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Über die Textgeschichte des Römerbriefs

2020
978-3-7720-5709-0
A. Francke Verlag 
Alexander Goldmann

Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das "Abrahamkapitel" (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schriftensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts.

ISBN 978-3-7720-8709-7 www.narr.de T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER T A N Z T A N Z Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das „Abrahamkapitel“ (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schri ensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts. Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs 38709_Umschlag.indd 1,3 38709_Umschlag.indd 1,3 16.11.2020 16: 35: 27 16.11.2020 16: 35: 27 Über die Textgeschichte des Römerbriefs T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 63 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie die Sächsische AufbauBank (SAB). © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8709-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5709-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0106-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® meinen Eltern 11 13 23 2.1. 23 2.1.1. 23 2.1.2. 26 2.2. 32 2.3. 41 45 3.1. 45 3.2. 48 3.2.1. 49 3.2.2. 56 3.2.3. 61 3.3. 71 3.3.1. 74 3.3.2. 76 3.3.3. 82 3.3.4. 87 3.4. 88 89 4.1. 89 4.2. 94 4.2.1. 94 4.2.2. 101 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hinführung und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodologische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. . . . . Die 10-Briefe-Sammlung - der Marcionitische Apostolos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärung - was sind Paratexte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Amiatina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Regalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfasserschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die altlateinischen Prologe und die Überlieferungsgeschichte des Corpus Paulinum . . . . . . Fazit und Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die häresiologische Bezeugung von Rm 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . Der paratextuelle Befund für Rm 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Amiatina und Rm 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Regalia und Rm 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. 105 4.4. 109 109 115 5.1. 115 5.2. 130 5.2.1. 130 5.2.2. 132 5.2.3. 136 5.3. 137 147 6.1. 147 6.2. 150 6.2.1. 150 6.2.2. 153 6.2.3. 157 6.3. 160 6.3.1. 162 6.3.2. 165 6.3.3. 168 6.3.4. 170 6.4. 175 6.4.1. 175 6.4.2 184 6.5. 201 6.5.1. 207 6.5.2. 211 223 Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10 Rm . Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen . . Die Bedeutung der Schrift und der jüdischen Wurzeln des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 . . . . . . . . . . . . . . Der paratextuelle Befund für Rm 9-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Amiatina und Rm 9-11 . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Regalia und Rm 9-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutung des paratextuellen Befundes . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Schluss des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die häresiologische Bezeugung für den Schluss von 10 Rm . . . Der paratextuelle Befund für Rm 15f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Amiatina und der Schluss des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Capitula Regalia und der Schluss des Römerbriefes Der altlateinische Prolog zum Römerbrief . . . . . . . . . . . Der kurze Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kurze Römerbrief als Resultat der Redaktionstätigkeit Marcions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kurze Römerbrief als Resultat einer katholisierenden Bearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kurze Römerbrief als Resultat eines mechanischen Ausfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kurze Römerbrief als älteste erreichbare Textform Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der handschriftliche Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Lösungsmodelle und ihre Insuffizienz . . . . . . Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell . . . . . . . . . Das Problem der Benedictio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die redaktionelle Ergänzung der Kapitel 15 und 16 . . . VII. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 231 233 1. 233 2. 235 3. 235 245 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophi‐ schen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet. Herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Professor Dr. Mat‐ thias Klinghardt, der mich bereits während des Studiums förderte und mir nach dem Examen die Möglichkeit eröffnete, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie zu forschen. Während einer mehrjährigen Unterbrechung meiner Studien aufgrund des Referendariats sowie der anschlie‐ ßend beginnenden Tätigkeit im Schuldienst, hielt er an mir fest und gab mir die Möglichkeit, meine Untersuchungen zu späterer Zeit im Rahmen des For‐ schungsprojekts TENT („Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“) fort‐ zusetzen. Seine Ideen brachten den Stein ins Rollen, seine Denkanstöße hielten ihn am Laufen, sein Vertrauen motivierte mich, das Projekt zu Ende zu bringen. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang auch der Sächsischen Bildungs‐ agentur sowie der Schulleitung des Romain-Rolland-Gymnasium Dresden, die dies durch eine Reduzierung meines Deputats möglich machten. Ebenso sei dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie der Sächsischen AufbauBank (SAB) für die Finanzierung des Projekts TENT gedankt. Herrn Professor Dr. Günter Röhser (Bonn) danke ich vielmals für die Über‐ nahme des Zweitgutachtens, v. a. aber für die gewissenhaften und stets wohl‐ wollenden Korrekturhinweise. Den Herausgebern der „Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeit‐ alter“ sei für die Aufnahme in die Reihe gedankt. Als Projektleiter TENT bin ich Dr. Jan Heilmann in besonderem Maße ver‐ bunden. Seine geduldigen Hinweise und seine sehr produktorientierte Be‐ treuung war für die Fertigstellung der Arbeit von unschätzbarem Wert. Ebenso danke ich den TENT-Kollegen Tobias Flemming, Daniel Pauling, Kevin Künzl und Frido Wegscheider sowie Nathanael Lüke, Katharina Degen, Juan Garcés und Jens Schuster. Sie lieferten zahlreiche fachliche Hinweise und Anregungen, die für das Gesamtwerk von kaum zu überschätzender Bedeutung waren. Für das Korrekturlesen bin ich Adriana Zimmermann und Andreas Glaubitz zu großem Dank verpflichtet. Jedwede Fehler und Unzulänglichkeiten sind nach ihrer Lektüre in das Manuskript gerutscht und ausschließlich mir zuzu‐ schreiben. Den bedeutendsten Beitrag an diesem Forschungsprojekt leistete meine Fa‐ milie, v. a. meine Partnerin Romy Schneider, die mir während des langwierigen Arbeits- und Schreibprozesses unter nicht immer einfachen Rahmenbedin‐ gungen stets den Rücken frei hielt. Ohne ihre uneigennützige Entlastung, Nach‐ sicht und Geduld hätte diese Arbeit keinesfalls fertig gestellt werden können. Dresden, im November 2020 Alexander Goldmann 12 Vorwort 1 F I S C H E R , Lateinische Bibelhandschriften, S. 37. 2 K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 284. Ähnlich J E W E T T , Romans, S. 4: „[T]he issues related to the text of Romans […] are among the most complicated in the field of NT study.“ Interessanterweise spricht Jewett hier nicht explizit vom Schluss des Römerbriefes, sondern vom Brief als Ganzem. I. Hinführung und Motivation Der Schluss des Römerbriefs - ein unübersichtliches Problemfeld „In den letzten 60 Jahren hat die Handschriftenkunde, Paläographie und Kunstge‐ schichte einen großen Aufschwung genommen; die textgeschichtliche Forschung ist demgegenüber etwas zurückgeblieben. Daher können hier weniger fertige Ergebnisse dargeboten werden, als vielmehr ungelöste Fragen und Probleme. Vielleicht locken sie neue Kräfte auf dieses Gebiet, das nur dem Unkundigen oder Anfänger als trockene Wüste erscheint.“ 1 Diese Einschätzung des ausgewiesenen Experten der Textgeschichte und -kritik des Neuen Testaments und langjährigen Leiters des Beuroner Vetus-Latina-In‐ stituts Bonifatius F I S C H E R liegt nun schon mehr als drei Jahrzehnte zurück. Seitdem hat die Forschung durchaus wichtige Schritte unternommen und be‐ merkenswerte Weiterentwicklungen erfahren, doch zweifelsohne sind einige Fragen ungelöst und Probleme offen geblieben. Ein solches Problem birgt der neutestamentliche Römerbrief. Folgt man dem Urteil der Herausgeber der gängigen kritischen Textausgaben, umfasst der Brief 16 Kapitel. Den Abschluss bildet dabei eine umfangreiche Do‐ xologie. Doch schon ein kurzer Blick in die Apparate lässt erkennen, dass diese beiden Entscheidungen der Textkritiker (der Brief beinhaltet 16 Kapitel und endet mit einer Doxologie) keineswegs auf sicherem Fundament stehen. Die handschriftliche Überlieferung des umfangreichsten der paulinischen Briefe weist an dessen Ende im Rahmen der Schriften des Neuen Testaments eine beispiellose Vielzahl an Varianten auf. Als unbestrittenes Schwer(st)ge‐ wicht der neutestamentlichen Textforschung identifizierte Kurt A LAN D bzgl. des Briefschlusses insgesamt vierzehn (! ) verschiedene Textformen und beschrieb das daraus resultierende Problem als das „schwierigste (…), welches der neu‐ testamentlichen Textkritik überhaupt gestellt ist.“ 2 Zu klären ist in erster Linie, 3 B R U Y N E , Les deux derniers, S. 423: „[C]e probleme textuel reste le plus debattu et nean‐ moins le plus obscur de tout Nouveau Testament.“ Wenn in der Folge bei fremdspra‐ chigen Zitaten oder Quellenangaben nichts anderes vermerkt ist, wurden die Überset‐ zungen selbst angefertigt. Wenn nicht anders gekennzeichnet, stammen Bibelzitate stets aus NA 28 , Übersetzungen sind der Lutherübersetzung von 2017 entnommen. 4 Die Kapitelangaben gehören nicht zum ältesten Bestandteil des Textes, sondern be‐ ziehen sich auf die heutige Einteilung des Briefes, die erst seit dem Mittelalter besteht. 5 Vgl. dazu ausführlich Kap VI. Der Schluss des Römerbriefes. welche dieser Textformen den Ausgangspunkt der Überlieferung - den Ar‐ chetyp - darstellt. Ferner muss danach gefragt werden, wie die verbleibenden bezeugten Textformen entstehen konnten, genauer: wie sie genealogisch mit‐ einander zusammenhängen. Die genannten Fragen fundieren das Problemfeld der Textgeschichte des Rö‐ merbriefschlusses, welches von Donatien de B R U Y N E sogar als „das meistdisku‐ tierte und dennoch das undurchsichtigste des gesamten Neuen Testaments“ 3 bezeichnet wurde. Solch kühne Einschätzungen (Aland, de Bruyne) hinterlassen Spuren und fordern heraus. Sie fordern heraus, das Problemfeld zu betreten. Sie fordern heraus, die herkömmlichen Lösungsmodelle zu durchdenken, dabei aber stets die Augen für neue Wege offenzuhalten. Zunächst ist zu klären, was das besagte Problemfeld eigentlich bedeutsam macht: Ungeachtet der Notwendigkeit, die einzelnen handschriftlich bezeugten Textformen in einem umfassenden Entstehungsmodell zu integrieren, bleibt der übergeordnete, strittige Punkt, ob der Brief des Paulus an die Römer ursprüng‐ lich 16, 15 oder gar nur 14 Kapitel beinhaltete. 4 Alle drei Optionen sind im Hin‐ blick auf den handschriftlichen Befund denkbar. 5 Würde man das 16. Briefkapitel als sekundäre Interpolation verstehen, hätte das einigermaßen weitreichende Konsequenzen - nicht nur für die historische Paulusforschung. Bedeutsame In‐ formationen hinsichtlich des Abfassungsorts sowie des Briefschreibers würden in neuem Licht erscheinen, ebenso die sozialgeschichtlich wertvollen Details über Struktur und Zusammensetzung der frühen christlichen Gemeinde in Rom. Nicht minder schwer wiegen die Schlüsse, die eine Abtrennung des 15. Kapitels vom ursprünglichen Briefkorpus mit sich brächte; Aussagen über das missio‐ narische Selbstverständnis des Paulus (15,14-21), seine Reisepläne nach Spanien (15,22ff), seine Unruhe vor dem Hintergrund der Kollektenübergabe in Jeru‐ salem (15,25-28.31) sowie die daraus resultierende Motivation des gesamten Schreibens müssten neu bewertet werden. Zu beachten ist außerdem, dass sich in Rm 15 auch der einzige literarische Hinweis innerhalb des Corpus Paulinum befindet, dass die Geldsammlung erfolgreich (d. h. hinreichend ertragreich) war und Paulus sie folglich wirklich in Jerusalem abzuliefern gedachte, wie es der 14 I. Hinführung und Motivation 6 G A M B L E , The Textual History, S. 13: „It is clear, […] that a serious effort to clarify the textual history of the letter must garner and integrate all the relevant evidence and […] various methodological approaches into effective cooperation.“ 7 So zuletzt J E W E T T , Romans, S. 4: „Such [text-critical] decisions take priority over any interpretive theory or theological system.“ 8 So z. B. der Ansatz von G A M B L E , The Textual History, S. 35 sowie D U T O I T , Focusing on Paul, S. 351. 9 D U T O I T , Focusing on Paul, S. 352. 10 In Anlehnung an die Terminologie der klassischen Philologie handelt es sich dabei um „eine Übersicht über die Textgeschichte, welche die Zahl der für die Textherstellung in Betracht kommenden Handschriften […] radikal auf die geringe Zahl der Vorlagen be‐ Darstellung der Passionsgeschichte des Paulus in der Apostelgeschichte ent‐ spricht. Denn ohne die Kenntnis von Rm 15 wären für den Leser all jene Pas‐ sagen, in denen in der Apostelgeschichte die Kollekte angedeutet wird, nur schwer verständlich. Der umfangreiche forschungsgeschichtliche Befund zu der Thematik weist me‐ thodisch zwei zu differenzierende Stoßrichtungen auf: Einerseits werden lite‐ rarkritische, also interne Phänomene in den Blick genommen, andererseits spielt - wie bereits erwähnt - der textkritische Befund (also die externe Bezeu‐ gung des Briefes) eine entscheidende Rolle. Um zu einer plausiblen Lösung der genannten Fragen zu gelangen, ist es zweifelsohne geboten, beide Blickrich‐ tungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, 6 wenngleich der Ausgangs‐ punkt der weiteren Untersuchungen die handschriftliche Bezeugung bleibt. 7 Der Blick in die Forschungsgeschichte zur Problematik des Römerbrief‐ schlusses macht deutlich, dass es in jüngerer Zeit immer wieder Versuche ge‐ geben hat, das Problemfeld auf die alleinige Frage nach dem ursprünglichen Briefumfang (14, 15 oder 16 Kapitel) zu reduzieren. 8 In diesem Zuge muss D U T O IT s Hinweis „to avoid getting bogged down by less important detail“ 9 deutlich widersprochen werden, denn eine solche Reduktion kann der Komplexität der Materie schlicht nicht ausreichend gerecht werden. Mitnichten handelt es sich bei Varianten innerhalb der handschriftlichen Überlieferung um ‚unbedeutende Details‘. Vielmehr geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Problem des ursprünglichen Briefumfangs gar nicht unabhängig von der Frage nach dem genealogischen Zusammenhang der einzelnen Textformen geklärt werden kann. Nur eine auf diesem Weg gewonnene Lösung würde auf einem hinrei‐ chend tragfähigen Fundament fußen. Es ist daher unbedingt geboten, alle (! ) handschriftlich bezeugten Variationen des Briefschlusses zu berücksichtigen und genealogisch miteinander in Bezie‐ hung zu setzen. Bezüglich des Römerbriefschlusses liegen die in diesem Zuge entstandenen Stemmata  10 allerdings auch schon einige Jahrzehnte zurück und 15 I. Hinführung und Motivation schränkt, seien es reale, seien es hypothetische, von denen die anderen Handschriften abhängen“; K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 290f. Ziel ist es, auf diesem Wege „einen vollständigen Überblick über die Textgeschichte“ (B. A L A N D , Rezeption, S. 44) zu erlangen. Dass ein solches Modell letztlich auch eine (oder mehrere) Text‐ form(en) als ursprünglich kenntlich macht, aus welcher sich das Zustandekommen aller anderen sukzessive erklären lässt, liegt auf der Hand. 11 Exemplarisch dafür D U T O I T , Focusing on Paul, S. 352: „Those interested in the form and genealogy of the multitude of smaller variations and mixed forms that have reached us can consult the extensive overview of Aland in this regard.“ 12 So J E W E T T , Romans, S. 6, der die Modelle von Aland und Lampe zwar abbildet, allerdings ohne eine grundlegende kritische Analyse derselben letztlich nichts anderes als eine „slight modification of the Lampe hypothesis“ bietet. 13 Wenngleich Alands und de Bruynes Zitate (siehe S. 1f) das vermuten lassen. 14 Vgl. K. A L A N D , Interlude, S. 11. 15 Vgl. dazu Regel Nr. 6 der „Zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit“ (K. A L A N D / B. A L A N D , Text des Neuen Testaments, S. 284). Bereits 1979 formulierte Kurt Aland, dass ein Stemma „nicht für die ganze Schrift, sondern nur für die zur Debatte stehende Stelle (und ihre Textumgebung! ) gilt. […] So kann eine Handschrift beinahe von Stelle zu Stelle andere Wertigkeiten [ihres Textwertes] aufweisen“; K. A L A N D , Interlude, S. 10. In der klassischen Philologie werden Stemmata dagegen nicht für jede einzelne Stelle, sondern für den ganzen Text aufgestellt. Für das Neue Testament ergibt sich das Gesamtstemma dagegen gewissermaßen als Summe der einzelnen Variantenstemmata (= lokale Stem‐ mata). Aland begründete diesen Unterschied damit, dass der Text des NT ein lebender Text sei, der anderen Gesetzen folgt als der eines klassischen Schriftstellers, den Aland als einen toten Text bezeichnet (vgl. ebd.). „Nur der Laie kann meinen, daß [die Heran‐ gehensweise der LGM] im Gegensatz zur Arbeit der klassischen Philologie stehe“; K. A L A N D , Interlude, S. 11. Ausführlich dazu M I N K , Stemmatisierung. man muss feststellen, dass in jüngeren Studien in der Regel schlicht auf jene in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten „Stamm‐ bäume“ verwiesen wird 11 bzw. diese geringfügig modifiziert übernommen werden. 12 Die vorliegende Arbeit setzt sich also zum Ziel, hier eine Neubestim‐ mung zu wagen. Um den besagten Themenkomplex zu bearbeiten sind zunächst einige Vorüber‐ legungen notwendig: a. Das Problem des Schlusses des Römerbriefs kann nicht losgelöst von den restlichen textkritischen Schwierigkeiten des Briefes bearbeitet werden. 13 Insbesondere der Grundansatz des Instituts für neutestamentliche Text‐ forschung in Münster (INTF) ist noch immer stark von der von Kurt A LAN D als lokal-genealogische Methode bezeichneten Vorgehensweise 14 geprägt, jede Stelle, an der Varianten in der handschriftlichen Überliefe‐ rung auftreten, einzeln auszuwerten und zu beurteilen. 15 Diese Herange‐ hensweise läuft Gefahr aus den Augen zu verlieren, dass die Phänomene 16 I. Hinführung und Motivation 16 Bereits Brooke Westcott formulierte dies 1882 sehr heroisch: „The first great step in rising above the uncertainties of Internal Evidence of Readings were taken by ceasing to treat Readings independently from each other“; vgl. W E S T C O T T / H O R T , Introduction, S. 39. 17 Vgl. K L I N G H A R D T , Textgeschichte, S. 96. 18 Zur Erklärung der CBGM s. W A C H T E L , Coherence-Based Genealogical Method. Grenzen und Voraussetzungen der Methode werden von Mink in dieser frühen Publikation dis‐ kutiert: M I N K , Eine umfassende Genealogie. Aktueller die folgende Darstellung: M I N K , Recent developments. Ausführlich und kleinschrittig wird die Methode auch in der nachfolgenden Präsentation erläutert: MINK, The Coherence Based Genealogical Me‐ thod CBGM, Introductory Presentation, Münster 2008 (Release 1.0) auf http: / / egora.un imuenster.de/ intf/ service/ downloads.shtml. 19 In Anspielung auf den Titel des in Anm. 17 und 20 zitierten Aufsatz Klinghardts: „Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft“. 20 Falls doch in einigen Fällen von redaktionellen, d. h. nicht-zufälligen Textänderungen ausgegangen wird, so werden diese als eine lange Kette einzelner Eingriffe in den Text verstanden, die in keinerlei Zusammenhang zueinander stehen; so z. B. E H R M A N , The Orthodox Corruption. Somit ist K L I N G H A R D T , Textgeschichte, S. 92 zuzustimmen, der bemängelt, dass sich solcherlei Eingriffe „in keinem Fall konkretisieren lassen und des‐ halb beliebig bleiben.“ 21 Für Q U I S P E L , Marcion and the Text, S. 350f scheint dies selbstverständlich zu sein: „The manuscripts in use […] must have suffered from scribal errors […] and must have un‐ dergone redactional corrections.“ zueinander in Verbindung stehen könnten. 16 Darüber hinaus impliziert sie eine grundsätzliche Gleichartigkeit der einzelnen Varianten, d. h. es wird nicht unterschieden, um welche Arten von Textveränderungen es sich handelt. 17 So rechnet die aktuelle Erweiterung der LGM, die sog. ko‐ härenzbasierte genealogische Methode (CBGM) 18 , weiterhin v. a. mit zu‐ fälligen, nicht-intentionalen Veränderungen durch einzelne Schreiber, die völlig unabhängig voneinander geschehen. Dies mag für kleinere Vari‐ anten (mit denen es die Textkritik mehrheitlich ja auch zu tun hat) noch anwendbar erscheinen, aber bei solch umfangreichen Abschnitten, wie sie am Schluss des Römerbriefes fehlen (Kap 15 f bzw. Kap 16) oder in ihrer Stellung variieren (Doxologie Rm 16,25-27), scheint eine solche Vorstel‐ lung und die daraus resultierende Methode nicht übertragbar. Hier ist es dagegen plausibel - pointiert könnte man vielleicht sogar sagen, dass es die textkritische Vernunft gebietet -, 19 auch die Möglichkeit von redakti‐ onellen Textveränderungen (also solchen Änderungen, die reflektiert und intentional geschehen) 20 zuzulassen. 21 Erst dann wird es möglich, bisher unabhängige Phänomene miteinander in Verbindung zu setzen und somit zu überzeugenderen Lösungen zu kommen. Die Arbeit wird deutlich ma‐ chen, dass das Problem des Römerbriefschlusses nur zufriedenstellend zu lösen ist, wenn man die Textgeschichte des gesamten Briefes in den Blick 17 I. Hinführung und Motivation 22 So z. B. auch U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 99 sowie P O R T E R , When and How, S. 96. 23 Zu Briefsammlungen als literarische Gattungen vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulus‐ briefsammlung, S. 84-104 bzw. B I R T , Das antike Buchwesen, S. 342-370. 24 T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 88: „Sobald ein Privatbrief in eine Briefsammlung aufgenommen wird, hört er auf, Privatbrief zu sein. Er ist einer Redak‐ tion ausgesetzt, die ihm die Funktion eines offenen Briefes oder eines Kunstbriefes verleiht.“ Dies gilt für antike Briefsammlungen genauso wie für moderne. Als Beispiel für Letztere verweist Trobisch auf Dietrich Bonhoeffers Briefe, die von Eberhardt Bethge gesammelt, bearbeitet und unter dem Titel Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft herausgegeben wurden. So wurden in der Originalausgabe Bethges u. a. Anrede und Schlussgrüße der einzelnen dokumentarischen Briefe entfernt, aber auch thematische Änderungen vorgenommen (so wurden z. B. private Inhalte ent‐ fernt, etwa die Korrespondenz mit der Verlobten). In der Neuausgabe wird genau be‐ schrieben, in welchem Umfang die Briefe für die Herausgabe der Erstedition überar‐ beitet und verändert wurden. Einige dieser Veränderungen wurden dabei wieder rückgängig gemacht; vgl. ebd. Anm. 15. 25 Die früheste Erwähnung des Begriffs findet sich bei M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 482, der wie folgt definiert: „Der Ausgangstext ist der Text, von dem die gesamte nimmt, wenn man also die einzelnen Phänomene überlieferungsge‐ schichtlich miteinander in Beziehung setzt. b. Die Textgeschichte des Römerbriefes wiederum ist nicht unabhängig von der Textgeschichte des Corpus Paulinum zu ergründen. Denn wie sämt‐ liche paulinischen Briefe ist auch der Römerbrief in allen uns bekannten Zeugnissen und Manuskripten nie als einzelner Brief überliefert, sondern stets als Teil einer Sammlung von Paulusbriefen. Um das Rätsel des Rö‐ merbriefes zu entschlüsseln, muss man daher die Genese der Paulusbrief‐ sammlung betrachten. 22 Ausgangspunkt der neutestamentlichen Textüberlieferung der Paulusbriefe sind also stets Briefsammlungen  23 und nicht die Fassungen der dokumentarischen Paulusbriefe, die möglicher‐ weise im 1. Jh. geschrieben und an die Gemeinden verschickt wurden - Letztere sind schlichtweg unbekannt. Natürlich gehen Briefsammlungen in der Regel auf Autographa (also die ursprünglichen, dokumentarischen Texte) zurück, doch hat T R O B I S C H ausführlich herausgearbeitet, dass sie in solchen Fällen stets redaktionelle Bearbeitungen erfahren. 24 Die Vorstellung, dass es möglich ist, den „ursprünglichen“ Römerbrief zu re‐ konstruieren, ist aufgrund unserer vorhandenen Zeugnisse sehr kritisch zu be‐ trachten. Doch auch das vordergründige Ziel der CBGM, die Suche nach dem Ausgangstext (initial text), d. h. derjenigen Textform, die den Beginn der Textüberlieferung darstellt, 25 ist wiederum insofern problematisch, als die Methode gewissermaßen einen eklektischen Text liefert, der in seiner Gesamtheit mit 18 I. Hinführung und Motivation Überlieferung ihren Ausgang nimmt und der der ersten Filiation in verschiedene Über‐ lieferungszweige unmittelbar vorausgeht. Wenn die Textkritik vom ursprünglichen Text redet, meint sie im allgemeinen diesen Ausgangstext.“ Zum Problem der mehr‐ deutigen Verwendung des Begriffs originaler Text bzw. Urtext vgl. E P P , Multivalence of the Term; zur falschen Benutzung des Begriffs Ausgangstext vgl. G U R R Y , Critical Exa‐ mination, S. 92-99. 26 H O L M E S , From Original to Initial, S. 652 macht es sich zu einfach, indem er behauptet: „The initial text may be viewed as the reconstructed text that is imperfectly conveyed by the archetypical manuscript.“ Der Ausgangstext der CBGM ist nicht unvollkommen vermittelt, er ist in dieser Form schlichtweg nicht bezeugt. 27 T R O B I S C H , Distinctive Editions, S. 47. 28 Vgl. U. S C H M I D , Das marcionitische Evangelium, S. 94f. 29 U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 113 bzw. S. 99. keinem bekannten Manuskript identisch ist. 26 Die Frage, welches Manuskript bzw. welche tatsächlich bezeugte Textform (die wiederum Teil einer konkreten Briefsammlung sein müsste) den Ausgangspunkt (also den Archetyp) der Über‐ lieferung darstellt, darf nicht ignoriert werden. Dazu bemerkt T R O B I S C H : „Present editions of the New Testament are so focused on the text line, the initial text, that the larger picture is easily missed.“ 27 Es geht also um die Frage nach dem textkritischen Ansatz: die historische und textliche Rekonstruktion von Briefsammlungen muss vor der Rekonstruktion der konkreten textkritischen Archetypen der einzelnen Briefe stehen. 28 So for‐ dert S C HMID zu Recht: „The unusual textual tradition of Paul’s letter to the Romans has to be interpreted within the history of the Corpus Paulinum as a collection.“ 29 In diesen einleitenden Überlegungen kamen drei Einsichten zur Sprache, die das Problemfeld der vorliegenden Studie fundieren: 1. Die bisherige methodische Herangehensweise und Zielstellung der text‐ kritischen Arbeit greift zu kurz. Ein synthetisch hergestellter, eklektischer Ausgangstext, auf den alle anderen Textformen zurückgehen sollen, kann - losgelöst von jeglichen überlieferungsgeschichtlichen Aspekten - kaum historische Plausibilität beanspruchen. 2. Der methodische Ansatz der CBGM, in der Regel hauptsächlich von zu‐ fälligen und voneinander unabhängigen Eingriffen in die Texte auszu‐ gehen, um die Entstehung einer solchen Vielzahl an Textvarianten zu erklären, die das Neue Testament bietet, genügt nicht. Die Anbindung der Textgeschichte an ein historisch plausibles, überlieferungsgeschichtli‐ ches Modell bleibt unumgänglich und muss v. a. klar benannt werden. 19 I. Hinführung und Motivation 30 L E M B K E , Besonderheiten, S. 229f legt dar, dass die CBGM von der Voraussetzung aus‐ geht, „dass sich die Überlieferung des Neuen Testaments von einem [! ] Ausgangstext mehr oder weniger organisch zu einem Endstadium, dem byzantinischen Text, entwik‐ kelt habe.“ 31 L E M B K E , Besonderheiten, S. 227f: „Denn hier [scil. im Überlieferungsprozess der Offb] gibt es keinen Endzustand der Textentwicklung; die Überlieferung bleibt in mehrere Zweige geteilt, die sich zwar teilweise auch vermischen, aber sich nicht gegenseitig so weit kontaminieren, dass die Masse der Zeugen in einem nahezu homogenen Ganzen aufgeht, wie es in den übrigen Schriften in Form des byzantinischen Mehrheitstextes der Fall ist. Der größte Teil der Zeugen bleibt in der Offb-Überlieferung in deutlich voneinander isolierte Gruppen geteilt; es vollziehen sich separate Textentwicklungen innerhalb verschiedener Überlieferungslinien weitgehend unabhängig voneinander. Dieses Vorliegen divergenter Zweige hatte, ob die Schreiber sich dessen bewusst waren oder nicht, Auswirkungen auf den Textcharakter der von ihnen angefertigten Hand‐ schriften; denn unter diesen Umständen führte ihre Praxis, bisweilen mehrere Vorlagen zu verwenden, zu Mischungen aus sehr unterschiedlichen Textformen. […] Diese Ent‐ wicklungen und Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Text‐ formen stehen nun aber im Widerspruch zu bestimmten Grundannahmen der CBGM.“ 32 K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 73-113 kommt in seiner Untersuchung zum von Marcion bezeugten Evangelium zu dem Schluss, dass dieses das „älteste Evange‐ lium“ sei und es redaktionell zum kanonischen Lukasevangelium (Lk) erweitert wurde. Dieser älteste Evangelientext (McnLk) war noch längere Zeit nach dem Aufkommen des Lk im Umlauf und wurde auch für die Herstellung von Kopien desselben verwendet. Auf diese Weise erklärt Klinghardt das Phänomen, dass ein Großteil (ca. 75 %) der „marcionitischen“ Lesarten auch in den neutestamentlichen HSS Spuren hinterlassen hat. Zahlreiche Varianten der Überlieferung des Lk gehen demnach auf eine Konflation bzw. Interferenz (d. h. eine wechselseitige Beeinflussung) dieser beiden Textgrößen (McnLk und Lk) zurück. 33 L E M B K E , Besonderheiten, S. 230: „Da die CBGM auf einem für die Offb nicht zutreff‐ enden Überlieferungsmodell basiert, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie im Lauf der auswertenden Berechnungen Ergebnisse produziert, die von der tatsächlichen Textgeschichte abweichen und einen Rückschritt gegenüber den [bisherigen For‐ schungsergebnissen] bedeuten.“ 34 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 493f räumt die Notwendigkeit solcherlei Modi‐ fikationen ausdrücklich selbst ein: „Sie [scil. die CBGM] bedarf der Ergänzung. Denn die weitgehende Automatisierung in der letzten Phase der Arbeit erfordert ein konse‐ quentes Ausgehen von einer Reihe von Grundannahmen, die in einigen konkreten Fällen nicht zutreffen (z. B. bei einer bewußten Rezension).“ L E M B K E , Besonderheiten, S. 230 dagegen erwägt mehr als nur modifizierende Ergänzungen: „Die Frage, in welcher Weise die Arbeitsschritte der CBGM revidiert werden müssen, um der speziellen Über‐ Tatsächlich wird auch die Methodik der CBGM von impliziten, überlie‐ ferungsgeschichtlichen Grundannahmen getragen. 30 Da diese aber mit einiger Wahrscheinlichkeit z. B. für die Offenbarung 31 wie auch für die Evangelien 32 nicht zutreffen, kann dies zu falschen Entscheidungen führen 33 und erfordert zumindest eine Modifikation des zugrunde lie‐ genden Überlieferungsmodells. 34 20 I. Hinführung und Motivation lieferung der Offb gerecht zu werden, bzw. ob eine neue, angemessenere Methode ent‐ wickelt werden muss, bedarf einer genaueren Untersuchung.“ 35 Synonym dazu wird in der vorliegenden Arbeit auch der Terminus Edition verwendet. 36 F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes, S. 219 [Hervorhebung im Original]. 37 U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 102 bezeichnet diese Vorgehensweise als corpus-based approach. 38 U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 100: „[T]he question of how and to what extent variant readings in the New Testament textual tradition can be tied to, and are the result of, editorial activities [is] a mostly unterrated issue.“ 3. Weiterhin wurde deutlich, dass nicht der historische Römerbrief (also das Autographon) rekonstruiert werden kann, sondern der Römerbrief als Teil einer Schriftensammlung, nämlich des Corpus Paulinum, also einer Sammlung 35 von Paulusbriefen. Die verfügbaren Handschriften bezeugen allesamt eine Sammlung von Texten (bzw. Teile davon), niemals aber nur einen einzelnen Brief. In seiner jüngsten Studie fordert F L E MMIN G daher zu Recht: „Neutestamentliche Textkritik sollte demnach als Editionskritik stattfinden, d. h. stets die Existenz verschiedener Ausgaben der biblischen Texte mitdenken. Gerade für die Paulusbriefe ist ein solcher Fokus auf Ausgaben von Texten besonders naheliegend, weil uns diese ausschließlich in Form von Briefsammlungen überliefert sind.“ 36 Es ergibt sich also die Einsicht, dass die Frage der Textgeschichte des Römer‐ briefes nur editionsgeschichtlich gelöst werden kann. 37 Daher ist zu fragen, ob der Römerbrief im Rahmen der Editionsgeschichte Veränderungen erfahren hat und redaktionell bearbeitet wurde. 38 Die vorweggenommene Antwort der vor‐ liegenden Studie lautet: der heute bekannte Römerbrief ist tatsächlich ein um‐ fangreich interpolierter Text. Das methodische Vorgehen, das zu dieser Einsicht führt, wird im Folgenden dargestellt und erklärt. 21 I. Hinführung und Motivation 1 Vgl. L I N D E M A N N , Sammlung der Paulusbriefe, S. 321. 2 Auch P A R K E R , Introduction, S. 246 fragt in diesem Zusammenhang: „How many collec‐ tions were there in the second century? “ 3 D.h. diejenige mit dem chronologisch frühesten terminus ad quem. 4 Vgl. Tert. Praescr. 30,1: Ubi tunc Marcion, Ponticus nauclerus, Stoicae studiosus? | „Wo war Marcion, der pontische Schiffsbesitzer, ein Liebhaber der stoischen Philoso‐ phie? “ (Übers. S C H L E Y E R ). Sind die Quellentexte aus der entsprechenden Fontes Christiani Ausgabe übernommen, wird darauf nicht extra in der Anmerkung hin‐ geweisen. Wurden dagegen andere Quelleneditionen benutzt, wird darauf hinge‐ wiesen. Die verwendeten Ausgaben finden sich im Quellenverzeichnis der vorlie‐ genden Arbeit. 5 Vgl. Tert. Praescr. 30,2: Nam constat illos neque adeo olim fuisse, Antonini fere principatu, et in catholicae primo doctrinam credidisse apud ecclesiam Romanensem sub episcopatu Eleutheri benedicti, donec ob inquietam semper curiositatem, qua fratres quoque vitiabant, II. Methodologische Reflexion 2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. Die Zugehörigkeit der Paulusbriefe zum Neuen Testament (respektive zum neu‐ testamentlichen Kanon) war nie in irgendeiner Form umstritten. Es scheint klar, dass sie von Anfang an als verbindliche Schriften verstanden und verwendet wurden. 1 Zu klären ist allerdings, welche verschiedenen Sammlungen von Pau‐ lusbriefen im 2. Jahrhundert existierten 2 und wie diese ausgesehen haben, v. a. welchen Umfang sie hatten. Die Sammlungen sind nach ihrem jeweiligen ter‐ minus ad quem geordnet. 2.1.1. Die 10-Briefe-Sammlung - der Marcionitische Apostolos Die früheste Sammlung von Paulusbriefen, 3 über deren Existenz wir gesicherte Informationen besitzen, ist eng mit dem Namen Marcion von Sinope verbunden, einem Reeder aus Pontus an der südlichen Schwarzmeerküste. 4 Belegt ist, dass dieser in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts eine Schriftsammlung benutzte, die ein namenloses Evangelium (welches bekanntermaßen eine Kurzversion des Lukasevangeliums war) sowie zehn Paulusbriefe umfasste. Diese 10-Briefe-Sammlung trug die Bezeichnung Apostolos und beinhaltete die Pas‐ toralbriefe und den Hebräerbrief nicht. Als terminus ad quem dieser Edition kann Marcions Ausschluss aus der römischen Gemeinde gelten, der ins Jahr 144 da‐ tiert wird. 5 semel et iterum eiecti, Marcion quidem cum ducentis sestertiis quae ecclesiae intulerat, novissime in perpetuum discidium relegate, venena doctrinarum suarum dissemina‐ verunt. | „Denn bekanntlich lebten jene in gar nicht so ferner Zeit, ungefähr während der Regierungszeit des Kaisers Antoninus Pius, und glaubten zuerst an die Lehrer der katholischen Kirche in der römischen Gemeinde unter dem Episkopat des gesegneten Eleutherus. Schließlich wurden sie wegen ihrer ständig unruhigen Wissbegierde, durch die sie auch die Brüder in die Irre führten, wiederholt aus der Gemeinde ausgestoßen - Marcion allerdings mit zweihunderttausend Sesterzen, die er in die Gemeinde einge‐ bracht hatte. Zuletzt wurden sie auf Dauer ausgeschlossen und verbreiteten dann das Gift ihrer Lehren.“ (Übers. S C H L E Y E R ). 6 Iren. Adv. Haer. 3,12,12: Unde et Marcion et qui ab eo sunt ad intercidendas conversi sunt scripturas; quasdam quidem in totum non cognoscentes, secundum Lucam autem evan‐ gelium et epistulas Pauli decurtantes., haec sola legitima dicunt esse quae ipsi minora‐ verunt. | „Deshalb sind Markion und seine Anhänger hingegangen und haben die Schriften zerschnitten; einige lehnen sie überhaupt ab, das Lukasevangelium und die Paulusbriefe kürzen sie dagegen, und als authentisch erkennen sie nur das an, was sie selbst verstümmelt haben.“ (Übers. B R O X ). 7 Der Begriff Metatextualität stammt vom französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette. Er unterscheidet fünf Typen intertextueller Beziehungen. Unter Metatextua‐ lität versteht Genette die Beziehung zwischen einem Basistext und einem anderen Text (dem Metatext), der sich mit diesem Basistext kritisch reflektierend bzw. kommentie‐ rend auseinandersetzt. Dabei ist es üblich (aber nicht zwingend notwendig), dass der Metatext den Basistext (bzw. einzelne Passagen daraus) zitiert; vgl. G E N E T T E , Palimp‐ seste, S. 13. 8 In den letzten beiden Büchern seiner fünfbändigen antihäresiologischen Schrift Ad‐ versus Marcionem behandelt Tertullian die Widersprüche zwischen Marcions Theologie und seinem Evangelium (Buch 4) bzw. seiner zehn Briefe umfassenden Paulusbrief‐ sammlung (Buch 5). 9 Im 42. Buch seines Panarion (‚Medizinkoffer‘ gegen die Häresien) befasst sich der zyp‐ riotische Bischof Epiphanius mit der Häresie der Marcioniten und setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit der Bibelausgabe Marcions auseinander, für die er insgesamt 77 Textstellen bezeugt. 10 Hierbei handelt es sich um den Dialog des Adamantius De recta in deum fide. 11 Iren. Adv. Haer. 1,27,4: seorsum contradicemus, ex eius scriptis arguentes eum, et ex his sermonibus qui apud eum observati sunt, domini et apostoli, quibus ipse utitur, eversionem Spätestens seit Irenäus von Lyon galt Marcion als der „Erzketzer“ schlechthin, seine Schriften als Verfälschungen und Verstümmelungen der eigentlichen (ka‐ tholischen) Texte. 6 Es mag daher nicht überraschen, dass von der besagten mar‐ cionitischen Bibelausgabe keinerlei Exemplare die Zeiten überdauert haben. Wenngleich also keine direkten Zeugnisse des Textes mehr existieren, so liegt doch eine umfangreiche metatextuelle Beschreibung 7 des Textes durch die alt‐ kirchlichen Häresiologen vor, so v. a. durch Tertullian, 8 Epiphanius 9 und Ada‐ mantius 10 . In ihren polemischen Schriften diskreditieren sie Marcions kurzen Bibeltext als perfide Fälschung. Die inhärente Strategie dieser Streitschriften war es, Marcion auf Grundlage seines eigenen Textes zu widerlegen. 11 Dazu 24 II. Methodologische Reflexion eius faciemus, praestante Deo. | „Ich will ihm in einer eigenen Abhandlung widerspre‐ chen; ich widerlege ihn dann aus seinen Schriften und erledige ihn mit Gottes Hilfe aufgrund derjenigen Worte des Herrn und des Apostels, die er nicht gestrichen hat und selbst gebraucht.“ (Übers. B R O X ). Es ging den Häeresiologen also ausdrücklich nicht darum, eine vollständige Wiedergabe des Textes der marcionitischen Bibel, respektive eine Auflistung der Textdifferenzen zwischen marcionitischem und katholischem Text zu leisten. 12 Eine solche metatextuelle Bezeugung stellt zweifellos ein deutlich festeres Fundament für eine Textrekonstruktion dar, als dies beispielsweise die Q-Forschung vorweisen kann. 13 Die Reihenfolge der Briefe resultiert aus der Reihenfolge, nach der Tertullian die Texte in Adv. Marc. 5 bespricht. 14 Diese Anordnung, in der Phil (nicht Phlm) den Abschluss der Sammlung bietet, bezeugt Epiph. panar. 42,9,4. Es scheint durchaus vorstellbar, dass beide Reihenfolgen auf Mar‐ cions Apostolos zurückgehen; vgl. dazu auch U. S C H M I D , Marcion, S. 287. Dies setzt die Annahme voraus, dass Tertullian und Epiphanius verschiedene Ausgaben der Bibel Marcions vorliegen hatten, die neben der unterschiedlichen Anordnung der Texte teil‐ weise auch erhebliche Abweichungen im Wortlaut aufwiesen. Zu dieser Möglichkeit vgl. ausführlich K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 55-60 sowie U. S C H M I D , Mar‐ cion, S. 9: „Mit Sicherheit wird Tertullian zu Beginn des 3. Jh. in Karthago ein anderes Exemplar der marcionitischen Bibel in den Händen gehalten haben als etwa Epiphanius Mitte des 4. Jh. auf Zypern.“ 15 Vgl. dazu die aktuelle Studie von F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes. hatten die Häresiologen Marcions Bibeltext vor sich liegen, den sie der Reihe nach durchgingen und an ausgewählten Stellen in wünschenswerter Ausführ‐ lichkeit kommentierten. Damit prägten sie zwar einerseits nachhaltig das Ver‐ ständnis Marcions als Schriftfälscher des frühen Christentums, andererseits er‐ laubt ihre Vorgehensweise (ungewollt), Marcions Bibeltext mit hinreichender Sicherheit wiederherzustellen. Durch diese metatextuelle Bezeugung haben wir also Zugriff auf die besagte 10-Briefe-Sammlung und sind in der Lage, die Rei‐ henfolge, den Umfang und an vielen Stellen auch den genauen Wortlaut der einzelnen Texte zu rekonstruieren. 12 Wie das Zeugnis der Häresiologen zeigt, besaß die 10-Briefe-Sammlung fol‐ gende Anordnung: Gal, 1/ 2 Kor, Rm, 1/ 2 Thess, Laod (= Eph), Kol, Phil, Phlm 13 bzw. Phlm, Phil. 14 Auffällig ist die Position des Galaterbriefes, der an erster Stelle der Sammlung steht, sowie die Tatsache, dass der heutige Epheserbrief als Brief an die Laodizener tituliert wird. 15 Fazit: Die Existenz der 10-Briefe-Sammlung kann für das 2. Jahrhundert als ge‐ sichert angesehen werden. Ob sie tatsächlich auf Marcion zurückgeht, wurde in der jüngeren Forschung immer wieder in Frage gestellt. Stattdessen wird Mar‐ cion vermehrt als Tradent eines bereits bekannten denn als Urheber eines ei‐ 25 2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. 16 So bemerkt F R E D E , Ein neuer Paulustext, S. 118 zu Recht: „[M]an [darf] den Zeugen nicht grundlos zum verantwortlichen Urheber machen.“ 17 B E D U H N , The New Marcion, S. 164 weist auf die Problematik mit folgenden Worten hin: „[T]he Evangelion and Apostolikon need to be approached in their own right, as ‚ano‐ nymous‘ texts.“ 18 Der Begriff vormarcionitische Sammlung (vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 280f) wird hier bewusst nicht verwendet. Selbstverständlich ist es denkbar, dass die 10-Briefe-Samm‐ lung auch Vorstufen besessen haben könnte. Solange allerdings keinerlei gesicherte Hinweise auf eine solche Edition existieren, bleibt sie ein reines Postulat. An Spekula‐ tionen, wie sie ausgesehen und in welchem Verhältnis sie zu den tatsächlich bezeugten Paulusbriefsammlungen gestanden haben könnte, will sich die vorliegende Studie nicht beteiligen. 19 Vgl. dazu v. a. L I N D E M A N N , Sammlung der Paulusbriefe, S. 339-342. genen Textes verstanden. 16 Dies sollte auch in der Beschreibungssprache deut‐ lich werden. Hier erscheint es angemessen, die Bezeichnung marcionitisches Evangelium bzw. marcionitische Paulusbriefsammlung zu vermeiden, da diese Termini implizieren, Marcion tatsächlich als Schöpfer dieser Texte bzw. Text‐ sammlungen zu verstehen. 17 In der vorliegenden Arbeit wird daher vornehmlich die neutrale Bezeichnung 10-Briefe-Sammlung benutzt. Gleiches gilt für den Römerbrief innerhalb der Sammlung: Dieser wird hier zumeist als 10 Rm oder aber durch Marcion bezeugter bzw. verwendeter Römerbrief bezeichnet. 18 Werden zu Zwecken der Textrekonstruktion die häresiologischen Zeugnisse bemüht, so ist auch hier die Rede vom 10 Rm, selbst wenn die Kirchenväter sich freilich mit einem Text auseinandersetzen, den sie selbst Marcion zuschreiben. Anders ge‐ sagt: In der vorliegenden Arbeit wird der Text, auf den sich die Häresiologen in ihren Schriften gegen Marcion beziehen - also der marcionitische Apostolos -, mit dem Text der 10-Briefe-Sammlung gleichgesetzt. Dass dieses Vorgehen me‐ thodisch legitim ist, wird in Kap. 4.2. belegt. 2.1.2. Die 14-Briefe-Sammlung Der zweite ‚Fixpunkt‘ im Rahmen der Entstehungsgeschichte des Corpus Pau‐ linum ist die 14-Briefe-Sammlung. Sie beinhaltet all jene 14 Texte, die auch in den heute gängigen Ausgaben des Neuen Testaments als Paulusbriefe er‐ scheinen. Zusätzlich zu den aus der 10-Briefe-Sammlung bekannten Texten ent‐ hält sie also noch die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief. Ihr terminus ad quem lässt sich schwerer bestimmen als der der 10-Briefe-Sammlung. Einzelne Bezugnahmen auf Paulusbriefe bzw. allgemein eine Sammlung von Paulusbriefen 19 finden sich zwar bereits im zweiten Pet‐ 26 II. Methodologische Reflexion 20 Die Rede ist hier von allen Briefen (ἐν πάσαις ταῖς ἐπιστολαῖς) unseres geliebten Bruders Paulus (ὁ ἀγαπητὸς ἡμῶν ἀδελφὸς Παῦλος). 21 In seinem Brief an die Philipper erwähnt Polykarp, dass Paulus ihnen (den Philippern) aus der Ferne Briefe (! ) geschrieben habe (ἔγραψεν ἐπιστολάς). 22 An die Epheser schreibt Ignatius, dass sie in allen Briefen des Paulus (ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ) erwähnt werden. Die lange verbreitete Frühdatierung (um 110) wird in der jüngeren Forschung wieder lebhaft diskutiert und angezweifelt. So deutet L E C H N E R , Ignatius adversus Valentinianos, S. 112 die Ignatiusbriefe als eine Textsammlung gegen die Valentinianer und datiert ihre Entstehung auf 165/ 175. Zur Diskussion, welche Pau‐ lusbriefe der Verfasser der Ignatiusbriefe kennt, vgl. D A S S M A N N , Der Stachel im Fleisch, S. 132. 23 So auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 45. 24 Vgl. H A R D I N G , Disputed and Undisputed Letters, S. 133. Auch andere Formulierungen in Irenäus’ Werk lassen deutlich darauf schließen, dass dieser bereits auf eine Sammlung von Paulusbriefen zurückblickt. N O O R M A N N , Irenäus als Paulusinterpret, passim ver‐ weist in diesem Zusammenhang auf Iren. Adv. Haer. 3,12,9, worin Irenäus von allen Briefen (omnes epistulae) des Apostels spricht. Ähnlich auch H E I S E R , Paulusinszenie‐ rung, S. 125 sowie zuletzt ausführlich H E I L M A N N , Editio Princeps, S. 36-39. 25 Vgl. N O O R M A N N , Irenäus als Paulusinterpret, S. 65 Anm. 161. 26 So auch G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 41, die konstatieren: „Irenaeus […] establishes the availability and acceptance of the entire collection […] by the end of the second century.“ Bereits eine Seite zuvor (S. 40) fassen die Autoren treffend zusammen: rusbrief (2 Petr 3,15f) 20 , bei Polykarp von Smyrna (Polyk 3,2) 21 und in den Igna‐ tiusbriefen (IgnEph 12,2) 22 . Diese sind allerdings zu fragmentarisch, um daraus valide Rückschlüsse zu ziehen, dass hier bereits eine Briefsammlung im Hinter‐ grund steht, bzw. welche konkrete Gestalt und welchen Umfang eine solche hatte. 23 Tatsächlich kann das Vorhandensein der 14-Briefe-Sammlung erstmals für Irenäus wahrscheinlich gemacht werden. Dieser liefert zwar keine expliziten Hinweise über den Umfang der Sammlung (beispielsweise in Form einer kon‐ kreten Auflistung), allerdings zitiert er aus (fast) allen heute bekannten Paulus‐ briefen. Die meisten der Briefe bezeugt Irenäus sogar namentlich - ein deutli‐ ches Indiz dafür, dass er eine entsprechende Briefsammlung vorliegen hatte. 24 Einzig der Philemonbrief findet in Irenäus’ Texten keine Erwähnung, was frei‐ lich aufgrund seines knappen Umfangs und seiner geringen theologischen Be‐ deutung nicht allzu überraschend anmutet. Darüber hinaus wird auch aus dem Hebräerbrief nicht explizit zitiert. Allerdings finden sich diverse Anspielungen auf dessen Inhalt, sodass in der Forschung davon ausgegangen wird, dass Ire‐ näus davon Kenntnis besaß und er ihn als Teil des Corpus Paulinum verstand. 25 Somit ist es folgerichtig, Irenäus als ersten Zeugen der 14-Briefe-Sammlung an‐ zusehen. Der terminus ad quem kann also gegen Ende des 2. Jahrhunderts datiert werden. 26 27 2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. „Like the fourfold Gospel, but somewhat less definitely, the Pauline letter collection seems to have coalesced by the end of the second century.“ 27 So z. B. K A L I N , Re-examining, S. 279ff sowie G R Ü N S T Ä U D L , Petrus Alexandrinus, S. 282. 28 Vgl. H E I L M A N N , Editio Princeps, S. 37 Anm. 89 sowie auch G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 98. 29 Vgl. z. B. G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 91. 30 Text B A E H R E N S GCS 30. 31 Text B A R D Y SC 55. Den nächsten, klaren Beleg für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung liefert Origenes in seinen Predigten zum Buch Josua. Zwar ist der Text heute nur noch durch die lateinische Übersetzung des Rufin bezeugt, doch konnten etwaige Zweifel an der Zuverlässigkeit der Übersetzung 27 zuletzt plausibel widerlegt werden. 28 Das verlorene griechische Original, das der lateinischen Übersetzung zugrunde liegt, wird um 250 datiert. 29 Der Text lautet wie folgt: 30 Zuletzt folgt jener, der sagt: „Ich glaube aber, Gott hat uns Apostel als die letzten hingestellt“ [1 Kor 4,9] und mit dem Schall seiner vierzehn Trompeten in Gestalt seiner Briefe warf er die Mauern Jerichos bis in ihre Grundfesten nieder und alle Werke des Götzendienstes und alle Lehren der Philosophen. Novissimus autem ille veniens, qui dixit: ‚Puto autem, nos Deus apostolos novissimos ostendit‘ et in quatuordecim epistolarum suarum fulminans tubis muros Hiericho et omnes idolatriae ma‐ chinas et philosophorum dogmata usque ad fundamenta deiecit. Orig. Hom. Jos. 7,1 Origenes predigt hier über den Fall Jerichos und vergleicht in diesem Zuge die Briefe des Paulus mit 14 Trompeten, welche die Mauern der Stadt zum Einsturz gebracht haben - ein deutlicher Rekurs auf die 14-Briefe-Sammlung. Darüber hinaus zitiert Origenes in seinen umfangreichen Werken häufig aus allen (14) Paulusbriefen. Sogar der Philemonbrief als auch der Hebräerbrief machen hier keine Ausnahme. Mit ziemlicher Sicherheit kann man also davon ausgehen, dass Origenes die 14-Briefe-Sammlung des Paulus nicht nur kannte, sondern er ihr auch eine überaus hohe Autorität zumaß. Auch Eusebius’ Aussage in Hist. Eccl. 3,3,5 31 belegt in wünschenswerter Deutlichkeit die Kenntnis der 14-Briefe-Sammlung: Die offenkundigen und eindeutigen [Briefe] des Paulus sind vierzehn. τοῦ δὲ Παύλου πρόδηλοι καὶ σαφεῖς αἱ δεκατέσσαρες. Euseb. Hist. Eccl. 3,3,5 28 II. Methodologische Reflexion 32 Kyr. Hier. Catech. 36: „Zum Neuen Testamente gehören nur vier Evangelien; die übrigen Evangelien sind apokryph und verderblich. Die Manichäer haben ein ‚Evangelium nach Thomas‘ geschrieben; dasselbe hat sich mit dem wohlklingenden Namen Evangelium geschmückt, verdirbt aber die Seelen der Arglosen. Auch die Geschichte der zwölf Apostel mußt du annehmen, dazu die sieben katholischen Briefe, nämlich des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas; endlich als Siegel der ganzen Schrift und als letztes Denkmal der Jünger die vierzehn Briefe Pauli (τὰς Παύλου δεκατέσσαρας ἐπιστολάς). Alle üb‐ rigen Schriften sollen in zweiter Linie kommen. Alle jene Schriften aber, welche in der Kirche überhaupt nicht gelesen werden, darfst du, wie du gehört hast, auch für dich nicht lesen. Soviel über die Schrift.“ Übers. H A E U S E R BKV 41. Ausführlich dazu G A L ‐ L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 110-118. 33 Athan. Epist. Fest. 39: „Aber auch die Bücher des Neuen Testamentes aufzuzählen darf man nicht unterlassen. Diese sind nämlich: Vier Evangelien, nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas, nach Johannes. Alsdann die Geschichte der Apostel, und die so‐ genannten sieben katholischen Briefe der Apostel, nämlich: Einer von Iakobus, zwei von Petrus, dann drei von Johannes, und ferner Einer von Judas. Außer diesen sind vierzehn Briefe des Apostels Paulus vorhanden, welche in folgender Ordnung geschrieben sind (πρὸς τούτοις Παύλου ἀποστόλου εἰσὶν ἐπιστολαὶ δεκατέσσαρες, τῇ τάξει γραφόμεναι οὕτως): Der Erste an die Römer, dann zwei an die Korinther, und hierauf an die Galater; dann an die Epheser, alsdann an die Philipper und an die Kolosser, nach diesen zwei an die Thessalonicher, und der an die Hebräer, hierauf zwei an den Timo‐ theus, und einer an Titus; zuletzt der an den Philemon; weiterhin die Offenbarung des Johannes. Dieses sind die Quellen des Heiles, welche den Dürstenden mit ihren Worten erfüllen.“ (Text J O A N N O U ; Übers. W A I T Z M A N N ). Ausführlich dazu G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 118-131. 34 Diese Reihenfolge scheint also die für die 14-Briefe-Sammlung übliche gewesen zu sein. So auch G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 39: „He [scil. Athanasius] names the adressees of the letters in the traditional order.“ 35 Zuletzt wurden diese von Gallagher und Meade analysiert, welche zu folgendem Schluss kamen: „Of the lists collected in this book, all of them include the fourteen epistles of Paul, except the Muratorian Fragment, which omits Hebrews […]; the Mommsen Ca‐ talogue, which mentions thirteen letters of Paul (thus excluding Hebrews); and the list in the Codex Claromontanus […] the probable result of a scribal error“; G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 39. Spätere Belege für die Konstanz der Sammlung liefern beispielsweise Kyrill von Jerusalem (um 350) 32 und Athanasios von Alexandria (367) 33 . Letzterer bezeugt in seiner Kanonliste die gleiche Reihenfolge der 14 Briefe (Rm, 1/ 2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/ 2 Thess, Hebr, 1/ 2 Tim, Tit, Phlm), wie sie auch in den drei ältesten Vollbibeln des 4. Jahrhunderts - Codex Sinaiticus (ℵ), Codex Alexandrinus (A) und Codex Vaticanus (B) - auftaucht. 34 Neben der oben angeführten Einmütigkeit der Kirchenväterzitate bzw. der Kanonlisten 35 stellen letztlich die neutestamentlichen Handschriften selbst ein gewichtiges Argument für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung dar, da die 29 2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. 36 Dies gilt für die ältesten Minuskelhandschriften. Vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Pau‐ lusbriefsammlung, S. 17-23. 37 Zumeist wird er ins dritte Jahrhundert datiert; vgl. K E N Y O N , Chester Beatty Biblical Papyri; S A N D E R S , Third-Century Papyrus; T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsamm‐ lung, S. 26f und O R S I N I / C L A R Y S S E , Early New Testament Manuscripts, S. 470. Anders dagegen K I M , Paleographical Dating. Sie datiert das Mansukript ins späte 1. Jahrhundert (wahrscheinlich noch vor der Regentschaft Domitians). 38 G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 41: „Nevertheless, it can be argued that the Pastorals did have a place in this manuscript [scil. P 46 ]. Possibly, therefore, P 46 attests a Pauline letter collection without the Pastorals, but the current evidence does not allow certainty in the matter.“ 39 D U F F , P 46 and the Pastorals, S. 583ff begründet diese Einschätzung v. a. aufgrund des Phänomens, dass die Textmenge pro Seite etwa ab der Hälfte des Kodex mehr und mehr ansteigt. Dies sei nur dadurch zu erklären, dass der Schreiber anfänglich den vorhan‐ denen Platz falsch kalkulierte. Nur wenn also tatsächlich noch die Pastoralbriefe am Ende folgen sollten, sei dies plausibel zu erklären - mit anderen Worten: ohne die Pas‐ toralbriefe würde keine Notwendigkeit bestehen, die Textmenge pro Seite stetig zu erhöhen. Ähnlich schon T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 27f. Anders dagegen M E T Z G E R / E H R M A N , Text, S. 37 und E P P , Papyrus Manuscripts, S. 5, die davon ausgehen, dass die Pastoralbriefe ursprünglich in P 46 fehlten. 40 Z.B. in ℵ, A, C u.v.m. ist dies der Fall. 41 So z.B. in L, Ψ u.v.m. übergroße Mehrheit der ältesten dieser Handschriften 36 in Umfang und Reihen‐ folge der Paulusbriefe exakt übereinstimmen. Eine Ausnahmeerscheinung stellt in gewisser Weise P 46 dar. Der Papyruskodex ist das älteste 37 handschriftliche Zeugnis einer Sammlung von Paulusbriefen. Damit spielt er in jeder der unter‐ schiedlichen Theorien zur Genese des Corpus Paulinum eine zentrale Rolle. Zwei Besonderheiten sind auffällig: das scheinbare Fehlen der Pastoralbriefe und die Stellung des Hebräerbriefes. Auf beide Phänomene soll hier kurz ein‐ gegangen werden. Die Annahme, dass die Pastoralbriefe in P 46 fehlten, gründet sich auf der Be‐ obachtung, dass der Text des (einlagigen) Kodex bei 1 Thess 5,28 abbricht. Die letzten Seiten fehlen also. Ob diese fehlenden Seiten ausreichten, um neben 2 Thess und Phlm auch Platz für die drei Pastoralbriefe zu bieten, ist in der For‐ schung strittig bzw. wird letztlich offen gelassen. 38 Allerdings konnte D U F F zu‐ letzt aufzeigen, dass P 46 mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich alle kanoni‐ schen Paulusbriefe beinhaltete (oder beinhalten sollte) - auch die Pastoralbriefe. 39 Die zweite Besonderheit betrifft den Hebräerbrief. In den meisten bekannten Manuskripten findet er sich entweder zwischen den Gemeindebriefen und denen an Einzelpersonen (konkret dann also zwischen 2 Thess und 1 Tim) 40 oder aber ganz am Ende der Sammlung (also nach Phlm). 41 In P 46 taucht er dagegen 30 II. Methodologische Reflexion 42 Vgl. T R O B I S C H , Endredaktion des Neuen Testaments, S. 40. Ausführlich dazu H A T C H , Position of Hebrews, S. 133-151 sowie F R E D E , Epistula ad Philippenses, S. 292-303. 43 Vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 57. 44 So zweifelt beispielsweise Eusebius in Hist. Eccl. 6,14 die paulinische Verfasserschaft des Hebr an und zählt daher nur 13 Briefe zum Corpus Paulinum (vgl. H E I L M A N N , Editio Princeps, S. 36 Anm. 85). Freilich sind diese Zweifel nur nachvollziehbar, wenn er einen Grund hat, den Brief als Paulusbrief (also als Teil einer Sammlung von Paulusbriefen) zu lesen - denn aus dem Text des Hebräerbriefes selbst erschließt sich dies nicht. Folg‐ lich setzt auch diese Passage letztlich die Existenz der 14-Briefe-Sammlung voraus. Weitere Belege finden sich u. a. bei T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 59f Anm. 211. 45 Für die Existenz einer 13-Briefe-Sammlung spricht zwar auch der Befund der grie‐ chisch-lateinischen Bilinguen F und G, in denen Hebr nicht auftaucht (vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 20f). Daher kommt z. B. Gallagher zu dem Schluss, dass im Westen in frühen Zeiten (vor Athanasius) eine solche 13-Briefe-Samm‐ lung des Corpus Paulinum etabliert war, während dieses im Osten vierzehn Briefe auf‐ wies; vgl. G A L L A G H E R / M E A D E , Biblical Canon Lists, S. 30f. Für die vorliegende Arbeit ist es allerdings allenfalls ein terminologisches Problem, ob man nun von einer 13-Briefe-Sammlung (ohne Hebr) oder von einer 14-Briefe-Sammlung ausgeht. Daher wird in der Folge stets die Bezeichnung 14-Briefe-Sammlung verwendet. 46 So formuliert auch G A M B L E , Pseudonymity, S. 334: „We have definite knowledge, ho‐ wever, that at least two large-scale editions of collected letters of Paul were current by the middle of the second century.“ bereits an zweiter Position (also zwischen Rm und 1 Kor) auf - eine Stellung, die sich sonst nirgends wiederfinden lässt. Diese variierende Stellung des Heb‐ räerbriefes 42 deutet darauf hin, dass der Text gleichsam eine Sonderstellung in‐ nerhalb des Corpus Paulinum einnimmt. Denn für keinen der anderen 13 Briefe lässt sich ein ähnlicher Befund ausmachen. T R O B I S C H erklärt daher den Hebr als einen späteren (sekundären) Anhang. 43 Unstrittig ist, dass die Authentizität des Hebräerbriefes bereits früh in Frage gestellt wurde. Dies belegen die zahlreichen patristischen Diskurse über den Hebräerbrief. 44 Allerdings muss die Infrage‐ stellung der paulinischen Verfasserschaft nicht zwingend auf die Existenz einer Vorstufe der 14-Briefe-Sammlung hindeuten, die ohne den Hebr auskam. 45 Fazit: Im 2. Jh. existieren also (mindestens) zwei Sammlungen von Paulus‐ briefen. Es sind die beiden frühesten Fixpunkte, auf die sich die Forschung mit hinreichender Sicherheit berufen kann: die 10-Briefe-Sammlung und die 14-Briefe-Sammlung. 46 Einigkeit besteht darin, dass diese beiden Textsamm‐ lungen in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Un‐ klar bleibt zunächst jedoch, wie dieses literarische Abhängigkeitsverhältnis tat‐ sächlich aussieht. Diese Frage spielte in der bisherigen Forschungsgeschichte jedoch nur eine marginale Rolle. Denn im Kontext der Forschungen zu Marcion und seinen Texten wurde der Fokus vornehmlich auf das Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums ge‐ 31 2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh. 47 Schon B E D U H N , The First New Testament, S. 227 bemängelte: „There is no reason to set aside his [scil. Marcions] collection as uniquely irrelevant to efforts to recover the history of the transmission of Paul’s writings.“ 48 Vgl. B E D U H N , The First New Testament, S. 80-84. 49 Vgl. B E D U H N , The First New Testament, S. 84ff. Im aktuellen Forschungsdiskurs zum redaktionellen Verhältnis zwischen Mcn und Lk wird diese Position von V I N Z E N T , Mar‐ cion and the Dating, und Klinghardt, Das älteste Evangelium, vertreten. 50 Vgl. B E D U H N , The First New Testament, S. 86ff, der selbst diese Lösung favorisiert. legt. 47 Die dabei entwickelten drei möglichen Optionen lassen sich allerdings unschwer auf die Frage nach dem literarischen Abhängigkeitsverhältnis der beiden Briefsammlungen zueinander übertragen (Übersicht 1): A1 Die 10-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung dar. In der Evangelienforschung ist diese Annahme als Patristic-Hypothesis bzw. (in Anlehnung an ihre wirkmächtigsten Verfechter) als Zahn/ Harnack-Hypothese bekannt. 48 A2 Die 14-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Erweiterung) der 10-Briefe-Sammlung dar. Diese Option wird in der Frage nach dem redaktionellen Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums als Schwegler-Hypothese bezeichnet. 49 A3 Beide Sammlungen gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, die unabhängig voneinander und in ganz unterschiedlicher Weise redaktionell bearbeitet wurde. Die Evangelienforschung kennt diese Möglichkeit als Semler-Hypothese. 50 Übersicht 1: Möglichkeiten des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen 10- und 14-Briefe- Sammlung 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung Die heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit liefert K LIN G HA R DT s aus‐ führliche und umfangreiche Arbeit zum Evangelium innerhalb der durch Mar‐ cion bezeugten Bibelausgabe. Hinsichtlich des redaktionellen Verhältnisses zum kanonischen Lukasevangelium konnte er nachweisen, dass - entgegen der Lesart der Häresiologen - der durch Marcion bezeugte Evangelientext (Mcn) nicht als redaktionelle Verkürzung des Lukasevangeliums (Lk), sondern viel‐ mehr Lk als eine redaktionelle Überarbeitung von Mcn zu verstehen ist. Dieses anonyme, durch Marcion bezeugte, proto-lukanische Evangelium (Mcn) stellt 32 II. Methodologische Reflexion 51 Dies wird schon aus dem Titel seiner Untersuchung zu dem durch Marcion bezeugten Evangelium deutlich. 52 H E I L M A N N , Editio Princeps, S. 44f Anm. 133. 53 K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 353. Beide Argumente finden sich auch bei Jason BeDuhn, der zu einem ähnlichen Urteil wie Klinghardt kommt. Dies wird bereits im Titel seiner Monographie von 2013 deutlich („The First New Testament. Marcion’s Scriptural canon“). Er diskreditiert das traditionelle Urteil, Marcion als Textfälscher im Sinne der Logik der Häresiologen zu verstehen, als „fundamental folly“ (d. h. als fun‐ damentale Eselei) und resümiert kurz darauf: „[…] it quickly becomes apparent that Marcion’s critics cannot have been right, and we consequently need to reverse the historical relationship that has been imagined between Marcion and the Evangelion and Apostolikon; thinking of Marcion not as their editor, but as their reader, interpreter and canonizer“; B E D U H N , The New Marcion, S. 164. somit das älteste uns bekannte Evangelium dar. 51 H E ILMAN N bemerkt in diesem Zusammenhang treffend, dass diese Erkenntnis „auch die Koordinaten für die weitere Erforschung der Sammlung der paulinischen Briefe im 1. und 2. Jh.“ 52 verändert. Es ist nun also zu überprüfen, in welcher Weise das tatsächlich der Fall ist. Mit anderen Worten: Ist das, was für das durch Marcion bezeugte Evan‐ gelium nachgewiesen werden konnte, auch auf die Paulusbriefe übertragbar? Legen also die textlichen Differenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe nahe, dass Letztere als (vornehmlich) ergänzende Überarbeitung der Ersteren zu verstehen ist? Lässt sich möglicher‐ weise ein übergreifendes, kohärentes redaktionelles Konzept dieser Überarbei‐ tung plausibilisieren? Aufgrund der Bedeutung für den Argumentationsgang der vorliegenden Ar‐ beit werden die von K LIN G HA R DT ausführlich dargelegten Argumente hier noch einmal kurz repetiert. Gegen die traditionelle Ansicht der Lk-Priorität gegen‐ über dem durch Marcion bezeugten Evangelientext sprechen demnach v. a. zwei Beobachtungen: 1. „die häufig beobachtete Inkohärenz der angeblichen Bearbeitung Mar‐ cions, die sich nicht zu einem erkennbaren redaktionellen Konzept fügt und […] 2. die zahlreichen Berührungen zwischen dem für Mcn durch die Häresio‐ logen direkt bezeugten Text und den Varianten in den kanonischen Lk-Handschriften.“ 53 Nun stellt sich unweigerlich die Frage, ob die beiden Argumente K LIN G HA R DT s auch auf den Apostolos zutreffen. Hinsichtlich der redaktionellen Inkonsistenz einer angenommenen marcioni‐ tischen Redaktionstätigkeit wurden schon vielfach Zweifel angemeldet. Be‐ 33 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung 54 In diesem Fall würde der große Aufwand verwundern, den die Kirchenväter be‐ trieben, um Marcion und seine Bibelausgabe zu diskreditieren. 55 Tert. Adv. Marc. 4,43,7: Et Marcion quaedam contraria sibi illa, credo industria, era‐ dere de evangelio suo noluit, ut ex his quae eradere potuit nec erasit, illa quae erasit aut negetur erasisse aut merito erasisse dicatur. | „Markion freilich wollte manche Punkte, die seiner Lehre entgegengesetzt sind, in folgender Absicht - wie ich glaube - nicht aus seinem Evangelium tilgen: Entsprechend derjenigen Passagen, die er hätte tilgen können und dennoch nicht tilgt, sollte es entweder heißen, er habe jene Passagen, die er tilgte, nicht getilgt, oder er habe sie zu Recht getilgt.“ (Übers. L U K A S ). 56 B E D U H N , The First New Testament, S. 214: „An ideological redaction is quite diffi‐ cult to substantiate, since the supposedly objectionable content of missing passages is found in other passages left in place.“ An anderer Stelle (S. 226) konstatiert er: „Therefore we cannot […] conclude that some significant component of Paul’s thought has been systematically excised.“ 57 Schon S C H M I D T , Das ächte Evangelium, S. 483 erkannte: „[E]r änderte seinem Zwecke entgegen! “ reits Tertullian räumte ein, dass sich in Marcions Text oftmals Passagen be‐ finden, die dessen eigener Theologie eigentlich widersprechen. Die Beweisführung der Häresiologen ist ja genau darauf ausgelegt, solcherlei In‐ konsistenzen zwischen Marcions Text und Marcions Theologie aufzuzeigen. Tertullian kann dafür letztlich zahlreiche Beispiele (Textstellen) anführen. Doch genau dies sollte eigentlich stutzig machen. Denn wenn man der An‐ nahme Glauben schenkt, Marcion habe den ihm vorliegenden Text aus theo‐ logischen Gründen bearbeitet, so sollte diese Art der Beweisführung eigentlich scheitern. Falls nicht, müsste man Marcions Textrevision zumindest als sehr oberflächlich und mangelhaft ausgeführt verstehen. 54 Auf diese Aporie weist Tertullian auch selbst hin, erklärt das Phänomen aber damit, dass Marcion absichtlich einige Textpassagen unberührt ließ, die eigentlich seinen theolo‐ gischen Motiven entgegenstehen. Demnach wollte Marcion so gleichsam Spuren seiner eigenen Textrevision verwischen 55 - zu Recht bezeichnet K LIN G ‐ HA R DT dies als „höchst gewundene Erklärung“, die wenig plausibel erscheint. Zuletzt konnte B E D U HN ausführlich darlegen, dass die Annahme einer aus theologischen Gründen motivierten Redaktionstätigkeit Marcions nicht auf‐ recht erhalten werden kann. Die inhaltlichen Motive der angeblich gestri‐ chenen bzw. verbesserten Textpassagen lassen sich, wie oben angedeutet, an vielen Stellen des für Marcions Apostolos bezeugten Textes (also für den Text, den Marcion mutmaßlich nicht veränderte) trotzdem nachweisen. 56 Be‐ schuldigt man Marcion also der Streichung und Verbesserung der seiner Theologie zuwiderlaufenden Textstellen, so wäre er hierbei überaus inkonse‐ quent vorgegangen, ja hätte die Texte teilweise sogar entgegen seinen eigent‐ lichen inhaltlichen Interessen verändert. 57 Daher ist es unplausibel, die 34 II. Methodologische Reflexion 58 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 358. 59 Für das durch Marcion bezeugte Evangelium zählte Klinghardt annähernd 400 Fälle; vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 117. 60 E H R M A N , Didymus the Blind, S. 189 Anm. 8: „Variants are genetically significant when they indicate textual relationship“, d. h. wenn die Annahme, dass eine Variante zweimal unabhängig voneinander entstanden ist, unwahrscheinlich ist; vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 19 Anm. 80. 61 Vgl. z. B. C L A B E A U X , Lost Edition. 62 Beispielsweise ℵ A B C D F G Ψ. 63 H A R N A C K , Marcion, S. 247*: „Ein Einfluß seines [scil. Marcions] Textes auf den ka‐ tholischen Text hat nur in geringem Maße stattgefunden […], aber einen gewissen Einfluß darf man sicher nicht […] in Abrede stellen.“ Drei Jahre nach der Erstauflage dieser wirkmächtigen Monographie reichte Harnack eine knappe Abhandlung zum Thema nach, in der er nicht mehr nur einen geringen Einfluss des marcioniti‐ 10-Briefe-Sammlung schlicht als eine aus theologischen Gründen motivierte Verkürzung der 14-Briefe-Sammlung anzusehen. Das zweite Phänomen bestätigt dies nicht nur, sondern trägt lt. K LIN G HA R DT noch größeres argumentatives Gewicht. 58 Daher wird das Argument hier be‐ sonders ausführlich dargelegt und erläutert. Die zentrale Beobachtung ist, dass zahlreiche, 59 unter der Vorannahme einer marcionitischen Redaktion bisher als marcionitische Textänderungen identifizierte, genealogisch signi‐ fikante 60 Lesarten auch in anderen Handschriften der neutestamentlichen Textüberlieferung auftauchen, insbesondere denen, die ehemals unter dem Kürzel „westlicher Text“ subsumiert wurden. Hierbei handelt es sich v. a. um die altlateinische und altsyrische Textüberlieferung, die hier einen reichen Fundus bietet. 61 Allerdings lässt sich eine Vielzahl „marcionitischer“ Vari‐ anten erstaunlicherweise auch in zahlreichen griechischen Unzialhand‐ schriften, 62 aber auch diversen Minuskeln finden. Man muss also konsta‐ tieren: analog zum durch Marcion bezeugten Evangelientext hat auch der Text des marcionitischen Apostolos zahlreiche Spuren in allen Bereichen der hand‐ schriftlichen Überlieferung hinterlassen. Dabei lässt sich keine regionale Zu‐ ordnung plausibilisieren. Diese Beobachtung ist insofern verwunderlich, als zu fragen ist, wie ein von so vielen Kirchenvätern als „Ketzerwerk“ gebrandmarkter und „verstüm‐ melter“ Text einen derart starken Einfluss auf die „reguläre“ handschriftliche Überlieferung haben konnte. H A R NA C K s Lösung für dieses Phänomen lautete, dass Marcion einen westlichen Text als Vorlage hatte (den er dann redaktio‐ nell bearbeitete) und die Lesarten, die durch seine Redaktionstätigkeit verän‐ dert wurden, wiederum in jene Handschriften Einzug gehalten haben. Er rechnet also mit einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen dem westli‐ chen und dem marcionitischen Text. 63 Schon Z AHN hatte diese Annahme als 35 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung schen Textes auf den katholischen konstatierte, sondern wie folgt resümiert: „[J]a ich muss noch einen Schritt weiter gehen und Bauer (bzw. auch Lietzmann) Recht geben, daß ich den Einfluß des Marcionitischen Textes auf den Kirchentext noch etwas stärker hätte betonen, bzw. begründen können“; H A R N A C K , Neue Studien, S. 27. 64 Z A H N , Geschichte des neutestamentlichen Kanons, S. 638 erkennt, dass es „ange‐ sichts der unversöhnlichen Feindschaft der Kirche gegen Mrc. ganz undenkbar [sei], daß der unermüdlich als ketzerische Fälschung verurtheilte Text Mrc.’s auf die Ge‐ staltung des kirchlichen Textes einen positiven Einfluß geübt habe.“ An anderer Stelle (S. 681) formuliert Zahn nicht weniger eindrücklich: „Der bewußte Haß der Kirche gegen den Antichristen und Schriftverfälscher Marcion macht es undenkbar, daß man in kirchlichen Kreisen dem marcionitischen Bibeltext einen positiven Ein‐ fluß auf die Gestaltung des kirchlichen einräumte.“ 65 K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 75: „[D]ie […] Vorstellung, dass der von Marcion emendierte Text einen nennenswerten Einfluss auf die katholische Textüberlieferung ausgeübt haben soll, [ist] nachgerade halsbrecherisch.“ U. S C H M I D , Marcion, S. 294 hält aus diesem Grund konkret für den Römerbrief fest: „Es scheint mir […] vollkommen undenkbar, daß ausgerechnet der von Marcion stark bearbei‐ tete Röm überhaupt Einfluß auf die Textüberlieferung genommen haben kann.“ 66 Die These, dass die 14-Briefe-Sammlung eine Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung ist, schließt nicht aus, dass es die 14-Briefe-Sammlung bereits vor Marcion gab und dieser sich lediglich auf die ältere 10-Briefe-Sammlung berief, die noch im Umlauf war. „undenkbar“ 64 eingeschätzt, K LIN G HA R DT bezeichnet sie sogar als „halsbreche‐ risch“ 65 . Die meines Erachtens weitaus plausiblere Antwort muss lauten: Es handelt sich gar nicht um einen Ketzertext, der die neutestamentliche Über‐ lieferung so stark beeinflusst hat. Die 10-Briefe-Sammlung ist also nicht das Werk eines Häretikers. Sie ist keine Verkürzung bzw. Verstümmelung der 14-Briefe-Sammlung, sondern eine ältere Textsammlung der Paulusbriefe, die spätestens ab der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Umlauf war und die handschriftliche Textüberlieferung der Paulusbriefe maßgeblich beein‐ flusste (A2). 66 Diese Arbeitshypothese fungiert als heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit. In der Folge wird angestrebt, diese Hypothese zu erhärten. Das metho‐ dische Vorgehen verlangt einen Rekurs auf die forschungsgeschichtlich ein‐ flussreichste Arbeit zum marcionitischen Apostolos der jüngeren Zeit, die von Ulrich S C HMID aus dem Jahr 1995 stammt. Seine Textrekonstruktion hat sowohl methodisch als auch hinsichtlich des Ergebnisses neue Maßstäbe etabliert. S C HMID s methodische Prämissen müssen hier kurz erläutert werden, da sie auch die vorliegende Studie stark beeinflusst haben. So legt S C HMID in seiner Arbeit erstens besonderen Wert auf die Analyse der Zitiergewohnheiten der Kirchenväter, die als Quelle für die Rekonstruktion des 36 II. Methodologische Reflexion 67 Dem geht die Feststellung voraus, dass die patristischen Autoren und Häresiologen die marcionitischen Texte nicht notwendigerweise wörtlich zitieren, sondern in ihren je‐ weiligen Argumentationszusammenhang einarbeiten. Oftmals ist ihr primäres Interesse also der Inhalt, weniger der genaue Wortlaut des Textes. Dies stellt v. a. deswegen ein Problem dar, da es sich bei den paulinischen Briefen um argumentative Texte han‐ delt - anders als die Evangelien, die ja einen narrativen Charakter aufweisen. Vgl. dazu U. S C H M I D , Marcion, S. 26-29. 68 Hier ist an „übliche Abschreibephänomene“ zu denken, wie bspw. scribal slips, Auslas‐ sungen durch Homoioarkton bzw. Homoioteleuton u.v.m. 69 U. S C H M I D , Marcion, S. 254 formuliert dies wie folgt: „(P)rinzipiell [ist] jede Überein‐ stimmung zwischen dem marcionitischen Text und irgendeinem anderen Textzeugen in ihrem genealogischen Zusammenhang umkehrbar, d. h. auch die ‚marcionitischste‘ aller Einzellesarten des marcionitischen Textes, wenn sie denn auch noch in anderen Textzeugen belegt ist, muß nicht zwingend aus demselben stammen.“ Damit meint Schmid, dass sie nicht von Marcion verursacht sein muss. Entdeckt man also eine „mar‐ cionitische“ Lesart auch in anderen neutestamentlichen Handschriften, so kann man sie streng genommen nicht mehr - wie es Schmid tut - als marcionitische Lesart be‐ zeichnen, sondern sollte stattdessen von einer durch Marcion bezeugten Lesart reden. 70 Gleich zu Beginn seiner Studie gibt C L A B E A U X , Lost Edition, S. 2 die methodische Marschroute vor: „Several readings that were presumed to be the work of Marcion - because they appeared in Marcion's text and agreed in some way with Marcionite te‐ Apostolos dienen (in erster Linie also Tertullian und Epiphanius). 67 Zweitens rechnet er sehr viel stärker (als z. B. H A R NA C K und Z AHN ) mit mechanischen Fehlern im Überlieferungsprozess. Zu Recht geht er also davon aus, dass für den Text des Apostolos die gleichen textkritischen Phänomene 68 auftreten können, die auch im Rahmen der sonstigen neutestamentlichen Textüberlieferung belegt sind. Lassen sich Varianten anhand gängiger Abschreibephänomene erklären, braucht Marcion nicht mehr als Urheber der Lesart herhalten. Und drittens legt er besonderen Wert darauf, scheinbar spezifisch marcionitische Lesarten in den neutestamentlichen Handschriften bzw. der nicht-marcionitischen Textüberlieferung aufzuspüren. Finden sich nämlich solcherlei Belege bzw. Spuren davon, so muss, lt. S C HMID , die von den Häresiologen behauptete marcionitische Herkunft der Lesart konsequent hinterfragt bzw. ernsthaft angezweifelt werden, da Marcion sie schlicht aus seiner Vorlage übernommen haben könnte. 69 In dieser methodischen Herangehensweise folgt S C HMID John C LA B E A U X . Dieser beschäftigte sich bereits vor S C HMID mit dem Text des marcionitischen Apostolos und diente ihm, nicht nur hinsichtlich der Methodik, als wichtiger Wegbereiter. So betont C LA B E A U X als erster die Wichtigkeit der Frage, inwieweit eine vormals unhinterfragt (allein aufgrund der häresiologischen Bezeugung) als marcionitisch identifizierte Lesart auch in anderen Bereichen der hand‐ schriftlichen Überlieferung nachweisbar ist. 70 Er bezeichnet dies als criterion of attestation elsewhere und erklärt prägnant: 37 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung nets - can be demonstrated to be earlier than Marcion himself. Their association with Marcion can be stripped away if (1) they can be accounted for by a simple mechanical motivation [scil. z. B. ein bereits zuvor angedeuteter Blattausfall, der v. a. am Ende oder am Anfang einer Handschrift überaus oft auftritt] or (2) they are attested in other MSS which Marcion could not have influenced“ [Hervorhebung im Original]. Auf diese Weise will Clabeaux all diejenigen Lesarten isolieren, die bisher Marcion zugeschrieben wurden, aber stattdessen auf seine Vorlage zurückgehen. U. S C H M I D , Marcion, S. 22 stellt die oben zitierte methodische Herangehensweise zu Recht ausdrücklich „als eine der Stärken von Clabeaux’s Arbeit“ heraus. 71 C L A B E A U X , Lost Edition, S. 39. 72 U. S C H M I D , Marcion, S. 4. „The existence of the reading in other authors independent of the author in question increases the likelihood that the variant was a part of the text he cited and not his own creation.“ 71 Die untersuchte Variante wäre in einem solchen Fall also nicht durch Marcions Redaktionstätigkeit entstanden, sondern sie existierte schlichtweg schon, näm‐ lich in der 10-Briefe-Sammlung. Die drei oben erläuterten Kriterien, die also maßgeblich sind für die Frage, ob eine Lesart tatsächlich von Marcion erzeugt oder doch nur durch ihn bezeugt ist, werden - in Anlehnung an C LA B E A U X - im weiteren Verlauf wie folgt bezeichnet: Kriterium 1: citation habits Kriterium 2: failure in tradition Kriterium 3: attestation elsewhere Wie bereits oben angedeutet, ist es demnach geboten, eine neutrale Bearbei‐ tungssprache zu verwenden und terminologisch sauber zu differenzieren zwi‐ schen durch Marcion bezeugte und durch Marcion erzeugte Varianten. Für die letztere Kategorie kommen demnach grundsätzlich nur noch diejenigen Text‐ varianten in Frage, die durch alle drei Raster fallen. Ihr Zustandekommen darf sich also weder aufgrund der Zitiergewohnheit ihres Zeugen (also des bzw. der jeweiligen Häresiologen) noch aufgrund eines Abschreibefehlers im Überliefe‐ rungsprozess erklären lassen. Zusätzlich dürfen sie in keinem anderen neutes‐ tamentlichen Manuskript auftauchen bzw. Spuren hinterlassen haben. Demnach können durch Marcion erzeugte Varianten nur aus dem Pool der marcioniti‐ schen Singulärlesarten kommen, also all diejenigen, die sich nirgends innerhalb der sonstigen handschriftlichen Überlieferung nachweisen lassen. Unter Anwendung der beschriebenen methodischen Herangehensweise kam S C HMID zu dem Ergebnis, „daß der Anteil Marcions am Zustandekommen seines Textes sehr viel geringer ist, als bislang angenommen wurde.“ 72 Bei der Anwen‐ dung der oben genannten Kriterien bei der Überprüfung der ursprünglich als „marcionitisch“ angenommenen Varianten sind offensichtlich deutlich weniger 38 II. Methodologische Reflexion 73 Wenngleich man an einigen Stellen in Schmids Untersuchung erkennen kann, dass er es durchaus für möglich hält, von der Annahme redaktioneller Eingriffe seitens Mar‐ cions abzusehen, dass Marcion also nur noch als Tradent, nicht aber als Bearbeiter von Texten verstanden wird. Im Zusammenhang mit der Erklärung der „normalen Text‐ korruption“, mit der für den Apostolos zu rechnen ist, spricht er beispielsweise von einer „eventuellen [! ] marcionitischen Bearbeitung“; U. S C H M I D , Marcion, S. 31. Tat‐ sächlich diskutiert er das Bearbeitungsverhältnis an keiner Stelle explizit, sondern übernimmt einfach die gängige Position, die stark von Harnacks Urteil geprägt scheint. Interessanterweise weist er in der forschungsgeschichtlichen Skizze zu Beginn seiner Untersuchung ausdrücklich darauf hin, dass es für jegliche Rekonstruktionsversuche nicht angebracht sei, sich von „bestimmten historischen Vorentscheidungen“ (U. S C H M I D , Marcion, S. 7) leiten zu lassen. 74 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 310. 75 U. S C H M I D , Marcion, S. 310. 76 In diesem Fall müsste man am ehesten von mechanischen Defekten, z. B. Blatt- oder Lagenausfall, ausgehen. Das erscheint zwar möglich, grundsätzlich aber wenig wahr‐ scheinlich. 77 U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 108: „No witness features large omissions in […] chapters 9-11, or omits chapter 4 in its entirety.“ 78 U. S C H M I D , Marcion, S. 255. Bemerkenswert erscheint, dass er die besagten umfangrei‐ chen Textdifferenzen auch als „längere Auslassungen“ (U. S C H M I D , Marcion, S. 248) tituliert. Wiederum weist seine Beschreibungssprache schon auf seine vorab getroffene Entscheidung hin, Marcion weiterhin als Textfälscher zu verstehen. Varianten übrig geblieben, als dies in allen bisherigen Rekonstruktionsversu‐ chen des Apostolos der Fall war. Somit entlastete S C HMID Marcion an vielen Stellen zwar vom häresiologischen Textverstümmelungsvorwurf. Trotzdem hielt er an seiner Grundannahme fest, dass der marcionitische Paulustext eine redaktionelle Bearbeitung darstellt. 73 Tatsächlich beschränkt sich Marcions redaktioneller Beitrag lt. S C HMID nur noch auf einige wenige, zwar relativ umfangreiche, aber präzise eingrenzbare Textabschnitte, die nach der Anwendung der drei oben genannten Kriterien übrig bleiben. 74 Diese umfangreichen Textdifferenzen - hier ist es nicht mehr sinnvoll, von textkritischen Varianten zu sprechen - treten v. a. im Römerbrief auf. Nach S C HMID s Rekonstruktion des Apostolos handelt es sich um Rm 2,3-11, Rm 4 und Rm 9-11, die in dem von Marcion bezeugten Text des Römerbriefes fehlen. 75 Ein angenommener Wegfall dieser jeweils thematisch in sich zusam‐ menhängenden Textabschnitte lässt sich weder mit Hilfe der Zitiergewohn‐ heiten der Zeugen, noch anhand gängiger textkritischer Phänomene 76 plausibi‐ lisieren. Da (außer bei Marcion) auch in der bisher untersuchten handschriftlichen Überlieferung des Römerbriefes nichts auf ein Fehlen der Ab‐ schnitte hinweist, 77 führt auch Kriterium 3 (attestation elsewhere) hier nicht zum Ausschluss. Für S C HMID ergibt sich folgerichtig „kein Grund […] anzunehmen, Marcion sei nicht der Urheber dieser Textänderungen.“ 78 Somit fällt für ihn die 39 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung 79 Lt. U. S C H M I D , Marcion, S. 298 bestand diese vormarcionitische Sammlung aus zehn Briefen und existierte neben der kanonischen Sammlung. Schmid geht also davon aus, dass es sich um regional unterschiedliche Corpora bzw. um zwei konkurrierende Brief‐ sammlungen gehandelt haben könnte. 80 Schon W A L L , Function of the Pastoral Letters, S. 34 votierte für diese Option, wenngleich er ganz anders argumentiert. So erklärt er, dass Marcion nicht für die Streichung der Pastoralbriefe - die er als eigenes Textkorpus versteht - verantwortlich gemacht werden kann („In fact, it seems highly unlikely, as Tertullian proffers, that Marcion rejected this second collection for the same facile reasons that would have prompted him logically to exclude Philemon as well. […] It therefore seems more likely that Mar‐ cion did not exclude this second collection for due cause and more probably simply did not know these writings.“ Stattdessen will Wall plausibilisieren, dass die 10-Briefe-Sammlung des Marcion zu einer 13-Briefe-Sammlung (ohne Hebr) ergänzt der Schwegler-Hypothese entsprechende Option A2 weg, die von ihm gar nicht diskutiert wird. Da S C HMID aber gleichzeitig die Beobachtung des starken Ein‐ flusses des Textes des marcionitischen Apostolos auf die reguläre Überlieferung ernst nimmt, kommt für ihn auch Option A1 nicht in Frage. Folglich ist er gleichsam gezwungen, sich mit Option A3 zu behelfen und eine vormarcioniti‐ sche Paulusbriefedition zu postulieren, die einerseits Einfluss auf die reguläre Überlieferung genommen hat, und die andererseits aber auch die Vorlage für Marcions Textrevision darstellt. 79 Der gängige Argumentationsstrang, der davon ausgeht, Marcion als Textbe‐ arbeiter zu verstehen (dem also auch S C HMID teilweise folgt), stellt sich sche‐ matisch wie folgt dar: Voraussetzung / Prämisse A Marcion ist ein Textverstümmler, der den katholischen Text verändert, v.a. verkürzt hat. ↓ Die 10-Briefe-Sammlung ist eine redaktionelle Bearbeitung (Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung (→ A1 ) → Schlussfolgerung / Konklusion B Es existieren sog. marcionitische Singulärlesarten (also ür den von Marcion verwendeten Text bezeugte Lesarten, die durch alle drei methodischen Raster fallen, d.h. die also auch in der sonstigen Überlieferung nirgends bezeugt und folglich Marcions Redaktionstätigkeit zuzuschreiben sind). Übersicht 2: 14 Pls → 10 Pls Die vorliegende Arbeit wird einen methodischen Weg aufzeigen, der diese Grundannahme einer marcionitischen Redaktion des Römerbrieftextes (und damit auch der übrigen Paulusbriefe) in Frage stellt und stattdessen deutlich macht, dass die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung die plausiblere Option darstellt. 80 40 II. Methodologische Reflexion wurde. Die Ansicht, dass die Pastoralbriefe nicht von Marcion verworfen wurden, son‐ dern dass dieser sie gar nicht kannte, existierte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So führte C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 100 aus, dass es „für höchst wahrscheinlich gehalten werden [muss], daß Marcion die drei Briefe nicht ver‐ warf, weil er Gründe hatte, sie für unecht zu halten, sondern weil er sie nicht kannte.“ Das Fehlen der Pastoralbriefe in der 10-Briefe-Sammlung ist demnach nicht darauf zu‐ rückzuführen, dass Marcion hier redaktionelle Streichungen unternahm, sondern dass sie zur Entstehungszeit der Bibel Marcions schlicht noch nicht bekannt (bzw. nicht existent) waren. Schon H A R R I S , Marcion and the Canon, S. 393 dachte in diese Richtung: „[M]odern Critics maintain that these Epistels [scil. the Pastoral Epistels] are not Paul’s, and that it is more probable they were produced […] to discredit Marcion than that they were deliberately rejected by him.“ 81 Kleinere, weniger umfangreiche Textdifferenzen werden in der vorliegenden Arbeit nur dann betrachtet, wenn sie in Beziehung zu den besagten, umfangreicheren Passagen stehen. 82 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 249, der die Textstelle selbst als „undurchsichtig“ tituliert. Schmid bezieht Tertullians Sätze zu den foveas (Fallgruben) in Tert. Adv. Marc. 5,13,4 (Quantas autem foveas in ista vel maxime epistola Marcion federit auferendo quae voluit, de nostri instrumenti integritate parebit. | „Welch große Fallgruben sich Markion aber wohl am meisten in diesem Brief schuf, indem er hinwegnahm, was er wollte, wird klar werden aus der Unversehrtheit unserer Schrift.“ (Übers. L U K A S )), nicht (wie Harnack) auf den Abschnitt 1,19-2,1, sondern auf 2,3-11. Er konstatiert einerseits, dass (wenn man die vermuteten Auslassungen in Rm 2,3-11 weglässt) der Anschluss von 2,12 an 2,2 „mindestens so gut, wenn nicht noch besser (gelingt),“ (U. S C H M I D , Marcion, S. 87) als der von 2,2 an 1,18. Andererseits versucht er, das Fehlen der Verse auch inhaltlich zu begründen, indem er darauf verweist, dass der in Rm 2,3-11 formulierte Gedanke vom endzeitlichen Gericht nach den Werken für Marcion nicht erträglich wäre: „Ver‐ mutlich aber war ihnen [scil. den Marcioniten] die auch heute nicht leicht in die pau‐ linische Theologie zu integrierende Vorstellung vom Gericht nach den Werken zu 2.3. Methodisches Vorgehen Aus den beschriebenen Überlegungen ergibt sich folgende methodische Heran‐ gehensweise: Untersucht werden die drei umfangreichsten, zusammenhän‐ genden Textdifferenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung (bezeugt durch Mar‐ cions Apostolos) und der 14-Briefe-Sammlung innerhalb des Römerbriefes. 81 Dabei handelt es sich um Rm 4, Rm 9-11 und Rm 15-16. Letzterer Textabschnitt spielt hier deswegen eine Rolle, da das damit verbundene Problem des Römer‐ briefschlusses unter der heuristischen Grundannahme der vorliegenden Arbeit eine neue Lösung verspricht. Darüber hinaus ist es das zentrale textkritische Problem des Römerbriefes und darf daher an dieser Stelle nicht ignoriert werden. Dagegen wird auf die Untersuchung von Rm 2,3-11 verzichtet, da die Evidenz, auf der S C HMID sein Urteil gründet, dass die besagten Verse im von Marcion verwendeten Römerbrief fehlten, nach meinem Dafürhalten nicht plausibel genug sind. 82 41 2.3. Methodisches Vorgehen problematisch“; U. S C H M I D , Marcion, S. 249. Dies stellt freilich ein reines Tendenzurteil dar, dessen Überzeugungskraft als gering zu erachten ist. 83 Dies deckt sich mit der Einschätzung von K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 358, der das beschriebene Kriterium gleichsam als dritte („gewichtigste“) argumentative Säule anführt, mit der er die Priorität des durch Marcion bezeugten Evangeliums be‐ gründete. 84 Schon F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 167f brachte es auf den Punkt und nahm quasi das Ergebnis vorweg - wenngleich er die von Schmid als „größere Auslas‐ sungen“ titulierten Textabschnitte wohl schlicht ignorierte: „Wirklich von Marcion tendenziös erstellte Lesarten begegnen nirgends sonst in der Überlieferung, sondern nur solche, deren tendenziös-marcionitischen Ursprung Tertullian oder andere, die gegen den Ketzer zur Feder griffen, behaupten; diese Lesarten aber sind nicht im ei‐ gentlichen Sinne ‚marcionitisch‘, sondern wie von anderen auch von Marcion belegt.“ Ähnlich auch Q U I S P E L , Marcion and the Text, S. 351, der formuliert: „The text of Marcion did not contain any tendentious readings at all.“ Dass grundsätzlich davon abgesehen werden sollte, von „marcionitisch-tendenziösen“ Textänderungen Marcions zu spre‐ chen, hat bereits U. S C H M I D , Marcion, S. 34 formuliert: „Die Kategorie ‚marcioni‐ Im Detail gestaltet sich die Vorgehensweise wie folgt: Zunächst wird der Text der 10-Briefe-Sammung für den untersuchten Textabschnitt genau erfasst. Dazu ist es geboten, den Text des Römerbriefes in Marcions Apostolos ( 10 Rm) anhand der häresiologischen Bezeugung zu rekonstruieren, genau genommen die Dif‐ ferenz zwischen der 10- und der 14-Briefe-Sammlung so genau wie möglich zu erfassen. Anschließend ist anhand der genannten Kriterien zu prüfen, ob es sich tatsächlich (wie immer behauptet) um marcionitische Sonderlesarten (also durch Marcion erzeugte Varianten) handelt oder ob sie doch nur als durch Mar‐ cion bezeugt gelten dürfen. In diesem Fall müsste man die Entstehung der je‐ weiligen Lesart also auf mindestens eines der bekannten Kriterien zurückführen können. Das Zustandekommen der Lesart wäre also (1) aufgrund des Zitierver‐ haltens des jeweiligen Häresiologen zu erklären, oder geht (2) auf einen üblichen Fehler im Überlieferungsprozess zurück oder ist (3) auch anderweitig bezeugt. Da die Entstehung der besagten Textdifferenzen zwischen dem durch Mar‐ cion bezeugten Römerbrief und dem katholischen Text (also zwischen 10 Rm und 14 Rm) aufgrund ihres großen Umfangs kaum durch die Zitiergewohnheiten der Häresiologen (citation habits) zu erklären sind, bleibt das zweite (failures in tra‐ dition) und v. a. das dritte methodische Kriterium (attestation elsewhere) zu über‐ prüfen. Dabei trägt Letzteres zweifelsohne das meiste argumentative Gewicht. 83 Es wird also in erster Linie darum gehen, zu überprüfen, ob nicht auch andere Teile der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments das Fehlen von Rm 4 bzw. Rm 9-11 nahe legen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so würden auch die letzten Textabschnitte entfallen, die bisher als Beleg der Annahme einer theologisch motivierten marcionitischen Textrevision angeführt wurden. 84 42 II. Methodologische Reflexion tisch-tendenziös‘ sollte als Kriterium für die Rekonstruktion des marcionitischen Textes nicht eingesetzt werden. Sie stellt eine vermeidbare petitio principii dar.“ 85 So geht auch L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 25f davon aus, dass „Markion den Text der vorhandenen Zehnbriefesammlung nicht veränderte, sondern eine schon im Umlauf befindliche vorneutestamentliche Zehnbriefesammlung verwendet hat, ohne in den Text redaktionell einzugreifen; so lässt sich auch - analog zum Lukasevangelium - der vorgebliche markionitische Einfluss auf die altkirchliche Handschriftentradition er‐ klären.“ Folglich wäre es dann auch absolut legitim, ja sogar methodisch geboten, von der Annahme einer redaktionellen Bearbeitung Marcions und damit auch der Posteriorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung (A1) abzusehen. 85 Stattdessen müsste man das redaktionelle Gefälle zwischen den beiden Briefsammlungen umkehren (A2) und prüfen, ob so die vielschichtigen textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Phänomene nicht besser er‐ klärt werden können, als es die herkömmliche Hypothese zu tun im Stande ist. S C HMID s Annahme einer vormarcionitischen Paulusbriefedition, die sowohl von Marcion redaktionell bearbeitet wurde, die gleichzeitig aber auch die Über‐ lieferung der 14-Briefe-Sammlung beeinflusst hat (A3), ist nur dann sinnvoller‐ weise aufrecht zu erhalten, sollten Marcion tatsächlich redaktionelle Eingriffe nachgewiesen werden können. Konkret also nur dann, wenn es sich bei den „größeren Auslassungen“ tatsächlich um Streichungen handelt, für die Marcion verantwortlich zu machen ist, die also gleichsam durch alle drei beschriebenen methodischen Raster fallen. Die vorliegende Studie liefert somit einen indirekten Beweis, d. h. einen Be‐ weis durch Kontraposition der herkömmlichen Annahme, Marcion als Textfäl‐ scher zu verstehen. Im Schema stellt sich der Argumentationsgang wie folgt dar: B Es existieren keine marcionitischen Singulärlesarten (d.h. genealogisch signifikante Lesarten, die durch die Häresiologen ür den von Marcion verwendeten Text bezeugt sind, aber sonst nirgends in der Überlieferung Spuren hinterlassen haben). → A Marcion ist kein Textverstümmler, der den ihm vorliegenden Text verändert (v.a. verkürzt) hat. ↓ Die 10-Briefe-Sammlung ist keine redaktionelle Bearbeitung (Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung (→ A1 ) sondern: Die 14-Briefe-Sammlung ist eine redaktionelle Bearbeitung (Erweiterung) der 10-Briefe-Sammlung (→ A2 ) Übersicht 3: 10 Pls → 14 Pls 43 2.3. Methodisches Vorgehen 86 Bereits F R E D E , Ein neuer Paulustext, S. 118 wies darauf hin, dass sich die meisten bis‐ herigen Überlegungen zu den Schlusskapiteln des Römerbriefes vornehmlich auf die griechische Überlieferung stützen. Es sollte aber unbedingt vermehrt auch die lateini‐ sche herangezogen werden, da diese womöglich noch größere Aussagekraft besitzt. Auch andere Versionen können darüber hinaus interessante Erkenntnisse liefern und sollten in zukünftigen Studien nicht vernachlässigt werden. In diesem Fall handelt es sich bei den Textdifferenzen zwischen den beiden Edi‐ tionen also nicht um Streichungen, sondern um Interpolationen. Den Ausgangs‐ punkt der Überlieferung stellt demnach die 10-Briefe-Sammlung dar, wie sie durch Marcions Apostolos bezeugt ist. D.h. hier geschieht methodisch also eine Gleichsetzung: Die Hinweise, die die Häresiologen für die Textgestalt von Mar‐ cions Apostolos liefern, werden ebenso für die Texte der 10-Briefe-Sammlung geltend gemacht. Dies ist dann methodisch statthaft, insofern aus den Quellen nichts Gegenteiliges herauszulesen ist bzw. die Aussagen der Häresiologen mit Textbesonderheiten korrelieren, die sich wahrscheinlich als Überreste der 10-Briefe-Sammlung erklären lassen. Sollte dies für eine große Anzahl bisher als marcionitisch gelabelter Lesarten bzw. Textmerkmale der Fall sein, ist es für die vorliegende Studie legitim, ja sogar geboten, den marcionitischen Römer‐ brief (McnRm) mit dem Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung ( 10 Rm) gleichzu‐ setzen. Um bisher unentdeckte Spuren der marcionitischen Paulusbriefausgabe in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments zu finden, wird be‐ wusst nicht in erster Linie nur auf die griechische Handschriftentradition zu‐ rückgegriffen. Stattdessen werden Bereiche der Textüberlieferung betrachtet, die bisher nahezu ignoriert wurden. So wird die altlateinische Überlieferung eine große Rolle spielen. 86 Konkret sind es v. a. die Paratexte, die ein umfangreiches Reservoir darstellen, das bislang in dieser Hinsicht kaum bzw. gar nicht ausge‐ wertet wurde, da sie in den Apparaten der kritischen Textausgaben aus Gründen der methodischen Beschränkung gar nicht auftauchen. Zunächst ist deshalb zu klären, was überhaupt Paratexte sind und welche konkreten Paratexte für die textgeschichtliche Erforschung des Römerbriefes in der vorliegenden Studie von Relevanz sind. 44 II. Methodologische Reflexion 1 G E N E T T E , Paratexte, S. 10. Vgl. dazu auch W A L L R A F F / A N D R I S T , Paratexts of the Bible, S. 239f sowie S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 55-68. 2 G E N E T T E , Palimpseste, S. 11. Zu Recht betont G E N E T T E , Paratexte, S. 11 allerdings, dass „diese Aufzählung nur ein erstes, grobes und mit Sicherheit keineswegs erschöpfendes Inventar“ darstellt. 3 G E N E T T E , Paratexte, S. 11. 4 Vgl. dazu S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 15-70, in denen er auf diverse paratextuelle Beigaben innerhalb des Corpus Homericum und des Corpus Hippokraticum eingeht. III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse Paratexte sind ein zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Dass sie für die Fragestellung so bedeutsam werden konnten, liegt grundsätzlich darin begründet, dass Paratexte Textzustände repräsentieren können, die sehr viel älter sind als die Handschriften, in denen sie heute zu finden sind. Weil sie so viel älter sind, erlauben sie einen Blick in die frühe HSS-Überlieferung, deren Analyse unverzichtbar ist, will man das Verhältnis der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung bestimmen. Zunächst allerdings ist zu klären, was überhaupt ein Paratext ist. 3.1. Begriffsklärung - was sind Paratexte? Der Begriff Paratext geht auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard G E N E T T E zurück. G E N E TT E bezeichnet damit all „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffent‐ lichkeit tritt.“ 1 Konkret nennt und analysiert er unter diesem Oberbegriff „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einlei‐ tungen, usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti, Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher auto- oder allographer Signale.“ 2 Dabei beschäftigte sich G E N E TT E vornehmlich (allerdings nicht ausschließlich) mit der Literatur der Moderne. Für die antiken und mit‐ telalterlichen Texte konstatiert er, dass diese „häufig beinahe im Rohzustand, in Form von Handschriften ohne jegliche Präsentationsformen, zirkulierten.“ 3 Doch hier irrt der moderne Literaturwissenschaftler. Denn sowohl die antike Literatur im Allgemeinen 4 als auch die biblische Texttradition im Speziellen 5 Vgl. W A L L R A F F / A N D R I S T , Paratexts of the Bible, S. 238. 6 Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz von Wallraff und Andrist, der die Arbeit des besagten Forschungsprojektes skizziert: W A L L R A F F / A N D R I S T , Paratexts of the Bible. 7 Vgl. W A L L R A F F / A N D R I S T , Paratexts of the Bible, S. 238. 8 So formuliert B E R G E R , Histoire de la Vulgate, S. 315: „Quoi qu’il en soit, l’étude des sommaires de la Bible est indispensable à l’histoire du texte biblique.“ bieten überaus reichhaltiges paratextuelles Material. Das aktuelle Forschungs‐ projekt „Paratexts of the Bible“ (ParaTexBib) der Universität Basel hat sich die Erfassung und Untersuchung sämtlicher paratextueller Elemente der griechi‐ schen Bibelhandschriften zur Aufgabe gemacht und in diesem Zuge festgestellt, dass fast alle der zahlreichen Handschriften und Handschriftenfragmente der Bibel einiges mehr als nur den eigentlichen Text beinhalten. Entgegen der Ein‐ schätzung G E N E TT E s existiert darin eine Fülle von zusätzlichem Material wie Einleitungen, Vorworte, Gedichte, Gebete, Illustrationen, aber auch strukturelle Elemente wie z. B. Kapitelverzeichnisse. 5 Die Ergebnisse des Projekts unter der Leitung von Martin W AL L R A F F und Pat‐ rick A N D R I S T versprechen wichtige Einsichten und schärfen den Blick auf das Überlieferungsgeschehen der biblischen Texte als einen komplexen, kulturellen Prozess. 6 Zu Recht weisen die Projektleiter auf ein Forschungsdesiderat hin, denn eine systematische Erfassung und Aufarbeitung der zahlreichen und di‐ versen paratextuellen Elemente seitens der Biblischen Theologie steht bisher noch immer aus. Insbesondere die vom INTF beeinflusste Textkritik hätte dem‐ nach alles außerhalb des (eigentlichen) biblischen Textes bisher größtenteils als irrelevant verstanden, da es nicht dazu beitrage, den entfernten Urtext zu re‐ konstruieren. 7 Die vorliegende Arbeit versteht sich u. a. auch als Beitrag, diese Lücke zu füllen bzw. dieses Missverständnis zu entkräften. So soll deutlich gemacht werden, dass die in der Folge untersuchten Paratexte gleichsam als Beschrei‐ bungen von Handschriften verstanden werden müssen. Sie liefern wichtige In‐ formationen, die auf den Umfang und den Inhalt der ihnen zugrunde liegenden HSS schließen lassen. Sie sind also textgeschichtlich alles andere als irrelevant. Dass diese Einsicht nicht gänzlich neu ist, zeigt ein Blick auf die neutestament‐ liche Forschung des 19. Jahrhunderts. So bewertet der französische Theologe Samuel B E R G E R die Bedeutung der paratextuellen Beigaben (genauer gesagt der Kapitellisten) hinsichtlich der Erforschung der Textgeschichte der biblischen Bücher überaus hoch, ja sogar als unerlässlich. 8 Im vergangenen Jahrhundert allerdings scheint diese Einsicht in Vergessen‐ heit geraten zu sein. Möglicherweise trug der immense Zuwachs an auswert‐ baren biblischen Handschriften dazu bei, dass sich das Forschungsinteresse 46 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 9 Als Ausnahme kann Nils Dahls Arbeit zu den marcionitischen Prologen angesehen werden; vgl. D A H L , Origin of the Earliest Prologues. 10 Im Vorwort dieser Neuauflage würdigt Thomas O’Loughlin de Bruynes Arbeit und stellt heraus, dass seine Edition auch 100 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen mehr denn je Antworten auf gegenwärtige Forschungsfragen bietet: „[I]t can […] answer a new set of questions in the current paradigm. Indeed, it may even be appreciated more today than when it first appeared“; vgl. B R U Y N E , Summaries, Divisions and Rubrics, S. XIX. 11 H O U G H T O N , The Latin New Testament, S. 196-204 bietet einen Überblick über die ver‐ schiedenen paratextuellen Beigaben innerhalb der lateinischen Texttradition des Neuen Testaments. Zusammenfassend konstatiert er (S. 137): „Latin manuscripts transmit pos‐ sibly the largest amount of paratextual material of all traditions of the New Testament.“ 12 F I S C H E R , Lateinische Bibelhandschriften, S. 39. mehrheitlich auf die Texte selbst konzentrierte. Zusätzliche Textelemente werden als bloßes Beiwerk verstanden. 9 Erst in der jüngeren Zeit scheint hier wieder ein Paradigmenwechsel wahrnehmbar: Die Etablierung des o. g. For‐ schungsprojektes (ParaTexBib), die Neuauflage von Donatien de B R U Y N E s weg‐ weisender Ausgabe der lateinischen Kapitellisten, 10 aber auch einzelne Studien zu den paratextuellen Beigaben der biblischen Handschriften (z. B. S C H E R ‐ B E N S K E ) - diese Aufzählung will nur einige Beispiele nennen, die allerdings ver‐ deutlichen, dass das Interesse an den Paratexten wieder deutlich ansteigt. Nun ist es an der Zeit, dass auch die gegenwärtige textkritische Forschung dies wahrnimmt. Aus diesem Grund sollen die Paratexte zum Römerbrief für die Lösung der schwerwiegenden textkritischen Probleme nutzbar gemacht werden. Neben der griechischen Handschriftentradition (auf welcher der ausschließ‐ liche Fokus von ParaTexBib liegt) bietet die lateinische Überlieferung des Neuen Testaments sogar noch einen reichhaltigeren Fundus an paratextuellen Bei‐ gaben zu den tatsächlichen Texten. 11 Für die aktuelle Studie sind v. a. Prolog- und Kapitelreihen in den Fokus der Untersuchung gerückt. Grundsätzlich sind die beiden Elemente deswegen interessant, weil sie wichtige Hinweise auf die Existenz sowie das Aussehen von Texten, Textformen bzw. Textcorpora liefern, für die sich - wie noch gezeigt wird - ein sehr früher Ursprung nahelegt. Man kann davon ausgehen, dass die Überlieferung der paratextuellen Beigaben in vielen Fällen gänzlich losgelöst von ihren eigentlichen Bezugstexten geschieht, d. h. die Paratexte sind oftmals zeitlich und geographisch „weit gewandert“ 12 . So taucht eine Vielzahl von ihnen heute nur noch in Vulgatahandschriften auf, weist tatsächlich aber auf altlateinische Vorlagen, also prä-Vulgata-HSS zurück. Dies wird in den nachfolgenden Ausführungen eingehend dargelegt. Unter be‐ stimmten Bedingungen können Paratexte also Textzustände überliefern, die um einiges älter sind als die Handschriften, in denen sie auftauchen. Moderne text‐ 47 3.1. Begriffsklärung - was sind Paratexte? 13 Ein positives Beispiel, welches das Potential verdeutlicht, das die Untersuchung von Paratexten für die textkritische Arbeit bietet, lieferte unlängst W A S S E R M A N , der die la‐ teinischen (! ) Kapitellisten des Johannesevangeliums untersuchte und auf diese Weise Rückschlüsse über die Herkunft und den Zeitpunkt einer Interpolation der Perikope von der Ehebrecherin ( Joh 7,53-8,6) in den Text des Johannesevangeliums zog. Vgl. W A S S E R M A N , The Strange Case, insbesondere S. 60ff. 14 H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 349. 15 Vgl. Kap. 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe. 16 Vgl. dazu M E T Z G E R / E H R M A N , Text, S. 34-38. 17 O. S C H M I D , Eintheilungen der Heiligen Schrift, S. 26 weist darauf hin, dass tituli und breves die jeweiligen Sektionen in eigenen Worten zusammenfassen, während capitula oft einfach die Anfangsworte des entsprechenden Textabschnittes zitieren. Diese Un‐ terscheidung konnte bei genauerer Untersuchung allerdings nicht aufrecht erhalten werden, sodass in der vorliegenden Arbeit in der Regel nur von capitula die Rede ist. 18 H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 337 verweist auf ein lateinisches Kapitelverzeichnis der Evangelien, das mit Cyprian in Verbindung gebracht wird und daher von de Bruyne als KA Cy bezeichnet wurde. Die Kapiteleinteilung in den modernen Bibelausgaben geht auf Stephen Langton (frühes 13. Jahrhundert) zurück; vgl. u. a. O. S C H M I D , Ein‐ theilungen der Heiligen Schrift, passim. 19 Bereits O. S C H M I D , Eintheilungen der Heiligen Schrift, S. 44 hatte erkannt, dass die Mehrzahl der bekannten Kapitellisten „in ein sehr hohes Alter zurückreicht.“ 20 Es lassen sich auch solche Kapitellisten nachweisen, die, anstatt den gesamten Textab‐ schnitt als eine Art Inhaltsangabe zusammenzufassen, nur die Anfangsworte der ent‐ kritische Studien sollten daher nicht darauf verzichten, die paratextuellen Bei‐ gaben in ihre Untersuchungen mit einzubeziehen. 13 Auch H O U G HT O N weist aus‐ drücklich darauf hin, dass z. B. die Auswertung der Kapitelverzeichnisse unumgänglich für die Erforschung der Geschichte der biblischen Texte bzw. der Textcorpora ist. 14 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse Während die Prologe an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit noch ausführ‐ licher thematisiert werden, 15 sei hier zunächst der Fokus auf die Kapitelver‐ zeichnisse gelegt. Diese treten in der griechischen Handschriftentradition als κεφάλαια bzw. τίτλοι auf. 16 In den lateinischen Manuskripten werden sie zumeist als tituli, breves bzw. capitula bezeichnet. 17 Die ältesten Kapitelverzeichnisse gehen auf das dritte Jahrhundert zurück. 18 Tatsächlich wird die vorliegende Studie den Nachweis erbringen, dass einige dieser Kapitellisten sogar auf Text‐ editionen hinweisen, die noch um einiges älter sind. 19 Die Entstehung eines solchen Kapitelverzeichnisses stellt sich wie folgt dar: Zunächst wird der Bezugstext in einzelne Sinnabschnitte (Sektionen) gegliedert, deren Inhalt knapp zusammengefasst wird. 20 Diese Zusammenfassungen 48 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse sprechenden Abschnitte zitieren; vgl. O. S C H M I D , Eintheilungen der Heiligen Schrift, S. 26. 21 Der Text der lateinischen Kapitelreihen in übersichtlicher synoptischer Darstellung sowie mit textkritischem Apparat findet sich in der Oxford Vulgate (Vg O ); W O R D S ‐ W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 44-60. 22 F R E D E , Epistulae ad Thessalonicenses, S. 120. Dies wird durch die Ähnlichkeiten in Stil und Aufbau nahe gelegt. So erinnert beispielsweise der Beginn eines jeden Summariums mit „de“ an die Entsprechung in den griech. τίτλοις, die stets mit „περι“ beginnen; vgl. F R E D E , Epistulae ad Philippenses et ad Colossenses, S. 262. 23 Vgl. dazu auch R I G G E N B A C H , Textgeschichte der Doxologie, S. 544, der in diesem Zu‐ sammenhang auf die in einigen Handschriften auftauchende Bezeichnung der Kapitel‐ verzeichnisse als „brevis epistula“ hinweist. 24 Vgl. dazu auch S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 66. werden durchnummeriert und in einer Liste zusammengestellt. Die Nummern der Sektionen werden dann an den betreffenden Stellen in den Bezugstext - in der Regel marginal - eingefügt. Die kompletten Kapitelreihen tauchen in den lateinischen Kodizes des Corpus Paulinum meist zwischen den Prologen und dem tatsächlichen Brieftext auf. 21 In einigen Fällen orientieren sich die altlatei‐ nischen breves stark an griechischen Bibelhandschriften, „deren τίτλοι manchmal nur übersetzt wurden.“ 22 Der übergeordnete Zweck dieser Kapitelverzeichnisse ist es, dem Leser eine schnelle Orientierung über den gesamten Text zu ermöglichen, gleichsam eine Gliederung bzw. eine Art Inhaltsverzeichnis zu liefern. Mit Hilfe einer dem Text vorangestellten Kapitelliste kann der Leser des Kodex deutlich schneller und gezielter auf den von ihm gesuchten Abschnitt bzw. die konkrete Textstelle zu‐ greifen. 23 Neben der genannten Orientierungs- und Gliederungsfunktion fungieren die Kapitelverzeichnisse auch als Interpretationshilfe. Denn in der Art und Weise, wie die einzelnen Textabschnitte zusammengefasst und überschrieben werden, beeinflussen die breves auch das Textverständnis der Leser. 24 Diese hermeneu‐ tische Funktion der Leserlenkung tritt in einigen Kapitelreihen deutlicher, in anderen weniger deutlich zutage. Für die vorliegende Studie sind v. a. zwei Ka‐ pitelverzeichnisse von Bedeutung. Beide werden nachfolgend ausführlich vor‐ gestellt. 3.2.1. Die Capitula Amiatina Die Capitula Amiatina sind ein lateinisches Kapitelverzeichnis, das bisher v. a. hinsichtlich der Frage nach dem Schluss des Römerbriefes in den Fokus der 49 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 25 Die in der Folge genutzen Bezeichnungen gehen u. a. zurück auf H O U G H T O N , The Latin New Testament. Am Bespiel KA Rm A soll dies kurz erklärt werden. „KA“ macht deut‐ lich, dass es sich um ein Kapitelverzeichnis handelt. Da die Kapitellisten in der HS vor den einzelnen biblischen Büchern auftauchen, folgt als nächstes die Angabe des Buches (hier in der Regel „Rm“) und abschließend der Kennzeichnung der ältesten Handschrift, in der das besagte Kapitelverzeichnis zu lesen ist. Das verwendete Siglum der HS (hier A für den Codex Amiatinus) orientiert sich an der Bezeichnungen der gängigen Vul‐ gata-Editionen (Vg S bzw Vg O ). 26 Für eine genaue statistische Auswertung vgl. Diagramm 1, S. 65 sowie Tabelle 1, S. 67. 27 In Fällen, in denen sich die Siglen der beiden verbreitetsten Vulgataeditionen, also der Oxford Vulgate (Vg O ) bzw. der Stuttgarter Vulgata (Vg S ) unterscheiden, wird darauf unter Verwendung eines Pfeils → hingewiesen. 28 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 55 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 263. 29 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 30f bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 272. 30 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 31 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 273f. 31 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 56 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 264. 32 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 41 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 239. 33 Eine genaue Analyse der Abhängigkeitsverhältnisse dieser Kapitellisten der besagten HSS sollte in einer zukünftigen Untersuchung unbedingt geleistet werden. 34 Ein Beispiel dafür ist der Codex Iuvenianus = Vallicellianus (Vg I), der für Acta die KA In liest, für die Offenbarung dagegen KA A, während er für die katholischen Briefe gar textkritischen Untersuchungen gerückt ist. Das Verzeichnis zum Römerbrief (in der Folge mit KA Rm A bezeichnet) 25 unterteilt den Text desselben in 51 Sektionen, die relativ ausführliche und teilweise sehr umfangreiche Zusammenfas‐ sungen der jeweiligen Textabschnitte bieten. Keine andere bekannte lateinische Kapitelreihe weist für den Römerbrief eine annähernd große Zahl an Sektionen auf. Der Textumfang im Bezugstext, den die einzelnen Sektionen beschrieben, ist uneinheitlich, d. h. die Zusammenfassungen der Textabschnitte geschieht unterschiedlich ausführlich. 26 Seine Bezeichnung verdankt sich das Verzeichnis der ältesten Handschrift, in der es auftaucht - dem Codex Amiatinus (Vg A), 27 der ältesten erhaltenen Voll‐ bibel der lateinischen Vulgata. Darüber hinaus findet sich die besagte Kapitel‐ reihe auch noch in weiteren lateinischen Handschriften, z. B. dem Codex Caro‐ linus 28 (K → Vg O bzw. Φ G → Vg S) , dem Codex Frisingensis 29 (Vg M), dem Codex Laudianus 30 (O → Vg O ), dem Codex Vallicellianus 31 (V → Vg O bzw. Φ V → Vg S ) und dem Codex Harleianus 32 (Z → Vg O = VL 65). 33 Das Verzeichnis war also sehr weit verbreitet - vergleichbar mit den altlateinischen Paulusprologen, die oft‐ mals in denselben Manuskripten auftauchen. Es wird also deutlich, dass Prologe und Capitula nicht für die jeweilige HS einzeln angefertigt, sondern meist als Teil des zu reproduzierenden Textes mit überliefert wurden. Daher konnte es auch vorkommen, dass Kodizes für verschiedene biblische Bücher jeweils un‐ terschiedliche Kapitelreihen bieten. 34 50 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse keine Kapitellisten bietet. Vgl. H O U G H T O N , The Latin New Testament, S. 257. Speziell für die Kapitellisten zu den Paulusbriefen vgl. ebd. S. 172f. 35 Vgl. F I S C H E R , Lateinische Bibelhandschriften, S. 66-69. 36 Vgl. L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 203. 37 L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 202. Für den Vergleich zwischen altlateinischem und Vulgatatext ist bedeutsam, dass Hieronymus selbst ausdrücklich erklärt, dass er die ältere (altlateinische) Formulierung tempori servientes in domino servientes geändert habe; vgl. Hier. ep. 27 ad Marcellam. 38 R I G G E N B A C H , Textgeschichte der Doxologie, S. 541: „Die Uebereinstimmung der Texte ist hier so gross, dass man wohl mit Recht behaupten darf, dass die Handschrift, nach welcher die Breves aufgestellt wurden, der Textgestalt der ‚Communis‘ zugehört haben müsse.“ Mit ‚Communis‘ meint Riggenbach den Texttyp, der zu Zeiten des Hieronymus in Rom geläufig und gängig war. Er sieht ihn v. a. durch d und g repräsentiert. 39 Vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 27ff. 40 H O U G H T O N , The Latin New Testament, S. 172: „The most widespread series of capitula, which may go back to at least [! ] the fourth century, is KA Rm A.“ Ähnlich auch F R E D E , Epistulae ad Thessalonicenses, S. 120. 41 So C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 24f, der sogar wahrschein‐ lich zu machen versucht, dass bereits Tertullian die besagte Kapiteleinteilung kannte. Dies würde den terminus ad quem ins 2. Jahrhundert rücken. Der Codex Amiatinus selbst entstand zu Beginn des 8. Jahrhunderts im Kloster Wearmouth/ Jarrow, 35 die darin enthaltenen Kapitellisten werden aller‐ dings als wesentlich älter eingeschätzt. Grund hierfür ist in erster Linie der alt‐ lateinische Wortschatz des Textes einzelner Kapitel. So machte L I G HT F O O T bereits im 19. Jh. darauf aufmerksam, dass die Formulierung de tempore serviendo in Sektion XLII auf die altlateinische Wendung τῷ καιρῳ δουλεύοντες statt τῷ κυρίῳ δουλεύοντες (Rm 12,11) zurückgeht. 36 Er urteilte folgerichtig: „[T]he Amiatinian capitulation […] belonged originally to the Old Latin and was later adapted to the Vulgate.“ 37 Bedeutsam ist, dass auch in Teilen der griechischen Handschriftentradition die ältere Lesart bezeugt ist, namentlich in den Hand‐ schriften D* F und G. In der Folge konnte R I G G E N B A C H auch andere solcher alt‐ lateinischer Wendungen im Text der KA Rm A nachweisen. Er bestätigte L I G HT ‐ F O O T s Urteil und erweiterte es dahingehend, dass er die Capitula Amiatina in ausdrückliche Nähe zu d und g setzte, also den lateinischen Texten der Bilinguen D und G (Codex Claromontanus und Codex Augiensis). 38 Auch C O R S S E N identi‐ fizierte zahlreiche weitere Lesarten der altlateinischen Paulustexte im Text der Kapitelliste. 39 Die Forschung schätzte ihre Textgrundlage daher einvernehmlich als sehr alt ein und datierte ihren Ursprung mindestens ins 4. Jahrhundert 40 oder sogar in noch weitaus frühere Zeiten. 41 51 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 42 Die in die Übersetzung eingearbeiteten Versangaben zeigen diejenigen Stellen im tat‐ sächlichen Bezugstext, auf die der Wortlaut der Sektionen hier anspielt. Es handelt sich also nicht um die Stellen, an denen die entsprechende Sektionszahl im Bezugstext ein‐ gefügt ist. 43 Codex Amiatinus (Vg A); Biblioteca Medicea Laurenziana, Amiat. 1, Ausschnitt f. 941r (http: / / mss.bmlonline.it/ s.aspx? Id=AWOS3h2-I1A4r7GxMdaR&c=Biblia%20Sacra#/ oro / 1880), Unterstreichung AG. 44 Auch die griechische Handschriftentradition spricht hier von τῆς δόξης τοῦ θεοῦ. 45 Codex Claromontanus (Vg d = VL 75), Bibliothèque nationale de France, Grec. 107, Ausschnitt f. 25r (https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b84683111/ f55.image), Unter‐ streichung AG. Ein weiteres, bisher unentdecktes Beispiel für dieses für die Datierung wichtige Phänomen des altlateinischen Wortschatzes der Kapitelliste, findet sich in Sek‐ tion XI: Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2) und in gleicher Weise das Rühmen der Bedrängnis (5,3). 42 De gloriatione spei gloriae dei pariter gloriatione tribulationis. KA Rm A: Sektion XI Der erste Teil der Sektion bezieht sich auf Rm 5,2. Darin erklärt Paulus, dass seine Gemeinden und er sich der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit Gottes rühmt. Im Römerbrieftext des Codex Amiatinus ist dagegen davon die Rede, dass man sich der Herrlichkeit der Söhne Gottes rühmen könne (gloriae filiorum dei). Der Text des Capitulum und der Bezugstext stimmen also nicht überein. Die Wendung gloriae filiorum dei, die der Codex Amiatinus hier bezeugt, ist die Lesart der Vulgata (Abb. 1): 43 Abb. 1: Codex Amiatinus (A) - Rm 5,2 → „gloriae filiorum dei“ Dagegen bieten einige altlateinische Handschriften an dieser Stelle die kürzere Formulierung gloriae dei. 44 Exemplarisch sei der Blick auf den ältesten be‐ kannten altlateinischen Text für die Paulusbriefe, den Codex Claromontanus (d = VL 75), geworfen, der die kürzere Variante liest (Abb. 2): 45 52 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 46 F I S C H E R , Codex Amiatinus und Cassiodor, S. 78. So beinhalten die paratextuellen Bei‐ gaben des Amiatinus u. a. drei Verzeichnisse bibl. Bücher, die genau denen entsprechen, die Cassiodor in seinen Institutiones anführt und mit seinem Codex grandior in Ver‐ bindung bringt. Ausfühlich dazu C O R S S E N , Die Bibeln des Cassiodorus, S. 620ff. Auch die reiche künstlerische Ausstattung des Codex Amiatinus, Kanontafeln und Inhalts‐ verzeichnisse wurden aus dem Codex grandior übernommen (vgl. F I S C H E R , Codex Amiatinus und Cassiodor, S. 68f). Nach Analyse der Aufzeichnungen im Archiv des Klosters Wearmouth/ Jarrow, in dem der Amiatinus angefertigt wurde, formuliert F I ‐ S C H E R , Codex Amiatinus und Cassiodor, S. 67 wie folgt: „Die drei neuen Pandekten [scil. einer davon ist der Codex Amiatinus], wurden äußerlich nach dem Vorbild des Codex grandior angelegt; als Text nahm man jedoch für das AT und für das NT die Vulgata. Darüber, woher dieser Vulgata-Text genommen wurde, sagen die Quellen nichts.“ Ähn‐ lich zuvor bereits C O R S S E N , Die Bibeln des Cassiodorus, S. 630: „Der Verfasser des Ami‐ atinus wird also den Codex grandior des Cassiodor gekannt und um seine Handschrift zu schmücken den prächtig ausgestatteten ersten Quaternio desselben copiert haben.“ Ähnlich auch C H A P M A N , The Codex Amiatinus. Abb. 2: Codex Claromontanus (d) - Rm 5,2 → „gloriae dei“ Diese altlateinische Variante wird auch durch den Text der besagten Sektion XI der KA Rm A bezeugt. Dass ein Kapitelverzeichnis Textelemente ganz unter‐ schiedlichen Alters enthalten kann und diese unbedingt unabhängig von dem konkreten Text der Handschrift, in der es auftaucht, ausgewertet werden muss, ergibt sich auch aus der Entstehungssituation das Codex Amiatinus. Die Un‐ tersuchungen sind sich einig, dass der Amiatinus in seiner äußeren Gestaltung und seinem Aufbau auf eine Bibelausgabe des Cassiodor - einem Gelehrten des 6. Jahrhunderts aus Kalabrien - zurückgeht: den sog. Codex grandior. Der Text der einzelnen Bücher geht dagegen auf ganz andere (verschiedene) Vorlagen zurück. So fasst F I S C H E R wie folgt zusammen: „Der Amiatinus ist ein Pandekt [scil. eine Vollbibel], der im Ganzen bewußt nach dem Vorbild des Codex grandior des Cassiodor gestaltet worden ist. […] Um den Ansprü‐ chen der Zeit gerecht zu werden, wählte man als Text durchgängig die Vulgata.“ 46 Dieses Vorgehen bei der Herstellung solcher Vollbibeln setzt eine gewisse wissen‐ schaftliche Redaktions- und Editionstätigkeit voraus. Cassiodor selbst liefert in 53 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 47 Cassiod. Inst. 1, Praef. 8: quos ego cunctos novem codices auctoritatis divinae, ut senex potui, sub collatione priscorum codicum amicis ante me legentibus sedula lectione transivi; | „Soweit es mir das Alter erlaubte, bin ich alle neun Kodizes der Heiligen Schrift sorgfältig unter Ver‐ gleich mit alten Handschriften durchgegangen, nachdem Freunde sie schon vor mir gelesen hatten.“ (Übers. B Ü R S G E N S ). Dass bei der Entstehung des tatsächlichen Textes mehrere Vor‐ lagen benutzt wurden, wird auch durch den uneinheitlichen Textcharakter des Amiatinus bestätigt. So bemerkt F I S C H E R , Codex Amiatinus und Cassiodor, S. 78: „Tatsächlich ist der Text weder einheitlich […] noch trifft der Wechsel im Textcharakter mit der Teilung der neun Bände zusammen.“ 48 Wenn in der Folge undifferenziert von Bezugstext die Rede ist, so ist damit stets der tatsächliche Bezugstext gemeint, niemals aber der ursprüngliche Bezugstext. 49 Vgl. L E M B K E , Besonderheiten, S. 226. seinen Institutiones eine Art Anleitung für das Kopieren antiker Bücher. Er weist hierin dezidiert darauf hin, dass dabei mehrere Handschriften als Vorlagen heran‐ gezogen werden sollen. Durch den Vergleich dieser Vorlagen sollen Mängel besei‐ tigt werden mit dem Ziel, den bestmöglichen Text zu bieten, auf den man aufgrund der vorhandenen Vorlagen Zugriff hat. 47 Auf diese Weise wird auch das Phänomen erklärbar, dass Lesarten einer Handschrift in eine andere eindringen, ohne dass alle Besonderheiten der Vorlagehandschrift „mitkopiert“ werden. Als Zwischenfazit bleibt zu sagen: Paratextuelle Beigaben müssen unab‐ hängig von der Handschrift ausgewertet werden, in der sie auftauchen. Die hier beschriebenen Kapitelverzeichnisse bezeugen z. B. sowohl Textvarianten als auch Textzustände, die weitaus älter zu datieren sind als ihre tatsächlichen Be‐ zugstexte. Methodologischer Exkurs: An dieser Stelle ist es geboten, eine terminologische Unterscheidung einzu‐ führen. Das beschriebene Beispiel macht die Notwendigkeit einer klaren Tren‐ nung zwischen dem ursprünglichen Bezugstext und dem tatsächlichen Bezugstext eines Paratextes deutlich. 48 Während der tatsächliche Bezugstext die konkrete Handschrift meint, in der der Paratext zu lesen ist (im Falle der KA Rm A also der Codex Amiatinus), ist der ursprüngliche Bezugstext derjenige Text, für den der jeweilige Paratext ursprünglich angefertigt wurde (quasi der „Muttertext“). Diese Unterscheidung lässt sich strukturell auch in den Ausführungen von Gerd M IN K , dem Begründer der kohärenzbasierten genealogischen Methode (CBGM) 49 , wiederfinden. So erklärt M IN K : „Elemente einer genealogischen Hypothese sind nicht die Handschriften, sondern der Textzustand, den sie überliefern und der viel älter sein kann als die jeweilige Hand‐ 54 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 50 M I N K , Kohärenzbasierte Genealogische Methode. Ähnlich auch M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 482. 51 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 482. 52 Diese Erkenntnis ist v. a. vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass die paratextuellen Beigaben bisher in textkritischen Studien unterschätzt wurden. Dies liegt möglicher‐ weise daran, dass sie eben oftmals in weitaus jüngeren, teilweise mittelalterlichen, Ma‐ nuskripten auftauchen. Die Einsicht, dass sie allerdings hohe prägenealogische Kohä‐ renz zu sehr alten Textzuständen aufweisen, ist bisher noch nicht klar genug deutlich gemacht worden. Der Begriff prägenealogische Kohärenz wird sogleich erklärt; vgl. Anm. 54. 53 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 483 formuliert zusammenfassend: „Infolgedessen können alte Handschriften einen fortgeschritteneren Textzustand repräsentieren als spä‐ tere und umgekehrt.“ Die paläographische Datierung der Handschrift selbst, spielt hier also allerhöchstens eine untergeordnete Rolle. Denn sie liefert nur einen Hinweis auf den ter‐ minus ad quem des Textzustandes, also ein paläographisches Datum „wann der Text[zu‐ stand] spätestens zum ersten Mal aufgetreten ist“; M I N K , Was verändert sich, S. 39. schrift. Der Text in seinem jeweiligen Zustand wird hier als Zeuge bezeichnet, nicht die Handschrift.“ 50 Hierin wird deutlich gemacht, dass es tatsächlich der Textzustand ist, der im Fokus der textkritischen Arbeit steht, nicht die Handschrift selbst, die ihn bezeugt. Mit dem Begriff Textzustand bezeichnet M IN K „die Summe aller Lesarten, die innerhalb eines Manuskriptes […] gemeinsam überliefert werden.“ 51 Übertragen auf die eben ge‐ machte terminologische Unterscheidung lässt sich somit für die Auswertung der Paratexte sagen: der tatsächliche Bezugstext einer Kapitelliste - also die Hand‐ schrift, in der der Paratext auftaucht - tritt vollständig in den Hintergrund. 52 Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist demnach der Textzustand, der durch den Paratext bezeugt wird und der erheblich älter sein kann als die Handschrift, von der er repräsentiert wird. 53 Die Analyse des Paratextes erlaubt es also, Rückschlüsse auf den Textzustand seines ursprünglichen Bezugstextes zu ziehen und bietet zahl‐ reiche Hinweise, wie dieser tatsächlich ausgesehen haben könnte. Natürlich bleibt der „Muttertext“ eines Kapitelverzeichnisses in letzter Instanz nicht konkret greifbar, ist als Handschrift also nicht identifizierbar. Betrachtet man die verschwin‐ dend geringe Anzahl uns bekannter biblischer Handschriften aus den ersten Jahr‐ hunderten, so kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass die ursprüngli‐ chen Bezugstexte der uns bekannten Paratexte in der Mehrzahl der Fälle gar nicht „überlebt“ haben. Umso wichtiger ist es für die Erforschung der frühen Textge‐ schichte des NT, die paratextuellen Beigaben ernst zu nehmen und sie als Beschrei‐ bungen von Handschriften auch textkritisch auszuwerten. Denn sie liefern einen reichhaltigen Fundus an textgeschichtlichen Besonderheiten, die in einigen Fällen bis in die frühesten Stadien der handschriftlichen Bezeugung der biblischen Texte zurückreichen, für die unsere Kenntnisse teilweise sehr überschaubar sind. 55 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 54 Prägenealogische Kohärenz „basiert allein auf Übereinstimmungen von Varianten und ist somit objektiv feststellbar. Zwischen Zeugen mit einem hohen Übereinstimmungs‐ grad herrscht eine starke prägenealogische Kohärenz. Sie ist ein Kriterium für die Wahrscheinlichkeit, ob Varianten aufgrund ihrer Zeugen überhaupt eine genealogische Beziehung haben können“; M I N K , Kohärenzbasierte Genealogische Methode. 55 Der erste Band des Doppelkodex, der die Texte von Genesis bis Hiob umfasst, besitzt die Signatur 1 E VII. 56 Im Folgenden werden die o. g. Bezeichnungen ohne Anführungsstriche benutzt. 57 Vgl. L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 199. 58 Vgl. die Kurzbeschreibung zu besagtem Kodex aus dem Katalog der British Library (ht tp: / / www.bl.uk/ manusKA_Rm_Regipts/ FullDisplay.aspx? ref=Royal_MS_1_E_VIII&in dex=3, letzter Aufruf: 11.01.2017 15: 57). Sowohl die in der vorliegenden Studie untersuchten Kapitellisten als auch die Prologe bezeugen textgeschichtlich besonders alte Textzustände. Denn wie an späterer Stelle ausführlich gezeigt wird, weist beispielsweise der ursprüngliche Bezugstext der amiatinischen Kapitellisten textuelle Besonderheiten auf, die ihn in unmittelbare Nähe zu Marcions Apostolos setzen. Damit deuten sie auf einen Textzustand hin, der bereits im frühen zweiten Jahrhundert nachweisbar ist. Um in der Terminologie des Instituts für neutestamentliche Textforschung (INTF) in Münster zu sprechen, müsste man also konstatieren: Der Textzustand, den die KA Rm A für den Römerbrief bezeugen, weist eine hohe prägenealogische Kohärenz  54 zum von Marcion verwendeten Römerbrief auf, also dem Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung. Diese Einsicht sei an dieser Stelle bereits vorwegge‐ nommen. Sie wird in den nachfolgenden Kapiteln der vorliegenden Studie aus‐ führlich begründet. 3.2.2. Die Capitula Regalia Neben dem amiatinischen Kapitelverzeichnis ist für die vorliegende Studie eine weitere Kapitelreihe in den Fokus der Untersuchung gerückt, welche (im Ge‐ gensatz zur KA A) in der neutestamentlichen Wissenschaft bisher weitgehend ignoriert wurde. Die besagte Kapitelliste ist heute nur noch in einem einzigen Manuskript zu finden. Diese Handschrift ist ein Doppelkodex, der Teil der kö‐ niglichen Handschriftensammlung der British Library ist und die Signatur Royal MS 1 E VIII trägt. 55 Im Weiteren soll er daher als „Codex Regalis“ bezeichnet werden, die Kapitellisten als „Capitula Regalia“ (KA Reg). 56 Das Manuskript stammt wohl aus der Mitte des 10. Jahrhunderts 57 und gilt neben dem Codex Amiatinus als die einzige noch vorhandene vollständige Bi‐ belausgabe, die vor der Normannischen Eroberung 1066 in England entstanden ist. 58 Neben dem Text des Alten und des Neuen Testaments bieten die beiden 56 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 59 Codex Regalis, The British Library, Royal MS 1 E VIII, Ausschnitt aus f. 175v, © British Library Board (http: / / www.bl.uk/ manuscripts/ Viewer.aspx? ref=royal_ms_1_e_viii_f175v). Bände des Doppelkodex sowohl Kapitelverzeichnisse als auch Prologe zu den entsprechenden biblischen Büchern. Die folgende Abbildung 3 zeigt die komplette Kapitelreihe zum Römerbrief: 59 Abb. 3: KA Rm Reg Bei näherer Analyse des Kapitelverzeichnisses werden im Vergleich mit der KA Rm A folgende Besonderheiten deutlich: 57 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 60 Diese müssen nicht notwendigerweise im Bezugstext direkt aufeinander folgen. Die KA Rm Reg umfasst deutlich weniger Sektionen, genau genommen nur 29. Diese sind relativ gleichmäßig innerhalb des Bezugstextes verteilt. Erst im letzten Drittel des Römerbriefes weisen die Capitula XIX, XXIII, XXIIII, XXV und XXVIII jeweils größere Abstände zu den nachfolgenden Sektionszahlen auf. Die einzelnen Capitula der KA Rm Reg beinhalten im Vergleich zum Text der KA Rm A stets einen sehr ähnlichen, in der Regel mehr oder weniger kürzeren Text. 27 der 29 Sektionen der Capitula Regalia sind auch in den amiatinischen Capitula enthalten. Teilweise bieten die KA Rm Reg einen identischen Wortlaut, teilweise unterscheiden sie sich nur durch das Fehlen einzelner Worte, teilweise fehlen allerdings auch ganze Wortgruppen. In vielen Fällen, in denen die Capi‐ tula Amiatina auf mehrere Stellen innerhalb eines Abschnitts Bezug nehmen, 60 berühren die KA Rm Reg fast immer nur einen einzelnen Vers. Ausnahmen sind die Capitula VI und LI der amiatinischen Kapitelreihe. Diese teilen sich in KA Rm Reg jeweils auf zwei aufeinander folgende Sektionen auf (III und IIII sowie XXVI und XXVII). Am folgenden Beispiel der Sektion VIII der KA Rm Reg lässt sich das eben Beschriebene veranschaulichen. Der Text des Capitulum liest sich wie folgt: Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2). De gloriatione spei gloriae dei. KA Rm Reg Sektion VIII Das entsprechende Capitulum XI der KA Rm A wurde bereits zuvor zitiert - allerdings in einem anderen Zusammenhang. Es lautet folgendermaßen: Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2) und in gleicher Weise das Rühmen der Bedrängnis (5,3). De gloriatione spei gloriae dei pariter gloriatione tribulationis. KA Rm A Sektion XI Man erkennt unschwer einerseits die wörtliche Übereinstimmung der beiden Sektionen, andererseits die zusätzliche Bezugnahme auf einen weiteren Vers durch den Text der KA Rm A. Eine weitere bemerkenswerte Besonderheit der KA Rm Reg zeigt sich bei der genauen Untersuchung der Sektionszahlen des Verzeichnisses. Auf den ersten Blick scheinen diese sehr wirr in den Bezugstext gesetzt zu sein. So finden sie sich oftmals an Stellen, in denen der Bezugstext etwas ganz anderes liest, als es 58 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 61 Dieses Phänomen tritt erstmals bei Sektion VIII auf. Ab da finden sich eine Vielzahl von Sektionszahlen an unpassenden Stellen im Bezugstext vermerkt. 62 In der im Anhang befindlichen Synopse der beiden Kapitelverzeichnisse wird im Ein‐ zelnen aufgezeigt, an welchen Stellen die Sektionszahlen im Bezugstext verzeichnet sind und welche Verse durch die Capitula tatsächlich kommentiert bzw. zusammenge‐ fasst werden. 63 Dies wird auch durch eine weitere Beobachtung bestätigt: so fällt bei genauem Vergleich der Sektionszahlen im Kapitelverzeichnis mit den Zahlen im Bezugstext auf, dass die Sektion 9 im Kapitelverzeichnis mit VIIII bezeichnet ist, während sie im Bezugstext als IX erscheint. 64 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 54 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 262. 65 Vgl. L E I T S C H U H , Katalog der Handschriften, S. 2. 66 Vgl. F I S C H E R , Die Alkuin-Bibel, S. 11. die Sektionen der Kapitelreihe nahelegen. 61 Am eben zitierten Beispiel des Ca‐ pitulum VIII lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen. Wie bereits oben gezeigt, bezieht sich der Text der Sektion auf Rm 5,2. An der besagten Stelle im tatsächlichen Bezugstext sucht man die Sektionszahl VIII al‐ lerdings vergeblich. Stattdessen findet sie sich ein ganzes Stück weiter vorn verzeichnet, nämlich bereits bei Rm 4,9, obwohl dort thematisch von etwas ganz anderem die Rede ist. Dieses Phänomen tritt bei etwa der Hälfte aller Sektionen der KA Rm Reg auf. 62 Doch wie kommt diese Besonderheit zustande, wie ist sie zu erklären? Zunächst einmal macht es deutlich, dass der Schreiber im Prozess des Ab‐ schreibens des Bezugstextes keinen Blick auf die vorangehende Kapitelliste wirft - ansonsten wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass etwa die Hälfte der Capitula gar nicht mit den Stellen korrespondieren, an denen die Sektionszahlen im Bezugstext gesetzt sind. 63 Analysiert man auch die anderen, bisher bekannten lateinischen Kapitelverzeichnisse für den Römerbrief, so eröffnet sich m. E. eine plausible Erklärungsmöglichkeit für den beschriebenen Befund. Konkret ziehe ich dafür das Kapitelverzeichnis der Bamberger Alkuin-Bibel 64 (B → Vg O bzw. Φ V → Vg S ) heran, einer karolingischen Minuskel, die um 840 in Tours, entweder im Kloster St. Martin 65 oder Marmoutier 66 entstanden ist. Zunächst fällt auf, dass das Kapitelverzeichnis zum Römerbrief der Alkuin-Bibel (KA Rm B) genau 30 Sektionen aufweist. Es stellt damit die einzige der bekannten lateinischen Ka‐ pitelreihen dar, die eine der KA Rm Reg ähnliche Anzahl an Sektionen aufweist. Ein genauer Vergleich der Positionen der Sektionszahlen in den beiden Bezugs‐ texten zeigt nun, dass diese im Bezugstext der KA Rm Reg (bis auf zwei Aus‐ nahmen) genau an denjenigen Stellen auftauchen, an denen sich auch die Sek‐ tionszahlen des Kapitelverzeichnisses zum Römerbrief der Alkuin-Bibel (KA Rm 59 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 67 Nur an drei Stellen (von 30) im tatsächlichen Bezugstext der KA B findet sich eine Sektionszahl, die im Text des Codex Regalis nicht auftaucht. Es handelt sich um die Sektionen XIIII (Rm 7,14), XX (Rm 9,30) und XXX (Rm 16,17) der KA B. 68 Genau genommen entsteht der Eindruck, dass es sich um dieselbe Kapitelliste handelt, die sich nur durch zwei zusätzliche Sektionen am Ende der Liste von der KA Rm A unterscheidet. Fälschlicherweise sind diesen auch noch die falschen Sektionszahlen LI und LII vorangestellt (vgl. B R U Y N E , Sommaires, divisions et rubriques, S. 319). Tatsäch‐ lich handelt es sich um die Sektionszahlen XXVIII und XXIX, die den Abschluss der Kapitelliste KA Rm Reg darstellen. De Bruynes Arbeit ist ansonsten nur zu loben, da sie gewissermaßen als Pionierarbeit zu bezeichnen ist und für die Erforschung der la‐ teinischen Kapitelverzeichnisse lange Zeit die wichtigste Quelle darstellte. B) befinden. 67 Anders als die Sektionszahlen der KA Rm Reg sind sie in der Alkuin-Bibel jedoch ausnahmslos an den „richtigen“ Stellen verzeichnet, also an denjenigen Textstellen, welche die einzelnen Capitula tatsächlich auch zu‐ sammenfassen. Da der Text der einzelnen Sektionen der Kapitelliste der Al‐ kuin-Bibel dagegen keinerlei wörtliche bzw. inhaltliche Übereinstimmungen mit denen der KA Rm Reg (und somit auch der KA Rm A) aufweist, wird deutlich, dass die beiden Kapitelreihen grundsätzlich unabhängig voneinander sind. Die parallele Setzung der Sektionszahlen muss daher - wie bereits zuvor ange‐ deutet - auf den Abschreibeprozess des Bezugstextes zurückzuführen sein. Hierbei wurden die in der Vorlage befindlichen Sektionszahlen einfach an genau den gleichen Stellen übernommen, ohne allerdings zu bemerken, dass das Ka‐ pitelverzeichnis, welches sich vor dem Text befindet, in vielen Fällen gar nicht zu den im Text selbst gekennzeichneten Abschnitten passt. Diese Erklärung belegt, dass eine Kapitelliste unabhängig von ihrem tatsäch‐ lichen Bezugstext auszuwerten ist, da sie in einigen Fällen nachweislich auf verschiedene Vorlagen zurückgehen und damit verschiedene Textzustände be‐ zeugen. So zeigt die Stellung der Sektionszahlen im Römerbrieftext des Codex Regalis, dass dieser auf eine Handschrift zurückgehen muss, der ein anderes Kapitelsystem vorangestellt war (nämlich KA Rm B). Wie an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit ausführlich gezeigt wird, verweist dagegen KA Rm Reg ursprünglich auf einen ganz anderen Text bzw. eine andere Textsammlung. Be‐ zugstext und Kapitelliste sind also inkongruent. Gleiches wird nachfolgend auch für die Kapitelliste des Codex Amiatinus ausführlich plausibilisiert werden. Zuvor jedoch ist es nun an der Zeit, das Verwandtschaftsverhältnis der KA Rm Reg und der KA Rm A zu erörtern. Denn wie bereits deutlich wurde, sind sich die beiden Kapitellisten durchaus sehr ähnlich. Allerdings sollte man sie kei‐ nesfalls gleichsetzen, wie das älteste Werk der neutestamentlichen Forschung aus der Feder des Benediktinermönches Donatien de B R U Y N E suggeriert. 68 Mög‐ 60 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 69 W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 44-60. Die angegebenen Seitenzahlen be‐ ziehen sich nur auf die Kapitelreihen zum Römerbrief. 70 Vgl. Anhang I. licherweise ist diese Gleichsetzung auch die Ursache für die bisherige wissen‐ schaftliche Vernachlässigung der Capitula Regalia. 3.2.3. Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg Allen nachfolgenden Überlegungen liegt der vollständige lateinische Text der beiden besagten Kapitellisten zugrunde, wie er in der Oxford Vulgate (Vg O ) auf‐ geführt ist. 69 Zur Erleichterung der Handhabung und zur Erhöhung der Nutz‐ barkeit der dort gebotenen Texte wurde im Rahmen der vorliegenden Studie eine Synopse der einzelnen Sektionen angefertigt. 70 Ausgewählte Besonder‐ heiten der beiden Listen, die nachfolgend diskutiert werden, um in der überge‐ ordneten Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis zu einer plausiblen Lösung zu gelangen, werden hier separat gezeigt. Um jedoch einen Gesamtüberblick über Struktur, Inhalt und konkreten Wortlaut der beiden Kapitelverzeichnisse zu erhalten, sei auf die besagte Textsynopse im Anhang verwiesen. Dass ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den KA Rm A und den KA Rm Reg anzunehmen ist, scheint relativ offensichtlich. Die Argumente dafür wurden bereits im vorangegangenen Abschnitt implizit genannt. Zusammen‐ gefasst lauten die relevanten Beobachtungen wie folgt: 1. Bereits auf den ersten Blick fallen die wörtlichen Parallelen zwischen zahlreichen Capitula der beiden Kapitellisten auf. Einige davon weisen sogar einen gänzlich identischen Text auf. In den übrigen Fällen bieten die Capitula Amiatina in der Regel ausführlichere Textzusammenfas‐ sungen und kommentieren zusätzliche Abschnitte des jeweiligen tat‐ sächlichen Bezugstextes. 2. Fast alle Sektionen der KA Rm Reg sind in der KA Rm A enthalten. Einzig die letzten beiden Capitula der KA Rm Reg (Nr. XXVIII und XXIX) finden sich nicht auch in der KA Rm A. Beide Beobachtungen lassen sich nur anhand der Annahme einer literarischen Verwandtschaft zwischen den beiden Listen plausibel erklären. Wie genau dieses Verhältnis tatsächlich aussieht, bleibt zunächst unklar. Vorstellbar wären die folgenden drei Varianten: 61 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 71 Dies liegt vermutlich daran, dass in der bisherigen Forschung die KA Rm Reg überhaupt kaum diskutiert und ausgewertet wurden. 72 Vgl. L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 199 73 Vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 18 Anm. 14. 74 Auch F R E D E , Epistulae ad Thessalonicenses, S. 121 bezeichnet die besagte Kapitelliste als eine „stilistisch völlig abweichende Ergänzung“ der Capitula Amiatina. 1. Die kürzere Kapitelliste hatte die längere als Vorlage (d. h. KA Rm A → KA Rm Reg), KA Rm Reg ist also eine Verkürzung der KA Rm A oder 2. die längere Kapitelreihe hatte die kürzere als Vorlage (d. h. KA Rm Reg → KA Rm A), KA Rm A ist also eine Erweiterung der KA Rm Reg oder 3. die Kapitellisten gehen beide auf einen gemeinsamen Archetyp, also eine bisher unbekannte Vorlage, zurück. Die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Kapitel‐ listen wurde bisher kaum thematisiert. 71 Die einzigen, die sich darüber Ge‐ danken gemacht haben, sind L I G HT F O O T72 und G AM B L E . 73 Beide gehen davon aus, dass das längere amiatinische Kapitelverzeichnis die Vorlage für das kürzere Kapitelverzeichnis KA Rm Reg darstellt. 74 Argumente für dieses Urteil liefern sie leider nicht. Möglicherweise haben beide schlicht im Hinterkopf, dass der Codex Amiatinus gut 200 Jahre älter als der Codex Regalis ist. Da die ursprünglichen Bezugstexte der beiden Kapitelreihen allerdings deutlich früher zu datieren sind, ist dieses Argument hinfällig und kann folglich in der Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis nicht zur Lösungsfindung beitragen. Auch aus der Analyse derjenigen Sektionen, die in ihrem Wortlaut nahezu identisch sind (also nur minimale wörtliche Differenzen aufweisen), ergibt sich für die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis kein eindeutiger Hinweis auf eine mögliche Bearbeitungsrichtung. Dies wird am folgenden Beispiel deutlich, in dem die Sektionen III (KA Rm Reg) und VI (KA Rm A) einander gegenüber‐ gestellt sind: De iniquis iudicibus quae alios prohibuerint ipsi committunt. De his iudicibus qui mala quae alios prohibuerint ipsi commitunt (…). Über die ungerechten Richter; was sie anderen verboten haben, verüben sie selbst. Über diese Richter, welche die Untaten, die sie anderen verboten haben, selbst verüben (…). Synopse: KA Rm Reg (Sektion III) - KA Rm A (Sektion VI) Es zeigt sich: Die darin auftretenden minimalen Differenzen im Wortlaut sind ambivalent zu deuten. Keine der beiden Kapitellisten kann also als grammati‐ kalische oder stilistische Verbesserung der anderen verstanden werden. 62 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse Die vorliegende Studie kommt dennoch zu einem Urteil. Es lautet wie folgt: Weder geht die kürzere der längeren noch die längere der kürzeren Kapitelliste voraus. Stattdessen gehen beide Kapitellisten auf eine gemeinsame Vorlage zu‐ rück. Diese (fiktive) Vorlage wird in der vorliegenden Studie von hier an als UrKA Rm bezeichnet. Das nachfolgende Schema stellt das literarische Ver‐ wandtschaftsverhältnis zwischen den Kapitellisten dar: UrKA Rm KA Rm A KA Rm Reg Schema 1: lit. Abhängigkeitsverhältnis KA Rm A - KA Rm Reg Sowohl die KA Rm A als auch die KA Rm Reg gehen also auf eine gemeinsame Vorlage zurück, haben allerdings in unterschiedlicher Form und in unterschied‐ lichem Ausmaß unabhängig voneinander (! ) sekundäre Veränderungen (v. a. Ergänzungen) erfahren. Dabei weisen die Capitula Amiatina deutlich größere Spuren von nachträglichen Ergänzungen auf als die Capitula Regalia. Diese Lö‐ sung soll im Folgenden ausführlich begründet werden. Zunächst zu den Ergänzungen, welche die Capitula Regalia erfahren haben. Dazu ist der Fokus auf die letzten beiden Sektionen der Kapitelliste zu legen. Drei Besonderheiten fallen ins Auge. Erstens zeigt der Vergleich mit den ent‐ sprechenden Sektionen der Capitula Amiatina, dass es die einzigen Sektionen der KA Rm Reg sind, die nicht auch in der KA Rm A auftauchen. Zweitens fallen sie auch formal gänzlich aus der Reihe. Hier der Text: Das Flehen des Paulus an den Herrn, ihn vor den Ungläubigen zu retten (15,30f). Obsecratio Pauli ad dominum ut liberetur ab infidelibus. Der Gruß des Paulus an die Brüder (16,3-16). Salutatio Pauli ad fratres. KA Rm Reg (Sektionen XXVIII und XXIX) Betrachtet man nämlich den Wortlaut aller (insgesamt 80) Sektionen der beiden Kapitellisten, wird deutlich, dass ein Capitulum stets mit der Präposition „De …“ beginnt. Die angeführten letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg bilden dabei die einzige Ausnahme. Darüber hinaus sind es drittens auch die einzigen Capi‐ tula der KA Rm Reg, deren Sektionszahl gar nicht im tatsächlichen Bezugstext 63 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 75 Ähnlich argumentiert auch C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 22, der zu dem gleichen Schluss kommt, die besagten beiden Sektionen als nachträglich hinzugefügt zu verstehen. R I G G E N B A C H , Textgeschichte der Doxologie, S. 545 dagegen war in seinem Urteil etwas zurückhaltender. Er wies darauf hin, dass ein genauer Text‐ vergleich noch aussteht, um „Einblick in das Verwandtschaftsverhältniss [sic! ] des Textes“ zu gewinnen. Dies sollte durch die vorliegende Studie nun geleistet werden. 76 Achtung! Es handelt sich also nicht einfach um den Abstand zwischen zwei Sektions‐ zahlen im Bezugstext. 77 Bei der Zählung wurde das Fehlen von Rm 15,1-16,24 im ursprünglichen Bezugstext der beiden Listen bereits berücksichtigt, da es common sense ist. Trotzdem werden an späterer Stelle der Arbeit (vgl. Kap. VI) nochmals Argumente für die These geliefert, dass der ursprüngliche Bezugstext der beiden Kapitellisten Rm 15,1-16,24 nicht umfasst haben kann. Ebenso tauchen die letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg nicht auf, da sie als sekundäre Ergänzungen identifiziert wurden. Folglich werden hier nur 27 (statt 29) Sektionen aufgeführt. auftaucht. Dies alles sind starke Indizien, die nahelegen, dass es sich bei den besagten Sektionen um spätere Ergänzungen handelt. 75 Nun zu den Argumenten, die darauf hindeuten, dass auch die KA Rm A sekundär bearbeitet wurde. Um diesen Nachweis zu führen, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen und eine wichtige Untersuchungsgröße einzuführen: die Intervall‐ größe. Mit der Bezeichnung Intervallgröße ist der Textumfang einer Sektion im Bezugstext gemeint. Um diese zu erfassen, habe ich die Anzahl der Wörter be‐ stimmt, die im Bezugstext zwischen dem Vers stehen, auf den sich das jeweilige Capitulum bezieht, und dem Vers, den das nachfolgende kommentiert. 76 Die In‐ tervallgrößen der einzelnen Sektionen beider Kapitellisten sehen wie folgt aus (Diagramm 1 und 2): 77 64 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051 0 100 200 300 400 500 Capitula Amiatina (KA Rm A) Wortanzahl der einzelnen Sektionen (Intervallgröße) Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 1: KA Rm A - Intervallgrößen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 0 100 200 300 400 500 Capitula Regalia (KA Rm Reg) Wortanzahl der einzelnen Sektionen (Intervallgröße) Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 2: KA Rm Reg - Intervallgrößen Man erkennt unschwer, dass die Intervallgrößen der Kapitelliste KA Rm A eine überaus große Streuung aufweisen. Neben einigen Sektionen, die eine besonders hohe Wortanzahl aufweisen, fallen auch zahlreiche Capitula ins Auge, die ein Textintervall kleinen Umfangs beschreiben. In der KA Rm Reg treten diese Un‐ terschiede etwas abgeschwächter auf. Abgesehen von den letzten beiden Sekti‐ 65 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 78 x = 1 n ∑ i = 1 n xi 79 s = 1 n ∑ i = 1 n xi − x 2 80 V = s x onen, die sich nur auf die Doxologie in Rm 16,25ff beziehen, wird der Bezugstext durch die Capitula deutlich gleichmäßiger gegliedert. Dennoch erkennt man einige Ausreißer nach oben, die in der Folge noch genauer erklärt werden. Die Unterschiede werden freilich nicht nur anhand der Darstellung sichtbar, sondern lassen sich auch anderweitig belegen. Erfasst man diese Wortanzahlen nämlich als Datenreihe, so lassen sich Kapitelverzeichnisse hinsichtlich ihrer Intervallgröße auch mit Hilfe verschiedener Methoden und Kenngrößen der deskriptiven Statistik darstellen und auswerten. Beides wurde für die beiden hier untersuchten Kapitellisten getan. Zunächst sollen die dazu aufgeführten Kenngrößen kurz erklärt werden: Der empirische Mittelwert x 78 bedarf sicher kaum weiterer Erläuterungen. Umgangssprachlich bedeutet er nichts anderes als den „Durchschnitt“ der er‐ fassten Datenreihe. Er gibt hier also die mittlere Intervallgröße der jeweiligen Kapitelreihe an. In den nachfolgend dargestellten Diagrammen ist er durch eine gestrichelte Linie gekennzeichnet. Bei den beiden folgenden Kenngrößen handelt es sich jeweils um Streuungs‐ parameter einer Stichprobe bzw. einer Datenreihe. So lässt sich durch die Be‐ rechnung der empirischen Standardabweichung s 79 zeigen, inwieweit die Stich‐ probe durchschnittlich um den empirischen Mittelwert streut. Mit anderen Worten bezeichnet s die durchschnittliche Abweichung der einzelnen Intervall‐ größen von der vorher berechneten mittleren Intervallgröße. Um diese Abweichung besser einzuordnen, wird der empirische Variations‐ koeffizient V 80 gebildet. Während es sich bei der empirischen Standardabwei‐ chung um ein absolutes Streumaß handelt, ist der Variationskoeffizient als re‐ latives Streumaß aufzufassen. Er berechnet sich als Quotient aus der Standardabweichung und dem Mittelwert und kann daher nur einen Wert zwi‐ schen 0 und 1 annehmen. Üblicherweise wird er als Prozentzahl angegeben. Je größer der Variationskoeffizient, desto stärker ist die Streuung der Stichprobe. Je kleiner der Variationskoeffizient, desto gleichmäßiger gliedert die Kapitel‐ reihe also den Bezugstext. Vor dem Hintergrund der eigentlichen Funktion einer solchen Kapitelliste sollte man eher Letzteres erwarten. Denn wie bereits zu Beginn des Kapitels 66 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 81 Zur Handschrift vgl. S. 59. 82 Bei de Bruyne wird die Kapitelreihe mit T bezeichnet. 83 Die Handschrift erhält in beiden gängigen Vulgataeditionen das Sigle C (= VL 189); vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 27 bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 255. 84 Bei de Bruyne wird die Kapitelreihe mit SP bezeichnet. Neben dem Codex Cavensis (Vg C) findet sie sich auch im Codex Hubertianus (H → Vg O ), im Codex Toletanus (T → Vg O ) und im Codex Ulmensis (U → Vg O ). beschrieben, geht es in erster Instanz darum, dem Leser eine schnelle Orientie‐ rung über den gesamten Text zu ermöglichen. Auf diesem Wege soll die Hand‐ habbarkeit eines Kodex verbessert werden. Findet sich nämlich ein Kapitelver‐ zeichnis vor einem Text, so ist es dem Leser eher möglich, zielgerichtet und schnell auf konkrete Textstellen bzw. -abschnitte zuzugreifen. Folglich sollte es den Bezugstext auch so gleichmäßig wie möglich gliedern. Denn es würde für den Leser doch eher störend wirken und der Funktion eines Kapitelverzeich‐ nisses entgegenlaufen, wenn einige Textteile zu weiträumig und allgemein, an‐ dere dagegen zu kleinschrittig und detailliert zusammengefasst sind. Außerge‐ wöhnlich große bzw. verschwindend geringe Wortanzahlen pro Sektion sollten also eher selten auftreten. Um die Werte besser vergleichen und einordnen zu können, wurden zusätz‐ lich die Intervallgrößen zweier weiterer Kapitellisten der lateinischen Überlie‐ ferung des Römerbriefes bestimmt und ausgewertet. Es handelt sich um die be‐ reits zuvor genannte Kapitelliste der Bamberger Alkuin-Bibel 81 („Capitula Alkuina“ 82 → KA Rm B), sowie die Kapitelliste des Codex Cavensis 83 („Capitula Cavensia“ 84 → KA Rm C). Die berechneten Ergebnisse stellen sich wie folgt dar: KA Rm A KA Rm Reg KA Rm B KA Rm C empirischer Mittelwert x 111,1 209,9 218,1 362,3 empirische Standardabweichung s 88,6 102,3 81,4 106,4 empirischer Variations‐ koeffizient V i 77,9 % 48,7 % 37,2 % 29,1 % Tabelle 1: Vergleich der Intervallgrößen relevanter Kapitellisten des Römerbriefes Vor allem der Vergleich der Variationskoeffizienten V i zeigt Erstaunliches. Die Streuung der Werte für die Intervallgröße der einzelnen Sektionen der KA Rm A fällt mit fast 78 % unverhältnismäßig groß aus. Die übrigen Kapitellisten weisen alle weitaus geringere Werte auf. Auch die KA Rm Reg besitzt hier noch einen relativ hohen Wert, der allerdings nicht annähernd so hoch ausfällt wie 67 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse der der KA Rm A. Auch in den folgenden Diagrammen 3-6, in denen die Wort‐ anzahl der einzelnen Sektionen der vier Kapitellisten dargestellt ist, wird das eben Gesagte sichtbar. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 0 100 200 300 400 500 600 Capitula Amiatina (KA Rm A) Intervallgrößen und Mittelw ert; V = 77,9% Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 0 100 200 300 400 500 600 Capitula Regalia (KA Rm Reg) Intervallgrößen und Mittelw ert; V = 48,7% Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) 68 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 0 100 200 300 400 500 600 Capitula Alkuina (KA Rm B) Intervallgrößen und Mittelw ert; V = 37,2% Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 0 100 200 300 400 500 600 Capitula Cavensia (KA Rm C) Intervallgrößen und Mittelw ert; V = 29,1% Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 3-6: Intervallgrößen und Variationskoeffizienten ausgewählter Kapitellisten Die Diagramme bestätigen den Eindruck, der sich auch anhand der Berech‐ nungen nahegelegt hat. Während KA Rm C, KA Rm B, KA Rm Reg von der jeweiligen statistischen Norm (d. h. von dem jeweils berechneten Mittelwert) nur mehr oder weniger geringfügig abweichen, gilt dies dagegen für die KA Rm 69 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse 85 Dies wird freilich in der Realität nie auftreten. Da es sich um eine sachliche Gliederung handelt, ist nicht damit zu rechnen, dass die Intervalle, die die einzelnen Sektionen zusammenfassen, von identischer Größe sind. 86 Dies hatte bereits C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 21, so er‐ kannt, der hier davon spricht, dass „in dieser Capitulatio vielfach Unordnung einge‐ rissen [ist], so daß, von anderen Schwankungen abgesehen, öfters durch weitere Teilungen einzelner Kapitel die Zahl [der Sektionen] vermehrt […] ist.“ Die andere Mög‐ lichkeit der Erklärung wäre, dass der ursprüngliche Bezugstext der Kapitelliste Verän‐ derungen erfahren hat. Denn auch dies würde dafür sorgen, dass die Streuung der In‐ tervallgrößen in einigen Bereichen unverhältnismäßig groß auftritt. A ganz und gar nicht. Die geringste Streuung ist für die KA Rm C festzustellen. Denn hier sind die „Berge und Täler“ relativ schwach ausgeprägt. Es ließe sich also am ehesten eine Rechtecksfläche approximieren. Ein solches Rechteck hatte den Wert V = 0. 85 Auch die KA Rm B stellt sich recht gleichmäßig dar. In der KA Rm Reg erscheinen die Intervallgrößen v. a. im mittleren Segment der Liste re‐ lativ gleichmäßig. Auch hier ließe sich einigermaßen leicht eine Rechtecksfläche approximieren. Sehr unregelmäßig und überaus ungleichmäßig stellen sich da‐ gegen die Intervallgrößen der KA Rm A dar. Durch die ungewöhnlich hohe An‐ zahl an Sektionen treten notwendigerweise zahlreiche sehr flache Abschnitte (entspricht zweistelligen Intervallgrößen) auf. Gleichzeitig sind allerdings auch überaus hohe Ausschläge sichtbar, die immer dann erscheinen, wenn die Wort‐ anzahl unverhältnismäßig hoch ist. Kurzum: das Profil der KA Rm A sieht also alles andere als „ideal“ aus. Für diese einzelnen, von der Norm der Vergleichsgrößen signifikant abweich‐ enden Ausreißer, sollten plausible Erklärungen gesucht werden. Hier ist mit sekundären Veränderungen zu rechnen, die entweder die Kapitelliste und / oder den ursprünglichen Bezugstext betreffen können. Einerseits legen übermäßig hohen Säulen nahe, dass hier der ursprüngliche Bezugstext anders ausgesehen haben könnte, konkret dass er kürzer war als der heute bekannte Text des Rö‐ merbriefes. Dies wird im folgenden Kapitel eine wichtige Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der ungewöhnlich hohen Gesamtanzahl an Sektionen der KA Rm A ist andererseits v. a. von Ergänzungen einzelner Sektionen auszugehen. Diese häufen sich in denjenigen Textabschnitten, die durch ungewöhnlich kleine In‐ tervallgrößen auffallen. Somit ist die oben formulierte Annahme hinreichend plausibilisiert, dass auch die Capitula Amiatina sekundär bearbeitet wurde. 86 Dies geschah mit großer Wahrscheinlichkeit in einem weit größeren Umfang als es für die Capitula Regalia anzunehmen ist. Festzuhalten bleibt zunächst: beide untersuchten Kapitellisten haben in un‐ terschiedlichem Maße sekundäre Veränderungen erfahren. Dabei stehen sie in keinem direkten literarischen Abhängigkeitsverhältnis, sondern verändern ihre 70 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 87 Mink erklärt diese wie folgt: „[Genealogische Kohärenz] ergibt sich aus dem Übereinstimmungsgrad und den vorherrschenden Textflussrichtungen zwischen den Zeugen, und sie setzt prägenealogische Kohärenz und eine erste Bildung lokaler Stemmata von Varianten voraus“; M I N K , Kohärenzbasierte Genealogische Methode. 88 Ähnlich schon U. S C H M I D , Marcion, S. 288, nach dem die Prologe „ein von der marcio‐ nitischen Sammlung unabhängiger Beleg für die Existenz einer Paulusbriefausgabe [sind], die sehr wahrscheinlich den gleichen Umfang und die gleiche Anordnung hatte, wie die marcionitische Ausgabe.“ Vorlage (UrKA Rm) unabhängig voneinander. Daher müssen sie auch unab‐ hängig voneinander ausgewertet werden und v. a. als unabhängige Bezeu‐ gungen des Römerbriefes bzw. einer Sammlung der paulinischen Briefe be‐ griffen werden. Sie bezeugen somit verschiedene Textzustände, welche allerdings in enger genealogischer Kohärenz 87 zueinander stehen. 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe Ein weiteres paratextuelles Phänomen, das gerade für die Erforschung der Text‐ geschichte des Römerbriefes von großer Bedeutung ist, sind die Prologe. Sie spielen darüber hinaus für die Frage nach Umfang und Reihenfolge des marci‐ onitischen Apostolos, vor allem aber für seine Stellung in der Genese des Corpus Paulinum, eine wichtige Rolle. Prologe zu den einzelnen biblischen Büchern tauchen häufig in der lateinischen Bibelüberlieferung auf, wo sie auch als argumenta bezeichnet werden. Das bemerkenswerteste Merkmal der Prologe zu den Paulusbriefen, um die es in der vorliegenden Untersuchung gehen soll, ist dabei nicht ihr brillanter theologischer Inhalt. Es ist auch nicht die ausgefeilte Sprache, welche die Texte aus‐ zeichnet. Tatsächlich geht es wiederum um die Hinweise, welche sie auf die Briefsammlung geben, auf die sie zurückgehen bzw. für die sie ursprünglich angefertigt wurden. Genau darin begründet sich die Relevanz der Prologe für die vorliegende Arbeit, denn es wird gezeigt werden, dass die altlateinischen Prologe einen von Marcions Apostolos unabhängigen Beleg für die 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe darstellen. 88 Wahrscheinlich waren die Prologe ursprünglich als eine Art zusammenhän‐ gende Einführung zu einer Sammlung paulinischer Briefe verfasst. Oft ist von einer Prologreihe die Rede. Dafür spricht, dass die einzelnen Prologe textlich eng miteinander verklammert erscheinen. So finden sich darin diverse Rückbezüge auf bereits Erwähntes, die sich dem Leser um einiges besser erschließen, wenn 71 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 89 Vgl. dazu D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 251. Ähnlich bereits H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 207, der die Prologe als zusammenhängende Abhandlung verstand, die „höchst wahrscheinlich dem Corpus Paulinum, das in einem Kodex ge‐ schrieben war, voran[ging].“ Auch B L A C K M A N , Marcion and his Influence, S. 54 zieht dies in Betracht: „It is not quite certain […] that the prologues were attached to the Epistels and circulated in the same MS. […] They may […] have continued to circulate as a separate collection - one of the first Introductions to St. Paul.“ Ähnlich auch S C H Ä F E R , Marcion, S. 147f sowie zuletzt J O N G K I N D , Marcionite Prologues, S. 392. Wi‐ derspruch findet sich dagegen bei F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 177. Natürlich bleibt die Annahme einer in sich geschlossenen Prologsammlung letztlich eine Hypothese, da die Prologe (bisher) nirgends als zusammenhängender Text bezeugt sind. 90 D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 238: „Especially the Monza manuskript 86 proves that […] the text of the Prologues go [sic! ] back to the Old Latin stage.“ 91 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 27f bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 256f. 92 Vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 40f sowie J O N G K I N D , Mar‐ cionite Prologues, S. 392. 93 D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 236-241. Die zahlreichen einzelnen Hand‐ schriften, in denen die Prologreihe lückenlos auftaucht, listet z. B. F R E D E , Epistulae ad Thessalonicenses, S. 108f auf. 94 C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 37-40. Auch im Anhang II der vorliegenden Arbeit wird der lateinische Text der Prologe in Anlehung an Corssen nochmals präsentiert. 95 B R U Y N E , Prologues bibliques. 96 C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes. 97 Vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 97f. die argumenta hintereinander gelesen werden. 89 In der handschriftlichen Über‐ lieferung tauchen die Prologe als kurze Vorworte auf, die den einzelnen Briefen vorangestellt sind. Sie lassen sich sowohl in Vulgatahandschriften als auch in der altlateinischen Überlieferung finden. In Analogie zu den Kapitellisten deutet ihr Text wiederum auf einen altlateinischen Ursprung hin. 90 Die älteste hand‐ schriftliche Bezeugung im Rahmen der neutestamentlichen Manuskripte findet sich im Codex Fuldensis 91 (Vg F), einer Vulgatahandschrift des 6. Jahrhundert, als ältester indirekter Beleg gilt Marius Victorinus, dessen Kommentare zu den Paulusbriefen aus der Mitte des 4. Jahrhunderts die Kenntnis der Prologe voraussetzen. 92 Eine ausführliche Analyse zur handschriftlichen Bezeugung der Prologe liefert D AHL , 93 der eigentliche Text der Prologe mitsamt eines kritischen Apparates findet sich zuerst bei C O R S S E N . 94 Ihre ehemals gängige Bezeichnung als Marcionitische Prologe (= Prol Ma) ver‐ danken sie den wegweisenden Studien von Donatien de B R U Y N E95 und Peter C O R S S E N , 96 die unabhängig voneinander 97 den marcionitischen Ursprung der argumenta zu den Paulusbriefen nachweisen wollten. Als Beleg ihrer Theorie führten de B R U Y N E und C O R S S E N sowohl formale als auch inhaltliche Überle‐ 72 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 98 H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne, S. 138. 99 H A R R I S , Marcion and the Canon. 100 W O R D S W O R T H / W H I T E H E N R Y J U L I A N , The Oxford Vulgate. 101 H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne. 102 Z A H N , An die Römer. 103 L I E T Z M A N N , An die Römer. 104 M U N D L E , Herkunft, S. 57. 105 H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 205. 106 Auch L A G R A N G E , Prologues, zweifelt an dem behaupteten marcionitischen Ursprung der Prologe, wenngleich B L A C K M A N , Marcion and his Influence, S. 52 Anm. 2 feststellt: „La‐ grange does no more than repeat Mundle.“ 107 M U N D L E , Herkunft, S. 77. 108 Der detaillierte Nachweis findet sich bei M U N D L E , Herkunft, S. 66. 109 R E G U L , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, S. 89 Anm. 5: „Mundle ist in seiner Kritik zweifellos über das Ziel herausgeschossen und hat es Harnack leicht gemacht, ihn mit der Keule des Besserwissers zu erschlagen.“ 110 F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften. 111 R E G U L , Die antimarcionitischen Evangelienprologe. gungen ins Feld. Einerseits rekonstruierten sie die ursprüngliche Reihenfolge (zumindest in den entscheidenden Teilen) der argumenta, die sich mit der von Tertullian und Epiphanius für Marcion bezeugten Anordnung der Briefe in dessen Apostolos deckte. Andererseits schien ihnen auch das in den Prologen entfaltete Paulusbild, gleichsam das inhaltliche Profil, für eine marcionitische Verfasserschaft derselben zu sprechen. Die Tragweite und Überzeugungskraft dieser „epochemachend[en]“ 98 Entde‐ ckung wird unschwer deutlich, führt man sich vor Augen, wie zahlreich und zeitnah die Reaktionen darauf erfolgten. In England erfuhr die Theorie unmit‐ telbar Zustimmung von H A R R I S (1907) 99 und W O R D S W O R TH und W HIT E (1913), 100 in Deutschland waren es zunächst H A R NA C K (1907), 101 Z AHN (1910) 102 und L I E TZ ‐ MAN N (1919), 103 welche den marcionitischen Ursprung der Prologe für „eine aus‐ gemachte Sache“ 104 bzw. als consensus doctorum  105 erachteten. Die marcionitische Verfasserschaft der argumenta wurde als Erstes von M U N D L E (1925) in Frage gestellt. 106 Dessen Studie kommt zu dem Resultat, „daß alles, was in den Prologen als marcionitische Anschauung […] gemeinhin an‐ genommen ist, im Rahmen altkatholischer Paulusauslegung auch möglich war.“ 107 Konkret weist M U N D L E hier auf den Pauluskommentar des Ambrosiaster hin, den er sogar als literarische Vorlage der argumenta identifiziert. 108 Wenn‐ gleich H A R NA C K M U N D L E s Einwände umgehend zurückwies, 109 mehrten sich in der Folge diejenigen Positionen, welche den marcionitischen Ursprung der ar‐ gumenta bezweifelten. So votierten F R E D E (1964), 110 R E G U L (1969), 111 F I S C H E R 73 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 112 F I S C H E R , Das Neue Testament. 113 G A M B L E , The Textual History, S. 111f. 114 D A H L , Origin of the Earliest Prologues. 115 C L A B E A U X , Lost Edition, S. 1f. 116 U. S C H M I D , Marcion, S. 287f. 117 E P P , Issues in the Interrelation, S. 508f. 118 S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 92. 119 V I N Z E N T , Marcion and the Dating. 120 J O N G K I N D , Marcionite Prologues. 121 V I N Z E N T , Marcion and the Dating, S. 117. (1972) 112 und G AM B L E (1977) 113 dagegen, Marcion (bzw. einen Marcioniten) als Verfasser der Prologe zu betrachten. Eine innovative und überaus beachtens‐ werte Arbeit lieferte Nils Alstrup D AHL 1978. 114 Auch er verneint die Annahme einer marcionitischen Verfasserschaft, verschiebt dabei aber erstmals die Per‐ spektive der Untersuchung auf die dahinter liegende Briefsammlung, auf welche die Prologe zurückgehen. D AHL s Lösungsansatz wirkte für viele nachfolgende Studien richtungsweisend, sodass auch C LA B E A U X (1989), 115 S C HMID (1995) 116 und E P P (2004) 117 dagegen stimmten, die Prologe als marcionitisch zu verstehen. Dieser Konsens ist in letzter Zeit allerdings wieder kritisiert worden, wie ein Blick auf die jüngsten Forschungen zum Thema belegt. S C H E R B E N S K E (2013), 118 V IN Z E N T (2014) 119 und J O N G KIN D (2015) 120 kommen übereinstimmend zu dem Fazit, sie als marcionitisch zu verstehen, ja sogar als „the rediscovered and recovered work of Marcion himself.“ 121 Nach diesem knappen Abriss der bisherigen Forschungsgeschichte wird es im Folgenden darum gehen, die Relevanz der Prologreihe im Rahmen der vorlie‐ genden Arbeit ausführlicher aufzuschlüsseln. Auch die Frage der Verfasserschaft der kompletten Serie muss aufs Neue diskutiert werden. Bis dahin wird in der vorliegenden Studie die neutrale Bezeichnung altlateinische Paulusprologe (statt marcionitische Prologe) verwendet. 3.3.1. Reihenfolge Das auffälligste Spezifikum der Prologe ist zweifellos ihre Reihenfolge. Zwar tauchen die Prologe in allen Handschriften, in denen sie zu finden sind, in der kanonischen Reihenfolge auf, d. h. in derjenigen Reihenfolge, in der auch die tatsächlichen Briefe zu lesen sind, für die sie gleichsam als Vorworte fungieren. Studiert man jedoch den genauen Wortlaut der Prologe, so fällt schnell auf, dass einige argumenta Rückbezüge enthalten und an zuvor Erwähntes anknüpfen. Liest man die Prologe also hintereinander, so treten diese Verklammerungen 74 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 122 F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 169 will diesen Schritt so weit nicht mit‐ gehen. Zwar gesteht er zu, dass Prol Kol ein Prolog vorausgehen muss, in dem andere Asiani genannt werden. Als solche werden in den überlieferten argumenta neben den Kolossern nur noch die Epheser bezeichnet. Er folgert daraus, dass Prol Kol „dessen unmittelbaren Anschluß an den Prolog zu Eph oder Laod bei Marcion [sichert].“ 123 So zumindest der Text im Codex Sangallensis (G → Vg O ), der aller Wahrscheinlichkeit nach an dieser Stelle die originale Lesart bietet; so schon C O R S S E N , Überlieferungsge‐ schichte des Römerbriefes, S. 42 sowie V I N Z E N T , Marcion and the Dating, S. 121. recht offen zutage und legen es tatsächlich nahe, dass die Prologe ursprünglich als kohärenter Text verfasst wurden. Allerdings stimmt die Reihenfolge der argumenta, die sich aus ihrem Inhalt und den besagten Rückbezügen ergibt, nicht mit der Reihenfolge der kanonischen Briefe überein, denen sie beigegeben sind. Um festzustellen, welche Reihenfolge die Prologe bzw. die Briefsammlung originär hatte, für die sie ursprünglich verfasst worden sind, soll zunächst der Prolog zum ersten Korintherbrief in den Blick genommen werden. Dabei stellt sich die Frage, wie die Wendung et hi similiter zu verstehen ist - mit wem werden die Korinther hier gleichgesetzt? Auf wen ist dieser Rückbezug ausgerichtet? Die Römer können nicht gemeint sein, denn diese haben das Evangelium nicht von Paulus verkündet bekommen - das macht bereits der Prolog zum Römer‐ brief selbst deutlich, in dem davon die Rede ist, dass die römische Gemeinde auf das Wirken von falschen Aposteln zurückgeht (nicht also auf Paulus). Dagegen betont der Prolog zum Galaterbrief explizit, dass die Galater das Evangelium zuerst (! ) von Paulus empfangen haben (primum ab apostolo acceperunt). Der Galaterprolog muss also erstens (sehr wahrscheinlich direkt) vor dem an die Korinther gestanden haben und zweitens führte er mit einiger Sicherheit auch die Sammlung an. Weiterhin verwirrt im Prolog zum Brief an die Kolosser die im Eingangssatz zu lesende Wendung et hi sicut Laudicenses sunt Asiani. In der handschriftlichen Überlieferung geht dem Kolosserprolog der Prolog zum Brief an die Philipper voran. Bei den Philippern handelt es sich allerdings nicht um Asiani, sondern um Macedones. Stattdessen muss dem Kolosserprolog ursprünglich (unmit‐ telbar) ein Prolog vorangegangen sein, der ebenfalls Asiani als Adressaten nennt - wahrscheinlich ist hier an eben jene im Kolosserprolog erwähnten Laodizener zu denken, da diese (neben den besagten Kolossern) im gesamten Prologkorpus die einzigen Asiani sind. 122 Zuletzt erwähnt der Prolog zum Philipperbrief, dass auch (! ) die Philipper Macedones sind (Philippenses ipsi sunt Macedones). 123 Da im Rahmen der Prologe allein die Thessalonicher noch als Macedones vorgestellt werden, heißt das auch 75 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 124 Vgl. M U N D L E , Herkunft, S. 58ff. Dort führt er das geringe geistige sowie stilistische Ni‐ veau des Verfassers ins Feld, um die Beweiskraft der o. g. sprachlichen Verweise zu entkräften. 125 Auf der gleichen Linie bewertet auch D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 245 den beschriebenen Befund: „The Prologues presuppose an edition in which Paul’s letters […] were arranged in the same order as in Marcion’s Apostolikon.“ Ähnlich auch C L A ‐ B E A U X , Lost Edition, S. 2: „Thus, the order presumed by the Prologues does not establish a Marcionite origin.“ 126 Zur besagten Reihenfolge der Briefe in Marcions Apostolos vgl. Kap. 2.1.1. Die 10-Briefe-Sammlung - der Marcionitische Apostolos (v. a. S. 25). hier, dass - entgegen der kanonischen Reihung der beiden Briefe - der Philip‐ perprolog ursprünglich nach dem Thessalonicherprolog zu lesen war. Für die altlateinischen Prologe ergeben sich also folgende Eckpunkte bzgl. ihrer ursprünglichen Reihenfolge: 1. Der Prolog zum Galaterbrief stand unmittelbar vor dem Korintherprolog und eröffnete mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Sammlung. 2. Direkt vor dem Kolosserprolog war mit einiger Sicherheit der Prolog zu einem Brief an die Laodizener zu lesen. 3. Der (oder die) Prolog(e) zu den Thessalonicherbriefen fand(en) sich vor dem Philipperprolog. All diese Schlussfolgerungen wurden in der Forschungsgeschichte zu den alt‐ lateinischen Paulusprologen zu keiner Zeit widerlegt. Zwar unternahm M U N D L E einen solchen Versuch, konnte allerdings nicht überzeugen. 124 Nichtsdestowe‐ niger weist er zu Recht darauf hin, dass die mutmaßliche Reihenfolge der Pro‐ loge noch lange nicht als zwingender Beweis für die marcionitische Verfasser‐ schaft derselben gelten kann. 125 Dennoch bleibt zunächst festzuhalten: die von den Prologen vorausgesetzte Reihenfolge der Paulusbriefe entspricht genau derjenigen, die anhand Tertullians und Epiphanius’ Zeugnis auch für den mar‐ cionitischen Apostolos gesichert scheint. 126 3.3.2. Umfang Die nachfolgenden Überlegungen geschehen unter der weithin vertretenen An‐ nahme, dass die Prologe ursprünglich als ein zusammenhängender Text, also eine Art Einleitung zu einer Sammlung von Paulusbriefen, entstanden sind. Fragt man nach dem originalen Umfang dieser altlateinischen Prologreihe, sind die Positionen weniger einhellig als bzgl. ihrer Reihenfolge. Folgende Probleme sind zu klären: Setzt die Prologreihe für die ursprünglich dahinter stehende 76 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 127 Vgl. dazu ausführlich Kap. VI. Der Schluss des Römerbriefes. 128 So z. B. H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne, S. 138 sowie H A R R I S , Marcion and the Canon, S. 394. Später ändert Harnack seine Position dahingehend, dass er auch für den sekun‐ dären Epheserprolog einen (späteren) Marcioniten als Verfasser annimmt; vgl. H A R N A C K , Marcion, S. 129* Anm. 1 sowie H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 205 Anm. 2. 129 Diese Position wird u. a. vertreten von C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römer‐ briefes, S. 100 sowie D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 250. 130 So F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 171. Briefsammlung einen Brief an die Laodizener oder an die Epheser voraus? Sind die Prologe zu den Pastoralbriefen sekundär? Existierten ursprünglich auch Prologe zu 2 Kor und 2 Thess oder gab es jeweils nur einen Prolog zu den Ko‐ rintherbzw. Thessalonicherbriefen? In Hinblick auf den eigentlichen Untersu‐ chungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist v. a. danach zu fragen, welche Version des Römerbriefes die Prologe voraussetzen. Für die Frage nach der mar‐ cionitischen Verfasserschaft der argumenta sind die genannten Fragen von ei‐ niger Bedeutung - denn Marcions Apostolos beinhaltete bekanntlich einerseits keine Pastoralbriefe, las andererseits den (kanonischen) Epheserbrief unter dem Titel Πρὸς Λαοδικέας und enthielt - wie später noch gezeigt wird - eine weitaus kürzere Version des Römerbriefes, in welcher u. a. die letzten beiden Kapitel fehlten. 127 Hinsichtlich der Frage nach dem Epheserprolog gibt es drei verschiedene Möglichkeiten, wie der Textbefund zu deuten ist: Einerseits wird damit ge‐ rechnet, dass in der Prologreihe dem Kolosserprolog ursprünglich ein Prolog zu einem an die Laodizener gerichteten Brief voranging. Dieser Laodizenerprolog sei heute allerdings nicht mehr vorhanden, da er komplett durch einen (die Epheser als Adressaten nennenden) Prolog ersetzt wurde. Dieser Epheserprolog taucht heute in allen Manuskripten auf, in denen die argumenta zu lesen sind. 128 Eine andere, damit in enger Beziehung stehende Auffassung ist die, dass im uns bezeugten Epheserprolog allein die Bezeichnung der Adressaten geändert wurde - ursprünglich wurden im Prolog also die Laodizener als Briefempfänger genannt (und nicht die Epheser). 129 Die dritte Meinung geht davon aus, dass der heute in allen Handschriften, welche die Prologreihe bezeugen, zu lesende Epheserprolog in unveränderter Form dem Kolosserprolog vorausging. 130 Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel dargelegt, spricht der Wortlaut des Prol Kol allerdings klar gegen die letztgenannte Möglichkeit. Folglich kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass in der originalen Prologreihe ent‐ weder ein gänzlich anderer Prolog auftauchte oder aber der heute bekannte Prol Eph ursprünglich als Adressaten die Laodizener (und eben nicht die Epheser) nannte. Beide Möglichkeiten deuten also auf eine Briefsammlung, die statt des 77 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 131 D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 250 sowie auch S. 233. 132 Vgl. F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes, S. 89f. 133 Vgl. F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes, S. 19-90. 134 Das Problem besteht in der Unvereinbarkeit des Vorhandenseins der Prol Past und dem marcionitischen Ursprung der Prologe: Da Marcions Apostolos keine Pastoralbriefe enthielt, konnten in der ursprünglichen Prologreihe auch keine Prologe dazu dargestellt werden. 135 H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne, S. 138. Interessanterweise kehrt er diese Einschät‐ zung später in Gänze um und vermerkt, dass „diese Prologe formell und inhaltlich den anderen gleichartig [sind]“; H A R N A C K , Marcion, S. 132*. 136 Prol Tit bringt also zum Ausdruck, dass der Empfänger (Titus) vom Verfasser (Paulus) u. a. angewiesen wird, sich vor Häretikern in Acht zu nehmen, welche an jüdische Schriften glauben. Vor dem Hintergrund von Tit 1,10-16 sowie 3,9-11 kann eine solche Aussage allerdings kaum überraschen. Strittig bleibt auch, ob der Verfasser mit dieser Formulierung hier tatsächlich die Ablehnung der Schriften des AT meinte; vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 43 sowie H A R N A C K , Der mar‐ cionitische Ursprung, S. 211 Anm. 2. Briefes an die Epheser einen Brief an die Laodizener beinhaltete. D AHL resümiert treffend: „Yet it is more likely than not that the original prologue had the Lao‐ dicean adress.“ 131 Zu diesem Schluss kommt auch F L E MMIN G , 132 der in seiner Studie zur Textgeschichte des Epheserbriefes die dargelegte Problematik der Adresse ausführlich thematisiert. 133 Auch die Frage nach der Ursprünglichkeit der Prologe zu den Pastoralbriefen ist einerseits von unmittelbarer Bedeutung für die Annahme der marcioniti‐ schen Verfasserschaft der argumenta, denn bekanntlich waren die Pastoralbriefe in Marcions Apostolos nicht enthalten. 134 Andererseits ist die Frage auch für die Erforschung der Textgeschichte der kanonischen Paulusbriefsammlung von großer Wichtigkeit, denn es gilt zu klären, ob mit den Prologen - neben dem marcionitischen Apostolos - ein weiterer Beleg für eine Briefsammlung exis‐ tiert, welche die Pastoralbriefe nicht beinhaltete. De B R U Y N E und C O R S S E N entwickelten unterschiedliche Lösungsansätze, das Vorhandensein der Prol Past zu erklären und gleichzeitig am marcionitischen Ursprung der Prologe insgesamt festzuhalten. So nimmt de B R U Y N E - im Ver‐ gleich mit den argumenta zu den Gemeindebriefen - Differenzen in Stil und Ausdruck wahr, die ihn zu dem Schluss führen, sie als spätere, katholische Zu‐ sätze zu verstehen. H A R NA C K folgt ihm dabei in seinen frühen Studien zu den Prologen und konstatiert „einen ganz anderen Charakter“ 135 der Prol Past. Auf der anderen Seite bereitet es C O R S S E N einige Probleme, wegen der For‐ mulierung im Prolog zum Titusbrief hereticis vitandis qui in scripturis Iudaicis credunt  136 hier tatsächlich einen katholischen Ursprung anzunehmen. Seine Al‐ ternativerklärung ist gleichsam wegweisend - v. a. für die zahlreichen Studien, 78 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 137 C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 99f. 138 So H A R N A C K , Marcion, S. 132*f, der es - wie so häufig - ganz genau zu wissen scheint: „Welch eine eigentümliche Peripetie! Die Marcionitischen Prologe dringen mitsamt den Marcionitischen Paulusbriefen, zu denen sie gehören, in das Gebiet des Todfeindes, der katholischen Kirche ein, und werden dort angenommen, aber schon vorher haben um‐ gekehrt Marcioniten - wenn auch nur eine Minderzahl - aus der katholischen Bibel die Pastoralbriefe in ihre [sic! ] Sammlung der Paulusbriefe rezipiert.“ Die Ansicht einer wechselseitigen Beeinflussung des katholischen und des marcionitischen Bibeltextes findet sich bei Harnack oft. 139 Vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 172. 140 In gewisser Weise tat dies bereits de Bruyne. Während dessen Beobachtungen jedoch recht allgemein blieben und somit angreifbar waren, beschreibt Dahl ausführlich und detailliert die einzelnen Formmerkmale der verschiedenen Prologtypen. Seine Ausfüh‐ rungen bekommen somit ein ganz anderes Gewicht. 141 Für eine detaillierte Herleitung und Beschreibung der verschiedenen Prologtypen vgl. D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 246ff. die H A R NA C K in der Folge zur Marcionforschung tätigte: Die Prologe zu den Pastoralbriefen „bezeugen dann vielmehr eine gewisse, wie mir scheint durchaus glaubwürdige, Rückwirkung des katholischen Kanons auf den marcionitischen.“ 137 Konkret heißt das, dass sich die Marcioniten nicht immer ab‐ lehnend gegenüber den Pastoralbriefen verhalten haben müssen, sondern sie ab einem gewissen Zeitpunkt anerkannten und auch in ihre Bibel aufnahmen. 138 C O R S S E N und H A R NA C K erachten also die Prol Past nicht als sekundär - zumindest nicht als katholische Ergänzung - und müssen gleichzeitig nicht von der An‐ nahme der marcionitischen Verfasserschaft der Prologe abrücken. F R E D E , der die Annahme der marcionitischen Verfasserschaft der argumenta ablehnt, begnügt sich damit, die Schwachstellen der beiden genannten Erklä‐ rungen darzulegen. So weist er darauf hin, dass die von de B R U Y N E ins Feld ge‐ führten Differenzen zwischen den Prologen zu den Gemeindebriefen und denen der Pastoralbriefe in erster Linie auf die andersartige Thematik und Charakte‐ ristik der Texte selbst zurückzuführen seien. Andererseits fehle für die Annahme H A R NA C K S , dass die Pastoralbriefe zu irgendeiner Zeit doch Teil der marcioniti‐ schen Bibel waren, jeglicher Beweis, sodass dies als reines Hilfsargument ent‐ larvt werden könne. 139 Doch ist damit tatsächlich die Ursprünglichkeit der Prol Past bewiesen? Mit‐ nichten - wie D AHL überzeugend darlegen kann. Dieser verfolgt hierfür einen konsequent formkritischen Ansatz 140 - mögliche inhaltliche Tendenzurteile müssen somit nicht bemüht werden. Rein formal betrachtet, identifiziert D AHL verschiedene Typen innerhalb des Prologkorpus. 141 Demnach sind die Prologe zu Gal, 1 Kor, Rom, 1 Thess, „Eph“, Kol und Phil - da sie einem gemeinsamen formalen Muster folgen und einen stereotypen Wortschatz aufweisen - klar von 79 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 142 Ähnlich bereits V I N Z E N T , Marcion and the Dating, S. 122f. 143 Zu den (teilweise fingierten) Abfassungssituationen der Pastoralbriefe sei auf die jüngste Studie von Lüke verwiesen; vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 243f. 247 f und 251. 144 Vgl. dazu 2 Tim 1,8 sowie 2,9. 145 Vgl. 2 Tim 1,17. 146 Vgl. Tit 3,12. Freilich darf man in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass die Prologe in einigen Handschriften tatsächlich die angesprochenen Informationen lie‐ fern. Es handelt sich hierbei jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit um nachträgliche Ergänzungen, um dem gewohnten Aufbau der übrigen Prologe zu entsprechen. Daher tauchen die entsprechenden Angaben auch ausnahmslos in den Apparaten zu den Pro‐ logtexten auf. denen an 2 Kor, 2 Thess, Phlm, 1/ 2 Tim und Tit abzugrenzen. Wie schon de B R U Y N E kommt D AHL abschließend zu dem Ergebnis, dass das ursprüngliche Prologkorpus auf eine sieben Briefe umfassende Sammlung zurückgeht. Die vorliegende Arbeit kann dies allerdings nicht teilen. Denn aus textprag‐ matischer Perspektive fällt auf, dass fast alle Prologe inhaltlich dazu dienen, a) die jeweilige Adressatengemeinde vorzustellen und geographisch zu verorten, b) die Einstellung der Gemeinde zum Glauben allgemein, zum Evangelium bzw. zum Verfasser selbst (Paulus) zu beschreiben sowie c) Informationen zur Abfassungs‐ situation des Briefes zu liefern. Letzteres beinhaltet stets den Ort, von wo aus der Brief verfasst wurde, sowie, falls der tatsächliche Brief hierfür Anhaltspunkte lie‐ fert, die Nennung des Briefboten. Suggeriert die Brieflektüre eine Abfassung in Gefangenschaft, wird auch dies stets in dem entsprechenden Prolog erwähnt - so in den Prologen zu Epheser, Philipper, Kolosser und Philemon. Diese Bausteine finden sich in allen vorliegenden Prologen wieder, allein die Prologe zu den Pastoralbriefen scheinen an den genannten Charakteristika kein Interesse zu haben und folgen somit nicht dem üblichen Muster. 142 Für den ersten Timotheusbrief mag das vielleicht nicht überraschen, finden sich doch im Brief‐ text nicht wirklich ausreichende Hinweise, die hier Rückschlüsse erlauben würden. 143 Verwunderlich ist dagegen, dass der Prolog zum 2 Tim nicht auf einen Gefängnisaufenthalt des Paulus im Moment der Abfassung hinweist. 144 Auch hinsichtlich des Abfassungsortes ließen sich anhand des Brieftextes zumindest Spekulationen anstellen, 145 doch auch hierüber verliert der Prolog kein Wort. Gleiches gilt für den Prolog zum Titusbrief, der weder Nikopolis als Abfas‐ sungsort noch Tychikus als Briefboten nennt, obwohl ein Prologverfasser, der an solcherlei Informationen überaus interessiert zu sein scheint, dies doch in gewisser Weise aus dem Brief herauslesen könnte. 146 Stattdessen lesen sich die Prologe zu den Pastoralbriefen schlicht als Inhalts‐ angabe, in welcher die im Brief behandelten Themen in äußerster Knappheit genannt werden. Dieser grundsätzliche Unterschied hinsichtlich dessen, was der 80 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 147 Vgl. S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 88. 148 So wird die Erwähnung der in Prol 1Kor genannten falsi apostoli der secta legis Iudaicae erst hinsichtlich der in 2 Kor 11,12-15 erfolgenden ausführlichen Charakterisierung der Gegner als judaisierende Irrlehrer verständlich. 149 Auch hier lässt sich die Bemerkung im Prolog nec receperunt ea quae a falsis apostolis dicebantur („sie haben das nicht angenommen, was von falschen Aposteln behauptet wurde“) v. a. auf 2 Thess 2,1f beziehen. 150 Im Anschluss an B R U Y N E , Prologues bibliques, S. 7f konstatiert H A R R I S , Marcion and the Canon, S. 394: „[I]nternal evidence shows that [there were] single prologues for 1 and 2 Corinthians and for 1 and 2 Thessalonichans; but […] when the prologues were taken over by the Catholic Church, Catholic prologues were written for 2 Corinthians and 2 Thessalonichans, as well as for Ephesians, and […] a series of three prologues were written for the non-Marcionite Epistles, 1 and 2 Timothy and Titus.“ Der schlichte Ver‐ weis auf internal evidence bleibt jedoch recht vage, so dass Harnack und Corssen die beschriebene Position für „zweifelhaft“ (H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne, S. 138) bzw. nicht ausreichend begründet (vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 99) erachten. K N O X , Philemon, S. 39 kommt zu dem gleichen Schluss wie Harris: „There is one preface Ad Corinthios and another, Ad Thessalonicenses, without the slightest hint that in each case not one, but two, epistles are being introduced.“ Ähnlich auch D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 248. jeweilige Prologtext tatsächlich beschreiben bzw. welche Informationen er dem Leser mitteilen will, erlaubt es, die Prologe zu den Pastoralbriefen klar und sauber von den übrigen zehn Prologen abzugrenzen. Mit einiger Wahrschein‐ lichkeit sind sie gesondert verfasst worden und stellen somit einen sekundären Zusatz der ursprünglichen Prologsammlung dar. Wie aber verhält es sich mit den Prologen zum 2. Korintherbrief und zum 2. Thessalonicherbrief ? S C H E R B E N S K E meint, sie aus dem ursprünglichen Prolog‐ korpus ausschließen zu müssen, da sie sich sowohl formal als auch hinsichtlich ihres Umfangs signifikant von den übrigen Prologen unterscheiden. 147 Dies liegt allerdings in der Natur der Sache: Wie schon zuvor erwähnt, ist ein zentraler Zweck der Prologe die geographische Einordnung der Adressatengemeinden sowie die Beschreibung des Verhältnisses der Gemeinden zu Paulus. Dass die Prologe zu 2 Kor und 2 Thess hier nicht einfach bereits in den jeweils voran‐ gehenden Prologen Beschriebenes wiederholen wollen und damit insgesamt um einiges kürzer als diese sind, ist absolut verständlich. Es ist also nicht schlüssig, sie aus den genannten Gründen als sekundär zu betrachten. Eine andere Beobachtung wiegt dagegen schwerer. So lässt sich zeigen, dass sich der Prolog zum 1 Kor offenbar auf den Inhalt beider (! ) Korintherbriefe bezieht. 148 Die gleiche Beobachtung ergibt sich für den Prolog zum ersten Thes‐ salonicherbrief. 149 Daher ist es in der Tat vorstellbar, dass ursprünglich jeweils nur ein Prolog zu den Korinther- und Thessalonicherbriefen existierte. 150 Für die 81 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 151 H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 210 [Hervorhebung im Original]. Ähnlich bereits H A R N A C K , Rezension zu de Bruyne, S. 138ff sowie H A R N A C K , Marcion, S. 130*. 152 H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 210. Auch Harnacks Verständnis, alle vorliegende Arbeit ist diese Schlussfolgerung allerdings unerheblich. Denn die Beobachtung, dass die Prologe zu 1 Kor und 1 Thess inhaltlich jeweils beide Briefe abdecken, untermauert nur die Tatsache, dass die hinter den Prologen stehende Briefsammlung sowohl zwei Korintherals auch zwei Thessalonicher‐ briefe umfasste. Festzuhalten bleibt demnach zunächst: Das originale Prologkorpus bestand aus zehn (möglicherweise auch aus acht) argumenta zu paulinischen Gemeinde‐ briefen und zwar in der folgenden Anordnung: Gal, 1 (2) Kor, Röm, 1 (2) Thess, Laod, Kol, (Phlm), Phil, (Phlm). Daraus ergibt sich folgendes Zwischenfazit: So‐ wohl Reihenfolge als auch Umfang der den altlateinischen Paulusprologen zu‐ grunde liegenden Texte entspricht dem, was die Häresiologen auch für den marcionitischen Apostolos bezeugen. Es handelt sich um eine Briefsammlung, die aus zehn Briefen besteht und die sich in ihrer Reihenfolge signifikant von der 14-Briefe-Sammlung unterscheidet. Doch muss man aufgrund dieser eben genannten Erkenntnis notwendigerweise auch Marcion (bzw. einen Marcio‐ niten) als Verfasser der Prologe betrachten? 3.3.3. Verfasserschaft Wie schon zuvor erwähnt, thematisieren die argumenta inhaltlich - neben einer geographischen Einordnung der Adressaten, Anmerkungen bzgl. Abfassungsort und -situation sowie Boten der jeweiligen Briefe - v. a. die Konflikte zwischen Paulus und seinen Gegnern im Rahmen seiner Missionstätigkeit in den ver‐ schiedenen Gemeinden. Dass diese Perspektive tatsächlich als eine Art Ver‐ ständnisschlüssel der paulinischen Briefe (insbesondere Gal, Kor und Rm) an‐ gesehen werden kann, scheint unstrittig; allerdings ist das noch nicht exklusiv marcionitisch. H A R NA C K ist hier freilich anderer Meinung. Für den Verfasser der argumenta wäre demnach allein „der Gegensatz des richtigen Evangeliums und eines falschen und deshalb der Gegensatz zwischen ‚dem Apostel‘ [scil. Paulus] und den Pseudoaposteln das Thema […]. Wer aber so formuliert, ist Mar‐ cionit.“ 151 Er bemerkt weiterhin, dass die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem ‚Wort‘ als Hauptthema der Gemeinden „lediglich von außen herangebracht und […] schlechterdings nicht aus diesen [scil. den paulinischen Briefen] selbst abstrahiert werden [kann].“ 152 82 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse pseudapostoli als „Leute, die zum Judaismus verführen“ (H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung, S. 211) zu verstehen, entspricht nicht dem tatsächlichen Befund, wird doch in Prol 1Kor von falsis apostolis gesprochen, die a philosophiae verbosa eloquentia […] inducti. Dies hat bereits M U N D L E , Herkunft, S. 63 bemängelt: „Von speziell judaistischen Irrlehrern ist zudem ausdrücklich nur im Prol. ad Rm Cor Gal die Rede, und der Prolog zu I Cor zeigt, daß der Schreiber zwischen falsi apostoli verschiedener Herkunft unter‐ schieden hat; wir sind also nicht berechtigt, überall da, wo die falsi apostoli nicht ge‐ nauer charakterisiert sind, ohne weiteres an Judaisten zu denken.“ 153 So fasst F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 172f richtig zusammen: „Den‐ noch ist es schwer einzusehen, daß die Thematik der Prologe den Briefen aufgenötigt und tendenziös sei und einzig und allein auf marcionitische Quellen führe. Das stilis‐ tische und technische Vokabular, der tatsächlich in allen Briefen angesprochene Ge‐ gensatz gegen falsche Lehre und Lehrer, der paulinische Begriff verbum veritatis (vgl. 2 Cor 6,7; Eph 1,13; Col 1,5; ferner Gal 2,5.14 u. ä.), das bei einigen Briefen als Zweck genannte revocare oder recorrigere neben conlaudare oder laudare oder hortari bei an‐ deren trägt schwerlich spezifisch marcionitisches Gepräge.“ 154 Vgl. Z A H N , An die Römer, S. 12. 155 M U N D L E , Herkunft, S. 77. Als Beleg für diese Einschätzung führt Mundle zahlreiche Stellen aus Ambrosiasters Kommentar zu den paulinischen Briefen an, insbesondere all jene, in denen dieser das Verhältnis des Paulus zu den pseudapostoli thematisiert. 156 Ähnlich bereits R E G U L , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, S. 91. Dass ein solches Verständnis der paulinischen Schriften tatsächlich nicht notwendigerweise als exklusiv marcionitisch zu verstehen ist, 153 sondern auch im Rahmen einer frühkatholischen Paulusexegese möglich erscheint, belegen die vielfältigen inhaltlichen Berührungspunkte der argumenta mit den Paulus‐ kommentaren von Marius Victorinus, Ambrosiaster und Pelagius. So wies be‐ reits Z AHN auf die Nähe zwischen den altlateinischen Paulusprologen und dem Pauluskommentar des Ambrosiaster hin. 154 M U N D L E widmet sich dieser Abhän‐ gigkeit in aller Ausführlichkeit und kommt letztlich zu folgendem Ergebnis: „Alle unsere Erwägungen führen also zu dem Resultat, daß die Zurückführung der Vulgataprologe [! ] auf den Marcionitismus einer kritischen Prüfung nicht standhält. Der Nachweis, daß alles, was in den Argumenten als marcionitische Anschauung seit de Bruynes und Corssens Untersuchungen gemeinhin angenommen ist, im Rahmen altkatholischer Paulusauslegung auch möglich war, ist durch den Vergleich mit Ambrosiaster erbracht worden.“ 155 Natürlich schließen diese Parallelen einen marcionitischen Ursprung der Pro‐ loge nicht aus - allerdings erschüttern sie die Ausschließlichkeit, mit der H A R NA C K hier einen Marcioniten die Feder führen lassen wollte. 156 Dass diese beschriebene Thematik der Prologe alles andere als zwingend auf Marcion verweist, machte D AHL deutlich, indem er die Möglichkeit ins Gespräch brachte, Ignatius als Verfasser der Prologe zu verstehen, da dieser in ein ähnli‐ 83 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 157 D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 264. 158 S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 92: „Nevertheless, to disregard the most obvious and well-known candidate (i.e. Marcion) for an unknown and hypothetical one (i.e. some anti-Judaizer) flouts the evidence and does not, I contend, offer a better historical re‐ construction.“ 159 S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 241f nennt auch inhaltliche Gründe, die für den marcionitischen Ursprung der Prologe sprechen. Einen solchen erkennt er in der in Prol Rm explizit zu lesenden Fokussierung auf „Falschapostel“ (falsi apostoli). Dass diese Formulierung aber nicht zwingend eine „marcionitische“ Lesart impliziert, sondern dass die 10-Briefe-Sammlung (für die die originale Prologserie ja zweifelsohne angefertigt wurde) in großen Teilen als Auseinandersetzung mit den Jerusalemer Autoritäten ge‐ lesen werden kann, hat zuletzt L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 25 Anm. 65 richtigerweise betont. 160 G A M B L E , The Textual History, S. 111 bewertet dies ähnlich: „The evidence for this opi‐ nion [scil. der marcionitischen Verfasserschaft] is considerable, but falls short of deci‐ sive proof.“ 161 Dies wird auch darin deutlich, dass C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römer‐ briefes, S. 43 nicht mehr als fünf Sätze darauf verwendet, die marcionitische Verfasser‐ schaft der originalen Prologe rein inhaltlich als marcionitisch zu erweisen. ches Szenario der Auseinandersetzung mit „Judaizers and other Heretics“ 157 verwickelt war, welches auch als inhaltliches Leitschema der altlateinischen Prologe erkennbar ist. Diese Möglichkeit datiert den Ursprung der Prologe ins 2. Jahrhundert, also in die Zeit, in der auch die 10-Briefe-Sammlung ihre ersten nachweislichen Spuren hinterlassen hat. Zuletzt erneuerte S C H E R B E N S K E die von H A R NA C K vertretene Position, indem er Marcion als den nächstliegenden und bekanntesten Kandidaten ansieht, der für die Verfasserschaft der Prologe in Frage käme. 158 Aufgrund eines Mangels an Alternativen zu einer solchen Schlussfolgerung zu gelangen, scheint mir an dieser Stelle jedoch nicht statthaft. 159 Es bleibt daher vorerst festzuhalten, dass die Prologe sowohl inhaltlich als auch stilistisch keinerlei Merkmale aufweisen, die zwingend auf ihren marcionitischen Ursprung hindeuten. 160 Allein aufgrund inhaltlicher Aspekte wären de B R U Y N E und C O R S S E N wohl kaum zu dem Ergebnis gekommen, sie als marcionitisch anzusehen. 161 Darüber hinaus zeigt sich ein schwerwiegendes überlieferungsgeschichtliches Problem: Sollten die Prologe tatsächlich auf Marcioniten zurückgehen, wie (und wann) hätten sie dann bedenkenlos in zahlreiche katholische Bibelausgaben übernommen und somit für rechtgläubig erklärt werden können? H A R NA C K S Lösung muss hierfür als äußerst problematisch erachtet werden: Dieser datiert die Paulusprologe bzw. ihr partielles Eindringen in den Text des Corpus Paulinum bereits in die zweite Hälfte des 2. Jh., da sie dem Verfasser des 84 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 162 H A R N A C K , Die marcionitischen Prologe, S. 162f: „MF [scil. der Verfasser des Muratori‐ schen Fragments] hat die Marcionitischen Prologe nicht nur gekannt, sondern er hatte sie auch schon in seiner Bibel, und zwar so enge [sic! ] als Prologe mit den einzelnen Briefen verbunden, daß sich ihm ihr Text als ‚argumenta‘ mit dem der Briefe selbst verschmolz. […] Die große und nicht erfolglose Marcionitische Invasion in die Bibel der Kirche fällt also in die zweite Hälfte des II Jhs. und in eine Zeit, in der die katholische Kirche ihren ‚Apostolos‘ erst aufbaute.“ Gleichzeitig rechnet er mit einem massiven Eindringen in die abendländischen HSS erst gegen Ende des 4. Jh., da zuvor „zur Zeit des noch brennenden Kampfes mit der Marcionitischen Kirche [dies] kaum glaublich [ist]“; H A R N A C K , Marcion, S. 133*. Diese Relativierung ist fraglos notwendig, allerdings kaum mit der davor formulierten Position zu vereinen. 163 F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 174. Ähnlich stellt auch U. S C H M I D , Mar‐ cion, S. 280 fest, dass es unter den genannten Voraussetzungen doch ein gehöriges Maß an „Naivität und Unbedarftheit“ benötigt haben müsse, um marcionitischem Textgut Einzug in die (katholischen) Handschriften zu gewähren. Anders dagegen V I N Z E N T , Mar‐ cion and the Dating, S. 117f, der nachzuweisen versucht, dass Tertullian beim Verfassen seiner häresiologischen Kampfschrift gegen Marcion sehr wohl Kenntnis von den Pro‐ logen hat und auf diese Bezug nimmt. Vinzent folgert, dass die angenommene klare Grenz‐ ziehung zwischen orthodoxen und häresiologischen Texten weit weniger deutlich war, als man es aus heutiger Sicht annimmt. 164 So B L A C K M A N , Marcion and his Influence, S. 54 der allerdings fälschlicherweise noch davon ausgeht, dass die Paulusprologe allein ein Phänomen der Vulgata-HSS darstellen, nicht aber der Vetus-Latina-Versionen. Freilich ergänzt er: „It is, of course, possible that they found their way here and there into earlier MSS.“ 165 D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 257 stützt diesen Zweifel: „But it is […] im‐ possible to assume that the Prologues were not included in Catholic manuscripts until ca. 400, when the battle against Marcion had been won.“ Muratorischen Fragments vorlagen. 162 Der Behauptung des Eindringens tat‐ sächlich marcionitischer Prologe in den katholischen Paulustext zu einem solch frühen Zeitpunkt, zu dem - wie das Zeugnis der Häresiologen unschwer er‐ kennen lässt - die Auseinandersetzung mit der marcionitischen Kirche in vollem Gange war, muss mit größter Skepsis begegnet werden. Besonders pointiert formuliert F R E D E : „Ob man aber schon im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts, als der Kampf gegen den Marcionitismus seinen Höhepunkt erreichte, wirklich marcionitische Prologe, von deren Existenz Tertullian um 215 offenbar nichts weiß, ohne den geringsten Argwohn in eine katholische Paulusbriefausgabe hat übernehmen können, ist eine Frage, die sich wohl nur mit einem ungewöhnlichen Maß an Kühnheit positiv beantworten läßt.“ 163 Gleichzeitig lässt wiederum die Bezeichnung der Adressaten des „Epheser‐ briefes“ als Laodizener sowie v. a. die weite Verbreitung der altlateinischen Pau‐ lusprologe in der handschriftlichen Überlieferung auch eine Spätdatierung - etwa gegen Ende des 4. Jh. 164 - überaus unwahrscheinlich erscheinen. 165 85 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 166 B L A C K M A N , Marcion and his Influence, S. 53 [Hervorhebung im Original]. 167 So J O N G K I N D , Marcionite Prologues, S. 406. Jongkind versucht sich dann freilich doch an einer Antwort, indem er konstatiert, dass die lateinische Handschriftentradition zahlreiches Material an verschiedensten Formen von Prä- und Paratexten bietet und dabei bewusst die tatsächliche Herkunft des Materials ignoriert. Die Zirkularität der Argumentation sollte hierbei deutlich erkennbar sein. 168 Dies schlug bereits D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 262 vor, der jedoch von einer vorkanonischen bzw. vormarcionitischen Sammlung ausging, welche den Prologen ur‐ sprünglich zugrunde lag. 169 R E G U L , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, S. 93. 170 J O N G K I N D , Marcionite Prologues, S. 406: „There is no advantage to assume such a parallel and unknown letter collection.“ Die fehlende Plausibilität der Antwort H A R NA C K s ist offenkundig, sodass die späteren Advokaten eines marcionitischen Ursprunges der Prologe die eben zi‐ tierte Frage F R E D E s entweder ignorieren oder aber einräumen, dass sie das Problem nicht lösen können. So formulierte schon B LA C KMAN in wünschens‐ werter Deutlichkeit: „Nevertheless [scil. trotz des Schweigens Tertullians über die Prologe in Adv. Marc. 5], the supposition of an early origin is necessary to explain the wide dissemination of the prologues in the West. It is one of the paradoxes of history [! ] that these prologues were taken up into the Catholic New Testament and their motif unrecognized.“ 166 Zuletzt stellt auch J O N G KIN D die Frage, wie diese Prologe dann eigentlich (trotz ihres angeblich häretischen Hintergrunds) Einzug in die lateinische Texttradi‐ tion gehalten haben konnten bzw. so lange in dieser überlebt haben. Seine be‐ zeichnende Antwort lautet: „we simply do not know how […].“ 167 Nimmt man nun von der Annahme des marcionitischen Ursprungs der altlatei‐ nischen Paulusprologe Abstand und versteht sie stattdessen als Beleg für die Exis‐ tenz einer nur zehn Briefe umfassenden Edition von Paulusbriefen, 168 löst sich das zuvor beschriebene Paradoxon (B LA C KMAN ) elegant in Luft auf: Die weite Verbrei‐ tung der argumenta innerhalb der lateinischen Textüberlieferung basiert nicht auf der Missachtung bzw. der der zeitlichen Distanz geschuldeten Blindheit bzgl. ihres häretischen (marcionitischen) „Pferdefuß[es]“ 169 - sie hatten schlicht nichts Häre‐ tisches an sich. Tertullian hatte demnach auch gar keine Veranlassung, sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Marcions Apostolos mit den Prologen zu beschäftigen, denn sie waren mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Teil der ihm geläufigen Bibel. J O N G KIN D s Einschätzung, eine frühe, unbekannte Sammlung von Paulusbriefen anzunehmen stelle keinerlei Vorteil dar, 170 da sie keine forschungs‐ geschichtlichen Probleme lösen könne, ist folglich in keiner Weise nachzuvoll‐ ziehen. Tatsächlich ist die Briefsammlung, auf die die altlateinische Prologreihe 86 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 171 Es wird deutlich, dass hinsichtlich des Paulusverständnisses die Trennlinien zwischen Häresie und Orthodoxie lange einigermaßen fließend waren. So schon D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 262. 172 M.E. liegt die Beweislast bei denen, die den marcionitischen Ursprung der argumenta postulieren. Ist eine solche Annahme allerdings nicht beweisbar, dann ist sie auch nicht aufrechtzuerhalten. mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich zurückgeht, alles andere als unbe‐ kannt, sondern wird u. a. durch Marcions Apostolos bezeugt. 3.3.4. Die altlateinischen Prologe und die Überlieferungsgeschichte des Corpus Paulinum Die bisherigen Studien zu den altlateinischen Paulusprologen kreisten in erster Linie um die Frage, ob sie marcionitischen Ursprungs sind oder nicht. Die Kon‐ zentration auf diesen Fragehorizont erscheint jedoch unangebracht. So haben die vorangegangenen Überlegungen deutlich gemacht, dass die notwendigen Kriterien, die in dieser Frage zu einer validen Entscheidung führen könnten, gar nicht erfüllt werden können. Zwar entspricht die den Prologen zugrunde lie‐ gende Paulusbriefsammlung formal - d. h. in Reihenfolge und Umfang - dem marcionitischen Apostolos. Dagegen musste festgestellt werden, dass der Text‐ befund inhaltlich nicht wirklich ausreicht, um eindeutig auf eine marcionitische Verfasserschaft zu schließen - die frühkatholischen Pauluskommentare machen deutlich, dass eine ähnliche Paulusexegese auch außerhalb marcionitischen Einflusses möglich, ja vielleicht sogar üblich, war. 171 Die Annahme eines mar‐ cionitischen Ursprungs der argumenta ist anhand der zugrunde liegenden Texte zunächst also weder eindeutig benoch widerlegbar. 172 Die Untersuchungen zu den Prologen auf die Frage nach der marcionitischen oder nicht-marcionitischen Verfasserschaft zu reduzieren, stellt somit eine Sack‐ gasse dar. Diese Sackgasse ist jedoch keinesfalls alternativlos. D AHL s Neuansatz hat eine Richtung aufgezeigt, der auch die vorliegende Arbeit nachgeht. Der Fokus liegt nun nicht mehr auf den Prologen selbst. Stattdessen muss die Perspektive erweitert werden, um hinter die Prologe zu schauen und nach der Briefsamm‐ lung zu fragen, für welche die argumenta ursprünglich verfasst wurden. Alle vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die Prologe auf eine Edition der Paulusbriefe zurückgehen, die folgende Merkmale aufweist: 1. Sie umfasst zehn Briefe (beinhaltet also keine Pastoralbriefe und keinen Hebräerbrief); 2. statt des Epheserbriefes beinhaltet sie einen Brief an die Laodizener; 87 3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe 173 Also in Rm 4, Rm 9-11 und Rm 15-16. 3. der enthaltene Römerbrief ist kürzer als die kanonische Version (mit ei‐ niger Wahrscheinlichkeit fehlen die Kapitel 15 und 16); 4. die Reihenfolge der enthaltenen Briefe lautet Gal, 1 (2) Kor, Röm, 1 (2) Thess, Laod, Kol, (Phlm), Phil, (Phlm). Es ist unstrittig, dass die durch Marcion bezeugte 10-Briefe-Sammlung genau diese Merkmale aufweist. Die Annahme, die Prologe gingen auf eine vormarcionitische Sammlung zurück, ist erst statthaft, wenn belegt werden kann, dass Marcion tatsächlich Veränderungen an den ihm vorliegenden Texten vorge‐ nommen hat. Solange dies allerdings nicht der Fall ist, müssen die Prologe schlicht als ein weiterer Beleg (neben Marcions Apostolos) für die Existenz der 10-Briefe-Sammlung verstanden werden. 3.4. Fazit und Zwischenbilanz Die paratextuellen Beigaben (Kapitelverzeichnisse und Prologe) spielen für die Erforschung der Textgeschichte der Paulusbriefe eine wichtige Rolle, die bisher weitgehend unterschätzt wurde. Insbesondere die Prologe haben sich als ein (von Marcions Apostolos unabhängiger) Beleg der 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe erwiesen. Insofern sind sie - ebenso wie als auch die Kapitelver‐ zeichnisse - für die Verhältnisbestimmung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung von wichtiger Bedeutung. Darüber hinaus müssen die paratextuellen Zeugnisse, insofern sie sich als unabhängig von ihrem tatsächlichen Bezugstext erweisen haben, als separate Bezeugung von Lesarten angesehen und textkritisch ausgewertet werden. Unter diesem Blickwinkel stellen die Paratexte einerseits einen wichtigen Baustein zur Erforschung der textgeschichtlichen Überlieferung und Entstehung des Corpus Paulinum dar. Andererseits können sie möglicherweise auch dazu beitragen, einige undurchsichtige textkritische Problemfelder desselben (z. B. die Frage nach dem Schluss des Römerbriefes) zu erhellen. Mit dem in Kapitel 2 und 3 dargelegten methodischen Rüstzeug ist es jetzt möglich, ausführlich die drei genannten Abschnitte des Römerbriefes zu unter‐ suchen, in denen umfangreiche, textliche Differenzen zwischen 10 Rm und 14 Rm identifiziert werden konnten. 173 88 III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse 1 Wenn sich hier und in den folgenden Kapiteln mit der häresiologischen Bezeugung befasst wird, soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass sich die Häresiologen natürlich mit demjenigen Text auseinandersetzten, den sie in Marcions Apostolos vor‐ fanden. Dieser Text wird in der vorliegenden Studie mit dem Text der 10-Briefe-Samm‐ lung (terminologisch) gleichgesetzt. Ausführlicher dazu s. Kap. 2.3. Methodisches Vor‐ gehen (v. a. S. 44). IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel Die erste umfangreiche Textdifferenz zwischen 10 Rm und 14 Rm betrifft Rm 4 - das sogenannte Abrahamkapitel. Thematisch geht es in dem besagten Kapitel v. a. darum, die Abrahamskindschaft als erwählungstheologisches Konzept zu etablieren, das entstehende Christentum also in die Heilsgeschichte Gottes mit Israel einzuschreiben. Um die Textgestalt des von Marcion verwendeten Rö‐ merbriefes in diesem Abschnitt genau zu erfassen, ist zunächst die häresiologi‐ sche Bezeugung zu analysieren. 1 4.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 4 Den einzigen verwertbaren Hinweis liefert Tertullian. In seiner polemischen Kampfschrift gegen Marcion findet sich folgende Formulierung, die für die Re‐ konstruktion von 10 Rm von größter Bedeutung ist: Aber wie Dieben häufig etwas von ihrer Beute entfällt, was dann als Beweismittel [gegen sie] dienlich ist, so hat, glaube ich, auch Markion den letzten Hinweis auf Abraham hinter sich [zurück] gelassen - wobei kein anderer eher zu beseitigen ge‐ wesen wäre -, auch wenn er ihn zum Teil veränderte. Sed ut furibus solet aliquid excidere de praeda in indicium, ita credo et Marcionem novissimam Abrahae mentionem dereliquisse, nulla magis auferenda, etsi ex parte convertit. Tert. Adv. Marc. 5,4,8 Die besagte Passage kommt in erster Betrachtung recht unscheinbar daher, v. a. da sie gar nicht in Tertullians Auseinandersetzung mit dem marcionitischen Römerbrief ( 10 Rm) zu lesen ist. Tatsächlich taucht der Satz nämlich bereits in Tertullians Besprechung des Galaterbriefes auf, also des ersten Textes innerhalb des Apostolos. Tertullian leitet durch diesen Kommentar die Auseinanderset‐ zung mit der Textstelle 10 Gal 4,22-26 ein, um die es ihm in diesem Zusammen‐ 2 Als Untersuchungsgegenstand muss hier der ganze Apostolos Marcions angesehen werden, also jene zehn Paulusbriefe, die Tertullian selbst für Marcion bezeugt. 3 Dass Marcion die besagte Stelle im Galaterbrief nicht einfach übersehen hat, liegt auf der Hand. Wie könnte Tertullian ihm sonst vorwerfen, dass er sie im Detail verändert hat? 4 S. 2.2. Anm. 55. 5 H A R N A C K , Marcion, S. 44 Anm. 1: „Wäre M. bei seiner Textkritik stets konsequent ver‐ fahren, so ließen sich ex analogia unter den von Tert. übergangenen Abschnitten und Versen nicht wenige bezeichnen, die gefehlt haben müssen. Allein diese Schlüsse sind unsicher, da M. nicht immer konsequent gewesen ist, wie nicht wenige Stellen beweisen, die ihm deutlich ungünstig sind und die er doch stehen gelassen hat“; vgl. dazu auch S. 33f der vorliegenden Studie. hang eigentlich geht. Dem häresiologischen Duktus folgend ist diese Textstelle also das besagte Indiz („indicium“), das der Dieb (Marcion) hier auf seinem groß angelegten Raubzug (durch seine Textvorlage) zurückgelassen hat - alle an‐ deren Erwähnungen Abrahams innerhalb des Textbestandes, den Tertullian hier untersucht, 2 habe Marcion demnach gestrichen. 3 Die Stelle ist ein Paradebeispiel für das Problem der „redaktionellen Inkon‐ sistenz“, das für die Bestimmung des Bearbeitungsverhältnisses zwischen dem Bibeltext Marcions und dem kanonischen Bibeltext von grundlegender Bedeu‐ tung ist. Versteht man Marcion als Textfälscher, der den kanonischen Bibeltext nach seinen theologischen Vorstellungen bearbeitet und alles daraus entfernt hat, was er für theologisch falsch hielt, dann dürfte der marcionitische Bibeltext solche Elemente nicht enthalten. Dies ist aber nicht der Fall. Denn die Häresiologen stützen sich ja gerade auf diejenigen Aussagen, die Marcion ihrer Ansicht nach gestrichen haben müsste, aber tatsächlich nicht gestrichen hat, um ihn aus seinem eigenen Bibeltext zu widerlegen. Genau dies tut Tertullian hier anhand von 10 Gal 4,22: Marcion müsste diesen Hinweis auf Abraham eigentlich gestri‐ chen haben, weil er die Identität des deus creator und des deus bonus belegt. Tertullian wirft Marcion daher die Unachtsamkeit der angeblichen Bearbeitung vor: Bei seinem Raubzug, mit dem er den (kanonischen) Bibeltext geplündert habe, hat er eine Stelle übersehen anstatt auch die novissima mentio Abrahae zu streichen. Methodisch ist der Vorwurf der redaktionellen Inkonsistenz von großer Bedeutung, weil er die Unhaltbarkeit der angeblichen Bearbeitung des marcionitischen Bibeltextes belegt. Wie oben gezeigt, 4 hat Tertullian diesen Selbstwiderspruch gesehen und zu entkräften versucht. Wenn H A R NA C K und andere einfach darauf verweisen, dass Marcion bei seinen „Streichungen“ sehr inkonsequent vorgegangen sei, 5 entziehen sie ihrer eigenen Argumentation den Boden, weil „Inkonsequenz“ einerseits immer in Rechnung zu stellen, anderer‐ seits aber nicht nachweisbar ist und deshalb methodisch nicht als Grundlage 90 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 6 Das methodische Problem ist im Zusammenhang der analogen Bearbeitung des Lukasevangeliums durch Marcion ausführlich analysiert worden; vgl. K L I N G H A R D T , Das äl‐ teste Evangelium, S. 117ff. 7 So auch U. S C H M I D , Marcion, S. 107, wenngleich er dies zunächst nur für den Galater‐ brief folgert. 8 Vgl. Kap. V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“. eines Arguments verwendet werden darf. Die angenommene Inkonsequenz von Marcions angeblicher Bearbeitung ist ein leicht durchschaubares Hilfsargu‐ ment, das genau dazu dient, das Axiom der theologisch motivierten Streichungstätigkeit des Marcion aufrecht zu erhalten. 6 Die entgegengesetzte Posi‐ tion, die das redaktionelle Gefälle zwischen marcionitischem und kanonischem Text einfach umdreht, Marcion also schlicht als Tradent (nicht als Redaktor) eines von ihm verwendeten Textes versteht und dagegen von einer redaktion‐ ellen Bearbeitung (Erweiterung) dieses kurzen Textes durch die Herausgeber der 14-Briefe-Sammlung ausgeht, muss folglich als plausibler angesehen werden. Auch wenn es Tertullian in der zitierten Stelle tatsächlich um etwas ganz anderes geht, weist er damit ausdrücklich darauf hin, dass in 10 Gal 4,22 die ein‐ zige mentio Abrahae im gesamten Apostolos zu lesen ist. Folglich findet sich in Tert. Adv. Marc. 5 verständlicherweise auch keine weitere Erwähnung oder Auseinandersetzung mit einem Vers, der Abraham nennt. Tertullians Kom‐ mentar zeigt also in wünschenswerter Deutlichkeit, dass im gesamten marcio‐ nitischen Apostolos (und folglich auch in der 10-Briefe-Sammlung) Abraham nur an dieser einen Stelle erwähnt ist. 7 Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen für die Rekonstruktion des marcionitischen Galaterbriefes ( 10 Gal), v. a. aber für den Römerbrief und die Frage nach seiner ursprünglichen Textform. Somit fallen zum einen die Erwäh‐ nungen Abrahams in 14 Rm 9,7 und 14 Rm 11,1 ins Auge. Es wird noch zu klären sein, wie an diesen Stellen der Text des 10 Rm ausgesehen haben könnte. 8 Zum anderen lenkt das Fehlen der mentiones Abrahae das Augenmerk auf einen weitaus umfangreicheren und theologisch sehr bedeutsamen Briefteil, in dem sich alle weiteren mentiones Abrahae innerhalb des kanonischen Römerbrief‐ textes ( 14 Rm) finden, nämlich 14 Rm 4. Das ganze Kapitel stellt einen semantisch zusammenhängenden Textabschnitt dar. Dieser theologisch sehr gewichtige Abschnitt war also zweifellos nicht in Tertullians Exemplar des marcionitischen Apostolos vorhanden. Alle bisher getätigten Rekonstruktionsversuche des 91 4.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 4 9 Diese Deutung findet sich auch in der Textrekonstruktion Schmids, der konstatiert: „Wenn wir die Tertulliansche Nachricht von der Streichung der mentiones Abrahae im Gal konsequent auf alle Paulusbriefe übertragen, dann legt es sich nahe, auch die Aus‐ lassung von Röm 4 für den marcionitischen Text anzunehmen.“ (U. S C H M I D , Marcion, S. 250). Ähnlich S. 244: „Nehmen wir an, unter Berufung auf Tertullians Bemerkung, Marcion habe im Gal alle mentiones Abrahae bis auf 4,22 entfernt, im marcionitischen Text hätte auch im Röm das ganze vierte Kapitel (Abrahamkapitel) gefehlt.“ Ebenso zuletzt auch K L I N G H A R D T , Abraham, S. 227. 10 Dissens zwischen Harnack und Schmid besteht allein in der Frage, ob bereits die letzten Verse des vorangegangenen dritten Kapitels gefehlt haben. Tertullian referiert hier (Tert. Adv. Marc. 5,13,9) zwar über Rm 3,21f und kurz darauf sogleich über Rm 5,1f, allerdings erlaubt seine Bezeugung kein sicheres Urteil über den genauen Wortlaut bzw. ein mögliches Fehlen der letzten Verse des 3. Kapitels. 11 H A R N A C K , Marcion, S. 349* sowie daran anknüpfend auch B E D U H N , The First New Tes‐ tament, S. 41. 12 AA XLV: Abraham habet gloriam, sed non apud deum; Text B E E S O N GCS. 13 H A R N A C K , Marcion, S. 350*. 14 B E D U H N , The First New Testament, S. 247. Apostolos (von Adolf von H A R NA C K bis hin zu Ulrich S C HMID ) 9 sind sich in diesem Urteil 10 einig. Einzige Ausnahme bildet Jason B E D U HN , der allerdings hierfür eine Quelle heranzieht, die einer kritischen Prüfung des Quellenwerts für die Rekonstruk‐ tion des marcionitischen Apostolos nicht standhält. Es handelt sich dabei um die Acta Archelai (AA) des Hegemonius - ein Text aus dem 4. Jahrhundert, der in seiner Struktur stark an den Dialog des Adamantius erinnert. Allerdings richtet sich der Text nicht gegen Marcioniten (Marcion selbst wird in gesamten Werk nur zwei Mal peripher erwähnt), sondern gegen die Manichäer bzw. die Lehre Manis. Darin enthalten sind Antithesen Manis, in welchen bereits H A R NA C K marcionitischen Ursprung erkannt haben will. 11 Zieht H A R NA C K die Acta Archelai noch heran, um den Inhalt der Antithesen des Marcion zu rekon‐ struieren, erweitert B E D U HN das Gewicht der ohnehin schon fragwürdigen Quelle, indem er in den Kapiteln 44 und 45 der AA nun sogar marcionitischen Bibeltext herausfiltern will. Für die auf Abraham rekurrierende Stelle aus dem Römerbrief 12 bemerkt H A R NA C K auch, dass „bei M. [scil. im Apostolos] dieser Vers wahrscheinlich nicht [stand].“ 13 B E D U HN dagegen zieht die genannte Wen‐ dung für seine Textrekonstruktion des Apostolos heran und identifiziert damit eine Variante für Rm 4,2 des marcionitischen Römerbriefes. 14 Dieses Vorgehen muss jedoch klar zurückgewiesen werden, da grundsätzlich keinerlei stichhal‐ tige Hinweise erkennbar sind, dass in der (fiktiven) Disputation mit Mani tat‐ sächlich Zitate aus der Bibel Marcions verwendet wurden (bzw. dass die Mani‐ chäer selbige verwendeten). H A R NA C K s Annahme, dass der Manichäismus 92 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 15 Vgl. H A R N A C K , Marcion, S. 350*. 16 U. S C H M I D , Marcion, S. 255. Die Formulierung macht die implizit vorausgesetzte me‐ thodische Grundannahme Schmids deutlich: Trotz aller Zurückhaltung folgt er letztlich doch dem von Tertullian und Harnack gezeichneten Marcionbild. So versteht er Mar‐ cion grundsätzlich weiterhin als Textfälscher und führt v. a. die umfangreichen Diffe‐ renzen zwischen dem durch Marcion bezeugten und dem kanonischen Paulustext auf redaktionelle Eingriffe Marcions zurück, solange keine anderen Gründe sichtbar werden, die Marcion vom Fälschungsvorwurf entlasten. Juristisch gesprochen gilt für Schmid also grundsätzlich nicht die Unschulds-, sondern die Schuldvermutung. 17 Das methodische Kriterium der anderweitigen Bezeugung (attestation elsewhere; vgl. S. 37f) führt also hier nicht zu einem Ausschluss des Textabschnittes aus der Kategorie der marcionitischen Singulärlesarten. hauptsächlich mit marcionitischen Argumenten operierte, 15 rechtfertigt nicht, die AA als Quelle zur Rekonstruktion des Apostolos heranzuziehen, denn selbst wenn es sich tatsächlich um marcionitisches Gedankengut handelte, welchen sich Hegemonius hier bedient, so ist damit auf keinen Fall gewährleistet, dass er dabei auch Auszüge aus dem marcionitischen Bibeltext verwendet. Es ist also unbedingt weiterhin davon auszugehen, dass das gesamte Kapitel in Marcions Text gefehlt hat. Wie aber kommt es zu einer solch umfangreichen Textdifferenz? Anders als bei den Schlusskapiteln des Briefes erscheint die Op‐ tion eines mechanischen Blattausfalls an dieser Stelle, d. h. in der „Mitte“ des Textes, hochgradig unwahrscheinlich. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass hier ein redaktioneller Eingriff erfolgte. Es legen sich nun zwei Möglich‐ keiten nahe: entweder wurde der entsprechende Abschnitt in Gänze gestrichen oder aber komplett ergänzt und zum eigentlichen Textbestand erst nachträglich hinzugefügt. Dass die letztere Option weitaus plausibler gegenüber der An‐ nahme einer tendenziösen Streichung Marcions ist, wird in der Folge ausführlich dargelegt. In den bisherigen Textrekonstruktionen des marcionitischen Römerbriefes ist das Urteil in dieser Frage dagegen nahezu ausnahmslos anderslautend: Ganz der Sichtweise Tertullians folgend, der Marcion in diesem Zusammenhang pole‐ misch als Dieb tituliert (Tert. Adv. Marc. 5,4,8), spricht z. B. S C HMID hier von einer „Ausmerzung“ und konstatiert: „es gibt keinen Grund dafür, anzunehmen, Mar‐ cion sei nicht der Urheber dieser Textänderung.“ 16 Dass S C HMID hier keinen Grund sieht, von Marcion als Urheber abzusehen, liegt wohl v. a. darin be‐ gründet, dass das Fehlen des Abrahamkapitels bisher als alleiniges Phänomen des marcionitischen Textes wahrgenommen wurde. Denn alle bisher bekannten Manuskripte des Römerbriefes enthalten den fraglichen Textabschnitt. 17 Die vorliegende Arbeit wird allerdings deutlich machen, dass das Fehlen des strittigen Abschnitts entgegen aller bisherigen Untersuchungen sehr wohl 93 4.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 4 18 Die Bedeutung der Kapitellisten für die Erforschung der Textgeschichte des Römer‐ briefschlusses wurde bereits von W E T T S T E I N , Ἡ Καινὴ Διαθήκη, S. 91 gesehen; vgl. dazu ausführlich S. 150. 19 Ausführlich dazu das gesamte Kap. 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f. 20 Die in die Übersetzung eingearbeiteten Versangaben zeigen diejenigen Stellen im Rö‐ merbrief an, auf die sich die Capitula hier wörtlich bzw. inhaltlich beziehen. Es handelt sich also nicht um die Stellen, an denen die entsprechende Sektionszahl im Bezugstext eingefügt ist; vgl. dazu Kap. 3.2.1. Anm. 42. Spuren innerhalb der handschriftlichen Überlieferung der Paulusbriefe hinter‐ lassen hat. Diese werden jedoch erst dann sichtbar, wenn man die methodische Beschränkung auf die griechischen Handschriften aufgibt und stattdessen den Fokus der Untersuchung auf die paratextuellen Elemente der lateinischen Text‐ tradition erweitert. 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 4.2.1. Die Capitula Amiatina und Rm 4 Innerhalb der Überlegungen zum Abrahamkapitel spielen die Capitula Amiatina (KA A) eine ganz entscheidende Rolle. Dies mag überraschend anmuten, rückte das besagte Kapitelverzeichnis bisher fast ausnahmslos nur hinsichtlich seiner Bedeutung für die strittige Frage nach dem Römerbriefschluss in den Fokus der textgeschichtlichen Untersuchungen. 18 Denn wie bereits oft gesehen wurde, machen die letzten beiden Sektionen der Reihe deutlich, dass die KA Rm A auf eine Version des Römerbriefes zurückgehen, welche die letzten beiden Briefka‐ pitel nicht zu kennen scheint. 19 Darüber hinaus weist das Kapitelverzeichnis allerdings noch eine weitere, textgeschichtlich kaum minder bedeutsame Besonderheit auf, die bis heute überraschenderweise gänzlich übersehen wurde. Hierfür ist der Blick auf die Sektionen zehn und elf der Kapitelreihe zu richten. Der entsprechende Text lautet wie folgt: 20 Über die Rechtfertigung des Menschen durch Glauben ohne Werke (3,28). De iustificatione hominis per fidem sine operibus. Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2) und in gleicher Weise das Rühmen der Bedrängnis (5,3). De gloriatione spei gloriae dei pariter gloriatione tribulationis. KA Rm A (Sektionen X und XI) 94 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 21 Codex Amiatinus (Vg A), Biblioteca Medicea Laurenziana, Amiat. 1, f. 940r; 940v; 941r (http: / / mss.bmlonline.it/ s.aspx? Id=AWOS3h2-I1A4r7GxMdaR&c=Biblia%20Sacra#/ oro / 1878). Das zehnte Capitulum rekurriert klar auf Rm 3,28, denn hier ist resümierend formuliert: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Dagegen greift das folgende, elfte Capitulum Rm 5,2f auf, wo es heißt, „wir […] rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird“ (Rm 5,2) sowie „wir rühmen uns auch der Bedrängnisse“ (Rm 5,3). Die dazwischen liegenden 29 Verse (Rm 3,29 - Rm 5,1) werden komplett übergangen. Betrachtet man die marginal in den Be‐ zugstext eingefügten Sektionszahlen, findet sich X am Rande von Rm 3,27 (Abb. 4), anschließend folgt eine ganze Seite ohne Sektionszahlen (Abb. 5), während XI dann erst wieder bei Rm 5,1 auftaucht (Abb. 6). 21 Abb. 4: Codex Amiatinus (A) → Sektionszahl X bei Rm 3,27 95 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 Abb. 5: Codex Amiatinus (A) → Rm 3,28b-4,19 (ohne jegliche Sektionszahlen) 96 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel Abb. 6: Codex Amiatinus (A) → Sektionszahl XI bei Rm 5,1 97 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 22 Vgl. Kap. 3.2.1. Die Capitula Amiatina. 23 KA Rm A Cap. VII: De his iudicibus qui mala quae alios prohibuerint ipsi committunt et patientia dei ad paenitentiam revocante et poenis mala operantium et gloria operan‐ tium bonitatem et quod non prosit circumcisio transgredientibus legem nec obsit prae‐ putium gentibus naturaliter deum summum colentibus et custodientibus aequitatem. | Über diese Richter, welche die Untaten, die sie anderen verboten haben, selbst ver‐ üben (2,1) und über die Geduld Gottes, die zur Umkehr ruft (2,4) und über die Be‐ strafung derjenigen, welche in schlechter Weise mit der Güte umgehen (2,5) und dass die Beschneidung nichts nützt bei der Übertretung des Gesetzes (2,25) und die Vorhaut den Heiden, die in natürlicher Weise den höchsten Gott ehren und Gleichmut wahren, nicht schaden möge. Wie bereits zuvor ausführlich dargelegt, 22 ist das amiatinische Kapitelver‐ zeichnis formal in 51 Sektionen unterteilt. Eine vergleichbar umfangreiche Lücke zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sektionszahlen innerhalb des Be‐ zugstextes der Capitula Amiatina tritt ansonsten nur noch zwischen VI und VII auf. Die besagten Sektionszahlen finden sich marginal bei Rm 2,1 (VI) und Rm 3,1 (VII). Es scheint also auch hier ein besonders umfangreiches Intervall zu sein. Liest man allerdings den Text der betreffenden Capitula, so wird klar, dass das umfangreiche VI. Capitulum eben nicht allein auf Rm 2,1 verweist (also allein auf die Stelle, an der die Sektionszahl im Bezugstext vermerkt ist), sondern eindeutig auch auf Rm 2,5 und Rm 2,25 anspielt. 23 Als Intervallgröße wurde (technisch bedingt) in diesem Fall aber die Anzahl der Wörter von Rm 2,1 bis 2,29 (denn auf Rm 3,1 spielt die folgende Sektion an) erfasst. Diese beträgt 412 Wörter. Eigentlich wäre das Intervall aber um einiges kleiner, denn das VI. Capitulum rekurriert ja eben nicht nur auf V. 1, sondern auch auf V. 4 f und V. 25. In diesem besonderen Fall täuscht die hohe Säule im folgenden Diagramm also - tatsächlich ist die „Lücke“ hier kleiner, als es die Intervall‐ größe von Sektion VI auf den ersten Blick nahe legt. Für Sektion X gibt es aber keinen Zweifel - die Intervallgröße ist eindeutig bestimmbar und ist ohne Wenn und Aber die höchste der gesamten Kapitelliste. Das nachfolgende Diagramm 7 verdeutlicht diese Sonderstellung des X. Capitulum (dunkel ge‐ färbt) eindrucksvoll: 98 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 24 Abgesehen von dem in Kap. 6.2. noch ausführlicher zu beschreibenden Phänomen am Ende der Capitula Amiatina. 25 Der im ursprünglichen Bezugstext der KA Rm A sicher fehlende Abschnitt Rm 15,1- 16,24 ist hier bereits herausgerechnet. 1 2 3 4 5 6 7 8 9101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051xx 0 100 200 300 400 500 Capitula Amiatina (KA Rm A) Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 7: KA Rm A - Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Es stellt sich die Frage, wie es dazu kommen kann, dass ein Intervall zwischen zwei Sektionszahlen so ungewöhnlich lang ist? Die Annahme, dass der Verfasser der Kapitelliste einen solch umfangreichen Abschnitt des Bezugstextes (Rm 3,29-5,1) absichtlich in nur einer Sektion zusammenfasst, ist für die Capitula Amiatina gänzlich analogielos 24 und daher äußerst unplausibel. Freilich könnte man unter Umständen argumentieren, dass das X. Capitulum recht allgemein formuliert ist und thematisch in gewisser Weise das komplette Abrahamkapitel zusammenfasst. Dem ist allerdings zweierlei entgegenzusetzen: 1. Wie bereits zuvor erwähnt, ist es ein absolut singuläres Phänomen in‐ nerhalb der KA Rm A, einen solch umfangreichen Textabschnitt kom‐ mentarlos zu übergehen. Die KA Rm A umfassen insgesamt 51 Sektionen, sie fassen den Bezugstext also sehr detailliert und kleinschrittig zu‐ sammen. Hält man sich vor Augen, dass sich die 51 Sektionen der amia‐ tinischen Kapitelreihe zum Römerbrief auf insgesamt 376 Verse des Be‐ zugstextes verteilen, 25 beschreibt eine Sektion durchschnittlich etwas 99 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 26 An anderer Stelle werden die Capitula Fuldensia auch als KA Rm Ant bezeichnet (Ant steht dabei für antipelagianisch; vgl. F R E D E , Epistulae ad Thessalonicenses, S. 122f). mehr als sieben (! ) Verse. Somit wird die Ausnahmestellung des 29 Verse umfassenden Textintervalls zwischen dem X. und XI. Capitulum deutlich. Noch eindrücklicher zeigt sie die Besonderheit, wenn man die tatsäch‐ liche Wortanzahl betrachtet. So beträgt die mittlere Intervallgröße (lt. Vulgatatext) etwa 111. D.h. das Textintervall, das zwischen zwei aufeinanderfolgenden Capitula liegt, umfasst für die KA Rm A durchschnittlich 111 Wörter. Zwischen den Capitula X und XI bleibt allerdings eine Text‐ menge von 432 (! ) Wörtern unberührt. Die genannten Werte bestätigen die Besonderheit des X. Capitulum eindrucksvoll. 2. Betrachtet man die anderen bisher bekannten lateinischen Kapitelver‐ zeichnisse für den Römerbrief, so wird schnell deutlich, wie ein Capitulum aussehen kann, das tatsächlich auf Rm 4 Bezug nimmt. Exemplarisch ist hier auf Capitulum VIII der Capitula Fuldensia (KA Rm F) 26 zu verweisen. Der Text lautet wie folgt: Dass der selige Abraham, bevor er die Vorschrift der Beschneidung annahm, hin‐ sichtlich des Glaubens gerechtfertigt worden ist (4,11) und dass dies nicht gemäß der Abstammung des Fleisches, sondern gemäß der Einigkeit im Glauben geschehen ist. Er war der Vater aller Völker (4,17), weil in Abrahams Samen, welcher Christus ist, der künftige Segen sein würde. Quod beatus abraham priusquam praeceptum circumsionis acciperet fidem iustificatus sit et non secundum carnis propaginem sed secundum fidei unitatem factus sit. Omnium gentium pater quia in abrahae semine quod est christus erat futura benedictio. KA Rm F (Sektion VIII) In der Kapitelliste der Alkuinbibel (KA Rm B) heißt es dagegen in Sektion VIII: Über die Vorhaut, die Beschneidung und das Zeichen für den Glauben (4,11), und darüber, dass Abraham der Vater vieler Völker ist (4,17). De praeputium [sic! ] et circumcisio et signaculum fidei et quod abraham pater sit mul‐ tarum gentium. KA Rm B (Sektion VIII) Man kann also unschwer zeigen, dass es innerhalb der meisten bekannten Ka‐ pitelverzeichnisse üblich ist, auf Rm 4 (insbesondere durch einen Verweis auf Abraham) einzugehen. Ein Fehlen stellt also tatsächlich eine Ausnahme dar. Die Annahme, dass eine (oder mehrere) Sektion(en) der Kapitelliste nachträglich weggelassen wurden, ist hier also absolut unwahrscheinlich. Die plausibelste Erklärung des beschriebenen Befundes lautet demnach: Im ursprünglichen Be‐ zugstext der Capitula Amiatina fehlte zwischen Rm 3,28 und 5,2 ein umfang‐ 100 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 27 Die Annahme, dass hier eine oder mehrere Sektionen der Kapitelliste sekundär entfernt wurden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. 28 Vgl. schon S. 51ff. 29 Ausführlich s. Kap. 3.2.3. Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg. reicher Textteil. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um das gesamte Abrahamkapitel. 27 Die Ursache dieser beschriebenen Besonderheit im Codex Amiatinus ist im Abschreibeprozess zu suchen: Ein Schreiber kopiert einen herkömmlichen Kodex der Paulusbriefe. Vor jeden Brief will er ein Kapitelverzeichnis setzen. Dieses fertigt er allerdings nicht selbst an, sondern übernimmt es aus einer an‐ deren, ihm zugänglichen Paulusbriefhandschrift. Diese Handschrift, die als Vor‐ lage für das Kapitelverzeichnis dient, bzw. dessen ursprünglicher Bezugstext, kannte allerdings 14 Rm 4 nicht, bezeugt den Römerbrief also in einer kürzeren Version. Dies fällt dem arglosen Schreiber offensichtlich nicht auf, da er auf den Bezugstext gar nicht achtet, sondern nur die vorab gesetzten Capitula über‐ nimmt. An diesem Beispiel wird ein weiteres mal deutlich, dass die paratextu‐ ellen Elemente des Codex Amiatinus nicht mit dem tatsächlichen Bezugstext konvergieren müssen. 28 Folglich ist es unabdingbar, die Kapitellisten erstens unabhängig von ihrem Bezugstext auszuwerten und sie zweitens als textkriti‐ sche Zeugnisse ernstzunehmen. 4.2.2. Die Capitula Regalia und Rm 4 Neben den Capitula Amiatina weist auch der Text der Capitula Regalia auf selbiges Phänomen hin. Die für die Frage nach dem Abrahamkapitel relevanten Sektionen tragen hier die Nummern VII und VIII. Der entsprechende Text lautet wie folgt: Über die Rechtfertigung des Menschen durch Glauben (3,28). De iustificatione hominis per fidem. Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2). De gloriatione spei gloriae dei. KA Rm Reg (Sektion VII und VIII) Die beiden Sektionen der KA Rm Reg fassen hier die jeweiligen Abschnitte des Bezugstextes kürzer zusammen, als dies in den entsprechenden Capitula X und XI der KA Rm A geschieht. Der Wortlaut unterscheidet sich ansonsten allerdings nicht. Beide Kapitellisten scheinen also in einem literarischen Abhängigkeitsver‐ hältnis zu stehen. 29 Bemerkenswert erscheint darüber hinaus die Stellung der Sek‐ 101 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 30 Codex Regalis, The British Library, Royal MS 1 E VIII, Ausschnitt aus f. 176v, © British Library Board (http: / / www.bl.uk/ manuscripts/ Viewer.aspx? ref=royal_ms_1_e_viii_f176 v). 31 Hier allerdings passt die Stellung der Sektionszahl zum Text des entsprechenden Capi‐ tulum. Zum Phänomen der Inkongruenz zwischen dem Text des Capitulum und dem Ort der entsprechenden Sektionszahl im Bezugstext vgl. Kap. 3.2.2. Die Capitula Regalia (v. a. S. 59). tionszahl VIII im Bezugstext der KA Rm Reg. Diese findet sich nämlich am Rand von Rm 4,9, obwohl das Capitulum eindeutig auf Rm 5,2 rekurriert (Abb. 7). 30 Abb. 7: Codex Regalis → Sektionszahlen VII (bei Rm 3,27) und VIII (fälschlicherweise bei Rm 4,9) Erstaunlich ist, dass es sich um genau dieselbe Position handelt, in der die Sekti‐ onszahl VIII auch im Römerbrieftext der Alkuin-Bibel erscheint (obwohl das Ka‐ pitelverzeichnis der Alkuin-Bibel KA Rm B einen ganz anderen Text als die KA Rm Reg bietet). 31 Das Phänomen, dass die Sektionszahl an einer ganz anderen Stelle im Bezugstext auftaucht, als dies der eigentliche Wortlaut des Capitulum nahelegt, belegt eindrucksvoll, dass die Kapitelreihen und der tatsächliche Text des 102 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel Briefes, vor dem sie in den Kodizes auftauchen, unabhängig voneinander ent‐ standen sind und folglich auf ganz unterschiedliche Vorlagen zurückgehen können. Festzuhalten bleibt folglich zweierlei: Die KA Rm Reg bestätigen für das Abraham‐ kapitel (Rm 4) den Befund, der sich bereits aus den KA Rm A ergeben hat. Beide Kapitelreihen bezeugen eine Handschrift des Römerbriefes, die das Abrahamka‐ pitel nicht beinhaltete. Die Evidenz ist im Vergleich zum Befund der KA Rm A allerdings schwächer einzustufen, da die KA Rm Reg ja insgesamt deutlich we‐ niger Sektionen aufweisen (nämlich nur 29 im Vergleich zu den 51 der KA Rm A). Das Ausbleiben jeglicher Anspielungen auf Rm 4 wiegt also weniger schwer (da ja auch andere, ähnlich umfangreiche Textintervalle ausgespart bleiben). Dennoch beträgt der Quotient aus der Gesamtzahl der Verse und der Anzahl der einzelnen Capitula knapp 13 - eine Sektion beschreibt also durchschnittlich etwa 13 Verse Text. An der untersuchten Stelle dagegen sind es - wie bereits erwähnt - 29 Verse, die zwischen den beiden Capitula VII und VIII unerwähnt bleiben. Noch deutli‐ cher sichtbar wird die Besonderheit, wenn man sich die tatsächliche Wortanzahl vor Augen hält: So umfasst die mittlere Wortanzahl pro Intervall für die KA Rm Reg 210 Wörter. Für Sektion VII (dunkel gefärbt) beträgt die Intervallgröße aller‐ dings 432 Wörter! Dies ist im folgenden Diagramm 8 sichtbar: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 xx 0 100 200 300 400 500 Capitula Regalia (KA Rm Reg) Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 8: KA Rm Reg - Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Darüber hinaus wurde anhand der unpassenden Positionierung der Sektions‐ zahlen deutlich, dass Kapitelverzeichnis und Bezugstext grundsätzlich auf un‐ 103 4.2. Der paratextuelle Befund für Rm 4 32 Vgl. Kap. 2.2. (v. a. S. 37f). terschiedliche Vorlagen zurückgehen können. Daraus folgt, dass die Kapitel‐ reihen nicht nur als Beschreibung einer bereits vorhandenen Handschrift, sondern sogar als unabhängige Bezeugung angesehen werden müssen. Text‐ kritisch sind sie daher unbedingt separat auszuwerten, insofern die Unabhän‐ gigkeit (durch außergewöhnliche Intervallgrößen oder falsche Positionierung der Sektionszahlen im Bezugstext) nachgewiesen ist. Fazit: Die Untersuchung der beiden Kapitellisten hat überaus Erstaunliches of‐ fenbart. Diejenigen Erkenntnisse, die für den Fortgang der weiteren Arbeit von Wichtigkeit sind, sollen nun festgehalten werden: 1. Anhand der Analyse der KA Rm A und der KA Rm Reg wurde deutlich, dass die beiden Kapitelverzeichnisse als metatextuelle Belege einer Text‐ fassung des Römerbriefes verstanden werden müssen, in dem das Abra‐ hamkapitel vollständig fehlte. Dieser Befund korrespondiert mit Tertul‐ lians Bezeugung des marcionitischen Textes, d. h. des Textes des Römerbriefes innerhalb der 10-Briefe-Sammlung ( 10 Rm). Das Fehlen von Rm 4 lässt sich also nicht mehr nur als spezifisches Phänomen des durch Tertullian für Marcion bezeugten Römerbriefes begreifen. Tatsächlich hat es also auch in ganz anderen Zweigen der handschriftlichen Überliefe‐ rung des Corpus Paulinum signifikante Spuren hinterlassen. Somit wird deutlich, dass die Gleichsetzung des marcionitischen Apostolos mit der 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe methodisch legitim, ja sogar not‐ wendig ist. 2. Diese Tatsache erschüttert das weitgehend einvernehmliche Urteil in den bisherigen Rekonstruktionen des von Marcion verwendeten Textes, in denen das Fehlen der mentiones Abrahae auf die von Tertullian behauptete Streichungspraxis Marcions zurückgeführt wird. Nach dem Kriterium der anderweitigen Bezeugung (attestation elsewhere) darf diese textliche Be‐ sonderheit nun nicht mehr als exklusiv marcionitisch verstanden werden. 32 Die von Z AHN und H A R NA C K vertretene Streichungshypothese muss vor diesem Hintergrund als unwahrscheinlich eingeschätzt werden. Denn die Annahme, dass das Fehlen eines solch umfangreichen Ab‐ schnitts tatsächlich auf das Konto des Erzketzers geht, gleichzeitig aber noch Jahrhunderte später in zahlreichen lateinischen Kodizes des Neuen Testaments auftaucht, mutet doch sehr unplausibel an. 104 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 33 Der inhaltliche Zusammenhang in 10 Rm ist auch ohne das Abrahamkapitel gegeben. Der Anschluss von Rm 5 an Rm 3 wirkt sehr glatt. Der verbleibende Text weist fraglos eine hohe Kohärenz auf. 34 Als methodisches Gegenbeispiel ist Rm 2 anzusehen. Hier (bei Sektion VI der KA Rm A) fällt im Diagramm die zweithöchste Intervallgröße der Kapitelliste ins Auge. Ergibt sich also auch hier der Verdacht einer redaktionellen Ergänzung? Zwei Gründe sprechen da‐ gegen: Erstens wurde bereits zuvor erwähnt, dass das betreffende Intervall gar nicht so übermäßig groß ist, wie es auf den ersten Blick erscheint (vgl. S. 98). Zweitens und nach meiner Ansicht schwerwiegender als der der paratextuelle Befund, ist die häresiologi‐ sche Bezeugung. Tatsächlich handelt es sich in dem entsprechenden Abschnitt nämlich um einen Text, der bereits für 10 Rm durch die Häresiologen bezeugt ist. Tertullian be‐ zeugt die Verse 2,12.14.16 und Epiphanius zitiert 2,13 aus Marcions Apostolos (vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. I/ 331f). Die dahinterliegende (methodische) Frage lautet: genügt es, aufgrund einer ungewöhnlich hohen Intervallgröße in einer Kapitelliste, aber entgegen der häresiologischen Bezeugung, einen kürzeren Bezugstext und damit eine redaktio‐ nelle Hinzufügung anzunehmen? Man müsste dann ja postulieren, dass Tertullian und Epiphanius einen Text der 10-Briefe-Sammlung vorliegen hatten, der bereits Ergän‐ zungen erfahren hat. Somit müsste man folglich annehmen, dass es Zwischenstufen zwi‐ schen 10- und 14-Briefesammlung gab. Das ist zwar grundsätzlich vorstellbar, aber die Argumente dafür sind für mich nicht ausreichend. M.E. hat der paratextuelle Befund genau dann hohes argumentatives Gewicht, insofern er mit der häresiologischen Bezeu‐ gung korreliert. Dies ist im dargelegten Beispiel aber nicht der Fall. 3. Wenn der Abschnitt nicht durch Marcion gestrichen wurde, dann muss es sich also um eine redaktionelle Ergänzung handeln. 33 Sehr wahrschein‐ lich geschah diese Ergänzung im Zuge der Erweiterung der 10- Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung. Diese Schlussfolgerung er‐ gibt sich methodisch genau bei denjenigen Fällen, in denen die paratex‐ tuelle Zeugnis mit der häresiologischen Bezeugung konvergiert. Ist dies der Fall, so muss - wie für Rm 4 - von einer redaktionellen Ergänzung ausgegangen werden. 34 Daraus ergibt sich sogleich die Frage nach der argumentativen Funktion des Abrahamkapitels im Römerbrief bzw. ins‐ gesamt innerhalb der 14-Briefe-Sammlung. Es ist zu klären, wie sich die angenommene Interpolation ( 14 Rm 4) argumentativ in den Text von 10 Rm einfügt. 4.3. Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10 Rm Auf den ersten Blick wirft das Abrahamkapitel innerhalb des Kontextes in 14 Rm keinerlei literarkritische Probleme auf. Durch die Verwendung der für den Ar‐ gumentationszusammenhang zentralen Begriffe πίστις, πιστεύειν, δικαιοσύνη, 105 4.3. Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10 Rm 35 K L I N G H A R D T , Abraham, S. 248. 36 Vgl. exemplarisch W I L C K E N S , An die Römer, S. 257. 37 Vgl. dazu K L I N G H A R D T , Abraham, S. 249. ἔργα (νόμου), χωρὶς ἔργων ist eine enge lexematische Verknüpfung zwischen den Kapiteln 3 und 4 gegeben. 14 Rm 4 leitet also „keine überraschende [thema‐ tische] Wende“ 35 im Römerbrief ein. Schaut man allerdings genauer hin, so tritt doch Erstaunliches zutage. In der Kommentarliteratur wird Rm 4 zumeist als Schriftbeweis verstanden, der die These der Glaubensgerechtigkeit begründet. 36 Üblicherweise funktio‐ niert ein solcher Schriftbeweis, indem er eine zuvor aufgestellte These durch Schriftbelege begründet. Hier allerdings wird eine These aufgestellt, die bei ge‐ nauem Hinsehen durch das Abrahamkapitel gar nicht begründet wird. Der die These vorbereitende Gedankengang in Rm 3 stellt sich wie folgt dar: Durch die Werke des Gesetzes wird niemand vor Gott gerecht werden (3,20). Jetzt aber ist (unabhängig von den Werken des Gesetzes) die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden (3,21). Welche Gerechtigkeit? Die Gerechtigkeit Gottes aus der πίστις Ἰησοῦ, offenbart für alle, die glauben - ausdrücklich also Heiden und Juden (3,22). Die Kernthese lautet also: Die Gerechtigkeit Gottes kommt allein aus der πίστις Ἰησοῦ. Es handelt sich also um einen zentralen Topos der sog. Rechtfer‐ tigungslehre, der hier formuliert ist. Das Abrahamkapitel belegt diese These nun gerade nicht (wie es die gat‐ tungstypische Funktion eines Schriftbeweises wäre), sondern nimmt sie viel‐ mehr auf. So zeigt 14 Rm 4 nur auf, dass auch Abrahams starker Glaube das aus‐ schlaggebende Kriterium war („Er glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.“ 4,3), aufgrund dessen er schließlich Vater, sowohl der Juden, als auch der Heiden, wurde. Dies hat für die zuvor formulierte Kern‐ these allerdings keinerlei begründende Funktion. Der Rekurs auf Abraham er‐ folgt also nicht, um die Glaubensgerechtigkeit der Heiden, sondern um die Zu‐ verlässigkeit der Schrift zu erweisen. Gezeigt wird die Konformität von Abraham als Völkervater und der Schrift mit der zuvor entfalteten These der Gerechtigkeit aus Glauben. 37 14 Rm 4 fungiert also eher als eine Art Exkurs. Dies scheint dem Verfasser des Textabschnittes gegen Ende des Abrahamka‐ pitels auch selbst aufgefallen zu sein, indem er klarstellt, dass es ja eigentlich in erster Linie gar nicht um Abraham geht (4,23). Er kündigt also an, zum wirkli‐ chen argumentativen Nukleus zurückzukehren, nämlich der These, dass der Glaube an Gott und sein Heilshandeln in Jesus Christus „uns“, die wir als Glau‐ bende wie in Rm 4 beschrieben sind, zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Mit anderen Worten: Der Glaube (nicht die Beschneidung) macht „uns“ alle (Heiden und Juden) gerecht (4,24). Die christologische Klammer, die in 4,25 gesetzt wird, 106 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 38 K L I N G H A R D T , Abraham, S. 249 formuliert treffend: „[D]ie gnadenweise Rechtfertigung hat ihren Grund in der Erlösung durch Christus Jesus […], nicht aber im Glauben Abrahams. […] [D]er rechtfertigende Glaube in Rm *3 [scil. in 10 Rm 3] bleibt christolo‐ gisch bestimmt.“ 39 So formuliert z. B. U L R I C H S , Christusglaube, S. 206, dass die intendierte Analogie der Darstellungen in Rm 3 und Rm 4 „in einem solchen Maße unterschiedlich [ist], dass man fragen kann, ob es überhaupt eine Nötigung oder doch wenigstens eine Legitima‐ tion dafür gibt, πίστις Ἰησοῦ und πίστις Ἀβραάμ zu vergleichen.“ Ausführlich dazu auch K L I N G H A R D T , Abraham, S. 250f. 40 Zum besagten Unterschied zwischen ἔργα νόμου und ἔργα vgl. K L I N G H A R D T , Abraham, S. 252f, der mich dankenswerterweise auf diese Beobachtung aufmerksam gemacht hat. 41 Auch Rm 9,12 spricht allgemein von den Werken. Allerdings geschieht dies nicht im Kontext der Rechtfertigungsvorstellung. Auf die Textgestalt von 10 Rm 9-11 wird im folgenden Kapitel eingegangen. macht dies unmissverständlich deutlich. In den letzten drei Versen von Rm 4 wird also dem Leser in Erinnerung gerufen (um antizipierten Missdeutungen vorzubeugen), dass es in erster Linie ja gar nicht um den Glauben Abrahams geht. Denn nicht durch einen Glauben wie Abraham werden die Christen vor Gott gerecht, werden ihnen also die Sünden vergeben (3,25), sondern durch Jesus Christus werden sie erlöst. 38 Neben den eben beschriebenen, argumentationsanalytischen Schwierig‐ keiten wurden in der Forschung weitere Kohärenzstörungen, semantische Span‐ nungen und Inkongruenzen zwischen den Aussagen in Rm 3 und 14 Rm 4 ge‐ sehen. 39 Besonders bemerkenswert erscheinen im Kontext der vorliegenden Studie zwei Beobachtungen: 1. In Rm 3 entfaltet Paulus den für ihn zentralen erwählungstheologischen Unterschied zwischen dem Glauben und den Werken. Dabei fällt auf, dass diese Werke stets als Werke des Gesetzes (ἔργα νόμου) präzise spezifiziert werden. Andere Werke sind für Paulus in diesem Zusammenhang gar nicht relevant. Im Gegensatz dazu wird in 14 Rm 4 nun ganz allgemein von den Werken gesprochen. Das Lexem ἔργα wird nun also in unbestimmter Form verwendet (4,2a.4-6). 40 In derselben, allgemeinen Form ist von den Werken im Kontext der Rechtfertigungsvorstellung innerhalb des Rö‐ merbriefes interessanterweise nur noch in 9,31f und 11,5f die Rede. 41 Sollte es sich auch bei diesen Textstellen um redaktionelle Ergänzungen han‐ deln, so würde dies auf ein einheitliches redaktionelles Konzept hin‐ deuten. 2. Die Formulierungen, mit denen in 14 Rm 4,18-20 der Glaubensbegriff ent‐ faltet wird, sind innerhalb der 10-Briefe-Sammlung sonst nirgends zu lesen. In der 14-Briefe-Sammlung findet man dagegen sehr wohl ein sol‐ 107 4.3. Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10 Rm 42 Ähnlich bereits K L I N G H A R D T , Abraham, S. 251f. ches Verständnis, nämlich im Hebräerbrief (Hebr 11,1). So entwickelt 14 Rm 4,18-20 den Glaubensbegriff folgendermaßen: „Er hat geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war, dass er der Vater vieler Völker werde […]. Und er wurde nicht schwach im Glauben, als er auf seinen eigenen Leib sah, der schon erstorben war, weil er fast hundertjährig war, und auf den erstorbenen Leib der Sara. Denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre.“ Ganz ähnlich erklärt Hebr 11,1: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Wie in Rm 4 wird auch hier der Glauben mit Hoffnung, Nichtzweifeln und festem Vertrauen gleichgesetzt. Darüber hinaus sind noch weitere sachliche Analogien zwischen Rm 4 und Hebr 11 auszuma‐ chen. So wird in beiden Texten Abrahams Glaube an die Verheißung von Nachkommen trotz seines bereits erstorbenen (d. h. zeugungsunfähigen) Leibes betont (vgl. Rm 4,19 sowie Hebr 11,12). Weiterhin ist der Glaube inhaltlich qualifiziert als Glaube an einen Gott, der Totes lebendig macht (vgl. Rm 4,17 sowie Hebr 11,19). 42 Damit ist ernsthaft zu erwägen, dass beide Texte aus derselben redaktionellen Schicht stammen. Beide könnten im Zuge der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Samm‐ lung entstanden sein. Festzuhalten bleibt: 14 Rm 4 fungiert nicht als Begründung der zuvor entwickelten These der Rechtfertigung aus dem Glauben (an) Jesus Christus, son‐ dern als Wahrheitsbeweis für die Schrift (d. h. des Alten Testaments). Die Ein‐ bettung des Abrahamkapitels in den argumentativen Kontext des Römerbriefes wirkt aufgezwungen. Die darin entfalteten Topoi tauchen in den Texten der 10-Briefe-Sammlung an keiner anderen Stelle auf. Stattdessen zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zum pseudepigraphen Hebräerbrief. Diese Beobachtung ist daher wichtig, da sie Hinweise auf das übergreifende redaktionelle Konzept der angenommenen Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung liefert. 108 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 43 Dieser Gedanke wird v. a. in Rm 4,11f expliziert und später in Rm 15,5-12 wieder auf‐ genommen - interessanterweise eine Stelle, die in 10 Rm auch nicht vorhanden war; vgl. dazu auch F E E , Abraham’s True Children, S. 133 Anm. 14. 44 Zur Bedeutung der Abrahamfigur formuliert A D A M S , Abraham’s Faith, S. 49: „[I]n con‐ temporary Judaism the patriarch [scil. Abraham] was viewed as the model of faithful‐ ness and obedience to God.“ Lt. K L E I N , Heil und Geschichte, S. 44 kommt Abraham eine Art Vorbildfunktion zu. An ihm lässt sich verdeutlichen, was für jeden Gläubigen gilt. Die Abrahamfigur spielte also im zeitgenössischen Judentum eine zentrale Rolle, derer sich die christlichen Autoren annahmen und sie in ihre Texte integrierten. Vgl. dazu exemplarisch die Studie von C A L V E R T , Abraham Traditions. Zum Abrahambild im an‐ tiken Judentum vgl. K O L L M A N N , Verheißung, S. 54ff. 45 Im Barnabasbrief wird die gesamte jüdische Heilsgeschichte als überholt herunterge‐ spielt, so dass man eigentlich entweder nur Jude oder Christ sein kann. Die Christenheit wird als das „wahre Israel“ klassifiziert, während Israel endgültig das „verworfene Volk“ repräsentiert. 4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen Die Bedeutung der Schrift und der jüdischen Wurzeln des Christentums Die vorangegangenen Ausführungen zeigten, dass es dem Verfasser von 14 Rm 4 insbesondere darum ging, die Zuverlässigkeit der Schrift, genau genommen der jüdischen Texttradition, zu erweisen. Gleichzeitig wird dem Leser klar gemacht, dass für Christen die Werke nicht heilsnotwendig sind, da ja Abrahams Verhei‐ ßung seiner Beschneidung voraus ging und ihm allein aufgrund seines Glau‐ bens, nicht aufgrund seiner Gesetzestreue zuteil wurde. Schließlich macht der Abschnitt deutlich, dass diese Gerechtigkeit aus Glauben sowohl den Juden als auch den Heiden gleichermaßen zugesprochen wird. 43 Durch die Interpolation des Abrahamkapitels wird also die Vorstellung einer Werkgerechtigkeit abge‐ lehnt, gleichzeitig aber eine heilsgeschichtliche Kontinuität mit den jüdischen Wurzeln (speziell auch eine Kontinuität der jüdischen Bibel und dem Neuen Testament des Christentums) etabliert. Die Abrahamfigur scheint für diese Zwecke gleichsam eine „Idealbesetzung“, denn Abraham kommt in diesem Zu‐ sammenhang eine Art Brückenfunktion zu: 44 14 Rm 4 stellt ihn gleichzeitig als den Vater der Beschnittenen ( Juden) als auch der Unbeschnittenen (Heiden) dar, und zwar auf der Grundlage des Glaubens, nicht der Beschneidung (Rm 4,12). Innerhalb der theologischen Konzepte des 2. Jahrhunderts bedeutet dies eine klare Abgrenzung gegenüber einer radikalen Substitutionstheologie, wie sie z. B. im Barnabasbrief sichtbar wird. 45 Weiterhin wird eine offensichtliche Gegen‐ 109 4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen 46 Iust. Mart. Dial., S. 12f (Vorwort von G R E S C H A T / T I L L Y ). 47 Codex Vaticanus (B 02), Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. gr. 1209, Ausschnitt p. 1445 (https: / / digi.vatlib.it/ view/ MSS_Vat.gr.1209), Unterstreichung AG. 48 Codex Boernerianus (G 012), SLUB Dresden, Mscr.Dresd.A.145.b, Ausschnitt f. 1v (https: / / digital.slub-dresden.de/ werkansicht/ dlf/ 2966/ 12/ ), Unterstreichung AG. front zu den theologischen Ansichten der Marcioniten aufgebaut, v. a. aber gegen deren Textkorpus, das bekanntlich ja ohne das AT auskommt. Ähnlichkeiten lassen sich dagegen mit dem bei Justin entfalteten Konzept ausmachen. In dessen Dialog mit dem Juden Tryphon (nach 155) wird eine Po‐ sition erkennbar, wonach sich Judenchristen sehr wohl dem jüdischen Gesetz gemäß verhalten können, dies jedoch nicht von anderen verlangen dürften 46 - eine recht tolerante Sichtweise, die allerdings nur in ausgewählten Kreisen des Christentums auf Anerkennung stieß. Unter der Voraussetzung, dass 14 Rm eine Bearbeitung von 10 Rm ist und dass Rm 4 im Rahmen dieser Bearbeitung ergänzt wurde, ist anzunehmen, dass sich das redaktionelle Interesse dieser Bearbeitung noch in weiteren Änderungen nie‐ dergeschlagen hat. Da die Kapitellisten belegen, dass HSS mit dem Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung noch länger in Umlauf waren (weil ihre Capitula rezi‐ piert wurden), kann man davon ausgehen, dass solche 10 Rm-HSS noch an an‐ derer Stelle Abweichungen von den kanonischen HSS aufweisen. Ein solches Beispiel findet sich im ersten Kapitel des Briefes (Rm 1,16). Hierin beschreibt Paulus das Evangelium als eine Kraft Gottes, die sowohl die Juden als auch die Griechen selig macht. In den meisten Handschriften wird diese Gleichstellung von Juden und Heiden mit einem verbleibenden Vorrang der Juden verbunden. Dies geschieht durch das Adverb zuerst (πρῶτον): „dem Juden zuerst aber ebenso dem Griechen“. Einige Manuskripte bieten an dieser Stelle allerdings eine andere Lesart - das Adverb πρῶτον (zuerst) findet sich bei ihnen nicht, namentlich der Codex Vaticanus (Abb. 8) 47 und der Codex Boernerianus (Abb. 9). 48 Abb. 8: Codex Vaticanus (B) - Rm 1,16 → „Ἰουδαίῳ τε καὶ Ἕλληνι“ 110 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 49 Tert. Adv. Marc. 5,13,2: Non enim me pudet evangelii; virtus enim Dei est in salutem omni credenti, Iudaeo et Graeco, quia iustitia Dei in eo revelatur ex fide in fidem […] | „Ich schäme mich nämlich des Evangeliums nicht; die Kraft Gottes dient nämlich jedem, der glaubt, zum Heil - dem Juden wie auch dem Griechen [Hervorhebung AG] -, denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart vom Glauben zum Glauben.“ (Übers. L U K A S ). 50 Vgl. Dazu die Ausführungen in Kap. 2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung zum methodischen Problem der redaktionellen Inkonsistenz (s. S. 33f). 51 So auch L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 203f: „Das πρῶτον in Rm 1,16; 2,9 findet sich im Rm der vorneutestamentlichen Zehnbriefesammlung nicht, gleichwohl ist es eine lo‐ gisch gut begründbare Ergänzung, weil es Paulus um den heilsgeschichtlichen Vorrang Abb. 9: Codex Boernerianus (G) - Rm 1,16 → „Ἰουδαίῳ τε καὶ Ἕλληνι“ Neben diesen gewichtigen griechischen Textzeugen ist das fehlende πρῶτον noch in der sahidischen Überlieferung und - nach einem Zitat Tertullians 49 - eben auch für Marcion (und damit also 10 Rm 1,16) bezeugt. Bisher wird das Fehlen des Adverbs durch die Annahme einer dogmatischen Korrektur Mar‐ cions erklärt. Problematisch an dieser Erklärung bleibt, a) warum und wie der marcionitische Paulustext hier die anderen Handschriften (B G sowie die sahi‐ dische Überlieferung) beeinflusst haben soll und b) falls eine antijudaistische Tendenz des Marcion ihn hier tatsächlich zu einer Streichung bewogen hat, warum eliminierte er an dieser Stelle die Erwähnung der Juden nicht gleich komplett, um so die Gleichstellung der Juden mit den Griechen in Gänze zu beseitigen? Dass er (die bisher verbreitete Ansicht vorausgesetzt, Marcion als Schriftfälscher zu verstehen) davor nicht zurückschreckte, liegt auf der Hand, denn die Streichung eines wesentlich umfangreicheren Textteils (Rm 4) wird Marcion ja (nach dem intendierten Verständnis der Häresiologen) auch zuge‐ traut. Seine redaktionelle Bearbeitung wäre in diesem Fall also absolut inkon‐ sequent verlaufen. 50 Entgegen der bisherigen Erklärung des beschriebenen Befundes, das fehlende Adverb als dogmatische Korrektur Marcions zu verstehen, liegt es aufgrund der inhaltlichen Kohärenz nahe, dass die für 10 Rm 1,16 bezeugte Lesart den Aus‐ gangspunkt der Überlieferung darstellt. Im Rahmen der Erweiterung dieser Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung wurde der vorliegende Text an vielen Stellen verändert, v. a. ergänzt. Auf diesem Wege ist auch das strittige Adverb in den Text eingefügt worden. 51 111 4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen Israels geht. Die Verwendung dieses Adverbs in der Apostelgeschichte in Act 3,26 und 13,46ab kann auch zur Eintragung des πρῶτον in Rm 1,16; 2,9 geführt haben.“ Dass die Variante auch in der griechischen Handschriftentradition (B G) sowie der sahidischen Überlieferung Einzug gehalten hat, erklärt sich anhand von Interferenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung. 52 Die Textänderungen des Laodizenerbriefes und die Ergänzungen im Römerbrief lassen sich am einfachsten auf der Ebene der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung verorten; vgl. F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes, S. 226f. 53 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 937. 54 K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, S. 939. Die besondere Betonung der jüdischen Wurzeln der christlichen Religion, v. a. der Kontinuität der christlichen Bibel mit der jüdischen Texttradition (AT → NT), zeigt sich sowohl in 14 Rm 4 als auch in 14 Rm 1,16. Auch für die redaktionelle Erweiterung des in der 10-Briefe-Sammlung bezeugten Laodizenerbriefes zum Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung konnte jüngst F L E MMIN G ähnliche inhalt‐ liche Schwerpunkte nachweisen. So ergab die Analyse der Textänderungen auch hier, dass die Verfasser gezielt an alttestamentliche Traditionen anknüpfen (Eph 2,20 bzw. 3,9) bzw. bereits vorhandene, alttestamentliche Zitate vervollständigen (Eph 5,21 bzw. 6,3). 52 Es deutet sich also an, dass ein redaktionelles Konzept existiert, das sich anhand der inhaltlichen Übereinstimmungen der sekundären Textabschnitte innerhalb des Römerbriefes und derjenigen Texte ergibt, die ge‐ rade nicht Teil der 10-Briefe-Sammlung, wohl aber der 14-Briefe-Sammlung sind (z. B. Hebr). Tatsächlich entfalten die interpolierten Passagen erst dann ihr volles Sinnpotential, wenn man die gesamte 14-Briefe-Ausgabe betrachtet. Folgerichtig ist zu fragen, ob sich dieses redaktionelle Konzept auch mit den‐ jenigen Schwerpunkten in Einklang bringen lässt, die K LIN G HA R D T für die re‐ daktionelle Erweiterung des von Marcion verwendeten Evangeliums zum neu‐ testamentlichen Lukasevangelium herausarbeiten konnte. Hier zeigte sich bzgl. der Abrahamfigur, dass auch die lukanischen Passagen, in denen das Konzept der Abrahamssohnschaft entfaltet wird, erst nachträglich in den Text des Evan‐ geliums eingefügt wurden. 53 Dieses Konzept wird besonders in Lk 3,8 deutlich. Hier gilt die Abrahamssohnschaft als „soteriologische Qualität, die nicht auf ethnischer Zugehörigkeit, sondern auf faktischer […] Gerechtigkeit beruht.“ 54 K LIN G HA R D T konnte feststellen, dass sich z. B. auch der interpolierte Halbvers Lk 19,9b, durch den Zachäus als filius Abrahae qualifiziert wird, wunderbar in das beschriebene redaktionelle Konzept einfügt. Die Zuspitzung des Abraham‐ themas auf die heilsgeschichtliche Einebnung von Juden und Heiden wurde also nicht nur innerhalb der redaktionellen Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung in die bestehenden Texte eingearbeitet, sondern auch durch die lukanische Redaktion, die das von Marcion verwendete Evangelium 112 IV. Rm 4 - Das fehlende Abrahamkapitel 55 T R O B I S C H , Endredaktion des Neuen Testaments. Trobischs These wurde zuletzt bestätigt und argumentativ untermauert durch H E I L M A N N , Editio Princeps. 56 K L I N G H A R D T , Abraham, S. 242. 57 Vgl. Kap. 4.3. Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10 Rm. 58 Dazu wäre zu überprüfen, ob bzw. in welcher Form Rm 9,31f und Rm 11,5f bereits für 10 Rm bezeugt sind. umfangreich erweiterte. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der These der Erstedition des Neuen Testaments von David T R O B I S C H interessant. 55 Denn diese Ausgabe betont bereits durch ihren Titel (Neues Testament), dass sie in Konti‐ nuität zu den alten, jüdischen Überlieferungen steht (also dem Alten Testament). K LIN G HA R DT formuliert in diesem Zusammenhang bezüglich der Abrahamfigur treffend: „In diesem Fall verdankt sich das Interesse an Abraham nicht den Gegnern des Paulus im 1. Jh., sondern dem Gestaltungswillen der Kanonischen Redaktion im 2. Jh. Worin dieser bestanden hat, lässt sich nur im Zusammenhang mit den anderen Ausführungen über Abraham in der Kanonischen Ausgabe [des Neuen Testaments] bestimmen, aber ein Aspekt wird sicherlich in der Schriftkonformität zu sehen sein: Die Aussagen über Abraham bieten eine Möglichkeit, die inhaltliche Kohärenz der einen Bibel aus Altem und Neuem Testament herauszustellen.“ 56 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich hinsichtlich der Abrahamfigur eine erstaunliche redaktionelle Kohärenz nachzeichnen lässt, die sowohl für die Be‐ arbeitung der 10-Briefe-Sammlung als auch des marcionitischen Evangeliums festzustellen ist. Ob sich diese redaktionelle Kohärenz im Rahmen des Römer‐ briefes auch für die zuvor aufgeworfene Frage 57 nach dem Verhältnis zwischen den Werken (ἔργα) und den Werken des Gesetzes (ἔργα νόμου) ergibt, soll - neben anderen Fragen - im nachfolgenden Kapitel geklärt werden. 58 113 4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen 1 Vgl. z. B. D O D D , To the Romans, S. 148f: „Chaps. IX-XI […] can be read quite satisfactorily without reference to the rest of the epistle. […] The epistle could be read without any gap, if these chapters were omitted.“ 2 So exemplarisch W I L C K E N S , An die Römer, S. 181, indem er auf eine Parallelisierung der Kapitel 9-11 mit den Kapiteln 6-8 verweist. Demnach stehe Rm 9-11 in einem deutli‐ chen Zusammenhang mit dem übrigen Briefkorpus und stelle folglich einen aus dem Kontext nicht herauslösbaren Textabschnitt dar. 3 So spricht L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 200 hinsichtlich der Bezeugung zu Recht von einer „großen Unbestimmtheit“. 4 Vgl. H A R N A C K , Marcion, S. 108* sowie U. S C H M I D , Marcion, S. 249. In seiner Textrekon‐ struktion im Anhang seines Buches urteilt Schmid dagegen vorsichtiger, dass es sich um größere Auslassungen handelt, deren tatsächlicher Umfang allerdings unklar ist; vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. I/ 333f. Etwas deutlicher wird Schmid in einem späteren Aufsatz, in dem er sich wie folgt äußert: „In essence, it is quite feasible to assume that V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ Der nächste relevante Textteil, in dem sich umfangreiche Differenzen zwischen den beiden Briefsammlungen auftun, ist Rm 9-11. Einige Exegeten sind der An‐ sicht, dass der Abschnitt, der sich thematisch mit der Erwählung Israels befasst, als eine Art Exkurs begriffen werden könnte. Der Römerbrief würde sich dem‐ nach problemlos ohne ihn lesen bzw. verstehen lassen. 1 Andere wiederum wi‐ dersprechen vehement. 2 In diesem Zusammenhang ist es unumgänglich, zu klären, wie der besagte Abschnitt in 10 Rm ausgesehen hat. Das methodische Vorgehen folgt dabei dem erprobten Schema: zunächst wird die häresiologische Bezeugung des Abschnitts für den von Marcion verwendeten Römerbrief un‐ tersucht. Anschließend erfolgt die genaue Analyse des paratextuellen Befundes (genau genommen der beiden Kapitellisten KA Rm A und KA Rm Reg), da dieser auch für den besagten Textabschnitt interessante Beobachtungen verspricht. 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 Anders als für das Abrahamkapitel (Rm 4) stellt sich die Umfangsbestimmung des Textes von 10 Rm 9-11 weitaus komplizierter dar. Die häresiologischen Zeug‐ nisse für den besagten Textabschnitt erscheinen missverständlich und unein‐ deutig. 3 Bisherige Rekonstruktionen gehen allerdings einvernehmlich von einem nahezu kompletten Fehlen des gesamten Abschnitts innerhalb von Mar‐ cions Apostolos aus. 4 Eine Analyse der entsprechenden Passagen bei Tertullian most of Rom. 9-11 was missing from Marcion’s New Testament“; U. S C H M I D , Textual History of Romans, S. 105. 5 So übersetzt L U K A S : „Auch an dieser Stelle muss ich einen äußerst breiten Abgrund über‐ springen, welcher sich aus einem Einschnitt in die Schrift ergibt.“ Dass es sich hier nur um einen Einschnitt handelt, scheint sich mir aus Tertullians Wortlaut nicht zweifelsfrei zu ergeben. ist unverzichtbar, um zu einer hinreichend fundierten Entscheidung zu kommen, wie der Text von 10 Rm im besagten Abschnitt aussah. Zunächst leitet Tertullian sein Referat über den betreffenden Abschnitt des von Marcion verwendeten Römerbriefes mit folgender Bemerkung ein: Ich überspringe auch hier wieder ein gewaltiges Trümmerfeld aus zerstückelter (gefälschter) Schrift, … Salio et hic amplissimum abruptum intercisae scripturae, … Tert. Adv. Marc. 5,14,6 Um diese metaphorische Formulierung richtig zu verstehen, sei zunächst ange‐ merkt, dass Tertullian unmittelbar zuvor Rm 8,11b zitiert („Er, der Christus von den Toten auferweckt hat, macht auch eure sterblichen Leiber lebendig.“) und die dort zur Sprache kommende, körperlich verstandene Auferstehung kom‐ mentiert. Unmittelbar daran anschließend findet sich der obige Satz, der die Besprechung der Textstelle 10 Rm 10,2-4 einleitet. Alles Dazwischenliegende ( 14 Rm 8,12-10,1) wird von Tertullian nicht erwähnt. Da das Verständnis dieser Wendung für die Rekonstruktion des von Marcion verwendeten Römerbriefes im besagten Abschnitt von zentraler Bedeutung ist, gleichzeitig aber sowohl semantisch als auch syntaktisch kompliziert bzw. uneindeutig erscheint, soll die Passage an dieser Stelle philologisch genauer analysiert werden. 5 Unstrittig ist, dass Tertullian hier auf einen Textabschnitt Bezug nimmt, der nach seiner Darstellung durch Marcion verfälscht wurde. Zu klären ist aller‐ dings, in welcher Form die Schrift verfälscht wurde, d. h. wie genau sie sich also letztlich von Tertullians geläufigem Römerbrieftext unterscheidet. Handelt es sich entweder um einen großen Block komplett fehlender Schrift (also eine große Lücke an Text) oder sollte man besser davon ausgehen, dass Tertullian hier auf einen umfangreichen Textbereich anspielt, der zahlreiche Verände‐ rungen erfahren hat, also mehrere kleinere Lücken aufweist? Beides ist auf den ersten Blick vorstellbar. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, müssen einige zentrale Wendungen des Textes genauer analysiert und übersetzt werden. Bedeutsam ist dabei das Lexem abruptum, welches hier nicht mit Graben, sondern vielmehr mit Trümmer‐ feld übersetzt wird. Diese Entscheidung ist nun ausführlich philologisch zu be‐ 116 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 6 Vgl. Plin. ep. 6,22,4. 7 Georges, Art. intercido. gründen. Zunächst ist dazu das Synatagma amplissimum abruptum zu analy‐ sieren. Amplissimum als Superlativ des Adjektivs amplus tritt dabei als adjektivisches Attribut zu abruptum auf. Beides zusammen fungiert als Objekt zum finiten Verb salio. Abruptum ist das Partizip Perfekt Passiv von abrumpo. Semantisch liegt hier das Verb rumpere = brechen, zerbrechen zugrunde, als ab-rumpere meint es also eher etw. abbrechen. Obwohl es in Verbindung mit amp‐ lissimum substantivisch genutzt wird, tritt es als Partizip auf, wodurch der Hand‐ lungsaspekt betont wird, weniger das Resultat der Handlung (d. h. der Aspekt des Zustandes). Viele Übersetzungen lesen abruptum als einen Graben und deuten das Lexem somit als Zustandsbeschreibung. Wie bereits angedeutet, erscheint es in diesem Fall geeigneter, abruptum mit Trümmerfeld zu übersetzen. Somit wird der besonderen Betonung des Handlungsaspektes Rechnung getragen, wie es der Wortlaut Tertullians auch nahelegt. Anschließend ist die Rede von intercisae scripturae. Syntaktisch fungiert dieses Syntagma entweder als Genitivattribut oder aber als genitivus objectivus zu abruptum. Attributiv verstanden würde es einfach die Beschaffenheit des abruptum näher beschreiben, während die Verwendung als Objekt wiederholt den Handlungsaspekt stärker zum Ausdruck bringt. Da intercisae wiederum als Partizip Perfekt Passiv von intercido auftritt, scheint die Betonung des Hand‐ lungsaspektes hier unumgänglich. Semantisch kommt der Ausdruck von caedere = jmd. niederhauen, ein negativ konnotierter Begriff, der auf eine Art kriegerisches Gemetzel hinweist. In Verbindung mit dem Präfix inter könnte man es also neutral als dazwischenhauen bzw. - etwas martialischer - als zerstückeln ver‐ stehen. Besonders interessant erscheint die Verbindung mit scripturae. G E O R G E S weist hier z. B. auf eine Stelle bei Plinius d. J. hin, 6 in welcher es als „Blätter aus einem Rechnungsbuche [commentarios] herausschneiden und es so fälschen“ 7 zu ver‐ stehen ist. Diese Bedeutung legt sich auch für Tertullian nahe, ist es doch sein übergeordnetes Ziel, Marcion in durchaus polemischer Art und Weise als Fäl‐ scher von Texten zu diffamieren. Diese grundsätzliche Intention wird an meh‐ reren Stellen der Passage deutlich. Bereits das et hic deutet Unmut an. Tertullian macht also dem Leser klar, dass er erzürnt ist, dass Marcion hier schon wieder den gängigen Text verstümmelt habe. Durch die Verwendung zweier Partizi‐ pien, die semantisch eigentlich Ähnliches zum Ausdruck bringen, wird Tertul‐ lians Grundaussage noch einmal intensiviert. 117 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 Die Handlung selbst wird v. a. durch das Partizip intercisae beschrieben, wel‐ ches hier mit zerstückeln bzw. fälschen übersetzt wurde. Legt diese Formulierung nun eher eine große Lücke (d. h. also komplett herausgeschnittene Schrift) oder mehrere kleinere Textlücken nahe? Ausdrücklich redet Tertullian hier von intercisae, nicht aber z. B. von excisae. Letzteres scheint nach meinem Dafür‐ halten eine treffendere Formulierung zu sein, würde er tatsächlich an „einen äußerst breiten Abgrund, welcher sich aus einem Einschnitt in die Schrift ergibt“ denken, wie es beispielsweise L U KA S übersetzt. Darüber hinaus ist zu fragen, wie Tertullian letztlich überhaupt einen Textabschnitt hätte überspringen können, der komplett fehlt? Zu überspringen ist eher ein größerer vorhandener Textbe‐ reich, der vielerlei Veränderungen (durch das besagte Zerstückeln bzw. Fäl‐ schen) erfahren hat, nicht aber ein Abschnitt, der durch ein komplettes Heraus‐ schneiden in Gänze fehlt, also gar nicht mehr da ist. Folglich ist zunächst festzuhalten, dass Tertullians Formulierung in dem be‐ sagten Abschnitt eher auf mehrere Textdifferenzen zwischen 10 Rm und 14 Rm hinweist, die er allerdings nicht weiter kommentiert, sondern eben überspringt. Der tatsächliche Umfang der fehlenden Passagen bleibt zunächst nicht genauer zu bestimmen. An späterer Stelle wird diese Frage wieder aufgenommen, doch soll nun zunächst analysiert werden, wie sich Tertullian zu den übrigen Passagen äußert, die im besagten Abschnitt zu lesen sind. a) Rm 10,1-4 An die eben analysierte Wendung in Tertullians Werk schließt sich ein Referat über 10 Rm 10,2-4 an. Der genaue Wortlaut der Passage lautet wie folgt: … aber ich bekomme den Apostel zu fassen, wie er gegenüber Israel das Zeugnis vor‐ bringt, dass sie Eifer für Gott haben - gewiss doch für ihren eigenen -, freilich nicht auf‐ grund von Erkenntnis (10,2). … sed apprehendo testimonium per‐ hibentem apostolum Israeli, quod zelum dei habeant, sui utique, non tamen per scientiam. Es heißt weiter: Weil sie nämlich Gott nicht kannten und danach strebten, ihre eigene Ge‐ rechtigkeit aufzurichten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen (10,3); Deum enim, inquit, ignorantes, et suam iustitiam sistere quaerentes, non subiecerunt se iustitiae dei; Christus ist nämlich das Ende des Gesetzes in Gerechtigkeit für jeden, der glaubt (10,4). finis etenim legis Christus in iustitia omni credenti. Tert. Adv. Marc. 5,14,6 Inhaltlich thematisiert der von Tertullian besprochene Abschnitt im Römerbrief die Frage, ob Israel in das Heilsgeschehen Gottes mit einbezogen ist. Paulus 118 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 8 Vgl. H A R N A C K , Marcion, S. 108*. 9 U. S C H M I D , Marcion, S. 140. 10 U. S C H M I D , Marcion, S. 140 bemerkt dazu: „Diese Interpretation ist natürlich sehr spe‐ kulativ.“ 11 U. S C H M I D , Marcion, S. 140. formuliert in diesem Zusammenhang eine Fürbitte (10,1), die in den folgenden drei Versen argumentativ fundiert wird. Während Rm 10,1 unbezeugt bleibt, spielt Tertullian zunächst nur auf den zweiten Vers an, indem er äußert, dass Israel sehr wohl Eifer für Gott habe, allerdings ohne die richtige Einsicht sei. Eingeleitet durch die Zitationsformel inquit, zitiert er dann die beiden folgenden Verse wörtlich. Allerdings bezeugt er Rm 10,3 in einer textlich von NTG 28 abweichenden Form. Im Vergleich mit dieser weist die von Tertullian bezeugte Version nämlich statt der Genitivver‐ bindung τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην nur τὸν θεόν auf. Nun stellt sich zunächst die Frage, ob diese Variante tatsächlich mit hinreich‐ ender Sicherheit für den von Marcion verwendeten Römerbrief rekonstruiert werden kann. Während H A R NA C K die besagte Lesart in der durch Tertullian be‐ zeugten Fassung unreflektiert in seine Rekonstruktion übernimmt, 8 diskutiert S C HMID die betreffende Passage gründlich. Da er grundsätzlich davon ausgeht, dass Marcion den ihm vorliegenden Römerbrief (also den Römerbrief in seiner kanonischen Form) bearbeitet hat, versucht er zunächst aufzuzeigen, aus wel‐ chen Gründen dieser die bekannte Lesart verändert - genau genommen ver‐ kürzt - haben könnte. So schätzt S C HMID ein, „daß damit [durch Marcion] ein besserer Zusammenhang zur voraufgegangenen Aussage hergestellt wird.“ 9 Au‐ ßerdem würde die Erwähnung der Gerechtigkeit Gottes den ganzen Vers 10,3 inhaltlich trivialisieren: Wenn die Juden die Gerechtigkeit Gottes nicht er‐ kennen, liegt es gleichsam auf der Hand, dass sie dieser logischerweise gar nicht untertan sein können. Dies wäre demnach auch Marcion aufgefallen und er hätte es durch die angenommene Kürzung verbessert. Da S C HMID allerdings diese Ar‐ gumentation nach eigenem Ermessen nicht stichhaltig genug erscheint, 10 erwägt er auch die Option, die eigentümliche Lesart auf Tertullian selbst, genau ge‐ nommen auf dessen Zitierverhalten, zurückzuführen. Demnach hätte dieser „(unbewußt? ) die Genitivverbindung gekürzt […], um eine prägnante Formu‐ lierung zu erhalten.“ 11 Folglich ordnet er den Vers nicht in seine Kategorie „si‐ chere Lesarten des marcionitischen Textes“ ein, sondern votiert hier abschlie‐ ßend hinsichtlich des genauen Wortlauts non liquet. In diese Unklarheit hat sich S C HMID allerdings selbst hineinmanövriert. Denn seine implizite Grundannahme, in Anlehnung an H A R NA C K , Marcion als Text‐ bearbeiter zu verstehen, verstellt ihm den Blick auf eine andere, nach meinem 119 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 12 Schmid selbst weist auf die Bezeugung durch Ambrosius (Ambr. KommLk. 5,22: „igno‐ rantes enim deum suam iustitiam quaerentes statuere“; Text S C H E N K L CSEL 32/ 4 S. 188) und Clemens (Clem. Al. q.d.s. 11,3: „ἀγνοοῦντες θεὸv καὶ δικαιοσύνην θεοῦ“) hin (vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 140). Dem könnte freilich entgegengehalten werden, dass beide Autoren (v. a. Clemens) hier gar nicht den ihnen bekannten Bibeltext wörtlich wieder‐ geben. Dafürhalten deutlich weniger spekulative, Lösungsmöglichkeit. Es zeigt sich nämlich bei einem Blick auf die Testimonien der Kirchenväter, dass die scheinbar singuläre Variante, die Tertullian für den durch Marcion verwendeten Text be‐ zeugt, auch noch bei Clemens von Alexandrien und Ambrosius von Mailand auftaucht. 12 Geht man nun - mit S C HMID - davon aus, die Entstehung der Lesart sei durch das Ansinnen entstanden, einen stilistisch besseren und inhaltlich weniger trivialen Text zu erzeugen, so müsste dies unabhängig voneinander in drei verschiedenen Fällen geschehen sein. Dies scheint mir weniger plausibel zu sein als die Annahme, dass die durch Tertullian für Marcion bezeugte Lesart den Text der 10-Briefe-Sammlung repräsentiert, der offensichtlich auch den be‐ sagten beiden Kirchenvätern bekannt war. Würde der Variante etwas Ketzeri‐ sches anhaften, so hätten die beiden patristischen Autoren sie sicher nicht be‐ denkenlos in ihren Kommentaren verwendet. Tertullians Version bezeugt also tatsächlich den Text von 10 Rm. Ein weiteres Phänomen spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn für beide genannten Autoren findet sich jeweils genau eine weitere Stelle (Clem. Al. Strom. 2,9,42,4 sowie Ambr. Exhort. Virg. 1,8), an der sie die gängige Fassung ( 14 Rm) der Passage zitieren, wie sie in vielen neutestamentlichen Hand‐ schriften zu lesen ist (z. B. A B D). Sowohl bei Clemens als auch bei Ambrosius tauchen also beide Lesarten auf. Dieses Nebeneinander der beiden Varianten zeigt nun zweierlei: a. bei der durch Tertullian für Marcion bezeugten Version handelt es sich nicht um einen „häretischen“ Text, sondern um den Text der 10- Briefe-Sammlung (denn die Kirchenväter zitieren sie ja arglos) und b. der Text der 10-Briefe-Sammlung existierte neben dem Text der 14- Briefe-Sammlung weiter. In einem solchen Fall zweier parallel existierender Textcorpora ist mit Interfe‐ renzphänomenen (wie z. B. Konflationen) zu rechnen, die sich hier auch für diese Textstelle in den Handschriften nachweisen lassen. Denn neben den beiden be‐ reits beschriebenen Varianten, existiert noch eine noch dritte Lesart, die wahr‐ scheinlich eine Konflation darstellt. Um hier den Überblick zu behalten, sollen die besagten drei Varianten zunächst in einer synoptischen Übersicht darge‐ 120 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ boten werden, in der auch die HSS genannt sind, die die jeweilige Variante be‐ zeugen: ἀγνοοῦντες γὰρ τoν θεοv καὶ τὴν ἰδίαν δικαιοσύνην ζητοῦντες στῆσαι, τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην καὶ τὴν ἰδίαν δικαιοσύνην ζητοῦντες στῆσαι, τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην καὶ τὴν ἰδίαν ζητοῦντες στῆσαι, τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. Weil sie Gott nicht erkennen und ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchen, sind sie so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen und ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchen, sind sie so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen und ihre eigene aufzurichten suchen, sind sie so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Mcn Tert , Clem. Al., Ambr. P 46 א F G K L Ψ 33. 104. 1175. 1241. 1505. 2464. l 249 𝔐� (b) d*; Ir lat A B D P 81. 365. 629. 630. 1506. 1739. 1881 ar vg co; Clem. Al.; Ambr. → M-Variante → P 46 -Variante → A-Variante Synopse: bezeugte Lesarten Rm 10,3 Das Zustandekommen dieser drei Varianten von Rm 10,3 stellt sich nach meinem Dafürhalten wie folgt dar. Das hier gezeigte Schema 2 wird nachfolgend aus‐ führlich erläutert. 10 Rm 10,3 (älteste Lesart) (M-Variante) 14 Rm 10,3 (= Ergänzung) (A-Variante) Konflation (P 46 -Variante) Schema 2: genealogischer Zusammenhang der Lesarten Rm 10,3 Als Ausgangspunkt der Überlieferung wird die durch Tertullian bezeugte Vari‐ ante für den von Marcion verwendeten Römerbrief (M-Variante) begriffen. In der A-Variante ist nun das Syntagma ἀγνοοῦντες γὰρ τὸν θεόv der M-Variante zu ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην erweitert worden. Die zweite Erwähnung der Gerechtigkeit (δικαιοσύνην) fehlt dagegen. Semantisch ge‐ schieht dadurch eine Abschwächung des harschen Urteils über die Juden. So 121 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 13 Ähnlich schon U. S C H M I D , Marcion, S. 140. 14 Ein weiteres Beispiel für eine Konflation bietet P 46 auch für 1 Kor 7,33. 15 Vgl. Kap. 4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen Einfügungen. 16 Vgl. dazu auch K L I N G H A R D T , Abraham, S. 249. heißt es nun nicht mehr, dass sie Gott nicht erkennen, sondern „nur“ die Ge‐ rechtigkeit Gottes. Durch die beschriebene Ergänzung erscheint der Anschluss an den vorigen Vers 10,2 nun etwas gestört. 13 Denn laut V.2 haben die Juden zwar Eifer für Gott (ὅτι ζῆλον θεοῦ ἔχουσιν), aber nicht Verständnis (für Gott) (ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν). Dieses fehlende Verständnis bezieht sich in der A-Variante (und ebenso der P 46 -Variante) ausdrücklich nicht mehr auf Gott selbst, sondern „nur“ noch auf die Gerechtigkeit Gottes. Um nun stilistisch nicht einen Satz zu formu‐ lieren, der ganze drei Mal von Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) spricht, lässt der Be‐ arbeiter die zweite Erwähnung des Lexems weg. Somit entsteht eine Ellipse. Die Syntax des Satzes wird dadurch nicht gestört und inhaltlich bleibt der mittlere Versteil problemlos verständlich. Aus diesen beiden nebeneinander existierenden Varianten entsteht nun die P 46 -Variante als Konflation aus beiden. Der Schreiber nimmt beide ihm be‐ kannten Lesarten auf und kombiniert diese zu einer dritten. 14 Dass der entstan‐ dene Vers durch die doppelte Repetition des Lexems Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) stilistisch nunmehr etwas unbeholfen wirkt, nimmt er billigend in Kauf bzw. er bemerkt es schlicht nicht. Die aus dem beschriebenen Szenario resultierenden semantischen Verände‐ rungen lassen sich überlieferungsgeschichtlich im Zuge der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe plausibel ma‐ chen. Denn die inhaltlich motivierte Ergänzung bzw. Umstellung (bezeugt durch die A-Variante) passt gut zu den - im vorangegangenen Kapitel dargelegten - Motiven, die sich auch durch die Hinzufügung des Abrahamkapitels gezeigt haben. 15 Die redaktionelle Ergänzung von 14 Rm 4 konnte als Wahrheitsbeweis der Schrift verstanden werden, der die Zuverlässigkeit der jüdischen Traditionen und Verheißungen belegen soll. Ein inhaltlicher Schwerpunkt der ange‐ nommenen Redaktion ist also der Erweis der Kohärenz zwischen Altem und Neuen Testament. 16 Diese gleichsam pro-jüdische Tendenz zeigt sich nun auch in der hier vorgeschlagenen Textveränderung. Denn die schwerwiegend anmu‐ tende Verfehlung der Juden, Gott nicht erkannt zu haben, liest sich durch die Umstellung in klar abgeschwächter Form. Nunmehr verkannten die Juden zwar die göttliche Gerechtigkeit, keinesfalls aber Gott selbst. Mit einiger Wahrschein‐ 122 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 17 Die Vermutung liegt nahe, dass die 14-Briefe-Sammlung von Anfang an als Teilsamm‐ lung der Erstedition des Neuen Testaments konzipiert wurde. Denn die pro-jüdische Tendenz spiegelt sich bereits im Titel der Ausgabe wider: Der Titel Neues Testament impliziert nämlich, dass es auch ein nicht minder bedeutsames Altes Testament geben muss. Die Grundlage der editio princeps stellt also das Alte Testament dar. In dessen Kontinuität zu stehen, wird ausdrücklich betont und ist auch anhand der Ergänzung des Abrahamkapitels in Rm 4 nachweisbar. 18 So exemplarisch die textkritische Bewertung aus dem Römerbriefkommentar von J E ‐ W E T T , Romans, S. 606: „The evidence […] is considerably stronger.“ 19 Dass jüngere HSS freilich auch Lesarten und Textformen bezeugen können, die älter sind als diejenigen, die in vergleichsweise älteren HSS auftauchen, ist offenkundig. 20 Vgl. J E W E T T , Romans, S. 606. lichkeit kann die A-Variante also als die Lesart des Neuen Testaments verstanden werden, die im Zuge der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14- Briefe-Sammlung geschaffen wurde. 17 Anhand dieses Beispiels lässt sich hervorragend zeigen, dass die Forschungen zum marcionitischen Apostolos (und nicht minder diejenigen zum durch Marcion be‐ zeugten Evangelium) sehr ertragreich für die textkritische Arbeit am Neuen Testa‐ ment sein kann. Denn es geht ja nur in erster Instanz darum, die Lesart für den mar‐ cionitischen Text zu rekonstruieren. Daran anschließend ergibt sich auch eine Neubewertung der beiden anderen in den neutestamentlichen HSS bezeugten Vari‐ anten. So gab man im NTG in der 25. Auflage von 1963 noch der A-Variante des Verses den Vorzug. In der folgenden Ausgabe wurde diese Entscheidung allerdings revidiert. Der Grund für diese Revision ist mit einiger Wahrscheinlichkeit die Neubewertung der Zeugen. 18 In älteren HSS (P 46 ) wird hier also auch der ältere Text vermutet. 19 Seitdem wird die (stilistisch minderwertiger anmutende) P 46- Variante als ursprünglich dekla‐ riert. Auch GNT 5 teilt diese Einschätzung. Auf ein mögliches Fehlen der zweiten Er‐ wähnung des Lexems Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), wie es in der A-Variante vorliegt, wird zwar durch die Verwendung eckiger Klammern hingewiesen. Hier ist man sich also nicht sicher, ob es sich dabei nicht auch um die älteste Lesart handeln könnte, tendiert letztlich aber doch dazu, das Fehlen als eine sekundäre Variante zu betrachten. Dieser Einschätzung folgend, erklärt J E W E T T den Ausfall mit Hilfe einer Haplographie, versteht es also als ein nicht-intentionales Versehen. 20 Hierin zeigt sich, dass in einer methodologisch eher schreibfehlerorientierten Textkritik potenziell redaktionelle Än‐ derungen kaum eine Rolle spielen. Sogenannten nicht-intentionalen Versehen wird der Vorrang gegenüber intentionalen (also redaktionellen) Eingriffen in den Text ein‐ geräumt. Dass viele Varianten viel leichter mit Hilfe von redaktionellen Umstellungen erklärbar sind, die sich in einem übergreifenden überlieferungsgeschichtlichen Modell plausibilisieren lassen, sollte an dem beschriebenen Beispiel deutlich geworden sein. 123 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 21 Epiph. Panar. 42,11,8 = 42,12,3: „Τέλος γὰρ νόμου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι.“ 22 Das dahinterliegende überlieferungsgeschichtliche Konflationsmodell zwischen 10-Briefe-Sammlung und 14-Briefe-Sammlung geht auf Nils Dahl zurück. Dahl nahm in seiner wegweisenden Untersuchung zu den altlateinischen Prologen der Paulusbriefe an, dass die Prologe auf eine vorkanonische Sammlung zurückgehen, welche die Vor‐ lage von Marcions Apostolos darstellt. Diese Edition stellt neben der 13 (oder 14)-Briefe-Sammlung den Ausgangspunkt der Textüberlieferung der Paulusbriefe dar. D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 253 formuliert wie folgt: „Yet it is possible to explain the whole complex evidence as due to alterations and conflations of two basic editions.“ Denn wie bereits oben erläutert, kommt die vorliegende Arbeit auf diese Weise zu einer grundlegend anderen Bewertung des Befundes. Der folgende Vers 10,4 („Denn Christus ist des Gesetzes Ende …“) ist nicht nur bei Tertullian, sondern auch bei Epiphanius belegt. 21 Beide Bezeugungen deuten auf den gleichen Wortlaut hin, der sich auch in 14 Rm findet. Hier weist nichts auf eine Differenz zu dem Vers in 10 Rm hin. Für den gesamten Textabschnitt bleibt daher festzuhalten: 1. 14 Rm 10,1-4 war im Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung vorhanden. Der Textabschnitt ist inhaltlich schlüssig und kohärent. 2. Tertullian bezeugt für Rm 10,3 eine Lesart, die - entgegen dem Urteil S C HMID s - tatsächlich in dieser Fassung für den für Marcion bezeugten Römerbrief reklamiert werden kann. 3. Die Kenntnis der Lesart lässt sich auch für die patristischen Autoren Cle‐ mens von Alexandrien und Ambrosius von Mailand plausibilisieren. Dies unterstreicht, dass es sich bei der Variante tatsächlich um den Text des Römerbriefes der 10-Briefe-Sammlung handelt, der mit einiger Wahr‐ scheinlichkeit die älteste der bekannten Varianten des Verses darstellt und als Vorstufe des neutestamentlichen Textes zu begreifen ist. 4. Die Variante, die NTG 28 für den ältesten Römerbrief reklamiert, ist da‐ gegen gerade nicht Teil des neutestamentlichen Textes (also 14 Rm), son‐ dern stellt stattdessen die jüngste Textform dar, die als eine Konflation der Varianten aus 10 Rm (M-Variante) und 14 Rm (A-Variante) gelten kann. Diese Lesarten existierten beide parallel, was durch das Auftauchen beider Varianten bei Clemens und Ambrosius eindrucksvoll belegt wird. Über‐ lieferungsgeschichtlich bedeutet dies, dass auch die Textsammlungen, auf die die beiden Varianten zurückgehen, zumindest eine gewisse Zeit lang nebeneinander existierten. 22 124 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ b) Rm 11,33-36 Um den weiteren Fortgang des Textes des von Marcion verwendeten Römer‐ briefes im Abschnitt Rm 9-11 zu rekonstruieren, muss zunächst Tertullians Be‐ zeugung weiter analysiert werden. Nach einem umfangreichen Referat über Rm 10,1-4 findet sich direkt daran anschließend der folgende Abschnitt: Nun ruft der Apostel aber lauthals aus: Oh Tiefe des Reichtums und der Weisheit Gottes! Wie unerforschlich sind seine Wege (11,33). Atqin exclamat: O profundum divitiarum et sapien‐ tiae dei et investigabiles viae eius! Woher kommt dieser [verbale] Ausbruch? Offensichtlich von der Erinnerung an dieje‐ nigen [atl.] Schrift[stell]en, die er zuvor nachgeschlagen hatte, Unde ista eruptio? Ex recordatione scilicet scriptu‐ rarum quas retro revolverat, sowie von der Betrachtung derjenigen Ge‐ heimnisse, die er weiter oben im Hinblick auf den Glauben an Christus ausgelegt hat, wel‐ cher seinen Ursprung im Gesetz hat. ex contemplatione sacramentorum quae supra disseruerat in fidem Christi ex lege venientem. Wenn Markion diese Geheimnisse [diese Text‐ passagen] fleißig tilgte, weshalb ruft dann sein Apostel lauthals auf […]? Haec si Marcion de industria erasit, quid apostolus eius exclamat […]? Tert. Adv. Marc. 5,14,9 Tertullians Auseinandersetzung mit Marcions Römerbrieftext wird mit dem do‐ xologischen Hymnus fortgesetzt, der sich in 14 Rm 11,33-36 findet. Eine genauere Analyse der besagten Verse erfolgt weiter unten. Zunächst aber soll der Frage nachgegangen werden, welcher Text sich zwischen der zuletzt erwähnten Pas‐ sage (Rm 10,1-4) und jenem hier kommentierten Abschnitt im von Marcion benutzten Römerbrief befunden haben könnte. Ähnlich wie hier beschrieben geht auch Tertullian vor. Schon seine Wortwahl deutet wiederum auf einen kürzeren Text im Römerbrief Marcions hin. Die Ver‐ wendung des Nomens eruptio (Ausbruch, Ausfall), die sich auf das zuvor zitierte Aufschreien (exclamat) des literarischen Paulus bezieht, legt diesen Schluss nahe. Die Logik seiner Argumentation belegt eindeutig, dass zwischen Rm 10,1- 4 und Rm 11,33-36 Text gefehlt haben muss. Denn nachdem Tertullian Rm 11,33 zitiert, fragt er direkt daran anschließend, wie denn dieser laute Aufschrei (exclamat) - er meint damit den von ihm eben zitierten Beginn des Hymnus - angesichts der marcionitischen Texttilgungen (erasit) eigentlich zu verstehen sei. Tertullian argumentiert also, dass seines Erachtens der (triumphierend laute) Ausruf des Paulus in Rm 11,33 aufgrund des fehlenden Textes davor gar nicht mehr richtig zu verstehen sei, ihm gleichsam der literarische Boden fehle. Dies 125 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 23 H A R N A C K , Marcion, S. 108*. Schmid liegt in seiner Einschätzung grundsätzlich auf der gleichen Linie wie Harnack, formuliert sein Urteil allerdings weniger absolut. So kon‐ statiert er in seiner Rekonstruktion, dass der genaue Umfang der von ihm als Auslas‐ sungen bezeichneten „Lücken“ unklar ist (vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. I/ 334), die Harnack’sche Vermutung eines kompletten Fehlens zwar „möglich, aber nicht zu erweisen [ist]“; U. S C H M I D , Marcion, S. 110. An anderen Stellen seiner Arbeit wird allerdings deutlich, dass er tatsächlich mit einem kompletten Fehlen der Verse rechnet; vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 254 bzw. S. 244. Seine Begründung lautet, dass die Auslassungen (neben denen in Rm 4) wiederum mit dem Stichwort ‚Verheißungen‘ zu tun haben, wobei diesmal Israel Träger dieser Verheißungen sei; vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 249. 24 Nicht ganz eindeutig ist, ob er mit der Formulierung das AT bzw. Teile und Verweise daraus oder aber die Texte des Paulus meint. 25 H A R N A C K , Marcion, S. 108*. 26 Die sog. Dogmatik Marcions ergibt sich für Harnack ja erst aus der Beschäftigung mit dessen Text (genau genommen mit den Textdifferenzen zwischen dem marcionitischen und dem katholischen Bibeltext). Nun zieht er die daraus gewonnenen Erkenntnisse wiederum heran, um den marcionitischen Text zu rekonstruieren. Die Zirkularität der Methode ist offensichtlich. U. S C H M I D , Marcion, S. 14 bezeichnet es in seinem Abschnitt zur Frage der marcionitisch-tendenziösen Textänderungen zu Recht als problematisch wird besonders deutlich anhand folgender Formulierung Tertullians, die sich kurz nach der bereits zitierten Passage zu Rm 11,33ff findet: Weshalb hast du, der du so viele Stücke aus den [atl.] Schriften entfernt hast, gerade diese Worte beibehalten (Rm 11,33-35), als ob nicht auch sie vom Schöpfer[gott] stammten? Qui tanta de scripturis ademisti, quid ista servasti, quasi non et haec creatoris? Tert. Adv. Marc. 5,14,10 Dass im Abschnitt Rm 10,5-11,32 Text fehlte, scheint demnach klar. Zu klären ist nun, wie genau der Text ausgesehen haben könnte bzw. welchen Umfang die von Tertullian behaupteten Tilgungen hatten. Handelt es sich um mehrere klei‐ nere „Lücken“ oder fehlte womöglich das besagte Textintervall in Gänze? Die bisherige Forschung hat nach meinem Dafürhalten für diese Frage genau zwei Lösungsmöglichkeiten angeboten. Die erste stammt von H A R NA C K , der (wieder einmal) sehr schnell zu einem sehr klaren Urteil kommt, wonach „alles Dazwischenliegende [zwischen den beiden bezeugten Versen 10,4 und 11,33] fehlte.“ 23 Gegen diese Annahme spricht bereits, dass Tertullian von tanta de scripturis, nicht aber von omnia de scripturis spricht. Demnach sind viele Stücke der Schriften 24 gestrichen, aber eben nicht alles. Zur Begründung seiner zweifelhaften These formuliert H A R NA C K , dass Marcion den kompletten Ab‐ schnitt „aus dogmatischen Gründen“ 25 tilgen musste. Während diese Art der Begründung letztlich auf einem Zirkelschluss beruht, 26 ist eine andere Beobach‐ 126 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ „mit dem vermeintlich genauen Wissen um eine marcionitische Tendenz eine unklare oder als uneindeutig empfundene Quellenlage schließlich doch eindeutig zu machen“ und fordert zu Recht: „Ein Rekonstruktionsversuch des marcionitischen Textes muß dieser Versuchung widerstehen.“ 27 H A R N A C K , Marcion, S. 108*: „Der Spruch XI, 33 paßte im Sinne M.s trefflich zu X, 4, was Tert. freilich nicht einzusehen vermag und sich wundert.“ 28 Vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 201. 29 Tert. Adv. Marc. 5,14,9: „Haec si Marcion de industria erasit, quid apostolus eius exclamat […]? “ 30 L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 201. tung zu dieser Stelle weitaus interessanter. So stellt H A R NA C K fest, dass, Tertul‐ lians Einschätzung widersprechend, die beiden bezeugten Verse 10,4 und 11,33 geradezu „trefflich“ 27 zueinander passen würden. L ÜK E dagegen schlägt eine andere Interpretation vor. Er merkt zunächst an, dass die Annahme eines Fehlens des kompletten Textabschnitts 10,5-11,32 im‐ pliziere, dass sich der Freudenausbruch des Paulus in 11,33 anstatt auf die in Kap. 11 explizierte Errettung Israels in diesem Fall tatsächlich auf die in 10,2f zu lesende Feststellung bezieht, dass Israel Gott nicht erkannt hätte. Dies scheint für L ÜK E ein wenig plausibler Zusammenhang. 28 Damit liegt er ganz bei den von Tertullian geäußerten Bedenken, denn schon dieser hatte ja - wie oben zitiert - die Frage aufgeworfen, worauf sich Paulus’ Ausruf der Freude denn eigentlich bezieht. 29 L ÜK E s eigene Antwort bzgl. der Frage nach dem tatsächlichen Textumfang von 10 Rm 9-11 lautet daher wie folgt: „Der Gedankengang und die Argumentationslinien [in 10 Rm] entsprechen im Groben denen, wie wir sie im neutestamentlichen Rm vorfinden. Denn „der ausgedehnte Fli‐ ckenteppich herausgeschnittener Schrift“, den Tertullian bemängelt, bezieht sich m. E. nicht auf den Argumentationsgang des Paulus zwischen Rm 8,12-10,1 resp. 9-11, sondern auf die fehlende Unterfütterung der paulinischen Argumentation mit alttes‐ tamentlichen Zitaten.“ 30 Diese Lösung setzt die Idee voraus, dass Tertullian, wann immer er in den zuvor zitierten Passagen von scripturae im Plural spricht, tatsächlich an die Schriften des AT denkt. Ein solches Verständnis scheint durchaus möglich, und da L ÜK E s Position die bisher einzige Alternative zu H A R NA C K s Lösung darstellt, ist es ge‐ boten, dass sie ausführlich auf die Probe gestellt wird. Es ergibt sich somit die Frage, ob der Abschnitt 10,5-11,32 im durch Marcion bezeugten Römerbrief tatsächlich komplett fehlte, wie es H A R NA C K rekonstru‐ iert, oder nur die in 14 Rm hier besonders zahlreich zu lesenden alttestamentli‐ chen Zitate, wovon L ÜK E ausgeht. Tertullians Bezeugung lässt grundsätzlich beide Optionen möglich erscheinen, wenngleich die philologische Analyse doch 127 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 31 Vgl. Tert. Adv. Herm. 45,5 und Tert. Adv. Marc. 2,2,4. Darauf macht U. S C H M I D , Marcion, S. 64 aufmerksam. 32 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 64. 33 Anders H A R N A C K , Marcion, S. 109*, der die Worte καὶ γνώσεως und ὡς ἀνεξεραύνητα τὰ κρίματα αὐτοῦ als „absichtlich [durch Marcion] getilgt“ versteht. eher für die letztere Deutung spricht. Im Folgenden werden beide Möglichkeiten diskutiert und auf ihre Plausibilität überprüft. Doch bevor dies geschieht, soll zunächst einmal festgehalten werden, was mit Bestimmtheit aus Tertullians Bezeugung für den tatsächlichen Text des doxo‐ logischen Hymnus in 10 Rm 11,33-36 herauszulesen ist. Nach der oben aufge‐ führten ersten Erwähnung folgt unmittelbar darauf ein weiteres Referat der entsprechenden Textstelle in Tertullians Werk: Deshalb also wurde [durch Paulus] ausge‐ rufen: Oh Tiefe des Reichtums und der Weisheit Gottes! (Rm 11,33a) […] Inde ergo exclamatum est: O profundum divitiarum et sapientiae dei! […] Wer nämlich hat den Gedanken des Herrn er‐ kannt, oder wer war sein Ratgeber? (Rm 11,34 = Jes 40,13) Quis enim cognovit sensum domini, aut quis consiliarius fuit? Wer hat ihm etwas dargereicht und wird von jenem [Gott] dafür entlohnt werden müssen? (Rm 11,35 = Hiob 41,3) Quis porrexit ei et retribuetur illi? Tert. Adv. Marc. 5,14,10 Tertullian zitiert hier nacheinander die Verse Rm 11,33a-35. Auffällig ist, dass er in 11,33a die Erkenntnis Gottes nicht erwähnt, sondern nur dessen Reichtum und Weisheit bezeugt. Das Fehlen des καὶ γνώσεως findet sich in keiner anderen neutestamentlichen Handschrift. Allerdings scheint es wohl auf eine Vorliebe Tertullians zurückzugehen, denn dieser zitiert den besagten Vers auch an an‐ deren Stellen 31 in eben dieser Form. S C HMID erkennt darin eine Zitiergewohnheit Tertullians, der offenbar grundsätzlich dazu neigt, dreigliedrige Reihen zu kürzen und stattdessen Paare zu bilden. 32 Folglich geht die Verkürzung hier wohl nicht auf den tatsächlichen Wortlaut des für Marcion bezeugten Römerbriefes zurück, sondern sollte vielmehr Tertullian selbst zugeschrieben werden. Auch das Fehlen des zweiten Versteils (11,33b) kann nicht mit Sicherheit für 10 Rm reklamiert werden. Tertullian übergeht den Halbsatz in seinem Referat einfach, da dessen Nennung für seinen Argumentationszusammenhang nicht wichtig erscheint. Demnach fand sich der komplette Vers mit einiger Wahrscheinlichkeit also auch in 10 Rm. 33 128 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 34 U. S C H M I D , Marcion, S. 70 resümiert, dass „wahrscheinlich sein ihm [scil. Tertullian] vertrauter Text für diese Lesarten verantwortlich zu machen sein (dürfte) und nicht der marcionitische Text.“ Hier wird auch darauf hingewiesen, dass die Zitation von Jes 40,13f (vgl. 1 Kor 2,16 sowie Rm 11,33ff) auch an drei weiteren Stellen in Tertullians Werk ein verwirrendes, uneinheitliches Bild bieten. 35 Es wird also deutlich, dass auf keinen Fall alle Verweisstellen aus dem AT in Marcions Apostolos gefehlt haben. Würde man Marcion also vorwerfen, als Textbearbeiter aus theologischem Interesse alttestamentliche Verweise aus seiner vermeintlichen Vorlage gestrichen zu haben, dann hätte er dies überaus inkonsequent getan. Vgl. zur ausführ‐ licheren Diskussion dieser methodisch wichtigen Einsicht Kap. 2.2. Redlicherweise soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese beiden Zitate nicht durch Zitations‐ formeln eingeleitet sind. Theoretisch hätten sie also auch schlicht nicht als solche er‐ kannt worden sein können. Der Vers Rm 11,34 bietet textkritisch keinerlei Besonderheiten - er war in der bekannten Form wahrscheinlich auch im durch Marcion bezeugten Text zu lesen. Der asyndetische Anschluss (also ohne Konjunktion aut = ἤ) von V. 35 an V. 34 kann problemlos auch Tertullian zugeschrieben werden. S C HMID ordnet die fragliche Stelle in die Kategorie Vetus Testamentum in Novo ein. Hierin finden sich alle Textstellen aus Marcions Apostolos wieder, in denen es naheliegt, dass Tertullian den ihm geläufigen alttestamentlichen Wortlaut auf die Zitation der entsprechenden neutestamentlichen Version überträgt. 34 Dieser Einschätzung ist nichts hinzuzufügen. V. 36 ist dagegen komplett unbezeugt - ein Fehlen des‐ selben ist möglich, allerdings relativ unwahrscheinlich. Als Fazit kann also festgehalten werden: Der komplette Hymnus 14 Rm 11,33- 36 fand sich - wahrscheinlich in identischer Form - auch in 10 Rm. Insbesondere gilt dies auch für die beiden Schriftworte aus Jes 40 und Hiob 41, die zweifellos durch Tertullian bezeugt sind. 35 Die Eigenheiten im Wortlaut, die Tertullians Referat offenbart, lassen sich nicht mit hinreichender Sicherheit auf den durch Marcion bezeugten Römerbrief zurückführen. Durch die metatextuelle Bezeugung der Häresiologen lässt sich für die Rekon‐ struktion von 10 Rm 9-11 also Folgendes festhalten: 1. Im entsprechenden Abschnitt weist 10 Rm umfangreiche Abschnitte feh‐ lenden bzw. alternativen Textes auf. 2. Die beiden einzigen textlichen Fixpunkte, die mit hinreichender Sicher‐ heit in 10 Rm vorhanden waren, sind die Textblöcke 14 Rm 10,1-4 und 14 Rm 11,33-36. Ersterer las sich sehr wahrscheinlich in einem Wortlaut, der darüber hinaus auch noch durch zwei Kirchenväterzitate bezeugt ist. Diese Variante stellt die älteste erreichbare Textfassung dar. Die beiden anderen Lesarten, welche in der handschriftlichen Überlieferung des neu‐ testamentlichen Römerbriefes auftauchen, sind mit einiger Wahrschein‐ 129 5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9-11 36 Die genaue Aufteilung stellt sich wie folgt dar: Capitula XXIIII - XXX → Rm 9; Capitula XXXI - XXXIII → Rm 10; Capitula XXXIIII - XXXIX → Rm 11. Vgl. dazu die Synopse im Anhang I. 37 Da die hier untersuchten Capitula auf Latein verfasst sind und ausnahmslos in lateinischen Bibelhandschriften auftauchen, gehen alle in der Folge getätigten Wortzäh‐ lungen und damit operierenden Berechnungen auf den Text des Römerbriefes in der Version der Vulgata zurück. lichkeit durch redaktionelle Veränderungen bzw. durch Konflation ent‐ standen. 3. Wie genau der Text zwischen diesen beiden Fixpunkten (und natürlich auch davor in Rm 9) ausgesehen haben mag, bleibt noch zu klären. In der bisherigen Forschung zeigten sich zwei Möglichkeiten: Entweder fehlte der besagte Textabschnitt komplett (H A R NA C K ), oder aber es fehlten zahl‐ reiche kürzere Passagen, nämlich die im betreffenden Abschnitt überaus zahlreich auftretenden alttestamentlichen Verweise (L ÜK E ). Die Ergeb‐ nisse der philologischen Analyse der entsprechenden Passagen bei Ter‐ tullian deuten eher auf letztere Option hin. Um in der im letzten Punkt formulierten Frage zu einer plausiblen Antwort zu gelangen, soll nun - wie bereits im vorangegangenen Kapitel - der paratextuelle Befund analysiert werden. Womöglich lassen sich auch diesmal Hinweise finden, die entscheidend zur Lösungsfindung beitragen können. 5.2. Der paratextuelle Befund für Rm 9-11 Zunächst soll der Befund, den die beiden Kapitellisten KA Rm A und KA Rm Reg für den untersuchten Textabschnitt bieten, hinreichend ausführlich be‐ schrieben werden. Die Auswertung und Bewertung geschieht im Anschluss. 5.2.1. Die Capitula Amiatina und Rm 9-11 Die Capitula Amiatina weisen für die Frage nach den Lücken in 10 Rm 9-11 einen komplett anderen Befund auf als für das Abrahamkapitel (Rm 4). So spielen die Capitula XXIIII - XXXIX (also insgesamt 16 Sektionen) auf Passagen an, die sich in dem relevanten Textabschnitt befinden. 36 Die Anzahl erscheint ungewohnt hoch für einen Textabschnitt dieser Länge (1332 Worte). Dies entspricht einer mittleren Wortanzahl von 83 pro Sektion. 37 Im Vergleich dazu beträgt die mitt‐ lere Wortanzahl eines Intervalls in den übrigen Briefteilen (ohne Rm 9-11) 114. Einige der Textintervalle, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sektionen 130 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 38 Dass es hier geboten ist, tatsächlich die einzelnen Wörter zu zählen und nicht einfach nur die Versanzahl zu betrachten, die zwischen zwei benachbarten Sektionen liegt, er‐ gibt sich aus zweierlei Gründen: 1. sind die Verse (nicht nur innerhalb des Römerbriefes) von sehr unterschiedlicher Länge und 2. stellen sie ein textgestalterisches Phänomen dar, das in den ursprünglichen Handschriften nicht auftauchte, sondern erst im 16. Jahrhundert Eingang in die biblischen Texte fand. liegen, sind also geradezu außergewöhnlich klein. Dies wird eindrucksvoll in dem nachfolgenden Diagramm 9 sichtbar. Die entsprechenden Sektionen sind dunkler gefärbt: 38 1 2 3 4 5 6 7 8 9101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051xx 0 100 200 300 400 500 Capitula Amiatina (KA Rm A) Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 9: KA Rm A - Intervallgröße, Mittelwert und Standardabweichung Es zeigt sich, dass sich einige der kleinsten Intervalle der gesamten Kapitelliste (XXVI, XXVII, XXXI) im untersuchten Textabschnitt Rm 9-11 befinden. Wei‐ terhin wird deutlich, dass die Säulen hier insgesamt überdurchschnittlich klein ausfallen. Diese signifikant kleinen Intervallgrößen resultieren aus einer au‐ ßergewöhnlich starken Häufung von Sektionen in dem untersuchten Abschnitt. Inhaltlich besonders bemerkenswert erscheinen die Sektionen XXIX, XXXII und XXXIII, deren Text wie folgt lautet: Über Jesaja und was er über das Volk Israel redet (9,27ff). De esaia clamante pro populo israhel. 131 5.2. Der paratextuelle Befund für Rm 9-11 39 Die restlichen zwölf Capitula der KA Rm A, die auf 14 Rm 9-11 Bezug nehmen, werden hier nicht weiter aufgeführt und im Einzelnen analysiert, da sie für die übergeordnete Fragestellung des Kapitels zunächst wenig beitragen. Sie finden sich allerdings in An‐ hang I. Über die Gerechtigkeit des Gesetzes (10,5) und die Gerechtigkeit des Glaubens (10,6). De iustitia legis et iustitia fidei. Über den Unglauben der Juden (10,14) und den Glauben der Heiden (10,19ff). De incredulitate iudaeorum et gentium fide. KA Rm A (Sektionen XXIX; XXXII; XXXIII) Besonders bemerkenswert ist, dass alle drei Sektionen auf alttestamentliche Textstellen verweisen, die im kanonischen Römerbrief Teil der Argumentation sind. Das Capitulum XXIX bezieht sich auf die in 14 Rm 9,27ff genannten Worte des Jesaja über Israel, die Jes 10,22f, Jes 28,22 sowie Jes 1,9 entstammen. Sektion XXXII verweist dagegen auf 14 Rm 10,5f, wo auf Lev 18,5 und Dtn 30,12 Bezug genommen wird. Der in Sektion XXXIII genannte Glauben der Heiden wird im kanonischen Römerbrief in 10,19ff durch Verweise auf Dtn 32,21 und Jes 65,1f expliziert. 39 Ergo: Die KA Rm A beschreiben Rm 9-11 überaus ausführlich und detailliert. Korrespondierte der paratextuelle Befund der KA Rm A für Rm 4 noch mit dem häresiologischen Zeugnis für das fehlende Abrahamkapitel des von Marcion verwendeten Römerbriefes, lässt sich diese Nähe (zwischen dem ursprünglichen Bezugstext der KA Rm A und 10 Rm) hier zunächst nicht feststellen. Denn die Aussagen Tertullians wiesen auf größere Lücken (genau genommen also auf weniger Text) in 10 Rm 9-11 hin, während die große Häufung an Sektionen im betreffenden Abschnitt für den angenommenen ursprünglichen Bezugstext der KA Rm A weder zwischen den durch Tertullian bezeugten Textstellen Rm 10,1- 4 und Rm 11,33-36 noch davor größere Textlücken andeutet. Folglich lässt sich festhalten, dass der Befund der KA A zur Klärung der strit‐ tigen Frage nichts beitragen kann. Doch wie sieht das Zeugnis für die Capitula Regalia im betreffenden Abschnitt aus? 5.2.2. Die Capitula Regalia und Rm 9-11 Zunächst ist festzustellen, dass die Sektionen XVII, XVIII und XIX jeweils auf Passagen verweisen, die sich in 14 Rm 9 lesen lassen. Hier der entsprechende Text: Über das Zeugnis des Paulus von Schmerz und Traurigkeit (9,2). De testificatione pauli doloris et tristitia. 132 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 40 Rm 11,1a (NA 28 ): Λέγω οὖν, μὴ ἀπώσατο ὁ θεὸς τὸν λαὸν αὐτοῦ; μὴ γένοιτο. 41 Die entsprechende Sektion XXXVIII der KA Rm A spezifiziert den Genitiv iudaeorum noch durch das Adjektiv omnium. Im betreffenden Abschnitt geht es demnach also nicht nur um das Heil der Juden, sondern um das Heil aller Juden; vgl. Synopse in Anhang I. Über den Willen Gottes: wen er will, verstockt er, wem er will, erbarmt er sich (9,18). De voluntate dei quem vult indurat et cui vult miseretur. Über die Heiden, welche dem Glauben nach verstehen (9,30). De gentibus iuxta fide [sic! ] conpraehendentibus. KA Rm Reg (Sektionen XVII - XIX) Kapitel 9 wird also in vergleichbarer Ausführlichkeit zusammengefasst, wie die meisten anderen Abschnitte des Römerbriefes innerhalb der KA Rm Reg auch. Die für die KA Rm A festgestellte außergewöhnliche Häufung an einzelnen Sektionen (KA Rm A: 7; KA Rm Reg: 3), die für ungewöhnlich kurze Textinter‐ valle sorgt, tritt in den KA Rm Reg nicht auf. Das Textintervall, das durch Sektion XIX der KA Rm Reg beschrieben wird, fällt dagegen klar aus der Reihe. Denn im folgenden Capitulum XX heißt es nämlich: Über die Juden; dass sie nicht von Gott zurückgewiesen sind (11,1). De iudaeis quod non sunt repulsi a deo. KA Rm Reg (Sektion XX) Man erkennt unschwer, dass damit auf Rm 11,1 angespielt wird. Denn hier heißt es im Text des Römerbriefes: „So frage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! “  40 Textpassagen aus Rm 10 finden sich dagegen in den KA Rm Reg nicht. Das 10. Kapitel wird also komplett übergangen. Das Textintervall, das durch Sektion XIX beschrieben wird, umfasst somit 372 Wörter. Eine unge‐ wöhnlich hohe Zahl - es ist damit neben dem Intervall zwischen den Sektionen VII und VIII, welches das Fehlen des Abrahamkapitels nahelegte, und dem zwi‐ schen XXIII und XXIIII das umfangreichste Intervall im gesamten Römerbrief. Die anschließenden beiden Capitula sind die letzten, welche auf Passagen aus Rm 9-11 Bezug nehmen. Sie lauten wie folgt: Über die Vergehen der Juden, weshalb den Heiden Heil zukommt (11,11). De iudaeorum delicta cum sit gentibus salus. Über das Heil der 41 Juden (11,26). De salute iudaeorum. KA Rm Reg (Sektionen XXI und XXII) 133 5.2. Der paratextuelle Befund für Rm 9-11 Die KA Rm Reg weisen insgesamt also genau sechs Sektionen auf, die auf Pas‐ sagen aus Rm 9-11 anspielen. Drei davon beziehen sich auf Rm 9 und ebenso drei auf Rm 11. Das gänzliche Fehlen einer Bezugnahme auf Rm 10 erscheint besonders bemerkenswert. Das folgende Diagramm 10 zeigt die Intervallgrößen der gesamten Kapitelliste. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 xx 0 100 200 300 400 500 Capitula Regalia (KA Rm Reg) Intervallgrößen, Mittelwert und Standardabweichung Nummer der Sektion Anzahl der Wörter (lt. Vulgata) Diagramm 10: KA Rm Reg - Intervallgröße, Mittelwert und Standardabweichung Man erkennt, dass sich die Wortanzahlen in den für Rm 9-11 relevanten Sektionen XVII-XXII kaum von den übrigen Sektionen des Briefes unterscheiden - mit Ausnahme der erwähnten Sektion XIX (im Diagramm dunkler), die offen‐ sichtlich deutlich zu hoch ausfällt. Im Vergleich der beiden Kapitellisten werden also signifikante Unterschiede sichtbar. Die nachfolgende Tabelle stellt zunächst die reine Anzahl der jewei‐ ligen Sektionen in den relevanten Abschnitten des Briefes gegenüber. 134 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 42 Gemeint ist der Römerbrief ohne die in 10 Rm als fehlend identifizierten Abschnitte ( 14 Rm 4 sowie 14 Rm 15,1-16,24). Anzahl der Sektionen KA Rm A KA Rm Reg Bezugnahmen auf Rm 9-11 16 6 davon auf Rm 9 7 3 davon auf Rm 10 3 0 davon auf Rm 11 6 3 Tabelle 2: Anzahl der Sektionen mit Bezug auf Rm 9-11 Um hier zu differenzierteren Aussagen zu gelangen, wird in der Folge die kon‐ krete Wortanzahl betrachtet, die eine Sektion der jeweiligen Kapitelliste ab‐ deckt. Auf diese Weise wird der Umfang der Textintervalle zwischen zwei auf‐ einanderfolgenden Capitula besser greifbar und vergleichbar. Für den relevanten Abschnitt stellt sich der Befund wie folgt dar: Mittlere Intervallgröße einer Sektion (Wortanzahl zwischen zwei aufeinanderfolgenden Sektionen) KA Rm A KA Rm Reg in Rm 9-11 83 Wörter 222 Wörter im sonstigen Römerbrief 42 114 Wörter 189 Wörter im gesamten Römerbrief 104 Wörter 197 Wörter Tabelle 3: Mittlere Intervallgröße in versch. Textteilen Die Auswertung der Intervallgrößen macht für den untersuchten Abschnitt zweierlei deutlich: 1. Die KA Rm A fassen den Bezugstext sehr kleinschrittig und detailliert zusammen. Insbesondere zeigt sich, dass diese Kleinschrittigkeit, die für die KA Rm A im Allgemeinen konstatiert werden kann, im untersuchten Abschnitt nun noch einmal deutlich gesteigert auftritt. 2. Die Intervalle in der KA Rm Reg sind dagegen grundsätzlich breiter an‐ gelegt. Für den untersuchten Abschnitt fällt nun aber auf, dass die Textintervalle sogar noch weiter gefasst sind, als dies für die gesamte Kapi‐ telliste, insbesondere aber für den restlichen Römerbrief, festzustellen ist. 135 5.2. Der paratextuelle Befund für Rm 9-11 43 Dies wird im folgenden Kapitel erneut aufgenommen und erklärt. 44 Wie bereits oben erwähnt, liegt allen in diesem Kapitel durchgeführten Berechnungen bzw. Wortzählungen der Text der Vulgata zugrunde. 45 Die beiden letzten Sektionen sind hier bereits abgezogen worden, da sie als sekundäre Ergänzungen identifiziert werden konnten; vgl. S. 65f. 46 Vgl. S. 135f. 47 Die empirische Standardabweichung s einer Stichprobe ist ein Streumaß. Sie gibt an, wie stark die einzelnen Werte der Stichprobe (in diesem Fall die einzelnen Intervall‐ größen) durchschnittlich vom berechneten arithmetischen Mittelwert abweichen; vgl. dazu Kap. 3.2.3 Anm. 79. 5.2.3. Deutung des paratextuellen Befundes Um die beiden genannten Beobachtungen zu erklären, formuliere ich an dieser Stelle zwei Hypothesen: Die erste Beobachtung belegt nach meinem Dafür‐ halten, dass die angenommene gemeinsame Vorlage der beiden Kapitellisten (UrKA) durch die KA Rm A sekundär erweitert wurde. 43 Dagegen weist die zweite Beobachtung darauf hin, dass der ursprüngliche Bezugstext der Kapitel‐ liste KA Rm Reg im hier untersuchten Abschnitt um einiges kürzer gewesen sein muss als in seiner uns heute vorliegenden Fassung. Diese Hypothese soll nachfolgend genauer plausibilisiert werden. Dies ge‐ schieht zunächst anhand einer detaillierten statistischen Auswertung der ein‐ zelnen Sektionen. Betrachtet man nämlich die Gesamtwortzahl des Römer‐ briefes des NT (5687) 44 und dividiert diese durch die Gesamtanzahl der Capitula der KA Rm Reg (27), 45 so ergibt sich eine mittlere Wortanzahl pro Sektion von 211 Wörtern. Rechnet man zusätzlich noch das im ursprünglichen Bezugstext der KA Rm Reg sehr wahrscheinlich komplett fehlende Abrahamkapitel heraus, so verringert sich die mittlere Intervallgröße auf 197 Worte. Dies stellt den in den nachfolgenden Betrachtungen und Berechnungen herangezogenen empiri‐ schen Mittelwert x der Stichprobe dar. Mit 222 Wörtern pro Intervall in Rm 9-11 zeigt sich nun eine Abweichung gegenüber dem Vergleichswert von 25 Wörtern. Diese Differenz erscheint auf den ersten Blick kaum außergewöhnlich. Schaut man dagegen allein auf die bereits oben beschriebene Sektion XIX, 46 so tritt hier zwischen XIX und XX mit 372 Wörtern ein ungewöhnlich großes Intervall auf. Diese Wortanzahl bedeutet eine Abweichung vom empirischen Mittelwert x von genau 175 und geht damit deutlich über die empirische Standardabweichung s der Stichprobe hinaus, welche für die KA Rm Reg etwa 102 Wörter beträgt. 47 Dadurch wird auch sta‐ tistisch sichtbar, was bereits auf den ersten Blick (es taucht schließlich keine einzige Sektionszahl im 10. Kapitel des Römerbriefes im Codex Regalis auf) un‐ 136 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ gewöhnlich erschien: die Menge an Text, die zwischen den Sektionen XIX und XX durch die KA Rm Reg unberührt bleibt, ist ungewöhnlich groß. Die bereits oben angeführte Erklärung für das beschriebene Phänomen geht davon aus, dass der betreffende Abschnitt (Rm 10) des ursprünglichen Bezugs‐ textes der KA Rm Reg schlicht weniger umfangreich war als der heute bekannte Text. Denn legte man konkret für das Intervall zwischen XIX und XX eine ge‐ ringere Wortanzahl zugrunde, so würde sich die entsprechende Intervallgröße im Rahmen der durchschnittlichen Standardabweichung einpegeln. Dass dies mehr ist als eine allein auf statistischen Zahlenspielen beruhende Vermutung, ist offensichtlich. Denn die besagte Annahme korrespondiert mit Tertullians Hinweis auf fehlenden Text im durch Marcion bezeugten Römerbrief zwischen Rm 10,5 und 11,32, was die Plausibilität der genannten Erklärung wesentlich erhöht. Neben der Parallelität bzgl. der jeweiligen Textgestalt von Rm 4 wird wiederum eine große Nähe sichtbar zwischen dem durch die Häresiologen be‐ zeugten Römerbrieftext des marcionitischen Apostolos und dem ursprünglichen Bezugstext der beiden Kapitellisten KA Rm A und KA Rm Reg. 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen Kommen wir nun zunächst zur Frage nach der Textgestalt 10 Rm 9-11 zurück. Die Analyse des häresiologischen Befundes ergab hier ein ambivalentes Bild. Eindeutig war aus Tertullians Formulierungen zu erkennen, dass im betreffenden Abschnitt des für Marcion bezeugten Römerbriefes Text fehlte. Unklar und uneindeutig schien allerdings, welchen Umfang der Text tatsächlich hatte bzw. wie der Graben bzw. die Gräben („Lücken“) im Text tatsächlich beschaffen waren, von denen Tertullian zeugt. Wie bereits beschrieben, legten H A R NA C K und L ÜK E verschiedene Erklärungen vor, wie dieser fehlende Text bzw. diese Lücke(n) tatsächlich ausgesehen haben könnten. Doch wessen Theorie kann mehr Plausibilität beanspruchen und welche Lösungsmöglichkeit deckt sich eher mit dem paratextuellen Befund der beiden untersuchten Kapitellisten? Folgt man H A R NA C K , so wären im Abschnitt 10 Rm 9-11 nur die Verse 10,1-4 sowie 11,33-36 zu lesen gewesen. Da sich der Text der einzelnen Sektionen der KA Rm Reg klar auf verschiedene Verse in Rm 9 als auch Rm 11 bezieht, stützt 137 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen 48 Die Annahme, dass die entsprechenden Sektionen allerdings auch sekundäre Ergän‐ zungen (möglicherweise auf einer anderen Stufe) darstellen, ist freilich auch vorstellbar. Denn auf die ältere Kapitelliste, auf welche die KA Rm Reg zurückgeht, haben wir keinen Zugriff. Harnacks Annahme eines kompletten Fehlens bleibt also (aufgrund des häresiologischen Zeugnisses) eine mögliche Option, ist aufgrund der Analyse des pa‐ ratextuellen Befundes allerdings eher als unwahrscheinlich einzuschätzen. Der sekun‐ däre Charakter der letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg ist (sowohl formal als auch intervallanalytisch) offensichtlich, der der auf Rm 9-11 rekurrierenden Sektionen da‐ gegen ganz und gar nicht. 49 Es geht also um den Abschnitt 14 Rm 9,30-10,21. 50 W I L C K E N S , An die Römer, S. 214 (Bd. 2). die Analyse der Kapitellisten H A R NA C K s Theorie zur Textgestalt von 10 Rm 9-11 nicht. 48 L ÜK E dagegen hatte nur ein Fehlen der alttestamentlichen Verweisstellen in dem betreffenden Textabschnitt angenommen. Da diese Referenzen besonders gehäuft im 10. Kapitel in die Argumentation des neutestamentlichen Römer‐ briefes eingeflochten sind, scheint sich die Plausibilität seiner Erklärung durch den Befund der KA Rm Reg tatsächlich zu erhöhen. Könnte es sich bei dem fehlenden Text in 10 Rm 10, der sich anhand der statistischen Analyse der Kapi‐ telliste und der Bezeugung Tertullians nahelegt, tatsächlich um die besagten alttestamentlichen Referenzen handeln? Um dies exemplarisch für den Textabschnitt Rm 10,5-11,32 nachzuprüfen, habe ich zunächst alle konkreten Bezüge auf Verse des AT entfernt, die sich zwischen den Sektionen XIX und XX der KA Rm Reg befinden. 49 Dies umfasst a) das Mischzitat aus Jes 8,14 und 28,16 in Rm 9,33, in dem vom Stein des An‐ stoßes, der in Zion gelegt wurde, die Rede ist. Bemerkenswert erscheint, dass beide Jesaja-Zitate hier in sehr eigentümlicher Weise miteinander verbunden werden. Die nahezu identische Verknüpfung der beiden Prophetenworte findet sich interessanterweise auch noch im ersten Petrusbrief (1 Petr 2,6-8). W IL ‐ C K E N S geht davon aus, dass die eigenwillige Zitatverbindung einer „urchristli‐ chen Testimonienkette“ 50 entstammt und unabhängig voneinander einmal von Paulus und einmal vom Verfasser des 1. Petrusbriefes in die jeweiligen Texte eingefügt wurde. Diese Annahme ist jedoch wenig plausibel, weil sie eine zu‐ sätzliche Vermittlungsgröße postuliert („Testimoniensammlung“); das ist nach dem Gesetz der Sparsamkeit methodisch nicht statthaft. Geht man dagegen davon aus, dass die entsprechende Passage im Zuge der redaktionellen Erwei‐ terung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung in den Römerbrief eingefügt wurde, so würde das die angenommene Redaktion in die Nähe des 1. Petrusbriefes setzen. Dies würde also implizieren, dass sich die redaktionellen 138 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ Aktivitäten nicht auf die Erweiterung und Überarbeitung der Paulusbriefe be‐ schränken, sondern auch andere Teile des Neuen Testaments umfassen. Ebenso wurden b) auch die aus dem Pentateuch entnommenen Ausführungen zur Gerechtigkeit, die einerseits (Rm 10,5) aus dem Gesetz (Lev 18,5), anderer‐ seits (Rm 10,6-8) aus dem Glauben kommt (Dtn 30,12f), aus dem gängigen Text herausgelöst. Die nochmalige Zitation c) von Jes 28,16 in Rm 10,11 wurde ebenso wie d) der Verweis auf Joel 3,5 in Rm 10,13 entfernt. Weiterhin wurde e) auf die Bezugnahme auf Jes 52,7 in Rm 10,15b und auf Jes 53,1 in Rm 10,16 verzichtet. Auch f) die Verse Rm 10,18-21, die en bloc den Unglauben Israels gegenüber dem Evangelium explizieren, beruhen komplett auf alttestamentlichen Wendungen und wurden daher aus dem Text herausgelöst. Der resultierende Text soll nun herangezogen werden, um die statistische Auswertung der Kapitellisten zu aktualisieren. Es wird deutlich, dass durch die Entfernung der umfangreichen alttestamentlichen Referenzen der Umfang des Intervalls, welches zwischen den Sektionen XIX und XX der KA Rm Reg auftritt, jetzt nur noch 171 Wörter beträgt. Nimmt man die mittlere Intervallgröße von 197 Wörtern als Bezugsgröße, entspricht dies einer Differenz von nur 26 Wörter. Diese Differenz liegt klar im Rahmen der empirischen Standardabweichung von 102 Wörtern. Ein Fehlen der o. g. alttestamentlichen Verweisstellen würde das außergewöhnlich große Intervall also nunmehr absolut unauffällig erscheinen lassen. Zu klären ist freilich noch, ob das Entfernen der besagten Passagen die Kohärenz des „übrig gebliebenen“ Textes in Frage stellt. Inwieweit verändert also des Fehlen der Bezugnahmen auf das AT den entsprechenden Abschnitt inhaltlich? Würde ihre Abwesenheit den Argumentationsgang des Textes modifizieren? Dies soll eine kurze Kohärenzanalyse zeigen. Tatsächlich liest sich der entsprechende Textteil auch ohne die alttestament‐ lichen Verweise relativ kohärent. Der Argumentationsgang des Abschnittes sieht wie folgt aus: Die Heiden haben die Gerechtigkeit Gottes erlangt, und zwar die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt (9,30). Für Israel gilt dies aller‐ dings nicht (9,31), da es die Gerechtigkeit aus den Werken (d. h. aus dem Gesetz bzw. der Tora) zu erlangen glaubt (9,32). Die Toragebote einzuhalten bemühen sich die Juden durchaus eifrig (10,2), weshalb Paulus für sie Fürsprache einlegt (10,1), zugleich aber klarstellt, dass auf diesem Weg die Gerechtigkeit Gottes nicht zu erlangen ist (10,3). Denn diese kommt nur aus dem Glauben an Christus und dessen Auferweckung von den Toten (10,4). Daran zu glauben und dies zu bekennen ist der einzige Weg zur Gerechtigkeit Gottes (10,9f) und dieser gilt für die Juden als auch für die Heiden gleicherweise (10,12). Anschließend bereitet Paulus seine Hauptthese vor, nämlich dass Israel nicht von Gott verstoßen sei 139 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen 51 Anscheinend liegt ein Wechsel zu einer Konstruktion nach dem Sinn (constructio ad sensum) vor, der als Subjekt möglicherweise Ἰουδαῖοι vorschwebt. Die Wahrnehmung dieser syntaktischen Inkongruenz spiegelt sich auch in der handschriftlichen Tradition des Verses wider. Denn in 629 pc und den Handschriften des Mehrheitstextes findet sich in Rm 10,1 anstatt des Personalpronomens eine Einfügung von τοῦ Ἰσραήλ ἐστιν, wo‐ durch die besagte Unebenheit geglättet wird. Interessanterweise geschieht diese Ein‐ fügung an dieser Stelle, nicht aber bereits in Rm 9,32, wo die besagte syntaktische Un‐ ebenheit erstmals auftritt. Dies könnte auf eine Textfrom hindeuten, in der die Verse 9,32f fehlten. (11,1). Er nimmt sein Volk gewissermaßen in Schutz (10,14f), sodass es von der drohenden Schuld, die dann das Verstoßen Israels durch Gott zur Folge hätte, teilweise entlastet werden kann. Dies geschieht dann in Rm 11. Thematische Sprünge sind in dem besagten Abschnitt nicht erkennbar. Der kausale Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen ist durch das Entfernen der alttestamentlichen Verweise nicht gestört. Folglich kann die Tiefenstruktur des bestehenden Textes als intakt bezeichnet werden. Der oben beschriebene Argumentationsgang ergibt sich in gleicher Weise auch aus dem kanonischen Text, also mit den Verweisstellen aus dem AT. Analysiert man nun die Kohäsion des Textabschnitts in 14 Rm, so werden doch einige Unebenheiten sichtbar. Einerseits ist die Pronominalisierung in Rm 10,1 auffällig. Demnach fleht Paulus zu Gott für sie (ὑπὲρ αὐτῶν), dass sie gerettet werden. Rm 9,31 macht klar, wer mit sie gemeint ist, nämlich Israel. Damit wäre dann aber eher der Genitiv Singular des Personalpronomens zu erwarten (ὑπὲρ αὐτοῦ). Diese Inkongruenz findet sich sowohl im für 10 Rm angenommenen Text (ohne 14 Rm 9,32b-33) als auch im herkömmlichen Text, denn auch im in 10 Rm fehlenden Vers 32b ist von sie statt von es (Israel) die Rede (προσέκοψαν). 51 Ein syntaktischer Bruch ist darüber hinaus für 14 Rm zwischen Vers 31 und 32 zu konstatieren. Denn in Vers 31 ist von οὐκ ἔφθασεν die Rede (das Verb wird im Singular verwendet), Vers 32b spricht aber von προσέκοψαν, verwendet das Verb also im Plural. Dieser Bruch könnte durch die Interpolation von Vers 32b entstanden sein, der das Jesajazitat in 14 Rm 9,33 einleitet. Die sekundäre Einfü‐ gung der alttestamentlichen Verweisstellen hat also auch auf der Textoberfläche Spuren hinterlassen. Der für 10 Rm angenommene Text, der z. B. das besagte Je‐ sajazitat nicht bietet, liest sich dagegen glatt. Es lässt sich also festhalten, dass der Text auch ohne die alttestamentlichen Belege sowohl inhaltlich als auch syntaktisch nicht weniger verständlich er‐ scheint als in seiner kanonischen Form. Dies ist freilich kaum verwunderlich, denn schließlich sind solche AT-Zitate quasi nie integrale Teile der Argumen‐ tation, sondern haben in der Regel nur eine Unterstützungsbzw. Plausibilisie‐ 140 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 52 Wie Rm 4 dienen auch die alttestamentlichen Zitate in erster Linie dazu, die Legitimität und Verlässlichkeit der Schrift zu belegen. 53 So fallen z. B. die letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg recht offensichtlich ins Auge sowie möglicherweise auch einige Sektionen der KA Rm A, z. B. XLII. rungsfunktion. 52 Für 10 Rm 9-11 einen Text anzunehmen, der hier ohne die alt‐ testamentlichen Verweisstellen auskommt, wäre also vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich. Tertullians Zeugnis in dieser Form zu deuten, wäre durch den Befund der KA Rm Reg gestützt und ergäbe zugleich einen Text für 10 Rm, der die argumentative Struktur des Abschnitts nicht verändert. Allerdings ist Folgendes zu fragen: Wie erklärt sich dann der Befund der KA Rm A, die beispielsweise für den fraglichen Abschnitt 9,30-11,33 insgesamt sechs Sektionen aufweisen? Steht diese Beobachtung nicht der eben formu‐ lierten Erkenntnis entgegen? Um diese Frage zu klären, ist es geboten, sich an die in Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit formulierten Überlegungen und Er‐ kenntnisse zu erinnern. Hierin zeigte sich, dass der schwierig zu deutende lite‐ rarische Befund der beiden Kapitellisten hinsichtlich ihres Verwandtschaftsver‐ hältnisses am ehesten unter der Annahme einer gemeinsamen Vorlage zu erklären ist. Diese Vorlage wurde mit dem Kürzel UrKA bezeichnet. Gegenüber der angenommenen Vorlage (UrKA) weisen beide hier analysierten Kapitelver‐ zeichnisse Ergänzungen unterschiedlichen Ausmaßes auf. Der tatsächliche Um‐ fang der jeweiligen sekundären Ergänzungen der UrKA lässt sich leider nicht mit Sicherheit aufzeigen, allerdings weisen einzelne Sektionen der untersuchten Listen sprachliche Merkmale auf, die mit großer Wahrscheinlichkeit für deren sekundären Charakter sprechen. 53 Auch die statistische Auswertung der Intervallgrößen kann als Indikator in dieser Frage gelten. Unter der Annahme, dass ein „ideales Kapitelverzeichnis“ den Bezugstext relativ gleichmäßig zusammenfasst, fallen Abschnitte besonders in den Blick, in denen die jeweiligen Intervallgrößen der einzelnen Sektionen eine überdurchschnittlich hohe Abweichung vom empirischen Mittelwert (also der durchschnittlichen Intervallgröße) aufweisen. Im Säulendiagramm belegen besonders niedrige Säulen, dass der Bezugstext sehr kleinschrittig zusammen‐ gefasst wurde. Dies könnte so gedeutet werden, dass die UrKA in diesen Ab‐ schnitten weniger Sektionen bot als die KA Rm A. Wie bereits zuvor erwähnt, tritt eine große Häufung von Sektionen ver‐ bunden mit überdurchschnittlich kleinen Intervallgrößen v. a. für den hier un‐ tersuchten Abschnitt Rm 9-11 auf. Es erscheint daher plausibel, dass auch einige Capitula der KA Rm A, die auf die Kapitel 9-11 des Römerbriefes Bezug nehmen, als nachträgliche Ergänzungen der UrKA zu verstehen sind. Denn nimmt man an, dass diese große Anzahl an Sektionen (16) der KA Rm A in der UrKA um 141 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen 54 Vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel dargelegten Erkenntnisse zum Abrahamkapitel überrascht, dass diese Ergänzungen nicht ebenso im Bereich Rm 4 ge‐ schahen. Entweder wurde dies wohl einfach übersehen, oder aber der originale Be‐ zugstext der KA Rm A hatte hier - genauso wie die gemeinsame Vorlage der beiden Kapitellisten - noch immer nicht den kanonischen Text ergänzt. einiges geringer war, würden sich die Intervallgrößen der originalen Capitula dem berechneten Erwartungswert von 104 Wörtern pro Sektion annähern. Im Diagramm würde dies dazu führen, dass die verbleibenden Säulen für den Text‐ abschnitt Rm 9-11 deutlich höher ausfallen und somit der Höhe der übrigen Säulen des Briefes eher entsprechen. Die ursprüngliche Kapitelliste UrKA, auf die KA Rm A (und KA Rm Reg) zurückgehen, bot also mit einiger Sicherheit in dem besagten Textabschnitt deutlich weniger Sektionen. Für die Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis der beiden Kapitellisten kann man nun guten Gewissens behaupten, dass die gemeinsame Vorlage von der KA Rm Reg mit einiger Wahrscheinlichkeit we‐ sentlich originalgetreuer wiedergegeben wird. Allein die Annahme einer Er‐ gänzung der letzten beiden Sektionen drängt sich auf. Bei der Entstehung der KA Rm A wurde die (gemeinsame) Vorlage dagegen umfangreich ergänzt. Ins‐ besondere in dem eben analysierten Bereich Rm 9-11 sind zahlreiche sekundäre Sektionen entstanden, die dann also in diesem Abschnitt auf 14 Rm als Bezugstext hindeuten - anders als im Abschnitt um Sektion X, dessen Bezugstext unstrittig 10 Rm ist. 54 Somit lässt sich festhalten, dass der Befund der KA Rm A nicht im Wider‐ spruch zu der bereits oben formulierten Annahme steht, dass der ursprüngliche Bezugstext der UrKA innerhalb von Rm 9-11 deutlich weniger Text beinhaltete als der uns heute in den Handschriften bezeugte Text des Römerbriefes. Diese Einsicht ergab sich aus der Analyse der KA Rm Reg. Besonders bemerkenswert erscheint, dass der paratextuelle Befund ein weiteres Mal mit der häresiologi‐ schen Bezeugung für den von Marcion verwendeten Römerbrief korrespondiert. Man muss also davon ausgehen, dass der kürzere Text des Römerbriefes ( 10 Rm) auch in diesem Abschnitt einige signifikante Erweiterungen erfuhr. In der jüngeren Forschung hat zuletzt L ÜK E die These formuliert, dass diese Erweiterungen v. a. einige der im besagten Abschnitt besonders häufig auftre‐ tenden Bezüge auf das Alte Testament umfasst. Die vorliegende Arbeit konnte diese Annahme anhand der genauen Analyse des häresiologischen Befundes bestätigen und durch den Befund der Kapitellisten (v. a. der KA Rm Reg) argu‐ mentativ auf festeres Fundament stellen. Folgt man L ÜK E , müssen neben den Schriftzitaten im Textabschnitt Rm 10,4-11,32 freilich noch weitere Passagen aus 14 Rm 9-11 auf dem Prüfstand stehen, in denen alttestamentliche Verweise 142 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 55 Möglicherweise sind auch das Hosea- und die beiden Jesajazitate aus 14 Rm 9,25-29 se‐ kundär ergänzt worden. Ein Herauslösen der besagten Verse würde die Argumentation des ursprünglichen Textes nicht verändern. 56 L O N G E N E C K E R , Introducing Romans, S. 237: „Why did Paul quote and allude to so many biblical passages in writing the Christians at Rome, when elsewhere in his letters he is more reserved in his use of Scripture? “ 57 Vgl. L O N G E N E C K E R , Introducing Romans, S. 237. In der Zählung wurde Hebr ausgeklam‐ mert, da er offensichtlich nicht als paulinischer Brief verstanden wird, obwohl er Teil der 14-Briefe-Sammlung ist. 58 L O N G E N E C K E R , Introducing Romans, S. 238. auftauchen. Dies betrifft beispielsweise 14 Rm 9,7.9-13. Da es sich bei dieser Stelle um eine mentio Abrahae handelt (deren Fehlen Tertullian ja belegt - wie bereits oben dargelegt), war auch diese alttestamentliche Belegstelle im ursprünglichen Textbestand des Römerbriefes nicht vorhanden. 55 Allerdings haben zweifelsfrei nicht alle alttestamentlichen Bezüge im Text von 10 Rm 9-11 gefehlt, wie z. B. Tertullians Bezeugung für den Hymnus in 11,33- 36 zeigt. Somit wird deutlich, dass man es sich methodisch keinesfalls so leicht machen und einfach alle Verweise auf das AT im relevanten Abschnitt heraus‐ streichen kann. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass der Text auch ohne die alttestament‐ lichen Verweisstellen ein hohes Maß an Kohärenz und Kohäsion aufweist. Die argumentative Struktur des Abschnittes verändert sich durch die angenom‐ menen Hinzufügungen kaum. Diese Grundstruktur wird anhand der Beschrei‐ bung des Abschnitts in der KA Rm Reg treffend nachgezeichnet. Ein komplettes Fehlen der gesamten Kapitel 9-11, wie es H A R NA C K und S C HMID für 10 Rm rekon‐ struieren, muss daher sowohl aufgrund der Bezeugung Tertullians als auch des paratextuellen Befundes als überaus unwahrscheinlich angesehen werden. Eine weitere Beobachtung erhöht die Plausibilität der gefundenen Lösung: So wurde schon oft die Frage gestellt, warum gerade im Römerbrief die Anzahl der alttestamentlichen Zitate so hoch ist, während in den übrigen Paulusbriefen weitaus seltener auf das AT rekurriert wird. 56 Es finden sich nämlich in den Paulusbriefen des Neuen Testaments genau 83 solcher Verweise; mehr als die Hälfte davon (45) tauchen im Römerbrief auf. 57 L O N G E N E C K E R konstatiert in diesem Zusammenhang: „Paul’s usual practice when writing Gentile Christians […] was not to quote or allude to OT passages at all in support of his argu‐ ments.“ 58 Freilich könnte man hier entgegenhalten, dass es sich beim Römerbrief eben um den längsten der Paulusbriefe handelt und hier naturgemäß mehr Schriftzitate zu erwarten sind als in den kürzeren Texten. Dennoch bleibt die Bezugnahme auf das AT innerhalb des 14 Rm unverhältnismäßig hoch. Die hier vorgestellte Lösung, dass in 10 Rm im relevanten Abschnitt deutlich weniger alt‐ 143 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen 59 Gleiches gilt auch für Eph 2,9. testamentliche Zitate zu lesen waren, würde die von L O N G E N E C K E R gestellte Frage zu einer plausiblen Antwort führen: Die für 14 Rm unverhältnismäßig hohe Zahl an Bezügen und Zitaten aus dem Alten Testament geht nicht auf Paulus, sondern auf eine sekundäre Bearbeitung zurück, in welcher der Text des 10 Rm (insbe‐ sondere in den Kapiteln 9-11) umfangreich erweitert wurde. Diese Bearbei‐ tungstendenz fügt sich wiederum hervorragend in das bereits im vorigen Kapitel herausgearbeitete redaktionelle Konzept ein. Der Erweis der Schriftkonformität (d. h. der Kohärenz zwischen Altem und Neuem Testament) und die Betonung der Verlässlichkeit der jüdischen Traditionen konnte als ein inhaltlicher Schwer‐ punkt der redaktionellen Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14- Briefe-Sammlung verstanden werden, der sich bereits aus den Untersuchungen zu Rm 4 und Rm 10,1-4 ergeben hatte. Offen blieb allerdings bisher die Frage, ob und - wenn ja - in welcher Form die Verse 9,31f und 11,5f bereits Teil von 10 Rm waren oder ob sie im Zuge der redaktionellen Erweiterung zum Textbestand hinzukamen bzw. Veränderungen erfahren haben. Dies ist deshalb von Bedeutung, da es - neben 14 Rm 4 - die einzigen Stellen im Römerbrief (und abgesehen von Eph 2,9 auch den übrigen Briefen der 10-Briefe-Sammlung) sind, in denen im Kontext der Recht‐ fertigungsvorstellung undifferenziert über die Heilsbedeutung der ἔργα (anstatt der ἔργα νόμου, wie z. B. in Rm 3 und Gal 2) referiert wird. Die Vermutung lag nahe, dass die allgemeine Formulierung auf die (kanonische) Redaktion zurück‐ geht, während in der 10-Briefe-Sammlung noch spezifisch von den Werken des Gesetzes die Rede war. In diesem Zusammenhang ergibt sich Folgendes: 1. Die besagten beiden Textstellen des Rm sind unbezeugt, d. h. es existieren keinerlei Aussagen der Häresiologen, die das Vorhandensein bzw. das Fehlen der beiden Verse in dem von Marcion verwendeten Römerbrief belegen. 59 2. Auch die Untersuchung des paratextuellen Befundes lieferte keine zwin‐ genden Argumente, die auf das Fehlen der besagten Textstellen in 10 Rm hinweisen. 3. Allerdings zeigt ein Blick in die sonstige handschriftliche Überlieferung, dass für Rm 9,32 beide Varianten (ἔργα und ἔργα νόμου) bezeugt sind. Während u. a. ℵ d* A B F G hier allgemein von Werken sprechen, ist in ℵ 2 D Ψ 33 𝔐 - (Mehrheitstext) sowie in einer Vulgatahandschrift als auch der syrischen Überlieferung von den Werken des Gesetzes die Rede. Insofern die letztere Lesart tatsächlich den Text von 10 Rm 9,32 repräsentiert, muss die kürzere Variante wohl im Zuge der redaktionellen Überarbeitung der 144 V. Rm 9-11 - ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“ 60 Insofern man davon ausgeht, dass auch Eph 2,9 noch nicht Teil der 10-Briefe-Sammlung war. 61 Allerdings merkt R ÖH S E R , Prädestination, S. 139 Anm. 164 an, dass es in Rm 11,5f gar nicht um Rechtfertigung, sondern um Prädestination geht: „Die prädestinierende Gnade ist wieder dezidiert von der Rechtfertigungsgnade (die nicht prädestinatianisch zu ver‐ stehen ist) zu unterscheiden! “ 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung entstanden sein. Diese Schlussfolgerung legt sich aufgrund der zuvor gemachten Beobachtungen zum redaktionellen Konzept der angenommenen Bearbeitung nahe. 4. Für Rm 11,5f ist der handschriftliche Befund dagegen unauffällig. Mögli‐ cherweise ist es also die einzige Stelle innerhalb der gesamten 10-Briefe-Sammlung, 60 in der Paulus die Kurzform ἔργα statt ἔργα νόμου im Kontext der Rechtfertigungsvorstellung verwendet. 61 Fazit: Sowohl das Fehlen von Rm 4 als auch das Fehlen großer Teile von Rm 9- 11 ist also nicht als singuläres Phänomen des für Marcion bezeugten Textes zu verstehen. Tatsächlich hat es auch nachweislich Spuren in anderen Bereichen der Texttradition hinterlassen, nämlich in den paratextuellen Beigaben, genau genommen in den Kapitelverzeichnissen der lateinischen Bibelausgaben. Laut dem Kriterium der anderweitigen Bezeugung (attestation elsewhere) fallen damit für den Römerbrief die beiden letzten Belege weg, die S C HMID weiterhin davon ausgehen haben lassen, Marcion als Textbearbeiter zu begreifen, der die Texte des NT verkürzt hat. Dies stellt einen weiteren Beleg für die heuristische Grund‐ annahme der Arbeit dar, dass die 14-Briefe-Sammlung als eine redaktionelle Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zu verstehen ist. Nun ist im letzten Schritt der vorliegenden Untersuchung zu analysieren, ob diese Theorie auch für eine neue Lösung des eingangs formulierten Problems des Römerbriefschlusses fruchtbar gemacht werden kann. 145 5.3. Ergebnis und Schlussfolgerungen 1 Übers. H E I T H E R , S. 280f. VI. Der Schluss des Römerbriefes Das folgende Kapitel nimmt die eingangs bereits angerissene Fragestellung nach dem Schluss des Römerbriefes auf. Im Unterschied zu anderen Ab‐ schnitten des Römerbriefes variiert der Text an seinem Ende in ungewöhn‐ lich hohem Maße. Dies betrifft zum einen die große Anzahl an unterschied‐ lichen Textzuständen, die in der handschriftlichen Überlieferung bezeugt sind. Andererseits handelt es sich bei den auftretenden Varianten um außerge‐ wöhnlich umfangreiche Textabschnitte, die an verschiedenen Stellen des Textes zu lesen sind, ja teilweise sogar um ganze Kapitel, die in einigen Hand‐ schriften in Gänze fehlen. Zunächst muss festgestellt werden, wie der Schluss des Römerbriefes in der 10-Briefe-Sammlung aussah. Dies geschieht wie üblich anhand der genauen Analyse der häresiologischen Bezeugung. Anschließend soll der paratextuelle Befund bemüht werden, um zu eruieren, ob dieser mit dem Zeugnis der Häre‐ siologen korrespondiert. In der Folge wird überprüft, ob - gemäß dem Grund‐ ansatz der Arbeit - der 10 Rm als älteste erreichbare Textform der Überlieferung in Frage kommt und ob auf diese Weise auch das eingangs zitierte schwerwie‐ gende textkritische Problem des Römerbriefschlusses zu einer neuen Lösung geführt werden kann. 6.1. Die häresiologische Bezeugung für den Schluss von 10 Rm Das Fehlen der letzten beiden Kapitel in 10 Rm ist durch die ausführliche Bemer‐ kung Origenes’ in dessen Römerbriefkommentar gesichert. Bezüglich der Do‐ xologie in 14 Rm 16,25-27 findet sich nämlich folgende Bemerkung: 1 2 R Y D E R , Authorship, S. 186 verweist auf ein einzelnes Origenesmanuskript (Reg. 1639), welches hier caput hic liest. Vgl. dazu auch H O R T , End of the Epistle, S. 60. 3 In selbigem Manuskript (vgl. die vorhergehende Anm.) lautet der Text hier in eo loco; vgl. R Y D E R , Authorship, S. 186 sowie H O R T , End of the Epistle, S. 60. 4 Vgl. dazu exemplarisch G A M B L E , The Textual History, S. 22, der hierin auch auf aus‐ führliche Untersuchungen hinsichtlich der Übersetzungstätigkeit des Rufin, insbeson‐ dere des Römerbriefkommentars des Origenes, verweist (Anm. 34). Dieses Stück [Rm 16,25-27] hat Marcion, der die Schriften der Evangelien und der Apostel durch Streichungen verfälscht hat, aus diesem Brief vollständig getilgt, und nicht nur das, sondern schon von der Stelle an, wo es heißt: ‚Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde‘ (Röm 14,23), hat er bis zum Ende alles gestrichen. In anderen Handschriften da‐ gegen, das heißt in denen, die nicht von Mar‐ cion leichtfertig behandelt wurden, finden wir diesen Teil an verschiedener Stelle. Denn in manchen Kodizes wird nach der Stelle, die wir oben genannt haben, das heißt nach dem Wort: ‚Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde‘ (Röm 14,23), sofort angeschlossen: ‚Dem aber, der die Macht hat, euch Kraft zu geben‘ [Röm 16,25a]. Andere Kodizes dagegen haben diesen Teil [scil. die Doxologie] am Ende [des Römerbriefes], wo er jetzt steht. Caput hoc 2 Marcion, a quo scrip‐ turae evangelicae atque apostolicae interpolatae sunt, de hac epistula penitus abstulit, et non solum hoc, sed et ab eo loco 3 ubi scriptum est: ‚Omne autem, quod non est ex fide, peccatum est‘, usque ad finem cuncta dissecuit. In aliis vero exemplaribus, id est in his, quae non sunt a Marcione temerata, hoc ipsum caput diverse positum inve‐ nimus. In nonnullis etenim codi‐ cibus post eum locum, quem supra diximus, hoc est ‚omne autem, quod non est ex fide, peccatum est‘, statim cohaerens habetur: ‚Ei autem, qui potens est vos confirmare‘. Alli vero codices in fine id, ut nunc est po‐ situm, continent. Orig. KommRm. 10,43 Wenngleich das Zeugnis nur durch die lateinische Übersetzung des Kommentars aus der Feder Rufins überliefert ist, wird in der Forschung einhellig die Position vertreten, die Wiedergabe als verlässlich einzuschätzen. 4 Inhaltlich ergibt sich aus der Aussage des Origenes zweierlei: 1. Der von Marcion verwendete Römerbrief endete nach Rm 14,23 - sowohl die Kapitel 15 und 16 als auch die Doxologie fehlten. Origenes macht für dieses Fehlen Marcion selbst verantwortlich, d. h. er wirft ihm - dem hä‐ resiologischen Duktus Tertullians folgend - die Streichung der genannten Textteile vor. Marcion hätte demnach nicht nur Teile der letzten beiden Kapitel getilgt, sondern diese komplett aus seinem Text entfernt (Marcion (…) penitus abstulit). 2. In anderen, nicht von Marcion beeinflussten (quae non sunt a Marcione temerata) - also „katholischen“ - Handschriften findet sich die Doxologie an verschiedenen Stellen: einmal nach 14,23 und einmal am Ende des Briefes. Seinem Kommentar folgend setzt er dabei voraus, dass das Brief‐ 148 VI. Der Schluss des Römerbriefes 5 Bemerkenswert erscheint der Hinweis insbesondere deshalb, da Origenes ausdrücklich betont, dass es sich bei den Manuskripten, die die Doxologie nach 14,23 lesen, nicht um solche handelt, die von Marcion beeinflusst sind. Dies erhöht die Zahl der durch Ori‐ genes bezeugten Textformen. Gleichzeitig ergibt sich ein gewisser Widerspruch: Ei‐ nerseits beschuldigt Origenes Marcion der Tilgung der beiden Schlusskapitel, anderer‐ seits scheint er katholische Handschriften zu kennen, welche durch die ungewöhnliche Stellung der Doxologie nach 14,23 eine textliche Besonderheit aufweisen, die er wie‐ derum ausdrücklich nicht auf Marcions Streichungstätigkeit zurückführt. 6 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,14,14. 7 Vgl. Kap. 6.3.4. Der kurze Römerbrief als älteste erreichbare Textform (v. a. S. 172f). ende nach den Kapiteln 15 und 16 liegt. Klar ist, dass er 14,23 nicht als Briefende versteht. 5 Betrachtet man das Zitat genauer, so lässt sich bereits ein erster Hinweis ge‐ winnen, der für die Erfassung und Beantwortung der unterschiedlichen Frage‐ stellungen das Ende des Römerbriefes betreffend, aufschlussreich sein könnte. Denn Origenes’ Worte implizieren, dass die ihm geläufige Position der Doxo‐ logie nach den Kapiteln 15 und 16 offenbar nicht die ursprüngliche ist, sondern dass die Doxologie eben erst jetzt am Briefende auftaucht („ut nunc est positum“). Glaubt man also Origenes’ Zitat, so scheint der ursprüngliche Platz der Doxo‐ logie - zumindest in den Manuskripten, die ihm bekannt sind - also tatsächlich nach Rm 14,23 zu sein. Erst im Nachhinein findet sie sich am jetzigen Briefende. Hinsichtlich der Frage nach dem Ende des Römerbriefes im marcionitischen Apostolos deckt sich Origenes’ Zeugnis mit Tertullians Auseinandersetzung mit Marcions Text in Adv. Marc. Anders als Origenes geht Tertullian zwar nicht explizit auf die Doxologie und damit auf den Schluss des Briefes ein (er be‐ schuldigt Marcion also nicht der Streichung), allerdings bezieht sich sein letztes Referat auf Rm 14,10, in dem er vom Richterstuhl Christi (tribunal Christi) 6 spricht. Alles danach Folgende lässt Tertullian unkommentiert. Da auch die üb‐ rigen Häresiologen (z. B. Epiphanius) in keiner Weise auf einen Vers aus Rm 15 f in Marcions Römerbrief eingehen, kann man die sehr konkrete Aussage des Origenes bezüglich des Textumfangs am Schluss des Römerbriefes in Marcions Apostolos als vertrauenswürdig bewerten. Das argumentum e silentio (also das Schweigen Tertullians und Epiphanius’ bzgl. Rm 15 f) korreliert also mit der positiven Aussage des Origenes. Als Fazit ist also festzuhalten, dass 10 Rm tat‐ sächlich mit Rm 14,23 endet. Weder die Kapitel 15 und 16 noch die Doxologie tauchten darin auf. Ob im Anschluss an 14,23 noch eine Art Postskript (in Form eines Segenswunsches) zu lesen war, wie es auch in den übrigen Paulusbriefen auftaucht, wird an späterer Stelle diskutiert. 7 Nun soll zunächst untersucht 149 6.1. Die häresiologische Bezeugung für den Schluss von 10 Rm 8 „Codex Latinus habet capitulae epistolae ad Romanos 51, desinit autem in capite 14. Ex quo conficitur, ista capita ad editionem Marcionis fuisse accomodata.“ Text W E T T S T E I N , Ἡ Καινὴ Διαθήκη, S. 91. 9 Exemplarisch dazu L U C H T , Ueber die beiden letzten Kapitel, S. 41: „[U]nd bis jetzt ist von diesem Codex nichts Näheres bekannt geworden. Er wird also wahrscheinlich ohne alle Bedeutung sein.“ L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 196 wies darauf hin, dass der Ausdruck desinunt statt desinit wohl einiges an Konfusion erspart hätte. 10 Vgl. H O R T , End of the Epistle, S. 66. werden, ob bzw. inwieweit dieser Befund mit den paratextuellen Beigaben des Römerbriefes konvergiert. 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f Die Bedeutung der Kapitellisten für die Erforschung der Textgeschichte des Rö‐ merbriefes wurde zuerst in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Johann Jakob W E TT S T E IN , gleichsam einem Vorreiter der neutestamentlichen Textkritik, ge‐ sehen. Zu Rm 14,23 merkte dieser an: „Der lateinische Kodex hat 51 Kapitel beim Brief an die Römer, er endet aber in Kapitel 14. Daraus wird geschlossen, dass diese Kapitel an die Ausgabe des Marcion angepasst worden seien.“ 8 Diese einigermaßen ungenaue Bemerkung wurde lange missverstanden - kein solcher Codex Latinus schien auffindbar zu sein. 9 Erst H O R T erkannte, dass sich W E T T S T E IN s Bemerkung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf den Text einer einzelnen Handschrift, sondern auf die diversen lateinischen Kodizes vorange‐ stellten Kapitellisten bezieht. 10 Konkret sind es wiederum die KA Rm A und KA Rm Reg, die nach einer genauen Analyse verlangen. 6.2.1. Die Capitula Amiatina und der Schluss des Römerbriefes Wie eben erwähnt, gründet sich die bisherige textkritische bzw. -geschichtliche Relevanz der Capitula Amiatina einzig auf der folgenden Besonderheit, welche die letzten beiden Sektionen der Kapitelliste betrifft. Der entsprechende Text lautet wie folgt: Über die Gefahr, wenn man seinen Bruder durch seine Speise betrübt (14,15) und dass es im Reich Gottes nicht Speise und Trank gibt, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist (14,17). De periculo contristante fratrem suum esca sua et quod non sit regnum dei esca et potus sed iustitia et pax et gaudium in spiritu sancto. 150 VI. Der Schluss des Römerbriefes 11 Die Formulierung in der KA Rm A, dass das Geheimnis des Herrn nach seiner Passion offenbart wurde, weist auf einen Bezugstext hin, der eine andere Offenbarungsquelle nahelegt als dies der Text der meisten Handschriften tut. In denen wird nämlich gesagt, dass das Geheimnis durch die Schriften der Propheten (γραφῶν προφητικῶν) offenbart wurde. Im Text der besagten Sektion LI der KA Rm A dagegen ist in keiner Weise von den Schriften der Propheten die Rede, sondern es wird auf das Passionsgeschehen Christi verwiesen. Dies deutet auf eine Variante in der Überlieferung hin, die hier und die Of‐ fenbarung unseres Herrn Jesus Christus (καὶ τῆς ἐπιφανείας τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ) ergänzt. Sie wird lt. NA 28 von den Kirchenvätern Origenes und Hieronymus bezeugt. 12 Zwischen den beiden „bezeugten“ Versen liegen in der Vulgata 920 Wörter. Kein anderes Intervall zwischen zwei benachbarten Sektionen der Kapitellisten ist von ähnlich großem Umfang. 13 Vgl. Kap. 3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse (v. a. S. 49). Über das Geheimnis des Herrn, unausgesprochen vor der Passion, dessen Wahrheit selbst offenbart wurde nach der Passion (16,25f). De mysterio domini ante passionem in silentio habito post passionem vero ipsius revelato. KA Rm A (Sektionen L und LI) Capitulum L stellt die vorletzte Sektion der gesamten Kapitelliste dar. Der Text spielt auf Rm 14,15a.17 an, wo es heißt: „Wenn aber dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, so handelst du nicht mehr nach der Liebe (V. 15a).“ sowie „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist (V. 17).“ Die darauffolgende Sektion LI (die letzte der KA Rm A) greift nun Formulierungen der Schlussdoxologie des Römerbriefes auf, in welcher die Rede ist vom Geheimnis, „das seit ewigen Zeiten verschwiegen war (V. 25), nun aber offenbart und kundgemacht ist durch die Schriften der Propheten (V 26a).“ 11 Auffällig ist, dass somit der komplette Textabschnitt zwischen Rm 14,15a.17 und Rm 16,25f in den KA Rm A unberücksichtigt bleibt. Sollte der Verfasser des Kapitelverzeichnisses hier einen solch großen, nach heutiger Zählung 63 Verse umfassenden Textabschnitt (Rm 14,17-16,24) 12 einfach stillschweigend (d. h. un‐ bewusst) übergangen haben? Dies erscheint sehr unwahrscheinlich, wäre es doch im Rahmen der bekannten Kapitelreihen ein absolut singuläres Phänomen und ihrem Zweck zuwiderlaufen. Denn wie bereits erwähnt wurde, fungieren die Kapitelverzeichnisse ja v. a. als Orientierungshilfe für den kompletten (! ) ihnen zugrunde liegenden Bezugstext. 13 Auch die Option einer bewussten Auslassung aufgrund des möglicherweise trivial erscheinenden Inhalts lässt sich mit Blick auf die Kapitellisten des Codex Amiatinus zu den übrigen paulinischen Briefen leicht widerlegen: nirgends sonst werden Abschnitte übergangen, die - wie Rm 16 - allein persönliche An‐ 151 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f 14 Vgl. dazu die jeweiligen letzten Sektionen zu den übrigen Paulusbriefen, beispielsweise KA Kol A, wo die letzten acht Sektionen (XXIII - XXXI) die den Brief abschließenden Grüße sowie den Segenswunsch zusammenfassen. 15 Schon L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 202 bemerkt dahingehend: „Nor […] is there any reason, why the 15 th chapter should be excluded from the lessons; for it is much more fit for public reading than many sections elsewhere, which are retained. Even the 16 th chapter would be treated with exceptional rigour on this showing, for in other epistles the paragraphs containing the salutations are religiously recorded in the capi‐ tulation.“ 16 Vgl. H O R T , End of the Epistle, S. 66f. gelegenheiten, Reisepläne, Grüße etc. enthalten. 14 Noch zweifelhafter erscheint die Annahme, dass Rm 15 aus thematischen Gründen keine Erwähnung findet, bietet das Kapitel doch zweifellos inhaltlich weitaus bedeutsamere Passagen als einige andere Sektionen des Römerbriefes. 15 Eine bewusste Auslassung aus in‐ haltlichen Gründen kann daher nicht als Erklärung des beschriebenen Befundes dienen. Beachtenswert scheint in diesem Zusammenhang auch ein weiteres Phä‐ nomen, das in ähnlicher Art und Weise bereits bei der Analyse der KA Rm Reg zu beobachten war: So findet sich nämlich die letzte Sektionszahl LI der KA Rm A im Bezugstext am Rand von Rm 15,4 eingefügt. Da das Capitulum inhaltlich allerdings auf die Doxologie verweist, diese im tatsächlichen Bezugstext aber erst ganz am Ende (d. h. nach Kap. 16) zu lesen ist, erscheint die Positionierung der Sektionszahl an der genannten Stelle komplett unpassend. Ein Blick in die Forschungsgeschichte bietet hierfür verschiedene Erklä‐ rungen an. So erwägt H O R T , dass die „falsche“ Stellung der Sektionszahl schlicht auf ein Missverständnis zurückgehen könnte. Allerdings erwägt er auch eine zweite Erklärungsmöglichkeit. Demnach würde die Position der Sektionszahlen auf eine Handschrift hindeuten, in welcher die Doxologie unmittelbar nach Ka‐ pitel 14 folgt, die Kapitel 15 und 16 also fehlen. 16 In der Folge führte L I G HT F O O T den Erklärungsansatz H O R T s weiter aus und lieferte so die bis heute gängige Erklärung des beschriebenen Phänomens: Dem‐ nach fehlten im ursprünglichen Bezugstext der KA Rm A die Kapitel 15 und 16, nicht allerdings die abschließende Doxologie. Ein späterer Kopist adaptierte das Kapitelverzeichnis dann für eine Version des Briefes, die zwischen Kapitel 14 und der Doxologie noch die Kapitel 15 und 16 las. Dieser Text wies allerdings keinerlei Sektionszahlen irgendeiner Kapitelliste auf. Da der Kopist nun in dem Umfeld, in welchem die Sektionszahl LI in der ursprünglichen Vorlage erschien, in dem Text der längeren Version nichts Entsprechendes finden konnte, schrieb er die LI einfach an die Stelle, an der die Sektionszahl in seiner (kürzeren) Vorlage 152 VI. Der Schluss des Römerbriefes 17 Vgl. L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 197. 18 So war für Riggenbach einerseits klar, dass in dem Bezugstext der Capitula Amiatina die Doxologie am Ende des 14. Kapitels stand. Bezüglich des Fehlens von Rm 15,1-16,24 weist er andererseits darauf hin, „dass in einigen Handschriften die Breves mehr als 51 Capitula zählen, indem auch noch der Inhalt von Röm. 15 und 16 berücksichtigt wird. Von vornherein lässt sich nicht über die Aechtheit oder Unächtheit dieser Zusätze ent‐ scheiden“; R I G G E N B A C H , Textgeschichte der Doxologie, S. 544. Mit diesen „Zusätzen“ meint Riggenbach tatsächlich die letzten beiden Sektionen XXVIII und XXIX der KA Rm Reg. Deren sekundärer Charakter wird weiter unten (vgl. Kap. 6.2.2.) nachgewiesen. Auch Z A H N , Einleitung, S. 280 erachtet daran anschließend die o. g. Folgerung als äu‐ ßerst unsicher, da nicht bewiesen ist, „daß die Capit. Amiat. mehr als ein Fragment ist.“ stand. 17 Entweder nahm er es in Kauf, dass Bezugstext und Sektionszahl auf diese Weise nicht miteinander korrespondieren, oder es fiel ihm schlicht gar nicht auf. Beides läuft jedoch auf dieselbe Schlussfolgerung hinaus: Die Capitula Amiatina bezeugen eine Version des Römerbriefes, welche die Doxologie zum einen un‐ mittelbar nach Kapitel 14 las (da die Sektionszahl LI direkt nach dem Ende des 14. Kapitels erscheint) und diese zum anderen auch den Abschluss des Römer‐ briefes bildete. Seit L I G HT F O O T wurde dies in der neutestamentlichen Forschung nahezu ausnahmslos so gesehen 18 und rückte das Kapitelverzeichnis v. a. im Rahmen der Diskussionen um den Schluss des Römerbriefes in den Fokus der textkritischen Betrachtung. Die vorliegende Studie hat allerdings deutlich gemacht, dass im ursprüngli‐ chen Bezugstext der KA Rm A neben Rm 15 f (ohne Doxologie) noch weitere größere Textabschnitte gefehlt haben. Wie oben gezeigt, bezeugen die KA Rm A tatsächlich einen Textzustand des Römerbriefes, in dem neben den Kapiteln 15 und 16 auch das Kapitel 4 als auch große Teile der Kapitel 9-11 gefehlt haben. Diese Besonderheiten deuten unverkennbar auf 10 Rm hin, denn auch der Rö‐ merbrief im Rahmen der 10-Briefe-Sammlung weist im Vergleich zu 14 Rm genau diese Textdifferenzen auf. In der Auswertung der Paratexte (insbesondere der Kapitellisten) ist also zwingend eine globale Perspektive auf den Römerbrief erforderlich, da dieser erstaunliche Zusammenhang zwischen dem Text der Ca‐ pitula Amiatina und dem für Marcion bezeugten Text ansonsten verborgen bleiben würde. 6.2.2. Die Capitula Regalia und der Schluss des Römerbriefes Die KA Rm Reg weisen in den letzten Sektionen gegenüber der KA Rm A auf den ersten Blick einen leicht abgewandelten Befund auf. Neben geringfügigen Unterschieden im Wortlaut, sind auffällige Differenzen hinsichtlich der Auftei‐ 153 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f 19 In Anhang I befindet sich eine synoptische Darstellung der beiden Kapitellisten, aus der die beschriebenen Phänomene leichter ersichtlich sind. 20 KA Rm A: De periculo contristante fratrem suum esca sua et quod non sit regnum dei esca et potus sed iustitia et pax et gaudium in spiritu sancto. | Über die Gefahr, wenn man seinen Bruder durch seine Speise betrübt (14,15) und dass es im Reich Gottes nicht Speise und Trank gibt, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist (14,17). 21 Als einziges weiteres Beispiel sind die Sektionen III und IIII der KA Rm Reg in der KA Rm A zu einem Abschnitt (nämlich Sektion VI) zusammengefasst. lung sowie des Umfangs der Sektionen festzustellen. 19 Die relevanten Texte lauten wie folgt: Über die Gefahr, wenn man seinen Bruder durch seine Speise betrübt (14,15). De periculo contristante fratrem suum esca sua. Über das Geheimnis des Herrn, das vor der Passion unausgesprochen war (16,25). De mysterio domini ante passionem in silentio habitat. Nach der Passion des Herrn selbst ist das Geheimnis offenbar (16,26). Post passionem domini ipsius mysterio [sic! ] revelatus. Das Flehen des Paulus zum Herrn, ihn vor den Ungläubigen zu retten. (15,30f). Obsecratio pauli ad dominum ut liberetur ab infidelibus. Der Gruß des Paulus an die Brüder (16,3-16). Salutatio pauli ad fratres. KA Rm Reg (Sektionen XXV - XIX) Bei der bisherigen Analyse der beiden Kapitellisten wurde an zahlreichen Stellen deutlich, dass sich der Text der einzelnen Sektionen der KA Rm Reg im Vergleich mit den entsprechenden Abschnitten der KA Rm A in der Regel weniger um‐ fangreich liest. Das Phänomen lässt sich auch hier anhand eines Blicks auf die Sektionen L (KA Rm A) und XXV (KA Rm Reg) verdeutlichen. Beide Texte spielen auf die in Rm 14,15 formulierte Kränkung des Bruders aufgrund des Verzehrs unreiner Speisen an. Der Gedanke wird allerdings - wie bereits oben beschrieben - in der KA Rm A ergänzt durch den Verweis auf das Reich Gottes und die Gerechtigkeit des Heiligen Geistes, der in Rm 14,17 zu lesen ist. 20 Bemerkenswert stellt sich der Befund für die folgenden Sektionen dar. So zeigt sich im Vergleich der die Doxologie betreffenden Abschnitte LI (KA Rm A) sowie XXVI und XXVII (KA Rm Reg) ein Phänomen, das innerhalb der beiden Kapi‐ tellisten nur ein einziges weiteres Mal zu Tage tritt: 21 zwei Sektionen der KA Rm Reg erscheinen in der KA Rm A zu einer Sektion zusammengefasst. 154 VI. Der Schluss des Römerbriefes 22 Dies wurde insbesondere in der Analyse des Textabschnittes Rm 9-11 (vgl. Kap. 5.2.3. Deutung des paratextuellen Befundes) deutlich. 23 Nach dem Aland’schen Siglen-System (vgl. Tabelle 5; S. 185) würden die KA Rm Reg also die Textform ADB bezeugen - die gleiche Textform, die u. a. auch die Handschriften des Mehrheitstextes bieten. Tatsächlich handelt es sich aber um A*DB - denn wie bereits gezeigt werden konnte, haben mindestens Rm 4 sowie große Teile der Kapitel 9-11 im ursprünglichen Bezugstext der KA Rm Reg gefehlt. Dies ist für die Frage nach der Textgestalt der postulierten gemeinsamen Vorlage der KA Rm A und der KA Rm Reg (UrKA) von Bedeutung. Da es sich im Bezugstext der besagten Sektionen nur um einen sehr kurzen Textabschnitt handelt (Rm 16,25-27), scheint es doch recht unwahrscheinlich, dass ein Kapitelverzeichnis entgegen seiner Vorlage diesen Text in zwei einzelnen Sektionen aufteilt. Somit sollte man eher davon ausgehen, dass die Doxologie bereits in der UrKA durch zwei Sektionen beschrieben wurde. Während die KA Rm Reg diese Aufteilung beibehielt, wurden aufgrund des geringen Umfangs des Textabschnitts im Bezugstext in der KA Rm A zwei Sektionen zu einer zusammengefasst. Eine solche Bearbeitungstendenz ist allerdings für die KA Rm A eher als Ausnahme zu verstehen. In der großen Mehrheit der Fälle neigt die KA Rm A eher dazu, den Bezugstext durch die sekundäre Hinzufügung ganzer Sektionen bzw. durch die Er‐ gänzung vorhandener Sektionen im Vergleich zu ihrer Vorlage deutlich kleinschrit‐ tiger zusammenzufassen. Dass hier nun auch eine entgegengesetzte Tendenz deutlich zu werden scheint, deutet nach meinem Dafürhalten darauf hin, dass die postulierte Vorlage der KA Rm A (UrKA) mehrfach bearbeitet wurde. Dagegen scheint die KA Rm Reg die besagte gemeinsame Vorlage (UrKA) genauer wiederzugeben. 22 In besonderem Maße auffällig und vor allem für die Frage nach der Textgestalt des Römerbriefschlusses von großer Bedeutung sind nun die letzten beiden Sektionen XXVIII und XXIX der KA Rm Reg. Dies begründet sich darin, dass es sich um die einzigen Sektionen der KA Rm Reg handelt, die nicht auch in der KA Rm A auftauchen. Inhaltlich bezieht sich Sektion XXVIII auf die Verse Rm 15,30f, in denen Paulus seine Brüder zur Fürbitte auffordert, „damit [er] errettet werde von den Ungläubigen in Judäa.“ Die letzte Sektion XXIX der KA Rm Reg fasst nun kurz und knapp den kompletten Abschnitt Rm 16,3-16 (bzw. -24) zusammen - also die eigentümlich lange und präzise Grußliste, die sich heute im letzten Kapitel des Römerbriefes findet. Im Gegensatz zu den KA Rm A gehen die KA Rm Reg also doch auch auf die Kapitel Rm 15 und Rm 16 ein. Allerdings tauchen die beiden Sektionen erst nach denjenigen auf, die sich auf die Doxo‐ logie beziehen. Dies weist also auf einen Textzustand hin, in welchem die Do‐ xologie vor den beiden abschließenden Briefkapiteln Rm 15 f auftaucht. 23 155 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f 24 Vgl. Kap. 3.2.3. Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg (v. a. S. 63f). 25 Dass sich die Positionierung der Sektionszahlen an denen der Bamberger Alkuinbibel orientiert, wurde schon an anderer Stelle ausgeführt; vgl. Kap. 3.2.2. Die Capitula Re‐ galia (v. a. S. 59f). 26 Allein dieses Argument hatte Corssen gereicht, um den sekundären Charakter der beiden letzten Sektionen zu erweisen und sie als „Ergänzungsversuche“ einer ursprünglichen Kapitelliste zu betrachten, die ohne Bezugnahmen auf Rm 15 f auskommt. So urteilt er: „Das allein genügt“; C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 22. Nun konnte allerdings an anderer Stelle bereits wahrscheinlich gemacht werden, dass auch die KA Rm Reg (wie auch die KA Rm A) im Laufe der Zeit sekundäre Veränderungen erfahren hat. 24 Für den Fortgang des Kapitels muss also geklärt werden, wie 1.) die vermutete Vorlage der Kapitelliste (UrKA) in den letzten Sektionen ausgesehen hat und, daraus resultierend, 2.) welche Textform für den ursprünglichen Bezugstext der KA Rm Reg plausibel gemacht werden kann. Bereits früh wurde in der Forschung zu den Kapitellisten der sekundäre Cha‐ rakter der letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg angenommen. Dafür sind zwei Argumente zu nennen: Zunächst fällt auf, dass für die besagten Abschnitte (und zwar nur für diese) keinerlei Sektionszahlen im Bezugstext zu finden sind. Die letzte Sektionszahl ist also die XXVII, die überraschenderweise fälschlich an der Stelle Rm 15,30 notiert ist. 25 Weiterhin ist zu sehen, dass sich die beiden letzten Sektionen der KA Rm Reg formal von allen übrigen unterscheiden. Diese fassen den Inhalt durchweg nominal zusammen und beginnen daher aus‐ nahmslos mit der Präposition „De …“. Die Sektionen XXVIII und XXIX weichen nun aber von dieser Form ab und beginnen stattdessen mit einem Nominativ. 26 Beide Beobachtungen implizieren, dass es sich bei den besagten letzten beiden Sektionen der KA Rm Reg tatsächlich um sekundäre Ergänzungen handelt, die in der ursprünglichen Kapitelliste, auf welche die KA Rm Reg zurückgeht (UrKA), nicht zu lesen waren. Für die Frage nach dem Schluss des Römerbriefes ist daher Folgendes festzuhalten: 1. Die KA Rm A bezeugen einen Textzustand des Römerbriefes, der die Do‐ xologie direkt nach Kap. 14 liest und daran anschließend keinerlei wei‐ teren Text bietet. Die Kapitel 15 und 16 fehlen also in Gänze. Wie bereits an anderer Stelle festgestellt wurde, bezeugen die KA Rm A außerdem das Fehlen von Kap. 4. 2. Die KA Rm Reg bezeugen ebenso einen Textzustand, in dem sich die Do‐ xologie an das 14. Kapitel anschließt. Die einzigen Bezugnahmen auf Rm 156 VI. Der Schluss des Römerbriefes 27 Text nach W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 41f. 28 So beispielsweise im Codex Amiatinus (A), dem Codex Fuldensis (F), dem Codex Ca‐ rolinus (K → Vg O bzw. Φ G → Vg S ) u. a. m. Vgl. dazu die Apparate bei W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 42; C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 37 sowie V I N Z E N T , Marcion and the Dating, S. 119. 15 und Rm 16 finden sich in den letzten beiden Sektionen der Kapitelliste, die sich allerdings als sekundäre Ergänzungen erwiesen haben. Darüber hinaus wurde auf das Fehlen von Rm 4 sowie umfangreicher Passagen aus Rm 9-11 bereits in den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit ausführlich eingegangen. 3. Die Kapitelliste, auf die beide Kapitelreihen vermutlich zurückgehen (UrKA), enthielt mit großer Wahrscheinlichkeit keinerlei Anspielungen auf Rm 15 und Rm 16. Der ursprüngliche Bezugstext, welcher der UrKA zugrunde lag, muss demnach eine Handschrift gewesen sein, die Rm 15 und Rm 16 nicht kannte. Anders als nach dem Zeugnis des Origenes zum marcionitischen Römerbrief bildete allerdings nicht Rm 14,23 den Ab‐ schluss des Briefes, sondern die Doxologie, welche sich direkt an den be‐ sagten Vers anschließt. 6.2.3. Der altlateinische Prolog zum Römerbrief Die eben beschriebenen Kapitellisten sind nicht die einzigen paratextuellen Ele‐ mente, die hinsichtlich der Frage nach dem Schluss des Römerbriefes von Be‐ deutung sind. Auch die altlateinischen Paulusprologe versprechen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands des vorliegenden Kapitels aufschlussreiche Er‐ kenntnisse. Konkret ist v. a. danach zu fragen, welche Textform des Römer‐ briefes sie voraussetzen. Dazu sei zunächst ein genauer Blick auf den Prolog zum Römerbrief geworfen. Der entsprechende Text lautet wie folgt: 27 Die Römer sind [Leute] in Teilen Italiens. Sie wurden zuerst von falschen Aposteln besucht und [von diesen] im Namen unseres Herrn Jesus Christus in das Gesetz und die Propheten eingeführt. Der Apostel [scil. Paulus] ruft sie zurück zum wahren Glauben an das Evangelium, indem er ihnen aus Korinth (v.l. Athen) schreibt. Romani sunt in partibus Italiae. hi praeventi sunt a falsis apostolis et sub nomine domini nostri Iesu Christi in legem et prophetas erant inducti. hos revocat apostolus ad veram evangelicam fidem scribens eis a Corintho (v.l. ab Athenis). Prol Rm Im letzten Satz des Prologes wird in vielen Handschriften Korinth als Abfas‐ sungsort des Briefes erwähnt. 28 Dies korrespondiert mit dem Textbefund in Rm 16,1f, wo die vermeintliche Briefbotin Phoebe genannt wird. Denn diese Phoebe 157 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f 29 Dass auch der moderne Leser an diesem Schluss nicht vorbeikommt, zeigen die zahl‐ reichen Kommentare zum Römerbrief. Exemplarisch sei hier auf W O L T E R , Röm 1-8, S. 28 verwiesen, der resümiert, dass Korinth als Abfassungsort des Briefes „einiger‐ maßen zuverlässig“ zu bestimmen ist. 30 Ebenso im Römerprolog des Codex Toletanus (T → Vg O ), des Codex Parisiensis (P → Vg O ), des Codex Bernensis (θ B ), des Codex Sangallensis (S → Vg S ) sowie in HS A. 14 der Universitätsbibliothek Düsseldorf (Z L ). Vgl. dazu die Apparate bei W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 42; C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 37 sowie V I N Z E N T , Marcion and the Dating, S. 119. Auch zwei weitere Prologversi‐ onen, die leicht abgewandelten Wortlaut bieten, nennen am Ende Athen statt Korinth als Abfassungsort des Briefes (so z. B. der Römerprolog im Codex Hubertianus (H → Vg O )). 31 Daher urteilt auch H A R N A C K , Marcion, S. 128* mit der ihm eigenen Deutlichkeit: „Ab Athenis ist gewiß unrichtig.“ Natürlich hat er hier den kanonischen Römerbrieftext im Hinterkopf und meint mit unrichtig, dass es diesem widerspricht. Allerdings erklärt Harnack nicht die Entstehung der offenbar eigentümlichen („unrichtigen“) Variante. 32 So auch D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 244; U. S C H M I D , Marcion, S. 288 Anm. 28 sowie zuletzt J O N G K I N D , Marcionite Prologues, S. 393. In den jüngeren Arbeiten ist es allein S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, S. 87, der in seinem Prologtext an der ent‐ sprechenden Stelle erstaunlicherweise weiterhin kommentarlos Korinth anführt. V I N ‐ Z E N T , Marcion and the Dating, S. 119 dagegen weist zumindest im Apparat darauf hin, dass alternative Lesarten existieren. wird dem Leser als Diakonin der Gemeinde in Kenchreae vorgestellt (οὖσαν [καὶ] διάκονον τῆς ἐκκλησίας τῆς ἐν Κεγχρεαῖς). Entscheidend ist der Verweis auf Kenchreae, bekanntlich eine der beiden Hafenstädte von Korinth. Folglich erschließt sich für die antiken Leser unmittelbar, dass Paulus den Römerbrief in Korinth verfasst haben muss. 29 Allerdings findet sich in diversen Manuskripten, in denen der Prolog zum Römerbrief auftaucht, an der besagten Stelle eine andere Lesart - beispielsweise im Römerprolog des Codex Cavensis (C). Statt Korinth wird hierin nun Athen als Abfassungsort des Briefes genannt. 30 Diese Angabe steht jedoch im Wider‐ spruch zu der oben genannten Passage aus dem letzten Kapitel des Römer‐ briefes. 31 Welche der beiden Lesarten kann nun als ursprünglich angesehen werden? Redaktions- und textgeschichtliche Gründe sprechen dafür, dass ab Athenis mit einiger Wahrscheinlichkeit als die ältere Lesart verstanden werden kann. 32 Denn es ist schwerlich vorstellbar, dass Korinth als Abfassungsort des Briefes sekundär in Athen verändert wurde (und damit ein Widerspruch zwischen dem Prolog und dem tatsächlichen Brieftext in Rm 16,1f geschaffen wurde). Dies weist dann allerdings auf eine Version des Römerbriefes hin, welche die oben genannte Textpassage, die dem Leser Korinth als Abfassungsort des Briefes na‐ helegt, gar nicht bot. Möglicherweise ergibt sich in diesem Fall die Nennung von 158 VI. Der Schluss des Römerbriefes 33 Ähnlich auch U. S C H M I D , Marcion, S. 294. 34 Dafür spricht auch, dass HS ς den fraglos sekundären Zusatz per phoebem ministram ecclesiae cenchreensis bietet, also die Botin nennt. Dies hängt mit großer Wahrschein‐ lichkeit damit zusammen, dass der Schreiber/ Kopist den Römerbrief in seiner kanoni‐ schen Form vorliegen hatte bzw. kannte und die in seiner Vorlage fehlende Information im Prologtext nun ergänzen konnte; vgl. W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vulgate, S. 42. 35 Zu dieser Lösung kommen auch C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 45 und D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 244. G A M B L E , The Textual History, S. 111 formuliert treffend: „There is […] every reason to suppose that the prologue to Romans is based on the short text of Romans.“ Athen als Abfassungsort des Briefes aus seiner Nähe zum Thessalonicherprolog, der unmittelbar auf den Prolog zum Römerbrief folgt und explizit Athen als Abfassungsort des (bzw. der) Thessalonicherbriefe(s) nennt. 33 Auch das Nicht‐ erwähnen der Phoebe als Briefbotin erscheint verwunderlich, insofern als die besagte Passage des Briefes daran doch kaum Zweifel lässt. Hätte der Prolog‐ verfasser also Rm 16,1f zur Hand gehabt, so sollte man erwarten, dass Prol Rm auch eine Aussage zum Briefboten liefert - ebenso wie die Prologe zum 1. Ko‐ rintherbrief und zum Philipperbrief dies tun. 34 Beide Argumente führen also zu dem Schluss, dass dem originalen Prolog eine Version des Römerbriefes zugrunde lag, in welcher das letzte Kapitel fehlte. Nur auf diese Weise ließe sich sowohl der Abfassungsort Athen als auch die Nichterwähnung der Phoebe als Briefbotin in Prol Rm erklären. 35 Neben den bereits zuvor untersuchten Kapitellisten bezeugen also auch die altlateinischen Prologe eine Version des Römerbriefes, der zumindest das Kapitel 16, sehr wahr‐ scheinlich dann auch das vorhergehende Kapitel 15, nicht kannte. Insgesamt macht der paratextuelle Befund also deutlich, dass ein Römerbrief existierte, der die Kapitel 15 und 16 nicht enthielt. Sowohl der Befund der un‐ tersuchten Kapitellisten als auch die altlateinischen Paulusprologe zeigen dies in wünschenswerter Deutlichkeit. Die Existenz eines solchen kurzen Römer‐ briefes wird auch durch Origenes’ Zeugnis für den von Marcion verwendeten Römerbrief belegt. Somit kann 10 Rm als Hauptzeuge des besagten kurzen Rö‐ merbriefes angesehen werden. Wie schon in den anderen untersuchten Text‐ abschnitten festgestellt werden konnte, korrespondiert der häresiologische und paratextuelle Befund also auch am Schluss des Briefes. Denn auch für diesen Textteil konnte gezeigt werden, dass die textlichen Besonderheiten von 10 Rm auch in den paratextuellen Beigaben der lateinischen Bibeltexte identifizierbar sind. 159 6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f 36 Terminologische Vereinbarung: Da es im folgenden Kapitel allein um den Schluss des Briefes geht, wird hier vornehmlich die forschungsgeschichtlich gängige Bezeichnung kurzer Römerbrief gewählt, allerdings ohne außer Acht zu lassen, dass der Hauptzeuge für den kurzen Römerbrief ( 10 Rm) ja nicht nur am Schluss kürzer als 14 Rm war, sondern auch an einigen anderen Passagen weniger Text bot. 37 V. a. die Capitula Amiatina (vgl. Kap. 6.2.1. Die Capitula Amiatina und der Schluss des Römerbriefes). G A M B L E , The Textual History, S. 17f führt hier auch die Capitula Ful‐ densia als weiteren (unabhängigen) Zeugen auf. In der vorliegenden Studie werden diese allerdings ausgeschlossen, da sie letztlich nur ein Fragment einer Kapitelliste dar‐ stellen und somit keine valide Aussage möglich ist, welchen Umfang ihr ursprünglicher Bezugstext tatsächlich hatte (vgl. S. 196ff). 38 Vgl. Kap. 6.2.3. Der altlateinische Prolog zum Römerbrief. 39 Hierbei handelt es sich um eine Art Konkordanz zu den Paulusbriefen, die in diversen Vulgatahandschriften zu lesen ist. Von dieser Konkordanz existieren zwei Fassungen. Die kürzere, weitaus besser bezeugte, Version besteht aus 56 Schlagwörtern. Nur im letzten Eintrag wird dabei auf den Römerbrief (Rm 6) verwiesen. Die längere Fassung dagegen - sie besteht aus 100 Einträgen - rekurriert an zahlreichen Stellen auf den Römerbrief. Allerdings ist sie nur im Codex Morbacensis bezeugt (vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 18). Leider war es mir im Rahmen der Studie nicht möglich, auf diesen Codex zuzugreifen und zu überprüfen, ob z. B. ein Verweis auf 14 Rm 4 vorliegt. Der Text der Kurzfassung der Concordia findet sich bei W O R D S W O R T H / W H I T E , The Oxford Vul‐ gate, S. 12-16. 40 Vgl. z. B. G A M B L E , The Textual History, S. 18 und U. S C H M I D , Marcion, S. 290. 6.3. Der kurze Römerbrief In der bisherigen Forschung wurde das Problem der 14-Kapitel-Form des Rm ausführlich diskutiert. Kontrovers und ohne abschließende Lösung blieb dabei bis heute die Frage, wie dieser kurze Römerbrief 36 entstanden sein könnte. Un‐ strittig ist die weite (auch geographische) Verbreitung dieser Textform, die in der handschriftlichen Überlieferung zahlreiche direkte und indirekte Spuren hinterlassen hat. Diese sind hier kurz zusammengefasst: • Schon immer wurde der kurze Römerbrief in enger Verbindung zu Mar‐ cion gesehen, da dessen Apostolos den wohl wichtigsten Zeugen für den kurzen Römerbrief darstellt. Der Befund der Häresiologen (v. a. die Aus‐ sage des Origenes) ist hier über jeden Zweifel erhaben. • Wie zuvor gezeigt, deuten aber darüber hinaus auch verschiedene latei‐ nische Paratexte auf die Existenz eines Römerbriefes hin, der mit Rm 14,23 endete. In dieser Studie wurde hierzu ausführlich auf die Kapitellisten 37 sowie die Prologe 38 eingegangen. Weiterhin wird in der Forschung die sog. Concordia epistularum Pauli  39 als Zeugnis für den kurzen Römerbrief angegeben. 40 160 VI. Der Schluss des Römerbriefes 41 Die detaillierte Aufschlüsselung der handschriftlichen Überlieferung findet sich in der Tabelle 4 (S. 176). 42 Selbiges stellte schon C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 13 fest: „Wie die Doxologie an dieser Stelle [scil. zwischen Kapitel 14 und 15] anders denn als eine Störung empfunden werden kann, ist mir unbegreiflich. Daß Paulus sie dafür be‐ stimmt habe, erscheint mir ausgeschlossen, ebenso aber auch durchaus unwahrschein‐ lich, daß sie von einem andren [sic! ] hier eingefügt sei.“ Auch S C H M I D spricht zu Recht von einem notwendigen Zusammenhang, „denn 14,23 ist der denkbar ungünstigste Platz für die Doxologie, wenn [sich] die Kap. 15 f anschließen.“ 43 Dies gilt v. a. für die zahlreichen Handschriften des Mehrheitstextes, aber auch einige andere mehr; vgl. Tabelle 4 (S. 176). 44 G A M B L E , The Textual History, S. 123 ist zuzustimmen, wenn er konstatiert: „There is […] no reason why the doxology should have been placed at the end of ch. 14 unless the letter actually ended here.“ Die Auffassung, dass die Doxologie als sekundärer Schluss für den kurzen Römerbrief konzipiert wurde, wird in der jüngeren neutestamentlichen Forschung kaum noch bestritten; vgl. dazu auch den jüngsten Römerbriefkommentar von W O L T E R , Röm 1-8, S. 19. 45 So schon R Y D E R , Authorship, S. 187; L I E T Z M A N N , An die Römer, S. 131 sowie W I L C K E N S , An die Römer, S. 23. Selbstverständlich ist dieses sog. Kirchenväterschweigen nur ein argumentum e silentio. 46 Für eine ausführlichere Beschreibung und Diskussion der einzelnen Textzeugen des kurzen Römerbriefes vgl. z. B. G A M B L E , The Textual History, S. 16-29 sowie U. S C H M I D , Marcion, S. 289ff. • Doch auch die handschriftliche Überlieferung des Römerbriefes selbst weist deutliche Spuren für die Existenz einer Textform auf, welche die letzten beiden Kapitel nicht las. So weisen all jene Handschriften auf den kurzen Römerbrief hin, welche die Doxologie zwischen Kap. 14 und 15 lesen. 41 Denn sollte die originale Position der Doxologie nach 16,23 (bzw. 16,24) gewesen sein, wäre es kaum plausibel zu machen, aus welchen Gründen sie später vom Briefende so weit nach vorne, nämlich zwischen 14,23 und 15,1, wo sie augenscheinlich den Argumentationsgang unter‐ bricht, versetzt wurde. 42 Folglich muss man im Umkehrschluss die Stel‐ lung der Doxologie nach 14,23 als ursprünglich annehmen und somit all jene Handschriften, in denen die Doxologie zwischen Rm 14 und Rm 15 auftaucht, 43 als einen weiteren, gewichtigen Hinweis auf den kurzen Rö‐ merbrief verstehen. 44 • Darüber hinaus werden vielfach auch die Kirchenväter Irenäus, Tertullian und Cyprian als indirekte Zeugen des kurzen Römerbriefes angesehen, da sie die Kapitel 15f nirgends in ihren Werken zitieren. 45 Es bleibt somit festzuhalten, dass die Zeugen des kurzen Römerbriefes überaus zahlreich und in allen Bereichen der Überlieferung zu verorten sind. 46 Nun drängt sich die Frage auf, wie die Entstehung dieser Textform plausibel erklärt 161 6.3. Der kurze Römerbrief 47 So verstand z. B. L A K E , Earlier Epistles, S. 362-365 den kurzen Römerbrief als Vorgänger der längeren Version. Beide seien von Paulus geschaffen worden, wobei die Kurzversion sich an diverse Gemeinden richtete, die Paulus bisher unbekannt waren. Die später entstandene Langversion sollte dann an die Gemeinde in Rom gesendet werden. Zu diesem Zwecke erhielt der kürzere Text nun eine konkrete Adressenangabe im ersten Kapitel sowie ein spezifisches Schlusskapitel (das heutige Kap. 15), in welchem Paulus seinen Besuch in Rom ankündigen wollte. Im Anschluss an Lake wurden ähnliche The‐ orien auch von M A N S O N , St. Paul’s Letter, und K N O X , Text of Romans, entwickelt. 48 Eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Entstehungsmöglichkeiten findet sich bei G A M B L E , The Textual History, S. 96-124. 49 H A R N A C K , Marcion, S. 240*: „Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist, als was das altkirchliche Urteil über ihn behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden.“ Für den Apostolos fand eine analoge Diskussion dagegen gar nicht statt. werden kann. In der Forschungsgeschichte sind hierfür verschiedene Lösungs‐ möglichkeiten entwickelt worden, die - bis auf wenige Ausnahmen 47 - stets eine Gemeinsamkeit verbindet, nämlich die vorab getroffene, richtungweisende An‐ nahme, den kurzen Römerbrief aus dem langen heraus erwachsen zu ver‐ stehen. 48 Der Grund für diese grundsätzliche Einigkeit ist m. E. darin zu suchen, dass der kurze Römerbrief immer schon in unmittelbarer Nähe zu Marcion be‐ griffen und dessen Text stets - zumindest im Rahmen der Forschungsgeschichte der letzten ca. 100 Jahre (also seitdem H A R NA C K die vorher überaus rege Dis‐ kussion um die Marcionpriorität gegenüber dem Lukasevangelium für beendet erklärte) 49 - als sekundäre Verkürzung des neutestamentlichen Textes gesehen wurde. Die verschiedenen, auf dieser Grundlage fußenden Szenarien, sollen in der Folge kurz dargestellt und kritisch überprüft werden. 6.3.1. Der kurze Römerbrief als Resultat der Redaktionstätigkeit Marcions Folgt man Origenes’ Römerbriefkommentar, so ist es zunächst naheliegend, den kurzen Römerbrief auf Marcion zurückzuführen, der demnach die letzten beiden Kapitel des Rm komplett gestrichen habe. Diejenigen, die Marcion redaktionelle Streichungen anlasteten, führten hierfür unisono theologische Motive ins Feld - was sich nicht mit der eigenen Theologie vereinbaren ließ, wurde gestrichen. Exemplarisch für diese Position ist A LAN D zu nennen, der drei Sachgründe an‐ führt, welche Marcion zur Streichung veranlasst haben sollen: Zunächst weist er auf Rm 15,8 hin, in dem Christus um der Wahrhaftigkeit Gottes willen als Diener der Beschnittenen (διάκονον περιτομῆς) bezeichnet wird. Ferner erklärt Paulus in Rm 15,25-28, dass er sich nun auf den Weg nach Jerusalem begebe, um dort die in den heidenchristlichen Gemeinden von Achaja und Mazedonien 162 VI. Der Schluss des Römerbriefes 50 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 294. Ähnlich schon V O G E L S , Der Einfluss Marcions, S. 282 sowie K Ä S E M A N N , An die Römer, S. 367. 51 Zur grundsätzlichen Kritik an sog. Marcionitisch-tendenziösen Entscheidungen vgl. Kap. 2.3 Anm. 94. 52 Vgl. H A R N A C K , Marcion, S. 164* Anm. 1. 53 Selbst für die umfangreiche Grußliste in Kol 4,10-18 findet sich in den relevanten Zeugen nirgends eine Streichungsnotiz. 54 V O G E L S , Synoptische Studien, S. 282 schreibt dieses Motiv ausdrücklich Marcion zu: „Kap. 16 mochte mit seiner langen Grußliste für den gottesdienstlichen Gebrauch, für welchen der Ketzer ja sein Apostolikon zunächst hergerichtet [hatte], ungeeignet er‐ scheinen.“ Als Erster führt H O R T , End of the Epistle, S. 71 die liturgische Praxis als Erklärungsmöglichkeit diverser Veränderungen am Briefende in Betracht, ohne aller‐ dings auf Marcion zu verweisen. Genau genommen versucht er auf diese Weise die Stellung der Doxologie nach 14,23 zu erklären. Demnach wurde die Doxologie also vorgezogen, da sie für die öffentliche Lesung von ungleich größerer Bedeutung ist als die beiden Schlusskapitel des Briefes. eingesammelte Kollekte abzuliefern. Dabei bezeichnet er diese als Schuldner (ὀφειλέται εἰσίν) der Heiligen in Jerusalem. Endlich erwägt A LAN D , dass Marcion die in Rm 16,17-20a formulierte Warnung vor denen, die Spaltungen und Är‐ gernisse (τὰς διχοστασίας καὶ τὰ σκάνδαλα) entgegen der rechten Lehre ver‐ ursachen, auf sich selbst bezogen haben müsse. Da all das Genannte Marcion massiv gestört haben musste, wäre - laut A LAN D - „die Streichung von Kap. 15 und 16 relativ leicht zu erklären.“ 50 Es erscheint mir methodisch kaum zielführend, darüber zu diskutieren, ob jene drei Punkte - tatsächlich finden sich in der Forschungsliteratur noch di‐ verse weitere - wirklich unvereinbar mit Marcions theologischen Ansichten bzw. Motiven waren. 51 Angenommen, dass dies tatsächlich so war, drängen sich trotzdem zwei Fragen zwingend auf: 1. Warum streicht Marcion die beiden Kapitel komplett? Bereits H A R NA C K bemerkt zu Recht, dass die einzelnen anstößigen Passagen des Abschnitts leicht zu beseitigen wären, ohne gleich den Abschnitt in Gänze zu tilgen. 52 Für keinen der Paulusbriefe aus Marcions Apostolos ist beispiels‐ weise das komplette (oder zumindest teilweise) Fehlen von Reiseplänen oder Grußlisten belegt 53 - warum also sollten sie hier entfernt worden sein? Die Streichung dagegen als Resultat des liturgischen Gebrauchs des Rm zu verstehen, wurde bereits früh als Möglichkeit gesehen und disku‐ tiert. 54 Demnach seien die beiden Schlusskapitel gestrichen worden, da sie für die Lesung im Gottesdienst ungeeignet erscheinen. Da dieses Motiv aber kaum auch für Rm 15,1-13 in Anspruch genommen werden kann, 163 6.3. Der kurze Römerbrief 55 Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Marcion für den liturgischen Gebrauch un‐ geeignete Passagen eliminierte, scheint es auch überaus überraschend, dass keinerlei Veränderungen für den Philemonbrief bezeugt sind. Natürlich handelt es sich dabei „nur“ um ein argumentum e silentio. Weitere Gegenargumente finden sich bei G A M B L E , The Textual History, S. 114f. 56 Vgl. L E O N H A R D , No Liturgical Need. 57 Darauf weist schon G A M B L E , The Textual History, S. 105 hin, der bezüglich des Ori‐ geneszitats abschließend zu folgendem Ergebnis kommt: „Origen’s chief importance for this and other text-critical problems remains that of being a witness, not a judge“; G A M B L E , The Textual History, S. 114. Diesem Urteil ist ausdrücklich zuzu‐ stimmen. 58 So auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 74 Anm. 42: „Daß Markion die 14-Kapitel-Form geschaffen hätte, ist wohl schon bei Origenes eine Konstruktion.“ 59 Alternativ würde sich der Widerspruch nur dann auflösen, wenn auch die HSS dieser Textformen (Position der Doxologie nach 14,23) in enge Nähe zu Marcion gesetzt werden. ist auch diese Option abzulehnen. 55 Darüber hinaus ist die Annahme li‐ turgischer Lesungen für die erste Hälfte des 2. Jh. anachronistisch. 56 2. Warum passiert die angenommene Streichung genau an dieser Stelle? Warum hätte Marcion den Brief nicht mit 15,7 enden lassen können, warum nicht zumindest mit 15,2? Beide Verse scheinen in ihrer paräne‐ tisch-generalisierenden Dimension als Abschluss deutlich besser geeignet als 14,23. Da auf beide Fragen keine zufriedenstellenden Antworten zu finden sind, muss das Origeneszitat nochmal eingehender analysiert werden. Bei ge‐ nauerem Hinsehen ergibt sich eine erstaunliche Inkonsistenz. Tatsächlich be‐ hauptet Origenes nämlich zweierlei: zum einen qualifiziert er den kurzen Rö‐ merbrief als Resultat der Redaktionstätigkeit Marcions, zum anderen stellt er ausdrücklich fest, dass Kodizes existieren, welche die Doxologie nach 14,23 lesen, gleichzeitig aber nicht von Marcion beeinflusst, also gleichsam „katho‐ lisch“ sind. Dass die Stellung der Doxologie nach 14,23 aber auf eine Text‐ form hinweist, welche die letzten beiden Kapitel nicht bietet, scheint ausge‐ macht und ist unbestritten. Folglich ist jede Handschrift, welche die Doxologie nach 14,23 liest, in enger Verwandtschaftsbeziehung zum kurzen Römerbrief zu verstehen, der lt. Origenes ja wiederum auf Marcion zurück‐ geht. Der entstandene Widerspruch zeigt, dass beide Behauptungen nicht gleichzeitig aufrechterhalten werden können. 57 Handelt es sich nun bei den Handschriften, in denen die Doxologie nach 14,23 positioniert ist, tatsächlich um von Marcion unbeeinflusste, also „katholische“ Kodizes, so kann auch der kurze Römerbrief nicht auf Marcion zurückgeführt werden, 58 sondern muss auf andere Weise zustande gekommen sein. 59 Dass dies 164 VI. Der Schluss des Römerbriefes 60 Hier sei in erster Linie an die altlateinischen Prologe und Kapitelverzeichnisse erinnert, auf die an anderer Stelle bereits ausführlich eingegangen wurde; vgl. Kap. 6.2. Der pa‐ ratextuelle Befund für Rm 15f. 61 Nahezu alle byzantinischen Textzeugen weisen aufgrund der Stellung der Doxologie nach 14,23 auf den kurzen Römerbrief hin. 62 G A M B L E , The Textual History, S. 106: „Such broad dispersion is hardly to be expected of a heretical product, and would be the more remarkable at this early time when the catholic opposition to Marcion was at its zenith.“ 63 F R E D E , Ein neuer Paulustext, S. 118. Schon B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 394 gab zu bedenken: „Obgleich das letztere [scil. das Fehlen der Kapitel 15 f im durch Mar‐ cion bezeugten Römerbrief] nur der bekannten Verstümmlungswillkür zugeschrieben wird, die Marcion nach der Behauptung der Kirchenväter an den Schriften des N. T. sich erlaubt haben soll, so ist doch an sich die Annahme ebensogut möglich, dass er in den Handschriften, deren er sich bediente, diese beiden Kapitel noch nicht vorgefunden habe.“ 64 Dass die Annahme einer solchen Tendenz unschwer plausibel zu machen ist, kann ver‐ schiedentlich gezeigt werden. Neben den allgemein formulierten Adressen der katho‐ lischen Briefe spricht v. a. die in der alten Kirche ausführlich diskutierte und kommen‐ tierte Siebenzahl der Paulusbriefe (freilich auch der katholischen Briefe) für ein solches Interesse; vgl. dazu G A M B L E , The Textual History, S. 116f sowie T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 73f. ernsthaft in Betracht zu ziehen ist, legt nicht zuletzt auch die überaus zahlreiche und regional weit gestreute Bezeugung des kurzen Römerbriefes nahe. Die Spuren, die dieser sowohl in der altlateinischen Tradition 60 als auch im Mehr‐ heitstext 61 hinterlassen hat, lassen es doch recht unplausibel erscheinen, die Textform als Resultat häretischer Redaktionstätigkeit zu begreifen. G AM B L E be‐ merkt zu Recht, dass eine solch weiträumige Verbreitung einer häretisch an‐ mutenden Textform kaum vorstellbar ist. 62 F R E D E fasst in diesem Zusammen‐ hang richtig zusammen: „[M]an (darf) den Zeugen nicht grundlos zum verantwortlichen Urheber machen.“ 63 Wenn also nicht Marcion, wer kommt dann als Schöpfer des kurzen Römerbriefes infrage bzw. auf welche Art ist er dann entstanden? 6.3.2. Der kurze Römerbrief als Resultat einer katholisierenden Bearbeitung Wie in dem eben beschriebenen Szenario geht auch diese Erklärungsmöglichkeit davon aus, den kurzen Römerbrief als Ergebnis einer gezielten redaktionellen Tätigkeit zu begreifen. Allerdings ist in diesem Fall nicht an eine häretische Verstümmlung gedacht, sondern es würde eine Bearbeitungstendenz zugrunde liegen, die darauf abzielte, allgemeiner ausgerichtete Texte zu schaffen. 64 So 165 6.3. Der kurze Römerbrief 65 L I G H T F O O T , M. Renan, S. 294. 66 D A H L , Particularity, S. 261: „The theological problem raised by the Pauline Epistles, was […] their particularity.“ 67 Vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 115f. 68 B E T Z , Der Apostel Paulus, S. 7 verweist hier z. B. auf die Minuskel 1739 sowie „etliche Handschriften der Itala und Vulgata, sowie die ältesten Kommentatoren [des Römer‐ briefes] Origenes und Ambrosiaster.“ Stattdessen bieten die genannten Zeugen eine allgemeine Formulierung, ähnlich der im Codex Boernerianus (G) bezeugten. 69 Bereits H A R N A C K , Marcion, S. 165* Anm. 3 erwägt die Möglichkeit, dass die allgemeine Adresse und das Fehlen der beiden letzten Kapitel ein gemeinsames Problem bilden, bekennt aber, „keine befriedigende Lösung zu wissen. Das Motiv, die Briefe durch Streichungen des Lokalen und Partikularen zu ‚katholisieren‘ genügt nicht.“ 70 D A H L , Particularity, S. 268 geht davon aus, dass der Brief einst nicht als Brief an die Römer, sondern vielmehr als eine Art katholischer Brief des Apostels Paulus zirkulierte. erachtete L I G HT F O O T Paulus selbst als denjenigen, der für die Kürzung des Rö‐ merbrieftextes verantwortlich zu machen ist: At some later period of his life […], it occurred to the Apostle to give to his letter a wider circulation. To this end he made two changes in it; he obliterated all mention of Rome in the opening paragraphs by slight alterations; and he cut off the two last chapters containing personal matters, adding at the same time a doxology as a ter‐ mination of the whole. 65 Im Hintergrund steht das Problem der Partikularität der paulinischen Briefe. 66 Obwohl ausdrücklich an bestimmte Gemeinden unter spezifischen Abfassungs‐ situationen gerichtet, sollten sie innerhalb der „ganzen Kirche“ Geltung er‐ halten, also gleichsam „katholisch“ wirkmächtig werden. 67 Im Zuge dieser Ge‐ neralisierung wäre demnach alles weggelassen worden, was zu spezifisch erschien. Für den Römerbrief wurde diese Tendenz bisher in erster Linie am textkriti‐ schen Problem der fehlenden Adresse in Rm 1,7.15 festgemacht. So findet sich in Rm 1,7 im Codex Boernerianus (G) anstatt der geographischen Verortung der Adressaten ἐν Ῥώμῃ eine universale Formulierung „an alle, die von Gott geliebt sind“ (πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ἀγάπῃ θεοῦ), während in Rm 1,15 der übliche Hinweis auf Rom einfach fehlt. Auch in anderen Manuskripten der griechischen und der lateinischen Überlieferung sowie den ältesten Kommentaren des Römerbriefes (Origenes, Ambrosiaster) fehlt die Adressenangabe in den besagten beiden Versen. 68 Diese Beobachtung wurde nun mit der Entstehung des kurzen Römer‐ briefes in Verbindung gebracht. 69 Demnach erfolgte sowohl die Substitution der konkreten Nennung der Adressaten als auch die Streichung der letzten beiden Kapitel des Briefes, um diesen einem größeren Leserkreis zugänglich zu ma‐ chen. 70 Beide oben erwähnten textkritischen Phänomene ließen sich also mit ein 166 VI. Der Schluss des Römerbriefes 71 Vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 115-124. 72 Obwohl C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 15ff zu zeigen ver‐ suchte, dass die Kapitel 15 f in D F G einen ganz anderen Textcharakter aufweisen und damit aus einer anderen Vorlage stammen müssen als die 14 Kapitel davor, konnte er damit nicht überzeugen. 73 Die Verse Rm 1,7.15 sind für Marcions Apostolikon unbezeugt. Der Brief selbst trägt allerdings die Überschrift An die Römer, wie Tertullians (Ad Romanos → Tert. Adv. Marc. 5,13,1) und Epiphanius’ (ΠΡὸΣ ῬΩΜΑίΟΥΣ → Epiph. panar. 42,9,4) Zeugnis eindeutig belegt. Dies beweist zwar nicht, dass in den besagten Versen tatsächlich ἐν Ῥώμῃ zu lesen war, scheint aber stark darauf hinzudeuten. 74 Für den Epheserbrief sind bisher genau sechs Manuskripte bekannt, in denen im ersten Vers des Briefes die Adressaten nicht ἐν Ἐφέσῳ verortet sind. Es handelt sich um P 46 , ℵ, B, 6, 424, 1739. Vgl. dazu F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheserbriefes, S. 20f. 75 M A N S O N , St. Paul’s Letter, S. 229: „Furthermore the theory does not explain why the generalising process was applied only to Romans, and possibly Ephesians, while all the other Pauline letters are left in their scandalous particularity.“ und demselben redaktionellen Interesse erklären. Diese faszinierende Verbin‐ dung zweier bis dahin unabhängig voneinander wahrgenommener Beobach‐ tungen wurde zuletzt auch von G AM B L E aufgenommen und ausführlich expli‐ ziert. 71 Allerdings ergeben sich auch für diesen Ansatz einige Probleme. Zunächst spricht die handschriftliche Überlieferung gerade nicht für eine hinter beiden Phänomenen stehende, gemeinsame redaktionelle Bearbeitung, denn sie sind in den bisher bekannten Handschriften nur getrennt voneinander wahrnehmbar. Der Codex Boernerianus (G) - und sicher auch der vermutete Archetyp von D F G - als Hauptzeuge für die allgemeine Adresse kann eben gerade nicht als Beleg für den kurzen Römerbrief angesehen werden. Ein ur‐ sprüngliches Fehlen der beiden letzten Kapitel ist für jene Manuskripte nämlich gerade nicht nachweisbar. 72 Andererseits erlaubt die metatextuelle Bezeugung der Häresiologen für den Hauptzeugen des kurzen Römerbriefes - Marcion - schlicht keine Aussage über das Vorhandensein einer universalen Adresse in 10 Rm 1,7.15. 73 Weiterhin wäre mit M AN S O N zu fragen, warum die angenommene Generalisierungstendenz einzig im Römerbrief und möglicherweise im Epheserbrief 74 Spuren hinterlassen haben sollte, während die übrigen Paulusbriefe von einer solchen redaktionellen Bearbeitung unberührt scheinen. 75 Darüber hinaus stößt die beschriebene Vorstellung auf ein weiteres, gewichtiges Problem. Sollte nämlich tatsächlich eine katholisierende redaktionelle Be‐ arbeitung für die Streichung des Römerbriefschlusses verantwortlich sein, so bleibt es wiederum unverständlich, warum der Abbruch des Textes dann nach Rm 14,23 geschah. Was hätte an der ersten Hälfte des 15. Kapitels denn als stö‐ rend, genauer gesagt als zu spezifisch empfunden werden können, dass es zwin‐ 167 6.3. Der kurze Römerbrief 76 F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 156. Ähnlich auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 74. 77 Vgl. H O R T , End of the Epistle, S. 51. 78 Vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 156 sowie F R E D E , Ein neuer Paulus‐ text, S. 118. 79 Vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 75-78. 80 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. 291f. 81 Vgl. die zahlreichen Beispiele neutestamentlicher Manuskripte (P 46 B D F G 1838 1962 2127), auf die z. B. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 76 hinweist. gend entfernt werden musste? Vielmehr wäre es in diesem Fall doch weitaus passender, den Brief mit 15,13 oder 15,21 enden zu lassen. Die drei genannten Gegenargumente lassen auch die Annahme einer redaktionellen Verkürzung zum Zwecke einer Katholisierung der paulinischen Briefe als unplausibel erscheinen. Folglich bleibt festzuhalten, dass jegliches Szenario zur Entstehung des kurzen Römerbriefes, das mit einer redaktionellen Streichung rechnet, vor einem gravierenden Problem steht: Es muss nämlich überzeugend erklären können, warum der Abbruch des Textes genau nach 14,23 geschieht, obwohl die nachfolgenden Verse thematisch und argumentativ an das Voran‐ gegangene anknüpfen. F R E D E ist daher nachdrücklich zuzustimmen, wenn er abschließend konstatiert: „Der unvermittelte Abbruch mitten in dem zusam‐ menhängenden Abschnitt 14,1-15,13 kann demnach, soweit uns heute über‐ sehbar, nicht Ergebnis irgendeiner Bearbeitung sein, die sich von welchen Mo‐ tiven auch immer leiten ließ.“ 76 Wenn es sich also in keiner Weise um eine, wie auch immer motivierte, redak‐ tionelle Streichung handeln kann, bleibt die Frage, wie stattdessen die Entste‐ hung des kurzen Römerbriefes plausibel zu erklären ist. 6.3.3. Der kurze Römerbrief als Resultat eines mechanischen Ausfalls Gleichsam als Alternative zu einer zielgerichteten Bearbeitung (also konkret einer Streichung der Kapitel 15 und 16) wurde oftmals mit einer mechanisch-zu‐ fälligen Ursache gerechnet. Bereits H O R T erwog diese Möglichkeit 77 und auch in jüngerer Zeit finden sich in F R E D E , 78 T R O B I S C H79 und S C HMID80 namhafte Ver‐ fechter einer solchen Option. Dass ein Blatt- oder Lagenausfall am Ende (oder auch am Anfang) einer Handschrift, nicht nur im Rahmen der neutestamentli‐ chen Textüberlieferung, ein recht häufig auftretendes Phänomen darstellt, ist evident. 81 G AM B L E s Einwand, dass ein einziges defektes Exemplar unmöglich als Vorlage für eine Textform vorstellbar wäre, die solch zahlreiche und weit ver‐ 168 VI. Der Schluss des Römerbriefes 82 Vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 115. 83 Vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 77. 84 So beispielsweise S C H M I T H A L S , Abfassung und Sammlung, S. 240. breitete Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen hat wie der kurze Römerbrief, 82 kann leicht anhand diverser Gegenbeispiele entkräftet werden. T R O B I S C H verweist hier u. a. auf den Polykarpbrief, den Diognetbrief als auch auf den masoretischen Text des Hiobbuches, die allesamt auf defekte Ar‐ chetypen zurückgehen. 83 Auf den ersten Blick scheint die besagte Lösung daher durchaus attraktiv, da somit die aus den bisher beschriebenen Szenarien resultierenden Schwierig‐ keiten elegant umgangen werden. Dennoch birgt auch diese Erklärungsmög‐ lichkeit einige nicht zu vernachlässigende Probleme: So müsste man einerseits zusätzlich annehmen, dass der mechanische Ausfall (mehr oder weniger) un‐ mittelbar am Satzende (genau genommen am Ende von Vers 14,23) geschieht. Zwar ist dies grundsätzlich vorstellbar, würde allerdings den Faktor Zufall in gehörigem Maße beanspruchen. Davon abgesehen zeigt sich andererseits noch eine weitere Schwierigkeit. Zwar ist das Phänomen eines mechanischen Blattbzw. Lagenausfalls tatsächlich in zahlreichen Handschriften von der Antike bis ins Mittelalter nachweisbar. Allerdings treten solcherlei Blattausfälle in der übergroßen Mehrheit der bekannten Fälle vornehmlich am Ende bzw. am An‐ fang eines Kodex auf. Dass ein Blatt einfach aus der Mitte eines Kodex abhan‐ denkommt, passiert deutlich seltener. Da die handschriftliche Überlieferung des Römerbriefes allerdings nahelegt, dass dieser stets nur als Teil einer Briefsamm‐ lung kursierte, niemals aber als Einzelexemplar, können die besagten Seiten (es müssen ja mehrere gewesen sein, wenn man sich den Textumfang des 15. und 16. Kapitels des Römerbriefes vor Augen hält) gar nicht das Ende des Kodex gebildet haben. Es sei denn, man postulierte eine Briefsammlung, in welcher der Römerbrief den Schluss der Sammlung darstellt. 84 Eine solche ist allerdings nir‐ gends bezeugt. Es bleibt also festzuhalten, dass - trotz aller Vorteile gegenüber den oben dargestellten redaktionellen Streichungsszenarien - die beschriebene Option, die Entstehung des kurzen Römerbriefes mithilfe eines mechanischen Defekts zu erklären, nur mit weiteren Zusatzannahmen funktioniert, wonach (1) in dem besagten Manuskript der Römerbrief entweder allein oder aber als letzter Brief gestanden haben und (2) der postulierte Blattausfall zufällig genau am Satzende aufgetreten sein muss. Beide Zusatzannahmen schränken die Plausibilität der Blattausfall-These doch stark ein. 169 6.3. Der kurze Römerbrief 85 B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 408f. 86 Zu nennen sind exemplarisch R Y D E R , Authorship, und W. B. S M I T H , Unto Romans. 87 So exemplarisch die Ansicht von L I G H T F O O T , M. Renan, S. 291. 88 Dass der kurze Römerbrief dem langen vorausgeht, erwog beispielsweise schon Lake. Er konstatierte: „[T]he short recension is the original form of the text which was af‐ terwards expanded.“ Er rechnete damit, „that the short recension represents a letter written by St. Paul […] for the general instruction of mixed Churches which he had not 6.3.4. Der kurze Römerbrief als älteste erreichbare Textform Es ergibt sich demnach, dass sowohl die Annahme einer redaktionellen Strei‐ chung - von wem und aus welchen Motiven heraus auch immer - als auch eines mechanischen Ausfalls der letzten beiden Kapitel des Römerbriefes Lösungsan‐ sätze darstellen, welche den Befund nicht hinreichend plausibel erklären können bzw. jeweils wieder neue Probleme generieren. Somit ist m. E. kein plausibles Szenario ersichtlich, welches den kurzen aus dem langen Römerbrief heraus entstanden versteht. Die vorliegende Studie kehrt das Bearbeitungsgefälle zwischen den beiden Referenzgrößen um. Der lange Römerbrief wird nunmehr als sekundäre Erwei‐ terung des kurzen begriffen. Dass eine solche Annahme letztlich nichts gänzlich Neues darstellt, ist evident. Soweit ich in den Forschungsdiskurs einsehen konnte, war es zuerst Ferdinand Christian B A U R , der die Kapitel 15 und 16 als nicht paulinisch identifizierte und sie stattdessen einem Verfasser zuschrieb, der „im Geiste des Verfassers der Apostelgeschichte dem scharfen Antijudaismus des Apostels [scil. Paulus] zu Gunsten der Judaisten und im Interesse der Eini‐ gung ein milderndes und begütigendes Gegengewicht entgegensetzen wollte.“ 85 In der Folge erfuhr B A U R s These starke Ablehnung, aber auch einigen Zuspruch. Letzteres geschah v. a. in der englischsprachigen Forschung. 86 Ausgehend von der Grundannahme der Authentizität des langen Römer‐ briefes entwickelte sich daneben der Ansatz, auch den kurzen Römerbrief als von Paulus selbst angefertigt zu verstehen. War Paulus also sowohl für den kurzen als auch den langen Römerbrief verantwortlich, so ergeben sich zwei Möglichkeiten, welche von beiden Versionen der jeweils anderen vorausgeht. Beide Positionen wurden vertreten. Versteht man dabei den kurzen Römerbrief als nachträglich von Paulus angefertigte Verkürzung seines originalen, langen Textes, 87 so gelangt man allerdings in die gleiche argumentative Sackgasse, die bereits zuvor unter 6.3.1 und 6.3.2 dargelegt wurde. Folglich erscheint die Um‐ kehrung der Bearbeitungstendenz (statt mit einer Verkürzung des langen Textes vielmehr mit einer Erweiterung des kurzen zu rechnen) konsequent und folge‐ richtig. 88 Nachfolgend wird nun die Plausibilität der Annahme, den kurzen Rö‐ merbrief als Vorläufer des langen zu verstehen, überprüft. Dass der kurze Rö‐ 170 VI. Der Schluss des Römerbriefes visited“; L A K E , Earlier Epistles, S. 362. Ähnliche Lösungsansätze verfolgten Manson und Knox; vgl. Kap. 6.3 Anm. 47. 89 Rm 1,11. 90 Rm 1,13. 91 J E W E T T , Romans, S. 117. Wie sich dies zu der Abfassungssituation und -motivation verhält, welche sich dem Leser in Rm 15 darstellt, wird an späterer Stelle der vor‐ liegenden Arbeit untersucht; vgl. Kap. 6.5.2. Die redaktionelle Ergänzung der Ka‐ pitel 15 und 16 (v. a. S. 217f). 92 Exemplarisch dazu G A M B L E , The Textual History, S. 36, der feststellt, dass „such a letter […] would have lacked both a specific address and concluding formulae.“ 93 Einzige Ausnahme ist der erste Korintherbrief, in dem sich an den Segenswunsch (1 Kor 16,23) noch eine Liebeszusage (1 Kor 16,24) anschließt. 94 Vgl. z. B. die Thessalonicherbriefe sowie Kol, Phil, Phlm. Auch die Pastoralbriefe und der Hebräerbrief weisen alle eine Benedictio als Abschluss auf. 95 Vgl. z. B. Gal, 1 Kor und Eph (=Laod). merbrief tatsächlich ursprünglich eigenständig existierte, ist dazu auf drei Ebenen (Bezeugung, Motivation und Form des Schreibens) auf die Probe zu stellen: Leicht zu beantworten ist erstens die Frage nach der handschriftlichen Be‐ zeugung der Textform. Über ihre weite Verbreitung - weit über Marcions Apos‐ tolos hinaus - bestehen keinerlei Zweifel. Darauf weisen sowohl all jene Hand‐ schriften hin, welche die Doxologie nach Kapitel 14 lesen als auch die altlateinischen Kapitelverzeichnisse KA Rm A und KA Rm Reg sowie die altla‐ teinischen Paulusprologe. Zweitens ist danach zu fragen, welche Motivation ein solches Schreiben gehabt haben könnte. Kapitel eins des Briefes gibt dafür hinreichend detail‐ liert Auskunft. Paulus will die ihm bisher unbekannte römische Gemeinde besuchen, um ihnen geistliche Gaben mitzuteilen (ἵνα τι μεταδῶ χάρισμα ὑμῖν πνευματικόν). 89 Er will Frucht schaffen wie unter anderen Heiden auch (ἵνα τινὰ καρπὸν σχῶ καὶ ἐν ὑμῖν καθὼς καὶ ἐν τοῖς λοιποῖς ἔθνεσιν). 90 In diesem Zusammenhang erachtet er es als notwendig, sich selbst (genauer gesagt sein Apostolat) und sein Evangelium ausführlich darzustellen. Zu Recht konstatiert beispielsweise J E W E T T : „[Rm 1,9-12] lifts up the main pur‐ pose of writing.“ 91 Zuletzt stellt sich die Frage nach der Form des Schreibens. Gegen die An‐ nahme der Originalität und daher der Eigenständigkeit des kurzen Römerbriefes wurde oftmals eingewandt, dass diesem ein formal angemessener Schluss fehle. 92 Analysiert man die restlichen Briefe des Corpus Paulinum, stellt man tatsächlich fest, dass alle Grüße beinhalten und mit einem Segenswunsch ab‐ schließen. 93 Dieser kann sehr kurz und allgemein gehalten 94 , aber auch ausführ‐ licher und persönlich gestaltet sein. 95 Bemerkenswert erscheint also, dass nir‐ 171 6.3. Der kurze Römerbrief 96 Ausführlich dazu C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 101f. 97 Anschließend lesen alle drei HSS noch die Doxologie sowie die Kapitel Rm 15 und 16 und die Benedictio in 16,24. Zum Codex Monza (VL 86) vgl. F R E D E , Ein neuer Paulustext. 98 Da er dem Segenswunsch in 16,24 die Signatur C zuschreibt, bezeichnet er die besagte lateinische Benedictio mit C 1 ; vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 28. 99 Auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 72 votiert dafür, „die Charak‐ terisierung von C 1 […] als verkürzte Form von C […] aufzugeben. […] Sie […] ist so allgemein gehalten, daß sie auch unabhängig von 16,24 entstanden sein kann.“ 100 Genauso wäre es vorstellbar, dass der besagte kurze Segenswunsch ein sekundäres Ele‐ ment ist, um dem abrupt abbrechenden kurzen Römerbrief einen Abschluss zu geben, der den übrigen Briefen des Corpus Paulinum entspricht. 101 Vgl. Kap. 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell. gends eine Doxologie als Briefabschluss auftaucht, wie es in den heutigen kritischen Textausgaben des NT am Ende des Römerbriefes der Fall ist. Dieses Manko eines fehlenden Schlusses kann bei genauerem Hinsehen zu‐ mindest etwas entkräftet werden. Denn ein Blick auf die lateinische Textüberlieferung zeigt, dass in einigen Handschriften in unmittelbarem Anschluss an Rm 14,23 tatsächlich noch ein kurzer Segenswunsch zu lesen ist: Gratia cum omnibus sanctis. 96 Er findet sich im altlateinischen Codex Monza (VL 86) sowie den Vulgatahandschriften Clm 17043 (München) und Clm 17040 (München). 97 A LAN D versteht diesen Segenswunsch als verkürzte Form der Benedictio in 14 Rm 16,24 (Ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ πάντων ὑμῶν). 98 Diese Folgerung, den allein in der lateinischen Überlieferung erhaltenen Segens‐ wunsch als verkürzte Version der Benedictio in 14 Rm 16,24 zu begreifen, scheint mir allerdings nicht hinreichend plausibel. Denn m. E. könnte die kurze und überaus allgemein gehaltene Formulierung ebenso gut eigenständig entstanden sein - die Annahme einer Abhängigkeit von 14 Rm 16,24 ist somit ganz und gar nicht zwingend. 99 Dies eröffnet zumindest die Möglichkeit, den besagten Se‐ genswunsch als Hinweis auf den ursprünglichen Abschluss des kurzen Römer‐ briefes zu begreifen, welcher den bekannten paulinischen Briefschlüssen formal entspräche. 100 Dieses Gedankenspiel bleibt freilich hochgradig spekulativ und mit einigen offenen Fragen behaftet. Zu klären wäre nämlich zunächst, warum dieser kurze, den ursprünglichen kurzen Brief abschließende Segenswunsch dann letztlich in der überwiegenden Zahl der HSS ausgefallen ist. Möglicherweise könnte dies daher kommen, dass es sich schon bald nicht mehr um den tatsächlichen Brief‐ abschluss handelte, sondern stattdessen weitere, deutlich umfangreichere Text‐ teile an den kurzen Römerbrief angehängt wurden. 101 An dieser Stelle sei nochmal auf den einzigen Hinweis geblickt, aufgrund dessen wir eigentlich davon ausgehen, dass der kurze Römerbrief tatsächlich 172 VI. Der Schluss des Römerbriefes 102 Natürlich ist die Überzeugungskraft eines solchen argumentum e silentio nicht wirklich stark. mit Rm 14,23 endete: das Origeneszitat. Dort heißt es: „… von der Stelle an, wo es heißt: ‚Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde‘ [14,23], hat er [scil. Marcion] bis zum Ende alles gestrichen.“ So wäre es doch zumindest zu erwägen, ob Origenes das Postskript der Briefe zum eigentlichen Briefkorpus mit einbezieht. Wenn er also schreibt „bis zum Ende“ muss das vielleicht gar nicht unbedingt heißen, dass danach tatsächlich gar nichts mehr im von Marcion verwendeten Römerbrief zu lesen war. Es wäre also möglich, dass der kurze Segenswunsch den eigentlichen Abschluss von 10 Rm bildete. Diese Deutung er‐ scheint durchaus vorstellbar, insbesondere da - abgesehen von Origenes - sämtliche Häresiologen hinsichtlich der Frage nach dem Briefschluss komplett schweigen. Sollte der Schluss tatsächlich komplett gefehlt haben, hätten die Häresiologen es dann wirklich unkommentiert gelassen? Tertullians Strategie, den von Marcion verwendeten Römerbrief zu diskreditieren, würde es kaum entsprechen, über einen fehlenden Briefabschluss hinwegzusehen. 102 Für die weiteren Überlegungen bleibt Folgendes festzuhalten: 1. Der kurze Römerbrief hat in der handschriftlichen Überlieferung zahl‐ reiche und geographisch weit verbreitete Spuren hinterlassen. 2. Die Motivation des kurzen Römerbriefes ergibt sich unmittelbar und wird in hinreichender Ausführlichkeit in Rm 1 dargestellt. 3. Der kurze Römerbrief genügt weitgehend den formalen Anforderungen an einen Paulusbrief. Allein das Briefende lässt einige Fragen offen, da nicht eindeutig zu klären ist, was genau tatsächlich am Ende von 10 Rm zu lesen war. Sollte der kurze, bisher nur in der lateinischen Überlieferung bezeugte, Segenswunsch den originalen Abschluss gebildet haben, so wäre auch dies aufgrund der Knappheit ein relativ ungewöhnlicher Schluss. Darüber hinaus ist letztlich auch unklar, warum dieser dann in den allermeisten heute bekannten Handschriften nicht mehr auftaucht. Es bleibt also festzuhalten, dass die Annahme, den kurzen Römerbrief als Prätext des langen Römerbriefes zu verstehen, sehr wohl statthaft ist. Denn alle Ver‐ suche, die den kurzen Römerbrief aus dem langen entstanden wissen wollen, sind aus Plausibilitätsgründen abzulehnen bzw. kommen nicht ohne weitere Zusatzannahmen aus. Dabei erscheint die Option eines Blattausfalls am Ende des ursprünglichen Römerbriefes weniger unwahrscheinlich als die Annahme einer intendierten, redaktionellen Streichung. Postuliert man aber ein „defektes Exemplar“ des Römerbriefes, das bereits so früh in der Überlieferungsgeschichte 173 6.3. Der kurze Römerbrief Spuren hinterlassen hat (nämlich u. a. im marcionitischen Apostolos) und folg‐ lich bereits vor diesem entstanden sein muss, dann muss auch die Annahme erlaubt sein, dass es sich dabei gar nicht um ein „defektes Exemplar“ handelt, sondern tatsächlich um die älteste (bezeugte) Textform und damit den Archetyp für die verschiedenen Textformen am Ende des Römerbriefes. Damit erhärtet sich die heuristische Grundannahme der vorliegenden Studie, 10 Rm als Aus‐ gangspunkt der Überlieferung zu betrachten. In der Folge soll nun überprüft werden, welche Implikationen diese Annahme für das verzwickte textkritische Problem des Römerbriefschlusses hat bzw. ob besagtes Problem sich mit Hilfe dieser Annahme möglicherweise besser lösen lässt als bisher. 174 VI. Der Schluss des Römerbriefes 103 Bereits das eingangs des Kapitels ausführlich analysierte Zitat des Origenes wies ei‐ nerseits auf die Existenz eines kurzen Römerbriefes, der bereits nach Rm 14,23 endet, und andererseits auf die variierende Stellung der Doxologie in den Handschriften hin. 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? Um den besagten Fragenkomplex zu entwirren, muss zunächst der Befund in den neutestamentlichen Handschriften analysiert werden. 6.4.1. Der handschriftliche Befund Wie bereits im Einleitungskapitel deutlich geworden ist, offenbart die hand‐ schriftliche Überlieferung des Römerbriefes an dessen Schluss eine für das Neue Testament beispiellose Vielfalt verschiedener Textformen. Neben der bereits ausführlich beschriebenen Existenz des sog. kurzen Römerbriefes (der ohne die Kapitel 15 und 16 auskommt) ist es vor allem die variierende Stellung zweier Textbausteine, die die besagte Vielfalt der Textformen ausmacht. So tauchen in den einzelnen Handschriften sowohl die Doxologie, die in den modernen Druck‐ ausgaben des Neuen Testaments den Abschluss des Briefes bildet, als auch der Schlusssegen an mehreren verschiedenen Positionen auf. 103 Die genannten Phä‐ nomene können zwar zunächst isoliert voneinander beschrieben werden, aller‐ dings soll bereits vorweg gesagt sein, dass sie nur im Zusammenhang zufrie‐ denstellend zu erklären sind und folglich ein übergreifendes und umfassendes Erklärungsmodell erfordern. Bevor hier ein neues Lösungsmodell vorgestellt und plausibilisiert werden kann, ist es geboten, die Bezeugung der unterschiedlichen Textformen über‐ sichtlich darzustellen. In der nachfolgenden Tabelle 4 ist ersichtlich, welche Handschriften die Kapitel 15 und 16 lesen und welche nicht. Darüber hinaus wird u. a. darauf Wert gelegt, das Auftauchen der beiden gängigen Schlussbau‐ steine (also die Benedictio sowie die Doxologie) an den jeweiligen drei Positionen im Text so übersichtlich und gleichzeitig genau wie möglich sichtbar zu machen. Weiterhin wird durch die Einfügung der Spalte „Briefabschlussbau‐ stein“ auf einen Blick erkennbar, welches der tatsächliche Abschlussbaustein des Römerbriefes in dem jeweiligen Textzustand ist. Auf die Kennzeichnung des Alters des jeweils ältesten Zeugen, wie sie teilweise in anderen Listen geschieht, wird bewusst verzichtet. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass es in der Stem‐ mabildung teilweise auf falsche Fährten führt. 175 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 104 In G und g findet sich nach 14,23 eine Lücke, in F dagegen nur nach 16,24. VI. Der Schluss des Römerbriefes 1 Nr. Bezeugung Schlusskapitel Benedictio Doxologie Briefabschlussbaustein Kap. 15 Kap. 16 16,20b 16,24 Nach 16,27 Nach 14,23 Nach 15,33 16,25-27 1 Mrc (= 10 Rm) - - - - - - - - ? 2 KA Rm A - - - - - X - - D 3 A 02 0151 5 621 2110 X X X - - X - X D 4 mon (VL 86) X X - X - X - - C 5 L 020 Ψ 044 0209 𝔐𝔐 919 sy H georg got X X X X - X - - C 6 G 012 g (lat) F 010 (gr) 104 X X - X - [Lücke] - [Lücke] C 7 629 (gr) 1941 corr 105 X X X X - - - - C 8 D 06 f (lat) 296 X X - X - - - X D 9 א B 03 C 04 81 623 1739 2127 X X X - - - - X D 10 88 1909 X X X X - X - X D 11 629 (lat) 630 1104 1869 1882 1903 1911 1931 2200 X X X X - - - X D 12 P 025 33 104 441 459 1243 X X X - X X - X C 13 256 263 365 436 1319 1573 äth sy P X X X - X - - X C 14 P 46 X X X - - - X - 16,23 15 1506 X [Lücke] - - - X X - D Tabelle 4: Textformen des Römerbiefschlusses 176 VI. Der Schluss des Römerbriefes 105 1941 bezeugt die Doxologie nach 14,23. Sie ist allerdings vom Korrektor eingeklammert, der sie möglicherweise auf diese Weise als sekundäre Ergänzung kenntlich machen wollte. In (einer) seiner Vorlage(n) muss sie also entweder (an dieser Stelle) gefehlt haben, oder aber ihm waren Handschriften bekannt, welche die Doxologie an dieser Stelle, also nach 14,23, nicht lasen. 106 Der Übersichtlichkeit halber beschränke ich mich an dieser Stelle allein auf die Be‐ schreibung des Befundes. 107 Lt. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 1ff liest damit auch die ge‐ meinsame Vorlage von D F G die Doxologie nicht. 108 Γ B = Mailand, Bibliotheca Ambrosiana E. 26 inf. (die sog. Bibel von Bobbio); vgl. E Y ‐ M A N N , Epistula ad Romanos, S. 36; H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 251 bzw. H O U G H T O N ( U . A .), Principal Pauline Epistles, S. 18f. Zunächst soll nun die wechselnde Stellung der Doxologie beleuchtet werden. Wie in Tabelle 4 gezeigt, existieren sowohl für das Vorhandensein als auch für die Position der Doxologie mehrere Varianten. 106 1. Hinsichtlich des Vorkommens der Doxologie gibt es trivialerweise zwei Möglichkeiten: entweder sie ist Teil des Textes oder aber nicht. Die zweite Möglichkeit (also ein Römerbrief ohne Doxologie) ist durch den Codex Augiensis (F) und den Codex Boernerianus (G/ g) bezeugt, 107 ebenso fehlt sie auch in den Minuskeln 629 und 1941 corr sowie in Γ B (= VL 135) 108 . Die Mehrheit der Manuskripte liest dagegen die Doxologie. Erstaunlicher‐ weise gibt es aber eine ganze Reihe von Handschriften, in denen dies sogar zweimal geschieht. Der älteste und gewichtigste Zeuge für dieses dop‐ pelte Auftauchen der Doxologie ist der Codex Alexandrinus (A). Mit dem Codex Porfirianus (P) bietet auch eine weitere Unzialhandschrift sowie zahlreiche Minuskeln (0151 5 621 2110 88 1909 33 104 441 459 1243 1506) die Doxologie gleich an zwei verschiedenen Stellen. 2. Hinsichtlich der Stellung der Doxologie im Text des Römerbriefes ist der Befund in den Handschriften nicht minder bemerkenswert. So taucht diese an drei verschiedenen Stellen auf: a) nach Kap 14 (also nach Rm 14,23), b) nach Kap 15 (also nach Rm 15,33) sowie c) nach Kap 16 (also nach Rm 16,24 bzw. - falls dieser Vers fehlt - nach Rm 16,23). Die gewichtigsten Zeugen, welche die Doxologie bereits nach Rm 14,23 lesen, sind die Handschriften des sog. Mehrheitstextes 𝔐 - sowie L Ψ 0209 919 VL 86 sowie die Vulgatahandschriften Clm 17043 und Clm 17040 sowie sy h georg got. Dazu kommen alle Manuskripte, in denen die Doxo‐ logie zweimal zu lesen ist, also A 0151 5 621 2110 88 1909 P 33 104 441 459 1243 1506. Man muss also konstatieren, dass die Positionierung nach Kap. 14 in der handschriftlichen Überlieferung tatsächlich überaus weit ver‐ breitet ist. 177 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 109 Der Befund in 1506 ist deswegen besonders bemerkenswert, da der Text nach Rm 15,33 nicht direkt die Doxologie anfügt (die ja bereits nach 14,23 auftauchte), sondern zu‐ nächst eine halbe Seite unbeschrieben lässt und erst auf dem folgenden Blatt den Brief mit der zweiten Doxologie abschließt. Möglicherweise deutet dies darauf hin, dass der Schreiber von dem Grußkapitel Rm 16 wusste, es in seiner Vorlage aber entweder nicht vorhanden war bzw. er es bewusst wegließ bzw. nicht in den Text aufnahm. Letztere Option erscheint mir allerdings sehr unwahrscheinlich, wenngleich sie z. B. von K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 297 favorisiert wird. Zum Befund von Minuskel 1506 vgl. auch W I L C K E N S , An die Römer, S. 147 Anm. 698. 110 O R S I N I / C L A R Y S S E , Early New Testament Manuscripts, S. 470. Nach Kapitel 16 ist die Doxologie in den ältesten Vollbibeln, also ℵ B C, aber auch in zahlreichen Minuskelhandschriften zu lesen. Auch in fast allen Handschriften, in denen sie doppelt auftaucht, findet sich die Do‐ xologie auch nach Kap. 16. Eine Ausnahme bildet in gewisser Weise die Minuskel 1506, in welcher das komplette 16. Kapitel des Briefes fehlt. Die Doxologie steht hier einmal nach Kap. 14 und einmal nach Rm 15,33, also am Ende des eigentlichen Briefes, der in dieser Handschrift mit Kap. 15 endet. 109 Die besagte Minuskel 1506 ist somit eine von insgesamt nur zwei Hand‐ schriften, in denen die Doxologie nach dem Kap. 15 situiert ist. Bei der anderen handelt es sich um P 46 , die Papyrushandschrift, die als ältester handschriftlicher Zeuge der Paulusbriefsammlung überhaupt gilt. Allein aufgrund des hohen Alters (zumeist wird sie auf die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts datiert 110 ) ist P 46 ein Zeuge, der gerade für die Erfor‐ schung der frühesten Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes sowie des gesamten Corpus Paulinum von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Insofern ist es besonders bemerkenswert, als gerade in P 46 die Doxo‐ logie nach Kap. 15 auftaucht und gleichzeitig nicht den Abschluss des Briefes bildet. Analysiert man die Schlussbausteine des Römerbriefes, fällt auf, dass neben der Doxologie in zahlreichen Manuskripten auch ein Segenswunsch den Abschluss des Textes bildet, so z. B. in den Unzialhandschriften F G L P Ψ sowie in zahl‐ reichen Minuskeln, insbesondere bei denen des sog. Mehrheitstextes 𝔐 - . Bevor ich mich also den konkreten Entstehungsmodellen zum Schluss des Römer‐ briefes widmen kann, ist es zunächst nötig, die beiden besagten Schlussbausteine (Doxologie und Benedictio) genauer zu betrachten. Damit wird T R O B I S C H s me‐ thodischer Forderung Rechnung getragen, „daß zunächst die Entstehung der einzelnen Elemente des Röm erklärt werden sollte, nicht ihre Kombination. 178 VI. Der Schluss des Römerbriefes 111 T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 75. 112 Rm 16,25-27 (NA 28 ): Τῷ δὲ δυναμένῳ ὑμᾶς στηρίξαι κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου καὶ τὸ κήρυγμα Ἰησοῦ Χριστοῦ, κατὰ ἀποκάλυψιν μυστηρίου χρόνοις αἰωνίοις σεσιγημένου, φανερωθέντος δὲ νῦν διά τε γραφῶν προφητικῶν κατ’ ἐπιταγὴν τοῦ αἰωνίου θεοῦ εἰς ὑπακοὴν πίστεως εἰς πάντα τὰ ἔθνη γνωρισθέντος, μόνῳ σοφῷ θεῷ, διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ, ᾧ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν. 113 So auch E L L I O T T , Language and Style, S. 124. 114 So z. B. B O R S E , Das Schlußwort des Römerbriefes, S. 180. Ähnliches trifft auch auf die Doxologien der pseudepigraphen Paulusbriefe in Eph 3,20f; 1 Tim 1,17; 1 Petr 5,10f sowie Jud 24 f zu; vgl. E L L I O T T , Language and Style, S. 130. Denn es ist sehr wahrscheinlich, daß die Archetypen, auf die die handschriftliche Überlieferung zurückgeht, nur eine Teilmenge dieser Elemente umfaßten.“ 111 a) Die Doxologie als Briefschluss Zunächst ist zu zeigen, wovon genau die Rede ist. Der Text der Doxologie lautet wie folgt: 112 Dem aber, der euch stärken kann gemäß meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, gemäß der Offenbarung des Geheimnisses, das seit ewigen Zeiten ver‐ schwiegen war, nun aber offenbart und kundgemacht ist durch die Schriften der Pro‐ pheten nach dem Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden: ihm, dem einzigen und weisen Gott, sei durch Jesus Christus Ehre in Ewigkeit! Amen. Inhaltlich wird folgendes deutlich gemacht: Erstens wird Paulus als der erste Verkündiger des Evangeliums dargestellt - nicht Petrus oder Jakobus oder ein anderer. Dieses Evangelium wurde zweitens zuerst den Juden offenbart (dank des Hinweises auf die Schriften der Propheten), aber dann drittens auch den Heiden. Diese entscheidende Offenbarung, die nun durch Paulus geschieht, ist nötig, da viertens die Juden das Geheimnis nicht durchschaut haben, obwohl es in ihren Schriften angelegt war. Folglich kann fünftens die Heilsgeschichte als umfassend und kohärent verstanden werden. Syntaktisch handelt sich um einen einzigen Nominalsatz, der durch zahl‐ reiche formelhafte Wendungen zunächst recht überladen wirkt. Der eigentliche Lobpreis Gottes, auf den alles Vorherige hinausläuft, findet sich erst als ab‐ schließender nominaler Hauptsatz. Neben dem ungewöhnlich großen Umfang der Doxologie 113 erscheint besonders auffällig, dass sie inhaltlich vom unmit‐ telbaren Kontext losgelöst wirkt. Anders als die Doxologien in Rm 11,36, Gal 1,5 sowie Phil 4,20, welche sich aus den vorhergehenden Sätzen zu entwickeln scheinen bzw. als Klimax der jeweiligen Textabschnitte fungieren, erscheint die Doxologie hier eher als in sich abgeschlossener Baustein ohne thematische An‐ knüpfungspunkte zu dem direkt davor Gesagten. 114 Dies lässt sich an allen mög‐ 179 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 115 Anders B O R S E , Das Schlußwort des Römerbriefes, S. 181f, der sie nicht als Briefschluss verstehen will, sondern sie aus inhaltlichen Gründen als ursprünglichen Abschluss von Kap. 14 liest. Ein späterer Redaktor hätte die Doxologie dann ans Briefende gesetzt und in gleichem Zuge die zweite Benedictio in 16,24 gelöscht, da er sich an der Dopplung derselben störte. „Auf diese Weise hatte er einerseits die ihm unpassend erscheinende Wiederholung des Segensgrußes beseitigt, andererseits konnte er dem großartigen Rö‐ merbrief einen besonders feierlichen Abschluß verschaffen.“ 116 Ähnlich schon W I L C K E N S , An die Römer, S. 148. 117 Auch die Herausgeber der führenden kritischen Textausgaben des NT tragen dieser Option in gewisser Weise Rechnung. So ist der Text der Doxologie nach 16,24 (bzw. nach 16,23) in NA 28 und GNT 5 in eckigen Klammern gesetzt, was darauf hinweist, dass sich die Herausgeber hinsichtlich der Ursprünglichkeit (bzw. des ursprünglichen Ortes) der Passage unsicher sind. Aufgrund der Bezeugung halten sie die Position nach Kapitel 16 für ursprünglich, können aber keine plausible Erklärung liefern, warum sie dann von lichen Orten feststellen, in denen die Doxologie in der handschriftlichen Über‐ lieferung auftaucht - also sowohl nach Kapitel 14 und 16 als auch in der nur durch P 46 und 1506 bezeugten Positionierung nach Kapitel 15. An keiner der genannten Stellen fügt sie sich in den argumentativen Duktus der vorangehenden Textabschnitte ein. 115 Umso deutlicher sind dafür gedanklich-sprachliche Entsprechungen zwi‐ schen der Doxologie und dem Präskript (Rm 1,1-7) des Briefes auszumachen. So ist v. a. die Wendung Gehorsam des Glaubens (εἰς ὑπακοὴν πίστεως) zu nennen, die sich neben Rm 16,26 eben auch schon in Rm 1,5 finden lässt. Be‐ sonders bedeutsam ist dies deshalb, weil das besagte Begriffspaar im NT einzig an diesen beiden Stellen auftaucht. Auch die Bindung des Evangeliums an Paulus wird in beiden Textteilen (Rm 1,1 und 16,25) betont. Weiterhin wird sowohl in Rm 1,2 als auch in Rm 16,26 ausdrücklich auf die Propheten (διὰ τῶν προφητῶν) bzw. deren Schriften (διά τε γραφῶν προφητικῶν) verwiesen. Die Prophetenschriften sind deswegen wichtig, da sie dieses Evangelium vorher verkündigt haben. Dies ist in gleicher Form auch in Hebr 1,1 ausgedrückt. Die genannten Beispiele zeigen, dass in der Doxologie diverse Motive und Wendungen des Präskripts aufgenommen werden. Schwer zu glauben, dass diese Anknüpfung zufällig entstanden ist. Stattdessen lässt sich dahinter eine spezifisch literarische Absicht erkennen, die das Ziel hatte, den Brief abzurunden bzw. eine Klammer zwischen dem Beginn und dem Abschluss des Briefes zu bilden. 116 Ob diese Verklammerung allerdings ursprünglich ist oder erst durch die nachträgliche Anfügung der Doxologie geschaffen wurde, wird noch zu klären sein. Die große Mehrheit der Exegeten geht von Letzterem aus und versteht die Doxologie als frühen, sekundären Zusatz. 117 Neben den eben beschriebenen Auffälligkeiten werden sowohl innere als auch äußere Kriterien gegen die Ur‐ 180 VI. Der Schluss des Römerbriefes ihrem eigentlichen Ort in so vielen Handschriften nach vorn (genau genommen nach 14,23) gerutscht ist. 118 G A M B L E , The Textual History, S. 107: „It is now widely recognized that aspects of its style, language and thougts weight against Pauline autorship.“ 119 C O L L I N S , Wandering Doxology, S. 295 benennt dies als das stärkste Argument, das die Authentizität der Doxologie in Frage stellt. 120 Vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, 34f. 121 Exemplarisch sei hier E L L I O T T , Language and Style, genannt. Er konstatiert, dass es bezüg‐ lich des Vokabulars in den authentischen paulinischen Briefen sehr wohl Parallelen gebe, der Anteil an ungewöhnlichen oder eigentümlichen Begriffen letztlich allerdings zu hoch sei, um die Doxologie als paulinisch zu verstehen. Die Sprache ähnele derjenigen der nach‐ paulinischen Schriften (Pastoralbriefe, Epheserbrief, Petrus- und Judasbrief). Ähnlich argu‐ mentieren auch C O L L I N S , Wandering Doxology, S. 300 der feststellt, dass die größten inhalt‐ lichen Parallelen zwischen Jud 24f und Rm 16,25-27 bestehen, sowie W I L C K E N S , An die Römer, S. 24. Auch zu Hebr 1,1 besteht augenscheinlich eine große Nähe. 122 Eine umfassende Analyse hinsichtlich des Stils und des Vokabulars der Doxologie findet sich u. a. bei E L L I O T T , Language and Style, S. 124-130. 123 Fredes Position ist von ähnlicher Zurückhaltung gekennzeichnet. So räumt er zwar ein, dass der Gedankengang der Doxologie durchaus Parallelen zu nach-paulinischen Texten wie Eph 3,4-10 und Kol 1,26-27 aufweist, konstatiert aber, dass sie ebenso gut in marcionitischen Kreisen entstanden sein könnte; vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, S. 157. W I L C K E N S , An die Römer, S. 148 erwägt in diesem Zusammenhang die kaum verifizierbare und daher wenig plausible Option, dass die Doxologie auch aus einer bestehenden liturgi‐ schen Tradition übernommen worden sein könnte. Letztlich kommt er aber zu dem Schluss, dass sie „das Werk eines Redaktors [ist], der also die Doxologie nicht en bloc übernommen, sondern im liturgischen Stil ad hoc selbst gestaltet hat.“ Besonders spannend erscheint die Lösung bei J E W E T T , Romans, S. 1003ff, der eine dreistufige Genese der Doxologie annimmt. Demnach existierte zunächst eine kurze, sechszeilige Doxologie, welche in Kreisen des hel‐ lenistischen Judentums erwachsen ist. Diese wurde im 2. Jh. christlich erweitert (vgl. die Parallelen in Kol 1,26f und Eph 6,19) und in einem dritten Schritt schließlich als Schlussbau‐ sprünglichkeit und damit auch gegen die paulinische Verfasserschaft der Pas‐ sage angeführt: einerseits wird aufgezeigt, dass Stil, Vokabular und Motivzu‐ sammenhang der Doxologie sich von den authentischen Paulusbriefen klar unterscheiden, 118 andererseits scheint auch die wechselnde Stellung und die va‐ riierende Anzahl der Doxologie(n) in den Handschriften des Römerbriefes gegen ihre Ursprünglichkeit zu sprechen. 119 Wenn also nicht Paulus, wer aber kommt dann als Verfasser in Frage? Während C O R S S E N die Doxologie als Produkt der Marcioniten verstand, ohne allerdings in‐ haltliche Argumente dafür anzuführen, 120 verortete die Mehrheit der Exegeten sie eher im Dunstkreis der pseudepigraphen Paulusbriefe. 121 Die Argumente hierfür sind hauptsächlich stilistischer Art. 122 Da es nach meinem Dafürhalten allerdings methodisch fragwürdig erscheint, vornehmlich aufgrund stilistischer Tendenzen zu einem verlässlichen Urteil hinsichtlich der tatsächlichen Verfasserschaft zu ge‐ langen, möchte ich mich hier an diesbezüglichen Spekulationen nicht beteiligen. 123 181 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? stein an den kurzen Römerbrief angehängt, wobei sie mit dem Präskript des Briefes ver‐ klammert wurde. Die handschriftliche Überlieferung liefert allerdings keinerlei Anhalts‐ punkte für die Existenz solcherlei kürzerer Vorformen der Doxologie. 124 Offenbar müsste der im altlateinischen Codex Monza (VL 86) sowie den Vulgatahand‐ schriften Clm 17043 (München) und Clm 17040 (München) nach Rm 14,23 überlieferte kurze Segenswunsch Gratia cum omnibus sanctis dann entweder auch als sekundärer Bestandteil begriffen worden sein, der nachträglich ergänzt wurde, um dem kurzen Römerbrief einen angemessenen Schlusssatz zu verpassen, oder diese Kurz-Benedictio war in der griechischen Überlieferung unbekannt bzw. wurde aufgrund ihrer Kürze nicht als ein dem Römerbrief angemessener Schluss verstanden. Keine der genannten Optionen ist grundsätzlich auszuschließen. Denn für den Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit ist diese Frage hier zu‐ nächst nachrangig. Weitaus wichtiger erscheint es mir hier, die Funktion der Doxologie in den Blick zu nehmen. Aufgrund der bereits zuvor dargelegten Verklammerung mit dem Präskript des Römerbriefes liegt es nahe, dass sie von Anfang an als Brief‐ abschluss konzipiert wurde. Dies wird auch durch die Analyse des handschrift‐ lichen Befundes gestützt, denn in den meisten Manuskripten fungiert die Do‐ xologie tatsächlich auch als Abschlusspassage. Versteht man sie also als sekundären Briefschluss, so weist dies wiederum klar auf den kurzen Römerbrief hin, dem möglicherweise ein entsprechender Abschluss fehlte. 124 Die unterschiedlichen Positionen, an denen sie im Text auftaucht (nach Kap. 14, nach Kap. 16 und sogar nach Kap. 15), deuten darauf hin, dass der „Grund‐ baustein“ des Römerbriefes (also alles vor dem Schlussbaustein) unterschiedlich lang war. Die ursprüngliche (d. h. die älteste) Position der Doxologie muss dann aber nach Rm 14,23 gewesen sein. Denn die Stellung der Doxologie nach Kapitel 14 ist nur durch ein Fehlen der folgenden beiden Kapitel zu erklären. Wäre sie ursprünglich hinter Kapitel 16 positioniert, müsste sie in der Folge nach vorn (hinter 14,23) gerutscht sein. Eine solche Transposition wäre kaum zu moti‐ vieren. Festzuhalten ist also Folgendes: 1. Die Doxologie ist von Anfang an als Abschlussbaustein des Römerbriefes verfasst worden. Die sprachlich-inhaltlichen Verknüpfungen mit dem Präskript des Briefes weisen darauf hin, dass Präskript und Doxologie als eine Art Klammer um den eigentlichen Text konzipiert sind. 2. Viel spricht dafür, dass die Doxologie ein sekundärer Textbaustein ist. Sie ist also nicht paulinisch. 182 VI. Der Schluss des Römerbriefes 125 So u. a. auch W O L T E R , Röm 1-8, S. 19. 126 Oder aber einer Teilsammlung von Paulusbriefen, in welcher der Römerbrief den Ab‐ schluss bildet. So bereits S C H M I T H A L S , Abfassung und Sammlung, S. 245. Allerdings ist die Annahme einer solchen, ansonsten gänzlich unbezeugten, Teilsammlung (mit Ock‐ hams Razor) methodisch nicht statthaft und daher wenig plausibel. 127 W I L C K E N S , An die Römer, S. 24 konstatiert daher: „Formgeschichtlich läßt sich die Do‐ xologie nicht als Briefschluß, sondern nur als Abschluß des Römerbriefes als gottes‐ dienstlicher Lesung erklären.“ 128 Rm 16,24 (NA 28 ): Ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ πάντων ὑμῶν. 129 So auch G A M B L E , The Textual History, S. 129, der die Wichtigkeit der Benedictio für die Frage nach dem Römerbriefschluss betont und gleichzeitig kritisiert, dass ihre Bedeu‐ tung bei der Lösungsfindung oftmals unterschätzt wird. 3. Der älteste Platz der Doxologie innerhalb des Römerbrieftextes befindet sich nach Rm 14,23. 125 Sie bildete also ursprünglich den Abschluss des kurzen Römerbriefes, 126 dem offenbar ein angemessener Schluss fehlte. Ihre Positionierung nach Kap. 16 (und nach Kap. 15) ist darauf zurück‐ zuführen, dass der kurze Römerbrief sekundär erweitert, die Doxologie aber ihrer ursprünglichen Funktion gemäß als Schlussbaustein beibe‐ halten wurde und somit nach hinten „wanderte“. b) Die Benedictio als Briefschluss Üblicherweise schließen die Paulusbriefe innerhalb des Neuen Testaments (so‐ wohl die als echt angenommenen als auch die pseudepigraphen) mit einem Se‐ genswunsch ab. Ein Briefabschluss mit einer Doxologie (wie er eben wahr‐ scheinlich gemacht wurde) stellt also formgeschichtlich eine Besonderheit dar. 127 Doch auch für den Römerbrief finden sich zahlreiche Handschriften, die der üblichen Form entsprechend mit einer Benedictio enden. Sie lautet wie folgt: 128 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen ! Besonders interessant erscheint, dass dieser Segenswunsch in den bekannten Manuskripten an verschiedenen Stellen auftaucht. So existieren Handschriften, die ihn vor der Doxologie (in 16,24), andere dagegen nach der Doxologie (also nach 16,27) bieten. In den meisten Manuskripten ist der besagte Segenswunsch zusätzlich auch in 16,20b zu lesen (wenngleich dort ohne πάντων). Wie die Do‐ xologie ist also auch die Benedictio an drei unterschiedlichen Textstellen posi‐ tioniert. Diese drei verschiedenen Orte sind keineswegs zufällig. Noch weniger sind sie unerheblich für die große textkritische und -geschichtliche Frage nach dem Schluss des Römerbriefes. 129 Denn ein umfassendes textgeschichtliches Entstehungsmodell muss plausibel erklären können, wieso die Benedictio so stark variiert (d. h. ihre Stellung im Text sowie auch die Anzahl ihres Auftretens). 183 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 130 Vgl. dazu Tabelle 4 (S. 176). 131 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 291. 132 So exemplarisch L A M P E , Textgeschichte; T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsamm‐ lung, und C O L L I N S , Wandering Doxology. Zuletzt wurde die Verskennzeichnung (in Abkehr von den Aland’schen Signaturen) teilweise wieder eingeführt, wie sich z. B. im Römerbriefkommentar von Wolter zeigt; vgl. W O L T E R , Röm 1-8, S. 18. Festzuhalten ist also zunächst, dass in nahezu allen bisher bekannten Hand‐ schriften bzw. Textformen des Römerbriefes dieser entweder mit der Doxologie oder aber mit der Benedictio abschließt. Allein P 46 und (möglicherweise) 10 Rm bilden hier eine Ausnahme. 130 Die Analyse der unterschiedlichen Positionen der beiden Schlussbausteine liefert wichtige Hinweise für den genealogischen Zu‐ sammenhang der diversen Textformen des Römerbriefschlusses. 6.4.2 Bisherige Lösungsmodelle und ihre Insuffizienz In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass A LAN D nicht übertrieben hatte: Der Römerbriefschluss birgt tatsächlich das undurchsichtigste Problem, das der heutigen Textkritik gestellt ist. 131 Dies ergibt sich in erster Linie aus der überdurchschnittlich großen Vielfalt der in der handschriftlichen Überlieferung nachweisbaren Textzustände. Diese unterschiedlichen Textzustände erwachsen nicht nur aus kleineren Varianten, mit denen die Textkritik zumeist zu tun hat, sondern umfassen umfangreiche Textbausteine, deren Stellung variiert (Doxo‐ logie), ja sogar ganze Kapitel, die in Teilen bzw. in Gänze fehlen (Kap. 15 und 16). Besonders kompliziert wird das Problem durch die Tatsache, dass offenbar zwei verschiedene Schlussbausteine (die Benedictio und die Doxologie) exis‐ tieren, die aber beide innerhalb der handschriftlichen Überlieferung des Römer‐ briefes jeweils an drei verschiedenen Stellen im Text auftauchen. Um diesen unübersichtlichen handschriftlichen Befund zu beschreiben, ent‐ wickelte Kurt A LAN D Siglen, welche die aufwendige und unübersichtliche Kenn‐ zeichnung der in den Handschriften bezeugten Textformen anhand von Kapitel- und Verszahlen vereinfacht. A LAN D s Siglen-System wurde in der Folge von verschiedenen Studien zum Römerbriefschluss wieder aufgegriffen. 132 U.a. aus Gründen der Vergleichbarkeit orientiert sich auch die vorliegende Studie an A LAN D s System (wenngleich es an einigen Stellen modifiziert werden muss). Um klarzustellen, worum es sich bei den im weiteren Verlauf des Kapitels relevanten Textbausteinen genau handelt, werden sie hier in aller Kürze erklärt (Tabelle 5): 184 VI. Der Schluss des Römerbriefes Aland Textumfang Erklärung bzw. Inhalt des Textbausteins A Rm 1-14 Es handelt sich lt. Alands Kennzeichnung um einen Römer‐ brief, der schlicht ohne die heute bekannten Schlusskapitel 15 und 16 auskommt. Darüber hinaus wird allerdings nicht mit weiteren textlichen Besonderheiten innerhalb des Textes gerechnet. Das Ende dieses Textbausteins bildet hier also das Kapitel 14 (genau genommen Rm 14,23), in dem Paulus in direkter und belehrender Form auf konkrete Span‐ nungen und Streitpunkte innerhalb der Gemeinde eingeht. B 1 Rm 15 Im 15. Kapitel des Römerbriefes generalisiert Paulus zu‐ nächst bereits zuvor (in Kap. 14) beschriebene Mahnungen, führt diese also fort. Der im 14. Kapitel begonnene paräne‐ tische Teil des Briefes erfährt in Rm 15,1-13 also einen Ab‐ schluss. Anschließend bietet der Text in Rm 15,14-33 viele narrative Elemente, in denen Paulus seine Missionstätigkeit beschreibt sowie weitere Reisepläne darlegt. Dieser Textab‐ schnitt ist wichtig für die Einbindung der Geschichte des Paulus sowie der Abfassungssituation des Rm in das bio‐ graphische bzw. historiographische Konzept der Apostel‐ geschichte. B 2 Rm 16,1-23 In diesem Baustein, der in der Literatur als „Grußkapitel“ be‐ kannt ist, empfiehlt Paulus zunächst Phoebe als mutmaßliche Überbringerin des Briefes (Rm 16,1f). Anschließend (Rm 16,3- 16) folgt eine ausführliche Liste von Personen, die nament‐ lich gegrüßt werden. Darauf schließt sich unvermittelt eine sehr allgemein gehaltene, aber recht polemisch anmutende Warnung vor Irrlehrern an (Rm 16,17-20). Anschließend werden etliche Grußausrichtungen mutmaßlicher Mitar‐ beiter des Paulus genannt (Rm 16,21-23). B Rm 15,1-16,23 Der Textbaustein kombiniert die beiden zuvor beschrie‐ benen Bausteine und fasst diese zu einem zusammen (B = B 1 + B 2 ). C Rm 16,24 Hiermit ist der folgende Segenswunsch gemeint: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen ! D Rm 16,25-27 Bei diesem Textabschnitt handelt es sich um die hymnische Doxologie: Dem aber, der euch stärken kann gemäß meinem Evange‐ lium und der Predigt von Jesus Christus, gemäß der Offen‐ barung des Geheimnisses, das seit ewigen Zeiten ver‐ schwiegen war, nun aber offenbart und kundgemacht ist durch die Schriften der Propheten nach dem Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden: ihm, dem einzigen und weisen Gott, sei durch Jesus Christus Ehre in Ewigkeit! Amen. Tabelle 5: Siglen-System Rm (nach Aland) 185 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 133 Ohne die Verwendung des Aland’schen Siglen-Systems müsste beispielsweise der Textumfang des Römerbriefes im Codex Alexandrinus wie folgt angegeben werden: Rm 1,1-14,23 16,25-27 15,1-16,23 16,25-27. 134 Zum Begriff Textzustand vgl. S. 55f. 135 So Gerd Mink, der Begründer der CBGM; in: L I N , Erotic Life, S. 174. Vgl. auch M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 482. 136 Vgl. M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 482. 137 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 484. 138 Vgl. M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 484. 139 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 495. Anknüpfend an diese Siglen der einzelnen Textabschnitte versuchte A LAN D alle ihm bekannten Textformen des Römerbriefes gleichsam mit Hilfe eines Bau‐ kastensystems zu beschreiben. So ergibt sich beispielsweise für den durch den Codex Alexandrinus bezeugten Textzustand das Kürzel ADBD. Man erkannt also schnell, dass in dieser Handschrift die Kapitel 15 und 16 en bloc zu lesen sind und dass die Doxologie (D) zweimal auftaucht (einmal zwischen Kap. 14 und 15 sowie nach 16,23), der Schlusssegen (C) aber fehlt. 133 Aufbauend auf diesem Baukastensystem sind es v. a. zwei Modelle, welche die jüngere Forschung zur Textgeschichte des Römerbriefes nachhaltig beeinflusst haben. Sie werden nachfolgend kurz vorgestellt und kritisch hinterfragt. Beide ba‐ sieren auf der „lokal-genealogischen Methode“ (LGM). Ebenso wie deren erweiterte Version, die „kohärenzbasierte genealogische Methode“ (CBGM), hat die LGM zum Ziel, eine Genealogie (also einen Stammbaum) aller Textzustände  134 zu erstellen, die durch die jeweiligen Manuskripte bezeugt sind (es geht also nicht darum, einen Stammbaum der Handschriften zu erstellen). 135 Diese genealogischen Stammbäume wollen einerseits Auskunft über die verwandtschaftlichen Relationen ihrer Ele‐ mente geben, andererseits stellen sie damit auch eine Hypothese für den Verlauf der Textgeschichte dar. 136 Für die Frage nach dem Schluss des Römerbriefes muss es sich bei den im Folgenden dargestellten Modellen um Gesamtstemmata handeln. Im Ge‐ gensatz zu einem lokalen Stemma (auch als Varianten- oder Lesartenstemma be‐ zeichnet), das nur die Textentwicklung an einer einzelnen ausgewählten Textstelle betrachtet, ist damit eine textgeschichtliche Hypothese gemeint, die „die einfachste genealogische Verknüpfung aller bekannten Textzustände bietet.“ 137 In einem sol‐ chen Gesamtstemma des Römerbriefes sind also die lokalen Stemmata als Grund‐ strukturen enthalten. Mit anderen Worten: die Summe der lokalen Stemmata muss gleichsam das Gesamtstemma ergeben. 138 Nur ein solches Gesamtstemma ermög‐ licht es letztlich, „die Struktur und Substrukturen der Überlieferung offenzulegen, und ist somit ein wichtiges Hilfsmittel bei der Erstellung einer umfassenden Texttheorie.“ 139 186 VI. Der Schluss des Römerbriefes 140 K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 291. 141 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 287-290. Vgl. dazu die eigene Übersicht (Tabelle 4; S. 176). 142 K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 291. 143 Abb. übernommen aus L A M P E , Textgeschichte, S. 273. Da in dem verhandelten Textabschnitt die Anzahl der bezeugten Textzustände besonders groß ist, sind theoretisch überaus viele Möglichkeiten eines solchen ge‐ nealogischen Stammbaumes vorstellbar. In seinem 1979 veröffentlichten Aufsatz „Der Schluss und die ursprüngliche Gestalt des Römerbriefes“ formuliert Kurt A LAN D allerdings ein Kriterium, das die Lösungsfindung stark einschränkt: „Nach dieser lokal-genealogischen Methode kann nur die Lösung richtig sein, welche die Entstehung der verschiedenen Variationen auseinander erklärt, und ursprünglich nur die Textform, aus der sich alle anderen zwanglos - und zwangsläufig - ableiten lassen.“ 140 Der besagte Aufsatz war in vielerlei Hinsicht für die weiteren Forschungen richtungsweisend. Nach eingehender Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung, welche neben den griechischen Handschriften auch die Versionen umfasste, konnte A LAN D vierzehn Textformen identifizieren, die sich hin‐ sichtlich des Vorhandenseins und der Anordnung der oben genannten Textbau‐ steine unterscheiden. 141 In der vorliegenden Arbeit sind die Nummern der ein‐ zelnen Textformen, insofern sie sich auf A LAN D s Klassifizierung beziehen, kursiv gedruckt, die eigene (neue) Nummerierung dagegen aufrecht. A LAN D s Lösung des sich aus dieser Vielzahl an bezeugten Textzuständen ergebenden, „unendlich komplizierten Problems“ 142 , sieht folgendermaßen aus (Abb. 10): 143 Abb. 10: Stemma Aland 187 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 144 Als Ausgangspunkt also eine Textform anzunehmen, die weder die Doxologie noch die Be‐ nedictio am Schluss liest, scheint sinnvoll und wird auch im später vorgestellten eigenen Modell so angenommen. 145 Abb. übernommen aus L A M P E , Textgeschichte, S. 275. Man erkennt, dass A LAN D alle vierzehn von ihm identifizierten Textformen ((2)- (15)) in sein Stemma integriert. Als Ursprungsform nimmt er die Textfassung AB (1) an, also einen Römerbrief, der die Kapitel 1-16 umfasst, allerdings weder mit der Doxologie noch der Benedictio endet. 144 Diese mutmaßlich älteste Textform ist je‐ doch bisher nirgendwo bezeugt (daher erscheint sie im Modell auch eingeklam‐ mert). Aus diesem Grund machte es sich Peter L AM P E zur Aufgabe, ein Stemma zu entwickeln, welches gänzlich ohne hypothetisch postulierte Textformen aus‐ kommt. Sein Resultat weist dennoch strukturell große Ähnlichkeiten zu A LAN D auf. Da L AM P E methodisch von den gleichen Prämissen ausgeht, kann dies auch kaum überraschen. Es stellt sich wie folgt dar (Abb. 11): 145 Abb. 11: Stemma Lampe Beide Stammbäume gehen von einer einzigen Ausgangsform aus, welche die Grundlage der Überlieferung darstellt und aus der heraus alle weiteren Text‐ formen erwachsen sind. In beiden Modellen handelt es sich dabei um einen „langen Römerbrief “, der allerdings noch nicht die Doxologie umfasste. Diese 188 VI. Der Schluss des Römerbriefes 146 Auf diesen Mangel machte bereits T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 72 aufmerksam. Allerdings kann man Aland hier zugute halten, dass sich das genannte Problem erübrigt, würde man in seinem Stemma eine Verbindungslinie von (3) nach (5) ziehen. Demnach wäre das Zustandekommen der Textform ABD (5) dann als Konflation der Textformen AB (1) und AD (3) zu begreifen. Tatsächlich geht Aland selbst von einem anderen Szenario aus. Die Hinzufügung der Doxologie an den kurzen Römerbrief ge‐ schieht demnach aus der Motivation heraus, dem Brief einen angemessenen Schluss zu verleihen. Diese Schlusssequenz D war lt. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 293 aus anderen Handschriften - vermutlich solchen der Textform ABD - bekannt gewesen. Allerdings bleibt in diesem Fall unklar, warum allein die Doxologie an den kurzen Römerbrief hinzugefügt wurde und nicht gleich auch die Kapitel 15 und 16 (ins‐ besondere, da der Anschluss von 15,1 an 14,23 doch recht glatt anmutet). 147 In der übrigen Textüberlieferung fehlen Rm 15 und 16 entweder beide gemeinsam oder sind en bloc zu lesen (d. h. sie sind nicht durch Doxologie oder Benedictio voneinander getrennt). 148 So taucht einerseits Hebr schon an zweiter Stelle (also unmittelbar nach Rm) auf, an‐ dererseits findet sich Eph direkt vor Gal. Ausführlich dazu s. S. 30. 149 Vgl. z. B. M E T Z G E R / E H R M A N , Text, S. 54f. wird also in beiden Stemmata als sekundärer Textbaustein verstanden. Die beiden abgebildeten Modelle weisen allerdings einige Schwierigkeiten auf und lassen eine Reihe von Fragen offen. Auf diese Kritikpunkte soll in der Folge ausführlich eingegangen werden. a) Unplausible Relationen Analysiert man A LAN D s Modell etwas genauer, fallen an verschiedenen Stellen Relationen zwischen den einzelnen Textformen auf, die doch zumindest unwahr‐ scheinlich anmuten. Es wird deutlich, dass erstens die Anfügung der Doxologie (Textbaustein D) offenbar zwei Mal unabhängig voneinander passierte ((2) → (3) sowie (1) → (5)). Da allerdings unklar bleibt, wo diese Doxologie hergekommen ist, vermindert dies die Plausibilität des Modells nicht unwesentlich. 146 Ein weiteres Problem der beiden abgebildeten Stemmata stellt zweitens die Entstehung der Textformen AB 1 DB 2 (14) und ADB 1 D (15) dar. Für beide hat je‐ weils nur ein einziger Repräsentant die Zeiten überdauert. Es handelt sich um zwei Handschriften, die für die neutestamentliche Textgeschichte von nicht un‐ erheblicher Bedeutung sind; nämlich P 46 (AB 1 DB 2 ) - die älteste bisher bekannte Paulusbriefhandschrift - und die Minuskel 1506 (ADB 1 D). Besonders bemerkens‐ wert ist, dass es die beiden einzigen bisher bekannten Manuskripte sind, welche die letzten beiden Kapitel des Römerbriefes voneinander getrennt lesen. 147 P 46 muss nicht nur aufgrund seines hohen Alters als wichtiger Zeuge be‐ trachtet werden. So machen v. a. die eigenwillige Reihenfolge der Briefe 148 sowie zahlreiche textkritische Varianten den unbestritten hohen Stellenwert der Handschrift aus. 149 Daneben rückt die Minuskel 1506 in den Blick. Lt. A LAN D s 189 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 150 Laut Alands Kollation (die für Rm aus 47 Teststellen besteht) finden sich in 1506 37 Teststellen. 15 davon (ca. 41 %, was einen recht hohen Wert darstellt, ähnlich dem für P 46 ) lesen alten (ursprünglichen) Text - nur in 7 Teststellen bietet die HS reinen Mehr‐ heitstext. Rechnet man die 10 Teststellen der Kategorie 1/ 2 dazu, erhöht sich der pro‐ zentuale Anteil an (postuliertem) ursprünglichen Text auf fast 68 %. 151 Anders dagegen die Lösung von Käsemann, der behauptet, dass die Doxologie, so sie zwischen den Textbausteinen A und B zu lesen ist, die Gedankenführung zwischen 14,23 und 15,1-13 unterbricht. In P 46 wäre diese Fehlstellung ebenso erkannt und sogleich behoben worden, „indem […] die Doxologie sachlich ansprechend an c. 15 an[ge]fügt und 16,1-23 als Nachtrag behandelt [wird]“; K Ä S E M A N N , An die Römer, S. 406. Somit sähe die Entwicklungslinie wie folgt aus: ADB (8) → AB 1 DB 2 (14). Ähnlich auch T R O ‐ B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 78. 152 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 297. Alternativ entwirft K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 296 einen „Vorspann“ zu seinem Stemma, dass mit AB 1 als Urform und daraus entstehend AB 1 D rechnet. Allerdings verwirft er diese Op‐ tion sogleich wieder, v. a. da sie anstatt einer hypothetischen Textform nun bereits derer drei bietet. Demnach wäre das Verschwinden von Zeugen der Textform AB zwar zu erklären, der komplette Verlust jeglicher handschriftlicher Zeugnisse der beiden an‐ deren Textformen dagegen nicht. Dieses Problem ergibt sich allerdings nur, da sich Aland die Anfügung von Textteilen allein aus der literarisch-formkritischen Motivation heraus erklären kann, dem Text einen besseren Schluss zu verschaffen. Dass es freilich auch andere Möglichkeiten (im Rahmen des Abschreibevorgangs) geben konnte (und nachweislich gab), warum Textteile am Ende von Handschriften angefügt wurden, zieht Aland verwunderlicherweise nicht in Betracht. Hier sei an das weit verbreitete Phä‐ nomen von Konflationen erinnert. 153 Im offensichtlichen Unterschied zu seinem Stemma, in dem sich AB 1 DB 2 (14) ohne Zwischenschritt direkt aus ABD (5) entwickelt. Klassifizierung handelt es sich dabei um einen ständigen Zeugen „zweiter Ord‐ nung“. Diese Einordung resultiert aus einem überdurchschnittlich hohen Anteil an vermeintlich ursprünglichem Text. 150 Somit gilt auch Minuskel 1506 als wich‐ tiger Zeugen für die Textgeschichte des Römerbriefes, dessen Ahnen mit einiger Wahrscheinlichkeit bis in die Frühzeit der Textüberlieferung des Neuen Testa‐ ments zurückreichen. Bereits diese knappen Bemerkungen belegen die Notwendigkeit, das Zustan‐ dekommen der genannten Textformen plausibel zu erklären. Doch weder A LAN D s noch L AM P E s Darlegungen können hier überzeugen. Bezüglich der durch P 46 repräsentierten Textform AB 1 DB 2 (14) sind sich beide dahingehend einig, dass sie sich aus der Textform ABD (5) entwickelt hat. 151 A LAN D rechnet also mit einer bewussten Auslassung von B 2 (also dem Grußkapitel Rm 16) in der Vorlage, was dann in P 46 wieder an den Schluss angefügt wurde. 152 Die Entwicklungslinie sähe demnach folgendermaßen aus: 153 ABD (5) → [AB 1 D] → AB 1 DB 2 (14) 190 VI. Der Schluss des Römerbriefes 154 K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 297. 155 AB 1 → AB 1 D → AB 1 DB 2 ; vgl. L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 125. So auch Alands „Vorspann“ zu seinem Stemma; vgl. Kap. 6.4.2. Anm. 152. 156 L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 126. 157 L A M P E , Textgeschichte, S. 274 erklärt diesen Entwicklungsschritt folgendermaßen: „D wird offenbar als für Leser des 2. Jh. inhaltsreicher angesehen als der für Leser des 2. Jh. verblasste Grussteil [sic! ]; deshalb wird D vorgezogen.“ Die Annahme einer scheinbar willkürlichen Umordnung einzelner Textteile aus Gründen des Bedeutungs‐ gehalts scheint allerdings einigermaßen fragwürdig und wird nicht durch Parallelen untermauert. 158 Vgl. L A M P E , Textgeschichte, S. 275. Man beachte die Parallelität der Begründung be‐ züglich des Nach-Vorne-Rutschens von D bei der Entstehung von AB 1 DB 2 aus ABD (s. Anm. davor). Der Hinweis, dass ein bestimmtes Textsegment für spätere Leser irrele‐ vant gewesen und deshalb weggelassen worden sei, ist abenteuerlich. Denn dies setzt Völlig unbegründet bleibt, aus welchen Motiven heraus die bewusste (! ) Auslas‐ sung des Grußkapitels (B 2 ) erfolgte. Darüber taucht die unbezeugte Zwischenform AB 1 D (also ein Römerbrief, der die Kapitel 1-15 sowie die Doxologie beinhaltet, aber auf das Grußkapitel verzichtet) in A LAN D s Stemma gar nicht auf. Der Grund dafür ist wohl, dass A LAN D zuvor die Existenz der Textform AB 1 D ausdrücklich verneint, da diese keinen ‚Sitz im Leben‘ hätte und auch sonst „keinen Sinn“ 154 ergäbe. Umso beachtenswerter erscheint, dass er wenig später eben doch nicht umhinkommt, die strittige Textform AB 1 D als Vorform von AB 1 DB 2 zu bemühen, ohne allerdings das zuvor Geschriebene zu relativieren oder in irgendeiner Form auf die Widersprüchlichkeit seiner Ausführungen einzugehen. Auch L AM P E erwägt die Annahme von AB 1 als Vorform von AB 1 DB 2 (14), 155 verwirft diese Option allerdings sogleich wieder, da seines Erachtens „kein Stemma denkbar (ist), in dem jener hypothetische P 46 -Ahne (Röm 1-14; 15) den Platz der Urform einnehmen könnte, aus der sich alle anderen belegten Text‐ formen ableiten liessen [sic! ].“ 156 Gänzlich unverständlich erscheint nun, warum sich tatsächlich alle anderen belegten Textformen von dem hypothetischen Vor‐ gänger von P 46 ableiten lassen müssten. Warum muss der unbezeugte P 46 -Ahne tatsächlich die Urform des Stemmas darstellen? L AM P E s Lösung bleibt damit nahe bei der A LAN D ’schen, die Textform AB 1 DB 2 (14) in enger Abhängigkeit von ABD (5) zu verstehen, ohne dabei allerdings einen plausiblen Bearbeitungs‐ schritt aufzuzeigen. 157 Ähnlich fragwürdig sind die Erklärungsversuche zur Entstehung der durch 1506 repräsentierten Textform ADB 1 D (15). In A LAN D s Stemma entsteht diese aus der Textform ADB (8), derweil L AM P E sie aus ADBD (11) erwachsen sieht. Während L AM P E den Wegfall des Grußkapitels (B 2 ) damit erklärt, dass es für mittelalter‐ liche Leser irrelevant erscheinen musste, 158 lässt A LAN D hier eine Begründung 191 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? ja voraus, dass (a) immer alle alles gut rezipieren konnten (was nachweislich nicht der Fall war) und dass (b) Nicht-Rezipierbares einfach weggelassen wurde anstatt es zu interpretieren. Wäre (b) tatsächlich richtig, hätte das Neue Testament heute einen we‐ sentlich (! ) schmaleren Umfang. 159 Der textkritische Befund von 1506 weist zwischen ADB 1 und D eine Lücke von einem halben Blatt auf. Dies als Hinweis auf eine Tilgung des Grußkapitels B 2 zu verstehen (vgl. L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 125), erscheint allerdings unwahrschein‐ lich. Vielmehr ist es schlicht ein Hinweis darauf, dass der Schreiber von 1506 (bezie‐ hungsweise dessen Ahnen) Kenntnis davon hatte, dass HSS existieren, welche hier weitere Verse (nämlich B 2 ) folgen lassen. 160 Diese postulierte Unabhängigkeit der Textformen AB 1 DB 2 (14) und ADB 1 D (15) ermög‐ licht es L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 126 zu behaupten, dass beide „Aus‐ nahmen die Regel der textgeschichtlichen Einheit von [Rm] 15 und [Rm] 16,1-23 [be‐ stätigen].“ Diese Argumentation erscheint mir doch sehr willkürlich. 161 K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 297. 162 Auch L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 125 verweist in diesem Zuge schlicht auf sein eigenes Stemma. gänzlich vermissen. 159 Bemerkenswert ist, dass er - trotz der auffälligen Ge‐ meinsamkeit hinsichtlich der oben bereits erwähnten Trennung der Textbau‐ steine B 1 (Rm 15) und B 2 (Rm 16) - ausdrücklich eine genealogische Beziehung mit P 46 (und damit der Textform AB 1 DB 2 (14)) verneint. 160 Die Begründung, dass „1506 […] zu einem anderen Überlieferungszweig als P 46 (gehört)“, 161 erfolgt al‐ lein aus seinem eigenen Stemma, welches 1506 in entfernter Verwandtschaft zur Textform A (2) versteht, P 46 dagegen nicht. Die Zirkularität dieser Argumenta‐ tion ist offensichtlich. 162 b) Falsche Textbausteine und Textformen Neben den eben beschriebenen Problemen, alle Relationen zwischen einzelnen Textformen plausibel zu erklären, weisen die untersuchten Modelle noch wei‐ tere Schwächen auf. Dabei handelt es sich um die Integration von Textformen bzw. Textbausteinen, die so in den Handschriften tatsächlich gar nicht auftau‐ chen. Nachfolgend werden die besagten, fälschlich verzeichneten Textformen ausführlich erklärt. Die Benedictio C in 16,20b: Sowohl aus A LAN D s Auflistung der handschriftlich bezeugten Textformen als auch aus den beiden Stemmata geht nicht hervor, dass die Benedictio C an drei verschiedenen Stellen auftaucht. Tatsächlich wird in A LAN D s Liste nur deutlich, ob sie in 16,24 bzw. nach 16,27 auftaucht oder aber gar nicht. Die Positionierung in 16,20b wird dagegen nicht erfasst, obwohl auch dort Varianten existieren (mal 192 VI. Der Schluss des Römerbriefes 163 Um welche Handschriften es sich handelt, ist in Tabelle 4 (S. 176) sichtbar. 164 Der christologische Titel findet sich in A C Ψ 33. 1739 𝔐 - lat sy co, fehlt dagegen in P 46 ℵ B 1881. 165 Exemplarisch seien hier S A N D A Y / H E A D L A M , To the Romans, S. XCI; G A M B L E , The Textual History, S. 129ff; H U R T A D O , Doxology, S. 195; T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbrief‐ sammlung, S. 74f und B O R S E , Das Schlußwort des Römerbriefes, S. 182ff genannt. 166 Minuskel 919, Real Biblioteca del Monasterio de El Escorial, Ψ. III. 06, Ausschnitt p. 2860 (Bildquelle: NTVMR, ID 30919), Hervorhebung AG. ist C nämlich in 16,20b zu lesen und mal nicht). 163 Der genaue Wortlaut der besagten Wendungen stellt sich wie folgt dar: C in 16,20b Ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ [Χριστοῦ] 164 μεθ’ ὑμῶν. C in 16,24 und nach 16,27 Ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ πάντων ὑμῶν. Synopse Schlussbenedictio (C 1 sowie C 2 / C 3 ) Beide Formulierungen unterscheiden sich also allein durch die Verwendung von πάντων. Alles andere ist identisch. Scheint A LAN D also davon auszugehen, dass es sich um unterschiedliche Segenswünsche handelt, deren Entstehung unab‐ hängig voneinander geschah, ist es aus meiner Sicht weitaus plausibler, alle drei unterschiedlichen Positionen des Segenswunsches im Zusammenhang zu be‐ trachten. Davon geht auch die übergroße Mehrheit der Exegeten aus. 165 Daher ist es notwendig, dass in den Entstehungsmodellen bzw. der Codierung der ein‐ zelnen Textformen auch sichtbar wird, ob die Benedictio C in 16,20b auftaucht oder aber fehlt. Minuskel 919: Ein weiterer Fehler hat sich bei A LAN D und L AM P E in der Textform ADB ein‐ geschlichen. Als einzigen Repräsentanten der besagten Textform führen beide unisono die Minuskelhandschrift 919 an. Demnach wäre sie eine der wenigen Handschriften, die weder mit der Doxologie noch mit der Benedictio endet. Übersehen wurde aber, dass in 919 der Römerbrief tatsächlich mit der Benedictio (in Rm 16,24) abschließt (Abb 12). 166 193 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? Abb. 12: Minuskel 919 → Die Benedictio C als Briefabschluss. Die Doxologie D taucht dagegen nicht auf. Die Minuskel repräsentiert also die Textform ADBC. Folglich müsste die besagte Textform ADB also komplett aus A LAN D s Stemma verschwinden. Somit würde gleich ein ganzer Überlieferungszweig entfallen. Die fehlende Unterscheidung zwischen A und A* Der gewichtigste Kritikpunkt, der beiden Stemmata entgegengehalten werden muss, ist allerdings ein anderer. Die Ursachen dafür liegen tiefer, denn sie sind in der methodischen Herangehensweise zu suchen. Wie die Modelle von A LAN D und L AM P E exemplarisch verdeutlichen, fokussieren sich die große Mehrheit der bisherigen Versuche, die Textgeschichte des Römerbriefes zu beleuchten, allein auf den Schluss des Briefes. Damit einhergehend scheint sich ein einigermaßen schwerwiegender Fehler etabliert zu haben. Denn es wird deutlich, dass eine notwendige Unterscheidung aus dem Blick gerät, die allerdings erst dann auf‐ fallen kann, wenn man den gesamten Brief in die Untersuchung einbezieht. Am Beispiel der beiden Stemmata - genau genommen bereits an den A LAN D ’schen Signaturen der einzelnen Textbausteine sowie der anschließend erfolgten Iden‐ tifizierung der 14 verschiedenen, handschriftlich bezeugten Textformen - ist dies unschwer zu zeigen: Textbaustein A umfasst - wie oben genannt - Rm 1-14, also den sog. kurzen Römerbrief. Die Textform (2) weist richtigerweise in A LAN D s Zusammenstellung der Bezeugung der einzelnen Textformen als ältesten und (bisher) einzigen Re‐ 194 VI. Der Schluss des Römerbriefes 167 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 287. 168 Möglicherweise ist hier gleichsam eine Fehlerdifferenzierung vorzunehmen, denn K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 286 listete ja nur Textformen des „Rö‐ merbriefschlusses“ auf, während L A M P E , Textgeschichte, S. 273 allerdings ausdrücklich von „vierzehn Textformen des Römerbriefes“ schrieb, die handschriftlich belegt sind. 169 Vgl. K. A L A N D , Schluss und ursprüngliche Gestalt, S. 287. präsentanten Marcion auf. 167 Dass aber der von Marcion verwendete Römerbrief bekanntlich gar nicht die kompletten vierzehn Kapitel des kanonischen Brief‐ textes umfasste, wird dabei nicht berücksichtigt. Wie oben gezeigt werden konnte, fehlte u. a. auch das komplette vierte Kapitel sowie große Teile der Ka‐ pitel 9-11. Somit ist A LAN D s Bezeichnung der Textform (2) mit der Signatur A schlichtweg falsch. 168 Ein Römerbrief, der nur aus den „kanonischen“ Kapiteln 1-14 besteht, existiert in keinem einzigen Manuskript und ist auch sonst in keiner Weise nachweisbar. Stattdessen muss an dieser Stelle ein anderer Text‐ baustein zusätzlich eingeführt werden: A* : = 10 Rm Wie im Folgenden gezeigt wird, ergibt sich die Notwendigkeit einer Differen‐ zierung zwischen den Textbausteinen A und A* im Rahmen der bekannten Stemmata auch auf anderem Wege, ja sie wird gleichsam durch die anschließenden Ausführungen zu der der Textform A direkt nachgeordneten Textform AD eindrücklich gestützt. Die Textform A*D Sowohl A LAN D als auch L AM P E integrieren neben A in ihren Modellen einen weiteren strittigen Textzustand der Form AD (3). Als einzige Repräsentanten dieser Textform führen sie zwei lateinische Kapitelverzeichnisse an: die Capitula Fuldensia sowie die Capitula Amiatina. 169 Ein weiteres Mal sei der Blick zunächst auf die Capitula Amiatina (KA Rm A) gerichtet. Das Kapitelverzeichnis wurde in der vorliegenden Studie bereits aus‐ führlich analysiert. Dass der ursprüngliche Bezugstext der KA Rm A sowohl Rm 4 als auch Rm 15 f nicht kannte, wurde umfassend dargelegt und plausibilisiert. Deshalb ist die Nähe dieses Paratextes (genau genommen seines ursprünglichen Bezugstextes) zum für Marcion bezeugten Römerbrief (d. h. zu 10 Rm) schwerlich zu leugnen. Festzuhalten ist demnach, dass - gegen A LAN D und die in seiner Tradition stehenden, nachfolgenden Studien - die Capitula Amiatina eine Text‐ form bezeugen, die nicht der Gestalt AD entspricht, sondern die vielmehr mit A*D zu bezeichnen ist. 195 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 170 Vgl. E Y M A N N , Epistula ad Romanos, S. 27f bzw. H O U G H T O N , Chapter Divisions, S. 256f. 171 R A N K E , Codex Fuldensis, S. XXIII. 172 Nur die ersten 23 Sektionen des Verzeichnisses werden also als Capitula Fuldensia (KA Rm F) bezeichnet. 173 Diese Erklärung lieferte schon L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 201. Zunächst un‐ abhängig von der Plausibilität, die ein solches Szenario tatsächlich beanspruchen kann, ist der Frage nachzugehen, welche Textform die so verstandenen Capitula Fuldensia repräsentieren. Sollte die erste Vorlage des Schreibers mit Capitulum XXIII geendet Doch wie verhält es sich mit dem zweiten Zeugen, den A LAN D für die Textform AD anführt? Dabei handelt es sich um die Capitula Fuldensia (KA Rm F), ein weiteres lateinisches Kapitelverzeichnis, dass einzig im Codex Fuldensis, einem der ältesten Vulgatamanuskripte aus dem 6. Jahrhundert, 170 auftaucht. Die be‐ sagte Kapitelliste zum Römerbrief weist eine einigermaßen verwirrende Text‐ gestalt auf. Schon R AN K E171 wies 1868 darauf hin, dass die ersten 23 Sektionen der KA Rm F den Römerbrieftext von Rm 1-14 behandeln, während sich daran die Sektionen 24-51 des amiatinischen Kapitelverzeichnisses anschließen, die Rm 9-14 sowie die Schlussdoxologie beschreiben. 172 Ein Blick auf den Wortlaut der Sektionen XXIII und XXIIII bestätigt dies: Dass diejenigen, die an Gott glauben, sich nicht gegenseitig richten sollen (14,13), weil jeder sich auf das Gericht Gottes vorbereiten muss gemäß der Grundsätze seines eigenen Gewissens (14,22), damit er vor dem Richtstuhl Gottes (14,10) in der Lage ist, ohne Schwierigkeiten Rechenschaft abzulegen (14,12). Quod fideles dei non debeant invicem iudicare cum unusquisque secundum regulas man‐ datorum ipsa se debeat divino iudicio praeparare ut ante tribunal dei sine confusione possit operum suorum praestare rationem. Über das Zeugnis des Schmerzes des Paulus (9,2) und über die Traurigkeit angesichts der Juden (9,3). De testificatione pauli doloris et tristitiae pro iudaeis. KA Rm A (Sektionen XXIII und XXIIII) Offenbar handelt es sich um eine Konflation zweier distinkter Kapitelverzeich‐ nisse. Dies führt letztlich dazu, dass die Kapitel 9 bis 14 des Römerbriefes doppelt beschrieben bzw. zusammengefasst sind. Nun stellt sich die Frage, auf welche Weise diese eigentümliche Einteilung zustande gekommen ist. Die erste Erklärungsmöglichkeit lieferte H O R T , der an‐ nahm, dass das dem Schreiber vorliegende Kapitelverzeichnis tatsächlich bereits mit Sektion XXIII abbrach. Da die Sektionszahlen in seinem vorliegenden Be‐ zugstext allerdings bis LI gingen, war er gezwungen, scheinbar „fehlende“ Sek‐ tionen aus einem anderen Verzeichnis anzuhängen, auf welches er Zugriff hatte. Dabei achtete er freilich nicht darauf, dass auf diese Weise ein Teil des Bezugs‐ textes durch das Kapitelverzeichnis doppelt beschrieben wurde. 173 196 VI. Der Schluss des Römerbriefes haben (und dieser dann ein Manuskript mit den KA Rm A als Ergänzung zu Hilfe ge‐ nommen haben), würde dies streng genommen nur auf die Textform A hindeuten. Über das Vorhandensein der Doxologie im ursprünglichen Bezugstext der Capitula Fuldensia lässt sich in diesem Falle keine gesicherte Aussage machen. Ähnlich urteilte auch L I G H T F O O T , Epistle to the Romans, S. 201: „Whether the capitulation from which §§ i - xxiii are taken contained the doxology or not, must remain doubtful.“ H O R T , End of the Epistle, S. 80 Anm. 1 ist hier sogar noch vorsichtiger, indem er die Möglichkeit erwägt, dass die Capitula Fuldensia nach Capitulum XXIII sogar noch weitere Abschnitte auf‐ gewiesen haben könnte, freilich nicht 28, um die übliche Zahl von 51 zu erreichen. Über den tatsächlichen Textumfang des originalen Bezugstextes wäre somit schlicht keine valide Aussage zu machen. Dass einige Forscher in dieser Frage die gebotene Vorsicht vermissen lassen, zeigt die Analyse von de Bruynes Pionierwerk, in dem die verschie‐ denen Kapitellisten der Paulusbriefe innerhalb der lateinischen Überlieferung erstmals synoptisch erfasst wurden. In dieser Zusammenstellung führt de Bruyne für die Capi‐ tula Fuldensia nur die besagten ersten 23 Sektionen der Kapitelliste an. Die übrigen Sektionen, die der Codex Fuldensis für den Römerbrief anschließend bietet, tauchen gar nicht auf; vgl. B R U Y N E , Sommaires, divisions et rubriques, S. 317. 174 R I G G E N B A C H , Kapitelverzeichnisse, S. 355f erwägt als erster ein solches Szenario. Ähn‐ lich auch G A M B L E , The Textual History, S. 17. Es ist allerdings auch eine andere Deutung des Befundes möglich: Demnach könnte der Vorlage des Codex Fuldensis schlicht ein Blatt (vermutlich eines der ersten) gefehlt haben, auf dem eigentlich die Sektionen I-XXIII der KA Rm A gestanden haben. Der Kopist ergänzte die fehlenden Abschnitte aus einer an‐ deren ihm vorliegenden Handschrift, die allerdings eine andere Kapitelliste bot, nämlich die KA Rm F. 174 Zufälligerweise beschrieben diese 23 Sektionen inhalt‐ lich Rm 1-14, sodass Rm 9-14, wie bereits erwähnt, doppelt zusammengefasst wurde. Dies scheint der Schreiber allerdings nicht bemerkt zu haben, bzw. er störte sich schlicht nicht daran. Die Wahrscheinlichkeit des letzteren Szenarios erhöht sich durch folgende Beobachtungen: Erstens bietet der tatsächliche Bezugstext der KA Rm F, also der Codex Fuldensis, auch vor den übrigen Paulusbriefen das jeweilige amiati‐ nische Kapitelverzeichnis. Zweitens finden sich im Text des Römerbriefes die 51 marginalen Sektionszahlen an genau den Stellen, wo sie auch in den anderen Handschriften verzeichnet sind, welche die KA Rm A beinhalten. Die ersten 23 Sektionen sind also im Rm-Text des Codex Fuldensis gar nicht verortet, bezie‐ hungsweise finden sich an ganz anderen Textpassagen als an denen, die sie tat‐ sächlich inhaltlich beschreiben. Da ferner die Möglichkeit eines Blattausfalls am Anfang eines Kodex ein in der handschriftlichen Überlieferung nicht selten auf‐ tretendes Phänomen darstellt, ist diese Erklärungsmöglichkeit des Befundes vorzuziehen. Somit lässt sich allerdings über den Umfang des ursprünglichen Bezugstextes der KA Rm F keine gesicherte Aussage machen - denn der Schreiber konnte aus 197 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 175 So beispielsweise U. S C H M I D , Marcion, S. 289f, der in seiner Auflistung und Beschrei‐ bung der Zeugen für die 14-Kapitel-Form des Römerbriefes zwar das amiatinische Ka‐ pitelverzeichnis anführt, nicht allerdings die Capitula Fuldensia nennt. Sehr zurück‐ haltend urteilen auch G A M B L E , The Textual History, S. 18: „[T]he relevance of the Fuldensian capitula as evidence for the fourteen-chapter text is uncertain“ und D U T O I T , Focusing on Paul, S. 353: „[T]he evidence […] is less convincing than that of the Capitula Amiatina.“ Anders dagegen S C H U M A C H E R , Die beiden letzten Kapitel, S. 14 und T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 64. 176 L A M P E , Textgeschichte, S. 274 sowie L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 126. dem sekundär von ihm herangezogenen Kapitelverzeichnis ja nur genau 23 Sektionen übernehmen. Für etwaige darüber hinaus vorhandene Capitula hatte er schlicht keinen Platz. Folglich müssen die Capitula Fuldensia als Zeuge kom‐ plett ausfallen, da sich keine gesicherte Aussage über den tatsächlichen Text‐ zustand ihres ursprünglichen Bezugstextes machen lässt. 175 Somit ergibt sich, dass auch die von A LAN D und L AM P E in deren Stemmata angeführte Textform AD (3) handschriftlich gar nicht nachweisbar ist. Die beiden einzigen Repräsentanten von AD (3) weisen bei genauerem Hinschauen entweder einen Textzustand anderen Umfangs auf (nämlich A*D → Capitula Amiatina) oder können als valider Zeuge schlechthin nicht akzeptiert werden (Capitula Fuldensia). Tatsächlich verlangt der beschriebene Befund der KA Rm A, anstatt AD unbedingt die Textform A*D in die Entstehungsmodelle zu integrieren. Konkret festzuhalten bleibt also, dass beide angeführten, die weitere Forschung maßgeblich bestimmenden Stemmata bei genauerem Hinsehen große Schwie‐ rigkeiten haben, das Entstehen aller handschriftlich bezeugten Textformen dar‐ zustellen und überzeugend zu erklären, sowie Textformen integrieren, die tat‐ sächlich gar nicht nachweisbar sind. Die Notwendigkeit der Suche nach einem Modell, welches diese Defizite vermeidet, respektive die genannten Probleme löst, ist also weiterhin unbedingt gegeben. c) Methodische Schlussfolgerungen hinsichtlich der Modellbzw. Stemmabildung A LAN D s und L AM P E s Ausführungen haben immer wieder deutlich gemacht, dass ein Stemma genau dann besonders überzeugend ist, wenn keine (oder so wenig wie möglich) unbezeugte Textzustände - sogenannte „missing links“ 176 - darin auftauchen. Hält man sich allerdings vor Augen, dass von den vierzehn Text‐ formen, die A LAN D identifizieren und auflisten kann, drei ((8), (14) und (15)) nur jeweils in einem einzigen Manuskript nachweisbar sind, erkennt man, dass eine solche Herangehensweise zu kurz greift. Denn gerade die frühe Zeit der Text- 198 VI. Der Schluss des Römerbriefes 177 Vgl. M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 485. 178 M I N K , Kohärenzbasierte Genealogische Methode. 179 So finden sich beispielsweise im - in dieser Arbeit nicht abgebildeten - Stemma von Gamble nicht weniger als fünf unbezeugte Textformen, die lt. demselben auf Grundlage der bezeugten Textformen mutmaßlich existiert haben mussten; vgl. G A M B L E , The Tex‐ tual History, S. 141. 180 M I N K , Eine umfassende Genealogie, S. 484: „An eine Hypothese wird man die Forderung stellen müssen, daß sie, von möglichst wenigen weiteren Annahmen ausgehend, die einfachste Erklärung für einen Zusammenhang bieten muss.“ 181 So aber L A M P E , Textgeschichte, S. 273 sowie L A M P E , Die stadtrömischen Christen, S. 126, der damit faktisch die Notwendigkeit seines Stemmas gegenüber dem von Aland be‐ gründet. Dagegen spricht M I N K , Kohärenzbasierte Genealogische Methode, S. 3 in diesem Zusammenhang von „kleinstmöglichen Kombinationen notwendiger Vorfahren“. Dies erscheint mir weitaus realistischer. überlieferung ist lt. M IN K durch eine relativ geringe Kopierdichte gekenn‐ zeichnet. Je weiter man also zeitlich zurückgeht (also je weiter oben in den Stemmata), desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Textzustände unbezeugt sind. 177 Es erscheint also alles andere als abwegig, dass tatsächlich auch noch weitere Textzustände des Römerbriefes existierten, die - wenngleich freilich auf direktem Wege nicht (mehr) nachweisbar - notwendigerweise als Vorformen tatsächlich bezeugter Textzustände angenommen werden müssen. M IN K fasst dies wie folgt zusammen: „In einer realen Überlieferung fehlt im allgemeinen ein Großteil der Zeugen. Über den Zusammenhang der Textzustände der vor‐ handenen Zeugen ist also nur eine genealogische Hypothese möglich.“ 178 Freilich darf der Rückgriff auf solche missing links im Rahmen der Stemma‐ bildung nicht inflationär 179 geschehen - hier sei an Ockhams razor 180 erinnert -, doch ist es unangebracht, die Anzahl der in einem Modell auftauchenden hy‐ pothetischen Textformen zum allein bestimmenden Qualitätsmerkmal zu er‐ heben. 181 Weitaus bedeutsamer ist es, die Entstehung/ Entwicklung der tatsäch‐ lich bezeugten Textzustände plausibel erklären zu können. Dies macht es notwendig, dass im Stemma die relationalen Verbindungen zwischen den ein‐ zelnen Textformen überzeugend und nachvollziehbar erscheinen. Auch sollte hier eine visuelle Differenzierung angestrebt werden. Denn es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten, wie neue Textformen aus alten entstehen können. Dabei empfiehlt es sich, zwischen a) kontingenten und b) intendierten Textver‐ änderungen zu unterscheiden. Konkret ist hier a) an mechanische Defekte (z.B. Blattausfall), Konflationen/ Kombinationen (für die der Kopist verantwortlich ist, ohne allerdings ein spezifisches Interesse an einer inhaltlichen Umgestaltung 199 6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem? 182 Unter Umständen lässt sich auch im Falle einer Konflation ein inhaltliches Interesse des Schreibers nicht ausschließen, so dass eine Konflation nicht notwendigerweise als eine rein zufällige Textänderung verstanden werden muss. 183 G A M B L E , The Textual History, S. 129. 184 Lt. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 75 ist gerade für die Paulusbriefe mit einer Vielzahl von Konflationen zu rechnen: „Der Text der Paulusbriefe wurde 150 bis 250 Jahre überliefert, ohne daß er sich von uns heute noch kontrollieren ließe. Für einen solchen Zeitraum ist eine Überlieferung ohne Kenntnisnahme anderer handschriftlicher Ausgaben der Ausnahmefall, Konflation aber das Normale.“ 185 M E T Z G E R / E H R M A N , Text, S. 176 betonen zu Recht: „The clearest evidence in tracing the genealogy of witnesses is the presence of conflate readings.“ 186 So konstatiert K L I N G H A R D T , Markion vs. Lukas, S. 103: „Alles, was wir über die redak‐ tionelle Bearbeitung von Texten im nächsten Umfeld [scil. dem des NT] wissen, deutet darauf hin, dass inhaltliche Interessen vor allem durch ergänzende Korrekturen und Zusätze ausgedrückt werden.“ Dabei verweist er auf die Beispiele Mk - Mt, Jud - 2 Petr und Kol - Eph, in denen die überwiegende Mehrheit der Forschungsmeinungen davon ausgeht, dem jeweils kürzeren Text die zeitliche Priorität gegenüber dem längeren (re‐ daktionell erweiterten) einzuräumen. des Textes zu haben 182 ) sowie b) an gezielte Transpositionen, Bearbeitungen bzw. Redaktionsschritte (für die ein Autor oder Redaktor bewusst in den Text ein‐ greift) zu denken. Dabei sollte man sich vor Augen halten, dass der neutestamentliche Text in der Regel dazu neigt, immer länger zu werden. G AM B L E spricht in diesem Zusammen‐ hang von einer „agglomerative nature of the textual tradition.“ 183 Besonders häufig tritt z.B. das Phänomen der Konflation auf. Dies muss man sich folgendermaßen vorstellen: Lagen den Schreibern bei ihrer Textabschrift mehrere Exemplare vor, die in einzelnen Passagen von unterschiedlichem Wortlaut oder gar Textumfang waren, dann vermieden sie es oftmals, sich für eine der vorliegenden Varianten zu entscheiden, um nicht Gefahr zu laufen, die tatsächlich ursprüngliche Lesart (bzw. Textform) fälschlicherweise wegzulassen. Stattdessen neigten die Kopisten in sol‐ chen Fällen dazu, (wenn möglich) beide Varianten in ihren Text aufzunehmen, also den Text zu konflationieren. 184 Gerade wenn es darum geht, genealogische Zusam‐ menhänge einzelner Manuskripte bzw. Textformen zu erarbeiten, spielen Konfla‐ tionen daher eine entscheidende Rolle. 185 Auch redaktionelle Eingriffe lassen üblicherweise den Text wachsen und sind somit leichter als Ergänzungen denn als Streichungen zu verstehen. 186 Im Ge‐ gensatz zu Konflationen oder mechanischen Defekten geschieht dies aber stets aus einer übergeordneten inhaltlichen Motivation heraus - es handelt sich hier also um intendierte Veränderungen der Texte. Für die Annahme von redaktionellen Eingriffen im Rahmen der Stemmabildung ist es daher notwendig, dass die jeweilige redaktionelle Intention plausibel gemacht werden kann. Die oberste methodische Prämisse sollte also grundsätzlich sein, unplausible Re‐ 200 VI. Der Schluss des Römerbriefes 187 Dieses Problem resultiert aus der lokal-genealogischen Herangehensweise. daktions- oder Bearbeitungsschritte zu minimieren bzw. zu eliminieren, selbst wenn dies im Einzelfall nur zum Preis der Annahme weiterer (unbezeugter) Zwischenglieder (missing links) erfolgen kann. Für die Entwicklung der textgeschichtlichen Modelle sollte also Folgendes gelten: 1. Der methodische Ansatz, die Textgeschichte des Römerbriefschlusses un‐ abhängig von dem Rest des Briefes zu ergründen, greift zu kurz. Es hat sich erwiesen, dass aufgrund dieses Ansatzes Textformen generiert werden, die so gar nicht existieren bzw. die tatsächlich einen anderen Textumfang besitzen als in den Stemmata dargestellt. 187 So darf z. B. das Fehlen von Rm 15 f auf keinen Fall unabhängig vom Fehlen von Rm 4 betrachtet werden, da es nur zusammen bezeugt ist. Konsequenterweise müsste man daher die Rede von einem „kurzen Römerbrief “ komplett einstellen und stattdessen nur noch vom Römerbrief der 10-Briefe-Samm‐ lung bzw. vom durch Marcion bezeugten Römerbrief sprechen. Es sollte also unbedingt darum gehen, tatsächlich ein Gesamtstemma für den Rö‐ merbrief zu entwickeln. 2. Unbezeugte Textformen bzw. Textzustände sollten nur auftauchen, wenn sie als notwendige Zwischenglieder fungieren. Die Annahme solcher missing links muss jedoch unbedingt so sparsam wie möglich erfolgen. 3. Unplausible relationale Verbindungen zwischen einzelnen Textformen sind zu eliminieren. Die unterschiedlichen Möglichkeiten solcher relationaler Verbindungen zwischen einzelnen Textzuständen sollten also ein Höchstmaß an Plausibilität beanspruchen und idealerweise nicht analo‐ gielos sein. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, dabei zwischen ver‐ schiedenen Kategorien (intentional und zufällig) zu unterscheiden. 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell Das hier vorgestellte Lösungsmodell versucht, die formulierten Maßgaben best‐ möglich zu beachten. Die Codierung der einzelnen Textformen folgt dabei weit‐ gehend dem A LAN D ’schen Siglen-System, ergänzt es aber in zweierlei Hinsicht. Einerseits wird den drei möglichen Orten des Auftretens der Benedictio C durch die Differenzierung C 1 (16,20b), C 2 (16,24) sowie C 3 (nach 16,27) Rechnung ge‐ tragen. Dabei ist allerdings Folgendes zu beachten: Steht die Benedictio in 16,20b 201 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell (C 1 ), ist sie gleichsam in den Baustein B eingebettet. Dies kann allerdings nicht durch das verwendete Siglen-System sichtbar gemacht werden. Sie steht also nicht hinter dem Textbaustein B, obwohl dies z. B. die Codierung ADBC 1 auf den ersten Blick zu suggerieren scheint. Andererseits bekommt 10 Rm die Codierung A* zugeschrieben. Auf diese Weise ist die Unterscheidung zu A LAN D s Baustein A (also 14 Rm 1-14) gewährleistet. Somit ergibt sich folgendes Entstehungsmodell (Schema 3): 202 VI. Der Schluss des Römerbriefes 188 Hier noch einmal die kurze Aufschlüsselung der verwendeten Bausteine: A*= 10 Rm; A= 14 Rm 1-14; B = 14 Rm 15,1-16,23; C1= 14 Rm 16,20b; C2= 14 Rm 16,24; C3= nach 14 Rm 16,27; D = 14 Rm 16,25-27. 189 Oder Konflation: ADBC 1 (3a) + ABC 1 D (9) → ADBC1D → 3. 190 Oder Konflation: ADBC 1 C 2 (5) + ABC 1 C 2 D (11)→ ADBC 1 C 2 D → 10. 191 Oder C-Konflation: ABC 1 D (9) + ABC 2 D (8) ABC 1 C 2 D → 11. Ausgangspunkt der Überlieferung: 188 A* → 1 ↆ ↆ Da ein (angemessener) Schluss fehlt, wird die Doxologie als Schlussbaustein konzipiert und hinter 14,23 gesetzt. A*D → 2 Die Redaktion der 14-Briefe-Sammlung hängt die Kapitel 15 und 16 an und erweitert den Brief auch an anderen Stellen (z.B. Kap. 4 und 9-11) ABC 1 → 2a Es fällt auf, dass dieser Brief (2a) einen ungewöhnlichen Abschluss hat. Folge: „Konflation“: A*D (2) + ABC 1 (2a) ADBC 1 → 3a Es ällt auf, dass dieser Brief (3a) einen ungewöhnlichen Abschluss hat. Folge: ↆ ↆ ↆ ↆ An das Briefende von (3a) wird die Doxologie D angeügt. Dabei orientiert man sich z.B. an (2) oder (8) oder (9) . 189 ADBC 1 D → 3 Benedictio C wird von 16,20b an das Briefende von (3a) gesetzt. Dabei orientiert man sich mglw. auch an den anderen bekannten Paulusbriefen oder an (6) . ADBC 2 → 4 Benedictio C wird von 16,20b an das Briefende gesetzt. Dabei orientiert man sich mglw. auch an den anderen bekannten Paulusbriefen bzw. an (4) . ABC 2 → 6 An das Briefende von (2a) wird die Doxologie D angeügt. Dabei orientiert man sich z.B. an (2) oder (3) oder (8) ABC 1 D → 9 Beide bekannten Positionen der Benedictio C werden übernommen (C-Konflation): ADBC 1 (3a) + ADBC 2 (4) ADBC 1 C 2 → 5 C-Konflation: ABC 1 (2a) + ABC 2 (6) ABC 1 C 2 → 7 ↆ An das Briefende von (6) wird die Doxologie D angeügt. Dabei orientiert man sich z.B. an (2) oder (3) oder (9) . ABC 2 D → 8 ↆ ↆ An das Briefende von (5) wird die Doxologie D angeügt. Dabei orientiert man sich z.B. an (2) oder (3) oder (9) . 190 ADBC 1 C 2 D → 10 An das Briefende von (7) wird die Doxologie D angeügt. Dabei orientiert man sich z.B. an (2) oder (3) oder (9) . 191 ABC 1 C 2 D → 11 ↆ ↆ Benedictio C wird von 16,24 hinter die Doxologie D an das Briefende von (10) gesetzt. Dabei orientiert man sich mglw. auch an den anderen bekannten Paulusbriefen bzw. an (4) oder (6) und den davon abhängigen Textformen. ADBC 1 DC 3 → 12 Benedictio C wird von 16,24 hinter die Doxologie D an das Briefende von (11) gesetzt. Dabei orientiert man sich mglw. auch an den anderen bekannten Paulusbriefen bzw. an (4) oder (8) und den davon abhängigen Textformen. ABC 1 DC 3 → 13 Schema 3: genealogischer Zusammenhang der Textformen des Römerbriefes 203 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 192 Diese Position spiegelt sich auch in den wirkmächtigen textkritischen Untersuchungen von E H R M A N , The Orthodox Corruption, und P A R K E R , Living Text, wider. Die Hauptmerkmale des Modells lauten wie folgt: • Das Modell wird von der Grundannahme getragen, dass 10 Rm den Aus‐ gangspunkt der Überlieferung und damit die älteste bisher bekannte Textform des Römerbriefes darstellt. • Der Rückgriff auf unbezeugte Textformen (missing links) geschieht sparsam. So sind nur zwei Textformen (Textform 2a und Textform 3a) bisher nicht direkt nachweisbar. Sie ergeben sich aber zwingend aus den bezeugten Textformen, deren Zustandekommen ohne diese hypotheti‐ schen Vorgänger nicht plausibel erklärbar ist. Auch A LAN D s und L AM P E s Lösungsmodell kommen nicht ohne die Integration unbezeugter Text‐ formen aus. • Besonders zu betonen ist, dass das dargelegte Modell nur vier verschie‐ dene Erklärungsmöglichkeiten zu bemühen braucht, wie neue Text‐ formen aus bereits bekannten entstehen können. Diese vier verschie‐ denen Relationsarten sind im Schema wie folgt gekennzeichnet: Anthrazitfarben unterlegt und in weißer Schrift sind umfangreiche redaktio‐ nelle Eingriffe (Erweiterungen) in den vorhandenen Text. Umfangreich bedeutet hier, dass es sich nicht nur um Varianten von wenigen Worten handelt, sondern um längere Passagen, die mindestens 50 Wörter umfassen. Damit sollte sicher‐ gestellt sein, dass es sich keinesfalls um sog. nicht-intentionale Schreibversehen handeln kann, sondern dass hier gezielt und inhaltlich motiviert in den Text eingegriffen wurde. In der Regel handelt es sich bei diesen Eingriffen um Er‐ weiterungen. Diese laufen allerdings nicht nach einem copy-and-paste Modell (wo also bereits bekannte Textabschnitte an andere Texte angefügt oder in diese eingearbeitet werden) ab. Stattdessen ist hier von redaktionellen Bearbeitungs‐ prozessen auszugehen, in denen die (oder der) Bearbeiter einzelne Passagen unterschiedlichen Umfangs eigenständig neu verfassen und in den vorliegenden Text einarbeiten. In solchen Fällen muss man also damit rechnen, dass die Be‐ arbeiter in großem Maße selbst schriftstellerisch tätig werden. 192 Diese redaktionellen Eingriffe sind in zwei Fällen konkret wahrscheinlich zu machen. In beiden Fällen wurde dabei 10 Rm (also Textform A*) bearbeitet, genau genommen ergänzt. 204 VI. Der Schluss des Römerbriefes 193 Vgl. S. 180. 194 Aus welchen Motiven heraus diese Eingriffe geschahen, wird in Kap. 6.5.2. Die redak‐ tionelle Ergänzung der Kapitel 15 und 16 erläutert. A* (1) ↆ ↆ A*D (2) ABC 1 (2a) Zum einen wurde die Doxologie verfasst und an 10 Rm angehängt (1 → 2). Dies geschah, um dem kurzen Römerbrief einen angemessenen Schluss zu geben und durch die sprachlich-inhaltlichen Entsprechungen mit dem Präskript eine Art Klammer um das Briefkorpus zu schaffen. 193 Unabhängig davon wurde zum an‐ deren 10 Rm umfangreich erweitert (1 → 2a). Diese redaktionellen Erweite‐ rungen geschahen allerdings nicht nur am Schluss des Textes, sondern sind im ganzen Textkorpus nachzuweisen. So wurden mindestens das Abrahamkapitel (Rm 4) und auch diverse alttestamentliche Verweise (v. a. innerhalb von Rm 9- 11) eingefügt. Darüber hinaus fügten die Bearbeiter am eigentlichen Briefschluss die heutigen Kapitel 15,1-16,23 an. Dass beide Phänomene zusammenhängen, lässt sich auch inhaltlich plausibilisieren. 194 Dunkelgrau unterlegt ist das Phänomen der Ergänzung der Doxologie am je‐ weiligen Briefende. Hierbei wird diese nicht verändert, sondern schlicht als ganzer Baustein angefügt (also nur abgeschrieben). Anders als bei den anthrazitfarbenen Relationen sind die Bearbeiter hier also nicht schriftstellerisch tätig. Diese Ergänzung geschieht in mehreren Fällen unabhängig voneinander - ins‐ gesamt 5 neue Textformen entstehen auf diese Weise. Freilich setzt ein solches Vorgehen voraus, dass Manuskripte geläufig und vorliegend sind, deren Rö‐ merbrieftext mit der Doxologie abschließt, dass die Doxologie also als Schluss‐ baustein des Briefes bekannt ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Doxologie bereits zuvor im Brief aufgetaucht ist oder nicht. Selbst wenn sie sich bereits nach Kap. 14 (also mehrere Seiten vor dem Briefende des vorliegenden Manu‐ skripts) findet, ist es möglich, dass der Schreiber sie einfach noch ein weiteres Mal in den Text aufnimmt. Auf diese Art entstehen all jene Textformen, welche die Doxologie doppelt lesen. Mittelgrau unterlegt ist das Phänomen der Transposition der Benedictio ans Briefende. Im vorgestellten Modell wird davon ausgegangen, dass der ursprüng‐ liche Ort des Segenswunsches Rm 16,20b war. Von dort (bzw. auch von 16,24) 205 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 195 Ausführlich dazu vgl. Kap. 6.5.1. Das Problem der Benedictio. 196 Bei VL 86 handelt es sich um den Codex Monza. Dieser liest zwischen 14,23 und der Doxologie noch einen kurzen Segenswunsch (C 1 ). Dies ist textgeschichtlich bedeutsam, da dieser Segenswunsch als Abschluss von A* (d. h. von 10 Rm) infrage kommt. Streng genommen müsste die durch den Codex Monza bezeugte Textform also das Sigle ACDBC 2 erhalten. wurde er später ans Briefende gesetzt. 195 Dies setzt entweder voraus, dass die Schreiber sich bei dieser Maßnahme an den sonstigen Paulusbriefen orientieren, die nahezu ausnahmslos mit einer Benedictio abschließen. Ebenso könnte man die Kenntnis von anderen Textformen des Römerbriefes annehmen, die bereits mit einem Segenswunsch abschließen. Die Benedictio muss den Schreibern also irgendwann als Schlussbaustein bekannt gewesen sein. Allerdings wollten sie vermeiden, dass sie in unmittelbarer Nähe doppelt zu lesen ist. Daher wird sie also von 16,20b an das jeweilige Briefende verschoben, nicht allerdings zusätz‐ lich hinzugefügt, wie es im Fall der Doxologie wahrscheinlich ist. Hellgrau unterlegt schließlich sind Konflationen. Da der Segenswunsch nun an verschiedenen Stellen zu lesen ist, entscheiden sich einige Schreiber, beide Va‐ rianten in die von ihnen angefertigten Handschriften aufzunehmen. Auf diese Weise lässt sich das Phänomen der doppelt auftretenden Benedictio erklären (→ C-Konflation). In Anlehnung an Schema 3 werden im Folgenden die im Modell auftauchenden Textzustände noch einmal übersichtlich dargestellt. Da das Modell die Notation des A LAN D ’schen Siglen-Systems aufnimmt, diese jedoch - wie zuvor dargelegt - an einigen Stellen modifiziert, sind sowohl A LAN D s als auch die neuen Siglen der einzelnen Textformen aufgeführt (Tabelle 6). Nr. Neues Sigle Sigle lt. alter Aland- Notation Bezeugung 1 A* (A) (2) 10 Rm (=Mrc) 2 A*D AD (3) KA Rm A 2a ABC 1 AB (1) - 3a ADBC 1 ADB (8) - 3 ADBC 1 D ADBD (11) A 02 0151 5 621 2110 4 ADBC 2 AC 1 DBC (9) mon (VL 86) 196 206 VI. Der Schluss des Römerbriefes 5 ADBC 1 C 2 ADBC (10) L 020 Ψ 044 0209 𝔐 - 919 (! ) sy H georg got 6 ABC 2 ABC (4) G 012 g (lat) F 010 (gr) 7 ABC 1 C 2 ABC (4) 629 (gr) 1941 corr 8 ABC 2 D ABCD (6) D 06 f (lat) 296 9 ABC 1 D ABD (5) ℵ B 03 C 04 81 623 1739 2127 10 ADBC 1 C 2 D ADBCD (12) 88 1909 11 ABC 1 C 2 D ABCD (6) 629 (lat) 630 1104 1869 1882 1903 1911 1931 2200 12 ADBC 1 DC 3 ADBDC (13) P 025 33 104 441 459 1243 13 ABC 1 DC 3 ABDC (7) 256 263 365 436 1319 1573 äth sy P 14 AB 1 DB 2 C 1 AB 1 DB 2 (14) P 46 15 ADB 1 D ADB 1 D (15) 1506 Tabelle 6: Übersicht der im Modell vorkommenden Textformen In der Folge sollen nun einzelne Substrukturen des Modells genauer erläutert werden. Sie ergeben sich aus dem Gesamtmodell und werden nachfolgend noch einmal gesondert erklärt. 6.5.1. Das Problem der Benedictio Die beiden letztgenannten Bearbeitungsschritte (mittelgrau und hellgrau unter‐ legt) erklären das Problem der starken Variation von Ort und Anzahl des Se‐ genswunsches am Schluss des Römerbriefes. Das entsprechende Schema für die beiden beschriebenen Vorgänge stellt sich wie folgt dar: A(D)BC 1 (2a bzw. 3a) → A(D)BC 2 (4 bzw. 6) → Transposition ↆ ↆ A(D)BC 1 C 2 (5 bzw. 7) → Konflation Substemma: Benedicto I 207 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 197 So z. B. L I G H T F O O T , M. Renan, S. 295: „It [scil. the benedictio] must stand at xvi. 20, and must be omitted from the later place [scil. V. 24]. If so […] the salutations from the amanuensis and other companions of St. Paul were added irregularly as a sort of post‐ script.“ Ähnlich auch S A N D A Y / H E A D L A M , To the Romans, S. XCI: „The benedictio stood originally at ver. 20 and only there, the verses that followed being a sort of postscript.“ 198 R O L L E R , Formular, S. 193. Sowie A(D)BC 1 C 2 (5 bzw. 7) ↆ A(D)BC 1 C 2 D (10 bzw. 11) → Anügung der Doxologie ↆ A(D)BC 1 DC 3 (12 bzw. 13) → Transposition Substemma: Benedicto II Im Modell wird also davon ausgegangen, dass 16,20b (C 1 ) der ursprüngliche Platz der Benedictio ist. Warum aber stand der Segenswunsch dort? Diese Stelle er‐ scheint zunächst ungewöhnlich, da die Benedictio hier nicht den Briefschluss bildet, sondern nach ihr noch die Verse 16,21-23 folgen, in denen insgesamt acht Personen erwähnt werden, die Grüße ausrichten lassen. Schon früh wurde al‐ lerdings erwogen, dass die besagten Verse eine Art Postskript darstellen, zum eigentlichen Brieftext/ Briefkorpus also nur bedingt zugehörig sind. 197 Auch R O L L E R , der sämtliche Formulare der paulinischen (und auch zahlreicher nicht-christlicher antiker) Briefe analysiert, kommt zu folgender Lösung: „Ist nun mit dem Schlußgruße in v. 20 das Brief-Eschatokoll gegeben, so müssen die nachfolgenden Mitteilungen in 16,21-23 und 25-27 als Nachschrift verstanden werden, wie solche in den antiken Briefen […] nicht gerade selten sind.“ 198 Diese Erklärung erscheint beachtenswert, würde doch dadurch die ungewöhn‐ liche Position des eigentlichen Schlusssegens plausibilisiert werden können. Die besagten Grußaufträge (16,21-23) nach dem Segenswunsch in 16,20b geben zweifellos vor, ein Postskript zu sein, also ein Pseudo-Autographon des (fiktiven) 208 VI. Der Schluss des Römerbriefes 199 R O L L E R , Formular, S. 193 geht fest davon aus, dass die besagte Nachschrift 16,21-23 vom Briefschreiber Tertius stammt. Dieser „schrieb Protokoll und Kontext, dann Paulus seine Grußunterschrift [scil. 16,20b] und darauf wieder Tertius die Nachschrift.“ Dieser zwei‐ malige Händewechsel sei lt. Roller im Rahmen der antiken Schreibpraxis nicht unüblich. Ein (handschriftlicher) Beweis, dass es sich bei den besagten Versen 16,21-23 tatsächlich um ein Autographon des Briefschreibers handelt, hat sich in den bekannten Manu‐ skripten des Römerbriefes freilich nicht finden lassen. 200 Rm 16,22 (NA 28 ): ἀσπάζομαι ὑμᾶς ἐγὼ Τέρτιος ὁ γράψας τὴν ἐπιστολὴν ἐν κυρίῳ. 201 Ebenso wäre es vorstellbar, dass sich die (der) Schreiber an anderen ihnen (ihm) geläu‐ figen Textformen des Römerbriefes orientierte(n), in welchen die Benedictio den Brief‐ abschluss bildete. 202 Es handelt sich um die Umstellungen von V. 5a, der hinter V.3 (also nach vorn) gesetzt wird sowie V. 16b, der hinter V.21 rutscht. Vgl. dazu auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, S. 72. Schreibers Tertius zu sein. 199 Denn hier ( 14 Rm 16,22) meldet sich dieser in der ersten Person zu Wort: 200 „Ich, Tertius, der ich diesen Brief geschrieben habe, grüße euch in dem Herrn.“ Dies dient dem Zweck der Authentizitätsfiktion. Die sekundären Texterweite‐ rungen wirken somit echt. In der Folge wurde in den Manuskripten, welche die Doxologie noch nicht kannten (F G) bzw. sie an ihrer eigentlichen Stelle (nämlich nach Kap. 14) lasen (mon), der Segenswunsch von 16,20b dann an den eigentlichen Briefschluss (d. h. unmittelbar hinter das fingierte Postskript) nach hinten gerückt. Somit war die Benedictio nicht mehr in 16,20b (C 1 ), sondern in 16,24 (C 2 ) zu lesen. Auf diese Weise entstanden die Textformen ABC 2 (6) und ADBC 2 (8). Durch diese Umstel‐ lung bekam der mit 16,23 relativ unvermittelt abbrechende Text nun einen an‐ gemessenen Abschluss. Somit schloss nun auch der Römerbrief mit einem Schlusssegen ab, wie es möglicherweise von anderen Paulusbriefen bekannt war. 201 Solcherlei Transpositionen von Versen bzw. Versteilen sind gerade für die Handschriftenfamilie D F G sowie mon noch an anderen Stellen nachzu‐ weisen. Gerade im Kapitel 16 des Römerbriefes finden sich in den besagten Ma‐ nuskripten noch zwei weitere Beispiele, durch Versumstellungen einen leichter lesbaren Text zu schaffen. 202 Das doppelte Auftreten des Segenswunsches ist dadurch zu erklären, dass Schreibern Handschriften vorlagen, in denen die Benedictio entweder in 16,20b oder in 16,24 zu lesen war. Da sie sich nicht für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden wollten, übernahmen sie den Segenswunsch an den beiden ihnen bekannten Stellen. Somit wurden die zwei bestehenden Varianten konflationiert und die Textformen ABC 1 C 2 (7) und ADBC 1 C 2 (5) entstanden. Nachdem nun in 209 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 203 Vgl. M E T Z G E R , Textual Commentary, S. 476; außerdem H U R T A D O , Doxology, S. 195f und L O N G E N E C K E R , Introducing Romans, S. 34. 204 Vgl. G A M B L E , The Textual History, S. 132. 205 Vgl. B O R S E , Das Schlußwort des Römerbriefes, S. 182 sowie S. 186. einem weiteren Schritt die Doxologie ans Ende dieser Textformen mit doppelter Benedictio gesetzt wurde, fand wiederum eine Transposition statt. Aufgrund der Orientierung an den zahlreichen Paulusbriefen, die mit einem Segens‐ wunsch endeten, rutschte die zweite Benedictio von 16,24 auf diesem Wege wiederum an das tatsächliche Briefende, das sich nun aber nach der Doxologie (also nach 16,27 → C 3 ) befand. Auf diese Weise entstanden die Textformen ABC 1 DC 3 (12) und ADBC 1 DC 3 (13). Das hier beschriebene Szenario deckt sich grundsätzlich auch mit der Ent‐ scheidung, welche die Herausgeber der kritischen Textausgaben des NT in dieser Frage getroffen haben: GNT 5 und NA 28 betrachten beide 16,20b als ältesten Platz des Segenswunsches, wohingegen sie ihn in 16,24 (und nach 16,27) als sekundär einschätzen. M E T Z G E R konstatiert zu Recht: „Wären die hinteren Po‐ sitionen original, dann gäbe es keinen plausiblen Grund, die Benedictio vom Briefende nach vorn (also an 16,20b) zu rücken.“ 203 Zu anderen Lösungen kommen G AM B L E und B O R S E . So schlägt G AM B L E vor, den Textzustand ABC 1 C 2 (also die Doppelbenedictio ohne Doxologie) als ur‐ sprünglich zu begreifen. Dieser doppelte Segenswunsch wurde dann problema‐ tisch, als die Doxologie an den Schluss des Briefes rückte. Nun wurde die Be‐ nedictio in 16,24 (C 2 ) weggelassen, da es problematisch erschien, so viele Abschlusselemente in nächster Nähe zu haben. 204 Grundsätzlich ähnlich argu‐ mentiert B O R S E . Auch er geht davon aus, dass die doppelte Benedictio (also C 1 und C 2 ) ursprünglich ist. C 1 sei ein Bestandteil des paulinischen Postskripts, während C 2 zum Postskript des Briefschreibers (Tertius) gehörte. Ein Redaktor, der diese Unterscheidung natürlich nicht mehr wahrnehmen konnte (da sie ja nur im hypothetischen Autographon sichtbar wäre), stört sich nun aber an dieser Dublette, entfernt den Segenswusch in 16,24 (C 2 ) und setzt nun die Do‐ xologie an dessen Stelle, die ursprünglich ja auf Kap. 14 folgte. Er geht also von einem ältesten Textzustand der Form ADBC 1 C 2 aus. 205 Aus der Perspektive der bisherigen Erkenntnisse ist beiden entgegen zu halten, dass die Textsequenz BC 1 C 2 im Rahmen der Erweiterung des kurzen Römerbriefs ergänzt wurde. Dass die Redaktion hier zwei (fast) identische Schlusssegen in unmittelbare Nähe zu‐ einander positioniert, erscheint wenig plausibel. Kein anderer Brief innerhalb der 14-Briefe-Sammlung weist dieses Phänomen auf. 210 VI. Der Schluss des Römerbriefes 206 Vgl. S E M L E R , Paraphrasis Epistolae ad Romanos, S. 311. 6.5.2. Die redaktionelle Ergänzung der Kapitel 15 und 16 Die umfangreichste und zweifellos inhaltlich schwerwiegendste Veränderung erfuhr der Römerbrieftext, als er von 10 Rm zu 14 Rm erweitert wurde. Diese Er‐ weiterung beschränkte sich nicht nur um die heutigen Kapitel 15 und 16, son‐ dern - wie bereits gezeigt werden konnte - auch auf die Kapitel 4 und Teile von Rm 9-11. Zu klären ist nun, aus welchen Gründen die beschriebene Erweiterung am Briefende geschah und wie sie umgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang ergeben sich die folgenden Fragen: 1. Wie fügt sich 14 Rm 15 f in das Gesamtbild von 10 Rm ein? Lassen sich mög‐ licherweise aufgrund der besagten Erweiterung des Textes Kohärenzstö‐ rungen identifizieren? 2. In welchem Verhältnis steht 14 Rm 15 f zu den anderen Texten, die in der vorliegenden Untersuchung bereits als redaktionelle Interpolationen plausibilisiert wurden - also v. a. 14 Rm 4 sowie 14 Rm 9-11? Sind inhaltliche Zusammenhänge zwischen den genannten Textpassagen feststellbar? Denn sollten sich tatsächlich alle in der vorliegenden Arbeit herausgear‐ beiteten, umfangreichen Textdifferenzen zwischen 10 Rm und 14 Rm als re‐ daktionelle Ergänzungen begreifen lassen, die im Zuge der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung passierten, so sollte man doch eine gewisse thematische Korrelation innerhalb der redaktionellen Texte erwarten. 3. Wie verhält sich 14 Rm 15 f zu den übrigen Texten, die noch nicht Teil der 10-Briefe-Sammlung waren? In den Untersuchungen zum Abrahamka‐ pitel ( 14 Rm 4) konnte bereits eine enge Verbindung zum Hebräerbrief aus‐ gemacht werden. Lässt sich dies hier bestätigen? Stehen die redaktionellen Passagen möglicherweise in inhaltlicher Nähe zu weiteren, über das Corpus Paulinum hinausgehenden, Texten? In der Forschungsgeschichte wurden die Kapitel 15 und 16 oftmals getrennt voneinander untersucht. So stand v. a. Rm 16 im Verdacht, vom vorangegan‐ genen Römerbrieftext abgekoppelt zu sein. Hinsichtlich der Frage nach der li‐ terarischen Integrität des Römerbriefes erregte das 16. Kapitel bereits früh An‐ stoß. So hielt S E ML E R es für ein Verzeichnis der in Korinth, Griechenland und Kleinasien ansässigen Personen, die der Briefüberbringer auf seiner Reise be‐ suchen sollte. 206 Dem Text wurde dabei zunächst nicht die paulinische Verfas‐ 211 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 207 Später dagegen geschieht dies u. a. durch B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 408, der feststellt: „[S]o sind gewiss genug Gründe vorhanden, auch dieses Kapitel für nicht paulinisch zu halten.“ 208 Zur detaillierten Analyse vgl. O L L R O G , Abfassungsverhältnisse, S. 235-242. 209 So exemplarisch J E W E T T , Romans, S. 985, der zusammenfassend konstatiert: „The rhe‐ toric of this passage is different both in style and in logical development from the rest of Romans.“ 210 Vgl. S. 183. 211 S C H U L Z , Rezension zu Eichhorn, S. 612. serschaft abgesprochen. 207 Vielmehr diskutierte man, wie sich Rm 16 zum rest‐ lichen Brieftext verhält: Eine große Zahl von Exegeten votierte für eine - wie auch immer konkret gedachte - literarische Abtrennung des Schlusskapitels von dem „Rest“ des Briefes. Begründet wird eine solche Abtrennung v. a. anhand innerer Gründe. Inhalt‐ lich nimmt Rm 16 im Rahmen der Paulusbriefe gleichsam eine Sonderstellung ein und weist einige bemerkenswerte Eigenheiten auf: Nirgends sonst werden auch nur annähernd so viele Personen namentlich gegrüßt (insgesamt sind es genau 28 Einzelpersonen, inklusive einer Reihe von zugehörigen Hausge‐ meinden und anderen Gruppen, die im entsprechenden Abschnitt 16,3-16a er‐ wähnt werden, 208 nirgends sonst so viele Grußbesteller genannt (16,16b.21-23) und nirgends sonst meldet sich der Schreiber des Briefes (Tertius) explizit zu Wort (16,22). Auch die überraschend polemische und im vorangegangenen Briefkorpus nirgends vorbereitete bzw. thematisierte Warnung des Paulus vor Irrlehrern (16,17-20) erscheint vor dem Hintergrund ihm unbekannter Adres‐ saten doch recht unpassend. Insbesondere fällt hierin die hohe Anzahl von Ha‐ paxlegomena auf, so dass die besagten Verse von zahlreichen Exegeten als un‐ paulinisch betrachtet wurden. 209 Dass auch nirgends sonst eine Doxologie den Brief abschließt - nicht wie der für die Briefe des Corpus Paulinum übliche Segenswunsch -, wurde bereits zuvor thematisiert. 210 Hält man sich vor Augen, dass Paulus die römische Gemeinde laut eigener Aussage im Präskript des Briefes (1,13) bisher unbekannt ist, ist eine solch umfangreiche Grußliste wie in Rm 16,3-16 doch einigermaßen verwunderlich. S C H U L Z zog daher bereits 1829 folgendes Fazit und brachte die sog. Ephesushypothese auf den Weg, die davon ausgeht, dass Rm 16 eigentlich an die christliche Gemeinde in Ephesus gerichtet ist: 211 „Dürfte man annehmen, daß Paulus das Kapitel nach Ephesus geschrieben hätte, so erschiene dessen Inhalt in allen einzelnen Puncten [sic! ] eben so ansprechend und angemessen, als uns derselbe nach Rom hinsehend unangemessen und widerstrebend vorkommen will.“ 212 VI. Der Schluss des Römerbriefes 212 Vgl. M A N S O N , St. Paul’s Letter, S. 239. 213 S T A N D H A R T I N G E R , Studien zur Entstehungsgeschichte, S. 86 Anm. 119. 214 So G R E G O R Y , Canon and Text, S. 525: „The sixteenth chapter could well have been a letter of recommendation written for Phoebe to the church at Ephesus.“ bzw. S A N D E R S , Third-Century Papyrus, S. 35: „Chapter XVI was the covering letter introducing Phoebe to the Ephesians.“ 215 Die zwei einzigen Manuskripte, welche die beiden letzten Kapitel des Römerbriefes nicht en bloc lesen, sind P 46 und Minuskel 1506 (vgl. Kap. 6.4.2. Bisherige Lösungsmo‐ delle und ihre Insuffizienz (v. a. S. 189)). Wie dieser Befund zustande kommt und genealogisch zusammenhängt, bleibt eine spannende Frage. Eine wirklich plausible Ant‐ wort auf das Problem konnte m. E. noch nicht gefunden werden. 216 W I L C K E N S , An die Römer, S. 80 spricht von einer „elementarisierende[n] Zusammen‐ fassung“ des vorangegangenen Kapitels. 217 Vgl. B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 394. M AN S O N erwog unter diesem Eindruck, Rm 16 als eine Art covering note einer nach Ephesus gerichteten Abschrift des Römerbriefes zu verstehen. 212 Eine grundsätzlich vergleichbare Erklärung liefert auch S TAN DHA R TIN G E R : 213 „M.E. ist Röm 16,1ff ein Fragment eines Kollektenschreibens, das an eine Gemeinde im Osten, wahrscheinlich Ephesus, gerichtet war. Die Annahme, Paulus grüße in einer ihm unbekannten Gemeinde 28 nähere und weitere Bekannte, läßt sich nur schwer mit der sonst aus dem Brief zu erhebenden Abfassungssituation harmonisieren.“ Die Option, dass es sich bei Rm 16 dagegen um ein Empfehlungsschreiben für die vermeintliche Briefüberbringerin Phoebe handeln könnte, 214 ist kaum plau‐ sibel. Tatsächlich hat man anhand des Philemonbriefes genaue Kenntnis davon, dass ein solches Referenzschreiben innerhalb des Corpus Paulinum ganz anders aussieht als Rm 16. Allerdings zeugt sowohl die Ephesusals auch die Referenz‐ hypothese davon, dass gerade Rm 16 mehrheitlich als authentisch-paulinischer Briefteil verstanden wurde. Doch wie bereits oben angedeutet und in der Folge ausführlich dargelegt, ist diese Authentizität fingiert. Denn die Untersuchungen zum häresiologischen als auch zum paratextuellen Befund haben deutlich ge‐ macht, dass die Kap. 15 und 16 in 10 Rm gefehlt haben. Daher wird davon aus‐ gegangen, dass die Schlusskapitel im Zuge der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung gemeinsam sekundär ergänzt wurden. 215 Aus welchem Zweck dies in Einzelnen geschah, wird nachfolgend dargelegt. Kapitel 15 teilt sich in zwei Abschnitte auf: Der erste Teil (Rm 15,1-13) fungiert gleichsam als Resümee 216 oder aber als Nachtrag 217 der paränetischen Ausfüh‐ rungen in Rm 14. Auf den ersten Blick scheint eine recht enge argumentative 213 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 218 So beispielsweise W I L C K E N S , An die Römer, S. 100 („V1 führt einerseits noch die Schluß‐ mahnungen von 14,19ff fort, faßt aber zugleich andererseits den ganzen Abschnitt zu‐ sammen.“) und H A A C K E R , An die Römer, S. 293 („Das [15.] Kapitel beginnt mit einigen Sätzen, die die Argumentation von Kap. 14 abrunden, ergänzen und vertiefen (V. 1-7)“). D U N N , Romans 9-16, S. 836 kritisiert aus diesem Grunde auch die Kapiteleinteilung („the chapter break is poorly located“). Anders dagegen B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 394, der feststellt: „Der Abschnitt 15,1-13 enthält nichts, was nicht der Apostel schon in 12,1f besser als hier gesagt hätte.“ 219 Das dominante Wortfeld Speise / essen wird zahlreich erwähnt (14,2.3.6.15.17.20.21.23). 220 So bereits Z A H N , An die Römer, S. 592: „An dem Thema von [Rm] 14 wird also nicht weitergesponnen.“ 221 So formulierte Z A H N , An die Römer, S. 591 Anm. 10: „Unmittelbarer Anschluß von 14,23 würde statt δέ etwa ein ἄρα οὖν wie 8,12 cf 14,13.19 erfordern, und auch dann noch würde nach den kraftvollen positiven und negativen Aufforderungen in 14,10.15.19.20 die Erinnerung an die bestehende Verpflichtung sehr matt lauten.“ 222 Einzig das Jesajazitat ist in Rm 14,11. zu lesen. 223 Rm 15,4 (NA 28 ): ὅσα γὰρ προεγράφη, εἰς τὴν ἡμετέραν διδασκαλίαν ἐγράφη, ἵνα διὰ τῆς ὑπομονῆς καὶ διὰ τῆς παρακλήσεως τῶν γραφῶν τὴν ἐλπίδα ἔχωμεν. Verbindung zwischen Kap. 14 und 15,1-13 zu bestehen. 218 Die Authentizitäts‐ fiktion wird u. a. durch die Wiederaufnahme des Lexems τὰ ἀσθενήματα in 15,1 erreicht. Denn bereits in 14,1 ist die Rede von dem Schwachen, genau genommen aber von dem Schwachen im Glauben (ὀ ἀσθενοῦντος τῇ πίστει). Diese Diffe‐ renzierung bleibt in 15,1 aus. Darüber hinaus fallen thematische Inkongruenzen auf, welche die Kohärenz des Textabschnitts mit dem zuvor Gesagten infrage stellen. Sachlich behandelt Kap. 14 die Frage nach dem Verzehr von reinen und unreinen Speisen; 219 in Kap. 15 dagegen wird das Thema inhaltlich gar nicht aufgenommen. 220 Auch der un‐ mittelbare Anschluss von 15,1 an 14,23 wurde als unpassend angesehen. 221 Wei‐ terhin fällt die große Zahl der alttestamentlichen Verweise auf, die in dem be‐ sagten Textabschnitt zu lesen sind. Finden sich im zuvor Gesagten (Kap. 14) kaum Schriftbeweise in die Argumentation eingeflochten, 222 so treten sie im Kapitel 15 in besonderer Häufigkeit auf. Insbesondere die Verse 15,9-12 wirken als Aneinanderreihung von vier Zitaten aus Ps 17,50; Dtn 32,43; Ps 117,1 sowie Jes 11,10 stilistisch wenig hochwertig. So werden die einzelnen Schriftzitate stets nur mit καὶ πάλιν λέγει eingeleitet bzw. verknüpft. Betrachtet man den übrigen Römerbrief, so findet sich eine ähnliche Aufzählung sonst nirgends. Vorbereitet wird diese Zitatenreihe durch Rm 15,4, in dem die hermeneutische Funktion der Schrift (also des Alten Testaments) für die Christen betont wird: 223 „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“ 214 VI. Der Schluss des Römerbriefes 224 M I C H E L , An die Römer, S. 445 bezeichnet den Vers als „eingesprengte[n] Lehrsatz über das rechte Verständnis der heiligen Schrift.“ 225 Vgl. K E C K , Interpolation. Präzise formuliert Keck auf S. 133: „Rom 15,4a, with its ὅσα προεγράφη reflects a common idea, and could have been written by an interpolator as well as by Paul.“ 226 Z A H N , An die Römer, S. 592 bemängelte, dass zwischen V. 3 und V. 4 „gar kein inneres Verhältnis“ besteht. Es ist unklar, worauf sich das V. 4 einleitende γὰρ explikativ-kausal bezieht. Dass in V. 3 ein Schriftzitat zu lesen ist, motiviert den allgemeinen Lehrsatz in V. 4 nicht wirklich. 227 F E E , Abraham’s True Children, S. 133 Anm. 14 stellt v. a. aufgrund dieser Formulierung eine inhaltliche Kohärenz zwischen Rm 4 und Rm 15,5-12 fest. 228 Rm 15,4 (NA 28 ): λέγω γὰρ Χριστὸν διάκονον γεγενῆσθαι περιτομῆς ὑπὲρ ἀληθείας θεοῦ, εἰς τὸ βεβαιῶσαι τὰς ἐπαγγελίας τῶν πατέρων. So ist es v. a. dieser Lehrsatz, der schon oft als kohärenzstörend wahrge‐ nommen 224 und sogar als Interpolation diskutiert wurde. 225 Thematisch ist er kaum an das zuvor Gesagte angebunden. 226 Beachtenswert erscheint, dass be‐ reits im Abrahamkapitel ( 14 Rm 4,23f) ein ähnliches Schriftverständnis anklingt. Noch deutlicher fällt die Parallele zu 2 Tim 3,16f ins Auge, einem weiteren Lehr‐ satz, der ebenso wie Rm 15,4 die Nützlichkeit der Schrift zur Lehre (ὠφέλιμος πρὸς διδασκαλίαν) betont. Auch Rm 15,8 ist in doppelter Hinsicht erwähnenswert. In diesem Vers wird Christus als Diener der Beschneidung 227 um der Verheißungen willen titu‐ liert: 228 „Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahr‐ haftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind.“ Auffällig erscheint, dass in 15,8 ein weiteres Mal von Verheißungen (ἐπαγγελίαι) die Rede ist. Diese Verheißungen an Israel stellen einen Topos dar, der neben der besagten Stelle in Kap. 15 v. a. in Rm 4 ausführlich entfaltet wird. So findet sich das Lexem ἐπαγγελία(ι) auch in Rm 4,13.14.16.20, d. h. in einem Textteil, der in 10 Rm noch nicht zu lesen war und der in der vorliegenden Studie als redaktionelle Erweiterung identifiziert werden konnte. Weiterhin wird ἐπαγγελία(ι) in Rm 9,4.8.9 erwähnt. Auch für diesen Textabschnitt konnte die vorliegende Arbeit plausibilisieren, dass er in großem Maße sekundär ergänzt wurde. Darüber hinaus wird das Lexem im gesamten sonstigen Römerbrief an keiner einzigen Stelle verwendet. Dagegen taucht der Begriff in anderen neutestamentlichen Texten in großer Zahl auf, v. a. in Gal und Hebr. So spielt der Topos Verheißung eine zentrale 215 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 229 Ausführlich dazu K L I N G H A R D T , Abraham, S. 240. 230 Zur Bezeugung des Abschnitts vgl. U. S C H M I D , Marcion, S. I/ 316f. 231 P 46 D* .c F G pc b vg ms Ambst. Diese HSS bieten also eine Lesart, die am ehesten als Konflation zu verstehen ist aus der kürzeren „εὐλογία-Variante“ in 10 Gal sowie deren sekundärer Erweiterung, also der längeren „ἐπαγγελία-Variante“ in 14 Gal (bezeugt durch die Mehrzahl der HSS), die auch den Versteil 14a ergänzt, der die Verheißung mit Abraham verknüpft. Auch für Rm 10,3 wurde bereits eine in P 46 bezeugte Variante als Konflation zwischen den in 10 Rm und 14 Rm bezeugten Lesarten erklärt (vgl. Schema 2 S. 121). 232 Am zweithäufigsten wird das Lexem in Gal benutzt (elf Mal), danach in Rm (acht Mal). 233 L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 171. Rolle innerhalb des in Gal 3 entwickelten erwählungstheologischen Konzepts. 229 Ganze acht Mal wird ἐπαγγελία(ι) hier erwähnt. Bemerkenswert ist, dass sich nicht eine dieser Erwähnungen anhand der häresiologischen Bezeugung auch für 10 Gal nahe legt. Mehr noch - die Erwähnungen in 3,15-18 sowie in 3,29 sind durch Tertullian als fehlend für McnGal bezeugt. 230 Besonders interessant er‐ scheint aber 3,14, denn hier finden sich auch in einigen HSS 231 noch Spuren der durch Tertullian bezeugten, wahrscheinlichen Lesart aus 10 Gal, die anstelle von der Verheißung des Geistes (ἐπαγγελία τοῦ πνεύματος) von dem Segen des Geistes (εὐλογία τοῦ πνεύματος) spricht, der durch Glauben empfangen wird. In Hebr wird ἐπαγγελία(ι) nicht weniger als vierzehn Mal verwendet - in keinem anderen Text des Corpus Paulinum (ja sogar des gesamten Neuen Tes‐ taments) geschieht dies vergleichbar oft. 232 Die Verheißungen an Israel zu be‐ tonen und damit die Kontinuität der Alten Bundes mit dem Neuen Bund her‐ vorzuheben, scheint also ein zentrales Anliegen der angenommenen Redaktion zu sein. Auch die Einfügung diverser alttestamentlicher Verweisstellen lässt sich vor diesem Hintergrund erklären. Dies korreliert vortrefflich mit den Überle‐ gungen in Kapitel 4.3., worin die redaktionelle Einbindung von 14 Rm 4 in 10 Rm untersucht wurde. Im zweiten Teil des 15. Kapitels (Rm 15,14-33) finden sich neben Rm 1,1-15 sowie Rm 16 die einzigen Elemente des gesamten Römerbriefes, die etwas über die Korrespondenzsituation aussagen und die deshalb (zusammen mit anderen Texten des Corpus Paulinum) die „narrative Welt“ der 14-Briefe-Sammlung konstituieren. 233 Hierin wird ausführlich dargelegt, warum Paulus plant, der rö‐ mischen Gemeinde einen Besuch abzustatten. Da ihm die Gemeinde bisher un‐ bekannt ist, sie also nicht von ihm gegründet wurde, stellt er sich zunächst aus‐ führlich vor und erläutert, warum er ihnen vorab einen solch umfangreichen und inhaltlich gewichtigen Brief schreiben musste. Ausführungen zu seinem Apostolat finden sich bereits im Präskript des Briefes (Rm 1). Die Gedanken in Rm 15 scheinen auf den ersten Blick daran anzuknüpfen. Betrachtet man den 216 VI. Der Schluss des Römerbriefes 234 B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 399: „Gethan hätte also der Apostel in jedem Fall etwas, was mit dem von ihm selbst aufgestellten Grundsatz seines apostolischen Wirkens sich nicht in Einklang bringen liess.“ 235 Vgl. S. 157f sowie exemplarisch L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 175. Textabschnitt allerdings genauer, so fallen einige Unstimmigkeiten ins Auge. So passt Rm 15,15-21 kaum zu den im Präskript beschriebenen Gedanken zu seinem Apostolat. Bereits B AU R bemängelte, dass sich Paulus in Kap. 15 gewissermaßen dafür rechtfertigt bzw. entschuldigt (Rm 15,15 → τολμηρότερον δὲ ἔγραψα ὐμῖν), dass er der römischen Gemeinde einen solch umfangreichen Brief schreibt. In der Darlegung seines apostolischen Wirkens betont Paulus nämlich, dass er nicht auf fremden Grund bauen bzw. nicht die Früchte anderer ernten will (Rm 15,20 → ἵνα μὴ ἐπ’ ἀλλότριον θεμέλιον οἰκοδομῶ). B AU R stellte fest, dass Paulus letztlich aber genau dies mit seinem Brief an eine ihm unbekannte Gemeinde tut. 234 Besonders merkwürdig erscheint, dass dies erst im vorletzten Kapitel des Briefes angesprochen wird, während er im Präskript (Rm 1) davon nichts erwähnt und sich dort ohne Einschränkung als Heidenapostel deklariert, dessen Pflicht es gleichsam ist, sich auch der römischen Gemeinde zuzuwenden. Wieso dann die Entschuldigung bzw. Einschränkung am Briefende? Die Aus‐ führungen im Rm 15 zum Apostolat scheinen somit also zumindest in einer gewissen Spannung zu den Gedanken im Präskript des Briefes zu stehen. Da‐ rüber hinaus verwundert es, dass sich Paulus in Rm 1 ohne Wenn und Aber als Apostel bezeichnet, während er sich in Rm 15 nur als Diener (ὀ λειτουργός) Jesu Christi tituliert. Bemerkenswert ist auch die stark ausgeprägte narrative Kontinuität, in der die Ausführungen zu den Schilderungen der Apostelgeschichte stehen. So ist die in Rm 15 beschriebene Abfassungssituation des Briefes innerhalb der Chro‐ nologie in Acta klar bestimmbar: In Rm 15 wird dargelegt, dass Paulus seine Missionstätigkeit im Osten für beendet ansieht (15,19b), er sich bereits seit langem vorgenommen hat, nach Rom zu kommen (15,23), vorerst aber noch nach Jerusalem reisen will (15,25), um die Kollekte abzuliefern, die er in Achaia und Makedonien eingesammelt hat (15,26). Diese Schilderung findet in Acta 20,2- 3a ihre literarische Entsprechung. Hierin wird beschrieben, dass Paulus von Makedonien nach Hellas zieht, um sich anschließend auf den Weg nach Jeru‐ salem zu begeben. Auch der Abfassungsort des Römerbriefes wird anhand der Ausführungen in Rm 15 f klar bestimmbar - er schreibt ihn in Korinth (vgl. Rm 16,1-23). 235 Weiterhin fällt die Erklärung des Paulus in Rm 15,18f auf, er würde die Heiden zum Gehorsam bringen durch Wort und Werk (λόγος καὶ ἔργον) sowie in der Kraft von Zeichen und Wundern (σημεῖα καὶ τέρατα). Auch in der Darstellung 217 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 236 Vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 176, der in diesem Zusammenhang auf Act 2,19.22.43; 4,30; 5,12; 6,8; 7,36; 14,3; 15,12 verweist. 237 Vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 177f. 238 Dass die Wendung ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν (Rm 15,16) nicht als Genitivus obiectivus, sondern vielmehr als Genitivus subiectivus zu verstehen ist (folglich nicht die Heiden selbst das Opfer darstellen, sondern dass sie vielmehr das Opfer erbringen, d. h. dass sie Geld spenden), hat zuletzt L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 178f plausibilisiert. 239 Die Sammlung für die Armen wird z. B. in Gal 2,10; 1 Kor 16,1-4; 2 Kor 8,1-4.13-15 und eben in Rm 15 thematisiert. Ausführlicher dazu T R O B I S C H , Paulusbriefe und Anfänge, S. 101ff. 240 Zur narrativen Themenentfaltung des gesamten Kollektenkomplexes vgl. L Ü K E , Nar‐ rative Kohärenz, S. 186f: In Gal wird Streit, ja sogar die Entzweiung zwischen Paulus und den Jerusalemer Autoritäten, thematisiert. Der Römerbrief zeichnet nun ein Bild der Unsicherheit, ob der Streit wirklich beigelegt wurde, ob die Kollekte quasi als Be‐ sänftigung akzeptiert wird. Acta schließlich macht dem Leser deutlich, dass der Streit beigelegt ist, dass alle Akteure gleichsam in Eintracht miteinander stehen. 241 Dies ist nach den Ausführungen in 2 Kor 8 alles andere als selbstverständlich. in Acta ist Paulus’ apostolisches Wirken durch Wort und Werk gekennzeichnet. Ebenso ist die Verwendung des Hendiadyoins Zeichen und Wunder program‐ matisch für die Apostelgeschichte. 236 Innerhalb des Corpus Paulinum findet sich die Wendung nur noch in 2 Kor 12,12 und wiederum auch in Hebr 2,4. Ansonsten taucht das besagte Syntagma in keinem anderen Text des Neuen Testaments auf. Auch die Aussage, dass Paulus das Evangelium von Jerusalem bis Illyrien ver‐ kündet habe (Rm 15,19) und er es nun noch bis Spanien tragen wolle (Rm 15,24), deutet sich in keinem anderen Paulusbrief an, ist allerdings kohärent zu der Ankündigung des Auferstandenen in Acta 1,8. 237 Ausführlich ist in Rm 15,16.25-31 über die Geldsammlung zu lesen, die hier als Opfergabe (προσφορά) dargestellt wird, welche von den heidenchristlichen Gemeinden in Achaia und Makedonien erbracht wurde, um die Armen der Je‐ rusalemer Gemeinde zu unterstützen. 238 Sie stellt ein zentrales Thema der pau‐ linischen Hauptbriefe dar. 239 Innerhalb des gesamten, literarisch geschickt kom‐ ponierten Kollektenkomplexes 240 kommt den Ausführungen in Rm 15 insofern eine entscheidende Bedeutung zu, als dem Leser hier deutlich gemacht wird, dass die Sammlung tatsächlich erfolgreich war und nunmehr abgeschlossen ist (15,25f). 241 Allerdings ist sich Paulus unsicher, ob diese Gabe in Jerusalem auch freundlich entgegengenommen wird. Er fürchtet sich sogar davor, dass die Übergabe der Sammlung scheitern könnte und fordert die Adressaten des Rö‐ merbriefes daher zur Fürbitte auf (15,30f). Der positive Abschluss der Samm‐ lung, der Aufbruch der Kollektendelegation nach Jerusalem sowie die Zweifel, ob sie dort angenommen wird, klingen auch in der Apostelgeschichte an (Acta 19,21; 20,2-4 sowie 20,22). Die Darstellung geht allerdings insofern über die 218 VI. Der Schluss des Römerbriefes 242 Vgl. Acta 21,21-26. Ausführlich dazu L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 179f. 243 Origenes’ Römerbriefkommentar macht genau dies deutlich. So heißt es in Orig. KommRm. 10,14: „Nach diesem Dienst Mazedoniens und Achaias für die Heiligen in Jerusalem hatte sich der Apostel vorgenommen, auch Rom zu besuchen. Das wird in der Apostelgeschichte auf folgende Weise angedeutet: ‚Nach diesen Ereignissen nahm sich Paulus im Heiligen Geiste vor, über Mazedonien und Achaia nach Jerusalem zu reisen. Er sagte: Wenn ich dort gewesen bin, muß ich auch Rom besuchen.‘ Aus all diesen Worten kann man schließen, daß nicht nur der erste, sondern auch der zweite Korin‐ therbrief früher geschrieben ist als dieser Römerbrief, den wir vor uns haben; außerdem kann man bemerken, daß man Paulus in jedem späteren Brief immer vollkommener findet.“ (Übers. H E I T H E R , S. 229). 244 Unter narrativer Kohärenz versteht L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 14 den „Zusammen‐ hang zwischen verschiedenen Texten auf inhaltlicher Ebene […]. Mit narrativer Kohärenz ist nicht der innere Zusammenhang eines Einzeltextes gemeint, sondern die Kohärenz der narrativen Welten mehrerer Texte. Die narrative Kohärenz wird konstituiert durch die thematische Kohärenz und die narrative Kontinuität.“ [Hervorhebung im Original]. 245 Lt. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 14 deutet eine hohe narrative Kohärenz auf eine lite‐ rarische Abhängigkeit hin. 246 L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 208 fasst dies knapp zusammen: „In Rm 16 gibt es viele internymische Referenzen, v. a. zur Kollektendelegation von Act 20,4. Von den insge‐ samt sechsundzwanzig individuellen Grußempfängern spielen nur Prisca und Aquila eine Rolle in der Apostelgeschichte. Aus der Liste der Grüßenden treten Timotheus, Jason, Sosipatros und Erastos in Acta auf. Eine wahrscheinliche Referenzidentität gibt es bei den grüßenden Lucius und Gaius mit Lucius von Kyrene und Titius Iustus; die beiden grüßenden Tertius und Quartus können mit dem Reisebegleiter Secundus in geschwisterliche Beziehung gesetzt werden“; vgl. dazu ausführlicher L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 188-194 sowie die Übersichtsdarstellung S. 189f. Schilderung in Rm 15 hinaus, als dem Leser hier auch von ihrer gelungenen Übergabe berichtet wird. Dies geschieht zwar nicht expressis verbis, allerdings kann der Leser eindeutig aus der Erzählung darauf schließen. 242 Die Kohärenz der narrativen Welten von Rm 15 und Acta ist offensichtlich. 243 Auch für Rm 16 lassen sich markante Anknüpfungspunkte zur Apostelge‐ schichte identifizieren. Fungiert die umfangreiche Grußliste in Rm 16,1-16 auf‐ grund der Nennung zahlreicher, dem Leser sonst unbekannter Personen in erster Linie als fiktiver Authentizitätserweis für den gesamten Textteil, ist es v. a. die Grußsenderliste in Rm 16,21-23, die eine außergewöhnlich hohe narrative Ko‐ härenz 244 zu Acta aufweist, ja sogar in narrativer Kontinuität zu dieser steht. 245 Denn alle acht Eigennamen dieser Liste weisen eine mehr oder weniger hohe Referenzidentität zur Apostelgeschichte auf - die Lektüre der Apostelgeschichte ermöglicht es dem Leser des Neuen Testaments also, die in Rm 16,21-23 ange‐ führten Personen als Paulusbegleiter zu identifizieren. 246 L ÜK E geht daher von einem intertextuellen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Rm 15 f und der Apos‐ telgeschichte aus. Hierfür erwägt er, entweder Rm 15 f als Prätext für Acta oder 219 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell 247 Vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 208: „Zwischen Acta und Rm 15 f ist die Kohärenz so stark ausgeprägt, dass von einer intertextuellen Abhängigkeit auszugehen ist. […] Fol‐ gende Abhängigkeitsverhältnisse sind möglich: 1) Rm 15 f ist Prätext für Acta; 2) Acta ist Prätext für Rm 15 f; 3) Rm 15 f und Acta entstehen zugleich als Teile eines Gesamt‐ textes. Variante 2 überzeugt am wenigsten. Variante 3 ist möglich, aber wegen der Ten‐ denz der Apostelgeschichte, das Verhältnis zwischen Paulus und den Jerusalemern so harmonisch wie möglich zu gestalten (vgl. dagegen Rm 15,31b), ist Variante 1 (Rm 15 f als Prätext) zu bevorzugen.“ Lüke plädiert also eher für die Option, Rm 15 f als Prätext für Acta zu verstehen, stellt aber ausdrücklich heraus, dass beide Texte auch gleichzeitig entstanden sein können. 248 Die einzige zweifellos bezeugte Sammlung, die Rm 15 f und Act nebeneinander enthält, ist das Neue Testament (vgl. T R O B I S C H , Endredaktion des Neuen Testaments, passim sowie H E I L M A N N , Editio Princeps, passim). 249 Nach dieser besagten Inschrift auf den Pflastersteinen, war es ein wohlhabender, städtischer Beamter namens Erastus, der das Pflaster des Marktplatzes von Korinth finan‐ zierte: „Erastus pro aedilit[at]e s[ua] p(ecunia) stravit.“ Dazu z. B. M E G G I T T , Social Status, S. 219 sowie J E W E T T , Romans, S. 981ff. Jedem, der also in der damaligen Zeit irgendwann einmal über den Marktplatz in Korinth spaziert ist, sollte der Name des im Römerbrief erwähnten οἰκονόμος τῆς πόλεως nicht unbekannt gewesen sein. aber beide Texte als gleichzeitig entstandene (redaktionelle) Teile eines Gesamt‐ textes zu verstehen 247 - dem Neuen Testament. 248 Die letztere Option erscheint mir aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bzgl. der umfangreichen und auf‐ wendigen Redaktionsarbeit, die allein den Römerbrief betrifft, plausibler. Die Analyse des Postskripts (16,21-23), welches nach dem Schlusssegen zu lesen ist, macht deutlich, dass es der Redaktion hier v. a. darum ging, Authen‐ tizität zu fingieren. Diese Authentizitätsfiktion geschieht auf verschiedenen Ebenen: Textintern durch den Gruß des vermeintlichen Briefschreibers Tertius, aber auch textextern z. B. durch den Hinweis auf Erastos in 16,23. Denn dieser ist dem Leser des Neuen Testaments auch durch die Lektüre von Acta 19,22 und 2 Tim 4,20 bekannt. Im Timotheusbrief erfährt der Leser, dass Erastos in Korinth geblieben ist. Die Verknüpfung des Erastos mit Korinth dürfte dem zeitgenös‐ sischen Leser nicht schwer gefallen sein, denn jener Erastos war möglicherweise vielen als οἰκονόμος von Korinth bekannt, wie die Erastos-Inschrift auf dem Pflaster des Marktplatzes von Korinth nahe legt. 249 Es lassen sich also folgende Beobachtungen formulieren, die für die redaktio‐ nelle Ergänzung von Rm 15 f relevant sind. Sie gewähren tiefgreifende Einblicke in die redaktionelle Arbeit bei der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur neutestamentlichen 14-Briefe-Sammlung. Denn wenn A* die älteste Textform ist, dann ergibt sich zwingend, dass alle darauffolgenden brieflichen Elemente sekundär sind. 220 VI. Der Schluss des Römerbriefes 250 Vgl. 14 Rm 9-11, wo dieses Phänomen bereits festgestellt werden konnte. 251 Vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 208. 252 Sowohl der zweite Timotheusbrief als auch der Hebräerbrief wurde bereits von L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 230 als eine „Fortschreibung der Zehnbriefesammlung“ identi‐ fiziert. Die vorliegende Studie kann diese Einschätzung nun bestätigen. 253 Vor diesem Hintergrund stellt die Untersuchung der Abhängigkeit zwischen dem Heb‐ räerbrief und den Pastoralbriefen ein Forschungsdesiderat dar, das wichtige weiterfüh‐ 1. Zum Zweck der Authentizitätsfiktion der sekundären Ergänzungen werden sowohl textinterne als auch textexterne Verweise in den Text eingearbeitet. Auch die ungewöhnlich lange Liste von Eigennamen in der Grußliste, die mehrheitlich in keinem anderen Paulusbrief genannt sind, dient dazu, dem Leser die Echtheit des Textes ( 14 Rm) zu suggerieren. 2. Thematische Inkongruenzen bzw. Kohärenzstörungen sind vereinzelt zwischen Kap. 14 und Kap. 15 sowie zwischen Kap. 1 und Kap. 15 auszu‐ machen. 3. Ein zentraler inhaltlicher Schwerpunkt von Rm 15 f ist die Betonung der hermeneutischen Funktion der Schrift. Dies wird implizit durch die zahl‐ reichen AT-Verweise in 15,1-13 250 sowie explizit durch den Lehrsatz in Rm 15,4 realisiert. Letzterer stellt eine starke Parallele zu 2 Tim 3,16f sowie zu Rm 4,23 dar. 4. Der Topos Verheißungen, den Rm 15,8 thematisiert, wird neben 14 Rm 4 sonst nur noch in Hebr und 14 Gal 3 entfaltet. Er tritt also nahezu aus‐ nahmslos in denjenigen Texten des Corpus Paulinum auf, die in der 10-Briefe-Sammlung fehlten (denn gerade die betreffenden Passagen haben nachweislich in 10 Gal gefehlt). 5. Eine weitere Parallele zum Hebräerbrief findet sich durch die Verwen‐ dung des Hendiadyoins Zeichen und Wunder in Rm 15,18f. 6. Rm 15 f ist eng mit der Erzählwelt der Apostelgeschichte verknüpft. Diese narrative Kontinuität ist in erster Linie innerhalb des Kollektenkomplexes sowie in der Darlegung der Reisepläne des Paulus nachweisbar. 251 Festzuhalten bleibt also: Die redaktionelle Ergänzung der Kapitel 15 f korreliert mit den bereits zuvor als Interpolationen identifizierten Textabschnitten im Rö‐ merbrief. Darüber hinaus ist thematische Kohärenz zu 2 Tim und Hebr 252 nach‐ weisbar. Weiterhin lässt sich eine starke narrative Kohärenz zu Acta ausmachen. Die angenommene redaktionelle Erweiterung des Römerbrieftextes erstreckt sich thematisch also auch auf die sekundären Zusätze derjenigen Briefe, die bereits Teil der 10-Briefe-Sammlung sind (Gal 3), ebenso auf die pseudepigra‐ phen Texte der 14-Briefe-Sammlung (2 Tim und Hebr) 253 und geht möglicher‐ 221 6.5. Der Römerbriefschluss - ein neues Lösungsmodell rende Erkenntnisse bzgl. der Genese des Corpus Paulinum bzw. des gesamten NT liefern könnte; vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 264. weise sogar über das Corpus Paulinum hinaus (Acta). Dies ist unbedingt in wei‐ terführenden Studien zu vertiefen, da es sowohl für die Entstehungsgeschichte als auch das Verständnis des Neuen Testaments respektive der christlichen Bibel von großer Bedeutung ist. 222 VI. Der Schluss des Römerbriefes VII. Ergebnis und Ausblick Die vorliegende Arbeit hatte eine auf den ersten Blick recht eng begrenzte Fra‐ gestellung: die Erforschung der Textgeschichte des Briefs des Paulus an die Römer. Daran anschließend konnte sie allerdings Forschungsperspektiven auf‐ zeigen, die nicht nur für die Textkritik und Textgeschichte des Römerbriefes, sondern auch für die Paulusinterpretation und die Theologie des Neuen Testa‐ ments sowie die Geschichte des frühen Christentums bedeutsam sind. Dies soll im Folgenden genauer erläutert und begründet werden. Die Studie basierte auf der heuristischen Grundannahme, dass die kürzere Version des Römerbriefes, wie sie in der von Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe überliefert ist, der längeren Version, d.h. der der 14-Briefe-Sammlung des Neuen Testaments, vorausgeht. Diese An‐ nahme bestätigte sich, denn es konnte gezeigt werden, dass die Textdifferenzen zwischen den Fassungen des Römerbriefes in den beiden Textsammlungen plau‐ sibler als redaktionelle Erweiterungen denn als Streichungen zu verstehen sind. Für die Erforschung und Rekonstruktion des marcionitischen Römerbriefes sowie dessen textgeschichtlicher und -kritischer Einordnung innerhalb der Ge‐ nese des Corpus Paulinum konnten die Untersuchungen erstens zeigen, dass er keine häretische Verkürzung des vorliegenden längeren (katholischen) Textes ist. So wurde deutlich, dass keine der in den bisherigen Studien erkannten (um‐ fangreichen) Textdifferenzen zwischen den beiden genannten, ältesten Paulus‐ briefsammlungen nur für den von Marcion verwendeten Römerbrieftext be‐ zeugt sind. Stattdessen hat dieser kürzere Text auch in den paratextuellen Elementen zahlreicher lateinischer Kodizes Spuren hinterlassen, die bisher un‐ entdeckt geblieben sind. Sog. Marcionitische Singulärlesarten (also solche, die allein im „marcionitischen“ Text auftauchen) sind demnach nicht mehr auszu‐ machen - zumindest was die umfangreichen Textdifferenzen betrifft, auf die sich der Fokus der vorliegenden Studie richtete. Folglich müssten weiterfüh‐ rende Untersuchungen auch für die übrigen, weniger umfangreichen Textdif‐ ferenzen durchgeführt werden. Diese Einsicht ist für die Plausibilisierung der Ausgangsthese von kaum zu überschätzender Bedeutung, denn es verfestigt sich dadurch die bereits in den jüngsten Rekonstruktionen des marcionitischen Apostolos festzustellende Tendenz, Marcions eigenen Beitrag bei der Herstel‐ lung „seiner“ Texte für deutlich geringer einzuschätzen, als dies die Marcion‐ forschung des beginnenden 20. Jahrhunderts (v. a. H A R NA C K ) noch tat. Die vor‐ 1 Ein solches Konflationsmodell entwirft auch F L E M M I N G , Textgeschichte des Epheser‐ briefes, S. 139f sowie ansatzweise D A H L , Origin of the Earliest Prologues, S. 253. liegende Studie zeichnet diese Entwicklungslinie gleichsam weiter und kommt zu dem Schluss, dass letztlich keine der in Marcions Text bezeugten Textdiffe‐ renzen (zwingend) auf Marcion selbst zurückzuführen ist, sondern dass die je‐ weiligen Varianten eben nur als durch ihn bezeugt, nicht aber durch ihn erzeugt, einzuschätzen sind. Zweitens konnte gezeigt werden, dass die verschiedenen, mutmaßlichen Er‐ weiterungen des kurzen Textes inhaltlich kohärent sind. Es lässt sich also auf ein redaktionelles Konzept schließen. Die Annahme intertextueller, redaktioneller Bearbeitungen von Texten erfordert notwendigerweise die Rückbindung dieser an überlieferungsgeschichtliche Textentstehungsmodelle. Die Anbin‐ dung der textkritischen Forschungen an plausible überlieferungsgeschichtliche Modelle ist eine methodische Herausforderung, vor der die gegenwärtige Text‐ kritik nicht die Augen verschließen sollte. Ein solches editionsgeschichtliches Überlieferungsmodell, welches mit bewussten redaktionellen Eingriffen rechnet, die sich auf mehrere Texte bzw. Textcorpora erstrecken, ist für die neu‐ testamentliche Textforschung unumgänglich und verspricht neue Einsichten. Für die Paulusbriefe geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass zwei klar un‐ terscheidbare Sammlungen existierten. Die zahlreichen Textvarianten, die in den Handschriften bezeugt sind, lassen sich in großer Zahl durch Konflationen dieser beiden Ausgaben erklären. 1 Es wird also deutlich: eine allein schreibfeh‐ lerorientierte Methodik (die also nur mit nicht-intentionalen Textverände‐ rungen rechnet) greift zu kurz und wird den komplexen Problemen kaum ge‐ recht. Noch wichtiger ist allerdings die folgende Erkenntnis: Die Suche nach der ältesten Textform des Römerbriefes führt zum Römerbrief der 10-Briefe-Samm‐ lung, nicht aber zu dem kanonischen Römerbrief (als Teil der 14-Briefe-Samm‐ lung). Für die Frage, wie ein solches überlieferungsgeschichtliches Szenario ausge‐ sehen haben könnte, konnte die vorliegende Studie drittens Hinweise heraus‐ arbeiten und Indizien liefern. Es wurde wahrscheinlich gemacht, dass das be‐ sagte redaktionelle Konzept, welches sich aus den Textänderungen ergibt, im Rahmen der Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung zum Tragen kommt. So weisen die redaktionellen Textpassagen des Römerbriefes diverse Berührungspunkte zu anderen potentiellen textlichen Erweiterungen (also mutmaßlich sekundären Passagen) innerhalb des Corpus Paulinum auf. Diese finden sich sowohl im Epheserbrief, der als Brief an die Laodizener bereits Teil der 10-Briefe-Sammlung war, als auch in denjenigen Texten, die in dieser 224 VII. Ergebnis und Ausblick Sammlung noch gar nicht vorhanden waren (z. B. der Hebräerbrief sowie die Pastoralbriefe). Die redaktionellen Erweiterungen beschränken sich allerdings nicht nur auf die Paulusbriefe, sondern erstrecken sich auch auf andere Teilsammlungen des Neuen Testaments. So konnte einerseits eine große inhaltliche Nähe zur Apos‐ telgeschichte ausgemacht werden. Andererseits finden sich die thematischen Schwerpunkte der interpolierten Passagen teilweise auch in den sekundären Abschnitten der lukanischen Redaktion des von Marcion bezeugten Evange‐ liums wieder. Ausgehend von den jüngsten Rekonstruktionen dieses Evange‐ liums (R O TH , K LIN G HA R D T ) sowie des Apostolos (S C HMID ) wären daher weiter‐ führende Untersuchungen wünschenswert, in denen eine elaborierte Analyse der redaktionellen Bearbeitung der Texte der sogenannten marcionitischen Bibel geleistet wird. V.a der Galaterbrief stellt hier ein Reservoir dar, das unbe‐ dingt noch ausgeleuchtet und mit den in der vorliegenden Studie gemachten Erkenntnissen in Beziehung gesetzt werden muss. Die aus den Beobachtungen gewonnenen Einsichten führen letztlich zu fol‐ gendem Fazit: Der Römerbrief, wie er in den heutigen Druckausgaben des Neuen Testaments erscheint, ist ein im großen Umfang interpolierter Text des zweiten Jahrhunderts. Den Grundstock des Textes bildet der Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe, u. a. bezeugt durch den marcionitischen Apostolos. Die Interpolationen belaufen sich (mindestens) auf die folgenden drei größeren Textabschnitte: Rm 4, Rm 9-11 und Rm 15 f. Daneben deuten sich al‐ lerdings auch zahlreiche weitere Textänderungen kleineren Umfangs an, für die - vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit - in nach‐ folgenden Studien unbedingt untersucht werden sollte, in welchem Verhältnis sie zu den hier analysierten Textpassagen stehen. V.a. ist zu fragen, ob und wie sich diese kleineren Änderungen in das redaktionelle Bearbeitungskonzept ein‐ fügen. Die theologische Bedeutung der sekundären Passagen wurde en détail bereits am Ende der jeweiligen Unterkapitel beschrieben. Deren grundsätzlicher inhaltlicher Schwerpunkt war die Betonung der jüdischen Wurzeln des Chris‐ tentums und wurde insbesondere anhand elaborierter Ausführungen zu den Topoi Verheißungen und Abraham realisiert. Um zu diesen Einsichten zu gelangen, spielte die Sichtung und Auswertung diverser lateinischer Paratexte eine entscheidende Rolle. Diese Paratexte finden sich in prominenten mittelalterlichen lateinischen Bibelhandschriften wie dem Codex Amiatinus. Bisher spielten sie in der neutestamentlichen Textkritik al‐ lerdings kaum eine Rolle. Wie der Terminus paratextuelle Beigaben verdeutlicht, wurden sie in der Regel nur als schmückendes „Beiwerk“ des Buches - wie es G E N E TT E definiert - verstanden. Tatsächlich sind die hier untersuchten Paratexte 225 VII. Ergebnis und Ausblick als metatextuelle Beschreibungen der Handschriftentexte zu verstehen. Die me‐ thodische Herangehensweise des Instituts für Neutestamentliche Textforschung (INTF) in Münster, sich a) vornehmlich auf die griechische Handschriftentradi‐ tion zu beschränken (bzw. nur darin bezeugte Varianten in den Apparaten ab‐ zudrucken) und b) paratextuelle Elemente im Zuge der Arbeit an der Editio Cri‐ tica Maior (ECM) gar nicht auszuwerten, sollte also zukünftig erweitert werden. Paratextuellen Elementen muss eine ähnliche textkritische Wertigkeit zuge‐ sprochen werden wie den Texten der Handschriften selbst. Dass die Untersu‐ chung dieser Paratexte von großer Wichtigkeit und für die Lösung einiger zentraler textkritischer Problemfelder des Römerbriefes unverzichtbar ist, dafür konnte die vorliegende Studie wichtige Argumente liefern. Die Konsequenzen für die eingangs des Kapitels genannten Forschungsfelder wurden in der eben erfolgten Erläuterung der Ergebnisse teilweise bereits an‐ gedeutet. Sie sollen nun aber noch einmal kompakt zusammengefasst werden: 1. Für die Paulusinterpretation ist die Existenz eines vorkanonischen Rö‐ merbriefes von Bedeutung, dessen biographische Einordnung wegen des Fehlens der beiden letzten Kapitel neu gedacht und begründet sein muss. Dabei handelt es sich um einen Römerbrief, der theologisch weitgehend ohne den Rekurs auf die jüdischen Verheißungen auskommt, ohne Abraham und ohne alttestamentliche Schriftbeweise. Der vorkanonische Paulus ist also nicht der Paulus des Neuen Testaments. Letzteres ist frei‐ lich keine neue Einsicht, doch besteht nun die Möglichkeit, mithilfe der heuristischen Annahme der kanonischen Redaktion in den Paulusbriefen ältere Elemente zu entdecken, also literarkritisch zu arbeiten. Freilich handelt es sich bei diesen älteren Elementen nicht notwendigerweise um die ältesten Elemente der Paulusbriefe. Denn auch 10 Rm ist nicht mit dem Autograph des Römerbriefes gleichzusetzen. Für die historische Paulus‐ forschung sind die Ergebnisse der Arbeit insofern relevant, als dass auf dem eingeschlagenen Weg zumindest deutlich werden kann, welche Ele‐ mente der „paulinischen Theologie“ sicher nicht auf Paulus zurückgehen. 2. Was man also auf der einen Seite für das Paulusverständnis verliert, ge‐ winnt man auf der anderen Seite für das Verständnis des Neuen Testa‐ ments. Denn die durch den Vergleich identifizierbaren redaktionellen Elemente in 14 Rm lassen sich auch außerhalb des Römerbriefes (z. B. in Hebr bzw. 2 Tim sowie über das Corpus Paulinum hinausgehend in Acta bzw. 1 Pe) nachweisen. Es handelt sich also um Teile eines redaktionellen Konzepts. Damit wird das Verständnis des Neuen Testaments als ein Text (und nicht als zufällig entstandene Textsammlung) um einiges plausibler. 226 VII. Ergebnis und Ausblick Weil das Ganze nicht nur in diesem Fall mehr ist als die Summe seiner Teile, sind diese Elemente des redaktionellen Konzepts auch gleichzeitig Hilfen für eine neues Verständnis etwa des Hebräerbriefes oder des ersten Petrusbriefes. Je genauer diese Redaktionsschicht zukünftig erfasst werden kann, desto deutlicher wird erkennbar, dass die nächsten zeitli‐ chen und theologischen Analogien in der Mitte des 2. Jahrhunderts liegen könnten (etwa bei Justin und Irenäus). Das theologische Gewicht dieser Erkenntnis ist gewaltig und eröffnet die Notwendigkeit weiterführender Untersuchungen. 3. Für die Marcionforschung, insbesondere für die Erforschung des Textes der marcionitischen Bibel, ergibt sich zukünftig die Notwendigkeit, die paratextuellen Beigaben (v. a. der lateinischen Bibelhandschriften) in die Textrekonstruktionen einzubeziehen. Denn insofern dieser paratextuelle Befund nämlich mit der metatextuellen Bezeugung für den marcioniti‐ schen Text (durch die Häresiologen) korrespondiert, stellt dies den dor‐ tigen Erweis auf festeres Fundament. Außerdem kann bei unkonkreten Aussagen der Häresiologen ein klareres Bild hinsichtlich der Textgestalt des von Marcion bezeugten Textes entstehen. 4. Für die Methodik der neutestamentlichen Textkritik stellen die Ergeb‐ nisse eine besonders große Herausforderung dar. Denn allen Weiterfüh‐ rungen und Neuerungen zum Trotz (wie der CBGM), ist hier eine grund‐ legende Erweiterung bzw. eine Neuausrichtung einzuleiten. Dies betrifft einerseits die Auswahl der auszuwertenden Zeugen: sowohl die lateini‐ sche Überlieferung als auch die paratextuellen Beigaben sind unbedingt mit in die Arbeit an den kritischen Ausgaben des Neuen Testaments (ein‐ schließlich der Editio Critica Maior) einzubeziehen. Andererseits zeigt sich, dass eben nicht der älteste Text, sondern der „kanonische“ Text in diese Ausgaben gehört. Die Arbeit konnte Wege und Möglichkeiten auf‐ weisen, wie man zwischen diesen beiden Textgrößen hinreichend valide differenzieren kann. Für den neutestamentlichen Römerbrief bedeuten all diese Einsichten also nicht, dass der Text des Briefes geändert werden müsste. Denn der Römerbrief der 10-Briefe-Ausgabe ist eben gar nicht derjenige Text, der Teil des Neuen Testa‐ ments ist. Gleichwohl soll betont werden, dass es sich beim Römerbrief in seiner heute bekannten bzw. rekonstruierten Form um einen Text handelt, der in nicht unwesentlichem Umfang redaktionell überarbeitet ist und der damit inhaltlich ganz andere Schwerpunkte aufweist als seine deutlich knappere Vorlage ( 10 Rm). Dies wurde in ähnlicher Form schon 1845 von B A U R erkannt, der hinsichtlich der letzten Kapitel des Römerbriefes zwar etliche richtige Beobachtungen 227 VII. Ergebnis und Ausblick 2 B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 406 [Hervorhebung AG]. machte, sich bei seinen Schlussfolgerungen aber doch sehr weit aus dem Fenster lehnte: „Es kann somit die Kritik der beiden letzten Kapitel nur mit dem Resultat geschlossen werden, dass sie einem Pauliner angehören, welcher im Geiste des Verfassers der Apostelgeschichte dem scharfen Antijudaismus des Apostels zu Gunsten der Judaisten und im Interesse der Einigung ein milderndes und begütigendes Gegengewicht ent‐ gegensetzen wollte.“ 2 Darf Paulus also als Antijudaist bezeichnet werden? Lassen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit diesen Schluss zu? Wenn es in den sekundären Texten - wie eben gesagt wurde - inhaltlich v. a. darum ging, die jüdischen Wurzeln des Christentums zu betonen, waren die kürzeren, älteren Texte, wie sie in der 10-Briefe-Sammlung bezeugt sind, denn tatsächlich „antijudaistisch“ ausge‐ richtet? Diesem Verdacht muss aus unterschiedlichen Gründen ausdrücklich widersprochen werden. Der Tübinger Theologe B A U R hatte insofern Recht, als die besagten Kapitel mit großer Wahrscheinlichkeit nicht paulinisch sind. Und ja, die Passagen sind durchaus im Geiste des Verfassers der Apostelgeschichte verfasst, denn die Texte weisen ein gemeinsames inhaltliches Interesse auf. Wi‐ dersprochen werden muss allerdings dem Vorwurf des Antijudaismus. Zunächst ist in diesem Kontext festzuhalten, dass eine solche Behauptung, Paulus sei Antijudaist, grundsätzlich kaum zu verifizieren ist. Denn die neutes‐ tamentlichen Schriften zeichnen ganz verschiedene Paulusbilder. Tatsächlich ist die Theologie der 10-Briefe-Ausgabe der paulinischen Briefe bei weitem noch nicht endgültig erfasst. S C HMID rekonstruiert zwar ihren Text in verlässlicher Qualität, allerdings geht er implizit von falschen Grundannahmen aus und nimmt weiterhin eine marcionitische Redaktion des Textes an. Von einer solchen ist allerdings nicht mehr auszugehen, wie die vorliegende Studie unterstrichen hat. Stattdessen ist ein anderes überlieferungsgeschichtliches Modell vorzu‐ ziehen, welches unbedingt weiter verfolgt werden muss. Gleichwohl wurde im Verlauf dieser Arbeit deutlich, dass eher Aussagen über die Theologie der Re‐ daktion denn über die theologische Ausrichtung der 10-Briefe-Sammlung zu machen sind. Die 14-Briefe-Ausgabe bzw. das Neue Testament als Ganzes grenzt sich von einer tatsächlich nachweisbaren radikalen Paulustradition bzw. Aus‐ legungstradition ab, die neben den bekannten Paulusbriefausgaben existierte (wie sie z. B. durch den Barnabasbrief belegt ist bzw. dort anklingt) und setzt diesen ein Gegengewicht entgegen. Zukünftige Studien sollten daher anstreben, differenziertere Aussagen über diese Redaktion zu gewinnen, auch um ihren 228 VII. Ergebnis und Ausblick 3 Insgesamt neun Mal; vgl. R Y D E R , Authorship, S. 187. Zur allgemeinen Fragestellung vgl. z. B. D O C H H O R N , Kirche und das Alte Testament, insbesondere S. 69ff. 4 Für die Apostelgeschichte konnte L Ü K E , Narrative Kohärenz, S. 261 bereits ganz Ähn‐ liches feststellen, indem er folgendes Fazit formuliert: „Ein Zweck der Apostelge‐ schichte besteht darin, für den wohlmeinenden Leser eine markionitische Interpreta‐ tion der Zehnbriefesammlung, die ein endgültiges Zerwürfnis zwischen Paulus und den Jerusalemern propagiert, zu verunmöglichen. Dies wird u. a. damit erreicht, dass in Acta der antiochenische Streit und die galatische Krise, die der Galaterbrief bezeugt, zu einem Zwischenfall transformiert wird. Der antiochenische Streit wird auf dem ‚Apostel‐ konzil‘ in Act 15 geklärt, und das Aposteldekret sorgt in den Gemeinden der Provinz Galatia für Ruhe und Frieden. Paulus, Petrus und Jakobus sind theologisch und mensch‐ lich auf einer Wellenlänge.“ kirchengeschichtlichen Beitrag sichtbar zu machen. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren: Paulus war weder eine Art jüdischer Schriftgelehrter (wie ihn die sekundär ergänzten Passagen der 14-Briefe-Sammlung darstellen) noch war er Antijudaist - ansonsten hätte man den Text der 10-Briefe-Ausgabe gar nicht benutzen und zum Neuen Testament erweitern können. So belegt Tertullians Bezeugung des McnRm, dass auch in diesem an vielen Stellen auf das Alte Tes‐ tament Bezug genommen wird. 3 Es zeigt sich also, dass auch der Paulus der 10-Briefe-Sammlung die jüdische Tradition keinesfalls grundsätzlich ablehnt. Indessen ist sehr wohl festzuhalten, dass deren Wichtigkeit durch den Redak‐ tionsschritt von 10 Rm zu 14 Rm doch in einem ganz anderen Ausmaß betont wird. 4 Dieses Festhalten der christlichen Religion an ihren jüdischen Wurzeln, insbesondere an ihren textlichen Traditionen, ist ein Aspekt, der das apostoli‐ sche Zeitalter nicht unwesentlich beeinflusst, der sogar als eine theologische Richtungsentscheidung begriffen werden kann. Dass in diesem Fall v. a. Ver‐ heißungen (aber keine konkreten Gebote) sowie die Erfüllung der Heilsge‐ schichte (aber keine konkreten Beziehungen zu Juden) in den Vordergrund ge‐ rückt wurden, könnte möglicherweise auch einen gewissen Beitrag zur Entwicklung des religiösen Antijudaismus geleistet haben. 229 VII. Ergebnis und Ausblick Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Codex Amiatinus (Vg A); Biblioteca Medicea Laurenziana, Amiat. 1, f. 941r Bildquelle: http: / / mss.bmlonline.it/ s.aspx? Id=AWOS3h2-I1A4r7GxMd aR&c=Biblia%20Sacra#/ oro/ 1880 Abb. 2: Codex Claromontanus (Vg d = VL 75); Bibliothèque nationale de France, Grec. 107, f. 25r Bildquelle: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b84683111/ f55.image Abb. 3: „Codex Regalis“, The British Library, Royal MS 1 E VIII, f. 175v, © Bri‐ tish Library Board Bildquelle: http: / / www.bl.uk/ manuscripts/ Viewer.aspx? ref=royal_ms _1_e_viii_f175v Abb. 4-6: Codex Amiatinus (Vg A); Biblioteca Medicea Laurenziana, Amiat. 1, f. 940r, 940v und 941r Bildquelle: http: / / mss.bmlonline.it/ s.aspx? Id=AWOS3h2-I1A4r7GxMd aR&c=Biblia%20Sacra#/ oro/ 1878 Abb. 7: „Codex Regalis“; The British Library, Royal MS 1 E VIII, f. 176v, © Bri‐ tish Library Board Bildquelle: http: / / www.bl.uk/ manuscripts/ Viewer.aspx? ref=royal_ms _1_e_viii_f176v Abb. 8: Codex Vaticanus (B 02); Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. gr. 1209, p. 1445 Bildquelle: https: / / digi.vatlib.it/ view/ MSS_Vat.gr.1209 Abb. 9: Codex Boernerianus (G 012); SLUB Dresden, Mscr.Dresd.A.145.b, f. 1v Bildquelle: https: / / digital.slub-dresden.de/ werkansicht/ dlf/ 2966/ 12/ Abb. 10: Stemma Aland Bildquelle: Lampe, Zur Textgeschichte des Römerbriefes, in: Novum Testamentum 27/ 3 (1985), S. 273 Abb. 11: Stemma Lampe Bildquelle: Lampe, Zur Textgeschichte des Römerbriefes, in: Novum Testamentum 27/ 3 (1985), S. 275 Abb. 12: Minuskel 919, Real Biblioteca del Monasterio de El Escorial, Ψ. III. 06, p. 2860 Bildquelle: NTVMR, ID 30919 Literaturverzeichnis 1. 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(1,18) IIII (138) Wahrheit sind (1,18) und den bekannten Gott verlassen und der Schöpfung dienen. 1,18 1,18 erweitert in KA A V (123) 1,26 III (331) Über die ungerechten Richter: was sie anderen verboten VI (412) Über diese Richter, welche die Untaten, die sie anderen verboten Umkehr ruft (2,4 (2,5) Gesetzes (2,25) Weise den höchsten Gott ehren und Gleichmut wahren, nicht schaden möge. 2,1 2,1 in KA A erweitert und zu einer Sektion zusammen gefasst IIII (81) Übertretung des Gesetzes. (2,25) 2,14 V (116) Über den Juden: was er VII (55) 3,1 3,1 nahezu identisch VIII (61) die, die meinen, dass wir Schlechtes tun, damit es zu Gutem wird. (3,8) 3,5 VI (229) sind. (3,9) VIIII (229) (3,9) (3,22) 3,9 3,9 erweitert in KA A 1 W / W , The Oxford Vulgate, S. 44-60. 2 Intervallgröße: Anzahl der Wörter im Bezugstext, bis zu der Stelle, auf die das nachfolgende Capitulum rekurriert. Zugrunde liegt der Text der Vulgata. VII (432) (3,28) X (432) ohne Werke. (3,28) 3,27 3,27 erweitert in KA A VIII (195) (5,2) XI (57) (5,2) (5,3) 4,9 ! 5,1 erweitert in KA A XII (138) 5,6 - VIIII (189) XIII (73) und zu jenen, Übertretung Adams. (5,14) 5,1 ! 5,14 erweitert in KA A XIIII (116) menschlichen Geschlechts mit ihm, welches in gleicher Weise zum vertrauen, erheben sie sich zum Leben und zu ewiger Gnade. (5,17) 5,17 - X (166) getauft werden. (6,3) XV (166) werden (6,3), wiedergeboren sind (6,4) und durch die Auferstehung unseres errn Jesus Christus. 5,12 ! 6,3 erweitert in KA A XI 3 (151) unter der Gnade sind. (6,14) XVI (151) der Gnade sind, und dass sie befreit sind von der Knechtschaft der (6,14) und das sie nun Knechte der Gerechtigkeit Gottes sind. (6,18) 6,1 ! 6,12 erweitert in KA A XII (245) (7,1) XVII (245) solange er lebt durch die Fessel des Gesetzes gebunden (7,1), (7,4) 6,12 ! 7,1 erweitert in KA A XIII (291) Über die Untersuchung fleischlicher Werke und des Geistes. (7,14) XVIII (291) Über die Untersuchung des Fleischs und fleischlicher Werke und des Geistes (7,18) 7,1 ! 7,14 erweitert in KA A XIIII (150) sondern des Geistes. (8,9) XIX (150) sondern des Geistes (8,9), und dass sie nicht den Geist der Furcht empfangen, sondern den der Aufnahme als Söhne Gottes. (8,14) 7,25b ! 8,6 erweitert in KA A XV (160) XX (160) Über die Unterscheidung des Leidens, des Über die Unterscheidung des Leidens, des (8,21) 8,18 8,15 erweitert in KA A 3 r, die mit XVI (193) Sohn Gottes. (8,29) XXI (47) Gottes. (8,29) 8,28 8,24 identisch XXII (51) (8,32) 8,30 - XXIII (95) Über die Unmöglichkeit der Trennung des Christenmenschen von (8,35) 8,33 - XVII (222) Über das Zeugnis des Paulus von Schmerz und Traurigkeit. (9,2) XXIIII (89) Über das Zeugnis des Paulus von Schmerz (9,2) und von der Traurigkeit (9,3) 9,1 9,1 erweitert in KA A XXV (133) Über die zwei Völker. (9,8) 9,6 - XVIII (183) Über den Willen Gottes: wen er will, verstockt er, wem er will, erbarmt er sich. (9,18) XXVI (38) Über den Willen Gottes, dass er, wen er will, verstockt und, wem er will, sich erbarmt. (9,18) 9,16 9,14 erweitert in KA A XXVII (19) Über den Vergleich von Ton und Töpfer. (9,21) 9,18 - XXVIII (77) 9,22 - XXIX (49) -29) 9,26 - XIX (372) XXX (74) Über die die Gerechtigkeit vom Glauben her ergreifen (9,30), des Anstoßes. (9,32) 11,1 ! 4 9,30 erweitert in KA A XXXI (33) (10,2), 10,1 - XXXII (133) Über die Gerechtigkeit des Gesetzes (10,5) und die Gerechtigkeit des Glaubens. (10,6) 10,5 - XXXIII (132) Über den Unglauben der Juden (10,14) und den Glauben der 10,14 - XX (159) (11,1) XXXIIII (93) 11,11 ! 11,1 identisch 4 ingetragen ist, nicht durch Absatz und großen, fett geschriebenen Anfangsbuchstaben besonders gekennzeichnet ist. XXXV (66) Über die Verstockung der Juden. (11,7) 11,7 - XXI (246) Über die Vergehen der Juden (11,11) - XXXVI (85) Über das Vergehen der Juden (11,11) - zukommt . (11,12) 11,25 ! 11,11 erweitert in KA A XXXVII (161) mit einem Ölbaum zu erheben. (11,18) 11,13 - XXII (136) der Juden. (11,26) XXXVIII (87) aller Juden. (11,26) 12,1 ! 11,25 nahezu identisch XXXIX (49) Über die Unmöglichkeit, die Geheimnisse Gottes zu kennen. 11,33 - XXIII (383) XL (41) Gott hingeben. (12,1) 13,1 ! 12,1 identisch XLI (29) 12,3 - XLII (204) man sich mit denen, die fröhlich sind, freut und mit denen, die - Sich-Sorgen-um- 12,4 - XLIII (109) Über die Unterordnung (13,1) 13,1 - XXIIII (347) Schuldigen. (13,7) XLIIII (63) 14,19 ! 13,7 nahezu identisch XLV (54) Über die Wachsamkeit und die Übungen im Glauben und die 13,11 - XLVI (111) bestimmter Tage. 13,14 - XLVII (25) 14,7 - XLVIII (73) nicht richten darf essend den Nichtessenden und nicht essend den 14,9 - XLVIIII (21) Über das, was nicht unrein ist außer demjenigen, der glaubt, dass es unrein ist (14,14) 14,14 - XXV (141) Über die Gefahr, wenn man seinen Bruder durch seine Speise L (141) Über die Gefahr, wenn man seinen Bruder durch seine Speise und dass es im Reich Gottes nicht Speise und Trank Geist. (14,17) 15,1 ! 14,15 erweitert in KA A XXVI (20) Passion. (16,25) LI (50) 15,14 ! 15,4 ! in KA A zu einer Sektion zusammen gefasst XXVII (30) (16,26) 15,30 ! XXVIII Fehlt! XXVIIII Der Gruß -16) Fehlt! A NHANG II: Die altlateinischen Prologe 5 Prol Rm domini nostri Iesu Christi in legem et Prol 1Kor subversi multifarie a falsis apostolis, quidam a philosophiae verbosa eloquentia, alii a Prol 2Kor Post actam paenitentiam consolatorias scribit eis a Troade et conlaudans eos hortatur ad meliora. Prol Gal discessum eius temptati sunt a falsis apostolis, ut in legem et circumcisionem Prol Eph apostolus scribens eis ab urbe Roma de carcere per Tychicum diaconum. Prol Phil accepto verbo veritatis persteterunt in fide nec Prol Kol pseudoapostolis nec ad hos accessit ipse apostolus, sed et hos per epistulam recorrigit. Audierant enim Prol 1Thess in Christo Iesu, qui accepto verbo veritatis persteterunt in fide etiam in persecutione civium suorum, praeterea nee receperunt ea Prol 2Thess Ad Thessalonicenses secundam scribit et notum facit eis de temporibus novissimis et de adversarii detectione. Scribit ab Athenis. Prol 1Tim Timotheum instruit et docet de ordinatione episcopatus et diaconii et omnis ecclesiasticae disciplinae. Prol 2Tim Item Timotheo scribit de exhortatione martyrii et omnis regulae veritatis et quid futurum sit temporibus novissimis et de sua passione. Prol Tit Titum commonefacit et instruit de constitutione presbyterii et de spiritali conversatione et hereticis vitandis qui in scripturis Iudaicis credunt. Prol Phlm Philemoni familiares litteras facit pro Onesimo servo eius. Scribit autem ei a Roma de carcere. 5 C , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, S. 37ff. Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ) begründet von Klaus Berger, François Vouga, Michael Wolter und Dieter Zeller herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ theologie-kat/ theologiereihen-kat/ tanz/ ? ___store=narr_starter_de Band 31 Dieter Massa Verstehensbedingungen von Gleichnissen Prozesse und Voraussetzungen der Rezeption aus kognitiver Sicht 1999, 389 Seiten, €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-2823-6 Band 32 Hanna Roose Das Zeugnis Jesu Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes 1999, 252 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2824-3 Band 33 Gabriele Faßbeck Der Tempel der Christen Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelkonzepts im frühen Christentum 2000, XII, 317 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2825-0 Band 34 Holger Sonntag NOMOΣ ΣΩTHP Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext 2000, XII, 376 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2826-7 Band 35 Markus Sasse Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes 2001, XIV, 337 Seiten, €[D] 43,- ISBN 978-3-7720-2827-4 Band 36 Michael Labahn/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft Vorträge auf der ersten Konferenz der European Association for Biblestudies 2002, VIII, 286 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2828-1 Band 37 Johannes Krug Die Kraft des Schwachen Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheorie 2001, 350 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2829-8 Band 38 Byung-Mo Kim Die paulinische Kollekte 2002, 220 Seiten, €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-2830-4 Band 39 Vincenzo Petracca Gott oder das Geld Die Besitzethik des Lukas 2003, XIV, 410 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2831-1 Band 40 Jürg Buchegger Erneuerung des Menschen Exegetische Studien zu Paulus 2003, XIV, 409 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2832-8 Band 41 Claudia Losekam Die Sünde der Engel Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten 2010, VI, 407 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8001-2 Band 42 Stefan Alkier/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von C. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments 2003, 540 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8007-4 Band 43 Alexander Mittelstaedt Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerks 2005, 271 Seiten, €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8140-8 Band 44 Anja Cornils Vom Geist Gottes erzählen Analysen zur Apostelgeschichte 2006, VIII, 283 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8156-9 Band 45 Joel White Die Erstlingsgabe im Neuen Testament 2007, 374 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8210-8 Band 46 Jörg Michael Bohnet Die Berichte über die Himmelfahrt Jesu 2015, ca. 430 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8216-0 Band 47 Renate Banschbach Eggen Gleichnis, Allegorie, Metapher Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung 2007, XII, 312 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-8238-2 Band 48 Frank Holzbrecher Paulus und der historische Jesus Darstellung und Analyse der bisherigen Forschungsgeschichte 2007, X, 200 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8242-9 Band 49 Armin D. Baum Der mündliche Faktor Analogien zur synoptischen Frage aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen 2008, XVIII, 526 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8266-5 Band 50 Christian Kurzewitz Weisheit und Tod Die Ätiologie des Todes in der Sapientia Salomonis 2010, 194 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8349-5 Band 51 Sascha Flüchter Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit Auf dem Weg zu einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der neutestamentlichen Literatur 2010, XIV, 385 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8373-0 Band 52 Philipp Kurowski Der menschliche Gott aus Levi und Juda Die Testamente der zwölf Patriarchen als Quelle judenchristlicher Theologie 2010, VI, 195 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8384-6 Band 53 Jochen Wagner Die Anfänge des Amtes in der Kirche Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur 2011, 358 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8411-9 Band 54 Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums 2011, 370 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8419-5 Band 55 Soham Al-Suadi Essen als Christusgläubige Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte 2011, 347 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8421-8 Band 56 Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum Meals and Religious Identity in Early Christianity 2012, 372 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8446-1 Band 57 Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics A Contribution to the Discussion Concerning the Authenticity of Jesus’ Words in the Fourth Gospel 2012, XIV, 491 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8457-7 Band 58 Wichard von Heyden Doketismus und Inkarnation Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie 2014, XIV, 567 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8524-6 Band 59 Julian Petkov Altslavische Eschatologie Texte und Studien zur apokalyptischen Literatur in kirchenslavischer Überlieferung 2015, 495 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8531-4 Band 60 Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung | Band II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten 2020, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, 2 Bände, XXVIII, 1480 Seiten, €[D] 218,- ISBN 978-3-7720-8742-4 Band 61 Jan Heilmann/ Matthias Klinghardt (Hrsg.) Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert 2018, 322 Seiten, €[D] 118,- ISBN 978-3-7720-8640-3 Band 62 Nathanael Lüke Über die narrative Kohärenz zwischen Apostelgeschichte und Paulusbriefen 2019, 302 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8677-9 Band 63 Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund 2020, 254 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8709-7 Band 64 Viktor Löwen Die zwölf Jünger Jesu Exegetische Untersuchungen zum Kreis der zwölf Jünger im Matthäusevangelium 2021, ca. 700 Seiten, €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8724-0 Band 65 Jan-A. Bühner Jesus und die himmlische Welt Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie 2020, 490 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8725-7 ISBN 978-3-7720-8709-7 www.narr.de T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER T A N Z T A N Z Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das „Abrahamkapitel“ (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schri ensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts. Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs 38709_Umschlag.indd 1,3 38709_Umschlag.indd 1,3 16.11.2020 16: 35: 27 16.11.2020 16: 35: 27