihn gebeten hat, nach Hause zu kommen. Darauf sagt Hans, dass Ani nichts von dem Telegramm wissen soll, obwohl sie ihm vom heutigen Luftangriff auf Weimar erzählen darf. Beide verstehen: „If Ani knew he was the reason they summoned Vati home, and Vati never made it, Ani would blame himself forever“ (201). Früher am Tag sind Ani and Uta auf die Suche nach Hans gegangen; auf dem Grund‐ stück einer ehemaligen Brauerei spielen Hans, seine Schulkameraden und die vielen in Hannesburg einquartierten Flüchtlingskinder neuerdings ein Entführungs- und Rettungs‐ spiel. Ani erblickt etwas Grünes fliegen, was er als Papagei mit einem verletzten Flügel identifiziert, obwohl Uta wider besseres Wissen bestreitet, etwas gesehen zu haben (192-194). Später in der Woche taucht Ani dort auf, seine Arme wie ein Vogel flatternd und auch papageienhaft wiederholend, was die anderen Kinder sagen oder schreien (239-241). Es wird immer offensichtlicher, dass sich Ani mit dem Vögelchen identifiziert, das er in seiner eigenen Version von „Fundevogel“ gefunden hat. Er fängt an, von Zimmer zu Zimmer im Haus zu flattern, und sagt Liesl: „I could live really old if I were a parrot“ (251). So ist es kein Wunder, dass Ani jetzt den Ruf hat, ein „Loony“ (Irrer) zu sein - wie Grete Dillman, 257 Maria Hummel: Motherland ein Flüchtlingskind, das jetzt mit ihrer Mutter und Schwestern im dritten Stock der Villa Kappus wohnt, ihn höhnisch nennt (240). Es ist aber Uta, nicht Liesl, die Ani an ihrem letzten Tag in Hannesburg rettet, bevor sie doch zu ihrem Liebhaber in Berlin zurückkehrt. Während Liesl zu einem Frauenschafts‐ treffen bei Frau Hefter geht, wo Hausschuhe aus Stroh für die Soldaten in Krankenhäusern verfertigt werden, wehrt Uta einen Arzt ab, der Ani im Auftrag von Dr. Becker untersuchen soll, nachdem Liesl gesucht hat, weitere Arztbesuche zu vermeiden. Auf dem zurückgelas‐ senen Zettel von Dr. Becker, der klar macht, dass weiterer Widerstand in dieser Sache als kriminelle Handlung gelten wird, hat Uta gekritzelt: „Dr. Pfeizer determined that he won’t be back again. Help yourself to my things. I left what didn’t fit me anymore. Love, Uta“ (260). Liesl erkennt, dass ihre Freundin Ani durch eine Verbindung von Frauenlist und Bestechung vor Hadamar gerettet hat, anstatt mit Hilfe ihres Geldes einen falschen Pass zu besorgen, ins Ausland zu reisen und eine neue Karriere als Sängerin anzufangen. Als Zuhörer und Leser von Märchen erwarten wir, dass es schlimmer wird, ehe sich die Lage bessert, und so ist es am Anfang des „Motherland“-Abschnitts im Roman, wo die amerikanische Armee in greifbarer Nähe zu Hannesburg steht (273), die inzwischen auch bombardiert wird. Dann kommt aber ein älterer Mann zu Liesl mit der Nachricht von ihrem „medicine,“ dass er in Sicherheit ist und dass sie Ani mit „Onkel Bernd“ senden soll, wenn jener gesund genug zum Reisen sei (303). Liesl schickt Hans mit und schreibt auch einen Brief an Frank, in dem sie im Detail über Anis Bleivergiftung berichtet. Drei Wochen später, am Vorabend der wahrscheinlichen Ankunft von amerikanischen Truppen in Hannesburg, steht Frank selber vor der Haustür. Er bringt neben Hans und Ani auch Kaninchen und Hühner, damit sie alle für die kommenden Tage und Wochen genug Proviant haben. Schon nach dem kurzen Aufenthalt auf der Farm seines Freundes, wo Frank seit der Rückkehr in die Frankfurter Gegend arbeitet, hat sich Anis Gesundheitszustand dramatisch verbessert. Er führt sogar seine „Mutti,“ wie er Liesl jetzt nennt, ins Zimmer, damit sie sich neben seinen Vater setzen kann und sie dann alle ein Haus für die vier Kaninchen bauen, die Frank mitgebracht hat (325). Wenn Motherland an dieser Stelle enden würde, hätten wir ein Kinder- und Hausmärchen im Geiste sowohl der Brüder Grimm als auch Liesls Wiedergabe von „Fundevogel“. Maria Hummel schreibt jedoch kein Märchen, sondern einen Roman. Am nächsten Tag geht Ani, der nun Bauer werden will, auf der Suche nach Gras und Klee für die Tiere unter seiner Aufsicht zum Brauereigelände. Er ist gerade im Begriff, nach Hause zu gehen, als er einen grünen und roten Vogel im Grasversteck erblickt. Als er voranschleicht, stößt sein Fuß auf etwas Hartes (343) und er fliegt durch die Luft, aber nicht als Vogel. Später am Abend klopft Herr Geiss an die Tür, etwas Großes unter einer Decke tragend: ‚We in the Reichsluftschutzbund extend our deepest regrets,‘ Herr Geiss said, his stoic expression collapsing. ‚There was a piece of unexploded ordnance on the brewery grounds…‘ He trailed off. A tiny blade of green drifted from beneath the blanket and fell to the floor (345). Bei der Beerdigung von Ani schenkt er der Familie das Bildnis von ihm und seiner Mutter. Auch in dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass die Autorin es vermeidet, Figuren wie Herrn Geiß eindimensional darzusellen, auch wenn wir bald danach erfahren, dass er wegen seines Handels mit gestohlenen Kunstwerken ins Gefängnis gebracht wird, wo er sich erhängt. 258 Dennis Mahoney 12 Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden, 1933-1945. Aus dem Amerikani‐ schen von Hans Günter Holl. Frankfurt / M. 1992. Die amerikanische Besatzung schickt Frank seinerseits in ein Arbeitslager, nachdem er beschuldigt wird, Lagerarzt in Buchenwald gewesen zu sein. Kurz vor ihrem eigenen Verhör im Sommer, wo Liesl erfährt, dass Utas Liebhaber zuerst sie und dann sich selbst in deren Berliner Wohnung erschossen hat, denkt sie: What do you want me to say? You know everything. You must have it in your reports. My baby is hungry. His brother wants to die. My husband came home from your prisoner-of-war camp looking almost as thin as the Jews. Maybe we believed the lies about them. Maybe we didn’t look when they were taken away. We didn’t know where they were going. Now we can’t look at all. I can’t look at him and he can’t look at me, and no one can understand us but the dead (357). Ein Hauptwerk des Holocaustforschers Raul Hilberg befaßt sich mit Tätern, Opfern und Zuschauern, wobei die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung zur dritten Kategorie ge‐ hörte. 12 Im Nachwort zu Motherland reflektiert Maria Hummel darüber, warum sie einen Roman über das Dritte Reich schreiben wollte, in dem die Hauptfiguren nicht in alle hor‐ riden Tatsachen eingeweiht sind. Vor allem wollte sie verstehen lernen, warum ihre eigenen liebevollen Großeltern ihrem Vater, dem Motherland gewidmet ist, selbst lange nach Kriegs‐ ende keine Auskunft über Naziverbrechen gegeben haben: „Instead of asking, What did they know, and when did they know it? I began to ask What did they love? What did they fear? and in place of a prefabricated fable, a complicated human story began to emerge“ (373). Gegen Ende des Romans gibt es ein bezeichnendes Beispiel, wie eine Kultur des Schweigens entstehen kann. Im August 1945 kommt Hans mit den sieben Tuben von Malblei, die er tief in Anis Matratze versteckt fand, zu seinem Vater. Obwohl Frank jetzt die Quelle von Anis Krankheit kennt, lügt er, dass diese Tuben höchstens Magenschmerzen verursachen würden. Er nimmt die Tuben und sagt Hans, dieser soll Liesl nichts davon sagen: „I don’t want you to trouble her“ (366). Aber die Verfasserin fügt zum Schlussteil des Romans auch einen Brief aus dem Juli 1945 über Überlebende von Hadamar und dessen Satelliteneinrichtungen ein, den Liesl von einer Schwester Johann in Limburg bekommt. Aus den zwölf ausgemergelten Jugendlichen, die im März in einem medizinischen Lieferwagen aus Hadamar in ihr Kloster eingeschmuggelt worden sind, berichtet die Nonne, ist nur einer noch am Leben, und auch er hat immer noch „terror nights“ (359) - was wir am Beispiel von Ani miterlebt hatten, während er noch Blei zu sich genommen hat. Offensichtlich hat sich Liesl über die Möglichkeit erkundigt, ein überlebendes Kind zu adoptieren, und auch etliche von Frank verfertigte Holzspielzeuge verschenkt. Schwester Johann schreibt: „We would gratefully use any more gifts you wish to make in the name of your son Anselm, and you are most welcome to visit us any time“ (360). Hier wird die Möglichkeit einer deutschen Mutterland-Kultur im Sinne des Gedichts von Rose Ausländer angedeutet, wo Menschen auch unbekannten Mitmenschen helfen und sie schützen, wie es am Beispiel der Aufnahme so vieler Flüchtlinge aus Syrien und anderen Krisegebieten ersichtlich wird. In einem Interview am 3. Oktober 2017 über ihren Roman betont Maria Hummel, dass die Trennung zwischen Mut im privaten Raum und in der Öffentlichkeit etwas war, was 259 Maria Hummel: Motherland 13 Williams, Sadie: „Motherland Author Maria Hummel Reads at Rice Memorial High School“. Seven Days. Vermont’s Independent Voice. Burlington 2017. (www.sevendaysvt.com/ LiveCulture/ archives/ 2 017/ 10/ 03/ motherland-author-maria-hummel-reads-at-rice-memorial-high-school). sie in Motherland untersuchen wollte und was für ihr eigenes Land problematisch geworden ist: As far as public and private courage, I mean that people can fail to do enough to stop their leaders from ruining the lives of strangers, but they may still work heroically to protect and nurture their own families, and particularly their own children. In hindsight, they can appear, even to them‐ selves - perhaps especially to themselves - as hypocrites and participants in evil. But at the time they may justify their actions for the sake of those who are vitally dependent upon them. I think of Liesl and Frank in this category. And when I contemplate the mass extinction on this planet for which future generations will judge us, I think of myself. 13 Als Maria Hummel ihren Roman schrieb, war es für die allerwenigsten Amerikaner vor‐ stellbar, dass ein Individuum wie Donald Trump Präsident der USA werden könnte. In der Zwischenzeit hat Motherland eine unheimliche Resonanz erhalten. Auch das, meine ich, ist ein gutes Indiz dafür, warum dieser Roman in der Ringvorlesung „Große Werke der Lite‐ ratur“ vorgestellt werden soll. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Hummel, Maria: Motherland. A Novel. Berkeley 2014. Sekundärliteratur: Burleigh, Michael: Death and Deliverance: ‚Euthanasia‘ in Germany 1900-1945. Cambridge 1994, 144-161. Butzer, Günter und Hubert Zapf: „Vorwort“. Große Werke der Literatur. Bd. XIII. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2015, 7-8. Gallagher, Hugh Gregory: By Trust Betrayed. Patients, Physicians, and the License to Kill in the Third Reich. New York 1990. Grimm, Jacob und Wilhelm: „Fundevogel“. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Aufzeichnungen der Brüder Grimm. Hg. Heinz Rölleke. 2 Bde. Stuttgart 1983, Bd. 1, 261-263. Hahn, Ulla: „Fundevogel“. Mädchen, pfeif auf den Prinzen! Märchengedichte von Günter Grass bis Sarah Kirsch. Hg. Wolfgang Mieder. Köln 1983, 91. Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden, 1933-1945. Aus dem Amerikani‐ schen von Hans Günter Holl. Frankfurt / M. 1992. Mieder, Wolfgang: „Sprichwörter unterm Hakenkreuz“. Muttersprache 93 (1983): 1-30. In englischer Fassung erschienen als „Proverbs in Nazi Germany: The Promulgation of Anti-Semitism and Ste‐ reotypes Through Folklore“. Proverbs are Never Out of Season. Popular Wisdom in the Modern Age. New York 1993, 225-255. The Vermont Cynic. Issue 22. Volume 134. Burlington 2018, 3 f. (https: / / issuu.com/ uvmcynic/ docs/ issu e_22). 260 Dennis Mahoney Williams, Sadie: „Motherland Author Maria Hummel Reads at Rice Memorial High School“. Seven Days. Vermont’s Independent Voice. Burlington 2017. (www.sevendaysvt.com/ LiveCulture/ archives / 2017/ 10/ 03/ motherland-author-maria-hummel-reads-at-rice-memorial-high-school). Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Bei‐ spielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. — : Literature as Cultural Ecology. Sustainable Texts. London 2016. 261 Maria Hummel: Motherland Die Beiträgerinnen und Beiträger Günter Butzer lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft / Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Kulturelles Erinnern und Vergessen, litera‐ turwissenschaftliche Symbolforschung, physiologische Poetik, Theorie der inneren Rede, Medienkulturen des Jenseits. Veröffentlichungen (Auswahl): (Hg., mit Bettina Bannasch) Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin / New York 2007; Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München 2008; (Hg., mit Joachim Jacob) Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nach‐ kriegsliteratur, München / Paderborn 2012; (Hg., mit Hubert Zapf) Theorien der Literatur, Bd. 7: Literatur und die anderen Künste, Tübingen 2018; (Hg., mit Hubert Zapf) Große Werke des Films, Bd. 2, Tübingen 2019; (Hg., mit Joachim Jacob) Metzler Lexikon literarischer Sym‐ bole, 3. erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 2020 [i. V.]. Hans Vilmar Geppert studierte, promovierte und habilitierte in Tübingen. Von 1984 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft / Verglei‐ chende Literaturwissenschaft in Augsburg. Veröffentlichungen (Auswahl): Der „andere“ historische Roman, Tübingen 1976; Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronen‐ wächter“, Tübingen 1979; Der realistische Weg; Literatur im Mediendialog; Der historische Roman: Geschichte unerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart, München 2006; Hg. Große Werke der Literatur, Bd. 1 ff; Hg. Theorien der Literatur, Bd. 1 ff. Joachim Jacob ist seit 2009 Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und All‐ gemeine Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er studierte Ger‐ manistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Heidelberg, Frankfurt / M. und Konstanz. 1996 promovierte er über das Thema Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Wieland und Klopstock und habilitierte 2005 über Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Literatur; Literatur, Philosophie und Theologie der Aufklärung / Frühen Neuzeit; Literari‐ sche Symbolbildung. Neben zahlreichen Aufsätzen veröffentlichte er zuletzt (Hg., mit Jo‐ hannes Süßmann) Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klas‐ sizismus (Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 13), Stuttgart 2018 (zusammen mit Johannes Süßmann); (Hg., mit Wolfgang Braungart und Jan-Heiner Tück) Literatur / Religion. Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Stuttgart 2019; (Hg., mit Günter Butzer) Metzler Lexikon literarischer Symbole, 3. erw. Aufl., Stuttgart 2020 [i. V.]. Helmut Koopmann studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie an den Universi‐ täten Bonn und Münster. Habilitation in Bonn 1968. Von 1969 bis 1974 war er Ordentlicher Professor für Neuere Philologie an der Universität Bonn, ab 1974 Ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Zahlreiche Gast‐ professuren in den USA , Südafrika, China, Italien und Indien; abgelehnte Berufungen an die Harvard University, USA , und an die Freie Universität Berlin. 1998 wurde ihm von der Randse Afrikaanse Universiteit in Johannesburg (jetzt University of Johannesburg) die Eh‐ rendoktorwürde verliehen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind: Literatur des 18. Jahrhunderts, Schiller, Goethe, Junges Deutschland (insbesondere Heine und Börne), Literatur der Jahr‐ hundertwende, Thomas und Heinrich Mann, Brecht, Broch, Döblin, Literatur der Nach‐ kriegszeit. Till R. Kuhnle ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft (littérature com‐ parée) an der Université de Limoges. Zuvor Lehre an den Hochschulen Université Charles-de-Gaulle (Lille III ), Universität Augsburg, Université du Littoral (Bou‐ logne-sur-Mer), Universität Erfurt, KU Eichhstätt und Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Seine wissenschaftlichen Qualifikationen erwarb er an der Universität Augsburg. Seit 2011 zahlreiche Positionen in der Selbstverwaltung der Université de Limoges und der Université Confédérale Léonard da Vinci ( COMUE Poitiers-Limoges); seit 2019 Direktor des Laboratoire Espaces Humains et Interactions Culturelles ( EHIC - EA 1087). Autor, He‐ rausgeber und Mitherausgeber von Monographien, Sammelbänden und Zeitschriftenson‐ dernummern. Zuletzt: Mirbeau - enfant terrible de la Belle Époque, Sondernummer der Zeit‐ schrift Lendemains, Tübingen 2018 (Hg. zusammen mit Arnaud Vareille); Ce qui advient … déclinaisons de l’aventure, Amiens 2018 (Hg. zusammen mit Danielle Buschinger); Aben‐ teuer, Kitsch und Katastrophe, Wien (Monographie, im Erscheinen). Zahlreiche Aufsätze und Handbucheinträge zur französischen, italienischen, rumänischen, englischsprachigen und deutschsprachigen Literatur, Begriffsgeschichte, Rhetorik und Ästhetik. (https: / / www.unil im.fr/ ehic/ ) Rotraud von Kulessa ist seit 2011 Professorin für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch / Italienisch) an der Universität Augsburg. Sie studierte Deutsch und Franzö‐ sisch auf Lehramt an den Universitäten Paris X - Nanterre, der FU Berlin sowie der Al‐ bert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. 1996 promovierte sie an der Albert-Lud‐ wigs-Universität Freiburg und habilitierte 2008. Forschungsschwerpunkte (u. a.): Transkulturalität, Spieltheorie, weibliche Genealogien von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert, die Europaidee in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts sowie Venezianische Literatur des 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen (Auswahl): Entre la re‐ connaissance et l’exclusion. La position de l’autrice dans le champ littéraire en France et en Italie à l’Epoque1900. Paris: Honoré Champion 2011; (Hg., mit A. Dubois-Nayt / M. E.Hen‐ neau) Revisiter la Querelle des femmes: Les discours sur l’égalité / inégalité des femmes et des hommes, à l’échelle européenne de 1400 à 1800. Saint-Etienne: PU 2015. Kritische Editionen: (Hg. mit Catriona Seth) L’idée de l’Europe au siècle des Lumières, OpenbookPublishers 2017 (http: / / www.openbookpublishers.com/ / download/ book/ 620); (Hg., mit Daria Perocco) Laura Terracina. Discorso sopra il principio di tutti i canti d’Orlando Furioso, Firenze 2017; Françoise de Graffigny. Lettres d’une Péruvuienne, Paris 2014 / 2016; Sammelbände: (Hg., mit Nora Moll, Dagmar Reichardt, Franka Sinopoli) Il caso italiano: violenza, memoria culturale e transculturalità (1990-2014) (im Druck); (Hg., mit Catriona Seth) Une éducatrice des Lu‐ mières: Marie Leprince de Beaumont, Paris 2018; „Démocratisation et diversification: les lit‐ tératures d’éducation à l’époque des Lumières“, Paris 2015. Dennis Mahoney ist Professor emeritus of German an der University of Vermont, USA , und Präsident der Internationalen Novalis-Gesellschaft. Seine Forschungsinteressen um‐ 264 Die Beiträgerinnen und Beiträger fassen die deutsche Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik, deutsche Kulturge‐ schichte, Komparatistik und Filmstudien. Mahoney publizierte zahlreiche Aufsätze zu Les‐ sing, Goethe, Schiller, Novalis, Thomas Mann und Wim Wenders. Frank Mardaus studierte Volkswirtschaftslehre, Philosophie und neuere deutsche Litera‐ turwissenschaft an der Universität Augsburg. Ab 1990 beschäftigt er sich mit der künstler‐ ischen Fotografie und ist seit 1996 als bildender Künstler freiberuflich tätig. 2005 wurde er Lehr- und Forschungsbeauftragter am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg und promovierte 2007 zum Thema Fotografische Zeichen - Uwe Johnsons Bildprogramm in den „Jahrestagen“. Forschungsschwerpunkt: Narrative Analo‐ gien in Literatur und Fotografie. Veröffentlichungen (Auswahl): Fotografische Zeichen. Uwe Johnsons Bildprogramm in den „Jahrestagen“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2008; „Archiv“, „Beton“, „Fleisch“ und „Schnecke“. In: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 3. erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 2020 [i. V.]. Eva Matthes ist seit WS 2000 / 2001 Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik an der Universität Augsburg. Sie studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Deutsch, Sozialkunde und Geschichte für das gymnasiale Lehramt. 1991 wurde sie promo‐ viert und erhielt 1993 für ihre Dissertation den Karl-Giehrl-Preis der Philosophischen Fa‐ kultät der Universität Erlangen-Nürnberg. 1997 folgte die Habilitation. Forschungsschwer‐ punkte (Auswahl): Geschichte der deutschen Erziehungswissenschaft und des pädagogischen Diskurses, Erziehungs- und Bildungsgeschichte, Erziehungs- und Bildungs‐ theorie, Internationale Schulbuch- und Bildungsmedienforschung. Veröffentlichungen (Auswahl): (m. Bernd Oberdorfer) Reformation heute, Bd. V: Menschenbilder und Lebenswir‐ klichkeiten, Leipzig 2019; Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Ein Lehrbuch. München 2011; (m. Carsten Heinze) Johann Friedrich Herbart: Umriß pädagogischer Vorlesungen (= Werk‐ interpretationen pädagogischer Klassiker, hrsg. v. Dieter-Jürgen Löwisch). Darmstadt 2003. Sonderausgabe 2011; (Hg., mit Caroline Hopf) Helene Lange und Gertrud Bäumer. Ihr Engagement für die Frauen- und Mädchenbildung. Bad Heilbrunn 2001. Annika McPherson ist seit 2014 Juniorprofessorin für Neue Englische Literaturen und Kulturwissenschaft an der Universität Augsburg. Sie studierte Kulturwissenschaft und Anglistik / Amerikanistik an der Universität Bremen. Sie wurde 2009 promoviert und war bis 2014 als Akademische Rätin am Institute for English and American Studies an der Uni‐ versität Oldenburg tätig. Forschungsschwerpunkte (u. a.): Anglophone Cultural Studies; Caribbean, West African, South African, Indian and Canadian Anglophone Literatures and Cultures; Black British and African American Literatures; Speculative Fiction and Afrofu‐ turism; Critical Diversity Studies. Veröffentlichungen (Auswahl): Songs of Freedom: Trans‐ local Reflections on Enslavement and Fugitivity in Anglophone Fiction, Poetry, Music and Film. (i. V.); White - Female - Postcolonial? Towards a Trans-cultural Reading of Marina Warner’s Indigo and Barbara Kingsolver’s The Poisonwood Bible. Trier 2011; (Hg., mit Wiebke Beus‐ hausen, Miriam Brandel, Joseph T. Farquharson, Marius Littschwager und Julia Roth), Prac‐ tices of Resistance in the Caribbean: Narratives, Aesthetics and Politics. New York and London 2018. 265 Die Beiträgerinnen und Beiträger Daria Perocco ist Professorin für Italienische Literatur an der Universität Ca’Foscari in Venedig. Sie nahm an zahlreichen internationalen Konferenzen teil (u. a. in den USA und in Neuseeland) und lehrte als Gastprofessorin an Europäischen und Amerikanischen Uni‐ versitäten. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen hauptsächlich auf der Literatur- und Kul‐ turgeschichte des 16. Und 17. Jahrhunderts und im Besonderen auf dem Drama (Machia‐ velli), der Reiseliteratur, weiblichen Schriftstellerinnen und der Erzählung (Bandello, Straparola). Veröffentlichungen (Auswahl): Viaggiare e raccontare. Narrazione di viaggio ed esperienza di racconto tra Cinque e Seicento, Alessandria 1997; Marc’Antonio Pigafetta, Iti‐ nerario da Vienna a Costantinopoli, Padova 2008; „per desiderio di vedere…“. Viaggi e narra‐ zioni di viaggio tra Cinque e Seicento, Lecce 2019; La prima Giulietta, Milano 2017; Poesie per le regate, Venezia 2006; A. Colbertaldo, Storia di Caterina Corner regina di Cipro. La prima biografia, Padova 2012. Dieter Schulz war bis 2008 ordentlicher Professor für Anglistik an der Universität Hei‐ delberg. Er studierte an der Universität Köln, der Freien Universität Berlin und an der Uni‐ versität Marburg, wo er 1968 zu dem Thema Studien zur Verführungsszene im englischen Roman (1660-1760) promovierte. 1975 bis 1982 war er ordentlicher Professor für Anglistik an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen (Auswahl): Henry David Thoreau: Wege eines amerikanischen Schriftstellers, Heidelberg 2017; (Hg. u. a. von Bettina Boecker) „Deed and Consequence: Retribution and the Theatre of Crime in Macbeth“ In: Acts of Crime: Lawlessness on the Early Modern Stage. Essays in Honour of Andreas Höfele, Würzburg 2015, 189-201; (Hg. mit Thomas Kullmann) Erziehungsideale in englischsprachigen Literaturen: Heidelberger Symposion zum 70. Geburtstag von Kurt Otten, Frankfurt 1997; 2013 erhielt er den Distinguished Achievement Award der Ralph Waldo Emerson Society. Cornelia Wörmann absolvierte ein Jungstudium in den Fächern Musiktheorie und Kla‐ rinette an der Hochschule für Künste in Bremen. Zur Zeit studiert sie Afrikastudien und Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Beziehung von Lite‐ ratur und Musik, literaturwissenschaftliche Symbolforschung. Veröffentlichungen zur Tier‐ symbolik im Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, 3. erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 2020 [i. V.]. Klaus Wolf studierte Germanistik und katholische Theologie an der Universität Augsburg. 1998 folgte die Promotion zu dem Thema Kommentar zur Frankfurter Dirigierrolle und zum Frankfurter Passionsspiel, welche mit dem Universitätspreis der Augsburger Universitäts‐ stiftung ausgezeichnet wurde. 2005 die Habilitation im Fach „Deutsche Sprache und Lite‐ ratur des Mittelalters“. Von 2010 bis 2012 wirkte er als Hochschuldozent für ältere deutsche Literatur an der Universität Heidelberg. Seit 2012 hat er die Lehrprofessur für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg inne. Veröffentlichungen (Auswahl): Dietmar von Aist. Kommentierte Ausgabe nach Codex Manesse mit den Fassungsvarianten der Parallelüberlie‐ ferung, In: Leuvense Bijdragen 96 (2007-2010), 79-119; Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt, München 2018; (Hg. von Klaus Amann und Wolfgang Hackl) „Ma‐ ximilian I. aus der Sicht der germanistischen Mediävistik“, In: Maximilian I, Innsbruck 2019. 266 Die Beiträgerinnen und Beiträger Hubert Zapf ist Amerikanist und war von 1991 bis 2018 Professor und Inhaber des Lehr‐ stuhls für Amerikanistik an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind amerikanische Literatur und Kultur, Kulturökologie, Literaturtheorie, Environmental Hu‐ manities. Ausgewählte Publikationen: Literatur als kulturelle Ökologie, Tübingen 2002; Amerikanische Literaturgeschichte (Hg.), 3. Aufl., Stuttgart 2010; Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology (Hg.), Berlin / Boston 2016; Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts, London 2016; „Ecological Thought in Europe and Germany“, In: A Global History of Literature and Environment (Hgg. John Parham und Louise Westling), Cambridge 2017: 269-285; Ecological Thought in German Literature and Culture (Mit-Hg.), New York / London 2017; „Cultural Ecology and the Sustainability of Literature“, Cultural Sus‐ tainability (Hgg. Torsten Meireis und Gabriele Rippl), London / New York 2019: 140-152. Heide Ziegler war bis 2011 Professorin für American Studies und Modern English Lite‐ rature an der Universität Stuttgart. Sie promovierte 1976 an der Julius-Maximilians-Uni‐ versität Würzburg, wo sie 1982 auch habilitiert wurde. Sie war Gastprofessorin an der Uni‐ versity of Texas in Austin und der Harvard University. Von 1992 bis 1996 war sie Rektorin der Universität Stuttgart, von 1998 bis 2005 Präsidentin der International University in Germany in Bruchsal sowie von 2011 bis 2019 Mitglied im Universitätsrat in Augsburg. Zeitnahe Veröffentlichungen: „William Faulkner, Absalom, Absalom! “, In: Handbook of the American Novel of the Twentieth and Twenty-First Centuries (Hg. Timo Müller), Berlin / Boston 2017, 206-221; (Hg. mit Patrick O’Donnell) Symbolism: An International An‐ nual of Critical Aesthetics, vol. 15, Berlin / Boston 2015. 267 Die Beiträgerinnen und Beiträger ISBN 978-3-7720-8705-9 GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X V GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X V www.narr.de Der Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen sind. Er versammelt Aufsätze zur deutschen, US-amerikanischen, estnischen, italienischen, karibischen und französischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Enthalten sind Beiträge von Klaus Wolf (Dietmar von Aist, Minnelieder), Rotraud v. Kulessa/ Daria Perocco (Terracina, Discorsi sopra le prime stanze de, canti d ,Orlando furioso), Dieter Schulz (Thoreau, Walden or Life in the Woods), Hans Vilmar Geppert (Fontane, Cécile; Irrungen, Wirrungen; Stine), Till Kuhnle (Céline, Voyage au bout de la nuit), Günter Butzer/ Cornelia Wörmann (Schwitters, Ursonate), Helmut Koopmann (Hesse, Das Glasperlenspiel), Heide Ziegler (Th. Mann, Doktor Faustus), Hubert Zapf (Miller, Death of a Salesman), Joachim Jacob (Bachmann, Enigma), Frank Mardaus (Luik, Der siebte Friedensfrühling), Annika McPherson (Walcott, Omeros), Eva Matthes (Herrndorf, Tschick) und Dennis Mahoney (Hummel, Motherland). 38705_Umschlag.indd Alle Seiten 38705_Umschlag.indd Alle Seiten 26.06.2020 15: 13: 17 26.06.2020 15: 13: 17