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Mehrsprachigkeit und das Politische

2020
978-3-7720-5712-0
A. Francke Verlag 
Marko Pajevic

Dieser Band vermittelt Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Der besondere Schwerpunkt liegt auf der Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit und dem Politischen. Der politische Aspekt bleibt dabei nicht auf das politische Engagement der Autoren oder die erzählten politischen Hintergründe beschränkt, sondern das Politische des Literarischen selbst wird in dem Sinne miteinbezogen, dass der politische Raum durch kulturelle Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten. Mit Yoko Tawada, José FA Oliver, Christian Kracht, Peter Waterhouse, Barbi Markovic, Margeris Zarins und Gohar Markosjans sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.

L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur Mehrsprachigkeit und das Politische Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Mainz) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 3 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur Der Druck des Bandes erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg sowie der Universität Tartu. Die dem Band zugrundeliegende Forschung wurde unterstützt vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor sowie dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8712-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5712-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0140-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 15 39 59 79 99 121 145 165 183 Inhalt Marko Pajević Interferenzen. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Till Dembeck Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied (Herder, Alunāns, Barons) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liina Lukas Sprache und Schrift im baltischen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar Widerspiegelungen der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur am Beispiel von Georg Julius von Schultz-Bertram, Monika Hunnius und Edzard Schaper . . . . . . . . . . . . . . . . Natalia Blum-Barth Vom historischen Erbe zur selbstbestimmten Sprach(en)politik? Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . Aigi Heero Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper Rūta Eidukevičienė Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mārtiņš Laizāns Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity . . . . . Sandra Vlasta Literatur - grundsätzlich mehrsprachig! ? Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute, am Beispiel von Barbi Marković’ Superheldinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dinah Schöneich „Ich werde eingetaucht/ in vás“? Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 213 229 247 267 287 301 307 317 Tomás Espino Barrera José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur: von Häusern, Müttern und Muttersprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marko Pajević Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen . Hélène Thiérard Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“. Die politische Relevanz von poetischem Sprachdenken heute . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck „Die Sprache hat also ihren Ort.“ Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Navratil Sprach- und Weltalternativen: Mehrsprachigkeit als Ideologiekritik in kontrafaktischen Werken von Quentin Tarantino und Christian Kracht . . . Øyvind Rangøy Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Interferenzen. Einführung Marko Pajević Interferenz ist ein Begriff aus der Physik und bezeichnet die Änderung der Amplitude bei der Überlagerung von Wellen. Die verschiedenen Wellen durch‐ dringen einander und ihre Ausschwingungen treten miteinander in Beziehung und verstärken einander beziehungsweise gleichen einander aus. Es ist ein Phänomen des Zwischen, inter, und der Gegenseitigkeit bei einem Zusammen‐ treffen. Sprache besteht aus Schallwellen und jedes Sprechen hat seinen eigenen Sprachfluss. Allerdings sollten wir uns dabei nicht die regelmäßig an den Strand schlagenden Wellen eines Meeres vorstellen, sondern eher das Fließen eines Flusses, also eine sich unablässig ändernde Form in Bewegung. Émile Benveniste hat auf diese vorplatonische Bedeutung des Wortes Rhythmus hingewiesen (Benveniste 1966) und Henri Meschonnic hat dies zur Grundlage seiner Rhythmustheorie gemacht (Meschonnic 1982), die nicht nur für die Sprach- und Literaturtheorie von großer Bedeutung ist, sondern sich als Poetik der Gesellschaft versteht, also unsere Sprachstrukturen mit unseren Denkstruk‐ turen gleichsetzt und somit auf unsere Vorstellungen von Welt schließen lässt. Wilhelm von Humboldt nannte Sprachen „Weltansichten“ (Humboldt IV: 27). Die Sprache, die wir sprechen, gibt uns die Perspektive auf die Welt. Sprache bestimmt unsere Beziehungen zur Welt und zu uns selbst. Dabei dürfen wir uns die Nationalsprachen nicht als Gedankengefängnisse denken, wir können durchaus individuell über die Sprachkonvention hinausdenken und tun dies im jeweiligen Sprechen immerzu (Trabant 2003: 277). Im Prinzip hat jedes Indivi‐ duum eine individuelle Sprache, geprägt durch die individuellen Erfahrungen und Assoziationen. Laut Humboldt gibt es letztlich genauso viele Weltansichten wie es Individuen gibt. Bis zu einem gewissen Grad jedoch ist unser Denken, das für Humboldt mit unserer Sprache gleichzusetzen ist, durch die jeweilige Nationalsprache mitgeprägt. Mehrsprachigkeit greift dementsprechend selbstverständlich in diese Welt‐ vorstellungsprozesse ein und lässt die Weltansichten überlappen, dabei kommt 1 z. B. Umberto Eco bei einem Vortrag auf dem Kongress der literarischen Übersetzung am 14. November 1993, in Arles, und viel zitiert. 2 Meschonnic (1999: 32) sagt, dass Europa in und aus der Übersetzung geboren wurde: „L’Europe est née de la traduction et dans la traduction.“ es zu Interferenzen. Verschiedene Weltansichten kommen miteinander ins Schwingen und beeinflussen einander, neue Schwingungen entstehen. Sprach‐ liche Interferenzen wirken kreativ. Anders als in der Physik, in der es lediglich eine Verstärkung oder eine Auslöschung der Amplitude gibt, entstehen bei sprachlichen Interferenzen unzählige kleine Schwingungsveränderungen, die jeweils die Perspektive auf die Dinge verschieben und erweitern. Eine erweiterte Perspektive auf die Welt aber ist eine größere Welt, ganz im Sinne von Ludwig Wittgensteins berühmtem Satz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1963: Satz 5.6) Mehrsprachigkeit ist eine Entgrenzung, eine Möglichkeit, neue Sichtweisen einzunehmen. Mehrsprachigkeit, es sei an dieser Stelle erneut betont, ist keineswegs die Ausnahme, sondern weltweit eher der Normalfall. Es gibt keinen Ort ohne Vermischung von Kulturen und Sprachen - und das auf verschiedensten Ebe‐ nen. Jede Sprache ist in sich mehrsprachig und hat sich im Austausch mit diversen anderen Sprachen entwickelt. Immer und überall haben Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen zusammengelebt oder Handel miteinan‐ der getrieben. Auch der geistige Austausch hat seit Urzeiten stattgefunden und ist geradezu die Grundlage aller kulturellen Entwicklung. Nicht umsonst wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sprache Europas (und nicht nur Europas) die Übersetzung ist. 1 Die grundlegenden Texte unserer Zivilisation sind Übersetzungen, 2 in Europas Fall die Bibel und die griechischen Philosophen, die nahezu von keinem Europäer im Original rezipiert werden. Die Vorstellung von Einsprachigkeit ist dementsprechend ein Konstrukt, das an den Realitäten unserer Sprachkonstitution vorbeigeht. Und selbst wenn wir Sprache auf der einfachsten Ebene als Deutsch, Englisch, Litauisch usw. verstehen, gibt es weltweit weitaus mehr Sprechende von mehreren solchen Sprachen als wirklich Einsprachige. Interferenzen zwischen und innerhalb der Sprachen sind also allgegenwärtig und sie prägen das Miteinander der Menschen. Insofern das Politische die Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen ist und unsere Sprache als unsere Weltansicht unsere Beziehungen prägt, ist Sprache nicht vom Politischen zu trennen und das Politische ohne das Sprachliche undenkbar - ganz abgesehen davon, dass Begriffe immer sprachlich sind und man dementsprechend immer in Sprache denkt. 8 Marko Pajević Der vorliegende Band möchte aus der Perspektive literarischer Mehrspra‐ chigkeit Licht auf dieses Wechselverhältnis zwischen Politischem und Sprache werfen. Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Leben in Gemeinschaft aus? Der Blickwinkel ist dabei in erster Linie die Exophonie, also Literatur, die in einer Zweitsprache geschrieben wurde und diesen sprachlichen Umstand in irgendeiner Weise thematisiert (vgl. Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer 2007 sowie Ivanovic 2017: 172). Exophone Literatur ist ein privilegiertes Feld für das Verständnis der mehrsprachigen Prozesse, da SchriftstellerInnen allgemein einen bewussteren Umgang mit Sprache haben müssen und dementsprechend ihre sprachliche Situation der Exophonie reflektieren. Natürlich sind ihre vertieften und intimen Kenntnisse von mindestens zwei Kulturen auch von politischem Interesse, aber es soll hier nicht nur um die Schilderung politischer Hintergründe und Situationen gehen oder um daraus erfolgendes politisches Verständnis und Engagement. Vielmehr interessiert hier das Politische des Lite‐ rarischen selbst, also die Frage, inwiefern der politische Raum durch sprachliche Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten. Der Großteil der hier versammelten Beiträge wurde bei einer von mir organi‐ sierten und vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor finanzierten Konferenz mit dem Titel Mehrsprachigkeit und Politik in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Kultur in Tartu vom 14. bis 15. November 2019 vorgestellt. Dieser Band vermittelt dementsprechend Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Mit baltisch sind hier die heutigen drei Baltischen Republiken gemeint: Estland, Lettland und Litauen. Deutschsprachig ist offensichtlich ein problematischer Begriff in diesem Zusammenhang, in dem ja gerade die Mehrsprachigkeit auch in den deutschsprachigen Ländern thematisiert wird - es soll damit lediglich deutlich gemacht werden, dass es um Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geht. Andere deutschsprachige Länder und Regionen werden leider hier nicht behandelt. Es gibt ja in den letzten Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen zu Exopho‐ nie und Mehrsprachigkeit - auch das ist ein Zeichen der politischen Relevanz in unserer heutigen gesellschaftlichen Situation. Allein die Herausgabe eines Handbuchs zu Literatur und Mehrsprachigkeit (Dembeck/ Parr 2017) sowie die Existenz der von Till Dembeck und Rolf Parr herausgegebenen Buchreihe Lite‐ rarische Mehrsprachigkeit/ Literary Multilingualism, in der auch die vorliegende Veröffentlichung erscheint, spricht wortwörtlich Bände. Allerdings dürfte dem deutschsprachigen Publikum bisher wenig zur diesbezüglichen Situation in den baltischen Republiken bekannt sein. Dabei gibt es ja sehr alte Verbindungen zwi‐ schen dem deutschen und dem baltischen Kulturraum. Die baltischen Länder, 9 Interferenzen. Einführung vor allem Lettland und Estland, lassen sich ohne den deutschen kulturellen Ein‐ fluss nicht verstehen, und auch die deutsche Kultur hat große Bereicherungen aus dem Baltikum empfangen (wenn eine solche Trennung zwischen baltischer und deutschbaltischer Kultur geschichtlich großteils überhaupt sinnvoll ist), viele bedeutende deutsche Denker und Dichter stammen aus diesem Gebiet bzw. haben dort für längere Zeit gelebt, Kant und Herder fallen einem wohl als erstes ein (wobei Königsberg ja nicht zu den heutigen baltischen Republiken, wohl aber zum historischen Kulturraum zählt), Hamann, Lenz, Keyserling und Bergengruen sind weitere. Die Beiträge zur Literatur aus Estland, Lettland und Litauen sind also eine besondere Bereicherung der Mehrsprachigkeitsdiskussion im deutschsprachigen Raum. Im Übrigen findet sich selbst im Baltikum relativ wenig Forschungsliteratur zu zeitgenössischer mehrsprachiger und exophoner Literatur und auch deren politische Dimension wird wenig behandelt. Die Debatte, gerade in Bezug auf die Germanistik, befasst sich weit überwiegend mit der Geschichte, meist derjenigen vor der Entstehung der baltischen Republiken nach dem Ersten Weltkrieg. Das hat gute Gründe, denn seit 1919 spielt das Deutsche kaum noch eine Rolle in diesen Ländern und wurde spätestens 1944 mit der sowjetischen Okkupation politisch inopportun. Zwar haben gebildete Balten der älteren Generationen noch gut Deutsch gelernt, aber wie überall im östlichen Europa hat die Bundesregierung nach 1990 versäumt, diese bestehenden Strukturen ausreichend zu unterstützen, und heute lernen nurmehr wenige junge Balten diese in ihrer Geschichte so wichtige Sprache - Englisch ist auch hier mittler‐ weile ganz eindeutig die internationale Verkehrssprache. Die bis Anfang des 20. Jahrhunderts kulturell dominierenden Deutschbalten und ihre Sprache sind Vergangenheit und wenn es heute exophone Literatur im Baltikum gibt, so ist diese eher mit dem Russischen als mit dem Deutschen verknüpft. Doch gerade solche Verschiebungen führen beeindruckend vor Augen, wie sehr Sprachen politisch sind und wie sehr die Politik in die Sprachsituation eingreift und sich der wichtigen Rolle von Sprache und Sprachen bewusst ist. Heute ist die Frage der Sprachpolitik in den baltischen Republiken von größter Bedeutung in dem heiklen Balanceakt zwischen neu gewonnener Selbstbestimmung und Selbstbehauptung sowie wirtschaftlich und politisch notwendiger Internationalisierung. Mehrsprachigkeit in der Literatur, ebenso wie exophone und mehrsprachige AutorInnen, spielen in diesen ständigen Identitätsfindungsprozessen einer Gesellschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle. In der Überzeugung, dass sowohl die deutsche als auch die baltische Seite aus einer besseren Kenntnis der Konstellationen, Probleme und Phänomene des 10 Marko Pajević anderen lernen kann, geht die Zielsetzung dieses Bandes also in beide Richtun‐ gen: Diese Sammlung möchte gegenseitig informieren über die Hintergründe und die jüngsten Entwicklungen auf einem sowohl literarisch als auch politisch spannenden und relevanten Gebiet. Der Band beginnt mit vier Beiträgen, die sich den sprachgeschichtlichen Hin‐ tergründen der Literatur im Baltikum widmen, wobei die deutsch-baltische Ver‐ flechtung und die Schwierigkeiten einer nationalen Literaturgeschichtsschrei‐ bung offenkundig wird. Allerdings nähern sich die AutorInnen dieser Frage aus unterschiedlichen Richtungen und mit unterschiedlichem Augenmerk. Zunächst untersucht Till Dembeck drei Volksliedersammlungen aus der Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis etwa 1900 sowie deren kulturpolitische Be‐ deutung. 1778/ 79 hat der zu jener Zeit in Riga lebende Johann Gottfried Herder im Kontakt mit den baltischen Sprachen über seine Volksliedersammlung auf Deutsch einen poetischen Neuanfang für die deutsche Literatur ausgelöst und zugleich der Volkskultur und zuvor für minderwertig erachteten Völkern zur kulturellen und politischen Emanzipation verholfen. Juris Alunāns hat dann 1856 mit einer Sammlung von ins Lettische übersetzten europäischen Gedich‐ ten die lettische Sprache modernisiert und an die europäischen Literaturen angeschlossen. Krišjānis Barons dann hat um 1900 lettische Volkslieder heraus‐ gegeben, um die von Herder initiierte Emanzipationsbewegung weiterzuführen. Liina Lukas bietet einen historischen Abriss der baltischen literaturge‐ schichtlichen Entwicklung mit Hinblick auf die Schrift- und Sprachensituation in Estland und Lettland. Sie zeigt, wie sehr die estnische Literatur in ihren Anfängen mit dem Deutschbaltischen zusammenhängt und erst nach und nach in Auseinandersetzung und Reibung mit diesen Anfängen eine eigene Literatur entwickelt. Ihr Überblick führt bis in unsere Zeit und erlaubt, die Verschie‐ bungen im Zusammenhang mit den politisch-geschichtlichen Veränderungen besser zu verstehen. Natalia Blum-Barths Beitrag bietet einen ähnlichen Überblick über die li‐ terarische Situation in Litauen und Lettland. Sie konzentriert sich dabei zunächst auf die sowjetische Sprach(en)politik und zeigt diverse Formen literarischer Mehrsprachigkeit auf. Anschließend untersucht sie die literarische Mehrspra‐ chigkeit im postsowjetischen Litauen und Lettland und die entsprechenden sprach(en)politischen Tendenzen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch der literarischen Übersetzung. Maris Saagpakk hat gemeinsam mit ihren Studierenden Marin Jänes, Annika Saar und Marianne Laura Saar Mehrsprachigkeitsformen in der deutschbaltischen Literatur Estlands untersucht mit Hinblick auf die Funktio‐ nen der Mehrsprachigkeit und um die sprachlichen, kulturellen und sozialen 11 Interferenzen. Einführung Differenzen im historischen Baltikum zu beleuchten. Grundlage der Analyse sind drei Werke der deutschbaltischen Literatur: Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius (1921), Briefe eines baltischen Idealisten (1934) von Georg Julius von Schultz-Bertram und Der Henker von Edzard Schaper (1940). Obgleich die Erscheinungsdaten nahe beieinander liegen, sind die Werke über einen Zeitraum von über hundert Jahren entstanden und vermitteln einen Eindruck der Situation in verschiedenen historischen Epochen. Auch hier wird wieder deutlich, dass der Umgang mit den Sprachen nicht von der politischen Situation zu trennen ist. Die nächsten drei Beiträge beschäftigen sich dann mit zeitgenössischeren Werken der baltischen Literatur. Aigi Heero untersucht transkulturelles Schrei‐ ben anhand zweier Romane der armenischstämmigen in Estland lebenden und auf Russisch schreibenden Gohar Markosjan-Käsper (1949-2015) mit Hinblick auf Erscheinungsformen und Funktion der Mehrsprachigkeit. Rūta Eidukevičienės Beitrag konzentriert sich auf die jüngste litauische Migrations- und Mobilitätsliteratur und die Formen literarischen Sprachwechsels, die Aufschluss sowohl über Integrationsprobleme litauischer Migranten als auch die Herausbildung von globalen Identitäten erlauben. Tatsächlich kommt literari‐ sche Mehrsprachigkeit in erster Linie bei litauischen AutorInnen vor, die entweder bereits gleich nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland geboren und sozialisiert wurden oder Litauen nach dem politischen Wandel um 1990 verlassen haben. Vor allem der Aspekt neuer globaler Identitäten wird eingehender am Beispiel des Romans Stasys Šaltoka (2017) von Gabija Grušaitė untersucht. Mārtiņš Laizāns widmet sich der Verbindung von Geistes- und Gaumenfreu‐ den. Kulinarische und gastronomische Aspekte der Literatur sind naturgemäß, aufgrund der internationalen Verbreitung der diversen cuisines, mehrsprachig und ihre literarische Verarbeitung dient gesellschaftlichen und politischen Posi‐ tionsbeziehungen. Am Beispiel des lettischen postmodernen, 1973 erschienenen aber sofort vergriffenen und erst in den letzten Jahren neuaufgelegten Romans Falscher Faust von Marģers Zariņš verweist Laizāns auf die komplexe Verfilzung von Kulinarischem und Sprachlichem in dieser bemerkenswerten humorvollen Auseinandersetzung mit der verworrenen lettischen Geschichte der Jahre von 1930 bis 1945. Die darauffolgenden Beiträge konzentrieren sich auf exophone AutorInnen in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Sandra Vlasta stellt das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit am Beispiel von Barbi Marković’ Roman Superheldinnen (2016) heraus. Sie verweist auf sprachliche, mediale, formale und kulturelle Grenzüberschreitungen einer grundsätzlich mehrsprachig gedachten Literatur, welche bisherige literaturwissenschaftliche 12 Marko Pajević Kategorien und literaturpolitische Institutionen sprengt und zu einem Überden‐ ken solcher Muster und Strukturen zwingt. Auch Dinah Schöneichs Analyse stellt sprachliche und nationale Grenzzie‐ hungen in Frage, indem sie am Beispiel von T.S. Eliots The Waste Land und Peter Waterhouses Prosperos Land aufzeigt, wie mittels von Mehrsprachigkeit und Mehrdeutigkeit Dynamik erzeugt wird. Während bei Eliot das Nebenein‐ ander der Sprachen als Herausforderung für die Verständigung dargestellt und poetisch überwunden werden sollen, radikalisiert Waterhouses Gedicht das noch einmal, indem sprachliche und nationale Grenzziehungen überhaupt unterwandert werden. Tomás Espino Barrera untersucht José F.A. Olivers Prosawerk auf seine no‐ madische Identität hin. Der aus Andalusien stammende in einem alemannischen Schwarzwalddorf aufgewachsene Oliver bewegt sich zwischen den Sprachen und Dialekten und hinterfragt aus dieser transnationalen und transregionalen Identität heraus die deutsche Staatsbürgerschaftspolitik. Am Beispiel von Olivers Einsatz von Mütter- und Hausmetaphern zeigt Espino Barrero das emanzipatori‐ sche und demokratische Potential dieser mehrsprachigen Literatur auf. Marko Pajević’ Beitrag beleuchtet die Ethnographie der deutschen Weltan‐ sicht bei der japanisch-deutschen Schriftstellerin Yoko Tawada. Am Beispiel dreier Gedichte zu den deutschen Personalpronomina demonstriert der Essai die sprachbewusstseinssteigernde Wirkung exophoner Literatur. Der Vergleich von japanischen und deutschen Sprachstrukturen ermöglicht eine neue Sicht auf die eigene Sprache und die Erfahrung einer alternativen Weltansicht. Diese Relativierung der gewohnten Perspektive führt zu einer politischen Öffnung auf Verschiedenheit hin. Auch Hélène Thiérard bezieht ihre theoretischen Überlegungen auf Tawa‐ das Werk. Thiérard stellt Exophonie und Mehrsprachigkeit in den Zusammen‐ hang der aktuellen Universalismusdebatte und präsentiert mit Hilfe von Barbara Cassin und Souleymane Bachir Diagne alternative Möglichkeiten, Universalität zu denken, nachdem sich der europäische Universalismus durch das immer größer werdende Bewusstsein seiner kolonialen Verzerrung disqualifiziert hat. Die Frage der Übersetzung und der Unübersetzbarkeiten, die in mehrsprachiger Literatur deutlich vor Augen tritt, macht eine andere Konzeption von Univer‐ salität erfahrbar und wird somit zu einem wichtigen Akteur in drängenden politischen Fragen unserer Zeit. Silke Pasewalck und Dieter Neidlinger untersuchen die spezifische Mehr‐ sprachigkeit des Romans Engel des Vergessens (2011) der slowenisch-österreichi‐ schen Autorin Maja Haderlap und zeigen auf, inwieweit dieses Buch nicht nur ein Bericht über die konfliktgeladene historische Mehrsprachigkeit in Kärnten 13 Interferenzen. Einführung darstellt, sondern darüber hinaus auch, wie diese poetologisch den Text prägt. Diese Mehrsprachigkeit ist aus dem Niemandsland zwischen den Sprachen heraus geschrieben und ist dadurch mehr-sprachlich, d. h. Haderlap entwickelt neue Sprachformen aus dem Spannungsfeld der Sprachen heraus. Michael Navratils Beitrag untersucht Mehrsprachigkeit im Alternate History-Genre und in Kontrafaktik am Beispiel von Film und Literatur, indem er die Auseinandersetzung mit Sprachalternativen in Quentin Tarantinos Inglou‐ rious Basterds und Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten beleuchtet. Navratil weist nach, wie das sowohl der Mehrsprachigkeit als auch der Alternate History inhärente Alternativendenken in beiden Werken ideologiekritisch problematisiert wird. Abschließend berichtet der norwegische, in Estland und Norwegen lebende Lyriker Øyvind Rangøy, der 2019 einen renommierten estnischen Literatur‐ preis für seinen ersten auf Estnisch verfassten Gedichtband erhielt, von seiner eigenen exophonen literarischen Praxis und den dieser zugrundeliegenden Erfahrungen und Fragestellungen. Literaturverzeichnis Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2007). Exophonie. An‐ derssprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Benveniste, Émile (1966). La notion de ’rythme’ dans son expression linguistique. In: Problèmes de linguistique générale 1. Paris: Gallimard, 327-335. Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.) (2017). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr/ Francke/ Attempto. Humboldt, Wilhelm von (1903-36). Gesammelte Schriften, hrsg. von A. Leitzmann. Berlin: Behr. Ivanovic, Christine (2010). Exophonie und Kulturanalyse. Tawadas Transformation Benjamins. In: dieselbe (Hrsg.) Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tübingen: Stauffenburg, 171-206. Meschonnic, Henri (1982). Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Lagrasse: Verdier. Meschonnic, Henri (1999). Poetique du traduire. Lagrasse: Verdier. Rancière, Jacques (2007). Politique de la littérature. Paris: Galilée. Trabant, Jürgen (2003). Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München: Beck. Wittgenstein, Ludwig (1963) [1922]. Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophi‐ sche Abhandlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 14 Marko Pajević Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied (Herder, Alunāns, Barons) Till Dembeck Abstract: Der Beitrag geht am Beispiel dreier Publikationsprojekte aus dem 18. und 19. Jahrhundert der Frage nach, wie sich der (kultur-)politische Gegenwartsbezug von Literatur über ihren Umgang mit Sprachvielfalt regelt. Die Volksliedersammlung Johann Gottfried Herders von 1778/ 79 wird als Ver‐ such eines paratextuell programmierten poetischen Neuanfangs gelesen, der Sprachvielfalt qua Übersetzung einer muttersprachlichen Originalitätsästhe‐ tik zuführt. Die Form des Lieds dient hier der Synchronisierung und zugleich der Dynamisierung sprachlicher Mittel im Namen einer neuen Literatur. Die Dseesmiņas (Liedchen), eine 1856 von Juris Alunāns publizierte Sammlung von Übersetzungen europäischer Lyrik ins Lettische, importieren diesen poetischen Erneuerungsanspruch und verbinden ihn mit dem Versuch einer antikolonialen Synchronisierung und Modernisierung der lettischen Sprache. Die von Krišjānis Barons um 1900 in sechs Bänden herausgegebene lettische Volksliedersammlung Latwju Dainas wiederum greift Herders Bemühen um den Erhalt von Volksliedern auf. Barons leistet die Synchonisierung eines dialektal, stofflich und überlieferungshistorisch so vielfältigen wie reichhal‐ tigen Liedcorpus im Namen einer antikolonialen Emanzipationsbewegung. Kulturpolitisch geht es hier um die Vergegenwärtigung eines vormodernen Volkslebens unter den Bedingungen der Moderne. Keywords: Mehrsprachigkeit; Volkslied; Synchronie; Kulturpolitik; Herder, Johann Gottfried; Barons, Krišjānis Dieser Beitrag erfüllt das Thema ‚Gegenwartsliteratur‘ eher in einem abstrakten Sinn, denn es geht nicht um die Literatur unserer Gegenwart, sondern um die Frage, wie sich Literatur allgemein zu Gegenwärtigkeit verhalten kann, inwiefern sie in ihrem Gegenwartsverhältnis politisch ist und wie sich es sich mit Blick auf 1 Systematisch zu einem Forschungsprogramm, dass den Zusammenhang von Literatur und Gegenwart neu zu ergründen versucht, siehe Borkoff/ Geitner/ Stüssel 2016 und Geyer/ Lehmann 2018, darin besonders Geitner 2018. Sprachvielfalt artikuliert. 1 Konkret behandele ich drei literatur- und kulturpoliti‐ sche Projekte des 18. und 19. Jahrhunderts, die in einem Zusammenhang stehen, auch wenn ich zahllose Zwischenschritte der Entwicklung, die sie verbindet, auslassen muss. Im Anschluss an einleitende Überlegungen zum Problem zeitge‐ mäßen Sprechens (1) und zum Spannungsfeld von Synchronie und Sprachvielfalt (2) wende ich mich zunächst der Volksliedersammlung von Johann Gottfried Herder zu, die bekanntlich im heutigen Lettland ihren Ausgang nahm (3), und sodann zwei Publikationen, die dieses Projekt in einem je spezifischen Sinne fortsetzen, die lettischen Dseesmiņas (‚Liedchen‘) von Juris Alunāns und Latwju Dainas (lettische Volkslieder) von Krišjānis Barons (4). Abschließend versuche ich aus dem Erarbeiteten allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen (5). Für Herders Volksliedprojekt wird aufgezeigt, dass es einer zeitgemäßen Erneuerung oder sogar Neubegründung der deutschsprachig-muttersprachli‐ chen Lyrik durch Synchronisierung mit anderssprachigen Traditionen und Ausdruckspotentialen zuarbeitet. Die Publikation von ins Lettische übersetzten ‚Liedchen‘ durch Alunāns hat ein vergleichbares Ziel, während Barons die in den lettischsprachigen Gebieten nicht zuletzt dank Herder in Gang gekommene Volksliedersammeltätigkeit mit einem emanzipatorischen Impuls aufnimmt. Auch in diesen beiden Fällen geht es um die Synchonisierung von Sprachvielfalt, allerdings expliziter im Namen einer neu zu begründenden Nationalität. Was die Theorie der Sprachvielfalt angeht, so beziehe ich mich auf einschlägige Arbeiten aus der jüngeren Zeit, ziehe aber auch Ferdinand de Saussure hinzu, und zwar deshalb, weil er zum Zusammenhang von Sprachvielfalt und Synchronie Argumente beigetragen hat, die heute leider zu wenig bekannt sind. 1 Sprechen und Gegenwart Dass Sprachvielfalt immer Gegenstand politischer Auseinandersetzung gewe‐ sen ist, wundert nicht, erzeugt sie doch Grenzen des Verstehens und damit vielfältige In- und Exklusionseffekte. Eben diese Effekte sind gerne Gegenstand von Geschichten und diese Geschichten wiederum machen gerne Politik. Ge‐ rade Geschichten von sprachlicher Inklusion - beispielsweise die Geschichte des Pfingstwunders - können weitreichende Folgen zeitigen, ausgesprochen exklusiv wirken und viel Gewalt nach sich ziehen. Immerhin resultierte die Verheißung einer menschheitlichen Verständigung im rechten Glauben, als die Petrus das Wunder der Apostelgeschichte zufolge deutete (Apg. 2), in einer zwei 16 Till Dembeck 2 Vgl. hierzu die Überlegungen Niklas Luhmanns zum Stellenwert von Entscheidungen in der Politik (2000: 140-169). Luhmann bestimmt die Funktion von Politik als das „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ (84). Dabei ist mit Blick auf Entscheidungsprozesse wichtig, dass das Entscheiden die Erinnerung an die Vergangenheit sowie die Ausblicke auf Zukunft durch Rückgriff auf Skripte und Schemata so in ihrer Komplexität reduziert, dass die Entscheidung selbst motiviert werden kann. Die prinzipielle Ungewissheit der Zukunft wird so auf Alternativen reduziert. Zugleich bewirkt sie aber, dass jede Entscheidung vor der Entscheidung eine andere ist als nach der Entscheidung. Jahrtausende währenden Bewegung der Mission, an die das Sendungsbewusst‐ sein der westlichen Gesellschaften noch heute anschließt. Mir geht es im Folgenden indes nicht - oder doch nicht in erster Linie - um Fragen der In- und Exklusion, der literarischen Repräsentation oder der Sprach‐ politik im engeren Sinne des Wortes. Ich schlage vielmehr einen Ebenenwechsel vor und möchte fragen, wie der literarische Umgang mit Sprachvielfalt mit einem Grundproblem jeden politischen Engagements verbunden ist, nämlich mit der Frage der Zeitgemäßheit, genauer: des Gegenwartsbezugs. Dieses Grundproblem lässt sich recht einfach erläutern: Wir alle wissen, dass jedwede Intervention in die komplexen Zusammenhänge und Prozesse insbesondere (aber nicht nur) moderner Gesellschaften unter anderem deswe‐ gen so schwierig ist, weil man immer erst im Nachhinein weiß, ob man den rechten Augenblick für die Intervention gefunden haben wird. Diesen rechten Augenblick kennzeichnet, dass sich eine Art Lücke auftut, in die herein man wirken und Strukturen verändern kann; die Metapher des Zeitfensters oder die Allegorie der occasio, der Gelegenheit, die man beim Schopfe ergreifen muss, machen dies deutlich. Dieser heikle Gegenwartsbezug des politischen Handelns hat heute oft langwierige Streitigkeiten um Tagesordnungen, Wahltermine etc. zur Folge, aber er bedingt auch, dass beispielsweise das Dasein eines Revolutionärs oft aus nichts als langem Warten besteht. Kurzum: das Problem, das eigene Handeln mit prinzipiell unvorhersehbaren Umweltprozessen so synchronisieren zu müssen, dass man seine Ziele erreichen kann, stellt sich für politische Bewegungen jeglicher Couleur. 2 Ich kann an dieser Stelle keine ausgearbeitete Theorie des politischen Umgangs mit Zeit entfalten, noch kann ich erschöpfend behandeln, welche Folgen das Problem der Zeitgemäßheit und des Gegenwartsbezugs für das politische Engagement von Literatur im allgemeinen hat. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass im Falle der Literatur die medialen Rahmenbedingungen zusätzliche Komplikationen mit sich bringen. Das hängt zum einen mit den Bedingungen von Schriftlichkeit zusammen. Eine Intervention qua Schrift kann den Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet, nur bedingt selbst bestimmen. Papier 17 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 3 Siehe hierzu, am Beispiel von Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche, Dembeck 2010 und 2013. 4 Glasklar findet sich dies herausgearbeitet in Paul 1880. ist geduldig, und wann wer was liest, weiß man vorher nie. Literatur wendet sich daher immer schon an viele unterschiedliche Gegenwarten. Das dies riskant ist, weiß schon der Sokrates aus Platons Phaidros (275 c). Zum anderen führt das für Literatur charakteristische Engagement von Einbildungskraft und Phantasie zu potentiellen Kontrollverlusten. Wir wissen bekanntlich nie, wohin uns Einbildungskraft und Phantasie, wenn wir uns ihnen einmal überlassen, führen werden - und wie viel größer ist das Risiko, wenn wir die Produkte unserer Einbildungskraft dann auch noch anderen überlassen. 3 Damit ist ein Problem benannt, das sich für das politische Engagement von Literatur mit Blick auf ihren Gegenwartsbezug ergibt - wie auch immer unzureichend und verkürzt. Wie verhält sich dieses Problem zur Frage der Sprachvielfalt? Einen ersten Hinweis auf dieses Verhältnis kann man den Grundannahmen der Rhetorik entnehmen. Denn die Anpassung einer Rede an die jeweilige Situation, die Frage des aptum, ist dort immer schon (auch) eine Frage der richtigen Auswahl der sprachlichen Mittel, die - sonst könnte man nicht auswählen - immer schon als vielfältig vorgestellt sind. Man muss, wie man dann sagt, die richtige Sprache finden. Man meint damit zwar im allgemeinen nicht die Auswahl zum Beispiel zwischen Deutsch und Ungarisch. Aber ich möchte im Folgenden argumentieren, dass zwischen dieser Auswahl und derjenigen der richtigen sprachlichen Mittel zumindest eine funktionale Äquivalenz besteht. Das wird besonders dann deutlich, wenn man die Frage nach der Sprach‐ vielfalt systematisch zusammendenkt mit derjenigen der Sprachentwicklung. Sprachvielfalt ist immer Ergebnis von Sprachentwicklung, und Sprachentwick‐ lung findet potentiell in jedem Moment von Sprachgebrauch statt. 4 Der en‐ gagierte, also auf eine Wirkung bedachte Gebrauch sprachlicher Mittel ist potentiell immer auch auf Sprachentwicklung, auf die zeitgemäße Veränderung von Sprache aus und wirkt damit an der Gestaltung von Sprachvielfalt mit. Der Gegenwartsbezug von Literatur besteht daher immer auch darin, dass sie auf Sprache selbst einwirkt und Sprache verändert. Sie möchte Zeitfenster und Gelegenheiten nutzen, um neue Sprache, zeitgemäßere Sprechweisen zu etablieren. Das politische Moment des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt besteht also auch darin, dass der Umgang mit der Zeitlichkeit von Sprache zugleich ein Umgang mit ihrer Vielfalt ist und umgekehrt. 18 Till Dembeck 5 Zum Folgenden siehe ausführlich Dembeck 2019, 53-58. 6 Die Unterschiede zwischen dem Cours und den Überlegungen de Saussures in den Notizbüchern finden sich im Einzelnen dargestellt in Fehr 2003 und Jäger 2010. 2 Andere Sprachen I: Das Paradox der Synchronie (Saussure) Bevor ich zu meinen literarischen Beispielen komme, möchte ich in einem ersten Schritt einige theoretische Vorüberlegungen anstellen. Sie betreffen weit verbreitete Vorstellungen davon, was unter einer Sprache zu verstehen sei - Vorstellungen, die ihrer Wirkmächtigkeit zum Trotz daran hindern, das politische Moment literarischer Sprachvielfalt voll in den Blick zu bekommen. Es gehört zum Gemeinwissen der Geschichte der Linguistik, dass sowohl Ferdinand de Saussure als auch die strukturalistische Saussure-Rezeption die aus dem 19. Jahrhundert herrührende, eng mit der Metapher der Mutterspra‐ che verbundene Beschreibung von Einzelsprachen als Quasi-Organismen, an deren Wachstum man dann interessiert war, ablehnen. 5 Saussure - und ich spreche hier in erster Linie von dem Saussure der Notizbücher, nicht von dem Saussure des Cours  6 - hat unter anderem darauf hingewiesen, dass zwar einerseits der Sprachwandel, dem sich der Großteil der Sprachforschung des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte, erklären kann, woraus sich gegebene Sprach‐ strukturen entwickelt haben; dass andererseits aber diese ‚Erklärung‘ nichts darüber aussagt, wie wirkliche Sprecherinnen mit ‚ihrer‘ Sprache umgehen (Saussure 2003: 285-29). Die Beschreibung des Zustands der Sprache hat so betrachtet mit der Beschreibung der Geschichte der Sprache nichts zu tun, obwohl die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens und die Sprachgeschichte zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sind. Dabei macht Saussure gerade das Sprechen (parole) in seiner jeweiligen situativen Gegenwärtigkeit für den Sprachwandel verantwortlich: Das Sprechen greift zwar rekursiv auf la langue als Bedingung seiner Möglichkeit zurück, ist aber zugleich selbst Bedingung der Möglichkeit für deren Reproduktion und kann sie jederzeit verändern, ohne dass die Sprecher dies wiederum jemals planen könnten. Die Einheit der Sprache erweist sich damit als paradoxe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskonti‐ nuität: Weil man immer weiter spricht, verändert sich die Sprache (Saussure 2003: 251). Sprache ist zu ihrer Fortsetzung dauernd auf „Identitätsurteil[e]“ (Saussure 2003: 298) der Sprecherinnen angewiesen, die (synchron) auf ein Gegebenes verweisen, das sie zugleich (diachron) womöglich modifizieren. Die langue, von der Saussure in den Notizbüchern spricht, ist daher eine durch und durch paradoxale Bezugsgröße. Sie hat als soziale Tatsache keinen festen Ort, an dem sie auffindbar wäre. Sie muss zwar durchgängig als konkret wirksame soziale Tatsache vorgestellt werden, doch ihre Rekonstruktion in Form von 19 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied Regelwerken löst sie gerade aus dem dynamischen sozialen Zusammenhang, innerhalb dessen allein sie hier und jetzt existiert, heraus. Diese Einsicht Saussures wird in der Bearbeitung der Vorlesungsmitschriften, die dem Cours zugrundeliegen, überdeckt. Vor allem aber hat die auf dem Cours aufbauende strukturalistische Linguistik die Paradoxie des langue-Begriffs weitgehend dadurch ausgeblendet, dass sie ihn in erster Linie auf Einzelspra‐ chen bezogen und diese wiederum als abgelöst von jeder soziokulturellen und historischen Bindung betrachtet hat. Der Saussure der Notizen spricht aber nicht zufällig durchgängig von la langue - und eben nicht von une langue oder von langues im Plural (vgl. Stockhammer 2014: 348-352). Er denkt keinesfalls daran, der synchronen Sprachwissenschaft die Aufgabe zu geben, auf der Grundlage entweder von Korpusanalysen oder von muttersprachlicher Introspektion je‐ weils die unterschiedlichen langues an sich zu rekonstruieren, die Sprecher benutzen, um einzelsprachige paroles zu produzieren. Eher hätte la langue, auf Saussures Notizen aufbauend, auch als etwas Nicht-Einsprachiges gedacht werden könnte, etwa so, wie sich Jacques Derrida (1996) die „Einsprachigkeit des Anderen“ vorstellt - als singuläre, aber in sich vielgestaltige Sprachfähigkeit des Einzelnen (in diesem Sinne: „Einsprachigkeit …“), die zugleich vollständig auf die Einflussnahme der sehr unterschiedlichen Sprechweisen vieler anderer Sprecher zurückgeht (in diesem Sinne: „… des Anderen“). Die Geschichte der Linguistik und der Sprachphilosophie hat viele Versuche gesehen, die von Saussure in den Blick genommene paradoxale Zeitlichkeit von Sprache in den Griff zu bekommen. Besonders bekannt ist Wilhelm von Humboldts Rede von ergon und energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an ‚Regeln‘ einerseits und ihrem kreativen, poten‐ tiell die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits (Humboldt 1836: 46). Vor dem Hintergrund der angeführten Arbeit von Derrida ist insbesondere Michail Bachtins Hinweis darauf erwähnenswert, dass sich der Horizont der langue als des wie auch immer regulären Bereichs, auf den sich konkretes, gegenwärtiges Sprechen bezieht, ebenfalls aus nichts anderem als konkretem, gegenwärtigem Sprechen konstituiert, so dass im Grunde die Unterscheidung von langue und parole selbst ins Wanken gerät (Holquist 2014; vgl. Bachtin 1934/ 35). In der ‚Einsprache‘, von der Derrida spricht, also in dem Sprachwissen, das einzelne Sprecherinnen benutzen, wenn sie hier und jetzt Rede produzieren oder rezipieren, ist die Rede der anderen intertextuell gegenwärtig und steht zugleich zur Disposition. Mir ist dieser Zusammenhang, der natürlich eine viel ausführlichere Behand‐ lung verdient hätte, deshalb so wichtig, weil er die alltägliche, aber auch viele wissenschaftliche Untersuchungen prägende Unterscheidung von Ein- 20 Till Dembeck und Mehrsprachigkeit berührt, die bestimmt, es sei Mehrsprachigkeit, wenn irgendwo (in einer Person, in einem Text) mehrere Sprachen vorkommen (eine Person kann Estnisch und Deutsch, der Zauberberg mischt Deutsch und Fran‐ zösisch). Auf der Grundlage dieser Bestimmung ist es einfach, Mehrsprachigkeit ‚politisch‘ zu befürworten. Aber diese Bestimmung unterschlägt nicht nur die ursprüngliche Vielfältigkeit von la langue als Grundlage des Sprechens und ersetzt sie durch ursprüngliche Einheit (Einzelsprachen); sondern sie übersieht überdies, dass die Quelle von Sprachvielfalt das konkrete, die Grenzen der Einsprachigkeit überschreitende Sprechen im Hier und Jetzt ist. Das wiederum heißt für die Analyse von literarischer Sprachvielfalt, dass sie sich nicht damit zufrieden geben darf zu konstatieren, welche Sprachen Autoren benutzten, um dies dann z. B. politisch zu interpretieren. Die Frage muss vielmehr auch sein, wie Texte auf je unterschiedliche, mehr oder weni‐ ger konkret rekonstruierbare sprachliche Ressourcen zurückgreifen und wie sie sich zur potentiellen Vielfalt dieser Ressourcen stellen (siehe ausführlich Dembeck 2018 sowie Dembeck/ Parr 2017). Aus dieser Perspektive kann man die politische Dimension literarischer Sprachvielfalt ergründen, indem man überprüft, inwiefern Texten unterstellt werden kann, dass sie Sprache verändern wollen, und indem man zeigt, mit welchen sprachlichen Mitteln sie dies tun. Dabei können dann im Grunde alle jene Strukturen eine Rolle spielen, welche Linguistik und Literaturwissenschaft mit Blick auf Sprachvielfalt unterscheiden, also z. B. Soziolekte, Dialekte und nationale Standardsprachen, aber auch poe‐ tische Formen wie Metren oder andere Gattungstraditionen. Daher darf eine Mehrsprachigkeitsphilologie sich nicht auf die Analyse von Mehrsprachigkeit im soeben genannten alltäglichen Sinn des Wortes beschränken, sondern muss alle Formen von Sprachvielfalt, alle Formen divergenter sprachlicher Mittel einbegreifen. 3 Literatur I: Volkslieder und Muttersprache (Herder) Eine Vorstellung, die besonders viele politische Einsätze mit Blick auf literari‐ sche Sprachvielfalt motiviert, ist diejenige der Muttersprache. Wir haben bereits gesehen, dass in vielen Bereichen der Linguistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht in die unhintergehbare Komplexität des jederzeit wandelbaren, sich selbst stabilisierenden Geschehens ‚Sprache‘ zwar zur Verabschiedung der organologischen Modelle der vormaligen historischen Sprachwissenschaft führte, nicht aber zur Verabschiedung des Narrativs der Muttersprache. Im Ge‐ genteil: Die Muttersprache ist der feste Grund, auf den sich die langue-Linguistik problemlos beziehen zu können glaubt - gleich, ob dies durch die Beobachtung 21 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 7 Die Kenntnis der Stelle verdanke ich David Martyn. von Sprecherinnen oder durch die Introspektion muttersprachlicher Linguisten selbst geschieht. Im Muttersprachler glaubt man bis heute - und das gilt nicht nur für viele Richtungen der Linguistik, sondern vor allem auch für das Alltagsverständnis - Sprachen als unproblematisch zu bezeichnende und wohlunterschiedene Einheiten dingfest machen zu können. Ich möchte anhand meines ersten Beispiels die literarischen Anfänge dieser Argumentationsfigur in den Blick nehmen und widme mich daher - wenn auch nur in einer arg verkürzten Skizze - Johann Gottfried Herder. Bereits in Herders frühen Schriften, genauer: in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur von 1767/ 68, geschrieben in Riga, findet sich eine mus‐ tergültige Formulierung zum Zusammenhang von Muttersprache und Literatur, die auf Sprachvielfalt und Sprachentwicklung bezogen werden kann. 7 Herder postuliert, dass Originalliteratur nur in der Muttersprache geschrieben werden könne: [W]enn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so fest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen, und Gewalt über die Worte, die größeste Känntnis derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesetzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die Muttersprache. (Herder 1767: 407) Auf den ersten Blick scheint Herder hier die Muttersprache genau im Sinne der langue-Linguistik zu bestimmen, und David Martyn hat dementsprechend einen Großteil seines Arguments über die Entstehung der modernen Einsprachigkeit auf dieser Passage aufgebaut (Martyn 2014). In der Muttersprachlerin scheint die Muttersprache inkarniert, und in ihr sind für ihn wiederum „Gedanke und Ausdruck“ ununterscheidbar. Allerdings ist die Muttersprache für Herder eben nicht ein feststehendes Regelwerk, sondern vielmehr Garant sprachlicher Kreativität. Es geht ihm ja gerade um die Beförderung von Originalität. Weil aber die Originalität des Denkens in Herders Augen von der Besonderheit des Ausdrucks abhängt, ja, mit ihr identisch ist, muss man bei der Produktion origineller poetischer Werke dasjenige sprachliche Medium nutzen, das als einziges unmittelbar an die Kognition gebunden ist, also die Muttersprache. So schlüssig dies auch klingt, so ist es doch wichtig zu registrieren, welche Denkmöglichkeit Herders Überlegungen ausschließen. Denn es liegt auf der Hand, dass literarische Originalität prinzipiell im Rückgriff auf alle möglichen Arten von Sprachvielfalt erreicht werden könnte, ohne die Beschränkung auf die eine Muttersprache. Dies läge im Grunde in der Konsequenz der Original‐ 22 Till Dembeck 8 Zu dieser Perspektivierung des Herder’schen Volksliedprojekts siehe ausführlich Dembeck 2017. Die weiterhin gründlichste Darstellung zum Gesamtkomplex der Volksliedersammlungen Herders bietet Gaier 1990; zu verweisen ist weiterhin auf die philologiehistorischen Überlegungen in Renner/ Wagner 2016 und auf die (vorsichtige) Einschätzung des Herder’schen Projekts mit Blick auf die antikoloniale Bewegung im lettischsprachigen Raum in Renner 2017. itätsästhetik und des Innovationszwangs der modernen Literatur, die immer von „Dreustigkeit“ getrieben sein muss. Herder lässt das aber nicht gelten, und zwar, weil diese Dreistigkeit in „Gesetzlosigkeit“ münden könnte. Es ist, so gesehen, das paradoxe Bestreben, zugleich innovativ und in der Tradition verhaftet zu sein, vor dessen Hintergrund Herder die Muttersprache als festen Grund beschwört. Gerade weil es der „neueren deutschen Literatur“ auf Originalität ankommt, weil sie im Kern eine Form der sprachlichen Kreativität und „Dreus‐ tigkeit“ ist, weil sie also Sprachentwicklung und damit Sprachvielfalt befördert, sieht sich Herder, will er „Gesetzlosigkeit“ vermeiden, dazu gezwungen, die erlaubten Mittel zu ihrer Erzeugung einzuschränken. Herders Streben nach Originalität gründet in der wohlwollenden Einsicht in die Eigendynamiken der Moderne, die nach neuen (literarischen) Mitteln verlangt; es ist insofern in einem ganz grundlegenden Sinne politisch. In anderen Zusammenhängen, z. B. in seiner 1778/ 79 veröffentlichten Volksliedersamm‐ lung, hat Herder durchaus auch auf anderssprachige poetische Formen und Quellen als Medium der Erneuerung zurückgegriffen. 8 Größtenteils im Medium der Übersetzung präsentiert er hier bekanntlich liedförmige Texte aus sehr unterschiedlichen Kontexten und Zeiten, denen aber gemeinsam ist, dass sie Originale sein sollen in dem Sinne, den Herder dem Wort zuvor sowohl in seinen Überlegungen zur Ode als auch in seinem Ossian-Briefwechsel gegeben hatte: So wie die antiken Oden Herder zufolge an der Grenze von Natur- und Sprachlaut arbeiten, dem Sprachmaterial also seine Ausdrucksfähigkeit erst abgewinnen, erschließen die Herder’schen Volkslieder neue Formen des sprachlichen Aus‐ drucks; sie sind sprachschöpferisch und können gerade deshalb einer neuen Zeit dienlich sein. Die unterstellte Nähe zum Volk ist nur bedingt in einem modernen nationalen Sinne zu verstehen, und die „neuere deutsche Literatur“, der die Volksliedersammlung sich zurechnet, ist auch im alten Sinne des Wortes ‚deutsch‘, also ‚vom Volk‘, indem sie dessen undisziplinierte Energie kanalisiert - in ein allerdings zumindest auf der Oberfläche einsprachiges Medium. Anders als viele anschließende Projekte - darauf komme ich gleich zurück - ist Herders Volksliedersammlung daher nur bedingt ein Instrument der Nationenbildung. Es geht natürlich um Anschluss an die Tradition, sowohl mit Blick auf deutsche Kultur als auch mit Blick auf das Gedächtnis der Menschheit. 23 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 9 Siehe zu dieser Stelle Gaier 1990: 920 f., sowie Renner/ Wagner 2016: 23 f.; zu Stellenwert und Prinzipien der Komposition der Sammlung, siehe Gaier 1990: 921-925 und Renner 2017: 124-131. Politisch ist die Sammlung aber auch und vor allem als Instrument der sprachli‐ chen Erneuerung. Explizit betont dies das Schlusswort der Sammlung, das nicht nur die Offenheit der Sammlung für Ergänzungen hervorhebt, sondern eine produktive Rezeption auch jenseits des Sammelns in Aussicht stellt. Herder rät seinem Leser, die Lieder nicht „in Einem Atem fortzulesen, damit er das Buch abtue und justifiziere“, auch nicht „sich schwindelnd aus Völkern in Völker [zu] werfen“, also aus ethnologischem Interesse zu lesen, sondern „jedes Stück an seiner Stelle und Ort [zu] betrachten“ (Herder 1778/ 79: 427). Damit ist nicht zu‐ letzt der durch die Sammlung, durch den Druck selbst gegebene Zusammenhang gemeint. 9 Die Sammlung stilisiert sich als zeitgemäßer Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen Volkslieder sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremder Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/ 79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen Lieder als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/ 79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist. Es ist diese abschließende Geste, die Herders Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der Volkslieder geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher Originalität im Interesse eines anthropologischen Universalismus, wie es Her‐ ders doppeldeutiger Begriff von ‚Volk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er Volkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationales und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein - und im Medium des Drucks ermöglichen, was die alte 24 Till Dembeck 10 Zur Medienpolitik von Herders Volksliedprojekt siehe Renner/ Wagner 2016: 27-29. 11 Die Beschreibung Herders als Gründungsfigur des europäischen Nationalismus findet sich beispielsweise bei Yildiz 2012 und bei Leerssen 2006: 97-101. Sie ist sicherlich nicht falsch, aber es ist problematisch, Herders vielfältiges und spannungsreiches kulturtheoretisches Denken immer wieder auf diesen einen Punkt zu reduzieren. Volksdichtung im Medium der Mündlichkeit ermöglicht hat. 10 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischen Sinne verstehen. Denn Originalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden. Herder hat den Zeitpunkt der Publikation seiner Volksliedersammlung lange herausgezögert - aus unterschiedlichen Gründen, aber unter anderem auch deshalb, weil er daran zweifelte, die Zeit sei bereit für sie. Und offenkundig dienen die Anordnung und der Rahmen, die Herder seiner Sammlung gibt, auch zur Einhegung jener potenzierten Gefahr der Fehlwirkung, der sich, wie eingangs ausgeführt, jede literarisch-politische Intervention aussetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, inwiefern die Gesetzestreue, der sich die Herder’sche Muttersprachensemantik verschreibt und die auch im Einsprachig‐ keitsprinzip der Volksliedersammlung zum Ausdruck kommt, vielleicht weniger aus Überzeugung denn aus Wirkungskalkül gesucht wird. Herder ist womög‐ lich weniger der ‚Erfinder‘ der modernen Muttersprachlichkeitssemantik, 11 als dass er die literarische Originalitätsästhetik schlicht besonders geschickt an sprachpolitische Tatsachen angepasst hat. Immerhin lassen sich auch jenseits der Muttersprachensemantik starke evolutionäre Kräfte benennen, welche die moderne Einsprachigkeit begünstigt haben - der durch den Buchdruck ausgelöste Standardisierungsdruck ist eine davon. Wie dem auch sei, klar ist, dass für Herder eine Literatur, die zeitgemäß sein und auf Gegenwart wirken will, an der Diversifizierung der sprachlichen Mittel arbeiten muss. Vielleicht ist die programmatische Einsprachigkeit der Literatur, wie Herder sie ins Auge fasst, nur ein politischer Trick, der es ermöglicht, überhaupt Sprachvielfalt zur Entfaltung kommen zu lassen. 4 Literatur II: Dseesminas und Dainas (Alunāns und Barons) Ein im weitesten Sinne literarisches Projekt aus dem baltischen Raum, das gerne mit Herders Volksliedersammlung in Verbindung gebracht wird, ist die Sammlung sowie vor allem Redaktion und Ordnung einer sehr großen Zahl lettischer Volkslieder oder Dainas (wie der litauische Begriff für Volkslieder 25 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 12 Großen Dank bin ich Ginta Sīle und Guntis Pakalns schuldig, die mir einen kleinen Teil ihrer umfassenden Kenntnisse zur lettischen Volksliedtradition zugänglich gemacht und mich mit Forschungsliteratur versorgt haben. 13 Barons listet sie ausführlich auf und diskutiert die Vor- und Nachteile der jeweils vorgelegten Einteilung des Materials (Barons 1894: i-xiv). 14 Es ist ein Topos der Nationalismusforschung, dass Philologie und hier gerade die Volksliedforschung in ganz Europa zentral zur Nationenbildung beigetragen (auch dazu Leerssen 2006: 192-203); im Falle der russischen Ostseeprovinzen muss man dies aber zugleich als Teil einer antikolonialen Emanzipationsbewegung werten. lautet) durch Krišjānis Barons. 12 Die Verbindung ist naheliegend, geht doch Herders Interesse am Volkslied unter anderem auf seinen Kontakt mit lettischen Volksliedern in seiner Rigenser Zeit zurück. Und auch wenn Barons in seiner Einleitung zum ersten Band der Latwju Dainas von 1894 (die restlichen fünf Bände erschienen bis 1915) Herder mit keinem Wort erwähnt, so ist doch seine Sammeltätigkeit ebenso wie die einer Vielzahl von Vorläufern und Mitarbeitern durch Herder inspiriert. 13 Allerdings gilt für Barons Latwju Dainas, was eben für Herders Volksliedersammlung nicht gesagt werden kann: Sie sind, ebenso wie die zwischenzeitlich im deutschsprachigen Raum auf den Weg gebrachten Projekte (z. B. Des Knaben Wunderhorn), Teil einer (anti-kolonialen! ) nationa‐ len Kulturpolitik. 14 Dabei arbeitet sich auch Barons’ Projekt, wie ich zeigen möchte, an der Problematik einer zeitgemäßen Präsentation des in den Dainas vorliegenden Kulturerbes ab. Barons politisches Engagement zwingt ihn sehr unmittelbar zur Auseinandersetzung mit Fragen von Sprachentwicklung und Sprachvielfalt, die er in einem ausgesprochen modernen Sinne angeht. Bevor ich zu Barons komme, sei mit einem Seitenblick aber noch ein Un‐ ternehmen zumindest gestreift, das eine andere Linie des Herder’schen Enga‐ gements aufgreift, nämlich Juris Alunāns’ Sammlung übersetzter Dseesmiņas, Liedchen, die 1856 in Tartu erschienen ist. Alunāns, der als Schöpfer einer Vielzahl von Neologismen im Lettischen gilt, widmete sich mit dieser Sammlung der modernen europäischen (tatsächlich vor allem der deutschsprachigen) Lyrik, und zwar mit dem Ziel einer Modernisierung des Lettischen. Alunāns geht es vordergründig um eine Säuberung der lettischen Sprache von Fremdeinflüs‐ sen, und das Nachwort zu seiner Sammlung enthält umfassende Vorschläge dazu, wie anderssprachige Eigennamen besser als bisher ins Lettische und die ihm eigentümliche Wortbildung eingefügt werden könnten (Alunāns 1856: 62-70). (Sehr viele dieser Vorschläge haben sich tatsächlich durchgesetzt.) Die Säuberung impliziert aber nicht nur eine Systematisierung des Regelwerks der lettischen Sprache, sondern auch ihrer Fortbildung in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen. Lettisch soll eine eigenständige Sprache nach dem Modell des Deutschen und anderer europäischer Nationalsprachen werden - es geht Alu‐ 26 Till Dembeck 15 Siehe ausführlich Arājs 1985. 16 Das Vorgehen Barons’ ist gut erforscht, und ich beanspruche in keinerlei Weise, hier etwas Neues zutage fördern zu können; mir geht es hier nur um die Perspektivierung der Frage nach Sprachvielfalt und Sprachentwicklung auf den Gegenwartsbezug der Sammlung. nāns, so gesehen, um die Selbstermächtigung eines kolonialisierten Idioms, er sucht den Anschluss an die (sprachliche) Moderne Europas. Diesem Ziel dienen die Übersetzungen, die einen ähnlichen Modernisierungsschub initiieren wollen wie Herders Volkslieder. Alunāns möchte eine gewisse formale Bandbreite zur Schau stellen und legt Wert darauf, den Übersetzungscharakter der Texte, selbst wenn die Originale größtenteils beigegeben sind, zu verschleiern. Die Übersetzungen sollen sich wie Originale lesen, und so setzt denn die Sammlung ein mit einer Übersetzung von Heines Loreley-Gedicht, das im Lettischen mit „Laura“ überschrieben ist und an der Daugava spielt, nicht am Rhein (Alunāns 1856: 6-7). Zurück zu Barons. Natürlich ist es ganz unmöglich, ein derartig umfassendes Projekt wie die Latwju Dainas hier und jetzt angemessen zu würdigen. 15 Ich beschränke mich auf eine Lektüre der Einleitung von 1894, in der Barons ausführlich über die Entstehung der Sammlung und über die Schwierigkeiten Auskunft erteilt, die es vor der Publikation zu überwinden gab. Von Interesse sind dabei weniger die Ausführungen zur Sammeltätigkeit selbst. Hervorgeho‐ ben werden muss lediglich, dass sich Barons der Unvollständigkeit und des kon‐ tingenten Zuschnitts seiner Sammlung genau bewusst ist: Das lettischsprachige Territorium ist weder gleichmäßig noch vollständig repräsentiert. Wichtiger ist die Frage, wie Barons mit der enormen Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials umgeht und wie er seine Entscheidungen begründet. 16 Die Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials ergibt sich zum ersten aus einer enormen Vielfalt von Varianten; sehr viele der erfassten Dainas sind von unterschiedlichen Quellen in unterschiedlicher Form übermittelt. Zum zweiten konstatiert Barons eine gewisse formale Vielfalt; neben trochäischen oder dayktylischen Vierzeilern finden sich viele andere Formen. Zum dritten gibt es eine große Bandbreite an Stoffen und Themen. Barons betont, es mache keinen Sinn, die einzelnen Dainas in längere narrative Zusammenhänge zu binden. Zwar lägen durchaus Überlieferungen vor, die offenbar auf den Vortrag einer Vielzahl thematisch zusammenhängender Dainas zurückgehen; Barons zufolge sind solche Vorträge aber allein mnemotechnisch motiviert, d. h., sie gehen auf Memorierübungen zurück. Die Zersplitterung der Dainas in Tausende von Vierzeilern erzeugt nun aber eine besonders markante Unübersichtlichkeit. Zum vierten zeigen die Einsendungen eine dialektale Vielfalt, die durch die 27 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 17 Entgegen den Gepflogenheiten der Lettonistik versuche ich in den Zitaten die originale Schreibweise so weit wie möglich beizubehalten. Sie ist Teil jener Sprachvielfalt, um die es mir hier geht. 18 Alle Übersetzungen aus dem Lettischen sind von mir, T.D. im 19. Jahrhundert noch stark schwankende (in Barons’ Worten: „truhziga“; Barons 1894: xiv) Orthographie des Lettischen weiter verstärkt wird (so dass im Einzelnen nicht unbedingt klar ist, ob eine Abweichung von zu Barons’ Zeit sich etablierenden Standards auf dialektalen Einfluss zurückgeht oder auf orthographische Unkenntnis). 17 Barons’ Umgang mit der auch sprachlichen Mannigfaltigkeit seines Gegen‐ stands, die sich auf all diesen Ebenen entfaltet, zeichnet sich dadurch aus, dass er Lösungen findet, die auf mehreren Ebenen zugleich Komplexität reduzieren - und vermutlich hat seine Arbeit gerade deshalb eine so enorme Wirkung ent‐ faltet. Die wichtigste dieser Lösungen liegt in der Anordnung der Dainas, welche die anschließende Folkloristik im Großen und Ganzen bis heute beibehalten hat und mit der meines Wissens noch heute jedes lettische Schulkind spätestens in der fünften Klasse bekannt gemacht wird. Diese Anordnung folgt im Wesentli‐ chen dem Lebensrhythmus des Volks. So schreibt Barons: „Jo dabiſkaki dſeeſmu eedaliſchana peeſleenàs tautas dſihwei, jo weeglaki un pareiſaki kahrtotajam weikſees dſeeſmas ſawâs nodaļâs eeweetot“ („Je natürlicher sich die Einteilung der Lieder an das Leben des Volks anschmiegt, desto einfacher und richtiger wird es dem Herausgeber gelingen, die Lieder ihren Abteilungen zuzuordnen“; Barons 1894: xii). 18 Um aber dem Leben des Volks nahezukommen, genügt es nicht, nach dem Inhalt der Lieder zu gehen, vielmehr muss man wissen, „wann und wo sie eigentlich zu singen sind“ („kad un kur tas pateeſi dſeedamas“; Barons 1894: xii), und der Herausgeber „nedrihkſt rihkotees weeglprahtigi, pats dſeeſmu pilnigi neſapratis, tikai ahriſchki turotees pee kautkahda wahrda, kas tanî minets“ („darf nicht so leichtsinnig verfahren, dass er, ohne völlig zu verstehen, sich nur äußerlich an irgendein Wort hält, das darin [im Lied] vorkommt“; Barons 1894: xii). Barons wendet sich aber nicht nur gegen eine Anordnung nach den in den Dainas behandelten Themen (z. B. also in Lieder über die ‚Elemente‘, über Flora, Fauna und das Menschenleben), sondern auch gegen eine Anordnung nach Herkunftsort. Das Argument, auf diese Weise könne die dialektale Varianz des Lettischen vor Augen geführt werden, lässt er nicht gelten: Ari dſeeſmu uſrakſtitaji dialektus, ja maſ, tad wiſai pawirſchi, nepilnigi un nekonſek‐ wenti eewehrojuſchi. Wiņu leelaka daļa pat no wideem, kur walda it noteikta ſawada islokſne, uſrakſtijuſchi dſeeſmas muhſu rakſtu walodâ ar retàm iſlokſchņu peedewàm, 28 Till Dembeck 19 Es sei zumindest angemerkt, dass in Herders Sammlung ein Zyklus von estnischen Hochzeitsliedern zu finden ist, die nach ähnlichen Prinzipien zusammengestellt sind; siehe Renner/ Wagner 2016: 23. ta ka ſcho pehdeju dehļ ween nebuhtu pareiſi, wispahrejâ krahjumâ dſeeſmas pehz weetàm ſchķirt. Tos retos, dialektu ſiņâ nopeetnos, plaſchakos manuſkriptu krahju‐ mus, kas muhſu rokas nahkuſchi, doſim pehz eeſpehjas krahjuma beigàs ſawruhp un pilnigakâ ortografijâ. Beidſot, dſeeſmu ſadaliſchana pehz weetam ſarauſta nepareiſi paſchas dſeeſmu grupas, un ſchķir lihdſigas dſeeſmas tahlu weenu no otras, beſ kahdeem panahkumeem preekſch paſchas leetas. (Barons 1894: xiv) Allerdings haben die Schreiber die Dialekte, wenn überhaupt, dann nur ganz ober‐ flächlich, unvollkommen und inkonsequent berücksichtigt. Die meisten von ihnen, selbst diejenigen aus Gegenden, in denen eine besonders ungewöhnliche Aussprache üblich ist, haben die Lieder in unserer Schriftsprache aufgezeichnet, mit einigen wenigen Beigaben in der originalen Aussprache, und schon deshalb wäre es nicht richtig, die Lieder nach Orten anzuordnen. Die wenigen mit Blick auf den Dialekt ernstzunehmenden, umfassenderen Handschriftensammlungen, die in unsere Hände gekommen sind, werden wir nach Möglichkeit am Ende der Sammlung für sich und in verbesserter Orthographie zu lesen geben. Schließlich würde die Anordnung nach Orten zusammengehörige Lieder auseinanderreißen und ähnliche Lieder weit voneinander entfernen, ohne dass in der Sache etwas gewonnen wäre. Was aber ist diese ‚Sache‘, in der etwas zu gewinnen ist? Das Beispiel, das Barons im Anschluss an diese Stelle gibt, ist ausgesprochen erhellend. Barons erläutert, dass von den vielen unterschiedlichen Typen von Hochzeitsliedern, die jeweils in konkreten Situationen eine konkrete Funktion haben, die nach dem bisher Gesagten nur der ethnographisch bewanderte Herausgeber einschätzen kann, von den meisten Orten jeweils nur wenige überliefert sind. Ein Gesamtbild der lettischen Hochzeitsliedtradition kann so nicht entstehen - und genau dieses Gesamtbild ist aber die Sache selbst. 19 Unterstellt wird also nicht nur die rhythmische Gleichförmigkeit des Volkslebens in den Lebensläufen und im Jahresverlauf, sondern auch, dass das Volksleben diesem einen Rhythmus im gesamten lettischsprachigen Territorium folgt und damit so etwas wie das lettische Volk überhaupt erst erzeugt. Mit der gesamtlettischen ethnographischen Synthese wird, so ist der soeben zitierten Passage zu entnehmen, zugleich das Problem der sprachlichen Vielfalt der Quellen gelöst, wie auch dasjenige der Varianten: Dialektale Differenzen können weitgehend beseitigt werden, weil sie zwar Ausdruck einer auch Barons wichtigen lokalen Partikularität sind, aber sich eben doch auf den Lebensrhyth‐ mus eines einheitlichen Volks zurückbeziehen. Varianten werden zwar gesammelt 29 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 20 Barons’ Redaktionsprinzipien werden von Arājs 1985 beschrieben, dessen Forschungen laut Auskunft von Guntis Pakalns bis in die 1950er Jahre zurückreichen. Besonders pointiert und zugleich gründlich dargestellt sind sie bei Melne 2015 (auch bereits 2000). Zur schwankenden Orthographie der Sammlung siehe Reidzāne 2015, zu Barons Motivation für seine editorischen Eingriffe Bendorfs 2000. - Melnes Ergebnisse bestätigen die hier vorgenommene Deutung: Wichtig war für Barons unter anderem die Beseitigung zu großer lokaler und zeitlicher Spezifik, die einer nationalen Wirkung der jeweiligen Texte hätte abträglich sein können; dasselbe gilt für zu stark umgangssprachliche Termini. und Barons gibt auch an, sie hätten allesamt in die gedruckte Sammlung Eingang gefunden; tatsächlich aber genügt ein exemplarischer Abgleich mit dem dainu ska‐ pis, dem ‚Volksliederschrank‘, der die handschriftlichen Vorlagen für den Druck der Dainas enthält, um zu zeigen, dass das nicht stimmt. 20 Vor dem Hintergrund dieses Homogenisierungsprogramms kann Barons noch die Unzeitgemäßheit vieler Dainas zum Ausdruck einer tieferen Volkseinheit umdeuten: Preekſch jaunakeem dſihiwes apſtahkļeem laba daļa no wiņàm rahdijàs nowe‐ zejuſchàs. Bet iſlobot muhſu tautas dſeeſmu ihſto weſeligo kodolu, mums atklahjàs wiņâs zilweka gara labakee idealee zenteeni, zilweka ſirds un dwehſeles daiļakàs, tikumigakàs, dſiļakàs juhtas, kas nekad nenowezejàs, lai ari wiſs zits ahriſchks ſawa laika peederums pahrgroſàs. (Barons 1894: xviii) Vor dem Hintergrund der neueren Lebensumstände erscheint ein Teil von ihnen [der Lieder] veraltet. Aber wenn wir aus unseren Volksliedern den lebendigen Kern herausschälen, dann finden wir in ihnen die besten idealen Bestrebungen und die schönsten, verlässlichsten und tiefsten Gefühle der Seele, die nie veralten, selbst wenn sich alles Äußere, seiner Zeit Zugehörige verändert. Die Synchronisierung des gesamtlettischen Volkslebens, die Barons unternimmt, stellt also zugleich eine Verbindung her zu einer mythischen, in Zyklen organi‐ sierten Zeit, die sich über die lineare Zeit des Geschichtsverlaufs hinweg erhält. Diese mythische Zeit macht Barons unter anderem dadurch zugänglich, dass er die Effekte von Sprachentwicklung (hier: die Dialekte) ausblendet bzw. harmonisiert. Das Ergebnis dieser Harmonisierung ist dann aber als Sprache vertraut und fremd zugleich: „Pawirſchi laſitas, tautas dſeeſmas ir uſ mums runà it kà ſweſchadu walodu; bet tiklihdſ mehs dſiļaki, nopeetnaki wiņâs eeſkatamees, tiklihdſ mehs tuwaki ar wiņâm eedraudſejamees, tàs ja zeeſchaki muhs peewelk“ („Oberflächlich gelesen sprechen die Volkslieder auch zu uns wie eine Art fremdartige Sprache; aber sobald wir sie tiefer, ernsthafter ansehen, sobald wie uns näher mit ihnen anfreunden, dann ziehen sie uns umso stärker an“; Barons 1894: xix). Dieser von Barons unterstellte doppelte Effekt der von ihm im Druck synchron präsentierten Volksliedersammlung entspricht ziemlich genau der ambivalenten Haltung, die das Unternehmen gegenüber der Moderne einnimmt: Einerseits 30 Till Dembeck 21 Siehe hierzu Melne 2015: 28. bequemt sich die nicht zuletzt sprachliche Homogenisierung der Sammlung den Bedürfnissen einer auf Einsprachigkeit getrimmten Zeit an. Sie ist Teil eines modernen Programms von Nationenbildung - man erinnere sich nur an die mitt‐ lerweile kanonische Beschreibung von Nationalisierungsprozessen als Ergebnis medialer Synchronisierung bei Benedict Anderson (1983). Andererseits stilisiert sich die Sammlung als der modernen Zeitordnung und ihrem Bedürfnis nach Synchronisierung gegenüber inkompatibel und eigen - sie ist eine der Moderne fremde Sprache. Und das darin liegende Beharren auf Eigenheit wiederum ist auf das Hier und Jetzt des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezogen, auf eine Situation der postkolonialen Emanzipation. Es ist insofern konsequent, dass Barons seine Sammlung mit einer Abteilung einleitet, die sich der Logik der Anpassung an die zyklischen Lebensprozesses des Volks eigentlich entzieht. Am Anfang stehen in den Latwju Dainas die Lieder über die Lieder und das Singen - eine Art aus den Quellen geschöpfte Einführung in die fremdgewordene eigene Tradition, die im Folgenen entfaltet wird. 21 5 Andere Sprachen II: Synchronie und Moderne Insofern die Latwju Dainas auf sprachliche Synchronisierung aus sind, scheinen sie in ihrem Umgang mit Sprachvielfalt einem Modell zuzuarbeiten, das sich recht gut mit dem Paradigma der langue-Linguistik vereinbaren lässt. Die andere, proto-mythische Seite der Sammlung leistet einer solchen modernen theoretischen Subsumption allerdings Widerstand. Um dies zu sehen und auch ganz allgemein den Stellenwert von sprachlichem diversity management in der Moderne besser abschätzen zu können, lohnen sich abschließend einige grundlegendere Überlegungen. Zunächst ist festzuhalten, dass Barons - während nur kurze Zeit später die langue-Linguistik als methodische Voraussetzung festschreibt, dass Einzel‐ sprachen als Gegenstand der synchronen Beschreibung schlicht gegeben und die Bedingung der Möglichkeit von Sprechen sind - sich an der schieren Vielfältigkeit des Sprechens abarbeitet, um sie überhaupt erst als Ausfluss einer einheitlichen, aber noch sichtbar zu machenden Einzelsprache ausweisen zu können. Ähnlich wie vor ihm Alunāns reagiert Barons damit auf eine Anforderung, die sich in der Neuzeit zunehmend an die Sprachen Europas stellt: die der Standardisierung qua Synchronisierung. Man kann darin - siehe Anderson - einen Medieneffekt sehen. Der Buch‐ druck erzwingt als Technologie, die auf allen Ebenen auf Synchronizität setzt, 31 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied 22 Luhmann hat darauf hingewiesen, dass die moderne Gesellschaftsstruktur eine Art „Exklusionsindividualität“ erzeugt (Luhmann 1989: 160). Die einzelnen sind nicht mehr qua Gesellschaftsstruktur eingeschlossen (z. B. als Angehörige eines bestimmten Stands); sie können zwar im Prinzip an allen Funktionssystemen der Gesellschaft partizipieren, müssen dafür aber selbst Sorge tragen und können daran auch gehindert werden. Die daraus resultierende Ortlosigkeit der Individuen, so meine These, wird durch die Semantik der Nation kompensiert. die flächendeckende Durchsetzung von Standards. Die große Sorgfalt, die Herder und Barons auf die Anordnung ihrer Sammlungen verwenden, zeigt, dass sie auf die synchrone Erscheinungsweise gedruckter Werke genau reflek‐ tieren. Schon das Produktionsverfahren stellt ja gegenüber der Handschrift von Serialität auf Synchronizität um (mit einem Arbeitsgang werden die Zeichen eines ganzen Bogens gedruckt); vor allem aber bewirken die in allen Details für alle Exemplare (zumindest der Tendenz nach) identische Anordnung des Texts auf den gedruckten Seiten und seine Einrichtung auf das Erscheinen zu einem Zeitpunkt, dass (genau genommen natürlich kontrafaktisch) von einer gleichzeitigen Rezeption in einem großen Territorium ausgegangen werden darf. Und die Identität des Texts an allen Orten dieses Territorium wiederum katalysiert sprachliche Standardisierung. Allerdings ist das Medium des Drucks nur ein Faktor, der Standardisierung begünstigt. Man sollte daher nicht, wie es gerade in der Mehrsprachigkeitsfor‐ schung oft geschieht, jede Form der einsprachigen, auf Standardisierung ausge‐ richteten Sprachpolitik vorschnell als engstirniges und potentiell xenophobes Beharren auf dem Eigenen verurteilen. Die Semantik der Muttersprachlichkeit, wie sie Herder artikuliert, die bei ihm wie bei Alunāns zu beobachtende domestizierende Übersetzung, die langue-Linguistik usw. sind, wenn man auf eine allgemeinere Ebene geht, Ausdruck eines Sprachdenkens, das tief in der Grundstruktur der modernen Gesellschaft verankert und für diese Gesellschaft ebenso funktional ist wie das vor allem bei Herder sich artikulierende Bedürfnis nach (sprachlicher) Kreativität. In der Forschung ist in Anlehnung an Yasemin Yildiz (2012) oft vom Ein‐ sprachigkeitsparadigma die Rede, das eng an die Semantik der Muttersprache gekoppelt sei. Ich ziehe dem eine eher technische Beschreibung vor, die den Vorteil hat, erklären zu können, warum sich Einsprachigkeit in der Moderne durchgesetzt hat - und die uns letztlich auch wieder auf die Frage von Gegenwartsbezug und Synchronizität zurückführt. Diese Erklärung für die Durchsetzungskraft der modernen Einsprachigkeit lautet, dass sie einerseits die Inklusion von Individuen in gesellschaftliche Prozesse erleichtert (darauf kann ich hier aber nicht eingehen 22 ); und dass sie andererseits, weil sie mit 32 Till Dembeck einer massiven Standardisierung des Sprachgebrauchs einhergeht, spezifisch modernen Gesellschaftsstrukturen zuarbeitet, die z. B. auf stardardisierte Ter‐ minologien angewiesen sind, um funktionieren zu können. Die Wissenschaft ist ein gutes Beispiel dafür. Im Interesse eben dieser Standardisierung liegt es schließlich, durch Übersetzung dafür zu sorgen (oder zumindest den Anschein zu wecken), dass die unterschiedlichen Einzelsprachen ineinander transponier‐ bar sind. Daraus resultiert die moderne Übersetzungsindustrie, die in den europäischen Institutionen ihren paradigmatischen Ausdruck gefunden hat. Diese funktionieren gerade deshalb, weil sie kontrafaktisch davon ausgehen, die vielen qua Übersetzung entstandenen Sprachversionen der europäischen Gesetzgebung seien Ausdruck ein- und derselben Rechtsnormen. Man sollte nicht vergessen, welche Entwicklungen die moderne Einsprachigkeit begünstigt hat: Eine Sprache, mit der eine große Gruppe von Menschen emotional verbun‐ den und die gleichzeitig ausreichend standardisiert ist, um in den unterschied‐ lichsten Kontexten zu funktionieren, ermöglicht beispielsweise die Etablierung eines öffentlichen Raumes, von Demokratie und von Bildungsstandards. Und von der Übersetzungsindustrie profitieren der Buchmarkt wie überhaupt der überregionale Handel, die Diplomatie, das Recht, das Erziehungssystem, die Literatur. David Gramling hat in seinen Arbeiten über die ‚Erfindung der Einsprachigkeit‘ die Verbindung von Muttersprachensemantik und Übersetz‐ barkeitsversprechen mit dem aus der angewandten Linguistik übernommenen Begriff der „glossodiversity“ belegt (Gramling 2016: 31-36). Glossodiversität ist eine Form der Vorstellung von sprachlicher Vielfalt, die es für unproblematisch hält, ein und denselben Inhalt in verschiedenen Idiomen auszudrücken, die jeweils für sich als distinkte, wohldefinierte, in ihren Muttersprachlerinnen verkörperte Einheiten gelten. Natürlich werden die mit der modernen Idee der Einsprachigkeit verbun‐ denen Vorstellungen von Menschen, Sprachen und Gesellschaften damit im Prinzip nicht richtiger. Genau wie im Falle der Nation handelt es sich bei der Einsprachigkeit, mit Naoki Sakai (2009) gesprochen, um ein Regulativ im Kan‐ tischen Sinne des Wortes: eine kontrafaktische Annahme, die aber ansonsten womöglich ungerichteten Prozessen Orientierung bietet - so wie das Dogma der Gleichursprünglichkeit im Falle der europäischen Gesetzgebung. Sprachen sind eben keine distinkten und wohldefinierten Einheiten, die gleichwohl qua Übersetzung ineinander überführt werden können. Sprechen ist nicht notwen‐ digerweise Sprechen in einer Sprache, vielmehr sind im Sprachgebrauch immer zugleich zentripetale und zentrifugale Kräfte am Werk. Ohne die zentripetalen Kräfte wäre Standardisierung und damit ein Verständnis unmöglich; aber ohne die Zentrifugalkräfte gäbe es keine Sprachentwicklung und damit keine Anpas‐ 33 Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied sung an neue Gegebenheiten. Gramling hat für die schiere Vervielfältigung der Ausdrucksmöglichkeiten im Sprechen, also die ständige Entwicklung neuer Arten und Weisen, Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erzeugen, den Begriff der „semiodiversity“, Semiodiversität, geprägt. Und doch hat die Vorstellung der Glossodiversität, auch wenn sie im Prinzip die Realität der Sprachproduktion nicht trifft, diese Realität dennoch verändert. Die Sprachen, die wir größtenteils verwenden, sind tatsächlich sehr stark standardisiert und voneinander abge‐ grenzt. Man kann relativ einfach erkennen, was z. B. ein wohlgeformter Satz der deutschen Sprache ist; Fehler lasse sich recht genau und eindeutig konstatieren, auch wenn man ihn womöglich als rhetorische Figur lesen kann (dazu Martyn 2004). Bringt man diese Beobachtungen mit den eingangs angestellten Überlegun‐ gen zur Synchronie zusammen, so zeigt sich, dass die Funktionalität der modernen Glossodiversität damit zusammenhängt, dass sie einander äquivalent geltende sprachliche Ressourcen gleichzeitig präsent hält bzw. zumindest diesen Eindruck verschafft. Standardisierte Möglichkeiten des Ausdrucks sind sozu‐ sagen weltgesellschaftlich anwendbar. Die eigentliche Crux liegt darin, dass diesem Synchronizitäts- und Standardisierungbedarf jener Bedarf nach sprach‐ licher Erneuerung und Anpassungsfähigkeit zuwiderläuft, den die Neuzeit eben auch hervorbringt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tatsache, dass die Semantik der Glos‐ sodiversität die Spannung zwischen (postulierter) synchroner Sprachstruktur und kreativer Sprachentwicklung unsichtbar macht, politische Relevanz. Der blinde Fleck der modernen Sprachauffassung erschwert den bewusst produkti‐ ven Umgang mit Sprachvielfalt im Sinne von Semiodiversität. Sprachpolitik vollzieht sich dann offiziell oder zumindest offiziös im Namen von Einzelspra‐ chen (von der Schule bis zur sogenanten auswärtigen Kulturpolitik und zur Académie Française) und überlässt die ‚wilde‘ Sprachfortbildung Populärkultur, Literatur und Unternehmertum. Diese Marginalisierung von Semiodiversität hat sehr weitreichende Folgen, von der Benachteiligung nicht-muttersprachlichen Sprechens in Schulsystemen bis hin zum Umgang mit Anderssprachigkeit in der Medienöffentlichkeit. Die literarischen Sprachpolitiken, die Herder, Alunāns und Barons entfalten, sind letztlich auch Symptome des Widerstreits zwischen offizieller Glossidi‐ versität und inoffizieller, gleichwohl aber essentieller Semiodiversität. Herder versucht, ihn durch das Konzept einer inner-einzelsprachlichen Kreativitätsstei‐ gerung qua Übersetzung (im weitesten Sinne) zu lösen. Alunāns geht einen ähnlichen Weg, wenn er die lettische Sprache in der Auseinandersetzung mit moderner Anderssprachigkeit erneuern möchte. Barons hingegen verfolgt einen 34 Till Dembeck anderen Impuls Herders weiter, indem er aus fremd werdenden ‚eigenen‘ Sprechweisen eine im Grunde neue Nationalsprache generiert und mit dem Mythos eines nationalen Lebens verbindet. Damit konnte die Synchronisierung der lettischen Nation natürlich nicht abgeschlossen sein. Die Auseinanderset‐ zung um Fest- und Fortschreibung der lettischen dainas dauert vielmehr bis heute an. Das aber wäre ein anderes Thema. Literaturverzeichnis Alunāns, Juris (Hrsg., Übers.) (1856). Dseesmiņas. Latweeschu wallodai pahrtulkotas. Tartu: Laakmann. Anderson, Benedict (1983). Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/ New York: Verso 2006. Arājs, Kārlis (1985). Krišjānis Barons un „Latvju Dainas“. Rīga: Zinātne. Bachtin, Michail M. (1934/ 35). Das Wort im Roman. Übers. v. 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Die Geschichte des Baltikums kennt Sprachstreit und Schriftkriege, kurzfristige Sprach- und Schriftwechsel, Verlust von Sprachen, Funktionswechsel der Sprachen, Erneuerung der Sprachen. In meinem Beitrag werde ich einen historischen Überblick über die komplizierten mündlichen wie schriftlichen Sprachverhältnisse im Baltikum geben und verschiedene Modelle von Zwei- (oder Mehr-)sprachigkeit in den Literaturen des Baltikums in der Geschichte und heute anführen. Keywords: Das Baltikum; estnische Literatur; deutschbaltische Literatur; estnischrussische Literatur; Mehrsprachigkeit; Zweisprachigkeit 1 Gesprochene und geschriebene Sprachen Die Verbreitung der Schrift nach Alt-Livland (dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland) fand im Zuge der deutsch-dänischen Eroberung am Ende des 12. Jahrhunderts und zu Beginn des 13. Jahrhunderts ihren Anfang. In Europa war das die Periode der „Explosion der Schriftlichkeit“ (Stein 2006: 159-170). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Schrift, die bisher hauptsächlich in der elitären lateinsprachigen Sphäre gepflegt wurde, auch schon die Volkssprachen erreicht und umfasste nun außer der kirchlichen Sphäre auch die säkulare, regelte sowohl politische, juristische, administrative als auch gesellschaftliche Bezie‐ hungen. Die Urbevölkerung Alt-Livlands war der Schrift unkundig. Man sprach finno-ugrische und baltische Sprachen: auf dem Gebiet des heutigen Estland die nordestnische Sprache und die südestnische Sprache, auf dem Gebiet des heutigen Lettland Lettgallisch, Semgallisch, Selonisch, Livisch und Kurisch samt deren Dialekten. Unschriftlichkeit eines Volks heißt natürlich nicht, dass man es irgendwie außerhalb der „Kultur“ situieren und als „kulturlos“ auffassen könnte. In primär mündlichen Kulturen gab es eigene - und auch durchaus effektive - Kommuni‐ kationsmedien, Gedächtnistechniken und kulturelle Praktiken zur Vermittlung und Tradierung von Bedeutungen. Trotzdem hatten die Schriftkundigen eine ganze Reihe von Vorteilen. Mit Hilfe der Schrift konnte man kommunikative Grenzen einer mündlichen Kultur überwinden. Eine schriftliche Kultur hat sich immer von einer rein mündlichen Kommunikationskultur unterschieden. Schriftlichkeit verstärkt das Bedürfnis nach Lernen, sie steht im Zusammenhang mit Schulen und Ausbildung. Als Kommunikationsmedium ist Schrift ein Instrument der Machtausübung: wer der Schrift kundig ist, besitzt mehr Macht als ein der Schrift Unkundiger. Dasselbe gilt auch für die Sprachen. Die gesprochenen Sprachen Alt-Livlands hatten ungleichen Zugang zur Schrift. Die Schrift fixierte nicht alle Sprachen, die im Baltikum gesprochen wurden. Die Schrift, die im Zuge der Kolonisation am Ostufer der Ostsee ein‐ geführt wurde, blieb lange Zeit Bestandteil eines kolonialen Gefüges, ein Mittel zur Festigung neuer Machtstrukturen, während die Urbevölkerung mehrheitlich nach wie vor einer mündlichen Kultur zugehörte. Im Laufe des Mittelalters hat sich in Alt-Livland eine Hierarchie der Sprachen herausgebildet. Auf der obersten Stufe stand das Lateinische, um eine Stufe niedriger folgte als Volkssprache die Sprache der Kolonisten: das Niederdeut‐ sche. Über den schriftlichen Gebrauch des Dänischen liegen keine Belege vor, wohl auch deswegen, weil bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, also bis zum Ende der dänischen Herrschaft im Norden des heutigen Estland, die Funktion schriftlicher Verständigung vor allem dem Lateinischen oblag. In den Städten des Baltikums, in denen die schriftliche Verrichtung von Alltagsangelegenheiten schon damals auch volkssprachlich vor sich ging, stammte die Mehrheit der Kolonisten aus Norddeutschland, Rheinland und Westfalen ( Johansen/ Mühlen 1973: 96-97), und bediente sich untereinander des Mittelniederdeutschen - der gemeinsamen Sprache des Hansebundes. Weil man aus unterschiedlichen Regionen stammte und allerlei Sprachvarianten mitgebracht hatte, war die Sprache der baltischen Stadtbevölkerung einem ständigen Wandel unterworfen und variierte je nach Stadt, in Abhhängikeit von der jeweiligen Herkunft der Einwanderer (in Kurland mehr Einflüsse preussischer Dialekte, in Riga westfälischer). Die meisten Entlehnungen im Niederdeutschen, das im Baltikum von damals gesprochen wurde, stammten 40 Liina Lukas jedoch aus dem Estnischen, Lettischen und Russischen, in geringerem Maße aus dem Jiddischen, Schwedischen und Polnischen. Im 16. bis 17. Jahrhundert geriet das Niederdeutsche schon allmählich au‐ ßer öffentlichen schriftlichen Gebrauch, verdrängt vom aufsteigenden Hoch‐ deutsch. In der mündlichen Sphäre konnte sich das Niederdeutsche immerhin gelegentlich noch bis zum 19. Jahrhundert behaupten. Die geschriebenen und die gesprochenen Sprachen im Baltikum gingen stark auseinander und das gilt auch für das Deutsche: Man sprach im Baltikum eine provinziell gefärbte hochdeutsche Umgangssprache mit zahlreichen niederdeutschen Elementen (Masing 1923), man schrieb aber ein „ordentliches“ Hochdeutsch. Es geht um ein für die Kolonialkultur typisches Phänomen: Einerseits äußerte sich in diesem sprachlichen Gestus ein Abgrenzungsbedarf, ein Versuch, die vor allem durch die Sprache vermittelte kulturelle Identität zu bewahren, andererseits wollte man dadurch die Zuhörigkeit zum „Mutterland“ unterstreichen und sich dort verständlich machen. Eine kleine russische Minderheit gab es in Alt-Livland schon seit dem frühen Mittelalter. Am Ende des 17. Jahrhunderts dann sind die russischen Altgläubigen aus Russland nach Estland eingewandert. Sie entwickelten eine eigene, archaische russische Mundart; gelesen und geschrieben haben sie aber Kirchenslavisch. Obwohl Estland und Livland seit 1710 zu Russland gehörten, spielte die russische Schriftsprache noch im 18. Jahrhundert bei der kulturellen und geistigen Gestaltung der Region noch eine geringe Rolle. Der Verkehr mit der Zentralmacht erfolgte hauptsächlich auf Deutsch. In den Schulen wurde mit der Russischunterricht erst am Ende des 18. Jahrhunderts angefangen. Als Kultur- und Bildungssprache im Baltikum behauptete das Russische sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit der (Neu-)ergründung der Universität, zunehmend am Ende des 19. Jahrhunderts unter großem Druck der Zentralmacht (durch die von Alexander III. angestrebte Russifizierungspolitik): Im Jahre 1892 wurden die deutschsprachigen Gymnasien geschlossen, ein Jahr darauf die Kaiserliche Universität Dorpat in Императорский Юрьевский университет umbenannt; das Russische wurde als Verwaltungssprache, Uni‐ versitätssprache und sogar als Umgangssprache eingeführt. Die Zeit der Russi‐ fizierung war jedoch zu knapp, um die bisherige kulturelle Dominante ersetzen zu können. Als Zeichen des zunehmenden russischen Einflusses finden sich aber im Deutschbaltischen zahlreiche Lehnworte aus dem Russischen. Als Schriftsprachen haben im Baltikum auch das Altgriechische, das Schwe‐ dische, das Polnische und das Französische Verwendung gefunden: das Alt‐ griechische innerhalb der akademischen Sphäre (in geringem Maße), das Schwedische und das Polnische in der Zeit der schwedischen bzw. kurzen 41 Sprache und Schrift im baltischen Raum polnischen Herrschaft als Amtssprachen, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch das Französische, das als die gesamteuropäische Bildungssprache am Hof des russischen Kaisers gern gesprochen wurde. Auf der untersten Stufe der Sprachhierarchie des Baltikums standen die Spra‐ chen der Urbevölkerung, auf dem Gebiet des heutigen Estland die nordestnische und die südestnische Sprache, auf dem Gebiet des heutigen Lettland Lettgallisch, Livisch, Semgallisch, Selonisch, und Kurisch. Dies waren Sprachen, die lange Zeit nicht schriftlich verwendet wurden. Die letzten drei sind schon bis zum 16. Jahrhundert ausgestorben. Zu einer Schriftsprache brachten es davon nur vier Sprachen: das Südestnische, das Nordestnische, das Lettische und das Lett‐ gallische. Die neuen Schriftsprachen waren von örtlichen Pastoren, die in der Regel deutsche Muttersprachler waren, geschaffen worden, um die christlichen Glaubensinhalte auch in den einheimischen Sprachen des Baltikums besser vermitteln zu können. Im Laufe des 17. Jahrhunderts fing man allerdings an, in diesen Sprachen auch immer mehr säkulare Texte juristischen, wirtschaftlichen, belletristischen und sonstigen Inhalts zu verfassen. Da die Sprachkenntnisse der "Schöpfer" der estnischen und lettischen Schrift‐ sprachen nicht gut waren und es weder Wörterbücher noch Grammatiken gab (die mussten erst zusammengestellt werden), wurden die in dieser Weise entstandenen Schriftsprachen von den mündlichen Trägern dieser Sprachen als fremd empfunden und nur allmählich angeeignet. Das Schriftestnische (bzw. -lettische) fungierte als Instrument der Christianisierung und Kolonia‐ lisierung. Die Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist im Baltikum wohl um einiges langfristiger und prägender gewesen als es in vielen anderen Regionen Europas der Fall war. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erweiterte sich allmählich das Verwaltungsgebiet der Schrift und aus einem überaus elitären, exklusiven Medium zum Wissenserwerb wurde ein Medium für jedermann, vom Mittel der Fremdbeschreibung eines der Selbstbeschrei‐ bung. Das Baltikum ist ein sehr interessanter Fall für die Erforschung dieser (Aneignungs-, Übersetzungs-, Adaptions-)Verhältnisse. Dennoch unterschied sich die Situation erheblich von späteren „Kolonialsituationen“, bei denen eine kolonisierende Kultur den Kolonisierten ihre Sprache aufgezwungen hat. Im Baltikum hat die kolonisierende Kultur vielmehr die Sprache der Kolonisierten erlernt und versucht, sie nach eigenen Modellen, nach bekannten Mustern aus dem Deutschen oder Lateinischen, zu gestalten. Die neuen Schriftsprachen, die sich auf diese Weise herausbildeten, übten ihren Einfluss auch auf den mündlichen Gebrauch dieser Sprachen aus, der Wortschatz der gesprochenen Sprachen veränderte sich, neue Begriffe wurden 42 Liina Lukas geprägt, alte Begriffe gerieten infolgedessen außer Gebrauch, grammatikalische und syntaktische Konstruktionen änderten sich. Während im schriftlichen Gebrauch eine deutlichere Hierarchie der Spra‐ chen existierte, war im mündlichen Gebrauch der Sprachaustausch lebhafter, Übergänge waren fließender, je nach Verwendungssituation und der sozia‐ len Position der Sprecher, bis zu den Zwischen- oder Übergangsformen wie Deutschbaltisch, Kleindeutsch, Halbdeutsch bzw. Wacholderdeutsch, wie man das fehlerhafte Deutsch der sich assimilierenden Esten nannte. Rund 25 % der estni‐ schen Wortstämme sind Entlehnungen aus dem Niederdeutschen. Der Einfluss des Hochdeutschen (zugleich der späteren deutschbaltischen Sprache/ Mundart) auf die Sprachen der Esten und Letten ist viel geringer. Nicht selten wurde das eine oder andere Wort aus dem Niederdeutschen auf dem Umweg über das Estnische oder das Lettische sogar ins Deutschbaltische zurückentlehnt. Auch in das deutschbaltische Sprachgut sind viele Lehnwörter aus dem Estnischen bzw. Lettischen, aber auch aus dem Russischen eingeflossen. Dass viele deutschbaltische Kinder adligen Geblüts unter der Obhut estni‐ scher und lettischer Ammen und Dienstleute das Estnische bzw. Lettische als Erstsprache erwarben, ist ein in der deutschbaltischen Literatur verbreitetes Motiv. Wie dem auch sei, unvermeidlich war die Zweisprachigkeit bestimmt für die baltischen Literaten (wie Bildungsbürger im lokalen Sprachgebrauch üblicherweise hießen), deren begehrtestes Ziel es war, eine Pastorenstelle zu bekommen, die man ohne Kenntnis der lokalen Sprachen nicht ausüben konnte (noch durfte). Andererseits war das Deutsche auch für die Akademiker estnischer bzw. lettischer Herkunft die Bildungssprache schlechthin, so dass gebildetere bzw. sozial aufgestiegene Esten und Letten auch zu Hause meistens zum Deutschen wechselten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bediente man sich in gebildeten Kreisen oft des Deutsch(baltisch)en. Im Jahre 1891 schrieb Oskar Kallas, ein namhafter Folklorist, später auch Journalist und Botschafter der Republik Estland in London, in seinem (auf Deutsch verfassten) Tagebuch, dass er keine estnische Familie kenne, in der man unter sich Estnisch spreche. Die bekannteste estnische Lyrikerin Marie Under machte ihre ersten Schritte auf ihrem Dichterweg auf Deutsch und fing erst später, auf Anraten ihres Freundes, des Künstlers Ants Laikmaa (Laipmann), an, auf Estnisch zu dichten. 2 Mehrsprachigkeit in der Literatur Baltische Literaten waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast immer mindes‐ tens zweisprachig, ungachtet ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft. Ihre Bildungssprache war in der Regel Deutsch, außerdem verstanden bzw. sprachen 43 Sprache und Schrift im baltischen Raum 1 Eins, zwei, drei auf Estnisch. 2 Den Begriff der Makkaronie im baltischen Kontext hat zuerst Maie Kalda eingeführt (Kalda 2000). sie, lebten sie im nördlichen Teil Livlands oder in Estland, meistens mehr oder weniger gut Süd- oder Nordestnisch, im lettischsprachigen Teil des Baltikums Lettisch oder Lettgallisch, mitunter konnten sie sich auch einer dieser Sprachen schriftlich bedienen. Ihr lokales, tägliches Deutsch stand unter dem Einfluss dieser Sprachen bzw. deren Mundarten. Mehrsprachigkeit, die Fähigkeit, sich sowohl schriftlich als auch mündlich verschiedener Sprachen zu bedienen, war ein wichtiger Charakterzug dieses Kulturraumes. Selbstverständlich kommt dies auch in der Literatur zum Ausdruck. Im Folgenden werde ich einige Beispiele für den Gebrauch der Mehrspra‐ chigkeit in der Literatur des Baltikums anführen. Ich gehe dabei von der von Jaan Undusk im Jahre 1992 entworfenen, immer noch durchaus aktuellen Typologie des estnisch-deutschen Literaturtransfers (Undusk 1992) aus, die zwischen Formen verschiedenster Kontakte literarischer Art unterscheidet. Mich interessieren an dieser Stelle jedoch lediglich die Kontakte, die sich mit dem Phänomen der Exophonie (oder Zweisprachigkeit im weiteren Sinne) in Verbindung bringen lassen. Es lässt sich zwischen einer sprachinternen, textinternen und autorinternen Zweisprachigkeit unterscheiden. 2.1 Mit sprachinterner Zweiprachigkeit meine ich Texte, die in einer Mischspra‐ che entstanden sind. Der deutschbaltische Dialekt ist selbst schon gewissermas‐ sen eine solche Mischsprache, in die estnische bzw. lettische, russische oder französische Wörter eingebettet sind. Ein frühes Beispiel ist ein kleines Fragment aus dem Gedicht „Lieffländische Schneegräfin“ (Fleming 1638) von Paul Fleming (1609-1640), wo Hochdeutsch, Niederdeutsch und Estnisch sich mischen Die Braut/ bald rot/ bald blaß, fing endlich an zu reden: „Wat schal ich arme Kind? Gott weht, wat sy my theden! “ Das ander/ Ycks / Kacks / Koll 1 hub sie auff Undeutsch an, Das ich noch nicht versteh’, und auch kein Gott nicht kan. Literarische Texte im deutschbaltischen Dialekt wurden jedoch selten verfasst, in der Regel geschah dies nur in ‚niedrigen‘ Literaturgattungen, wobei das Deutschbaltische die Funktion von Parodie, Ironie oder Witz innehatte. Das Deutschbaltische (mit all seinen Jargons) wurde dem Bereich des Komischen zugeordnet und kam am systematischsten zum Einsatz in der sogenannten halbdeutschsprachigen Dichtung — in der makkaronischen Dichtung 2 des Bal‐ 44 Liina Lukas 3 Estn. Stall 4 Estn. Schlitten 5 Estn. Asche und Staub 6 Estn. mit grosser Schnelligkeit 7 Estn. eins, zwei, drei tikums vor allem des 19. Jahrhunderts. In dieser Gattung werden zwei Sprachen zur Erzielung eines komischen oder parodistischen Effektes vermischt, indem Morphologie und Syntax der deutschen Sprache auf den Wortschatz des Est‐ nischen bzw. des Lettischen übertragen werden, wobei die Phonologie dem Estnischen angepasst wird, z. B. werden die stimmhaften Konsonanten durch die stimmlosen und Doppelkonsonanten durch einen Konsonant ersetzt, das h weggelassen usw. (Über die Merkmale des Halbdeutschen siehe Ariste 1981). Die Oberpahlsche Freundschaft (1818/ 1857) des Tallinners Jacob Johann Malm (1796-1762) ist das erste und bekannteste, geradezu wegweisende Gedicht dieser Gattung gewesen (siehe dazu Lehiste 1965). Vart’, tenkt’ ich mal in meine Sinn, Willst wahren toch heinmal Su Wreind nach Oberpalen in! Und ging nu in tas Tall 3 Und nehmt tas Wuchs mit lange Wanz Und pannt tas wor tas Saan 4 ; Tann nehmt’ ich meine Mütz und Ans Und wangt’ su jagen an; Und nu katsait turch Tuchk und Tolm’ 5 Ich tuhhat neljad 6 wort. Und wie tas Wind war üks, kaks, kolm 7 Ich an tas Tell und Ort. Vart’, tenkt ich, willst toch machen Paß Mit oberpalse Wreind! Tu willst ihm trehen lange Nas’; Laß sehn, was tas toch meint! (Malm 1861: 3) Auch in der estnischen Literatur ist dieser Typus bekannt. Ein Dialog aus der Erzählung Veli Henn (1901) von August Kitzberg (1863-1955, Kitzberg 2002: 271) klingt wie folgt: 45 Sprache und Schrift im baltischen Raum Kniks-Mariihen: „Bitte,“ ütles Mariihen. „Astuge aita, sääl on toolisid, ja võite ennast natuke erhoolida.“ „Herr Lehepuu, üks väga peenike kawalier, - herr Birkenbaum, minu Freundini Bräutigam, - herr Sissa, minu Tänzer, kui Vereinis ball oli, - herr Enilane, ka üks hää Tänzer…“ Anders als bei Malm ist hier die syntaktische und grammatikalische Basis‐ sprache Estnisch, in das deutsche Wörter oder Ausdrücke eingebettet und grammatisch angepasst sind. Jedes zweite Wort in der Rede von Kniks-Mariihen ist deutsch: Bitte, erhoolida (erholen), Herr, Kawalier, Freundin, Bräutigam, Tänzer, Verein, Ball. Ungeachtet der Basissprache wird in dieser Dichtung ein bestimmter sozialer Typus dargestellt, ein ‚Emporkömmling‘ meistens estnischer bzw. lettischer Abstammung oder aber auch ein sozial heruntergekommener Deutscher (ein sogenannter Klein-Deutscher), der seine Identität aufgegeben hat oder seine Po‐ sition in der Gesellschaft ändern möchte und seine (vermeintliche) Bildung gern hervorkehrt. Dabei kann er z. B. ‚gehobene‘ deutsch- oder französischsprachige Sätze verwenden. Vahur Aabrams (Aabrams 2007) hat die halbdeutschsprachige Dichtung als Erscheinung einer karnevalesken Kultur im Sinne von Michail Bachtin interpretiert. 2.2 Unter textinterner Zweisprachigkeit verstehe ich die Verwendung zweier Sprachen in einem Text, ohne Morphologie und Syntax einer Sprache an die Ziel- oder Basissprache anzupassen. Abrupt wird von einer Sprache in die andere übergegangen, wobei die Sprachen eine bestimmte kulturelle Funktion im Text haben. Diese Art von Mehrsprachigkeit nahm ihren Anfang mit kirchlichen Texten im 16. Jahrhundert und war noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Baltikum gebräuchlich. Ein früheres, charakteristisches Beispiel sind die hauptsächlich estnischsprachigen Predigten (1600-1608) des Tallinner Pastors Georg Müller (1570-1608), in denen deutsche und lateinische Passagen verwendet werden. Aus späterer Zeit könnte man das Stück Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland, mit Untermisch‐ ten Gesängen (1789) von August von Kotzebue (1761-1819) hervorheben, das auf der Bühne des Revaler Liebhabertheaters uraufgeführt wurde. Der dritte Akt des Stückes beginnt mit einem estnischsprachigen Dialog und die ganze Parallelhandlung findet auf Estnisch statt. Textbeispiele für texinternen Bilinguismus aus dem 19. Jahrhundert sind etwa der zweisprachige Briefwechsel von Lydia Koidula (1843-1886), der ersten estnischen Lyrikerin, und Friedrich Reinhold Kreutzwald (1817-1903), dem Verfasser des estnischen Nationalepos Kalevipoeg (Kalews Sohn). 46 Liina Lukas 2.3 Mit autorinternem Bilinguismus ist die Beteiligung eines Autors an zwei Literaturen gemeint, wie das etwa bei der Gelegenheitsdichtung des 17. Jahr‐ hunderts nicht selten der Fall war. Der Autor schreibt in mehreren Sprachen, indem er seine Schriftsprache entsprechend der Funktion, Gattung, dem Stil und Adressaten des Textes wählt, aber in einem Text durchgehend eine Sprache verwendet. Das allererste estnischsprachige Gedicht wurde im Jahre 1637 von dem gebürtigen Mecklenburger Reiner Brockmann (1609-1647), dem Professor des Revaler Gymnasiums, einem Freund von Paul Fleming verfasst und trug den lateinischen Titel Carmen alexandrinum esthonicum ad leges Opitij poeticas compositum. Wie in der Barockdichtung üblich, hat Brockmann in mehreren Sprachen, u. a. auch auf Estnisch, gedichtet. Sein Plädoyer für die estnische Sprache auf Deutsch klingt wie folgt: Andre mögn ein anders treiben; Ich hab wollen Esthnisch schreiben. Esthnisch redet man im Lande/ Esthnisch redet man am Strande Esthnisch redt man in der Mauren Esthnisch redden auch die Bauren Esthnisch redden Edelleute Die Gelährten gleichfalls heute Esthnisch redden auch die Damen Esthnisch, die aus Teutschland kamen, Esthnisch reden jung’ und alte. Sieh, was man von Esthnisch halte? Esthnisch man in Kirchen höret Da Gott selber Esthnisch lehret. Auch die klugen Pierinnen Jetzt das Esthnisch lieb gewinnen. Ich hab wollen Esthnisch schreiben Andre mögn ein andres treiben. (Brockmann 2000: 94-95.) Die Landprediger Gotthard Friedrich Stender (1714-1796) und Johann Wilhelm Ludwig Luce (1756-1842) haben ihre aufklärerischen Schriften auf Deutsch, ihre volksaufklärerischen Werke auf Lettisch bzw. Estnisch verfasst; der Dich‐ ter Kristian Jaak Peterson (1801-1822) hat seine Arbeiten zur Sprache und Religion auf Deutsch geschrieben, sein dichterisches Werk ist aber in estnischer Sprache verfasst (mit Ausnahme von einigen deutschsprachigen Gedichten). Der Este (bzw. der estnischstämmige) Friedrich Robert Faehlmann (1798-1850) 47 Sprache und Schrift im baltischen Raum verfasste seine berühmten Estnischen Sagen auf Deutsch, der Deutsche (bzw. der deutschstämmige) Georg Julius von Schultz-Bertram (1808-1875) wiederum sein Epos Ilmatar (1870) auf Estnisch. Das estnische Nationalepos Kalevipoeg (unter dem Titel: Kalewipoeg. Eine estnische Sage, 1857-1861) erschien zum ersten Mal parallel auf Estnisch und Deutsch. Die Wahl der Schriftsprache war meistens abhängig von der angestrebten Funktion des Textes und von dessen Adressaten (Undusk 1999). Auch in gelehrten Kreisen des beginnenden 20. Jahrhunderts kam es noch vor, dass man die Sprache nach der Funktion und Gattung des Textes und nach dem Adressaten wechselte. Zum Beispiel dichtete Axel Kallas (1890-1922) sowohl auf Deutsch als auch auf Estnisch. Im Jahre 1912 veröffentlichte er seinen deutschsprachigen Lyrikband Am Moor (Dorpat 1912); im Jahre 1920 erschien noch ein deutschsprachiger „futuro-kubistischer“ Band Nervenvibrierungen im Tintengewande: Futuro-kubistsches. Ein Jahr darauf wechselte er seine Dichtungssprache und gab zwei Gedichtbände auf Estnisch heraus. 3 Postkoloniale Mehrsprachigkeit in Estland und Lettland Erst durch die Geburt der neuen selbständigen Staaten Estland und Lettland im Jahre 1918 haben Estnisch und Lettisch den Status einer Staatssprache erreicht. Damit einher ging auch die Möglichkeit, die Sprache in allen Lebensbereichen zu verwenden, auf dem Gebiet der Wissenschaft etwa bedeutete das großteils das Betreten von Neuland. In Estland wurde vom neuen Staat allen nationalen Minderheiten (8 % Russen und 1,7 % Deutsche, Schweden, Ingermanländer und Woten) eine damals weltweit beispiellose Kulturautonomie gewährt und auch die staatliche Kulturförderung war nicht explizit auf die Staatssprache beschränkt (Hasselblatt 1997: 37-46). Obwohl die deutsche Bevölkerungsgruppe Estlands immer kleiner wurde (im Jahre 1881 machte sie 5,3%, im Jahre 1887 3,5%, im Jahre 1922 1,7 und im Jahre 1934 nur noch 1,5% der gesamten Bevölkerung aus), spielte sie immer eine grosse Rolle auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. Neben estnischsprachigen Schulen existierten in Estland während der Zwischenkriegszeit auch deutschsprachige und russischsprachige, es erschie‐ nen Zeitungen und sonstige Periodika in einer Reihe von Sprachen (Deutsch, Russisch, Jiddisch, Schwedisch). Im Universitätsunterricht wurde in den 1920er Jahren noch Deutsch und Russisch verwendet (estnischsprachige Fachliteratur gab es zunächst noch kaum), aber der Übergang zum Estnischen vollzog sich konsequent und letztlich auch erfolgreich. 48 Liina Lukas Obwohl zur Zeit der Republik Estlands die Intellektuellen und viele Staats‐ bürger und Einwohner des Landes faktisch mehrsprachig waren, imstande, sich auf Estnisch, Deutsch und Russisch, in „den drei lokalen Sprachen“, wie es hieß, auszudrücken, nahm in der Literatur Mehrsprachigkeit allmählich ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel die estnische Literatur in zwei Teile, und da das Schicksal viele SchriftstellerInnen als Exilierte ins Ausland - nach Schweden, Kanada, Australien, in die Vereinigten Staaten oder sonstwo‐ hin - verschlagen hatte, wurde Exophonie in der estnischen Literatur zu einem Phänomen, das vor allem für die Textproduktion von ExilautorInnen charakteristisch war. Während die erste Generation estnischer ExilautorInnen vorwiegend auf Estnisch geschrieben hat, konnten die im Kindesalter aus dem estnischen Sprachraum Herausgerissenen gelegentlich bereits in zwei Sprachen schreiben. Elin Toona (1937) hat ihren im schwedischen Lund 1969 erschienenen Roman Lotukata auf Estnisch und Englisch (unter dem Titel In Search of Coffee Mountains) verfasst. Karin Saarsen (1926-2018) hat auf Schwedisch und Estnisch geschrieben. Ihr letzter Lyrikband Lõvi ja orhidee (Löwe und Orchidee) enthält Gedichte auf Estnisch, Schwedisch, Englisch, Deutsch und Französisch. Auf Deutsch haben die estnischen ExilautorInnen allerdings nur noch selten geschrieben. Fast eine Ausnahme bildet das Werk von Ivar Ivask (1927-1992). Ivask wurde 1927 in Riga (man könnte sagen: auf der größten deutschen Sprachinsel des Baltikums) als Sohn eines estnischen Vaters und einer lettischen Mutter geboren und wuchs mehrsprachig auf: neben Estnisch wurde zu Hause auch Lettisch und Deutsch gesprochen. Unter dem Einfluss von Rainer Maria Rilke schrieb der 16-jährige seine ersten Gedichte in deut‐ scher Sprache. Vor der sowjetischen Besatzung floh er 1944 nach Deutschland, erhielt seine akademische Bildung als Germanist in Marburg, wurde später Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Okla‐ homa und Chefredakteur der angesehenen Fachzeitschrift World Literature Today. Auf seine Initiative geht auch der renommierte Neustadt International Prize for Literature zurück. Ivask schrieb seine Lyrik auf Estnisch, Englisch und Deutsch (die nichtestnischen Werke sind Gespiegelte Erde (1967) und Baltic elegies (1987)). Im Vorwort zu Ivasks deutschsprachigem Gedichtband schreibt Herbert Eisenreich, dass Ivar Ivask mit seinem Gedichtband der deutschsprachigen Lyrik etwas Neues brachte und erklärt das wie folgt: Ivasks deutsche Gedichte gewinnen, sagt er, ihre Eigentümlichkeit und ihren doppelten Wert, den des Gefühlten und den des Gesagten, offensichtlich in dem Prozess und durch den Prozess der Aneignung: da, in dem doch fremden Idiom, wurde einem nichts geschenkt, man musste es teuer 49 Sprache und Schrift im baltischen Raum erkaufen, verzweifelt erobern - und gelangte just dadurch weit über das Konventio‐ nelle hinaus (mit den geradezu unverfroren zusammengesetzten Hauptwörtern, zum Beispiel, oder in der naiven Wiedergewinnung der Anschaulichkeit von scheinbar verbrauchten Wort-Bildern). Oder anders ausgedrückt: Ich merke, dass da jemand Fremder meine Muttersprache spricht, und in dieser winzigen Fremdheit klingt sie, im allergenauesten Wortsinn, unerhört, in dieser winzigen Fremdheit hat sie nun wieder jungfräuliche Reinheit. Und mit dem fremden Akzent sagt sie, diese Sprache, mir mehr, als sie’s in meinem eignen, gleichsam routinierten Gebrauch vermag. […] In diesen Versen [ist] fortgebildet, wie man im andern, im Fremden, zu sich kommt. Und vice versa. (Eisenreich 1967: 7.) Die im Exil geborene Generation schrieb allerdings (fast) nicht mehr auf Estnisch, ihre Schaffenssprache wurde meistens die Sprache ihrer jeweiligen Wahlheimat. In Sowjet-Estland gelang es gleichzeitig, allen Russifizierungsversuchen zum Trotz, die estnischsprachige Bildung auf allen Ebenen - eine Errungenschaft der Vorkriegszeit -aufrechtzuerhalten, auch wenn gelegentlich die Verwendung russischer Sprache von den Autoritäten stark bevorzugt und gefördert wurden. Der westliche Teil der Sowjetunion ist ein aufschlussreiches Untersuchungs‐ feld für all diejenigen, die sich für die Frage interessieren, wie Sprachen auf historisch-politische Umstände reagieren und ihrerseits darauf Einfluss nehmen können. Im Fall Sowjet-Estlands folgte auf den politisch und bildungspolitisch mit allen Mitteln geförderten Sprachwechselkurs zum Russischen hin als Reak‐ tion eine verstärkte Pflege der estnischen Sprache, bis hin zur Konservierung, eine von der Mehrheit der Urbevölkerung wohl als Selbstverständlichkeit empfundene Verwendung der estnischen Sprache in nahezu allen gesellschaft‐ lichen Bereichen. Man erwarb bis zum Ende der Sowjetzeit zwar relativ gute Kenntnisse der russischen Sprache, aber die Übernahme von Sprachelementen aus dem Russischen blieb trotzdem eher recht gering und oberflächlich. Estnisch-russischer Bilingualismus kam und kommt im Alltag zwar vor (siehe Verschik 2005; Verschik-Bone 2018), Exophonie gibt es in der Literatur trotzdem nur vereinzelt. 4 Exophonie der heutigen Literatur(en) Estlands Von den Fällen der Exophonie in der zeitgenössischen estnischen Literatur hängt keiner mit der deutschen Sprache zusammen. Paradoxerweise hat das Ereignis, das man gemeinhin mit der Absicht Deutschlands, Osteuropa sowohl politisch als auch kulturell und sprachlich zu unterwerfen, assoziiert, die Umsiedlung 50 Liina Lukas 8 Siehe seinen Beitrag in diesem Band. (fast) aller Deutschbalten 1939 (und 1941) aus dem Baltikum „heim ins Reich“, mehr oder weniger abrupt und wohl auch unwiederbringlich die estnisch/ let‐ tisch-deutsche Zweisprachigkeit beendet. Jenes Ereignis hat innerhalb kürzester Zeit die deutsche Sprache ihres bisherigen kaum umstrittenen Status als erster Fremdsprache und erster Wissenschaftssprache der baltischen Region beraubt. Im heutigen Estland kann es in folgenden Fällen zu Zweisprachigkeit kom‐ men: Die möglichen Sprachpaare sind Estnisch und Englisch, Estnisch und Rus‐ sisch, Estnische Standardsprache und lokale Mundarten (Setukesisch, Werro-, Mulgi-, Kihnuestnisch usw.). Deutsch wird in den Literaturen des Baltikums heutzutage nicht mehr verwendet (allenfalls als Stilmittel (Lokalkolorit) in historischen Romanen und Erzählungen, z. B. von Jaan Kross (1920-2007); oder Mati Unt (1944-2005) in seinem estnischsprachigen Brecht-Roman, der den deutschsprachigen Titel hat: Brecht bricht ein in der Nacht (1997). In welcher Form (textintern, autorintern, sprachintern) äußert sich also Zweisprachigkeit in der zeitgenössischen estnischen Literatur? Obwohl der sprachinterne Bilingualismus inzwischen aufs Neue ein alltägliches Phänomen geworden ist (in der estnischen Umgangssprache vor allem jüngerer Leute wimmelt es von Elementen aus dem Englischen, die Umgangssprache der Russen Estlands kommt aber darüber hinaus, so scheint es, nicht mehr ohne estnische Worte aus), trifft man diese Art von Zweisprachigkeit in der Literatur eher selten an. Auch textinterne Exophonie ist eine seltene Erscheinung und lässt sich an unerwarteten Orten entdecken, z. B. in der Lyrik von Øyvind Rangøy, eines Norwegers, der in Estland seine Wahlheimat gefunden und angefangen hat, auf Estnisch zu dichten. 8 Sein Gedicht „Kodeveksling. Koodivahetus“ (Rangøy 2019) ist zweisprachig: Eg er norsk. I det er eg heime, slik ein er heime som legg frå seg Sekken. Ser at bislaget er der som før, med lukter av barndom. At kjeledressen er min no, for nokon er død. Olen eesti keeles ka olemas. Kui õunapuule poogitud pihlakaoks. Kunagine teine puu on Praegu minugi väikeste õunte mahlas. Lugu, mis kunagi kaugel Mere ja okastraadi taga vaid virvendas, on nüüd ka minu. [---] Am häufigsten kommt die (autorinterne) Exophonie in der Literatur Estlands vor und es lassen sich folgende Fälle unterscheiden: 51 Sprache und Schrift im baltischen Raum 1. Exophonie zwischen Estnisch und Englisch (estnischer Autor fängt auf Englisch zu schreiben an). Das hat weniger mit der persönlichen Identität bzw. einem sprachlichen Hintergrund des Autors zu tun, vielmehr ist hier wohl von einem Versuch auszugehen, auf diese Art und Weise ein breiteres, internationales Publikum zu erreichen. Unter Liederautoren in der estnischen Popmusik ist das seit den 1990er Jahren schon fast ein Normalfall. 2. Russisch-estnische Exophonie wird vertreten von estnisch-russischen AutorInnen, die gelegentlich auf Estnisch schreiben. Das kommt immer noch eher selten vor. Die Literatur der Russen Estlands ist meistens in russischer Sprache geschrieben. Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, wäre Igor Kotjuh, der seine Texte vorwiegend auf Russisch schreibt, im Jahre 2007 aber auch einen estnischsprachigen Gedichtband Teises keeles (In einer anderen/ zweiten Sprache) herausgebracht hat. In einer anderen Sprache 1. Es gibt die Muttersprache und eine andere Sprache. Aber der Mensch ist derselbe. 2. Es gibt das Leben und die Dichtung. Jeder Dichter ist ein Mensch, nicht andersherum. 3. Man kann eine andere Sprache beherrschen im Leben oder in der Dichtung, von Geburt an oder danach. Dennoch wird diese Sprache für ihn eine ewig andere bleiben. (Kotjuh 2007: 31-33.) 52 Liina Lukas 9 Deutsche Übersetzung von Vahur Aabrams. Versuch einer Selbstbestimmung Sich den Esten zurechnen — mit Russisch als Muttersprache. Sich den Russen zurechnen — das Temperament stimmt nicht. Sich einen Europäer nennen — ein Vorrecht Auserwählter. Oder einen Weltbürger — zu abstrakt. Man muss schlicht und einfach ein Mensch sein. Wird das wohl verstanden? (Kotjuh 2007: 30. 9 ) Seltener gibt es AutorInnen mit estnischen Wurzeln, die angefangen haben, auf Russisch zu schreiben. Einer von ihnen ist Priit Parmakson, dessen literarisches Werk im Grenzgebiet von Sprachen (Russisch, Est‐ nisch, Englisch) und Kunstsprachen (Literatur, visuelle Künste, z. B. Graphik) entsteht. Seine Muttersprache ist Estnisch, aber auf Russisch zu schreiben hat er angefangen als ideologische Geste nach den Ereignissen um den Bronzenen Soldaten (das umstrittene Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der roten Armee in Tallinn, das von der estnischen Seite als Symbol der Annektierung Estlands, von der russischen Seite als das Symbol der Befreiung angesehen wird) im Jahre 2007. 3. Drittens kann das Phänomen der Exophonie im Zusammenhang mit der sogenannten Mundartenliteratur (vor allem auf Werroestnisch, Se‐ tukesisch) behandelt werden. Estnisch ist für die meisten estnischen SchriftstellerInnen heutzutage zwar die erste Schriftsprache, eine Mund‐ art hingegen (bzw. eine lokale Sprache) lernt man in der Funktion einer Schriftsprache erst nach dem Erwerb der normierten estnischen Sprache kennen und danach gegebenenfalls auch als Literatursprache zu verwenden, da die einheitliche Schulbildung in Estland (seit etwa 100 Jahren überall) nur auf Schriftestnisch stattfindet. Die Zahl der AutorInnen, die nur auf Werroestnisch und Setukesisch und nicht in estnischer Standardsprache schreiben, ist heute dennoch relativ groß (Kauksi Ülle, Merca, Andreas Kalkun u. a.). 4. Dass ein Nichtmuttersprachler sich des Estnischen als dichterischer Sprache bedient, kommt selten vor. Eine Ausnahme ist die Lyrik des schon erwähnten Øyvind Rangøy, in der er auch seine exophone Situation reflektiert: 53 Sprache und Schrift im baltischen Raum 10 Aus dem estnischen übersetzt von Vahur Aabrams. Außerhalb der Sprache Wurzeln schlagen in einer anderen Sprache ist ein In-die-Ehe-Treten in umge‐ kehrter Richtung: man wird zwei Fleisch, zwei Seelen. Der Gang der Dinge ist unter Umständen schmerzhaft, wunderbar und unvermeidlich. Innerlich sich zweiteilen ist ein erstaunlich schneller Prozess. Wer bin ich außerhalb der Sprache? Einer jener Steine, die die Eltern meiner Eltern zum Schutz der Beerensträucher aufeinandergestapelt haben? Der Lichteinfalls‐ winkel auf der Meeresoberfläche? Überhaupt irgend etwas? Vielleicht bloß ein Träumender? 10 Das wohl interessanteste Beispiel für alle diese Fälle aus der estnischen Literatur bietet die Lyrik des 1941 geborenen Jaan Kaplinski, der als der exophonste Autor Estlands gelten dürfte. Schon in seinem Buch Öölinnud. Öömõtted (1998; dt. Nachtvögel. Nachtgedanken) publizierte Kaplinski neben estnischsprachigen Gedichten eine Reihe von Texten in finnischer und englischer Sprache. Sein Band Sõnad sõnatusse (2005; dt. Worte ins Wortlose) enthält auch russische Gedichte. Mit seinem zu Ende des Jahres 2010 gemachen Blogeintrag „Goodbye my Estonian“ löste Kaplinski seine bisherige Schaffenssprache ab und erklärte zu‐ gleich, warum er nicht mehr auf Estnisch schreiben könne. Kaplinski entschloss sich, seine Muttersprache gewissermaßen aufzugeben, denn seinem Eindruck nach seien es heute bestimmte Gruppen von Fachleuten, mit dem damaligen Präsidenten (Toomas Hendrik Ilves) an der Spitze, die den SprecherInnen des Estnischen Worte, Normen und Ausdrucksweisen aufzwingen. Kaplinski wettert gegen die estnische IT-Terminologie, die er nicht für erlernenswert hält, denn sie sei nur scheinbar Estnisch, und er schließt: „Niemand hat das Recht, den Leuten Estlands zu sagen, welche Worte sie benutzen sollten und welche nicht.“ Kaplinski schreibt: Erstens habe ich Gedichte, Essays und Aufsätze in estnischer Sprache seit etwa 50 Jahren, das ist ein halbes Jahrhundert, geschrieben. Genügt es nicht? […] Ich habe versucht, mein Bestes zu tun, um diese Sprache intelligent und kreativ zu verwenden. Ich habe versucht, sie vor Normativen und Neologismen in Schutz zu nehmen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass meine Bemühungen folgenlos geblieben sind. Ich habe meine Schlacht verloren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu ergeben. Ich will keine estnischen Medien mehr lesen, weder mir unsere Radiosendungen anhören noch unsere Fernsehprogramme angucken. Eine modernisierte Sprache tut mir weh. 54 Liina Lukas 11 http: / / jaankaplinski.blogspot.com/ 2010/ 12/ goodbye-my-estonian.html. Übersetzt von Vahur Aabrams. Ich muss das Schreiben in estnischer Sprache aufgeben und versuchen, fortan auf Werroestnisch, Englisch oder Russisch zu schreiben. 11 Und das tut er auch, von diesem Zeitpunkt ab dichtet er auf Englisch, Werroest‐ nisch und Russisch. FATHERLAND homeland words become meaningless in the Western world in modern poetry Words losing their (eco)logical niche as fish as suffocating fish from some used up lake some waterless body of water I am a fish too a fish from a lake called Estonia […] They asked me do I feel myself at least a bit Polish what could I answer them what did I answer them an Estonian non-Catholic non-Protestant a fish from a far-off lake looking upon them through these multicoloured reefs and waves what words have they heard from my mouth grown up in another language in another world […] (Kaplinski 2000: 883-886.) 55 Sprache und Schrift im baltischen Raum Anfang November 2019 erschien das bisher letzte Werk von Jaan Kaplinski, seine Kindheits- und Jugenderinnerungen Latsepõlve suve (Võru, 2019), verfasst auf Werroestnisch - in der Sprache seiner Kindheit und Jugend. Im Jahre 2014 gab er als Ян Каплинский einen Band von Gedichten in russischer Sprache heraus Белые бабочки ночи/ Бѣлыя бабочки ночи (Nachwort von Sergei Zawjalow, Kite, 2014; d. h. Weißer Nachtfalter auf Russisch und Altrussisch). Der Band wurde von der russischen Kritik positiv aufgenommen: „Nach Rilke ist das der zweite Versuch, dass ein europäischer Dichter von diesem Rang sich dem russischen Vers zuwendet. Im Unterschied zu Rilke dichtet Kaplinski glänzend in russischer Sprache.” (Каневский 2014) Dieser Sprachwechsel erregte in der estnischen Gesellschaft starkes Aufse‐ hen, man sah bzw. suchte darin die Äußerung einer politischen Stellungnahme. Man hat aber auch Kaplinskis Entschluss zu einer grundsätzlichen Mehrspra‐ chigkeit als Zeichen einer zu begrüßenden Interkulturalität interpretiert und dabei auf den Semiotiker Juri Lotman verwiesen, der Mehrsprachigkeit - Berührung und Austausch der Sprachen - als die unentbehrliche Bedingung zur Entwicklung einer Kultur auffasst. (Trunin 2014) Mit diesem Lotmanschen Gedanken wäre es angemessen, diesen kurzen Abriss der Geschichte der estnischen mehrsprachigen und exophonen Literatur zu beschließen. Doch man gestatte mir noch eine Bemerkung. Bei Phänomenen der Mehrsprachigkeit bzw. Exophonie drängt sich immer die Frage auf: Welcher Literatur gehört so etwas/ jemand eigentlich an? Die deutschbaltischen Auto‐ rInnen hielten sich selbst in der Regel für der deutschen Literatur zugehörig. Heute würde man sie dennoch eher der estnischen bzw. lettischen Literatur (oder wenigstens der Literatur Estlands bzw. Lettlands) zurechnen. Dieselbe Frage hat man sich manchmal auch angesichts der heutigen ‚est‐ nischrussischen‘ Literatur gestellt, die sich eigentlich als solche noch erst bewähren muss. Ist sie ein Bestandteil der russischen oder der estnischen Literatur? Ich bin der Meinung, die russischestnische Literatur gehört sehr wohl zur estnischen Literatur. Eine Geschichte der estnischen Literatur sollte folglich auch ein Kapitel über die deutschbaltische und russischestnische Literatur enthalten. Bisher hat man das so nicht gemacht, selbst wenn die Idee an sich ja gar nicht so neu ist. So hat der erste Professor für estnische Literatur an der est‐ nischsprachigen Universität Tartu, Gustav Suits, im Jahre 1929 die Aufgabe der Literaturforschung folgendermaßen formuliert: „Baltische Literaturgeschichte in einem weiteren Sinne des Wortes wäre erst dann bearbeitet, wenn der Horizont des Betrachters die literarischen Berührungen und Gegenwirkungen der hiesigen Völker umfasst.“ (Suits 1929: 208). Ihm sekundiert Otto Alexander 56 Liina Lukas Webermann, den das Schicksal nach dem Zweiten Weltkrieg nach Göttingen brachte: Unabhängig davon, wo man die Hauptakzente setzt, kann der Literaturhistoriker in solchen Räumen wie in unserer Heimat, wo mehrere Sprachen nebeneinander existieren und wo in früheren Zeiten die meisten Autoren in zwei oder in mehreren Sprachen geschrieben haben, nicht umhin, einerseits diesen Raum als eine Einheit zu betrachten, andererseits aber den komplexen Charakter der geistigen Erscheinungen zu berücksichtigen, und wenn die bisherigen Möglichkeiten und Methoden nicht ausreichen, so müssen wir nach neuen suchen. (Webermann 1960: 27.) Literaturverzeichnis Aabrams, Vahur (2007). „Mehr nurrige Gesicht“. Vier Gedichte in estnischem Halb‐ deutsch. Aus einer karnevalesken Umbruchszeit. Magisterarbeit (Manuskript). Uni‐ versität Tartu, 2007. Ariste, Paul (1981). Keele kreolisatsioon. In: Ariste, Paul. Keelekontaktid. Eesti keele kontakte teiste keeltega. 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Mit diesem Anliegen beschäftigte sich ein Forschungsprojekt von Germanistikstudierenden an der Universität Tallinn, dessen Ergebnisse der vorliegende Beitrag präsentiert. Keywords: Mehrsprachigkeit, Estland, Deutschbalten, Schultz-Bertram, Hunnius, Schaper 1 Einleitung Die deutschbaltische literarische Kultur ist seit ihrem Anfang im 13. Jahrhun‐ dert ein mehrsprachiges Phänomen gewesen. Es handelt sich um die Literatur einer deutschsprachigen Minderheit in den heutigen Gebieten der Republiken Estland und Lettland, bestehend aus Adel, Bürgerlichen und Geistlichen, die in diesen Ländern seit der Christianisierung während vieler Jahrhunderte die Oberschicht bildete. Die Geschichte der deutschbaltischen Besiedlung endete mit dem Zweiten Weltkrieg, als die Deutschbalten im Rahmen der Umsiedlung (1939-1940) und der darauffolgenden Nachumsiedlung (1941) die Gebiete verließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Forschung zur deutschbaltischen Literatur in Est- und Lettland aus politischen Gründen unerwünscht. Ebenso wurden die deutschbaltischen Werke nicht übersetzt, so dass sie den estnischen bzw. lettischen Lesern erst am und nach dem Ende der Sowjetzeit zugänglich wurden und somit für diese alten Texte eine zweite Welle der Rezeption aufkam. In der aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung fehlt der Konsens darüber, wie die deutschbaltische Literatur zu bestimmen ist. Traditionell werden estnische, lettische und deutschbaltische Literatur getrennt betrachtet, wobei vor allem die Sprache (vgl. Hasselblatt 2006: 3), aber auch die Herkunft der Autoren und Autorinnen sowie die behandelten Themen von Bedeutung sind (Wilpert 2005: 16). Diese sprachliche Abgrenzung wird jedoch der kulturellen und sprachlichen Vielfalt der in der Region geschriebenen literarischen Texte nicht gerecht. Jaan Undusk (2011: 561-562) macht darauf aufmerksam, dass die estnische und lettische Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keine eigenen Literaturen bildeten, sondern als Peripherie der deutschbaltischen Literatur funktionierten. Diese Peripherie beeinflusste rück‐ wirkend das Zentrum, wobei u. a. das mehrsprachige Schreiben eine bedeutende Rolle spielte. Ebenso kann man vermuten, dass die deutschbaltische Litera‐ tur wegen der ethnischen Mischung der Bevölkerung, gesellschaftlichen und sprachlichen Kontakte, kulturellen Prozesse und Zugehörigkeit der Gebiete zu verschiedenen Mächten in einem mehrsprachigen und transkulturellen Kontext entstand. Neben der deutschbaltischen Varietät wurden auch finno-ugrische und baltische Sprachen sowie je nach der kulturell-politischen Lage unter anderem auch Latein, Polnisch, Schwedisch, Russisch, Französisch verwendet. Der Einfluss dieser sprachlichen Situation auf die Literatur ist jedoch bisher nur am Rande erforscht worden (Wilpert 2005: 16). Die Frage nach dem Einfluss der beschriebenen sprachlichen Vielfalt auf die deutschbaltische Literatur im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Anliegen eines Projekts von Tallinner Germanistikstudie‐ renden unter der Leitung von Maris Saagpakk, aus dem der vorliegende Beitrag hervorgegangen ist. Am Projekt haben Studierende aus unterschiedlichen Stu‐ dienjahren teilgenommen. Zwei der Studierenden (Mart Vinnal, Liisbet Erepuu) haben ihre Seminararbeiten zu diesem Thema geschrieben und sind dann aus 60 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar 1 Die Beispiele von Erepuu und Vinnal werden im vorliegenden Beiträgen nicht berück‐ sichtigt. 2 Mehr dazu Keevallik, Pajusalu 1995. dem Projekt ausgestiegen, 1 drei (Marin Jänes, Annika Saar, Marianne Laura Saar) haben die Arbeit unter Betreuung von Maris Saagpakk fortgesetzt. Die Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausarbeitung des Beitrags wurde von Marin Jänes ausgeführt. Der Fokus des Projekts lag darauf, in welchen Formen die Mehrsprachigkeit in der Literatur weitergegeben wird, welche Funktionen die Mehrsprachigkeit in den Werken hat und welche Schlussfolgerungen für die sprachlichen, kulturellen und sozialen Differenzen im historischen Baltikum daraus gezogen werden können. Lawrence Alan Rosenwalds Satz: „literature can teach us so‐ mething about linguistic history“ (2008: xi) diente dabei als Arbeitshypothese. Neben der Analyse der literarischen Primärtexte wurde auch die Mehrspra‐ chigkeit in den Übersetzungen der analysierten Texte ins Estnische, die seit 1991 erschienen sind, in Betracht gezogen. Darüber hinaus hat die Gruppe ihre persönlichen Mehrsprachigkeitsprofile analysiert, um die eigenen Verwen‐ dungsformen und -kontexte sowie die allgemeinen sprachlichen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen der Mehrsprachigkeit besser zu verstehen. Auf die Analyse der Übersetzungen sowie die didaktische Einbettung und Lerneffekte des Projekts wird im Folgenden nicht näher eingegangen. Der vorliegende Artikel präsentiert die Ergebnisse der studentischen Recherche und stellt sie in den Kontext der Forschungslage zur deutschbaltischen Lite‐ ratur und Kultur. 2 Soziokulturelle und sprachliche Rahmenbedingungen der analysierten Werke Für den vorliegenden Beitrag wurden drei Werke der deutschbaltischen Literatur ausgewählt, die Informationen zu den früheren Sprachsituationen in den Gebieten des heutigen Estlands liefern - Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius (1921), Briefe eines baltischen Idealisten von Georg Julius von Schultz-Bertram (1934) und Der Henker von Edzard Schaper (1940). Obwohl alle drei analysierten Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, deckt die Handlungszeit sowie die Schreibzeit der Werke mehr als ein Jahrhundert ab. Die kulturellen Rahmenbedingungen und die jeweilige politische Lage, wie auch die aktuell gültigen Sprachsituationen und -hierarchien 2 während des Schreibens und der dargestellten Handlung waren somit bei allen Werken verschieden. 61 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 2.1 Georg Julius von Schultz-Bertram und die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts Die im Jahre 1934 in Leipzig erschienenen Briefe eines baltischen Idealisten wurden erst Jahrzehnte nach dem Tod des Autors von Johannes Werner heraus‐ gegeben. Das Werk enthält die Briefe des Schriftstellers, Arztes, Ethnologen und Journalisten Georg Julius von Schultz-Bertram (1808 Tallinn [damals Reval] - 1875 Wien). Die in der Sammlung publizierten privaten Briefe Schultz-Bertrams an seine Mutter und seinen engen Freundeskreis stammen aus den Jahren 1833-1875. Die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts war sowohl politisch als auch kulturell turbulent. Wie vielerorts in Mittel- und Osteuropa kam es in der estnischsprachigen Bevölkerung zu einem Erwachen des Nationalgefühls, wo‐ bei die deutschbaltische Minderheit anfangs eine unterstützende Rolle spielte. Estland gehörte seit Anfang des 18. Jahrhunderts zum russischen Zarenreich, aber die Deutschbalten hatten ständische Sonderrechte und baltische Provinzen genossen eine politische Autonomie. Für die sprachliche Situation bedeutete diese Zeit einen etwas stärkeren Kontakt zur russischen Sprache, aber Deutsch als Sprache der Verwaltung, höherer Bildung und Wissenschaft blieb an erster Stelle der Sprachhierarchie und die ständische Teilung der Sprachen - Deutsch als Sprache der Oberschicht und oberen Mittelschicht und Estnisch als Sprache der unteren Bevölkerungsschicht - blieb bestehen (vgl. Hennoste 1997: 55). Schultz-Bertram gehörte zu den estophilen Deutschbalten, die der Idee von Johann Gottfried Herder folgten, dass die Trennung zwischen ‚barbarischen‘ und ‚kultivierten‘ Völkern aufgehoben gehört. Er nahm aktiv an den Diskussio‐ nen über die Stellung der estnischen Sprache und Kultur teil (vgl. Saagpakk 2015: 106) und befürwortete, dass die Esten „auf dem natürlichen Entwickelungsgange aus sich selbst einem erhöhten Selbstbewußtsein, einem nationalen Gefühl und dadurch einer höheren Bildung“ entgegengeführt werden sollten (Schultz 1860: 433). Während seiner Lebenszeit übernahmen nationale Aktivisten estnischer Herkunft selbst die Entwicklung der estnischen Kultur und nahmen diese damit den Deutschbalten aus der Hand. 2.2 Monika Hunnius und ihr Rückblick auf Estland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Der autobiographische Roman Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius erschien im Jahre 1921 in Heilbronn. Die Schriftstellerin, Sängerin und Gesangs‐ lehrerin Monika Adele Elisabeth Hunnius (1858 Riga - 1934 Riga) lebte ihre ersten zehn Lebensjahre in Estland. Danach war sie vor allem in Riga ansässig, 62 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar wo sie auch den Ersten Weltkrieg erlebte. Eine kurze Periode verbrachte sie danach in Deutschland (vgl. Bender/ Peekmann 2019: 46), während der sie zu schreiben begann und der analysierte Roman erschien. Im Roman erinnert sie sich an die Sommer ihrer Jugendzeit in Paide (Weißen‐ stein) bei Carl Hermann Hesse, mit dem sie verwandtschaftliche Verbindungen hatte. Im Geleitwort des Romans mit dem Untertitel Die Erinnerungen an Alt-Est‐ land schreibt Hermann Hesse (das Enkelkind von Carl Hermann Hesse), dass „es alte Geschichten [sind], die dies Buch erzählt, sie geschahen in einer Welt, die nicht mehr ist“ (Hesse in Hunnius 1921: 6). Tatsächlich waren zwischen der im Roman beschriebenen Periode und der Schreibzeit heftige Erschütterungen durch das Land gegangen - die Russifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Revolution von 1905 mit dem Niederbrennen von Gutshäusern, die Kriegszeit, Abschaffung der Gutshöfe sowie Stände und aller ständischen Institutionen nach der Gründung der Republik etc. Auch die Sprachsituation veränderte sich drastisch. Die Deutschbalten, die sich bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts primär an Deutschland orientiert hatten, fanden sich angesichts des verstärkten nationalen Selbstbewusstseins der Esten, der langen Isolation von Deutschland und der beginnenden Russifizierung in einer neuen Lage (vgl. Lukas 2006: 40; Plath 2011: 15). Infolge der Russifizierung verloren die bisher an erster Stelle der Sprachhierarchie gelegene deutsche Sprache und die gerade erst einen gewissen Status gewonnene estnische Sprache an Bedeutung im öffentlichen Leben zugunsten des Russischen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Deutschbalten und Esten sich mit dieser offiziellen Hierarchie abfanden. Für die Deutschbalten blieb das Deutsche an erster Stelle und für die Esten stieg das Estnische an die Spitze der Sprachhierarchie. So entstanden in der Gesellschaft drei unterschiedliche und konkurrierende Sprachhierarchien, die von unterschiedlichen Nationalitäten und sozialen Schichten getragen wurden (vgl. Hennoste 1997: 58). Der Roman wurde nach der Gründung der Republik Estland geschrieben. Die Abschaffung der Ständegesellschaft und die ‚Estnifizierung‘ bedingten eine neue Sprachsituation, in der sich der Status des Estnischen erhöhte. Diese gesellschaftlichen Umwälzungen beeinflussten die Autorin in ihrer Schreib‐ weise, so dass sie ihre Jugendzeit als eine „verschwundene“ (Hunnius 1921: 8) und abgeschlossene Periode, ein „Idyll“ (ebd.) im sogenannten „Alt-Estland“ sieht und diese samt der gesellschaftlichen Hierarchien und Sprachsituation entsprechend abbildet. Die Funktion des Textes besteht für die Autorin, aber auch für die vielen (heimatvertriebenen) Leser im Nachkriegsdeutschland, im Jahre 1921 darin, sich in diese „ganze sonnige Welt, die man geliebt“ hatte, zurückzuretten (ebd.). 63 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 3 Schultz-Bertam (1857: 20) definierte fünfzig Jahre früher die Halbdeutschen als „[…] meist heraufgekommene Esthen, aber auch wohl heruntergekommene Deutsche, die sich in dieser Dämmerungsstufe begegnen […]. Sie werden von den Bauern spöttischer‐ weise Kaddaka-Saksad - Wacholder-Sachsen - genannt oder Unsakad, Antwärgid.“ Die abwertende Bezeichnung kadakasakslane (Wacholderdeutscher) stammt aus der niederdeutschen Bezeichnung Katensasse (vgl. Rätsep 2012: 11) und wurde vor allem um die Jahrhundertwende gängig. 4 Nach dem Vorbild von kadakasakslane wurde jetzt für die ,verrussten‘ Esten die abwertende Bezeichnung pajuvenelane (Weiderusse) benutzt. 2.3 Edzard Schaper und die gesellschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Der Henker von Edzard Schaper (1908 Ostrów [Ostrowo] - 1984 Bern) erschien im Jahre 1940 in Leipzig. Schaper ist ein Sonderfall der deutschbaltischen Literaturgeschichte. Obwohl er ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer war, der lediglich in den Jahren 1930-1940 in Estland lebte, führten familiäre Beziehungen mit den Deutschbalten und die Faszination mit der Geschichte des Landes in mehreren Romanen zu einer tiefen literarischen Auseinandersetzung mit deutschbaltischen Themen. Der Henker wurde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges geschrieben. Bis dahin wurden die Prozesse der sprachlichen und kulturellen Kräfteverschiebun‐ gen, die mit der Gründung der Republik angefangen hatten, weitergeführt. Mit dem Anfang des Kriegs veränderte sich die Situation grundlegend - die Deutschbalten wurden aus den baltischen Ländern umgesiedelt. Edzard Schaper folgte der Aufforderung „Heim ins Reich“ nicht, sondern flüchtete 1940 nach Finnland, danach nach Schweden und fand schließlich eine dauerhafte Bleibe in der Schweiz. Die politische Situation spiegelte sich auch in Schapers literarischem Werk wider, in dem er sich überzeitlich mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhun‐ derts und mit der Verantwortung des Individuums dabei auseinandersetzte (vgl. Gierlich 2014: [5]). Dies trifft auch für Den Henker zu, in dem Schaper die Revolution von 1905 auf dem heutigen Territorium Estlands aus den Perspektiven der deutschbaltischen Adligen, der russischen Zentralmacht und der estnischen Bauern betrachtet. In dieser Zeit lag an der Spitze der offiziellen Sprachhierarchie das Russische, in der Gesellschaft war die Sprachsituation aber vielfältiger. Die Esten wurden in ihren Nationalbestrebungen immer selbstbe‐ wusster, ebenso war im Gegensatz zu früheren Perioden die Germanisierung nicht mehr eine Voraussetzung des Aufstiegs in der sozialen Hierarchie. Viel‐ mehr wurden Bestrebungen als Deutsche oder Russe zu erscheinen nun negativ beurteilt und solche Esten abwertend als Halbdeutsche 3 , und Halbrussen 4 be‐ 64 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar zeichnet (Hennoste 1997: 58). Die Unzufriedenheit und die daraus resultierende revolutionäre Stimmung der Esten war für die Deutschbalten eine negative Überraschung. Um den Gründen dieser Entwicklungen nachzugehen, nimmt der Roman die gesamte Geschichte und das Selbstverständnis der Deutschbal‐ ten unter die Lupe. Im Roman geht es um einen deutschbaltischen Offizier Ovelacker in russischen Diensten, der die Revolution von 1905 im fiktiven Ort Drostenholm brutal unterdrückt, später aber dorthin als Erbe des ermordeten Gutsherrn zurückkehrt. Spannung wird aufgebaut zwischen Ovelacker und einem Bauern, der in der Vergeltungsaktion gegen die Aufständischen zwei Söhne verloren hatte. Der dritte Sohn des Bauern wird nach Sibirien verbannt, der Kampf um seine Befreiung kristallisiert das Unrecht gegen die Esten durch die Deutschbalten. Lukas (2002) nennt den Roman in der estnischen Übersetzung daher einen ,Versöhnungsroman‘, da die Schreibzeit des Romans - Ende der 1930er Jahre, als die Deutschbalten als zur Minderheit degradierte einstige Machthaber - die nachdenkliche Stimmung des Werkes, das die Wendepunkte in den deutschbaltisch-estnischen Beziehungen aufdeckt, bedingte. 3 Elemente der Mehrsprachigkeit in den analysierten Werken Es soll nun an die eingangs aufgestellte Hypothese erinnert werden, dass mit Hilfe der Literatur Aussagen über die Sprachgeschichte gemacht werden können. Dabei sollte, wie Dembeck betont, „die sprachhistorische Entwicklung jedoch nicht selbst der Gegenstand des [literaturwissenschaftlichen] Interesses sein“ (2017: 127). Im vorliegenden Beitrag wird daher versucht, erstens die Rah‐ menbedingungen der Repräsentationen von Mehrsprachigkeit auszuleuchten, zweitens aber auch stets auf die literarischen Funktionen der Verwendung von Mehrsprachigkeit zu achten. Die Grundsprache aller analysierten Werke ist Standarddeutsch. Mündlich verwendeten die Deutschbalten eine Varietät, die vom Vokabular des Estni‐ schen, bzw. Lettischen, Russischen und auch des von der russischen Aristokratie benutzten Französischen beeinflusst war, in der Literatur wurde aber bewusst Hochdeutsch verwendet (vgl. Lukas 2006: 494). Kommt die Varietät doch vor, so werden diese Stellen erklärt, manchmal tritt sie als ein Zitatwort im natürlichen Wortschatz des Autors auf (vgl. Bender 2017: 603). Lukas verbindet die Verwendung des Hochdeutschen mit dem Versuch „die durch die Sprache vermittelte kulturelle Identität zu bewahren“ (2006: 494). Bei den analysierten Werken spielte es auch eine Rolle, dass als Zielgruppe der Werke die Leserschaft in Deutschland vermutet werden kann. Es muss daher angenommen werden, dass der implizierte Leser, der den Autoren vorschwebte, kein Estnisch oder 65 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur Russisch kann. Für diesen Leser wären also die entsprechenden Passagen nicht nur schwierig, sondern unmöglich zu verstehen. Die Funktion der Figurenrede, oder auch Namen und Ortsbezeichnungen auf Estnisch und (weniger) auf Russisch ist daher einerseits in der Darstellung des Lokalkolorits zu vermuten, hat aber andererseits auch eine exotisierende Wirkung, insbesondere in der Kombination mit der Betonung der geringeren sozialen Position der Sprecher anderer lokaler Sprachen. Wie bereits erwähnt, waren die soziokulturellen und die politischen Rahmen‐ bedingungen der analysierten Werke sowohl während des Schreibens als auch während der Perioden, in denen die dargestellte Handlung stattfindet, unter‐ schiedlich. Diese Sprachsituationen reflektieren sich in den Werken, wo neben der deutschen Grundsprache auch anderssprachige Elemente zur Verwendung kommen, aber eben durch den Filter der persönlichen (Sprach-)Kenntnisse und -Einstellungen der Schreibenden. Wie die Analyse zeigt, war die Mehrspra‐ chigkeit in Estland zur Entstehungszeit der geschilderten Werke wesentlich vielfältiger als die obenerwähnte gesellschaftliche Sprachhierarchie - Deutsch, Russisch, Estnisch. Daneben spielten auch Französisch, Latein, Schwedisch, Lettisch, Finnisch und andere Sprachen eine Rolle. In der Analyse wurde im ersten Schritt das Vorkommen der manifesten Mehrsprachigkeit aufgezeichnet. Es wird gezeigt, welche Sprachen in den Texten vorkommen, welche Funktion die anderssprachigen Textteile haben und ob es sich um Sprachmischung oder Sprachwechsel handelt. Darüber hinaus wird auch auf die latente Erwähnung von Sprachen in den Texten hingewiesen. Da die literarische Widerspiegelung der lokal gesprochenen Sprachen bzw. Varietäten einen Großteil der Mehrsprachigkeit ausmacht, wurde dieses Sprach‐ material von der Gesamtdarstellung getrennt und separat betrachtet. Die Balti‐ zismen wurden ausgeschrieben und kontextualisiert, das Estnische als die am stärksten hierarchisch markierte Sprache wurde detaillierter analysiert - sein Vorkommen in der Figurenrede, im Erzählerkommentar, bei den Namen und Ortsbezeichnungen. 3.1 Manifeste und latente Mehrsprachigkeit in den analysierten Texten 3.1.1 Briefe eines baltischen Idealisten von Georg Julius von Schultz-Bertram In den Briefen von Georg Julius von Schultz-Bertram (al Dr. Bertram) gibt es zahlreiche Beispiele der manifesten Mehrsprachigkeit. Die anderssprachigen Textteile markieren häufig kulturelle Kontakte zu anderen ethnischen Gruppen, sowie deren Akzent. Dies geschieht sowohl durch die Sprachmischung wie auch durch den Sprachwechsel. Ein schwedisches Beispiel des Sprachwechsels - „eine 66 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar 5 Übers. des Hrsg. Johannes Werner. Dieser begründet das Verfahren so: „da die Zahl der Erläuterungen infolge des uns Deutschen zumeist unbekannten Schauplatzes ungewöhnlich groß ist, haben wir, um das Buch nicht mit Fußnoten zu überlasten, sie zumeist in eckigen Klammern in den Text eingefügt […].“ (Werner 1934: 7). 6 Die Beispiele in den Unterkapiteln stammen alle aus der zuerst genannten Ausgabe, es werden nach der ersten Nennung daher nur die Seitenzahlen in Klammern angegeben. 7 Herausgeberkommentar: „Bäuerisches Russisch: Es war eine Pracht! und der preußi‐ sche König mit einem schwarzen Helm! “ (255). 8 Die französischen Textteile sind vom Herausgeber nicht übersetzt worden. 9 Übers. des Hrsg. „Wir schreien! “ (45). 10 Übers. des Hrsg. „Hausgespenst“ (47). 11 Übers. des Hrsg. „hinter der Grenze“ (138). dienstfertige, sehr hübsche Flikka [Schwedisch: Mädchen] 5 fragte vergnügt: ‚Ja sso! verstoh! ‘“ (Schultz-Bertram 1934: 22). 6 Das sprachliche Missverständnis, aufgrund dessen der Kunde statt Suppe Branntwein bekommen hat, wird folgend kommentiert: „Die Flikka hatte Schwedisch gesprochen und ich ihr auf Deutsch geantwortet.“ (ebd.) Ein Beispiel aus der Beschreibung einer Begegnung in Schottland - „Die Alte stampfte mit dem Stock heftig auf das Steinpflaster und sagte deutlich: ‚Archeanochranchran dhu Carhouzielostantegle! ‘“ (162). Der Leser wird nicht aufgeklärt, wie man den Satz deuten sollte, wohl weil weder der Autor der Briefe noch der Herausgeber es verstehen konnten. Einfacher hingegen sind natürlich die Gespräche auf Russisch, das zu den ,Ortssprachen‘ gehörte. Ein Gespräch mit einem russischen Bauern: „Prosto prelostj! i karol prußki ss tschornem kolpakom! “ (255). 7 Oder eine Konversation mit einer französischen Dame, wo das gesamte Gespräch auf Französisch wiedergegeben wurde: „Monseigneur, Vous donnez des fêtes comme Néron! “ - „Pourquoi? “ - „Parceque [sic] Néron étouffait ses invités sous des amas de fleurs! “ (204). 8 Des Weiteren sind anderssprachige Textteile in den Erzählertext eingebaut und gewähren einen Einblick in die damalige Lebensart der gesellschaftlichen Schicht, der der Autor angehörte. Da es sich um Briefe handelt, kann man ver‐ muten, dass die Elemente der Fingiertheit geringer sind als bei rein fiktionalen Texten. Dennoch muss man vorsichtig sein, die abgebildete Sprechweise als historische Wirklichkeit zu interpretieren, da die Einbeziehung der Elemente der Mehrsprachigkeit bei den autobiographischen Texten auch zur Selbststili‐ sierung vorgenommen worden sein kann. Zur Unterstreichung des lokalen Kolorits dienen viele russische Wörter, die transliteriert und meistens mit einer Übersetzung versehen sind, z. B. „‚Kritschjom‘ 9 , sagte er lustig.“ (45), „der alt Müller gehe oft nachts als Domowoi“ (47), 10 „Am Dienstag landeten wir ‚sa gra‐ niza‘“ (138). 11 Französisch verweist auf gute Manieren, Geselligkeitsformen oder Freizeitvergnügen: „Ella spielt jetzt à quatre mains mit Liszt“ (153). Oder „Man 67 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 12 Bezog sich auf ein Gespräch mit Franz Liszt, bei dem Schultz-Bertram die Fingernägel von Liszt studierte und dabei „ungarische und deutsche Formen“ fand (283). Die hier erwähnte scherzhafte Erwiderung ist die Antwort von Liszt. 13 Erinnerung an eine Begegnung der Fürsten Nikolai und Wilhelm aus den russischen und preußischen Königshäusern beim Autor in Tormahof (Torma) im Jahre 1817. nennt das un bain des princes.“ (209), worauf die Bemerkung auf Latein folgt: „Probatum est! “ (ebd.). Bei den französischen Textteilen wird unterschieden zwi‐ schen längeren Ausdrücken oder Sätzen, die in lateinischer Schrift gedruckt sind und den offenbar als Bildungsdeutsch empfundenen französischen Ausdrücken wie „magnifique“ (56) oder „affreuse“ (19), die wie der übrige Text in gotischer Schrift abgedruckt sind. Im ähnlichen Kontext kommen auch Italienisch „Feli‐ cissima notte! “ (289) und Englisch „dem unvermeidlichen Keepsake-Gesicht“ (170) vor, jedoch sehr viel weniger als Französisch. Die besondere Stellung des Französischen als ,Bildungssprache‘ wird dadurch unterstrichen, dass das Französisch der einfachen Leute in Paris karikiert wird: „Voyez la grosse bête cré coquine! V’là une belle honte! - honte! “ (83). Latein wird zur Unterstreichung des Bildungsstandes herangezogen, teils beiläufig „Er lachte: ‚Also ein mixtum compositum! ‘“ (283), 12 in vielen Fällen aber auch spaßhaft: „Nikolaus aber betrachtete die dicke Stange und sagte: ‚Viribus unitis! ‘“ (239). 13 Griechisch ist selten, wenn überhaupt, wird es ebenfalls im ,bildungssprachlichen‘ Kontext verwendet: „die ich ‚Andrein‘ (vom griechischen „andres“ = Männer) benannt habe. Ebenso giebt es einen weiblichen Magnetismus, den ich ‚Gynäin‘ (vom griechischen ‚gyne‘ = Weib) nenne“ (188). Zahlenmäßig prävalieren klar Rus‐ sisch, Französisch und Latein, wie bereits erwähnt, kann man bei manchen Ausdrücken vermuten, dass es sich eher um Fälle unbewussten Translanguaging als bewusster Verwendung anderssprachiger Elemente handelt. Schultz-Bertram hatte starke linguistische und literaturtheoretische Interes‐ sen. Seine aufmerksame Betrachtung der grammatischen, phonetischen und rhythmischen Eigenarten widerspiegelt sich auch in den Briefen. Er kommen‐ tiert den Akzent der Wiener bei der Aussprache der Diphthonge: „Soldaten sprechen Deutsch, aber sie sagen: ‚Taitsch‘; gegen Abend laufen viele Jungen durch die Straßen und schreien: ‚Taitsche Zai-tung! Taitsche Zai-tung! ‘ - das ist sehr komisch.“ (280) und bringt Beispiele von Missverständnissen, die auf falscher Aussprache beruhen, wie aus einem Gespräch mit einer harthörigen Dame: „Sie verstand statt Großvater ‚Curator‘“ (145). Es gibt Beispiele zur fehlerhaften Wortfolge: „‚Ich nicht kann geben die Uhr‘, sagte er ruhig in gebrochenem Russisch“ (39). Oder beides - Aussprache und Wortfolge: „Es ist hier das Finnländische Kadettencorps mit 90 Eleven, teils Adelmannssohn, 68 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar teils Bürgermannssohn - Bauersmannssohn nicht; nur wer weißt Geometrie, Franzch, Deitsch, bleibt genommen“, wie mir Herr Koriander sagte.“ (20) Zusätzlich zu den Elementen der Sprachmischung und des Sprachwechsels und den kommentierten oder unkommentierten Beispielen der Sprachkontakte, Interferenzfehler etc., kommt die Mehrsprachigkeit bei Schultz-Bertram auch durch die latente Einbeziehung der Sprachen bzw. Sprachkontakte vor: „wie Pirogoff in seinem schauderhaften Deutsch sagte“ (102) oder „Nun klingen die Wörter im Russischen noch viel kräftiger und urwüchsiger und der Lakonismus gibt ihnen eine gewisse Größe […]“ (136). 3.1.2 Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius Die Sprachenvielfalt des Erinnerungsromans Mein Onkel Hermann ist ausge‐ sprochen gering. Es kommt fast keine manifeste oder latente Mehrsprachigkeit vor, auch an den Stellen, wo man dies vom Inhalt und von den Figuren her erwarten könnte. Es gibt einige Baltizismen, aber obwohl die Handlung in Estland stattfindet, wird Estnisch kaum verwendet. Auffällig ist auch das Fehlen des Russischen. Es gibt allerdings latente Hinweise darauf, dass man sich im zaristischen Russland aufhält. Wenn der Onkel auf die Russen schimpft, sagt er: „die elenden russischen Wladimirs“ (Hunnius 1921: 28). Auffallend ist, dass „russische Wladimirs“ gesagt wird, da im lokalen Kontext nur der Name genügt hätte. An der Wand hängt ein Gemälde des Zaren Nikolai und der Onkel nennt seine Frau „Katharina die Große“ (86). Auch Französisch und Latein fehlen, bis auf die Nennung der Korporation Livonia (28). Ob die ausgesparte Mehrsprachigkeit im Text auf den Umstand des gerade erlebten Krieges und der daraus resultierenden Abkapselung zurückzuführen ist, ob es damit zu tun hat, dass der Text von einer Frau stammt oder noch weitere Elemente eine Rolle spielen, müssen künftige vergleichende Studien zeigen. 3.1.3 Der Henker von Edzard Schaper Im Roman Der Henker gibt es zahlreiche Beispiele von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, längere anderssprachige Passagen kommen jedoch nicht vor. Die Mehrsprachigkeit spiegelt sich vor allem in den Personennamen, Ortsbe‐ zeichnungen, festen Wortverbindungen, Lehnübersetzungen etc. wider. Neben den estnischen Personennamen, die unten separat behandelt werden, kommen auch Figuren mit russischen Namen vor, wobei öfters auch das Patronym gebracht wird, ebenso kommen manche russischsprachige Ortsbezeichnungen vor. Es gibt einige Beispiele, die auf die Staatsverwaltung hinweisen wie „Urdjanik“, zu dem in einer Fußnote die Übersetzung steht: „Urdjanik (russisch): 69 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 14 Fußnote: „Bumaga (russisch): Papier“ (373) 15 Кукушка - Russ. Kuckuck Landpolizist“ (Schaper 1941: 321), und einige, die auf die politische Situation zu beziehen sind, wie z. B. die Nennung einer lettischen Organisation, wiederum mit einer Übersetzung in der Fußnote: „Sáveeniba: lettische terroristische Or‐ ganisation“ (161). Auffällig ist die Erwähnung der Organisation der Schwarzen Hundert, weil eine Mischung von deutschen und russischen Namen verwendet wird: „Schwarze Sotnja“ (12, 120). Sprachmischung kommt auch im Beispiel „Bumagenwirtschaft“ vor. 14 Das Vorkommen der russischsprachigen Elemente in deutscher Grundsprache könnte man auch als baltisches Deutsch kategori‐ sieren. Ähnlich fungieren auch die örtliches Kolorit wiedergebenden Elemente wie „,Kukuschka‘ zu spielen“ (442), 15 wobei im Roman auf die Übersetzung für den deutschen Leser verzichtet wird. Alle russischen Wörter im Text sind transliteriert. Zusätzlich zu den der konkreten Sprachsituation inhärenten Sprachen wie Estnisch, Russisch, Lettisch sowie Baltizismen werden auch bei Schaper west‐ europäische ‚Bildungssprachen‘ benutzt, die die Zugehörigkeit der betreffenden Figuren oder des Milieus zu einem bestimmten sozialen Kreis markieren. So wird in Begriffen oder in festen Wortverbindungen Latein bevorzugt - „status quo“ (451), „Pastor loci“ (28) etc., Französisch benutzt man z. B. für die Vermittlung der Emotionen - z. B. beim Träumen von der Abreise: „Aber in den Süden möchte er, wenn es hierzulande Herbst würde […]. Alles käme darauf an, die Reihenfolge: rouge - noir, rouge - noir, rouge - rouge, noir“ (519). Latente Passagen auf Estnisch und Russisch kommen im Roman häufig vor und die damalige Sprachsituation bekommt viel Aufmerksamkeit. Aufmerksam‐ keit wird auch auf die Umwälzungen in Sprache und Kultur gelenkt: „schon war die Sprache in ihren [deutschbaltischen] Häusern russisch geworden mit den Namen der Kinder und den Sitten“ (73). Durch die Sprache werden auch die handelnden Figuren und ihre Stellung in der Gesellschaft charakterisiert. Ein Beispiel hierfür ist der aus einer „verrußt[en]“ deutschbaltischen Familie stammende Graf Ovelacker, dessen deutsche Sprechweise als „fremdartig“ (571) beschrieben und mit Unsicherheit verbunden wird: Die Ovelackers waren ‚verrußt‘. Er hatte mit allen Menschen russisch gesprochen, mit dem Pastor, mit dem Arzt, mit allen, so mühsam sie es auch radebrechten, der Arzt ausgenommen; er hatte nicht sein Deutsch sprechen wollen, das ihm, schon wenn er es nur sich selber vernehmbar vor sich hin sprach, ganz anders klang als das baltische Deutsch. (77) 70 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar 16 Die ,Krone‘ verweist hier auf den Staat. Durch die sprachliche Markierung des Protagonisten Ovelacker, dem die Rolle des Bösewichts zugewiesen wird, wird er von den ‚gewöhnlichen‘ Deutschbal‐ ten abgegrenzt und als der Andere, nicht wirklich Dazugehörige dargestellt. 3.2 Baltizismen in den analysierten Texten 3.2.1 Briefe eines baltischen Idealisten von Georg Julius von Schultz-Bertram Schultz-Bertram als sprachbewusster und -interessierter Autor streut in seinen Text viele lokale Ausdrücke ein, die im baltischen Kontext selbstverständlich waren, für den deutschen Leser jedoch in eckigen Klammern erklärt worden sind. Häufig sind Komposita mit ‚Krons‘ 16 - „Kronsbeamte“ (18), „Kronsei‐ gentum“ (18), „Kronsknöpfe“ (22). Es kommen Hinweise auf Bräuche vor - Ostereier heißen „Lappeneier“ (107), Geistergeschichten heißen „Strabismus“ (108), ebenso Bezeichnungen der Speisen wie etwa „Riezchen“ (182). 3.2.2 Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius Obwohl Hunnius ebenfalls eine Baltin war, werden in ihrem Text nur wenige Baltizismen benutzt und diese sind mit Anführungszeichen, an manchen Stellen auch mit einer Erklärung in darauffolgender Klammer versehen. Meistens handelt es sich um die bereits genannten örtlichen Umstände z. B. „Kronsarzt“ (67) oder die Esskultur. So wird im Roman „Stofbier“ (13) getrunken und über das Essen diskutiert: „‚Wir wollen Goggelmoggel.‘ (Geklopftes Ei mit Zucker.) ‚Nein, Eierkuchen.‘ ‚Nein, Ochsenaugen.‘ (Spiegeleier)“ (65). Als typisch Baltisch kann auch die Bezeichnung der Familien nach dem Hauptsitz und dem Suffix ‚-schen‘ gelten, so kommen im Werk „die Kaltenbrunnschen, die Öthelschen, die Kerroschen“ (80) zu Besuch. 3.2.3 Der Henker von Edzard Schaper Die Baltizismen, die bei dem Nicht-Balten Schaper vorkommen, sind vorwie‐ gend mit der baltischen Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts verbunden. In vielen Fällen handelt es sich um Lehnübersetzungen aus dem Estnischen, wie „die grauen Barone“ (147), „Borstenrussen“ (526) und „Waldbrüder“ (305). Dabei werden keine Übersetzungen angeführt, der Inhalt wird aber vermittelt. Bei den Borstenrussen folgt in Klammern: „anders nannte er getreu der Predigt des berühmten Pastors Körber die Bauarbeiter gar nicht mehr“ und bei den Waldbrüdern wird ergänzt: „hießen sie beim Volke“. Ähnlicher Weise wird auch 71 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 17 Süßes Gespräch (Estn.). 18 Head päeva (Estn.), möglich, dass hier eine dialektale Verwendung nachgeahmt wird. 19 Rõuge oja (Estn.). Der Buchstabe ‚õ‘ in der estnischen Orthographie weicht vom deutschen Alphabet ab und wird in deutschen Texten häufig als ‚ö‘ wiedergegeben. 20 Munamägi, Väljamägi (Estn.). bei den „Kirchenherrn“ in Klammern ergänzt: „wie das Volk seine Pastoren nannte“ (352). Explizit wird nur einmal darauf hingewiesen, dass es sich um einen Baltizismus handelt - es wird ein wohlhabender estnischer Junge als „der Erbsohn des guten, großen Illustgesindes“ beschrieben und in einer Fußnote mitgeteilt, dass das Gesinde im Baltischen einen Hof oder bäuerliches Anwesen bedeutet (181). 3.3 Estnisch in den analysierten Texten 3.3.1 Briefe eines baltischen Idealisten von Georg Julius von Schultz-Bertram In Schultz-Bertrams Text kommt Estnisch in unterschiedlichen Funktionen vor. Manchmal erscheint es ohne einen thematischen Bezug zu den Esten und der estnischen Kultur - „so hatten wir recht ein ‚magus jutt‘“ 17 (145). Des Weiteren an den Stellen, wo der Autor über die Esten spricht - wie bei der Beschreibung einer Naturforscher-Versammlung in Tübingen „eine estnische Idylle, die ich im Garten Uhlands einer kleinen Gesellschaft vorlas, erregte die lebhafteste Anerkennung des estnischen Lauls [Volkslieds] als einer neuen Stimme in der größten Völker-Orgel“ (121). Oder bei der Erwähnung des unmittelbaren Sprachkontakts: „daß auch nicht einer vorübergeht, ohne mir freundlich ‚hää päi‘ zu wünschen“ (20). 18 Die Namen der estnischen Ortschaften im Text sind auf Deutsch (Dorpat, Re‐ val, Wesenberg, Werro, Hapsal). Da Schultz-Bertram sich aber als Estophile für die estnische Folklore interessierte, bei der die Beseelung der Natur eine große Rolle spielt, finden wir estnische Bezeichnungen für Landschaften, Flüsse oder Hügel vor - „Röige oja“ 19 (128), „Munamäggi und Wäljamäggi“ (235). 20 In der Schreibweise der estnischen Personennamen orientiert sich Schultz-Bertram an der deutschen Orthographie „Kaddri“ (100) statt Kadri und „Wia“ (180) statt vermutlich Viia. 3.3.2 Mein Onkel Hermann von Monika Hunnius Manifest kommt das Estnische in manchen Personennamen (z. B. „Pik Mart“ [langer Mart] (11)) und Ortsbezeichnungen (z. B. „Ein Flüßchen, die Paide“ [9]) vor, aber meistens agieren im Roman Figuren mit deutschen Namen, und bei den 72 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar 21 Der Henker (Estn). Orten werden die deutschsprachigen Bezeichnungen verwendet. Estnisch wird nur ein einziges Mal, latent, im Zusammenhang mit dem Estnischen Fuhrmann Pik Mart erwähnt: dieser „saß still und stumpfsinnig vorne im Planwagen und trieb dazwischen mit einem estnischen Fluch die Pferde an“ (13). An wenigen Stellen könnte man vermuten, dass einige von den Figuren Estnisch sprechen, so z. B.: „denn wir behaupten, mit demselben Eingehen könnte sie die Leidens- und Freudengeschichten der Estenweiber anhören, wie unsere Ergüsse“ (32) oder dass ein Gespräch zum Teil auf Estnisch geführt wird, z. B. wenn die Kinder in einem „Bauernhäuschen“ nach dem Essen fragen (45). Jedoch wird darauf im Roman keine Aufmerksamkeit gelenkt, der Este bleibt stumm und steht einfach in der Szene. Eine so starke Vermeidung des Estnischen, auch auf der Ebene der latenten Erwähnung, also der Orts- und Personennamen, ist bei diesem Werk auffallend. 3.3.3 Der Henker von Edzard Schaper Der Roman räumt dem Estnischen eine besondere Stellung ein, dieser Zug ist so ausgeprägt, dass im vorliegenden Beitrag nur auf einige Regelmäßigkeiten hin‐ gewiesen werden kann. Obwohl manifest keine längeren Passagen auf Estnisch vorkommen, stehen mehrere Eigennamen, Organisationsnamen, Zeitungstitel, Ortsbezeichnungen etc. auf Estnisch; auch latente Erwähnung des Estnischen kommt häufig vor und es gibt mehrere Überlegungen und Diskussionen über die Sprachen. Quantitativ am auffälligsten sind die Namen, angefangen mit dem Protago‐ nisten Ovelacker, der im Roman von den Esten als „Timukas“ (315, 318), 21 bezeichnet wird. Die Eigennamen der Figuren estnischer Herkunft werden meistens auf Estnisch wiedergegeben, und die Sprachmischung kann man lediglich bei manchen Hofnamen, womit die Eigennamen ergänzt werden, bemerken, z. B. „Pöldsche“ (469) anstatt Põllu. Dem estnischsprachigen Leser ist der Hofname der estnischen Hauptfigur Koiri-Jaan besonders auffällig - Koiri ist klangähnlich mit dem estnischen Wort „koer“, welches Hund bedeutet. Wahrscheinlich handelt es sich nicht um einen Zufall, weil die Hauptfigur mehrere Male mit Tiermetaphern charakterisiert wird. Auf diese Ähnlichkeit wird im Roman auch explizit hingewiesen: „Aber so etwas wie Koer oder Koeras oder Koiri hatte man draußen gesagt […]“ (321), in der deutschen Grundsprache wird der mögliche Hintergrund des Namens nicht weitergegeben und der deutsche Leser bekommt dies daher nicht mit. Es kommen auch weitere Situationen vor, wo die estnischen Namen den 73 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur 22 Durch den estnischen Studenten Konstantin Sirg wird auch illustriert, wie der Deutschbalte Graf Ovelacker die estnische Sprechweise wahrnimmt: „Diese Sätze kamen in einem harten und scharfen Deutsch, das bei Vokalen und Umlauten ins Gegenteil, in ein wehleidig klingendes Verweilen verfiel“ (701). Die impressionistisch anmutenden Kommentare zur lautlichen Atmosphäre unterstreichen die Betonung der (Aus)Sprache als Komponenten des im Roman dargestellten baltischen Milieus. 23 Hinweis auf eine estnische Redewendung. 24 Hinweis auf ein volkstümliches Lied. 25 Dies ist aber nicht ganz konsequent, z. B.: „Ein Kaiser brauchte nur einen starken Kopf, hatte Thomasson mit einer aus dem Estnischen geliehenen Wendung erwidert“ (310). Deutschbalten etwas unklar bleiben, z. B. „Korras hieß er, glaube ich, oder so ähnlich.“ (608) oder „Darauf stand ein belangloser Name, Konstantin Sirg oder so ähnlich“ (699). 22 Interessant ist noch, dass, während es sich bei den ersten zwei Beispielen um die Namen der estnischen Bauern handelt, die wegen der Mündlichkeit undeutlich bleiben, im dritten Beispiel auch der geschriebene Name des estnischen Studenten nicht wichtig genug ist für den Grafen von Ovelacker. Dies scheint ein Mittel zu sein, womit die gesellschaftlichen Beziehungen und die Hierarchie dargestellt wird. Ebenso vielsagend ist die Anwendung der Toponyme. Bei den Kreisen, Städten und anderen größeren Orten, die in den heutigen Gebieten Estlands, weniger auch Lettlands liegen, werden meistens die deutschsprachigen Namen benutzt. Dabei spielt eine bedeutende Rolle, dass es sich meistens um die realen Orte handelt, wohingegen Drostenholm, der Gutshof von Graf von Ovelacker, ein fiktiver Ort ist. Besonders auffällig wird diese Tatsache in der estnischen Übersetzung (Schaper, übers. von Kaugver 2002), weil bei den realen Orten die estnischen Namen verwendet werden, aber Drostenholm Deutsch bleibt. Auf dieselbe Weise wie Ovelacker mit den deutschsprachigen Namen assoziiert wird, ist Koiri-Jaan mit dem estnischen Kontext, der auch durch die Namen reflektiert wird, verbunden. Exemplarisch dafür stehen „Er fuhr in den eisigen Wind, der vom Kibejöggi-Moor herüberkam, dem großen Morast um das Bett des ,bitteren Flusses‘“ (220) oder „ Aber mit diesem Schmerz war es wie mit den Wassern des Salajöggi“ (246). In den beiden Fällen werden die estnischsprachigen, auf Emotionen basierenden Ortsnamen (Kibejõgi, Salajõgi) benutzt und deren Bedeutung dem deutschen Leser erklärt. Der estnische kulturelle Kontext wird nicht nur durch die Namen, sondern auch durch die Figurenrede bzw. durch innere Monologe wiedergegeben. So fragt sich Olli, die estnische Magd von Koiri: „Zogen die Schwäne, kam jetzt der Schnee? “ (228) 23 und pfeift ein estnischer Jungknecht „Wie weit es noch bis Ösel ist…“ (507). 24 Dem deutschen Leser wird der Hintergrund dieser Passagen nicht erläutert. 25 74 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar Die Sprache bestimmt grundlegend die Angehörigkeit zu einer Gruppe: Weil sie sich nicht als Herren unter Knechten fühlten, sondern als Bürger unter Bürgern, waren die meisten der Deutschen, die erst in jüngster Zeit aus dem Reich zugezogen, den Alteingesessenen verächtlich geworden. Sie taten, was denen als schwere Verfehlung wider das koloniale Gesetz galt: sie heirateten ins Volk der Letten und Esten. Lettisch oder Estnisch wurde oft genug ihre Umgangssprache, ihre Kinder fühlten sich, kaum daß sie wußten, was sie fühlten, als Letten und Esten und verleugneten ihre Herkunft, wenn sie nicht sogar das Deutsche zu hassen begannen. Wie sprach der Verwalter mit ihm? Estnisch, so unvollkommen der Westfale das beherrschte. […] Und es wäre besser so, hatte der Verwalter beharrt, wie lebhaft auch sein Gutsherr ihm widersprach. Eine Sprache für die Leute und eine andere, die die Leute am besten gar nicht verstünden, für die Herrschaft. Mit dem Förster estnisch zu sprechen, darauf wäre er natürlich nicht verfallen, weil dieser Reichsdeutscher war. Der gehörte zu den Herrschaften, war Reserveoffizier, besaß Manieren. Mit den einfachen Leuten die Sprache der Herrschaft sprechen zu müssen, war peinlich. Sie hatten ja nicht die Umgangsformen von Herrschaften und konnten das Ansehen des Deutschen nur vermindern. […] Er, Ovelacker, hatte sich als bedingungsloser Gegner dieser Umvolkung bekannt, aber was half es, […]. (404-405) Solche Ausführungen verweisen auf den soziokulturellen Hintergrund der Sprachverwendung und des Sprachwechsels. Es wird jedoch ersichtlich, dass Risse in der vorher beschriebenen Sprachhierarchie möglich waren und Be‐ wegung zwischen den Gruppen vorkam. Dies hilft auch, den symbolischen Wert des Romanendes besser zu kontextualisieren, wenn der Deutschbalte Graf von Ovelacker auf Estnisch zu sprechen anfängt: „Ich werde schreiben, daß der… der Junge kommt! fügte er in seinem mühsamen Estnisch hinzu, ohne auch nur im mindesten zu zögern, ohne daß sein Stolz sich dawider empörte.“ (749) Dieser latent dargestellte Sprachwechsel illustriert, wie die Sprache die gesellschaftliche Position und Haltung definierte, und unterstreicht den symbolischen Akt der Versöhnung. 4 Zusammenfassung Die Analyse zeigt, dass die Mehrsprachigkeit in allen drei ausgewählten Werken deutschbaltischer Literatur als ein Marker des Lokalkolorits gelesen werden kann - die Einbeziehung der lokal gesprochenen Sprachen Estnisch und Russisch weist ähnliche Züge auf und die Baltizismen unterstreichen die deutschbaltische Lokalidentität. Des Weiteren fällt die Verwendung der ‚bildungssprachlichen‘ Ausdrücke auf Latein oder auf Französisch auf. Die 75 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur Motivierung für die Verwendung weiterer Sprachen ist jeweils kontextuell unterschiedlich begründet. Wie gezeigt wurde, öffnet die Mehrsprachigkeit ein weiteres Interpretations‐ fenster bezüglich der in den Werken dargestellten Kulturkontakte. In einem hermeneutischen Deutungskreis lassen sich die Ergebnisse der Analyse der fiktionalen Verwendung von einzelnen Sprachen als Aussagen zur tatsächlichen Sprachhierarchie lesen - die Literatur spiegelt die sozialen und sprachlichen Un‐ terschiede wider, kann sie womöglich auch kritisieren oder in Frage stellen, doch durch das Verschriftlichen werden die Hierarchien stets auch zementiert. Die Haltung der Autoren und Autorin gegenüber dem Estnischen und dessen latente und manifeste Verwendung - von der genussvoll-spielerischen (Schultz-Bert‐ ram) über die weitgehend inexistente (Hunnius) bis zur anthropologischen (Schaper) - kann als eine Aussage zu ethnisch-politischen Fragen gelesen werden. Die Verwendung oder Vermeidung von Baltizismen wiederum zeigt die Position der Autoren und die Autorin auf der Skala des Lokalpatriotismus an, beziehungsweise betont die Ausrichtung der deutschbaltischen Gesellschaft auf Deutschland. Die Autoren und die Autorin verwenden diese bewusst, um entweder das Lokalkolorit oder die historischen Umstände weiterzugeben. Obwohl zwei von ihnen im Baltikum geboren wurden und ansässig waren, und somit wahrscheinlich mündlich die deutschbaltische Varietät verwendeten, distanzieren sie sich davon in ihren Texten. Wenn Baltizismen vorkommen, sind diese meistens mit einer Bemerkung oder Übersetzung versehen und kein organischer Teil des Textes. Auf weitere Determinanten, die die literarische Mehrsprachigkeit beeinflus‐ sen, wie z. B. die Erwartungshaltung der implizierten Leser, die politische Situation im deutschen Mutterland oder die einschränkende Wirkung des konkreten literarischen Genres, konnte im vorliegenden Beitrag nur hin und wieder verwiesen werden. Da die Mehrsprachigkeit als Thema eine wachsende Beachtung genießt, kann man hoffen, dass künftig den hier aufgeworfenen und weiteren Fragen in vergleichenden Studien und Einzelinterpretationen nachgegangen wird. Die Positionierung des Themas als Forschungsprojekt im auslandsgerma‐ nistischen Studium auf unterschiedlichen akademischen Stufen hat sich als ergiebig erwiesen. Die Beschäftigung mit der literarischen Mehrsprachigkeit gibt den Studierenden eine Möglichkeit, sich als Sprachexperten zu fühlen, denn obwohl ihre Deutschkenntnisse im Studium ja erst geübt und geschlif‐ fen werden, bringen die Studierenden für derartige Analyseaufgaben eine in Deutschland seltene Sprachkombination (Deutsch, Russisch, Estnisch) und damit eine Stärke mit, die man beruflich anwenden kann. So kann im Idealfall 76 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar das Selbstbewusstsein der Studierenden gestärkt werden und ein Grundstein für ihre Identität als Kulturvermittler gelegt werden. Literaturverzeichnis Bender, Reet/ Peekmann, Marika (2019). Baltisaksa piirilinn. Eduard von Stackelbergi ja Monika Hunniuse Narva. In: Soovik, Ene-Reet/ Talivee, Elle-Mari/ Finch, Jason/ Prints‐ mann, Anu (Hrsg.) Methis 24. Kirjanduslikud linnauuringud. Tartu: Tartu Ülikooli kultuuriteaduste instituut, Eesti Kirjandusmuuseumi Eesti Kultuurilooline Arhiiv, 29-58. 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München: Beck. 78 Marin Jänes, Maris Saagpakk, Annika Saar, Marianne Laura Saar 1 In Anlehnung an Patrick Schreiner, der Sprachenpolitik als „das Verhältnis zwischen mindestens zwei Sprachen in funktionaler, politischer und territorialer Hinsicht“ definiert (Schreiner 2006: 26), wird in diesem Beitrag die Schreibweise Sprach(en)politik verwendet, um sowohl auf die Hierarchisierung der Sprachen im literarischen Schreib‐ prozess hinzuweisen, als auch die politisch gesteuerte Bevorzugung einer der Sprachen in einer mehrsprachigen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Vom historischen Erbe zur selbstbestimmten Sprach(en)politik? Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland Natalia Blum-Barth Abstract: Im ersten Teil dieses Beitrags wird auf die sowjetische Sprach(en)politik 1 eingegangen und aufgezeigt, wie sie sich an den Laureaten des Gorki Staatspreises ablesen lässt. Ferner werden Formen der literari‐ schen Mehrsprachigkeit angesprochen, die für verschiedene Republiken der Sowjetunion anhand der mit dem Gorki-Preis ausgezeichneten Autoren beobachtet werden können. In zwei weiteren Teilen des Beitrags wird auf die Sprach(en)politik und literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland eingegangen. Das Ziel ist dabei nicht, eine differenzierte Untersuchung zu liefern, sondern Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Tendenzen in der Sprach(en)politik der beiden Staaten seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart im Spiegel der Literatur aufzuzeigen und diese an Fallbeispielen zu erläutern. Im vierten, abschließenden Teil wird literarische Übersetzung als eines der Realisierungsformate der textexternen Mehrsprachigkeit her‐ ausgestellt und insbesondere auf die konsultierende Funktion der russischen Sprache hingewiesen. Keywords: Literarische Mehrsprachigkeit; Sprache(en)politik; Übersetzung; Litauen; Lettland; sowjetisch 2 Декларация прав народов России: www.hist.msu.ru/ ER/ Etext/ DEKRET/ peoples.htm 1 Sowjetische Sprach(en)politik und ihre Auswirkungen auf die Literatur In der „Deklaration der Rechte der Völker Rußlands“, 2 einem der ersten Doku‐ mente, das die Bolschewiki nach ihrer Machtübernahme bereits am 2. (15.) November 1917 verabschiedeten, wurde der Grundsatz der nationalen Politik festgelegt: Die Gleichberechtigung aller Nationen, einschließlich das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache der jeweiligen nationalen Minderheit. Auch wenn dieser Grundsatz in der Phase der Industrialisierung 1928-1931 zugunsten der russischen Sprache als lingua franca aufgegeben wurde, wurden in der ersten Hälfte der 20er Jahre einzigartige Maßnahmen ergriffen, um Sprachen der nationalen Minderheiten und Ethnien voneinander abzugrenzen, zu entfalten und zu reformieren. Die Aufmerksamkeit galt in erster Linie den Sprachen und Dialekten von Kirgisen, Baschkiren, Turkmenen, Usbeken, Tadschiken, Tataren, Aserbaidschanern, Dagestanern und Kareliern. Einige dieser Sprachen bekamen zum ersten Mal ein Alphabet, viele dieser Sprachen wurden auf das lateinische Alphabet umgestellt, Linguisten erstellten Grammatik- und Lehrbücher für den Schulunterricht (Borisova o.J.: 4 f). Diese Aufwertung der Dialekte und Regionalsprachen fand im Rahmen der ‚Verwurzelungspolitik‘ (vgl. Chalitova 2010: 156) der Bolschewiken statt. Um das Ziel, die ideologische Indoktrinierung, zu erreichen, bediente man sich lokaler Sprachen. Ihre Herausbildung zum Rang der Literatursprachen sollte die Akzeptanz der bolschewistischen Ideen, die Ausbildung der loyalen Anhänger aus den Reihen der autochthonen Bevölke‐ rung und den Ausbau der sozialistischen Gesellschaft befördern. 1934 markiert den Wendepunkt in der Sprachpolitik der Sowjetunion. Dieser zeichnet sich durch die zunehmende Verbreitung der russischen Sprache in den nationalen Minderheiten der Sowjetunion aus (Borisova o.J.: 10). Am 13. März 1938 wird Russisch zum Pflichtfach in allen Schulen der Sowjetunion. Das zen‐ tral koordinierte Programm soll die Implementierung des Russischunterrichts in allen Schulen und Bildungseinrichtungen aller Republiken der Sowjetunion steuern. Der Erfolg dieses Programms wurde durch seine großzügige Finanzie‐ rung durch das Zentralkomitee garantiert. Außerdem wird Russisch die einzige Sprache der Roten Armee. Dadurch wird der Wehrdienst zum Instrument der Russifizierung, was auch eine bessere Kenntnis der russischen Sprache in der männlichen Bevölkerung der nationalen Minderheiten erklärt. Bereits Anfang 1940 kann die faktische Dominanz der russischen Sprache als offizielle Sprache in den meisten Republiken der Sowjetunion konstatiert werden. Eine Ausnahme 80 Natalia Blum-Barth 3 Laut Volkszählung 1989 gaben beispielsweise 36,6 % der Letten, knapp 40 % der Kasachen und ca. 53 % Armenier an, dass sie keine Russischkenntnisse besitzen. Vgl. Rudnev 2007: 5. 4 Ebd. stellen die baltischen Staaten dar. Anders als in allen anderen sowjetischen Republiken haben sich die jeweiligen Landessprachen erfolgreich gegen die russische Sprache durchgesetzt. Veranschaulichen lässt sich dies anhand der Statistik über die Buchveröffentlichungen aus dem Jahr 1940 (Borisova o.J.: 24). Republik Neuerscheinungen insgesamt Neuerscheinungen in der Landes‐ sprache Litauen 387 336 Lettland 392 286 Estland 266 229 Ukraine 4836 2012 Weißrussland 772 375 Kasachstan 762 382 Wenn 1940 in Litauen und Estland 87 % der Bücher und in Lettland knapp 73 % der Neuerscheinungen in der jeweiligen Landessprache veröffentlicht wurden, so waren es in der sowjetischen Ukraine knapp 42 %, in Weißrussland 48 % und in Kasachstan 50 %. Damit scheint die Sprachsituation in den baltischen Staaten der Sowjetzeit eine deutlich andere zu sein als in anderen sowjetischen Republiken. Während das Russische in der sowjetischen Ukraine und im sowje‐ tischen Weißrussland die Landessprachen aus dem Buchdruck immer mehr verdrängte, konnten Lettisch, Estnisch und Litauisch weiterhin den Status der Bildungssprache aufrechterhalten. In den 60er Jahren wurde die russische Sprache zur zweiten Muttersprache jedes nichtrussischen Bürgers der Sowjetunion erklärt. Die tatsächlichen Kennt‐ nisse der russischen Sprache spielten dabei keine Rolle. 3 Um den Russischun‐ terricht zu fördern, wurde Russisch 1975 als Pflichtfach ab der ersten Klasse in den Schulen von neun sowjetischen Republiken eingeführt, in den übrigen Republiken war es Pflichtfach ab der zweiten Klasse (Rudnev 2007: 4). Die letzten sowjetischen Republiken, die den Russischunterricht ab dem ersten Schuljahr einführten, waren Litauen und Estland. Dies geschah erst 1980! 4 81 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 5 Ferner definiert Kremnitz den unterschiedlichen Adressatenkreis als Unterscheidungs‐ merkmal: „während die textinterne Mehrsprachigkeit eine (zumindest virtuell) mehr‐ sprachige Leserschaft voraussetzt, richtet sich die textübergreifende Mehrsprachigkeit Dass die baltischen Republiken ihre Landessprachen stärken und dem Ein‐ fluss des Russischen Widerstand leisten konnten, hängt nicht zuletzt mit der moderaten ideologischen Indoktrinierung im Baltikum im Vergleich zu den an‐ deren sowjetischen Republiken zusammen. Im Bereich der Literatur kann man dies an Laureaten des Gorki Staatspreises veranschaulichen (Государственная премия РСФСР имени М. Горькогo). Dieser Literaturpreis wurde von 1966 bis 1991 vom Ministerrat jährlich an drei bzw. vier Literaten verliehen und galt als eine der höchsten literarischen Auszeichnungen der Sowjetunion. Mit dem Gorki Staatspreis wurden ideologisch geprägte Werke ausgezeichnet, die den Bau des Sozialismus und den Fortschritt der Planwirtschaft in höchsten Tönen lobten. Fast jedes Jahr war unter den Ausgezeichneten auch ein nichtrussischer sowjetischer Autor. Dadurch wollte man der multinationalen und mehrsprachi‐ gen Situation in der Sowjetunion gerecht werden. Unter den Preisträgern aller Jahrgänge finden sich keine Autoren aus den baltischen Ländern. Die meisten Preisträger kamen aus Arbeiter- und Bauernfamilien und wa‐ ren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Viele von ihnen studierten am Gorki Literaturinstitut, der ideologischen Kaderschmiede, und arbeiteten als Lehrer für russische Sprache an Lehrerausbildungseinrichtungen in ihren Hei‐ matländern. Ihre Werke stehen im Zeichen des sozialistischen Realismus, in vielen dominiert Kriegs- und Kampfthematik, manche beleuchten den Übergang von traditionellen Arbeits- und Lebensformen zur Industrialisierung und zur Planwirtschaft. Die textinterne Mehrsprachigkeit (Blum-Barth 2019: 11 f.) in den Werken nichtrussischer Autoren, die mit dem Gorki Staatspreis ausge‐ zeichnet wurden, ist wenig verbreitet. Die Mehrsprachigkeit innerhalb des Textes findet sich hauptsächlich in Form der Zitate und Figurenrede, die als russische Einsprengsel in die jeweilige Sprache eingebettet werden. Verbreitet ist auch die Implementierung der politischen russischen Terminologie in die Sprachen anderer sowjetischer Republiken und Ethnien. Verallgemeinernd kann behauptet werden, dass für die nichtrussischen Autorinnen und Autoren nicht die textinterne, sondern die textübergreifende/ textexterne Mehrsprachigkeit kennzeichnend ist. Georg Kremnitz unterscheidet zwischen der Ebene des Textes (textintern) und der Ebene des Gesamtwerkes des Autors (textübergreifend): „Während in der ersten Form innerhalb eines Textes mehrere Sprachen verwendet werden, benützt in der zweiten Form ein Autor in unterschiedlichen Texten verschiedene Sprachen.“ (Kremnitz 2015: 18) 5 Bei der textübergreifenden Mehrsprachigkeit 82 Natalia Blum-Barth vorwiegend an unterschiedliche Gruppen, die nicht dieselbe Sprache verwenden. Zumindest setzt sie nicht von vornherein mehrsprachige Leser voraus.“ (Kremnitz 2015: 20). 6 Schriftsteller wie Nabokov, Beckett, Goll, Goldschmidt, Schickele, Ionesco, Filip, Sem‐ prún u.a. 7 Paul Celan, der sich für seine Dichtung keine andere Sprache außer seiner deutschen Muttersprache vorstellen konnte, übersetzte aus neun Sprachen ins Deutsche. Vgl. Gellhaus 1997. ist also die Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren gemeint, bei der textinternen - die Mehrsprachigkeit des Textes. Die Mehrsprachigkeit des Autors führt nicht automatisch zur Mehrsprachigkeit des Textes (Blum-Barth 2019: 12). Zu den zwei von Kremnitz definierten Realisierungsformaten der textübergreifenden Mehrsprachigkeit - 1. das schriftstellerische Œuvre, das in zwei oder mehr Sprachen vorliegt, 6 und 2. Selbstübersetzungen - können auch 3. literarische Fremdübersetzungen gezählt werden. Diese sind besonders im Bereich der Lyrik verbreitet. 7 Den nichtrussischen sowjetischen Autoren standen die Herkunftssprache und die russische Sprache literarisch zur Verfügung. Ihre textexterne Mehrspra‐ chigkeit manifestiert sich in 1. literarischen Fremdübersetzungen, 2. Selbstüber‐ setzungen bzw. autorisierten Übersetzungen eigener Texte und 3. im Sprach‐ wechsel bzw. in der Zweisprachigkeit. Hierzu einige Beispiele: • Der jakutische Schriftsteller Semjon Danilov (Gorki Staatspreis 1971) übersetzte ins Jakutische neben Puschkin, Lermontov und Arkadi Gaidar auch Taras Schewtschenko aus dem Ukrainischen und den polnischen romantischen Dichter Mickiewicz. • Der kabardino-balkarische Schriftsteller Kajsyn Kuliew (Gorki Staats‐ preis 1966) autorisierte die meisten Übersetzungen seiner Lyrik ins Russische. • Der nanajische Autor Georgij Chodsher (Gorki Staatspreis 1973) vollzog später den Sprachwechsel und schrieb mehrere Werke auf Russisch. • Der burjatische Dichter Nikolaj Damdinov (Gorki Staatspreis 1975) war ein zweisprachiger Autor, sein literarisches Œuvre besteht aus Werken in burjatischer und in russischer Sprache. • Jurij Rytcheu (Gorki Staatspreis 1983) war ein zweisprachiger Autor und schrieb auf Tschukotisch und Russisch. Der Sprachwechsel und die Zweisprachigkeit sind in erster Linie für die Autoren des Nordostens und Nordens der Sowjetunion kennzeichnend. Zeitlich fällt diese Entwicklung in die 70er und 80er Jahre und korrespondiert somit mit den Assimilierungsprozessen und der Aufgabe der Muttersprachen dieser 83 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 8 Diese Begriffe werden in diesem Beitrag als Synonyme verwendet. Völker zugunsten der russischen Sprache. Unter den Autoren der baltischen Republiken der Sowjetzeit war die Aufgabe der Muttersprache als Sprache der Kreativität zugunsten des Russischen äußerst selten. Selbst die Autorinnen und Autoren, die in ihren Werken der kommunistischen Ideologie Tribut leisteten, schrieben weiterhin in ihren Muttersprachen. In ihrer textexternen literarischen Mehrsprachigkeit dominieren Fremdübersetzungen, und zwar von Werken aus dem Kanon der Weltliteratur. Unabhängig vom Realisierungsformat schlägt sich in der textübergreifenden/ textexternen 8 Mehrsprachigkeit die Reaktion der Autorinnen und Autoren auf die Sprach(en)politik nieder, so dass die textübergreifende/ textexterne Mehrsprachigkeit ihren Versuch dokumentiert, eigene literarische Tätigkeit mit den sprachpolitischen und sprachsoziologi‐ schen Rahmenbedingungen zu vereinbaren. 2 Sprach(en)politik und literarische Mehrsprachigkeit in Litauen Kennt man die Geschichte Litauens, so erschließt sich von selbst, dass in diesem von Nachbarländern geteilten und beherrschten Land mehrere Ethnien und Sprachen zu Hause waren. Mit der Dritten Polnischen Teilung 1795 bildeten der Südosten Litauens und das nordwestliche Grenzgebiet Weißrusslands das Gouvernement Wilna, in dem Russisch, Litauisch, Polnisch, Weißrussisch so‐ wie Hebräisch und Jiddisch gesprochen wurden. Außerdem gab es ethnische Minderheiten wie Deutsche und Tataren, die im Alltag ihre Muttersprachen verwendeten. Wie in den meisten multiethnischen und vielsprachigen Gebieten zu beobachten ist, gab es auch in Litauen eine Hierarchie der Sprachen (vgl. Kostiucenko 2016), die auf die Literatur des Landes abfärbte. Die Sprache der literarischen Texte wurde nicht zuletzt durch die Sprache des Schulunterrichts vorgegeben. Denn die Prägung durch literarische Texte im Schulunterricht und die literarische Vorbildung sind meistens bestimmend für die ersten lite‐ rarischen Versuche junger Autorinnen und Autoren. Erst im Verlauf ihrer literarischen Tätigkeit stellt sich die Frage nach der Wahl bzw. nach der Entscheidung für die eine oder andere Sprache für ihre kreative Tätigkeit. Die litauische Literatur des 19. Jahrhunderts liefert hierzu zahlreiche Beispiele. Ende des 19. Jahrhunderts galt Litauisch als „Bauernsprache“, so dass Klein‐ adel und gebildete Schichten Polnisch verwendeten. Auch in der Literatur dominierte Polnisch. Der Dichter Antanas Baranauskas (1835-1902) wechselte beispielsweise vom Polnischen zum Litauischen unter dem Einfluss von Karo‐ lina Praniauskaitė (1828-1859), die selbst ihre - heute größtenteils vergessenen 84 Natalia Blum-Barth 9 Vgl. Antoni Baranowskis Biographie in polnischer Sprache: www.dziecionline.pl/ Suw alki/ ludzie/ baranowski.htm - Gedichte fast ausschließlich auf Polnisch schrieb (Stoberski 1974: 55 f.). Wäre nicht der frühe Tod der Dichterin gewesen, hätte sie vermutlich auch zum Litauischen gewechselt, denn ihre Übersetzungen der litauischen Volks‐ dichtung ins Polnische offenbaren nicht nur ihr Interesse an der litauischen Literatur, sondern auch ihre Kenntnis der litauischen Sprache. Neben Karolina Praniauskaitė beeinflusste auch Juliusz Słowacki, einer der Nationaldichter Polens, das Interesse Antanas Baranauskas für die Folklore Litauens. 9 Es war die Epoche der Romantik, die sich Märchen, Balladen, Volksliedern und der Volkssprache zuwandte. Baranauskas beschäftigte sich linguistisch mit litaui‐ schen Dialekten, übersetzte die Bibel ins Litauische und schrieb eigene Gedichte in litauischer Sprache. Als Meilenstein in der litauischen Literatur wird sein Gedicht „Anykščių šilelis“ bezeichnet. Es wurde 1861, knapp zwei Jahre nach seiner Entstehung, erstveröffentlicht und besingt die Schönheit der litauischen Wälder und die Verbundenheit der Menschen mit der Natur. 1896, sechs Jahre vor dem Tod Antanas Baranauskas, wurde bei Wilna, das heutige Vilnius, der weißrussisch-litauische Dichter Moische Kulbak, geboren, der spätestens 2017, als Litauen das Gastland der Leipziger Buchmesse war, wiederentdeckt wurde (vgl. Kulbak 2017). Kulbak zählt zu den größten Dich‐ tern jiddischer Sprache seiner Zeit. Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Wilna ein Zentrum der jiddischen Kultur. Dass Kulbak, der ursprünglich auf Hebräisch schrieb und neben Russisch, Litauisch und Polnisch auch Deutsch sprach, sich für Jiddisch als Literatursprache entschied, hatte ideologische Gründe. Das bis 1904 anhaltende Verbot der zaristischen Behörden, Bücher in litauischer Sprache zu drucken, führte zur Popularisierung des Litauischen als Literatur‐ sprache und Entstehung der nationalen Romantik. Zu den bekanntesten Au‐ toren litauischer Literatur der Zwischenkriegszeit zählen Balys Sruoga (1896- 1947), Salomėja Nėris (1905-1945), Bernardas Brazdžionis (1907-2002). Wie der letztere gingen auch andere Schriftsteller - Henrikas Radauskas, Jonas Aistis, Alfonsas Nyka-Niliūnas - nach der deutschen und sowjetischen Besatzung Li‐ tauens ins Exil. Nach kürzeren Aufenthalten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zogen sie in die USA. Dort blieben sie der litauischen Sprache treu. Da sie fast alle Lyrik schrieben, war der Sprachwechsel ja sehr unwahrscheinlich. Im Exil beteiligten sie sich als Literaturkritiker und literarische Übersetzer. 85 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 10 Ašarų Vainikas I, 1942; Ašarų Vainikas II, 1948; Aukuro dūmai, 1948. Gedichte aus diesen drei Bänden sind online zugänglich: www.tekstai.lt/ tekstai/ 772-baltrusaitis-jurgis In der Heimat wurden sie diffamiert und tabuisiert, ihr Werk blieb bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens weitgehend unbekannt. Einer der bemerkenswertesten Autoren Litauens ist Jurgis Baltrušaitis (1873- 1944), der ebenfalls ins Exil ging, nach Frankreich, und dort vom Russischen zum Litauischen wechselte. Baltrušaitis wurde in einem kleinen Dorf im Nordwesten Litauens, der damals zum Russischen Reich gehörte, geboren. Während seines Physik- und Mathematikstudiums an der Universität Moskau lernte er die zentralen Figuren des russischen Symbolismus kennen: Konstantin Balmont, Waleri Brjussow und Wjatcheslaw Iwanow. Er debütierte als Lyriker 1899 und schrieb knapp 300 Gedichte in russischer Sprache. Sein erstes auf Litauisch verfasstes Gedicht erschien 1927. Sein Sprachwechsel war weniger politisch motiviert, er trug vielmehr einen experimentellen Charakter. Für einen Dichter ist es attraktiv und herausfordernd, einen neuen Trend oder Kunstgriff losgelöst von seinem Ursprung auszuprobieren. Der Hang des russischen Symbolismus zum Mystizismus führte zur Herausbildung von Symbolen, deren häufige Verwendung mit der Zeit zum Verlust ihres Gehalts und ihrer Wirkung führte. Anders war es in der litauischen Sprache, die diese Kunstrichtung noch nicht kannte und unverbrauchtes Sprachmaterial bot, das ein Dichter frei von Vorbil‐ dern und abseits der Muster gestalten konnte. Natürlich kannte Baltrušaitis diese Vorbilder und Muster im Russischen, aber sie dienten ihm im Litauischen als Empfehlung und nicht als Regel, die es zu befolgen galt. Dadurch entstand Freiraum zum Modifizieren, Ausprobieren, eben zum Experimentieren. Gerade dieses Moment ist ein Vehikel für den Sprachwechsel bei vielen Autoren, denn dadurch werden Kreativität und Inspiration generiert. Gleichzeitig findet Transfer von neuen literarischen Formen, Trends, Kunstrichtungen und Stilen aus einer Literatur in die andere statt. Wie fruchtbar der Sprachwechsel für Baltrušaitis war, zeigen seine drei Gedichtbände, 10 die in Frankreich, fern vom litauischen Sprachraum, entstanden. Auch wenn sein erster Gedichtband in litauischer Sprache erst 1942, kurz vor seinem Tod, erschien, ging Baltrušaitis nicht nur als Symbolist, sondern als Erneuerer der litauischen Literatur in ihre Geschichte ein. Als Sprachwechsler und zweisprachiger Autor ist Baltrušaitis ein Paradebei‐ spiel für textexterne Mehrsprachigkeit. Seine literarischen Übersetzungen aus zahlreichen Sprachen ins Russische und Litauische offenbaren, wie breit und vielfältig das Spektrum seiner textexternen Mehrsprachigkeit ist. In seiner russischen Phase übersetzte er zahlreiche Dichter und Dramatiker ins Russische: 86 Natalia Blum-Barth 11 Vgl. Online-Veröffentlichungen: https: / / magazines.gorky.media/ authors/ e/ georgij-efre mov und www.vekperevoda.com/ 1950/ efremov.htm 12 Dmitri Mereschkowskis Abhandlung Über die Gründe des Verfalls der zeitgenössischen russischen Literatur (1893) inspirierte zahlreiche Dichter des Silbernen Zeitalters (Brjussow, Iwanow, Bunin, Achmatowa u. a.) zu Übersetzungen der europäischen und außereuropäischen Literatur ins Russische. George Gordon Byron, Henrik Ibsen, Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Gabriele D’Annunzio, Oscar Wilde, Johan August Strindberg, Søren Kierkegaard sowie Rabindranath Tagore u. a. Baltrušaitis’ Leistung als literarischer Entde‐ cker und Vermittler wird mit einem Preis honoriert, der seinen Namen trägt und seit 2006 verliehen wird. Der erste Preisträger dieser Auszeichnung ist Georgi Efremow, ein russischer Dichter, Publizist und Übersetzer. Den Baltrušaitis-Preis erhielt Efremow für seine Übersetzungen der litauischen Autoren ins Russische. Seit 1975, als seine erste Übersetzung von Eduardas Mieželaitis erschien, übertrug Efremow prak‐ tisch die gesamte zeitgenössische litauische Lyrik ins Russische: Algimantas Baltakis, Bernardas Brazdžionis, Albinas Bernotas, Vladas Braziūnas, Sigitas Zigmas Geda, Marcelijus Teodoras Martinaitis, Justinas Marcinkevičius, Aidas Marčėnas, Jonas Strielkūnas, Aivaras Veiknys u.a. 11 Fast jeder der genannten Lyrikerinnen und Lyriker übersetzt auch selbst Lyrik aus anderen Sprachen ins Litauische. Damit wird deutlich, wie verbreitet textexterne Mehrsprachigkeit gerade unter den Lyrikern ist. Es ist ein Phänomen, das über Litauen und das Baltikum hinausgeht und als typisch für Lyriker gelten kann. Das Akustische einer anderen Sprache - Melodie, Rhythmus, Klang - reizt und inspiriert eigene Spracharbeit, schult das Ohr, sensibilisiert für die Musikalität und bietet sich als Übungsraum an. Auch wenn Georgi Efremow mit dem Baltrušaitis-Preis vordergründig für seine Popularisierung der litauischen Literatur ausgezeichnet wurde, darf nicht vergessen werden, dass er selbst ein Dichter ist, einer der bekanntesten Dichter Litauens, die auf Russisch schreiben. Den litauischen Lesern ist er jedoch bestens bekannt, da seine Lyrik von den von ihm übersetzten litauischen Dichtern aus dem Russischen ins Litauische übertragen wird. Die Tradition der literarischen Übersetzung, insbesondere der Lyriküberset‐ zung, erhielt in Russland von den Dichtern des Silbernen Zeitalters 12 vielfältige Impulse und wurde in der sowjetischen Zeit fortgesetzt. In russischer Sprache wurden Anthologien der Literatur fast aller sowjetischen Republiken heraus‐ gegeben. Gewiss waren diese Ausgaben politisch und ideologisch motiviert. Wie sonst erklärt man die zahlreichen Ausgaben der litauischen Literatur 87 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 13 Auf Russisch erschienen: Anthologie der litauischen Prosa „Живая Литва“ (Lebendiges Litauen), 1942; „Вечная ненависть“ (Ewiger Haß), 1943; „За Советскую Прибалтику“ (Für das sowjetische Baltikum), 1943; „Дорога в Литву“ (Der Weg nach Litauen), 1944, sowie Gedichtbände von Liudas Gira, Salomėja Nėris, Antanas Venclova und Kostas Korsakas. 14 Zur Biographie von Eduardas Mieželaitis sowie seinen Gedichten, vgl. www.tekstai.lt/ tekstai/ 288-miezelaitis-eduardas 15 Siehe auch das Video, in dem Tomas Venclova ein Gedicht von Miłosz in polnischer Sprache und in eigener Übersetzung ins Litauische vorträgt: www.tekstai.lt/ tekstai/ 37 4-venclova-tomas/ 6233-tomas-venclova-skaito-czesawa-miosza-video-2011 während des Zweiten Weltkrieges. 13 Mit ihren Werken sollten die Autorinnen und Autoren die kommunistischen Ideen und sozialistischen Werte popularisie‐ ren. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erschien eine Reihe von Anthologien litauischer Literatur in russischen Übersetzungen: „Поэты Литвы“ (Dichter Litauens), 1947; „Поэты Советской Литвы“ (Dichter des sowjetischen Litau‐ ens), 1948; „Литовские новеллы“ (Litauische Novellen), 1948; „Поэзия Литвы. Антология“ (Dichtung Litauens. Anthologie), 1950; „Проза Советской Литвы“ (Prosa des sowjetischen Litauens), 1950, u. a. Einer der meistübersetzten und bekanntesten Autoren des sowjetischen Litauens war Eduardas Mieželaitis. 14 Der 1919 in Kareiviškis geborene Dichter war nicht nur in seiner Jugend ein aktiver Anhänger der kommunistischen Ideen, sondern blieb Parteimitglied auch nach der Wende. Dabei wurde er 1946 „für die Ideenlosigkeit“ seiner Dichtung von Literaturfunktionären scharf kritisiert. Vermutlich um weniger Oden an die kommunistische Partei schrei‐ ben zu müssen, begann Mieželaitis für Kinder und Jugendliche zu dichten und übersetzte Werke anderer Autoren ins Litauische. Neben Puschkin und Lermontov übersetzte er auch Leonid Martynov aus dem Russischen, der seinerseits Mieželaitis Werke ins Russische übertrug. Für seine literarische Tätigkeit wurde er 1962 mit dem Leninorden der Sowjetunion ausgezeichnet. Im unabhängigen Litauen wurde er für seine politische Haltung zwar angefeindet, aber gleichzeitig gilt er bis heute als einer der größten litauischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Seine Lyrik zeichnet sich durch Pathos, Liedhaftigkeit und philosophische Lebensbetrachtung aus. Das gegenseitige Übersetzen ist unter den Lyrikern durchaus verbreitet. Der 1937 in Memel geborene Tomas Venclova, der seit 1977 als Dissident im US-amerikanischen Exil lebt, übersetzte den polnischen Dichter Czesław Miłosz und den russischen Joseph Brodsky, während die beiden seine Lyrik aus dem Litauischen übertrugen (vgl. Veser 2017: 14). 15 In den USA schrieb Venclova nicht nur auf Litauisch, sondern auch auf Russisch. Diese Zweisprachigkeit war 88 Natalia Blum-Barth 16 Vgl. http: / / vilniusreview.com/ about 17 Ebd. 18 Ausführlich zur Vorstellung dieser Anthologie, vgl. den Zeitungsartikel: В мире русской литературы Литвы - революция. In: Обзор Nr. 1197. Abrufbar unter: www .obzor.lt/ news/ n55785.html (Stand: 29/ 06/ 2020) gewiss nicht politisch motiviert, sondern ergab sich aus seiner literarischen und literaturwissenschaftlichen Tätigkeit. Die Literatur des heutigen Litauens orientiert sich am globalen Buchmarkt, der englischsprachig ist. Die Online-Zeitschrift Vilnius Review bietet eine be‐ eindruckende Zahl an literarischen Texten der litauischen Gegenwartsliteratur und setzt sich deren Popularisierung zum Ziel. 16 Dieses soll erreicht werden, indem literarische Texte in englischer Übersetzung dem breiteren Leserkreis zugänglich gemacht werden. Um das anfallende Arbeitspensum zu bewerkstel‐ ligen, wird ein Übersetzerteam beschäftigt. Ohne finanzielle Unterstützung sind solche Projekte kaum realisierbar. Als Sponsoren von Vilnius Review werden fol‐ gende Stiftungen genannt: Lithuanian Council for Culture, Association LATGA, City of Vilnius, modernaus meno centras, Spaudos, radijo ir televizijos rėmimo fondas. 17 Es handelt sich also um staatliche Strukturen, die im Einklang mit der (Kultur)Politik der litauischen Regierung insbesondere seit 2010 vermehrt das Englische als Kommunikationssprache verwenden. Zum einen wird dadurch die Weltoffenheit Litauens deutlich, das sich im Zuge der Globalisierungspro‐ zesse immer stärker in die europäische und Weltgemeinschaft integriert. Zum anderen geht damit die Bedeutung und die Kenntnis des Russischen und des Polnischen verloren. Diese Sprachen sind ein wichtiger Teil der Geschichte Litauens, scheinen jedoch mehr der Vergangenheit anzugehören, als in der Zukunft eine wichtige Rolle zu spielen. Dieser Pessimismus müsste allerdings angesichts der 2019 erschienenen dreibändigen Anthologie der russischen Dichtung Litauens (Антология русской поэзии Литвы) relativiert werden. Sie bringt Texte von knapp 350 Autorinnen und Autoren, die seit Jahrhunderten mit Litauen verbunden waren und auf Russisch schrieben. 18 Die Initiatoren dieser Anthologie sind Mitglieder von „Logos“, des Vereins der russischsprachigen Dichter Litauens. Inspiriert wurden sie von der Anthologie Russische Poesie Lettlands, die im Nachbarland erschien. Gleichzeitig setzt „Logos“ mit seiner dreibändigen Ausgabe ein Zeichen des Protests gegen die Sprach(en)politik im heutigen Litauen. Seit seiner Unabhängigkeit ist Litauen bemüht, Litauisch vor Einflüssen des Russischen sowie vor Anglizismen und nicht litauischen Wörtern zu schützen. Mit dieser Aufgabe sind zwei staatliche Behörden beauftragt, die Staatliche Kommission der litauischen Sprache und die Staatliche Sprach-Inspektion, die 89 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland nicht nur mit Argusaugen, sondern mit Tadel, Verwarnungen und Geldstrafen bis zu 434 Euro für die Reinheit der litauischen Sprache sorgen sollen (Stašai‐ tytė 2017). Als Richtlinie dient der „Sprachpolizei“, wie diese Behörden im Volksmund genannt werden, ein 25-seitiger Katalog der „großen Fehler der litauischen Sprache“, die insbesondere Autoren, Journalisten und öffentliche Funktionsträger nicht begehen dürfen. Die Leiterin der Sprachkommission, Daiva Vaišnienė, beteuert allerdings, dass für die Literatur „eine totale Freiheit“ gelte (Stašaitytė 2017). Der Roman Pietinia kronikas (2016) von Rimantas Kmi‐ tas, der in der Umgangssprache geschrieben wurde und mit Schimpfwörtern gespickt ist, soll als Beweis für die Freiheit der Literatur im heutigen Litauen herhalten (Stašaitytė 2017). Allerdings ist bemerkenswert, dass eine solche Sprachzensur wie in Litauen in den anderen postsowjetischen Staaten nicht praktiziert wird - mit Ausnahme von Russland. Die Sprachpolitik Litauens erklärt Heiko F. Marten zutreffend mit der postkolonialen Ausgangssituation: „Die durch die postkoloniale Ausgangssituation begründete Sprachpolitik führt zu einigen Praktiken, die im internationalen Vergleich ungewöhnlich sind.“ (Marten 2017: 217). 3 Sprach(en)politik und literarische Mehrsprachigkeit in Lettland Eine „postkoloniale Ausgangsposition“ gilt auch für Lettland. Die Eroberung seiner Gebiete durch den Deutschen Orden und die Hanse, die schwedische Herrschaft im 17. Jahrhundert, die Besetzung durch das Russische Reich Anfang des 18. Jahrhunderts und die sowjetische Besatzung im Juni 1940 sind Höhe‐ punkte der postkolonialen Vergangenheit Lettlands. Im Spätmittelalter werden von der Bildungsschicht Latein und Deutsch verwendet. Erst im 19. Jahrhundert, als der Einfluss des Deutschen nachlässt, entsteht Literatur in lettischer Sprache. Die Epoche der Romantik weckt das Interesse für Volkslieder und Balladen, die gesammelt und studiert werden (Krišjānis Baron). Die in lettischer Sprache verfassten Prosawerke jener Zeit entstehen unter dem Einfluss der westeuro‐ päischen und insbesondere der deutschen Literatur. Die lutheranischen Pastoren übersetzen zahlreiche Werke aus dem Deutschen, um so eine Alternative zu freiheitsliebenden lettischen Volksliedern und Volksmärchen zu schaffen. Unter den lettisch-deutschen Schriftstellern ist u. a. Andrievs Niedra (1871-1942) zu nennen. Ferner sei auch auf Rūdolfs Blaumanis (1863-1908), einen der bekanntesten lettischen Schriftsteller, hingewiesen. Nach dem Abschluss der deutschen Handelsschule in Riga schrieb Blaumanis seine ersten Publikationen auf Deutsch. Seine Novellen und Kurzgeschichten verfasste er auf Lettisch. Viele von ihnen, wie z. B. das Drama „Die Indrans“ (1904) übersetzte er dann ins 90 Natalia Blum-Barth Deutsche (Kalnačs/ Füllmann 2017). Später wurde er Mitglied der sozialdemo‐ kratischen Bewegung die „Neue Strömung“. Ende des 19., Anfang des 20. Jahr‐ hunderts lässt sich eine immer größere lettische Bildungsschicht für Ideen des Sozialismus begeistern. Unter ihnen war auch das bekannteste literarische Paar Lettlands Aspazija (1865-1943) und Rainis (1865-1929). Ihre ersten Gedichte schrieb Aspazija auf Deutsch, wechselte aber bald zum Lettischen. Zusammen mit Rainis, dem wichtigsten Dichter Lettlands, übersetzte sie Goethes Faust ins Lettische. Für seine sozialistische Weltanschauung wurde Rainis 1897 nach Pskow und Slobodskoi verbannt. In den fünf Jahren seiner Verbannung schrieb er nicht nur Gedichte in lettischer Sprache, sondern übersetzte Schiller, Heine, Shakespeare und Puschkin ins Lettische. Der Einfluss der deutschen Sprache und Literatur auf die lettische Literatur ist noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht abgeebbt. Der Geschichte der literarischen Mehrsprachigkeit in Lettland widmet sich Alexander Zapol in der Einleitung zu der von ihm 2011 herausgegebenen Anthologie (Zapol 2011), die einen langen Abschnitt der lettischen Lyrik von 1680 bis 2010 anhand der Texte von 40 Autorinnen und Autoren vorstellt. Zapol hebt u. a. hervor, dass Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts viele lettische Autorinnen und Autoren sich an Vorbildern der russischen, deutschen, französischen und skandinavischen Literaturen orientierten, aus diesen Sprachen übersetzten und auch selbst ihre Texte auf Deutsch oder Russisch schrieben. Dies hing sowohl mit den historischen Rahmenbedingungen zusammen (Schulunterricht fand in deutscher, später in russischer Sprache statt), als auch mit der Orientierung an neuen literarischen Tendenzen und Prozessen, die in diesen Literaturen entstanden. Es war kein Widerspruch, ein lettischer Autor zu sein und in russischer oder deutscher Sprache zu schreiben. Die in russischer Sprache verfassten Gedichte von Aleksandr Čak entstanden beispielsweise nach seinem Treffen mit Wladimir Majakowski und ahmen den Stil des russischen Futurismus nach. Gleichzeitig knüpfen seine auf Lettisch geschriebenen Gedichte an die Tradition der europäischen Großstadtlyrik an. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Bevölkerungsstruk‐ tur Lettlands grundlegend verändert: Anfang Oktober 1939 wurde Lettland gezwungen, die Stationierung von 25 000 sowjetischen Soldaten auf lettischem Gebiet zuzulassen. Kurz darauf ließ Hitler 50 000 Deutschbalten umsiedeln (vgl. Garleff 2002). Am 17. Juni 1940 rollten sowjetische Panzer durch die Straßen Rigas, und ca. 100 000 Rotarmisten befanden sich auf lettischem Territorium. Zwischen 1940 und 1990 stieg der Anteil der Russen in der ethnischen Zusammensetzung der lettischen Bevölkerung auf 34 %. Während der sowjetischen Herrschaft „sank der Anteil ethnischer Lett/ -innen an der 91 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 19 www.orbita.lv 20 Vgl. zur Liste der Autoren http: / / archive.orbita.lv/ authors. Beim Anklicken auf den Namen erscheinen ausgewählte oder aktuelle Texte. 21 Weitere Gedichte findet man in den Online-Magazinen Vavilon: www.vavilon.ru/ texts / index.html und textonly http: / / textonly.ru/ authors/ ? issue=15 22 Auf der Webseite der Autorin sind neben Texten auch ihre Performances einzusehen: www.jelena-glazova.com/ texts/ lettischen Bevölkerung bis 1989 auf 52 Prozent.“ ( Mierina 2020) Das in der Sowjetzeit russifizierte Lettland zeigt sich nach der Wende weniger bemüht um die Bekämpfung der russischen Sprache als dies z. B. in Litauen der Fall ist. Anders als in Litauen schreiben in Lettland sehr viele Autoren auf Russisch, allerdings sind dies hauptsächlich ethnische Russen. Ausschlaggebend für ihre Tätigkeit ist die 1999 gegründete Textgruppe „Orbita“. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch das Experimentieren mit anderen Medien aus (Photographie, Musik, Film, Graphik, Malerei). Von den zahlreichen Aktivitäten der Vereinigung wird die Herausgabe zweisprachiger Lyrikbände besonders betont: „Orbita has […] produced a number of bilingual (Russian-Latvian) poetry collections and publications; issued an anthology of contemporary Russian poetry in Latvia - a unique study of this phenomenon“. 19 Die Mitglieder der Gruppe 20 (Sergej Timofejew, 21 Artur Punte, Alexander Zapol, Semjon Chanin, Zhorzh Uallik u.a.) zeigen sich weltoffen und nehmen an Literatur-Events im In- und Ausland teil. Auch wenn Russisch die Sprache ihres kreativen Schaffens ist, spielen Lettisch und Englisch eine wichtige Rolle in ihrem Schaffensprozess. Die zweisprachigen Gedichtausgaben, die „Orbita“ initiiert, stellen das rus‐ sische Original und die lettische Übersetzung nicht einfach nebeneinander, sondern inszenieren beide Sprachen, indem sie ihren Klang häufig ins Zentrum rücken. Beispiele dafür sind nicht nur zweisprachige Lesungen, Performances und multimediale Projekte, die häufig mit Sound experimentieren, sondern auch die Gestaltung von Buchcover, wie etwa des Gedichtbandes Stereo (2012) von Sergej Timofejew und die Fokussierung auf den Klang der beiden Sprachen, wie bereits im Titel der Gedichtbände Трансферы/ Transfēri (2013) und Алчность/ Alkatība (2019) von Jelena Glazova. 22 Auch wenn es überzogen wäre anzuneh‐ men, dass die auf Russisch schreibenden Autoren Lettlands den performativen Soundformaten dank ihrer textexternen Zweisprachigkeit zu einem so hohen Stellenwert verholfen haben, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass das Mo‐ ment der akustischen Gegenüberstellung bzw. des Zusammenspiels zwischen dem russischen Original und der lettischen Übersetzung beabsichtigt ist. Der Band Вижу слышу молчу/ Redsu dzirdu kluseju (2013) von einem 1975 gebo‐ renen Autor, der unter dem Pseudonym Zhorzh Uallik schreibt, präsentiert Texte, 92 Natalia Blum-Barth 23 Kirill Korchagin verortet Ualliks Texte in der Tradition der russischen Konkretisten: „Be‐ hind each poem there is a kind of an ecstatic, capturing gesture in which he uses awkward word combinations that serve to bring the entire mass of the poem to an ‘aroused’ state. Uallik flirts with naive poetry and primitivism, balancing on the edge of art brut, coming into contact with the necro-infantile experiments of Yuri Odarchenko and the oberiu group of Russian avant-gardists. All this brings the author close to the Russian post-avant-garde (the school of Sergei Buryukov) and distinguishes him from other members of Orbita.“ https: / / postnonfiction.org/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ orbita-catalog-screen-1.pdf , S. 13. die nach akustischem bzw. phonetischem Prinzip konzipiert sind. Ihnen liegen Alliterationen, akustische Assoziationen, phonetische Verwandtschaft, Echo-Ef‐ fekte sowie Spiegelungen und Doppelungen zugrunde. 23 Stellenweise entfalten die Gedichte dieses Bandes eine psychodelische Wirkung, die durch die Überreizung der auditiven Wahrnehmung erzielt wird. Der Band ist als Doppelband erschienen und bringt die Übertragung dieser Gedichte ins Lettische. Die beiden Bände lesen sich je von einer Seite, wobei sie mit dem gemeinsamen Rückcover verbunden sind. Diese aufwendige innovative Gestaltung des Buches deutet auf die herausragende Bedeutung der Sprachen und ihr Zusammenspiel sowohl bei der Entstehung der Gedichte als auch bei ihrer Übertragung ins Lettische hin. Die enge Zusammenarbeit zwischen den auf Russisch schreibenden Auto‐ rinnen und Autoren und Übersetzerinnen und Übersetzern ins Lettische, die ihrerseits selbst Dichter sind, die auf Lettisch schreiben, generiert nicht nur Syn‐ ergien und Kreativität, sondern auch Experimentierfreude. Artur Punte, einer der Redakteure der zweisprachigen Ausgaben, brachte 2014 seinen Gedichtband Поэтические посвящения/ Poētiskie veltījumi heraus, in dem zwischen russi‐ schen Originalen und ihren Übersetzungen ins Lettische auch Gedichte stehen, die Punte auf Lettisch verfasste. Auch wenn dies noch lange nicht bedeutet, dass Punte in der zweiten Sprache seines kreativen Schaffens den gleichen literarischen Rang hat, zeigt sich jedoch, dass Versuche, in einer anderen Sprache Literatur zu schreiben, einen experimentellen Charakter haben, dem durchaus spielerische Momente und Kreativität generierende Absichten zugrunde liegen. Gleichzeitig wird deutlich, dass der literarische Text nicht frei vom Einfluss der textexternen Mehrsprachigkeit bleibt. Er manifestiert sich vordergründig in der auditiven Gestaltung der Sprache, in der akustischen Wahrnehmung des Textes sowie in sprachvergleichenden, sprachkonsolidierenden oder sprachkontras‐ tierenden Elementen, sowie in den vielfältigen onomatopoetischen Stilmitteln, worauf auch Ilva Skulte verweist: Reading Punte, it seems the poet speaks following a developmental logic of events, conversations or associations, but then suddenly changes course, remaining under the disguise of language: what comes to the foreground is a linguistic interplay, transfers, 93 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 24 Ilva Skulte zum Band Поэтические посвящения/ Poētiskie veltījumi im Verlagskatalog: https: / / postnonfiction.org/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ orbita-catalog-screen-1.pdf 25 Als Übersetzter verwendet Chanin seinen bürgerischen Namen Alexandr Zapol. Hier die Kurzbiographie des Autors in englischer Sprache: http: / / latvianliterature.lv/ en/ tra nslators/ 80 26 Im Original lautet das Zitat: „[…] читатель сталкивается со своего рода утопическим проектом общего латышско-русского поэтического языка“. breaks, sound repetitions, rhythm and metre. It is as if the poetry emerges from the story and language (or vice versa) in front of our eyes, thanks to its special, textually tangible form, a form that can express itself in tonality. 24 Die Zweisprachigkeit und das Zusammenspiel der Sprachen werden auch durch das Design des Bandes Вплавь/ Peldus von Semjon Chanin betont. Magnete wurden eingesetzt, um so die Anziehung zwischen dem Band mit russischen Originalen und dem Band mit Übersetzungen ins Lettische eindrucksvoll zu veranschaulichen. Die Übersetzungen wurden von Dichtern wie Kārlis Vērdiņš, Pēteris Draguns, Liana Langa, Jānis Rokpelnis, Marts Pujāts, Jānis Elsbergs u. a. vorgenommen. Gedichte einiger von ihnen sowie von Eduards Aivars, Edvīns Raups, Māris Salējs übersetzt Semjon Chanin aus dem Lettischen ins Russische. Ferner überträgt er auch aus dem Englischen, etwa den amerikanischen Dichter russischer Herkunft Eugene Ostashevsky. 25 Die Gegenwartsliteratur Lettlands - unabhängig ob in lettischer oder in russischer Sprache - entsteht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Zweisprachigkeit. Dies führt zur Herausbildung verschiedener Formen der literarischen Mehrsprachigkeit. Diese existieren sowohl in textexternen als auch textinternen Bereichen. Neben literarischen Übersetzungen, die für die textexterne Mehrsprachigkeit lettischer Gegenwartsautorinnen und -autoren kennzeichnend ist, scheint zunehmend die textinterne Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle zu spielen. Dabei ist zu beobachten, dass nicht so sehr manifeste als vielmehr latente Mehrsprachigkeit diese Texte kennzeichnet. Interferenz der Sprachen (z. B. russische Syntax in der lettischen Sprache), Lehnübersetzungen, Sprachlatenz und interlinguales scheinen die häufigsten Formen der latenten Mehrsprachigkeit (Blum-Barth 2020) in der lettischen Gegenwartsliteratur zu sein. In diese Richtung geht auch die Bewertung der beabsichtigten Sichtbarkeit und der Wechselwirkung des Russischen und Lettischen in zweisprachigen Ausgaben der „Orbita“ durch den Dichters und Kritiker Kirill Kortchagin als „utopisches Projekt der gemeinsamen lettisch-russischen poetischen Sprache“ (Kortchagin 2015). 26 94 Natalia Blum-Barth 4 Übersetzungen im Kontext literarischer Mehrsprachigkeit Sieht man von traditionellen Volksliedern und -märchen ab, so entstand die Literatur Litauens wie auch Lettlands Anfang des 19. Jahrhunderts vor einem mehrsprachigen Hintergrund. Historisch bedingt übte der Einfluss der polni‐ schen Sprache und Literatur in Litauen sowie der deutschen in Lettland einen großen Einfluss auf die Autorinnen und Autoren des jeweiligen Landes aus. Viele unternahmen ihre ersten literarischen Schreibversuche nicht in der Mut‐ tersprache, sondern auf Polnisch bzw. auf Deutsch, die Schulunterrichtssprache im jeweiligen Land waren. Gleichzeitig spielten Orientierung an westeuropäi‐ scher, skandinavischer und russischer Literatur, die sich nicht zuletzt in der Übersetzung manifestierte, eine wichtige Rolle bei der Entstehung der nationa‐ len Literatur Litauens und Lettlands. Die sowjetische Epoche stellte beide Länder vor vergleichbare Herausforde‐ rungen - Russifizierung und Ideologisierung -, die in Litauen und Lettland im Vergleich zu anderen sowjetischen Republiken noch moderat ausfielen. Im Unterschied zu Autorinnen und Autoren anderer sowjetischer Republiken waren bei litauischen und lettischen Autorinnen und Autoren weder Sprach‐ wechsel noch Zweisprachigkeit, die häufig politisch-ideologisch motiviert sind, geläufige Phänomene. In der literarischen Mehrsprachigkeit dominiert ihre textübergreifende/ textexterne Form. Für die Erforschung der literarischen Mehrsprachigkeit, insbesondere der Übersetzung als eines der Formate der textexternen Mehrsprachigkeit lassen sich sowohl in Litauen als auch in Lettland während der sowjetischen Epoche zwei interessante Aspekte beobachten: 1. Die Gründe für Übersetzungen und 2. die konsultierende Funktion der russischen Sprache. 1. Literarische Übersetzung war eine Option, literarisch tätig zu sein, wenn Autorinnen und Autoren ein Schreib- und Veröffentlichungsverbot erhielten, ideologische Instrumentalisierung ihrer Werke verweigerten oder mit ihrer literarischen Tätigkeit den Lebensunterhalt bestreiten wollten. 2. Bemerkenswert ist dabei, dass auffallend viele Autorinnen und Autoren aus sehr vielen verschiedenen Sprachen übersetzten. Ohne ihre Fremdsprachen‐ kenntnisse schmälern oder hinterfragen zu wollen, muss vermutet werden, dass die russische Sprache im Übersetzungsprozess eine Vermittlungsrolle spielte. Anders gesagt: dem Russischen kam die sogenannte konsultierende Funktion zu. Auf Russisch lagen mehrere Übersetzungen der Klassiker der Weltliteratur vor und übertrafen sich gegenseitig in ihrer hohen künstlerischen Qualität, so dass ihre Hinzuziehung bei der Übersetzung in eine andere Sprache eine vergleichende Vorgehensweise ermöglichte und viele Übersetzungsentschei‐ 95 Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland 27 Z. B. Übersetzungen von Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger u. a. dungen erleichterte. Diesen Status behält Russisch immer noch im Prozess der literarischen Übersetzung in die Sprachen der ehemaligen Sowjetrepubliken und der Ostblockstaaten bei. Ähnlich konsultierend können auch Englisch, Spanisch, Französisch u. a. herangezogen werden, um eine Übersetzungsentscheidung zu treffen. Dadurch wird deutlich, dass Sprachen an textexterner literarischer Mehrsprachigkeit sowohl aktiv als auch passiv beteiligt sein können. Besonders brisant sind diese Aspekte bei der Übersetzung der lyrischen Texte. Da die Übersetzung von Lyrik durch einen Übersetzer, der selbst Lyriker ist, eine Art Nimbus verliehen bekommt und ein höheres Ansehen genießt, 27 kommt es öfter vor, dass Dichter auch aus Sprachen übersetzen, die sie nur begrenzt sprechen. Man arbeitet dann mit Interlinearübersetzungen, eine dem Ausgangstext struk‐ turgetreue Wort-für-Wort-Übersetzung, die auch verschiedene Entsprechungen einzelner Wörter angibt. Trotz des gleichen sowjetischen Erbes entschieden sich Litauen und Lett‐ land nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit für eine sehr unterschiedliche Sprach(en)politik. Ohne noch weiter auf ihre Unterschiede einzugehen, sei hier ihre Gemeinsamkeit hervorgehoben: eine rege literarische Übersetzungs‐ tätigkeit. Dabei dominiert die Bemühung, litauische bzw. lettische Autorinnen und Autoren durch Übersetzungen zu popularisieren. Während litauische Ge‐ genwartsautorinnen und -autoren ins Englische übersetzt werden (etwa in der Online-Zeitschrift Vilnius Review), widmet sich in Lettland die Textgruppe „Orbita“ der Herausgabe der zweisprachigen russisch-lettischen Werkausgaben ihrer Gruppenmitglieder. Da solche Projekte ohne finanzielle Förderung lang‐ fristig nicht überlebensfähig sind, lassen sich an den staatlichen Geldgebern sprachpolitische Ziele und Interessen ablesen. Literaturverzeichnis Blaumanis, Rūdolfs (2017). Frost im Frühling. Die deutschsprachigen Erzählungen. Vollständige Ausgabe aller vom Autor selbst auf Deutsch verfassten Werke. Heraus‐ gegeben von Benedikts Kalnačs und Rolf Füllmann. Bielefeld: Aisthesis. Blum-Barth, Natalia (2019). 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Des Weiteren wird über das Leben und Schaffen Markosjan-Käspers im sozialpolitischen Kontext der ehemaligen Sowjetunion berichtet (in Bezug auf die Sprach- und Kulturpolitik sowie Migration). Die Untersuchung zeigt, dass etliche Themen und Motive, die auch in der deutschsprachigen trans‐ kulturellen Literatur vorhanden sind, ebenso im Schaffen Markosjan-Käspers sichtbar werden (z. B. kulturelle Vergleiche, Selbstfindung in einer fremden Kultur). Die Mehrsprachigkeit zeigt sich in diesen Romanen sowohl explizit als auch implizit: Neben dem Russischen werden auch andere Sprachen wie Armenisch, Estnisch, Englisch, Latein direkt eingesetzt und es finden sich zahlreiche indirekte Hinweise auf diese Sprachen. Des Weiteren werden verschiedene Bezüge auf weltbekannte Romane wie Ulysses und Meister und Margarita analysiert. Keywords: Gohar Markosjan-Käsper; Migration; Estland; Armenien; Sowjet‐ union; Mehrsprachigkeit; Transkulturalität 1 Einleitung Im März 2002 erschien in Berlin der Roman Penelopa von Gohar Markosjan-Käs‐ per in deutscher Übersetzung (mit dem Titel Penelope, die Listenreiche). Im selben Jahr erschien dieser Roman in französischer und ein Jahr später in spanischer Übersetzung. Die Autorin Gohar Markosjan-Käsper (1949-2015) stammte aus einer armenischen Künstlerfamilie in Jerewan: Ihre Mutter war Balletttänzerin, ihr Vater Opernsänger. Sie studierte Medizin und arbeitete etliche Jahre als Ärztin, doch schon seit ihrer Jugend schrieb sie Gedichte und versuchte sich auch an Prosatexten. 1990 heiratete sie den estnischen Schriftsteller und Übersetzer Kalle Käsper, den sie in Armenien kennengelernt hatte und übersiedelte nach Estland. Danach widmete sie sich ganz der Literatur. Obwohl sie armenischer Herkunft war, verfasste Gohar Markosjan-Käsper ihre Texte auf Russisch. Hierbei hat wohl die Tatsache, dass sie die russische Sprache als Sprache des Selbstausdrucks betrachtete, die wichtigste Rolle gespielt. Als Kind hat sie in Jerewan eine russischsprachige Schule besucht und dadurch gründliche Kenntnisse dieser Sprache erworben. Des Weiteren wurde auch in ihrer Familie sehr viel russische und Weltliteratur in russischer Übersetzung gelesen und teilweise auf Russisch kommuniziert. Auf diesen Aspekt wird später in dieser Studie noch näher eingegangen werden. An dieser Stelle muss jedoch präzisiert werden, dass ihre Familie sowie ihre Sprachenwahl in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellen. Markosjan-Käsper hat selber erklärt, dass am Ende der 1970er Jahre in Armenien eine russisch‐ sprachige Literatur initiiert wurde. Es habe aber ziemlich wenige solche Auto‐ ren gegeben, und deren Schaffen habe nicht besonders viel Aufmerksamkeit erhalten (Markosjan-Käsper 2006: 69). Der Grund dafür, so Markosjan-Käsper, lag wohl daran, dass die armenische literarische Tradition eine sehr lange Geschichte hat und die neue russischsprachige armenische Literatur einerseits als nicht qualitativ gleichwertig und andererseits als ein Anzeichen der Sowje‐ tisierung betrachtet wurde (ebd.). Obwohl die Sowjetmacht versuchte, Russisch in Armenien als offizielle Sprache einzuführen (etwa mit dem entsprechenden Vorschlag zur Konstitutionsänderung im Jahr 1978), wurde dieses Ziel nicht erreicht. Gegen diesen Vorschlag wurde in Armenien heftig protestiert und sogar öffentlich demonstriert, was dazu führte, dass das Vorhaben rückgängig gemacht wurde. Dennoch wuchs die Rolle des Russischen im öffentlichen Leben: A thorough knowledge of Russian was a virtual requirement for white collar jobs, and some parents preferred to send their children to Russian-language schools. A portion of Armenian citizens opted for higher education in Russian universities and technical schools. (Grenoble 2003: 123) 100 Aigi Heero Dessen ungeachtet blieb die Anzahl der armenischen Bürger, die Russisch als ihre erste Sprache betrachteten, relativ gering. Russisch als Zweitsprache dagegen war viel weiter verbreitet: 1989 gaben 60,6% der Armenier Russisch als ihre zweite Sprache an (ebd.: 135). Die starke literarische Tradition, die muttersprachliche Hochschulbildung und das starke Nationalbewusstsein der Armenier trugen dazu bei, dass der Einfluss des Russischen auf die armenische Kultur geringfügig blieb und dass die russische Sprache für Armenier nicht ein Teil ihrer Identität wurde (vgl. Rabanus/ Barseghyan 2015: 24-25). Markosjan-Käspers literarische Texte entstanden vor allem in Estland, wur‐ den jedoch meistens in Russland erstmals publiziert. Der Grund dafür ist vermutlich rein pragmatisch gewesen: Die Möglichkeiten, in Estland ein rus‐ sischsprachiges Buch herauszugeben, waren in den 1990er und den 2000er Jahren eher gering und die Leserschaft der herausgegebenen Werke spärlich verglichen mit Russland. Igor Kotjuh hat gezeigt, dass estnische Autoren, die auf Russisch schrieben, sich doch auf die eine oder andere Art an Russland und sei‐ ner Literatur orientierten, um eine wesentlich größere Leserschaft zu erreichen, etwa durch Publikationen in umfangreichen russischen Literaturzeitschriften oder durch öffentliche Auftritte (vgl. Kotjuh 2012: 139). Penelopa war Markosjan-Käspers erster Roman, der 1998 in St. Petersburg erschien. Es folgten weitere Romane wie Helena (2000, auf Estnisch 2003; eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor), Karyatiden (2003), die Novellensammlung Der Traum (2006) und viele andere Werke. Ihre Romane sind meist aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers geschrieben, und sie beleuchten das Leben bzw. den Werdegang von Frauen, die zwar mit etlichen Schwierigkei‐ ten im Leben konfrontiert werden, doch diese durch ihre Stärke, Klugheit und Anpassungsfähigkeit bewältigen können. Laut Irina Belobrovtseva ist die estnische russischsprachige Literatur dadurch um Romane, deren „weibliche Heldinnen klug, ironisch, verführend, mit einem Wort, richtige Frauen“ sind, reicher geworden (Belobrovtseva 2018: 118). Gegen Ende ihres Lebens begann Gohar Markosjan-Käsper, sich mit Science-Fiction zu befassen. 2012 erschien ihr letzter, autobiographischer Roman Memento mori. Sie starb 2015 nach einer schweren Krankheit. Die Leserschaft sowie die meisten Kritiker reagierten auf Markosjan-Käspers Werke positiv: Man charakterisierte ihre Schreibweise als mutig und meister‐ haft, reich an Wortspielen und Assoziationen, sowie als einen Ausdruck des „magischen Realismus“ (Zirnask/ Püve 2005). Tatsächlich vermischen sich in ih‐ ren Werken verschiedene Realitäten, Schauplätze und kulturelle Schichtungen. So erzählt Helena die Geschichte einer aus Armenien nach Estland übersiedelten Frau; gleichzeitig erfährt der Leser dieses Werkes viel über das sowjetische 101 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper Leben, sowie darüber, wie ein Mensch mit Migrationshintergrund in Estland den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt und sich später in der Übergangsge‐ sellschaft zurechtfindet. Der Roman spielt gleichzeitig in Jerewan, in Tallinn und im antiken Griechenland; es finden sich Anspielungen auf klassische griechische Literatur, auf armenische Kulturtexte, auf die Bibel und auf Werke der Weltlite‐ ratur. Penelopa malt dem Leser einen Tag im postsowjetischen Jerewan durch die Augen der Heldin Penelope aus und nimmt ihn gleichzeitig mit auf eine Reise durch die armenische Geschichte, durch die armenische sowie die Weltliteratur - und durch Penelopes Seelenlandschaften. Was diese zwei Werke dabei ganz besonders auszeichnet, ist die geschickte Verwendung und Vermischung von verschiedenen Sprachen: Die Originalsprache der Romane, Russisch, geht je nach Bedarf fließend ins Armenische, ins Lateinische, ins Englische oder ins Estnische über. Aus diesen Gründen (Verflechtung von Schauplätzen und Kulturen sowie die Präsenz der Mehrsprachigkeit) wurde Markosjan-Käsper selbst mal als armenische, mal als russische oder russischsprachige, oder mal als estnische russischsprachige Schriftstellerin bezeichnet (vgl. Kartau 2015). Eine umfassendere Abhandlung über Markosjan-Käspers Werke gibt es bis jetzt leider nicht (abgesehen von kleineren Artikeln in der Tagespresse oder kurzen Erwähnungen in Überblicksartikeln). Die vorliegende Studie versucht deshalb, dieses Desiderat zu beheben und ihre Werke in den internationalen Kontext zu stellen. Als erstes werden ihre Romane als Beispiele des transkultu‐ rellen Schreibens analysiert. Dafür sprechen etliche Gründe. Markosjan-Käsper verfasste ihre Werke auf Russisch, jedoch verstand sie sich nicht als russische Schriftstellerin, sondern positionierte sich als Autorin, deren Schaffen von vielfältigen kulturellen Einflüssen beeinflusst ist: […] doch wenn ich gefragt werde, dann antworte ich: ich empfinde die russische Literatur mir nicht als besonders nah. Russische Literatur unterschätzt den Stil, ich aber nehme den Stil sehr ernst. Des Weiteren erkennt die russische Literatur kaum die Ironie an, die aber für mich ein sehr wichtiges Gestaltungsmittel ist. Und generell liegt meiner Seele die französische Literatur am nächsten, ich halte sie für die größte Literatur der Welt […]. Ich lese immer wieder die Werke von Balzac, Zola, Proust und von vielen anderen französischen Schriftstellern. Sicher, ich lese immer wieder auch Dostojevskij und Bulgakov. Und dennoch kann ich nicht sagen, dass alle diese Autoren mich inspiriert haben, denn die Inspiration kann man nur von der Perfektion bekommen, […]. (ebd.) Also können wir festhalten, dass Gohar Markosjan-Käsper zweisprachig aufge‐ wachsen ist und durch ihre (mehrsprachige) Belesenheit vielfältige kulturelle Impulse erhalten hat. Gleichzeitig hat sie nie ihren armenischen kulturellen 102 Aigi Heero 1 Die Zitate aus dem Roman Helena werden im Text mit dem Kürzel H und der Seitenangabe, die Zitate aus dem Roman Penelope, die Listenreiche mit dem Kürzel P und der Seitenangabe, das Zitat aus der russischen Ausgabe von „Пенелопа“ wird mit dem Kürzel PII und der Seitenangabe versehen. Alle Zitate aus Helena sind von mir ins Deutsche übertragen worden. 2 In Bezug auf die Migration aus Russland (ab 1922 aus der Sowjetunion) nach Estland in den Jahren 1918-1939 ist festzustellen, dass Estland in dieser Zeit hauptsächlich die Rolle eines Transitlandes spielte: Man flüchtete vor bolschewistischem und später Hintergrund aufgegeben, auch wenn sie einen sehr großen Teil ihres Lebens in Estland verbracht hat. So sind in ihren Werken viele Themen und Züge erkennbar, die auch in Werken von deutschsprachigen transkulturellen Autoren vorhanden sind. Diese Züge werden im Folgenden hervorgehoben und im Vergleich mit einigen transkulturellen Autoren aus Deutschland dargestellt. Des Weiteren wird auf den Begriff der mehrsprachigen Literatur eingegangen und Markosjan-Käspers Romane in diesem Kontext analysiert. Im Fokus dieser Studie stehen die Romane Penelope, die Listenreiche (2002) und Helena (2003). 1 2 Gohar Markosjan-Käsper als Autorin transkultureller Literatur Wenn wir über Literatur sprechen, die von Menschen mit Migrationshinter‐ grund geschaffen wurde, denken wir an die früheren Begriffe wie „Gastarbeiter‐ literatur“, „littérature des immigrations“, „littérature des Beurs“, „Black British Literature“ oder an jüngere Termini wie „Hybridität“, „transkulturelle Literatur“ oder gar an „neue Weltliteratur“ (Glesener 2016). Implizit wird dabei wohl an Literatur in den großen Weltsprachen gedacht. Viel weniger hat die globale Forschung ihre Aufmerksamkeit den kleineren Sprachen und Literaturen ge‐ widmet. Es mag vielleicht überraschend sein, doch hat auch die Literatur in Estland eine sehr lange Tradition des multikulturellen Schreibens, denn die estnischsprachige literarische Kultur nahm ihren Anfang im Kontaktfeld von mehreren Sprachen und Kulturen (Heero 2019: 144-146). Neben der deutschsprachigen (Lukas 2008: 23-32) hat auch die russischspra‐ chige Literatur in Estland (estn. vene kirjandus Eestis) eine lange Tradition. In der estnischen Literaturgeschichtsschreibung wird ihr Beginn im Jahr 1918 angesetzt, das die Gründung der Estnischen Republik markiert. Die russisch‐ sprachige Literatur, die davor geschaffen wurde, zählt man im Allgemeinen zu der Literatur des Russischen Imperiums; bei diesen literarischen Texten ist kaum ein spezifischer Estland-Bezug festzustellen (Belobrovtseva 2018: 102). Es sollte vermerkt werden, dass die Geschichte dieser Literatur eng mit der Geschichte der Migration aus Russland (später aus den Gebieten der Sowjet‐ union) verbunden (ebd.: 110-118) 2 und das Schaffen der russischen Literaten in 103 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper vor stalinistischem Terror nach Westeuropa und das naheliegende Estland diente als Stützpunkt (vgl. Belobrovtseva 2018: 103). Anders verhielt es sich mit der Migration aus den Sowjetrepubliken nach dem Zweiten Weltkrieg. Unmittelbar nach Kriegsende (um 1945-46) kamen hauptsächlich Industriearbeiter nach Estland, denn gleich nach dem Krieg fand dort ein Prozess der forcierten Industrialisierung statt. Hinzu kamen Flücht‐ linge aus kriegszerstörten Gebieten der westlichen Sowjetunion. Die Einwanderung erreichte in den Nachkriegsjahren 1955 einen Höhepunkt, als etwa 45 000 Migranten in einem Jahr in Estland eintrafen. Das machte etwa 4 % der gesamten Bevölkerung des Staates in diesem Jahr aus (Sakkeus 1994). Die nächste größere Immigrationswelle nach Estland fand in den 1960er Jahren statt und gipfelte im Jahr 1970, in welchem etwa 30 000 Migranten vor allem aus ferneren Gebieten im Osten und Süden der Sowjetunion ankamen (insgesamt 2,2 % der Gesamtbevölkerung) (vgl. ebd.) In den 1960er bis 1980er Jahren spielte jedoch die freiwillige Arbeitsmigration die Hauptrolle. Hinzu kamen Studenten und Offiziere, die nach dem Dienst in Estland bleiben wollten, Arbeiter im Bereich der ideologischen Agitation und Propaganda sowie Menschen, die durch Heirat nach Estland kamen (Lember 2017). Um 1989 betrug der Anteil der Einwanderer der ersten Generation 26 % der Bevölkerung, dazu kamen 10 % der Vertreter der zweiten, also in Estland geborenen Generation, insgesamt 36 % (Katus u. a. 2002). Estland oft den russischen Literaturtraditionen verpflichtet ist. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man angefangen, diese Literatur als ein Beispiel des Schreibens zwischen den Sprachen und Kulturen zu kontextualisieren (ebd.: 119). Markosjan-Käspers Werk Helena, in dem die Migrationserfahrung einer Frau in Estland der 1980er und 1990er Jahren beschrieben wird, lässt sich daher als Beispiel transkulturellen Schrifttums darstellen. Es soll dabei aber betont werden, dass die Geschehnisse dieses Romans aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers dargestellt werden. Die Heldin erscheint wie ein Untersuchungsobjekt, an dem ein Versuch durchgeführt wird, um die Frage zu beantworten, ob sie in einer neuen Kultur zurechtkommt oder nicht. Dieser Versuch wird von dem Erzähler genau beobachtet, (vergleichend) analysiert und teilweise humorvoll kommentiert. Als transkulturelle Literatur wird im Kontext dieser Studie im Allgemeinen das Schaffen der Autoren verstanden, die ihre Werke in einer Sprache verfassen, die nicht ihre Muttersprache ist und die die Erfahrung des kulturellen An‐ ders-Seins reflektieren. In der Literaturwissenschaft wurden in den 1960er und 1970er Jahren solche Werke als „multi- oder interlinguale Literatur“ bezeich‐ net, mit der „literarisch ausgestalteten Identitätsproblematik“ als Hauptthema (Baumgärtel 1997: 54). Die Autoren wurden auf der Grundlage eines statischen Identitätskonzepts gerne als Personen dargestellt, die ständig auf der Suche nach ihrer Identität sind und unter dem Leben in der Fremde leiden (Amodeo 1996: 42). Diese Thematik ist heute wohl nicht mehr ganz aktuell. Deshalb haben sich auch Begriffe wie Literatur der Transkulturalität oder sogar der Transdifferenz durchgesetzt. Diese überwinden die binären Grenzziehungen zwischen den 104 Aigi Heero Kulturen und implizieren die Tatsache, dass die zeitgenössischen Kulturen denkbar stark miteinander verbunden und verflochten sind. Präziser noch: Es geht um die wechselseitige Überlagerung von kulturellen Zugehörigkeiten in‐ nerhalb der sichtbaren Differenzen. Dabei wird die Differenz nicht aufgehoben, sondern das kulturelle Anderssein wird als etwas Positives hervorgehoben und bewusst gepflegt (Allolio-Näcke u. a. 2005: 27), auch wenn es manchmal von negativen Erfahrungen begleitet und zu Konfrontationen mit den Vertretern anderer Kulturen führen kann. In der transkulturellen Literatur werden diese Erfahrungen des Lebens zwischen zwei Kulturen oft thematisiert und es wird der Prozess der Aneignung einer neuen Kultur literarisch analysiert. Diese kulturelle Selbstfindung bzw. Selbstreflexion wird oft auf konkrete Orte bezogen, was auch mit der „Erfahrung des Unterwegsseins“ verbunden sein kann (Heero 2009: 208-209). Tallinn, die estnische Hauptstadt, erscheint in Helena anfangs kalt, anonym und einer typischen skandinavischen Großstadt ähnlich. Die Menschen, die dort leben, scheinen an ihrer Gegenwart zu leiden, sie sind ständig gehindert, ihre Träume oder ihren beruflichen Ehrgeiz auszuleben und gleichzeitig damit beschäftigt, ihren Alltag zu bewältigen (ebd.: 216-217). Auch Helena möchte in Tallinn als Heilmedizinerin praktizieren, kann es aber nicht, denn einerseits beherrscht sie die Landessprache nicht, andererseits gelingt es ihr nicht, in einer kulturell fremden Umgebung ein soziales Netzwerk aufzubauen: Tatsächlich musste sie mit drei bis vier Patienten im Monat zufrieden sein, und auch diese Zahl besaß die Tendenz, eher rückgängig als wachsend zu sein. Wenn man in Armenien einen Menschen kuriert, schickt er zehn neue zu dir, er spricht mit allen darüber, lobt dich mehr als eine Werbeagentur, seine Verwandten, Freunde, Kollegen werden dann geradezu deine Tür einrennen […]. In Estland konntest du eine Leiche auferstehen lassen, und keine Seele hat davon erfahren, die Leiche jedenfalls teilte den anderen diese Nachricht nicht mit, nach der Auferstehung aus dem Grab ging sie am nächsten Tag ruhig zur Arbeit und wenn jemand fragte, wie es ihr gelang, wieder aufzuerstehen, lächelte sie nur geheimnisvoll. (H, 123) Doch mit der Zeit lernt sie die Schönheit der Tallinner Altstadt und der estni‐ schen Landschaften zu schätzen. Sie studiert gründlich die Verhaltensmuster von Esten in verschiedenen Kommunikationssituationen und dank dessen kann sie ihr eigenes Verhalten anpassen und Freundschaften schließen. Das Ende der Sowjetunion jedoch und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen kann sie schwer verkraften (womit sie das Lebensgefühl von vielen Esten und estnischen Russen teilt). Von ihrem Gatten, Olev, bekommt sie wenig moralische Unterstützung, und es scheint, dass mit dem Ausbruch 105 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper der neuen Zeiten auch ihre Liebe erlöscht. Deshalb scheint es für sie logisch und natürlich, zurück zu den Wurzeln zu kehren und in Jerewan nochmals neu anzufangen. Das Fremdsein als oft behandeltes Thema in der transkulturellen Literatur kommt auch in Helena mehrmals zur Sprache. So muss Helena in Estland anfangs wiederholt die Ablehnung der Mitbürger erfahren: „Helenas südländi‐ sches Aussehen und ihr kurzer Status als Einwohnerin Tallinns erweckten in ihnen kein Vertrauen“ (H, 116). Einmal wird Helena auch fremdenfeindlich beleidigt, indem ein junger Mann in der Warteschlange vordrängelt und ihr und ihrer Freundin „kalt und hochmütig“ sagt: „‚Wer hat denn euch hier eingeladen? Macht, dass ihr in eure Berge zurückgeht! ‘“ (H, 7). Etliche Male werden auch kulturelle Vergleiche zwischen Armenien und Estland gezogen. So charakterisiert Helena von ihrem kulturellen Standpunkt aus gesehen die estnischen Frauen als „blass, ausdruckslos, gar hässlich“ und wundert sich, wie diese so einfach einen Mann aus dem Westen finden (H, 81). An einer anderen Stelle beschreibt sie die Esten als „eisig“ und „formell“, sie „gingen im gleichmäßigen Rhythmus, wedelten nicht mit Händen, doch ihre Langsamkeit kompensierten sie mit einem wilden Sprechtempo.“ (H, 72-73) Gleichzeitig bewundert sie das Selbstbewusstsein der Estinnen und die souveräne Art, mit der sie mit Beziehungen umgehen. Ganz bewusst versucht sie, mit ihren „armenischen Vorurteilen“ (H, 82) zu kämpfen. Deshalb möchte Helena nicht nur als Zuschauerin dastehen, sondern sich am estnischen Leben aktiv beteiligen und auch die estnische Sprache lernen. Diese Sprache entpuppt sich aber als schwierig. Des Weiteren entdeckt sie, dass es ihr zwar leicht fällt, etwa unter Kollegen neue Bekanntschaften zu finden, aber es ist für sie als eine eher verschlossene Person schwierig, wirklich tiefe und bedeutende Freundschaften zu schließen (H, 117). Deshalb bleibt sie bis zum Ende ihres Aufenthalts in Tallinn eher Außenseiterin, die das dortige Leben mit innerer Distanz betrachtet. Sie gibt zu, dass sie nach wie vor politisch interessiert ist, doch betreffen sie die Ereignisse in Armenien und Russland viel näher als die in Estland (H, 105). Gleichzeitig erkennt und akzeptiert sie sowohl ihr kulturelles Anderssein als auch ihre kulturell hybride Identität: Ihre Muttersprache ist armenisch, doch hat sie (wie auch Markosjan-Käsper selbst) eine russische Schule besucht und empfindet deshalb Russisch als die Sprache des intellektuellen Austausches und des Selbstausdrucks: „Wenn es notwendig war, Gedanken und Überlegungen zu verbalisieren, ging sie unbewusst zur russischen Sprache über“ (H, 106). Sie ist sich dessen bewusst, dass die Esten diese Sprache am Ende der sowjetischen Okkupation als „die Sprache des Feinds“ empfinden, aber für sie ist Russisch Sprechen wie ein „intellektueller Orgasmus“ (H, 107). Vor dem Hintergrund 106 Aigi Heero einer anderen Kultur versteht sie auch, dass sie Kosmopolitin ist, die sich für Opernmusik, klassische Literatur, russisches Theater und die Philosophie Asiens interessiert. Also kann man behaupten, dass die Heldin nach einem anfänglichen Kulturschock wieder einen Weg zu sich selbst findet und ihr Wesen als Ausdruck eines transdifferenten Daseins akzeptiert. Dieses Moment des Sich-Anerkennens als Träger von zweien oder mehreren Kulturtraditionen kommt auch in der deutschsprachigen interkulturellen Lite‐ ratur zur Sprache, Zafer Şenocak hat diese Empfindung wie folgt formuliert: Denn seitdem ich Deutscher bin, kümmere ich mich viel stärker um mein türkisches Potential und habe aufgehört, darin einen Widerspruch zu sehen. Im Gegenteil: Die Bikulturalität ist ähnlich wie Bisexualität keine Perversion. Sie ist eine völlig legitime Verhaltens- und Lebensweise, von der eine Person nur profitieren kann, wenn sie nicht verstohlen und verschämt gelebt wird, sondern offensiv und selbstbewusst. (Şenocak 2011: 90-91) 3 Zur Funktion der Mehrsprachigkeit in Gohar Markosjan-Käspers Romanen „Helena“ und Penelopa Die hybriden/ globalen Identitäten können sich in Phänomenen wie (literari‐ scher) Mehrsprachigkeit und Mehrfach-Identitäten manifestieren. Die Mehr- und Vielsprachigkeit sollten in diesem Fall als nichts Exotisches, sondern als etwas Natürliches betrachtet werden (Ernst 2019: 92-93). Je nach Bedarf können in einem Text verschiedene Sprachen nebeneinanderstehen. In der jüngeren Forschung benutzt man für solche Texte auch den Begriff „exophone Literatur“, das ist Literatur, die in einer Zweitsprache geschrieben worden ist, jedoch dennoch Spuren einer ersten Sprache aufweist und diese thematisiert. Dies kann auf rein linguistischer Ebene stattfinden, doch können auch Mittel wie code-switching oder indirekte Übersetzung in der Zweitsprache ganz neue, kreative Räume öffnen und stilistische Register schaffen (Wright 2008: 39-40). Die Wurzeln einer solchen Betrachtungsweise liegen jedoch wohl bei dem sogenannten postmodern turn um die 1980er Jahre, der die traditionelle Zeit- und Raumauffassung relativierte. Statt über eindimensionale Assimilationsmodelle sprach man über multidimensionale (darunter auch multilinguale) Bewegungen zwischen Geburtsland und Aufenthaltsland ( Jürgenson 2016: 95; Darieva 2007: 78-79). Das heißt, die Identität ist nicht geographisch-kulturell determiniert, sondern oft gebunden an soziale Interaktion und an die Bewegung zwischen unterschiedlichen Diskursen (Martinez Guillem 2015: 3-4). So kann die Literatur zu einer Manifestation von verschiedenen Sprachen und Kulturen werden. Dembeck und Parr etwa sehen den Vorteil einer solchen Betrachtungsweise 107 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper 3 Zum Beispiel wurde Markosjan-Käspers Penelope, die Listenreiche in einer Rezension der Neuen Zürcher Zeitung vorgeworfen, dass man dort nur wenig über die leidvolle Geschichte der Armenier des 20. Jahrhundert erfahren habe (Spengler-Axiopoulos 2002: 67). 4 Gemüseeintopf (vgl. P, 393). 5 Suppe mit Fleisch (vgl. P, 393). 6 Eingeheirateter Mann, der von den Schwiegereltern ausgehalten wird (vgl. P, 394). 7 Beginn eines Gedichts von Wahan Terjan, ein armenischer Lyriker, der auch Mitglied der kommunistischen Partei war (vgl. P, 390). darin, dass man dadurch den (literarischen) Text selbst in den Fokus nimmt und ihn nicht mehr von textexternen Faktoren wie der Migrationserfahrung aus betrachtet (Dembeck/ Parr 2017: 9-10). Diese Betrachtungsweise ermöglicht auch, bestimmte Vorurteile oder Erwartungshaltungen, die das Deuten eines Textes (leider) des Öfteren beeinflussen, beiseite zu lassen. 3 Doch wie zeigt sich Mehrsprachigkeit in einem literarischen Text bzw. wie qualifiziert sich ein Text als „mehrsprachig“? Laut Dembeck und Parr können wir über die explizite Mehrsprachigkeit reden, wenn in einem Text Segmente aus diversen Sprachen nebeneinanderstehen, so dass die unter‐ schiedlichen Idiome klar voneinander unterscheidbar sind (Dembeck/ Parr 2017: 10). Auch Markosjan-Käsper verwendet in ihren Romanen neben der russischen bruchstückartig auch andere Sprachen (etwa das Armenische), um spezifische Erscheinungen, wie z. B. bestimmte Speisen, zu markieren: „[…] was jeder so draufhat, der eine die ewigen adschapsandal 4 und boschbasch 5 , der andere Rührei mit Wurst und Salzkartoffeln“ (P, 175). Auch bei Begriffen, die bestimmte kulturelle Konzepte in sich tragen, keine exakte Entsprechung in anderen Sprachen haben und deshalb unübersetzbar sind, verwendet sie den Originalbegriff aus der anderen Sprache: „Der Mann soll sich vom ersten Tag an als Hausherr fühlen. Und das ist bei diesen Schwiegereltern nicht möglich. Aus einem tanpessa 6 kann doch nur ein Gnadenbrotempfänger werden.“ (P, 215). Des Weiteren finden sich in ihren Büchern Überschriften, Buchtitel oder explizite Zitate auf Armenisch, etwa „Der Schöpfer des einzigartigen Verses ‚Aschnan mscheschum schrschuk u scherschjun‘ 7 und kommunistisches Ge‐ schrei, Gelärm, Gefeuer? “ (P, 61-62). Weiterhin wird in dem literarischen Werk eine andere Sprache eingesetzt, um zu explizieren, dass eine Person eine Fremdsprache spricht, um die Eigenartig‐ keit des fremdsprachlichen Sprechens zu unterstreichen (Dembeck/ Parr 2017: 10). Markosjan-Käsper benutzt beispielsweise in Helena estnische Wörter und Wendungen, um mit diesen typische kulturelle Verhaltensweisen zu illustrieren. „Sie behandelte […] eine ältere schwatzhafte Russin, die immer nach drei Worten das estnischsprachige ‚kurat‘ hinzufügte, […] und einen estnischen jungen 108 Aigi Heero 8 kurat = Teufel, estnisches, nicht besonders starkes Schimpfwort, das sehr häufig benutzt wird; eines der Wörter, das von Nicht-Esten sehr schnell übernommen wird, auch wenn sie die Sprache sonst nicht sprechen; tere = hallo; head aega = auf Wiedersehen (‚gute Zeit’). Mann, der außer ‚tere‘ und ‚head aega‘ 8 kein einziges Wort in keiner Sprache sagte“ (H, 131). Illustriert werden hier sowohl die Wortkargheit der Esten als auch bestimmte Sprechweisen der Nicht-Esten, die die Landessprache nicht besonders gut beherrschen. Thematisiert wird auch die estnische Sprachpolitik nach der Wende. 1995 trat nämlich das neue Sprachgesetz in Kraft, womit der Sonderstatus des Russischen als obligatorische Sprache der Amtskommunikation aufgehoben und Estnisch als offizielle Staatssprache festgelegt wurde (RT I 1995, 23, 334). Für viele Nicht-Esten bedeutete dies, dass sie eine neue Sprache erlernen mussten. In Helena kommentiert der Erzähler dies wie folgt: Menschen, die ihre Heimat ver‐ lassen, um ein besseres Leben zu finden (dazu habe gewisserweise auch Helena gehört), sind bereit, neue Regeln und eine neue Sprache zu lernen. Diejenigen aber, die sich „mit ihrem Haus, ihrer Arbeit und ihren Gewohnheiten“ (H, 95) plötzlich in der unabhängigen Republik Estland fanden, wollten kein Estnisch lernen: Drittens, guter Leser, wenn ein Provinzbewohner nach Rom zog, dann wurde natürlich von ihm erwartet, dass er römische Sitten befolgt, - doch wer hat von einem Römer erwartet, wenn er in einem fernen Gebiet des Imperiums ankam, dass er etwa nach den Sitten der Chaldäer lebt? Das Bewusstsein des Imperiums ist langlebiger als das Imperium selbst. (H, 95-96) Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass „die meisten Juden und Armenier Estnisch schnell gelernt haben. Sicher, hier hat der praktische Sinn dieser Nationalitäten eine Rolle gespielt […].“ (H, 96) Auch Helena lernt pflichtbewusst Estnisch, obwohl sie als Russischsprechende sich manchmal darüber ärgert; aber sie als Kosmopolitin konstatiert, dass man die historischen Gründe, aus welchen die Esten ein solches Gesetz erließen, sehr gut verstehen kann (ebd.). Die englische Sprache kommt in diesem Roman eher selten vor, meist in Form von Floskeln wie „happy end“ (H, 113) oder festen Begriffen wie „make-up“ (H, 8). Des Öfteren aber wird die Verwendung des Englischen thematisiert. Englisch wird in diesem Roman als eine inhaltslose Sprache „des Bill Gates“ (H, 96), der kapitalistischen Politik und Bürokratie empfunden und das Sprechen auf Englisch mit zu schneller Amerikanisierung assoziiert (H, 97-98). Helena gibt ehrlich zu, dass sie selbst kein Englisch kann und sie sieht mit Befremden, wie Politiker, die ebenfalls dem Englischen nicht besonders mächtig sind, die Spra‐ 109 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper 9 Die Autorin benutzt hier diese Schreibweise des englischen Wortes „summit“, um den starken estnischen Akzent im Englischen zu betonen. (Hervorhebung A.H.) 10 Es wird auf das Theaterstück Sonnenaufgänge angespielt, das von Juri Ljubimov 1971 im Moskauer Taganka-Theater auf die Bühne gebracht wurde und das einen Meilenstein der russischen Theatergeschichte markiert. 11 „Auch das Weinen bietet eine gewisse Lust.“ Zitat aus Ovids Tristia, IV, 3, 37. 12 „Sie ändern den Himmel, nicht ihre Seele, die über das Meer eilen“. Zitat aus Horaz’ Episteln, I, 11, 27. che trotzdem sprechen, und zwar mit einem starken Akzent: „[…] haben doch die stolzen Präsidenten der drei baltischen Staaten miteinander auf Englisch kommuniziert, wenn sie auf einem sammit  9 zusammentrafen.“ (H, 97). Ähnlich wirken auch literarisch-kulturelle Anspielungen auf Englisch. So wird indirekt auf das Schauspiel Pygmalion von George Bernard Shaw bzw. auf das Musical My Fair Lady von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner verwiesen: „[…] Liana stoppte plötzlich und begann, mit der Begleiterin des Wikingers [Olev] unisono zu schwätzen, indem sie den üblichen, aus Standardausdrücken bestehenden Begrüßungswechsel durchführte (how do you do, mrs. Higgins)“ (H, 30). Damit wird auf die Inhaltslosigkeit des Small-Talks und die Oberflächlichkeit der Konversation hingedeutet - was einerseits mit der literarischen Anspielung konvergiert, andererseits aber auch die eher kritische Einstellung gegenüber der englischsprachigen (die in diesem Roman weitgehend mit der amerikanischen gleichgesetzt wird) Kultur, Gesellschaft und Politik verdeutlicht. Sehr oft dagegen kommt in diesem Roman Latein in Form von Sentenzen vor, um bestimmte Situationen zu illustrieren oder um Gedankengänge der Heldin auf indirekte Art zu verdeutlichen. So wird nicht explizit gesagt, dass sie sich gerne tragische Theaterstücke und Filme anschaut, sondern es wird mit einer Sentenz erklärt: „[…] sie hatte während des ganzen zweiten Akts von Ljubimovs Sonnenaufgängen geweint […] das hielt sie nicht davon ab, später mit doppeltem Genuss an die Sonnenaufgänge  10 zu denken, das ist nichts Seltsames, denn est quaedam flere voluptas.“ 11 (H, 27). An einer anderen Stelle weist die lateinische Sentenz darauf hin, dass Helena, obwohl sie sich in estnischer Kultur schon gut orientiert, doch an ihren Wurzeln festhält: „[…] Liebling, du bist schon einigermaßen wie eine Estin geworden, sagte ihr einmal eine von ihren wenigen Bekannten in Tallinn, natürlich eine Russin; caelum, non animum mutant, qui trans mare currunt, 12 hatte Helena entgegnet“ (H, 113). Lateinische Sentenzen erscheinen also meistens an Stellen, wo Helenas Gedanken oder Stellungnahmen weitergegeben werden - möglicherweise, um ihre gewisse Wesenszüge, ihre Bildung und ihre Intelligenz zu illustrieren und ihre Ideen zu bekräftigen. 110 Aigi Heero 13 Es wird mit dem Unwillen der Esten erklärt, die Sprache der „Okkupanten“ zu lernen (H, 97), doch in Wirklichkeit hing es wohl eher mit sehr großen grammatischen und phonetischen Unterschieden zwischen der estnischen und der russischen Sprache und mit methodisch nicht gut durchdachten Lernmaterialien zusammen. Laut Dembeck und Parr kann sich in einem Text neben der expliziten auch die implizite Mehrsprachigkeit manifestieren, zum Beispiel durch Übersetzung: „[…] wenn gesagt wird, eine Person spreche jetzt Spanisch, die Worte, in denen man diese Rede vor sich sieht, aber klar dem Englischen zugehören“ (Dembeck/ Parr 2017: 10). Auch bei Markosjan-Käsper finden sich ähnliche Beispiele dieser impliziten oder latenten Mehrsprachigkeit, auch wenn sie eher andeutungsweise zur Geltung kommen. In Penelope, die Listenreiche wird etwa erklärt, dass die Heldin und ihre Schwester miteinander Russisch sprechen, obwohl ihre Eltern Armenisch als Umgangssprache pflegen (P, 218). Es ist nicht ganz klar, in welcher Sprache Penelope mit ihren Eltern kommuniziert, doch vermutlich ist es Armenisch. Jedoch stehen im Text auch die Dialoge zwischen Penelope und ihren Eltern in der Originalsprache (Russisch). Aus Helena erfährt der Leser, dass diese auf Armenisch erzogen wurde, jedoch in der Schule sehr gut Russisch lernte und deshalb diese Sprache als ihre „eigene“ betrachtet (H, 106). Auch wird erklärt, dass Armenier gerne Russisch als Zweitsprache lernten und sie auch gut sprachen, im Gegensatz zu den Esten, die zwar Russisch lernten, aber beim Sprechen „weder den hohen Stil noch die fließende Umgangssprache“ (H, 97) demonstrierten. 13 Hierzu sollte erklärt werden, dass die sowjetische Sprachpolitik, die die Nationalsprachen unterdrückte, in Armenien teils mit Pragmatismus betrachtet wurde, denn der Abschluss einer russischen Schule und tiefe Kenntnis der russischen Sprache boten bessere Karrieremöglichkeiten (Grenoble 2003: 122 f). Deshalb wurde für einen großen Teil der Schüler Russisch eine Bildungs- und Gelehrtensprache, während Armenisch für sie eine vorwiegend mündliche Umgangssprache blieb (Markosjan-Käsper 2006: 69). Die Folge jedoch war „das Sprachgemisch“, der eigentümliche „Mix, in dem sich halb Jerewan verständigte“ (P, 216) und die sprachlichen „Hybriden“ (P, 218). Des Weiteren, so Dembeck und Parr, zeige sich in mehrsprachigen Texten auch „die Verwendung ‚fremdsprachlicher‘ metrischer Muster, die ‚wörtliche Übersetzung‘ anderssprachiger idiomatischer Wendungen, die Verwendung übersetzter anderssprachiger Zitate“, die eine andere Sprache innerhalb des Textes implizieren (Dembeck/ Parr 2017: 11). Willms und Zemanek sehen solche Texte als Hybride, „gekennzeichnet durch Merkmale wie Heterogenität und Interferenz, Dialogizität und Polyphonie, Dezentralisierung und Subversion“ (Willms/ Zemanek 2014: 3). Als Beispiel 111 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper 14 In dem russischen Originalzitat sind die Zungenbrecher/ Sprachspiele deutlicher zu erkennen: „Но уже дрогнули ряды племянников-внуков, и четыре чумазых черта отступили, уползли в свою скороговорку посиживать на дровах, так и не появившихся на траве, которой на дворе не росло даже летом, когда Карл у Клары украл кораллы. Так они и познакомились. “ (P II, 7; Hervorhebung A.H.) können hier die Sprachspiele, sprachliche Witze und Neuschöpfungen dienen, die in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur von Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar oder auch Aglaja Veteranyi oft eingesetzt werden (Wright 2008: 39-40; Willms/ Zemanek 2014: 2). Auch Markosjan-Käsper benutzt Sprach‐ spiele. In Penelope, die Listenreiche wird die Geschichte der Begegnung von Penelopes Eltern, Klara und Henrik, erzählt, und zwar anhand von russischen Zungenbrechern, die an dieser Stelle verballhornt werden: Doch schon schwankten die Reihen der Neffen und Enkel, und die vier überge‐ schnappten Teufel traten ab, verkrümelten sich in ihre Zungenbrecher und krochen in den Zuber, der zurückgezogen am Zaun stand in dem Sommer, als Karl der Klara die Korallen klaute. So hatten sie sich auch kennen gelernt. (P, 44) 14 Hierzu gehören auch Texte, in denen Systeme fremder Sprachen adaptiert werden oder eine Textsorte aus einer Sprache in eine andere übertragen wird, da in solchen Fällen die Herkunft aus einer anderen Sprache und damit aus einer anderen Kultur doch immer eingeschrieben bleibt, etwa bei Özdamar, die in ihren deutschen Texten türkische Syntax anwendet oder türkische Redewendungen übersetzt (Willms/ Zemanek 2014: 2). Auch Markosjan-Käsper lässt ihre Figuren oft so sprechen, wie sie es in ihrer Muttersprache tun würden. So wird in Helena eine Tirade ihres Vaters Torgom weitergegeben, der darüber verärgert ist, dass seine Tochter sich die Leiden ihrer Patienten zu sehr zu Herzen nimmt: „[…] er nannte die Tochter einen kleinen Dummkopf: ‚Du Dummkopf, oh, du Dummkopf, wem weinst du denn nach, mir und auch der Mutter ist nichts passiert, hör doch schon auf, bringst die Not ins Haus…‘“ (H, 28) Neben der linguistischen Vielfalt in mehrsprachiger Literatur sollte mei‐ nes Erachtens auch die Vielfalt von diversen kulturellen Praktiken erwähnt werden. Denn implizit werden in einem Text verschiedene kulturelle Tradi‐ tionen eingebunden, die sich etwa im Textaufbau, in der Verwendung von bestimmten Hinweisen auf andere kulturell relevante Texte oder in bestimmten kulturellen Meta- oder Archecodes zeigen (Raud 2018: 130-141). Dies ist oft der Fall bei transkulturellen Autoren, deren Texte als eine Verflechtung von mehreren Sprach- und Kulturtraditionen und -schichten, die sich in mannigfa‐ chen Erscheinungen zeigen, angesehen werden können. Auch Sandra Vlasta setzt auseinander, dass die Situierung eines literarischen Texts in nur einem 112 Aigi Heero spezifischen Kontext unmöglich sei: „Migrant writers bring with them new topics, characters or discourses that come from one literary tradition and are introduced to another.“ (Vlasta 2018) Willms und Zemanek sprechen in diesem Zusammenhang auch von intertextueller bzw. textexterner Mehrsprachigkeit, der die Textgrenzen überschreitet (Willms/ Zemanek 2014: 2). Dieses Phänomen kann anhand eines Zitats von Zafer Şenocak illustriert werden. Er beschreibt den Prozess, wie seine Zweisprachigkeit ihren Anfang nahm, wie folgt: Das Mutterland Türkei hatte ich verlassen, doch das Spiegelland Türkei […] sollte mir erhalten bleiben. Diese Spiegelverkehrung war wichtig, ja unverzichtbar für die Entwicklung meiner literarischen Sprache und bildet letztendlich die Grundlage meiner Zweisprachigkeit. Ich schrieb auf Deutsch, aber mit türkischen Farbklängen im Ohr […]. (Şenocak 2011: 78-79) Das heißt, er schrieb auf Deutsch, doch manifestieren sich in seinen Tex‐ ten türkische Kulturtraditionen auf eine natürliche und selbstverständliche Weise. Als ein weiteres Beispiel können die Erzählungen von Wladimir Kaminer gebracht werden. In seinen Büchern sehen wir die geschickte Ver‐ knüpfung von vielen Geschichten, die dem Erzähler oder seinen Bekannten angeblich passiert sind. In diesem Sinne pflegt Kaminer hier das Genre der so genannten байка (bajka), der humoristischen Erzählung, die zwar die Wahrheit darzustellen beansprucht, gleichzeitig aber auch ziemlich frei mit konkreten Fakten und Daten operiert; aufgegriffen wird dabei die in der Sowjetunion weit verbreitete mündliche Tradition des Geschichten- und Anekdotenerzählens (vgl. Heero 2009: 222-223). Es werden also kulturelle Praktiken, die einer bestimmten Sprache eigen sind, erfolgreich in eine andere Sprache übertragen. In Bezug auf Gohar Markosjan-Käsper sollte man noch einmal erwähnen, dass sie nicht als eine armenische oder russische Autorin klassifiziert werden wollte, sondern als eine Autorin, die bewusst europäische literarische Tradi‐ tionen pflegt (Markosjan-Käsper 2006: 66-67). Deshalb scheint es logisch, dass die beiden hier behandelten Romane einen Bezugspunkt in der Weltliteratur haben. Penelopa ist wie die Spiegelverkehrung des Romans Ulysses von James Joyce (1922), in dem ein Tag im Leben (16.06.1904) der Hauptfigur Leopold Bloom beschrieben wird. Dargestellt werden nicht nur Ereignisse dieses Tages, sondern auch Gedanken, Vorstellungen, Assoziationen, die sowohl Bloom als auch die anderen Hauptfiguren dieses Romans erleben (Schwarz 1987: 2-4). Was den Roman Markosjan-Käspers betrifft, erfahren wir gleich zu Beginn, dass die Heldin Penelope einen Roman von Joyce, der eindeutig 113 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper als Ulysses zu identifizieren ist, liest: „Penelope […] zog […] ein Bändchen Joyce zu sich heran. Von wegen Bändchen, einen fetten Band, noch dazu bis zum Geht-nicht-mehr gefüllt mit in winzigster Schrift gedruckten Quatsch, der von Snobs in den Rang der intellektuellen Bibel erhoben wurde.“ (P, 8) So beginnt der Tag im Leben Penelopes, der im Weiteren detailliert beschrieben wird. Penelope, die hier quasi die Rolle des Odysseus übernimmt, irrt in diesem Roman nicht durch die Welt, sondern durch die ins postsozialistische Chaos gefallene Stadt Jerewan. Sie ist einerseits auf der Suche nach der Möglichkeit eines heißen Bades, andererseits sehnt sie sich nach ihrem Geliebten Armén und ist überglücklich, wenn sie Nachrichten über ihn bekommt - auch wenn diese negativ gefärbt sind. Dennoch bleibt sie Armén treu, indem sie den Heiratsantrag eines wohlhabenden Verehrers ausschlägt, so wie auch die gleichnamige Heldin in Homers Odyssee. Gleichzeitig zieht sie Parallelen zwischen ihrem Leben und Ulysses, etwa, wenn sie zu ihrem Gesprächspartner sagt: „Wie du redest, bin ich ja fast eine Molly Bloom.“ (P, 369). Der Roman dokumentiert nicht nur ihre Aktivitäten im Laufe des Tages, sondern auch ihre Gedanken und Assoziationen, die in Form des inneren Monologs festgehalten werden, z. B.: Ja. Ach. Am Morgen war alles in Ordnung. Und der Teufel hat dich geritten, Penelope, am anderen Ende anzufangen. Wärst du gleich hierher gekommen, wärst du jetzt gewaschen und appetitlich wie Ferkel Tschunja. Dabei hast du es nicht weit, zwei Häuserblocks! Bei Gott, das hat etwas Fatales. […] Aber was jetzt tun? Klagen und beten? Wir reichen uns die Hände und adieu - ihr widmet euch euren Angelegenheiten und Wünschen und ich meinen, genauer, ich hoffnungsloser armer Teufel gehe beten… . (P, 256) Der Roman Helena dagegen nimmt Bezug auf Michail Bulgakovs Meister und Margarita (1928-1940). Die Parallelen im Aufbau dieser Romane sind sofort zu sehen. Bulgakovs Roman spielt parallel in Moskau in den 1930er Jahren und in Jerusalem um Ostern im Jahr 33 unserer Zeitrechnung; dargestellt wird einerseits ein satirisches Bild des Lebens in der Stalin-Ära und andererseits die „wahre“ Geschichte des Martyriums Jesu (bzw. Ha-Notsri). Der Roman Markosjan-Käspers spielt in Jerewan, Moskau und Tallinn gegen Ende der 1980er Jahre und parallel dazu wird die Geschichte einer Heldin der Antike, der Schönen Helena, erzählt, so wie sie möglicherweise wirklich war: Eine etwas vernachlässigte und gelangweilte Ehefrau findet einen Liebhaber (Paris) und zieht zu ihm. Dies setzt eine Kette von Ereignissen in Bewegung und hat 114 Aigi Heero 15 Wenn man Helena als Beispiel transkulturellen Schrifttums betrachtet, dann kann man auch hinzufügen, dass die Parallelgeschichte der Schönen Helena auch die Geschichte einer Frau ist, die wegen der Liebe ihr Leben in der Fremde verbringen muss und die sich in einer neuen Umgebung und Kultur zurecht finden muss. 16 Mit diesen Worten charakterisiert Woland in Meister und Margarita die Einwohner Moskaus: sie seien gewöhnliche Leute, etwa solche Leute wie früher, nur durch die Wohnungsfrage verdorben (vgl. Bulgakov 1995: 138-139). 17 Hauptfigur des Romans von D.H. Lawrence. 18 Detektiv in Romanen von Erle Stanley Gardner. 19 Der Held einer sowjetischen Propagandageschichte. Der Legende nach habe der 13-jäh‐ rige Pionier Pavlik Morozov 1932 seinen Vater denunziert. Der Vater Trofim Morozov habe nämlich die Ernte des Dorfs versteckt, um sie nicht mit den Sowjets zu teilen. Aus Rache haben die Gegner der Sowjetmacht Pavlik ermordet. In Wahrheit war Pavlik aber kein Pionier und wurde von seiner Mutter zur Denunziation angestiftet, weil Trofim sich eine Geliebte gefunden hatte. Inoffiziell wurde Pavliks Name etwa ab den 1980er Jahren metaphorisch für Petzen gebraucht. Siehe dazu auch Druzhnikov (1997). den Trojanischen Krieg zur Folge. 15 Auch wenn Markosjan-Käsper das Leben in Tallinn und Jerewan nicht so hart kritisiert, sind auch in ihrem Roman satirisch-ironische Momente durchaus sichtbar, bei denen oft direkt Bezug auf Bulgakovs Text genommen wird. Beispielsweise wird über die Esten gesagt: „Mit einem Wort, ganz gewöhnliche Menschen, und wie alle auch ein bisschen durch die Wohnungsfrage verdorben.“ (H, 73). 16 Des Öfteren wird in diesem Roman auf zahlreiche literarische Werke hu‐ morvoll angespielt. Zum Beispiel wird die Liebesgeschichte zwischen Helena und ihrem ersten Mann Abulik als „elend lang, wie ein Roman, etwa Krieg und Frieden oder Der stille Don […]“ (H, 18) charakterisiert. Auf ähnliche Weise werden auch weitere Klassiker der Weltliteratur erwähnt: Helenas Vater Torgom wird mit Balzacs Vater Goriot verglichen, dabei stellt sich heraus, dass Vater Goriot auch Torgoms Lieblingsbuch ist (H, 25-27). Auch Helena selbst wird an etlichen Stellen durch literarische Anspielungen charakterisiert: Sie wird mit ihrer Namensvetterin in Homers Ilias verglichen (H, 31), wir erfahren, dass sie nach der Scheidung keinen Liebhaber finden wollte, denn selbst die „Heldentat der Lady Chatterley“ 17 (H, 64) konnte sie nicht dazu inspirieren, dass sie oftmals in Jerewan für die Behandlung von interessanteren Krankheitsfällen kein Honorar nahm „wie Perry Mason“ 18 (H, 69) und dass sie so ehrlich ist, dass ihr Vater sie ironisch mit Pavlik Morozov 19 vergleicht (H, 26). Die intertextuelle Mehrsprachigkeit wird also in diesen Romanen durch die Anwendung eines anderen literarischen Werks als Erzählrahmen und durch (oft mehrsprachige) Anspielungen auf andere literarische und nicht-literarische Texte geschaffen. Des Weiteren werden tagespolitische Themen geschickt in einen literaturgeschichtlichen Rahmen gestellt. 115 Über die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper 4 Zum Schluss Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass der „Kopf eines zweisprachigen Men‐ schen […] immer eine Raumerweiterung erfahren“ hat (Şenocak 2011: 20). Diese Feststellung konvergiert mit der neuesten Diskussion in der literarischen Öffentlichkeit in Armenien sowie in Estland. Laut Markosjan-Käsper gebe es ziemlich viele neue Autoren in der armenischen Diaspora, die in ihren Werken eher internationale Trends pflegen und die außer auf Russisch auch auf Englisch, Französisch oder Spanisch schreiben. Trotzdem werden sie als armenische Autoren betrachtet (Markosjan-Käsper 2006: 70). Auch in Estland sieht man besonders die jüngeren russischsprachigen Schriftsteller als eher international orientierte Autoren an, die die russische Literaturtraditionen nicht mehr als Vorbild nehmen (Kotjuh 2012: 138-139; Kotjuh 2013: 69-77). Daher ist es lohnend, Gohar Markosjan-Käspers Werke sowie die Texte anderer estni‐ scher russischsprachiger Autoren aus transkulturell und multilingual besetzter Perspektive zu untersuchen. Literaturverzeichnis Allolio-Näcke, Lars/ Kalscheuer, Britta/ Manzeschke, Arne (2005). Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/ New York: Campus. Amodeo, Immacolata (1996). Die Heimat heißt Babylon: Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag. Baumgärtel, Bettina (1997). Identitätsbalance in der Fremde: Der Beitrag des symboli‐ schen Interaktionismus zu einem theoretischen Rahmen für das Problem der Identität in der Migrantenliteratur. 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In der jüngsten Migrations- und Mobilitätsliteratur lassen sich jedoch auch Beispiele für innertextuelle Zweisprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeit in Form des literarischen Sprachwechsels feststellen, die Integrationsprobleme litaui‐ scher (Arbeits-)Migranten oder die Herausbildung von globalen Identitäten illustrieren. Letzteres wird im vorliegenden Fall am Beispiel des Romans Stasys Šaltoka (2017) von Gabija Grušaitė untersucht, wobei die strukturelle Gestaltung und die zentralen Funktionen des innertextuellen Sprachwechsels ausführlich diskutiert werden. Keywords: Migration, Mobilitätsliteratur, Sprachwechsel, Litauen, Gabija Grušaitė 1 Einleitung Im Jahr 2017 fand die Vilniusser Buchmesse unter dem Motto „Litauische Zeichen in der Welt“ statt, womit die Veranstalter den Versuch unternommen haben, das Lesepublikum mit den weltweit zerstreuten Spuren litauischer Lite‐ ratur vertraut zu machen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei jenen Autoren litauischer Abstammung, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in den DP-Lagern, den USA oder Kanada geboren und dort sozialisiert wurden, sich 1 Der Begriff „Mobilitätsliteratur“ ist der Studie Transcultural Writers and Novels in the Age of Global Mobility (2015) von Arianna Dagnino entliehen und erlaubt, damit einen größeren Textkorpus zu bezeichnen als es der übliche Begriff „Migrationsliteratur“ ermöglichen würde. Hierzu Dagnino: „literatures of mobility […] include those works of fiction which are affected and shaped by migration flows, wanderlust, travel experiences, diasporic, exile, or postcolonial conditions, expatriate statuses, and, more recently, the multiple trajectories of transnational and neonomadic movements.“ (Dagnino 2015: 145) häufig litauischer Themen und Motive bedienen, aber ihre Texte auf Englisch und in erster Linie für ein englischsprachiges Lesepublikum schreiben, wie z. B. Birutė Putrius, Antanas Šileika, Irena Mačiulytė-Guilford, um nur einige promi‐ nente Namen zu nennen. Die Autorengeneration, die Litauen um bzw. nach 1990 verlassen hat, z. B. die seit 1989 auf Zypern ansässige Autorin Dalia Staponkutė oder der in Frankreich lebende Nationalpreisträger Valdas Papievis, schreiben hingegen ausschließlich in litauischer Sprache, auch wenn sie in ihren Texten Themen wie Migration, Identität oder Transkulturalität behandeln. Staponkutė, die den Themenkomplex Sprachreflexion, Sprachkritik, Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit besonders konsequent diskutiert (vgl. Das Schweigen der Mütter, 2007), behauptet, „die Sprache sei ein Verhandlungsraum“, sie selbst sei „ein gespaltener Mensch und Autorin“ und „das Sprechen über die Sprache sei die einzige Möglichkeit, diese Spaltung zu überwinden“, aber sie sei skeptisch, ob das Schreiben in einer Fremdsprache für sie als Autorin in Frage käme (Interview am 23.2.2017). Gerade in Hinblick darauf, dass sich in der neuen litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur 1 keine Sprachgrenzüberschreitungen verzeichnen lassen, die anderen Sprachen die Identität der Autoren und Autorinnen nicht entscheidend durchdringen und „die Möglichkeit, in einer anderen Sprache als der Erstsprache zu schreiben, nur theoretisch existiert“, stellt die Literaturwissenschaftlerin Dalia Satkauskytė die berechtigte Frage, ob sich für die Analyse dieser Literatur theoretische Ansätze hybrider kultureller Identitäten, so wie sie von Homi K. Bhabha oder Gayatri Spivak formuliert wurden, überhaupt eignen, obwohl sie in der litauischen Forschung am häufigsten Anwendung finden (Satkauskytė 2011: 122). Eine ähnliche Position vertritt Eglė Kačkutė, die ebenfalls das Fehlen der Belege für sprachliche Hybridität in der litauischen Literatur konstatiert und dazu rät, in dem Fall nicht von sprachlich und kulturell hybriden Identitäten, sondern nur von einzelnen „Erscheinungsformen der Hybridität“ zu sprechen (Kačkutė 2013). Nach dem EU-Beitritt (2004) hat sich Litauen zu einer der mobilsten Nationen in der EU entwickelt (vgl. Eurostat-Bericht 06/ 2020), was auch einen enormen Aufschwung der neuen Migrations- und Mobilitätsliteratur zur Folge hatte. 122 Rūta Eidukevičienė Diese Literatur ist in den letzten Jahren zu einem populären Forschungsgegen‐ stand litauischer Literaturwissenschaft geworden (Beiträge von Dalia Satkaus‐ kytė, Žydronė Kolevinskienė, Dalia Kuizinienė, Laura Laurušaitė, etc.), aber aus den oben erwähnten Gründen wird sie kaum unter dem Aspekt der Zwei‐ sprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeit, sei es auf der Autoren- oder Textebene, diskutiert. Zu erwähnen ist an dieser Stelle der Aufsatz von Laura Laurušaitė Transformationskraft der Sprache in der litauischen und lettischen (E)Migrations‐ prosa (2019), der sich in Anlehnung an postkoloniale Theorieansätze mit den Einstellungen der Migranten zur Erstsprache und Fremdsprache sowie sprach‐ lich motivierten Diskriminierungsbzw. Dominanzverhältnissen in der jüngsten litauischen und lettischen Migrationsliteratur beschäftigt. Laurušaitė diskutiert ausführlich nicht nur die fehlende Fremdsprachenkompetenz und dadurch bedingte Handlungsunfähigkeit der baltischen (Arbeits-)Migranten, sondern auch die zusammen mit der Erlangung neuer Sprachkenntnisse einhergehende Transformation ihrer kulturellen Identität sowie ihre (angebliche) Entfremdung von der Erstsprache, die für die Hauptursache kultureller Ortslosigkeit, ja sogar des „kulturellen Todes“, erklärt wird. Es ist der Forscherin zuzustimmen, dass in den Migrationskontexten der Sprache eine viel größere Bedeutung denn als bloßes Kommunikationsmittel zukommt. Etwas verkürzt werden jedoch in dem Aufsatz die komplexen Sprachkontakte auf Konfliktsituationen reduziert und die baltischen (Arbeits-)Migranten in die Rolle der Sprachlosen hineinver‐ setzt, die sich nur innerhalb ihres Sprachkollektives bewegen oder sich in die Aufnahmegesellschaft auf Kosten ihrer Erstsprache und ihres kulturellen Selbstbewusstseins integrieren. Während sich Laurušaitė auf die Kommunikationsprobleme konzentriert und die zentrale Funktion literarischer Mehrsprachigkeit in der Erzeugung von Irritation sieht, bleiben andere Mobilitätsmodelle und literarische Entwürfe sprachlicher und kultureller Identität außer Acht. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang der Erfolgsroman Stasys Šaltoka von Gabija Grušaitė (2017), der ein neuartiges flexibles Selbstverständnis eines jungen Litauers mit Migra‐ tionshintergrund präsentiert. In den von Laurušaitė untersuchten Texten gehen die Protagonisten ins Ausland, um Geld zu verdienen; sie übernehmen niedrig‐ qualifizierte Arbeiten, kommunizieren vornehmlich unter sich und bleiben dem Rest der Gesellschaft fremd. Der Protagonist in Stasys Šaltoka, ein New Yorker Hipster und aktiver Nutzer von Social Media, hat dagegen keine finanziellen Probleme, keine Schwierigkeiten mit der (englischen) Sprache und ist sowohl im realen Leben als auch virtuell bestens sozial vernetzt. Er präsentiert den Typus eines Globetrotters bzw. neuen Weltbürgers, der verschiedene Sprachen spricht, darüber aber kaum reflektiert, denn Zweisprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeit 123 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur scheint für ihn eine Selbstverständlichkeit zu sein. So werden in den litauischen Text, gegen jegliche Normen des Sprachpurismus verstoßend, englischsprachige Elemente integriert, ohne diese speziell zu markieren oder zu kommentieren. Eben diesem neuen Typus sprachlicher Hybridität sowie dem textästheti‐ schen Verfahren des Sprachwechsels in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur soll in dem vorliegenden Beitrag die größte Aufmerk‐ samkeit gelten. Die Fragestellung ist unter anderem durch die Bemerkung Till Dembecks motiviert, dass „eine Darstellung von Sprachwechsel und -mi‐ schung in postkolonialen und postmigratorischen Texten […] über die Grenzen der (west-)europäischen und amerikanischen Literatur hinausgehen“ müsste (Dembeck 2020: 144). Wie von Dembeck bemerkt, wird die Interpretation des Sprachwechsels „sowohl die allgemeine soziokulturelle Wertigkeit der verwendeten Sprachen als auch die vom Text selbst erzeugte Sprach- und Kommunikationssituation“ (ebd.: 146) genau in den Blick nehmen und die Funktionen eines derartigen Verfahrens am Beispiel eines Romans diskutieren. 2 Theoretische und methodische Grundlagen Für die Analyse des Sprachwechsels, so wie er sich in der litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur und speziell im Roman Stasys Šaltoka manifestiert, bieten zwei Studien eine haltbare methodische Grundlage, nämlich Gulia Radaellis Literarische Mehrsprachigkeit (2011) und Werner Helmichs Ästhetik der Mehr‐ sprachigkeit (2016). Beide Forscher haben ausführliche Beschreibungsmodelle für mehrsprachige literarische Texte entwickelt, obwohl sie ein unterschiedli‐ ches Verständnis des Phänomens haben und voneinander abweichende Heran‐ gehensweisen an die konkreten Texte vorschlagen. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie den Begriff Mehrsprachigkeit nicht auf das Nebeneinander verschie‐ densprachiger Texte innerhalb einer Nationalliteratur, auch nicht auf das Ne‐ beneinander verschiedensprachiger Texte im Werk eines Autors oder einer Autorin, sondern auf die innertextuelle Mehrsprachigkeit beziehen (Radaelli 2011: 48; Helmich 2016: 14). Wenn es um das Vorkommen anderssprachiger Elemente innerhalb eines Textes geht, sind Sprachwechsel und Sprachmischung die entscheidenden Phänomene, die sich aber nicht scharf, eher nach der Art der Betrachtung (quantitativ oder qualitativ) voneinander unterscheiden lassen (Helmich 2016: 18). Auch in dem vorliegenden Beitrag werden die Begriffe par‐ allel benutzt, wobei grundsätzlich die von Dembeck vorgeschlagene Definition gilt: „Als Sprachwechsel ist zu bezeichnen, wenn in einem Text Segmente, die unterschiedlichen Idiomen zuzuordnen sind, aufeinander folgen, wohingegen man von Sprachmischung bei solchen Texten oder Textteilen sprechen kann, 124 Rūta Eidukevičienė in denen zwei Idiome zu unterscheiden sind, ohne dass sie sich einzelnen Segmenten zuordnen ließen“ (Dembeck 2020: 125). Der wichtigste Unterschied zwischen Radaelli und Helmich besteht in der Wahrnehmbarkeit und der Auffassung der in einem Text enthaltenen Sprachen, was nicht zuletzt mit ihrem Untersuchungsgegenstand zusammenhängt. Hel‐ mich versucht, einen umfangreichen Textkorpus zu bearbeiten, weshalb er sich alleine schon aus pragmatischen Gründen dafür entscheidet, von Sprachwechsel nur dann zu sprechen, wenn die involvierten Sprachen im Text manifest sind (Helmich 2016: 17). Radaelli beschäftigt sich detailliert mit einigen ausgewählten Texten Canettis und Bachmanns (in dem Sinne ist ihre Vorgehensweise auch für den vorliegenden Beitrag relevant) und geht von einem viel breiteren Begriff des Sprachwechsels bzw. der Sprachmischung aus. Zur systematischen Einteilung, Differenzierung und deskriptiven Erfassung der Mehrsprachigkeit literarischer Texte schlägt sie drei heuristische Grundkriterien vor: der Fokus (mehrsprachiges Einzelwerk oder mehrsprachiges Gesamtwerk eines Autors), die Wahrnehmbarkeit (manifeste oder latente Mehrsprachigkeit) und die Spra‐ chen (Einzelsprachen bzw. Nationalsprachen, Sprachvarietäten oder erfundene Sprachen) (Radaelli 2011: 47). Für die Analyse manifester Formen des Sprachwechsels bzw. der Sprachmi‐ schung in einem konkreten Text bieten sich die von Helmich übersichtlich zusammengestellten Kriterien (Helmich 2016: 30 ff) an, die später auch bei der Erläuterung der fremdsprachigen Elemente im Roman Stasys Šaltoka zu Hilfe gezogen werden: 1) Markierung bzw. graphische Hervorhebung (Kursivsatz, Anführungszeichen, Übernahmen fremder Schriftzeichen, etc.); 2) Lokalisierung im Werk (Fremdsprachiges entweder im Text selbst oder in verschiedenen paratextuellen Elementen, wie z. B. Titel, Widmung oder Motto); 3) Einzel‐ größe und Gesamtumfang (Einzellexeme, Syntagmen, Sätze, Transphrastisches unbegrenzten Umfangs und ihr Gesamtanteil am Text); 4) Durchdringungs- oder Vermischungsgrad (verschiedene Grade der Heterogenität der einzelnen Sprachelemente wie auch des Gesamttexts, wie z. B. Sprachwechsel/ Sprachmi‐ schung, additive/ synthetische Mehrsprachigkeit); 5) Figuren- und Erzählerrede (die fremdsprachige Mimesis der Figurenrede vs. die fremdsprachige oder mischsprachige Erzählerrede); 6) Verständnishilfen (Übersetzungen im Text, in den Fußnoten oder einem beigegebenen Glossar, aber auch die bilinguale Syn‐ onymie); 7) Konnotationen einzelner Fremdsprachen (Bildungs- und Renom‐ mee-Sprachen, Reflexe der realen Sprachdominanz in bestimmten Sektoren, etc.); 8) Korrektheitsgrad (Normverstöße hängen von der fremdsprachlichen Kompetenz des Autors, aber vor allem von der Motiviertheit im Text ab). 125 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur Im Unterschied zu Helmich berücksichtigt Radaelli auch die latente Mehr‐ sprachigkeit, bei der „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind“, und betrachtet diese als die häufigste Form von literarischer Mehrsprachigkeit überhaupt (Radaelli 2011: 61). Zu solchen latenten Formen zählen die Übersetzung, die Sprachreflexion sowie die im Text auftretenden Sprachverweise (ebd.: 61 f). Über die Übersetzung bzw. den Sprachverweis hinaus können literarische Texte auf eine andere Sprache oder auf Mehrsprachigkeit Bezug nehmen, indem sie mehrsprachige Begegnungen und Räume schildern. Aufenthalte im Ausland oder an mehrsprachigen Orten, Reise oder Auswanderung stellen laut Radaelli wichtige Topoi mehrsprachiger Literatur dar (ebd.: 65), was auch am Beispiel von Stasys Šaltoka zu zeigen sein wird. Neben den besonders sichtbaren Fällen, bei denen der Sprachwechsel zwi‐ schen zwei oder mehreren Einzelsprachen stattfindet, sollten im Sinne des Beschreibungsmodells von Radaelli auch sprachliche Varietäten wie Dialekte, Idiolekte, Soziolekte etc. beachtet werden (Radaelli 2011: 70). Dabei solle auch gefragt werden, welche Bedeutung den jeweiligen Einzelsprachen oder Varie‐ täten im mehrsprachigen Text zukommt, so etwa wenn eine Sprache an einen bestimmten topischen bzw. stereotypen Inhalt gekoppelt ist und der Darstellung von National- oder Berufscharakteren dienen soll (ebd.). Für Helmich reicht weder die bloße Erwähnung aus, dass eine Figur in einer anderen Sprache spricht, als derjenigen, in der ihre Rede wiedergegeben wird, um Sprachwechsel oder Sprachmischung zu konstatieren, noch gilt ihm der Wechsel zwischen Dialekten oder Soziolekten als Sprachwechsel (Helmich 2016: 17). Ähnlich ar‐ gumentiert Dembeck, wenn er bemerkt, dass mit den Begriffen „Sprachwechsel“ und „Sprachmischung“ solche Formen der Mehrsprachigkeit nicht abgedeckt werden, bei denen eine Differenz zwischen unterschiedlichen Idiomen nur latent wahrzunehmen ist (Dembeck 2020: 167-192). Keiner der Forscher leug‐ net aber mögliche Berührungspunkte zwischen manifester und latenter, auf Einzelsprachen begrenzter oder auf Varietäten ausgedehnter Mehrsprachigkeit der Texte oder den „Erkenntnisnutzen einer anderen Grenzziehung“ (Helmich 2016: 17), was sich bei der Analyse eines kleineren Untersuchungsobjekts als besonders produktiv erweisen kann. An dieser Stelle soll etwas näher auf die Aufsätze hingewiesen werden, die sich mit Funktionen der Mehrsprachigkeit in literarischen Texten ausein‐ andersetzen. Wie in einem älteren Aufsatz von András Horn erläutert, kann der Sprachwechsel der Figurencharakterisierung, der Förderung der „Illusion größerer Wirklichkeitsnähe“, der Erzeugung von Komik, der Kommentierung des Geschehens, der Vermittlung anderssprachig besser auszudrückender Be‐ 126 Rūta Eidukevičienė deutungsnuancen, der Wiedergabe lautlicher Schönheit oder anderssprachiger Zitate dienen (Horn 1981: 226 ff). In der neueren Forschung ist meistens von „erfahrener“ und „ästhetischer“ Funktion die Rede ist: Man unterscheidet „zwischen solchen Formen literarischer Mehrsprachigkeit, die ihren Dreh- und Angelpunkt im Leben selbst, sprich in der mehrsprachigen Erfahrung je unter‐ schiedlicher Gruppen haben; und solchen Formen, die in erster Linie aus einem ästhetischen Willen heraus erklärt werden können“ (Dembeck/ Uhrmacher 2016: 10). Dembeck und Uhrmacher kritisieren diese Unterscheidung, insbesondere wenn einer von diesen Formen (meistens der „erfahrenen“ und somit „politisch relevanteren“) eine Priorität eingeräumt wird, und raten - was aus unserer Perspektive viel Sinn macht - dazu, beide Aspekte in den Blick zu nehmen: Denn zum einen besteht der Verdacht, dass Ansätze, die allein dem Populären eine kollektive und lebensunmittelbare Herkunft unterstellen, dabei die Fähigkeiten lite‐ rarischer Werke unterschätzen. Diese können wirkmächtig alternative Weltentwürfe ins Spiel bringen und dürfen nicht als individualistisches Glasperlenspiel abgewertet werden. Zum anderen ist klar, dass kein literarisches Werk seinen Umgang mit Sprachdifferenzen im luftleeren Raum pflegt. Im Gegenteil: Ihre kulturelle und soziale Wertigkeit ist unmittelbar Teil jeder ästhetischen Konstruktion von Sprachdifferen‐ zen. (ebd.: 11) Diese Bemerkung soll insbesondere für die Beschäftigung mit der mehrsprachi‐ gen Migrations- und Mobilitätsliteratur gelten, denn bei solchen Texten, die sich mit verschiedenen Formen sozialer Integration bzw. Exklusion, darunter auch mit sprachpolitischen Machtfragen beschäftigen, ist die Neigung groß, das sprachliche Leben unserer Gesellschaften den individuellen „ästhetischen Spielen“ vorzuziehen. Ohne die gewonnene Erkenntnis, dass mehrsprachige Texte sowohl hinsicht‐ lich ihrer gesellschaftlicher Relevanz als auch ihrer ästhetischen Gestaltung zu bewerten sind, ganz aus den Augen zu verlieren, soll hier ein kurzer Blick auf die Studie Global Playing in der Literatur von Elke Sturm-Trigonakis (2007) geworfen werden, in der die Forscherin das transnationale, kosmopolitische Bewusstsein mehrsprachiger Werke als Reflex der Globalisierungsthematik in den Werken selbst interpretiert und es in ihre Definition von „Neuer Weltlite‐ ratur“ mit hineinnimmt. Für die „Neue Weltliteratur“ sollen Sturm-Trigonakis zufolge solche Merkmale gelten, wie eine weit definierte, auf Sprachvarietäten wie Soziolekte und Dialekte ausgedehnte Mehrsprachigkeit der Texte, die „Verarbeitung eines wie auch immer gearteten Globalisierungsdiskurses“, aber auch die „Hinwendung zum Regionalen und Lokalen“ (Sturm-Trigonakis 2007: 20 und 109). Die Forscherin bemerkt, dass in der von ihr untersuchten Literatur 127 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur sowohl die Menge als auch die Komplexität der Texte, die Sprachwechsel und Sprachmischung als Verfahren benutzen, stark gestiegen ist (ebd.: 160- 163). Ähnliche Beobachtungen findet man bei Helmich, so etwa: „In jüngeren Erzähltexten, die Weltläufigkeit signalisieren und deren Handlung darum gern an möglichst weitgestreuten fremden Orten angesiedelt ist, gibt es fast durch‐ gehend ein gewisses polyglottes - heute überwiegend englischsprachiges - ‚Rauschen‘, das sich etwa in Grußformeln, sonstigen Ausdruckspatterns und kurzen literarischen oder lebensweltlichen Zitaten äußert“ (Helmich 2016: 42 f). Dembeck weist auch darauf hin, dass die Texte, die sich mit Migration oder mit einem (post-)kolonialen Kontext in Verbindung bringen lassen, mit Blick auf Sprachwechsel und Sprachmischung derzeit das größte Interesse von Seiten der Forschung erhalten (Dembeck 2020: 143). Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gelte es dabei, „sich mit der Frage auseinanderzusetzen, in welchen einzelnen literarischen Texten sich unter welchen Rahmenbedingungen und wann welche Formen von Sprachwechsel und/ oder Sprachmischung finden, welche kulturpolitische Relevanz sie haben und wie sie in einen historischen Zu‐ sammenhang gebracht werden können“ (ebd.: 127). Eben um eine ausführliche Erläuterung von verschiedenen Manifestationen des Sprachwechsels bzw. der Sprachmischung und ihren in einem konkreten Text angelegten gesellschaftlich relevanten, aber auch ästhetischen Funktionen, die sich nur mit Hilfe einer gründlichen Textanalyse herausarbeiten lassen, soll es in einem späteren Schritt gehen. 3 Kontextuelle Hintergründe: litauische Migrations- und Mobilitätsliteratur nach 2000 Die mehrsprachige Literatur setzt eine gewisse fremdsprachliche Kompetenz eines Autors oder einer Autorin voraus, „[m]ehrsprachige Autoren erzeugen aber keineswegs eo ipso mehrsprachige Literatur“ (Helmich 2016: 15). Dies trifft vor allem auf die Autoren und Autorinnen litauischer Abstammung zu, die ihre Mehrsprachigkeit durch die frühkindliche Sozialisation und die Schulbildung in den USA, Kanada oder anderen Ländern erworben haben, dort leben und ihre Texte ausschließlich in englischer Sprache verfassen (Putrius, Šileika und andere). Dies gilt aber genauso für die, die durch eine bestimmte Familienkons‐ tellation oder aufgrund von neuen Migrationsprozessen, nämlich nach 1990, Litauen verlassen haben, mit ihrer Umgebung mehrsprachig kommunizieren, jedoch ihre Texte nur auf Litauisch schreiben (Papievis, Staponkutė und andere). Es kann sein, dass auch in diesen Fällen neben der zentralen Arbeitssprache andere Sprachen mitschreiben, aber solange die Mehrsprachigkeit keinen äs‐ 128 Rūta Eidukevičienė 2 Alle Überstzungen aus dem Litauischen ins Deutsche von mir, RE. thetischen Ausdruck in den Texten selbst bekommt, soll sie hier nicht weiter diskutiert werden. Eine gründliche Analyse literarischer Texte und die Beschäftigung mit wis‐ senschaftlichen Studien zur neuesten litauischen Migrationsbzw. Mobilitätsli‐ teratur, übrigens fast ausschließlich von Frauen verfasst (Kačkutė 2018), offen‐ baren drei unterschiedliche Tendenzen, was den Umgang litauischer Autoren und Autorinnen mit der zum Alltag gewordenen und literarisch reflektierten, explizit oder latent in ihren Texten vorkommenden Mehrsprachigkeit betrifft. Hier sollen diese Tendenzen skizziert und an einigen ausgewählten Beispielen veranschaulicht werden. Die erste Gruppe bilden die Texte, in deren Zentrum Reflexionen über Sprachdifferenzen, das Verhältnis von Erstsprache und Fremdsprache, also alles latente Formen literarischer Mehrsprachigkeit, und dadurch bedingte Identitätstransformationen stehen. Eines der prominentesten Beispiele dafür ist die Erzählung Das Schweigen der Mütter (2007) von Staponkutė. In der Erzählung werden die Probleme der Migrantinnen thematisiert, die sich nicht mehr mit ihren Kindern verständigen können, weil ihnen die Kenntnisse der lokalen Sprachen fehlen und die Kinder immer weniger die herkömmliche Sprache ihrer Mütter sprechen: „Ich beobachte die Agonie, ja den Todeskampf meiner Muttersprache im Munde des Kindes und ich erkenne das Bild meines eigenen Untergangs…“, heißt es metaphorisch im Text (Staponkutė 2007: 51 2 ). Ohne die Möglichkeit, sich ihrer Muttersprache zu bedienen, aber auch ohne ausreichende fremdsprachliche Kompetenz bleiben die Migrantinnen sprachlos, sie verlieren ihr kulturelles Gedächtnis und somit einen Teil von sich selbst. Dies ist z. B. der Fall, wenn im Roman Die Leute von Alkapė von Unė Kaunaitė (2015) eine Litauerin ihrer Londoner WG-Mitbewohnerin über ein wichtiges Ereignis aus der jüngsten litauischen Geschichte erzählen will, aber die Begriffe dafür fehlen: „Wie heißt es auf Englisch… ein Soldat? Ein Zusammenstoß? Eine Kundgebung? Die Begriffe waren plötzlich verschwunden, als ob sie zugemauert wären. Sie wusste, dass es sie gibt, sie ahnte ihre Form, sie konnte durch die Spalten einzelne Buchstaben erkennen, aber sie konnte nicht die Mauer durchbrechen.“ (Kaunaitė 2015: 28) In diesem Fall scheint nur die Erstsprache die Möglichkeit zu bieten, Dinge bei ihren eigentlichen Namen zu nennen, und der Übergang in die Fremdsprache wird als eine Art kultureller Bedrohung, ja Selbstverlust dargestellt. Während in den genannten Texten Sprachdifferenzen nur reflektiert werden, aber sich kaum Fremdsprachliches auf der Textoberfläche manifestiert, findet 129 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur man in den anderen, meistens später erschienenen Texten (Paulina Pukytė, Elvyra Davainė, Audronė Urbonaitė, etc.) auch fremdsprachliche Ausdrücke, die jedoch in den meisten Fällen mangelhafte Fremdsprachenkompetenz illus‐ trieren sollen. Eingeschlossen in ihre Sprachkollektive, vermeiden die osteuro‐ päischen (Arbeits-)Migranten (Litauer, Polen, Ukrainer, etc.) jegliche Kontakte mit der sprachlich differenten (meistens englischsprachigen) Außenwelt, denn solche Begegnungen führen zu Missverständnissen oder haben sogar weiter‐ reichende Folgen, wie Festnahme, Gefängnis, physische Verletzung oder Tod. Wie von Laurušaitė ausführlich erläutert, rücken in diesen Texten paradoxe lapsus linguae ins Zentrum der Betrachtung, die Auswanderer geraten ins Netz politischer, sozialer und kultureller Machtverhältnisse und werden in die Rolle von „stummen“ Unberechtigten hineinversetzt (Laurušaitė 2019: 40 ff). So einen provokativen, scheinbar unversöhnlichen Sprach- und Kulturkonflikt illustriert Paulina Pukytės Buch Der Schicksalslose und der Wohltätige (2013), eine Samm‐ lung von epischen und dramatischen Kurztexten, in denen klare sprachliche, zugleich auch wirtschaftliche, soziale, kulturelle etc. Grenzen gezogen werden und jegliche Formen produktiver Mehrsprachigkeit ausgeschlossen bleiben. Hier ein Beispiel für ein sprachlich motiviertes Missverständnis, wie man sie mannigfach im Buch von Pukytė finden kann: RECHTSANWALT Die Zeugen behaupten, dass Sie sie rassistisch beschimpft haben. MANN A Wir haben jemanden beschimpft? Wie konnten wir sie beschimpft haben? Wir haben gar nichts über sie gesagt! Wie konnten wir sie beschimpft haben? […] RECHTSANWALT Hier steht es, dass Sie „black“ geschrien haben. MANN A Wie bitte? Und was heißt das? FRAU (automatisch) Schwarz. RECHTSANWALT Sie haben über ihre Hautfarbe gesprochen. Das hat sie verletzt. MANN A Wie „bliak“? Ich kenne das Wort gar nicht! Warum sollte ich sie beschimpfen? Wir haben andere Wörter, um sie zu beschimpfen… Wir haben wahrscheinlich „bliat“ [ein russisches Schimpfort] gesagt. Wir haben geschimpft… (lacht) Ist das Rassismus? ! (Pukytė 2014: 103) 130 Rūta Eidukevičienė 3 Ein interessanter Forschungsgegenstand wäre die Frage nach der Erhaltung bzw. Nivellierung innertextueller Mehrsprachigkeit bei der Übersetzung literarischer Texte in andere Sprachen, in diesem Fall der englischen Textteile ins Englische, aber dieser Problematik wird hier aus Platzgründen nicht näher nachgegangen. Auf den ersten Blick dienen solche Bedeutungsverwechslungen (Englisches „black“ vs. Russisches „bliat“; „cop“ vs. „cab“ etc. ) der Erzeugung von Komik, aber eigentlich werden sprachliche Differenzen als wirksame Machtmittel entlarvt, die eher Schattenseiten der Migration und des gesellschaftlichen Zusammenlebens als spielerischen Umgang mit der Sprachvielfalt illustrieren. Bezüglich derjenigen literarischen Texte, die mangelhafte Englischkenntnisse, Aussprachefehler oder Sprechangst der Migranten betonen, merkt Laurušaitė an: „Ohne Sprachkenntnisse der Gastländer werden die litauischen Migranten zu Outsidern, zu tragischen Protagonisten (Schicksalslosen), die zwischen der verlorenen eigensprachlichen und der neuen (kaum verständlichen) fremd‐ sprachlichen Umgebung gefangen bleiben“ (Laurušaitė 2019: 50). Der dritten Gruppe, die bis jetzt von der litauischen Literaturwissenschaft am wenigsten berücksichtigt wurde, lassen sich die Texte zurechnen, die räumlich, kulturell und sprachlich ungebundene globale Identitäten in den Vordergrund rücken und mit der Mehrsprachigkeit frei, entspannt und kreativ umgehen. Diese Texte belegen, dass es auch solche litauischen Auswanderer gibt, die innere und äußere Sprachkonflikte überwunden zu haben scheinen, querspra‐ chige Kompetenz aufweisen und als selbstbewusste Fremdsprach-Benutzer gerne Sprachgrenzen und Sprachkonventionen brechen (Kačkutė 2018). Ein Beispiel dafür ist der Roman Stasys Šaltoka von Grušaitė, wo kurze und längere englischsprachige Passagen in den litauischen Text eingerückt werden, sodass sowohl der Ich-Erzähler als auch das Buch selbst als explizit zweisprachig bezeichnet werden können. 4 Sprachliche und kulturelle Hybridität in Gabija Grušaitės Roman Stasys Šaltoka Gabija Grušaitė, die Autorin des Romans Stasys Šaltoka, wurde 1987 in Vilnius geboren, sie studierte Soziale Medien und Anthropologie in London, lebte sechs Jahre in Malaysia, gründete dort das Kunstzentrum „Hin Bus Depot“ und reiste viel. Seit dem Erscheinen von Stasys Šaltoka lebt Grušaitė in ihrer Geburtsstadt Vilnius und zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen der jungen litauischen Literaturszene. Der Roman Stasys Šaltoka wurde 2018 mit dem renommierten Jurga Ivanauskaitė-Literaturpreis ausgezeichnet und in demselben Jahr unter dem Titel Cold East ins Englische übersetzt, 3 2019 erhielt die Autorin den Penang 131 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur Monthly Literaturpreis. Als der Roman 2018 auf dem Festival für Neue Europäi‐ sche Literatur in New York vorgestellt wurde, gab eine der führenden litauischen Literaturkritikerinnen Violeta Kellertas folgendes Urteil ab: „Gabija Grušaitė’s novel exploded like a bomb on the Lithuanian literary scene, dragging us willy-nilly into the 21st century.“ (Zitat auf der Rückseite des Schutzumschlags) Obwohl man thematisch und stilistisch ähnliche Texte in anderen Literaturen finden kann, war es in Litauen ein erster Versuch, die eigene Generation in der Weise, nämlich mit Hilfe des Sprachwechsels und der medientypischen Stilistik, sprechen zu lassen. Es gehört dazu, dass die globale Instagram-Generation des 21. Jahrhunderts, von der im Roman die Rede ist, in ihrer Kommunikation immer wieder Sprach- und Kulturgrenzen überschreitet, was von einigen litauischen Kritikern als Normverstoß verstanden wurde: Die Meinungen gehen hierzu weit auseinander: Kritisiert (aber auch positiv wahrge‐ nommen) wurde der umgangssprachliche Ton, zu dem natürlich auch Anglizismen gehören, also all das, was die älteren Sprachredakteure als syntaktische Fehler, unzu‐ lässigen Jargon oder Schimpfwörter wegzustreichen pflegten. Kritisiert wurde auch die im Roman beschriebene, von einem Teil dieser Generation gewählte Lebensweise. Der Romanprotagonist und seine Freunde reden so wie viele ihrer Zeitgenossen, die die Welt kreuz und quer bereist haben, aber immer noch hier sind, gespalten zwischen Kulturen, Religionen und Lebensweisen: drei englische Wörter, zwei litauische und darauffolgend ein russisches Schimpfwort. Der Roman von Grušaitė hilft, diese Generation besser zu verstehen, deren Zuhause überall auf der Welt sein kann, die einen Job nur als Job betrachtet, die Litauen überall mit sich trägt, aber nur so viel, wie es in dem Moment nötig und bequem ist (Kaniavekienė 2018). Laura Laurušaitė betrachtet die im Roman vorkommende Mehrsprachigkeit als „Zeichen der Primitivität des sprachlichen Ausdrucks“, als Hinweis auf die „Wurzellosigkeit“ der heutigen globalen Generation und die „Demytholo‐ gisierung der Muttersprache“; sie konstatiert eine vermehrte Anzahl solcher fiktiven „Sprachgrenzüberschreitungen“ in der neuesten litauischen und letti‐ schen Literatur und zieht das Fazit, dass die Sprache in diesen Texten ihre identitätsstiftende Funktion zu verlieren scheint (Laurušaitė 2019: 45). Der Roman Stasys Šaltoka ist eine Art „Nachdichtung“, die der globalen Instagram-Generation bzw. dem Milieu der urbanen Hipster eine authentische Stimme verleihen soll. Im Hinblick auf die Authentizität der Sprache sagt die Autorin in einem Interview: Die „Richtigkeit“ der Sprache ist uns aufgezwungen. Dies spiegelt nicht unsere wirkliche Sprache wider, geschweige denn unser Sprechen. Das ist ein Verstoß gegen 132 Rūta Eidukevičienė 4 Obwohl Mehrsprachigkeit in diesem Beitrag den expliziten Untersuchungsgegenstand bildet und man diesen eigentlich durch Übersetzungen gerade nicht ausblenden sollte, lässt es die Verwendung von Literatur aus einer eher wenig geläufigen Sprache wie Litauisch doch ratsam erscheinen, die Textpassagen als Übersetzungen ins Deutsche widerzugeben. Sämtliche englischsprachigen Passagen sind aber in der Originalsprache belassen, mit der Hoffnung, dass dadurch der mehrsprachige Ton des Romans zumin‐ dest teilweise gewahrt bleibt. Die Seitennummern aus dem Roman werden mit der Abkürzung „SŠ“ angegeben. die Demokratie. Ich wollte ein Buch schreiben, das von hier und jetzt handelt. Die Sprache ist historisch. Ich denke, in 5 oder 10 Jahren werden wir anders sprechen. Ich wollte eine Art anthropologischen Text verfassen, der die heutige Sprache abbildet. Im Rückblick werden wir sagen: „Im Jahr 2017 haben die Menschen so geredet, wie lustig.“ Die Sprache verändert sich, sie ist nicht statisch. Man soll sie nicht reinigen, man muss sie lassen, so wie sie ist. Wenn wir denken, dass alles, was gegen die Norm verstößt, in Anführungszeichen stehen muss, wird unsere Sprache hölzern. (Grušaitė im Interview mit Karolis Vyšniauskas im Jahr 2018) Dies sind Äußerungen, die als eine Autorenpoetik gelten können und die sich auf zentrale Anliegen der inhaltlichen und formalen Textgestaltung in Stasys Šaltoka beziehen. Im Zentrum des Romans steht ein 29-jähriger Litauer namens Stasys Šaltoka, der Ich-Erzähler und Protagonist, der (sowie die Romanautorin selbst) zunächst in London studiert und Gelegenheitsjobs übernimmt, später in New York lebt und mit Freunden durch Südostasien reist. Auf den ersten Blick lässt sich der Roman der Gattung Migrationsliteratur zurechnen, aber hier gilt es gewisse Vorsicht walten zu lassen, denn der Protagonist ist eigentlich ein Weltbürger (real und virtuell), der sich überall gleich gut bzw. schlecht fühlt. Seine Heimat‐ stadt Vilnius ist nur ein Ort unter vielen anderen, ein Ort, der Erinnerungen hervorruft und für die postsowjetische Identität des Protagonisten steht, jedoch aktuell keine Berührungspunkte bietet. Die unüberwindbare Distanz wird im Gespräch mit einer amerikanischen Bekannten zum Ausdruck gebracht: Wenn Stasys verkündet, er möchte New York verlassen, fragt diese, wohin er denn gehen möchte: „Nach Los Angeles? Als ob LA der einzige Ort wäre, wohin man nach dem Verlassen dieser Stadt fahren könnte. - Nach Hause? Nach Vilnius? Ich schüttele den Kopf. Sie hat recht - was würde das alles bringen.“ (SŠ: 35) 4 Stasys Šaltoka gehört nicht mehr zu denjenigen osteuropäischen Migranten, die für eine bestimmte Zeit ins Ausland gehen, um Geld zu verdienen, sondern er vertritt die Generation, die seit mehr als einem Jahrzehnt frei von jeglichen finanziellen Nöten irgendwo in der Welt lebt, ohne feste Bindungen und Senti‐ ments (SŠ: 27). Ständige Bewegung, Dynamik und (Selbst-)Suche scheinen für 133 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur diese Generation wichtiger zu sein als ein fester Wohnsitz. „Whatever“ ist daher das am häufigsten vorkommende englische Wort im Roman, das sich sowohl auf das eigene Leben des Erzählers, auf die alltäglichen Krisen seiner New Yorker Bekannten, aber auch auf die globalen Natur- und Humanitätskatastrophen bezieht. Diese Global Player fühlen sich überall zuhause, zugleich auch überall fremd, was sich vor allem durch Überfluss und Lebenslangeweile erklären lässt. Weder die Heimat noch die Erstsprache bieten für sie eine identitätsstiftende Grundlage, auch die Gemeinschaft mit den anderen entsteht eher per Zufall, und weniger durch ein Hineingeborenwerden in einen Raum oder ein Kollektiv, sondern eher durch einen Mausklick. Wenn man zunächst eine Grobanalyse des Sprachwechsels im Roman Sta‐ sys Šaltoka durchführt und sich dabei des von Helmich vorgeschlagenen In‐ strumentariums bedient, so fällt auf, dass die anderssprachigen (englischen) Elemente unmarkiert in den litauischen Erzählfluss eingefügt und im ganzen Text lokalisiert werden. Was die Einzelgröße und den Gesamtumfang der englischen Einfügungen betrifft, benutzt die Autorin sowohl Einzellexeme als auch Wortverbindungen, vollständige Sätze und Textpassagen, die additiv oder synthetisch in den litauischen Text integriert werden und von einem hohen „Vermischungsgrad“ der Sprachen (Helmich 2016: 31) zeugen. Der Roman han‐ delt von einer zweisprachigen bzw. mehrsprachigen Generation und richtet sich an ein genauso mehrsprachiges Lesepublikum, deswegen findet man im Text keine Verständnishilfen für anderssprachige Elemente, d. h., das Fremdsprachige wird einfach stehen gelassen, was in dieser Poetik der Mehrsprachigkeit für programmatisch erachtet werden muss. Dass Grušaitės Roman die Stimme einer mehrsprachigen Generation der Global Player um die dreißig möglichst authentisch nachahmen soll, beweist unter anderem die Tatsache, dass anderssprachige (englische) Elemente ge‐ nauso häufig in der Erzählerwie in der Figurenrede vorkommen. Bei einem Ich-Erzähler lässt sich aber nicht immer deutlich feststellen, ob es sich um erlebte Rede oder seine an andere Figuren gerichtete Aussagen bzw. seine Posts handelt. In der erlebten Rede kommen der Sprachwechsel bzw. die Sprachmischung meistens dann vor, wenn der Erzähler über andere Menschen und Beziehungen reflektiert: „Ungodly hour, wenn die Menschen wachwerden und an den bevorstehenden Tag denken, an to do lists, was sollte man erledigen und was weglassen, warum und wofür.“ (SŠ: 11) Wenn zwei anderssprachige Sätze miteinander kombiniert werden, ist der litauischsprachige Satz meistens neutral und der darauffolgende englischsprachige wirkt aussagekräftiger: „Zwei Küsse auf die Wangen. I could fucking murder you now“ (SŠ: 15) oder „Wo sind meine Geschenke und warum habe ich nichts bekommen. Give me my 134 Rūta Eidukevičienė fucking presents“ (SŠ: 17). Mit Hilfe der erlebten Rede werden auch, so der Eindruck, Vorentwürfe für seine späteren, Lebensweisheiten vermittelnden Posts formuliert, so etwa: „Ich werde in 20 Minuten da sein. I have no dignity. No integrity.“ (SŠ: 21); „Nach der Rückkehr liege ich lange im Bett und höre mein Herz schlagen, betrunken, erschöpft. A shadow of a human being.“ (SŠ: 27) Was die Figurenrede im Text betrifft, werden die Gespräche des Ich-Erzählers mit seinen amerikanischen Freunden, später auch mit dem Russen Alex oder mit Menschen in Asien (Hotel- oder Restaurantpersonal, Taxifahrer, Polizisten, Journalisten, etc.) in englischer Sprache geführt, aber im Text entweder nur in litauischer Sprache oder eben mit Hilfe der Sprachmischung wiedergegeben: „- Ich will meine Frau verlassen, - sagt er [ein amerikanischer Freund] zum Schluss. - Go ahead - antworte ich. - Warum nicht.“ (SŠ: 23) Dass all die Gespräche vollständig in englischer Sprache stattfinden, wird an einigen Stellen indirekt verraten, so etwa, wenn bei einem Telefongespräch der Erzähler sich über den amerikanischen Akzent der Gesprächspartnerin aufregt: „Džanet [ Ja‐ net], - versuche ich möglichst höflich, - that’s retarded. - Stasys… du brauchst Hilfe, - in dem Moment hasse ich ihren all american Akzent.“ (SŠ: 176) Auch mit dem Russen Alex scheint Stasys in englischer Sprache zu kommunizieren, wodurch ein klarer Unterschied zu der älteren Generation der Litauer, die in der Alltagskommunikation mit Russen Russisch bevorzugen, verdeutlich wird. Stasys verweist auf vieles, was ihn mit Alex verbindet, aber anstelle des Russischen als Kommunikationssprache tritt das Englische, auch wenn der osteuropäische Akzent der beiden sich nicht ganz überhören lässt: Wir beide wollen allein in der neuen Stadt bleiben, in der Stadt, die wir nicht verstehen, aber der osteuropäische Akzent, gleiche Frisuren und die Liebe für Whisky reichen aus, um uns so zu fühlen, als würden wie einander seit hundert Jahren kennen. (SŠ: 63) Es ist nicht ersichtlich, wie die vermutlich englischsprachige Kommunikation mit den auf den Reisen getroffenen Thailändern, Malaysiern, Mongolen etc. funktioniert, denn auf der Textebene werden diese Gespräche in litauischer Sprache wiedergegeben. Englische Begriffe werden immer dann eingefügt, wenn es um modische Produkt-, Berufs- oder Lebensstilbezeichnungen geht: „Ich vermisse gar nicht die New Yorker und ihre life coaches“ (SŠ: 176), „new age Idioten“ (SŠ: 64), „Tänzer trying to make it in a big city“ (SŠ: 21) etc. Geschimpft wird im Roman auch meistens auf Englisch, seltener auf Russisch, wobei das Einfügen von anderssprachigen Schimpfwörtern insgesamt zu den häufigsten im Roman rea‐ lisierten Formen des Sprachwechsels gezählt werden kann, so z. B. „Oh for fuck’s sake, wie langweilig sind wir, selbstzufriedene geistig Kranke“ (SŠ: 22) oder 135 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur „Mir hat keiner gesagt, dass Doku-Drehen so fucking boring ist“ (SŠ: 117). Auch ironische oder sarkastische Kommentare werden von dem Erzähler in englischer Sprache formuliert, obwohl nicht immer laut ausgesprochen, so heißt es z. B. über den Russen Alex: „Alex zeichnete sich von den anderen Menschen seiner Umgebung durch einen gesunden Verstand aus (to be confirmed)“ (SŠ: 79) oder „Alex dachte, das sei der Preis, den er dafür zahlen muss, dass er eine Zeitlang wie eine Prinzessin in einem Elfenbeinturm lebte, aber er war deswegen nicht traurig (sure)“ (SŠ: 83). Ganz häufig fallen dem Erzähler populäre Werbeslogans oder irgendwo gehörte bzw. gelesene Zitate ein, die im Erzählfluss meistens in der Originalsprache, also Englisch, rekapituliert werden: Ich bleibe stehen und kaufe mir in dem Laden an der Ecke einen Kaffee. Feed your caffeine addiction. Ich habe zwei Stunden für den Spaziergang Richtung West Village, wo ich mich anlässlich meines Geburtstags mit Freunden zum Mittagessen treffe. (SŠ: 13) Aus Helmichs Perspektive lohnt es sich, bei der Analyse des Sprachwechsels zwischen verschiedenen Arten von Textumgebungen zu unterscheiden und zu prüfen, ob Fremdsprachiges an besonderen Schauplätzen, in bestimmten Szenen oder sonstigen abgrenzbaren Bereichen gehäuft auftritt (Helmich 2016: 30). In diesem Sinne stechen die Romanstellen hervor, in denen es um englischsprachige Posts oder vorformulierte, jedoch nicht realisierte Beiträge im Kopf des Erzählers geht, die sich im ganzen Text verteilen und den unvermittelten Sprachwechsel explizit illustrieren. Die Sprache der sozialen Netzwerke sieht immer schon die Integration englischer Begriffe vor, sodass auch die litauisch-englische Zweispra‐ chigkeit als Ausdruck eines globalen Medialekts gelten kann. Der Bericht über die verbalen und visuellen Posts, Tweets, Chats etc. wird durch wörtliche Zitate durchdrungen, was zu einer intensiven Sprachmischung führt. Hier ein längeres Beispiel, wie man sie häufig im Roman Stasys Šaltoka finden kann: Why 30th bday drives people insane? #not30yet. Tweet. Während wir Portobello Burger essen, bekomme ich hunderte Kommentare und Retweets. What’s on ur BEFORE 30th to do list? Tweet. Noch mehr Kommentare. Not to die, schreibt jemand. […] Wir verabschieden uns, ich komme nach Hause und schlafe ein. Ich erwache, wenn es bereits dunkel ist. Ich sehe, Kanye West hat meinen Tweet beantwortet: TO BECOME A GOD. Fuckin people. (SŠ: 17) 136 Rūta Eidukevičienė Wenn der Erzähler an seinem neunundzwanzigsten Geburtstag in der New Yorker Wohnung wach wird, sucht er zunächst nach der besten Perspektive für ein Manhattan-Bild, das sofort in seinem Instagram hochgeladen wird, begleitet von dem englischsprachigen Post: „Klick. #sublime #newyorknights #happydaytome #blessed #happiness“ (SŠ: 11). Solche Posts vermehren sich auf der Reise durch Asien und helfen dem Erzähler, seine zwischen Begeisterung, Gleichgültigkeit oder Abneigung schwankenden Gemütszustände für sich selbst und für die anderen in wenigen Worten zusammenzufassen. In den früher erwähnten litauischen Migrationstexten wird die mehrspra‐ chige Kommunikation sowie die transkulturellen Beziehungen häufig auf das Minimum reduziert, wobei als Grund dafür die fehlende Fremdsprachenkompe‐ tenz der Migranten gelten soll (Laurušaitė 2019: 46). Im Fall von Stasys Šaltoka ist die oberflächliche, fragmentarische und lakonische Kommunikation nicht durch mangelnde Sprachkenntnisse, sondern durch die Kommunikationsart motiviert. Es handelt sich insofern um eine Art Berufsbzw. Lebensstilidentität konstituierende Authentizität, wenn am Beispiel eines aktiven Nutzers von Social Media gezeigt wird, wie in seinem Bewusstsein verschiedene Sprachen vorhanden sind und abwechselnd zur Artikulation gelangen. Die Bildervielfalt und Sprachmischung dienen bei Grušaitė der Demonstration der Weltläufigkeit, aber auch der Charakterisierung eines sozialen Typus, nämlich eines reiselus‐ tigen Digital Native, der die Welt mit Hilfe seines Handys wahrnimmt und präsentiert. Darüber hinaus ist die Zweisprachigkeit ein Charakteristikum, das zur Identitätsbildung bestimmter Zielgruppen beiträgt und globale Commu‐ nity-Zugehörigkeit stärkt. Stasys Šaltoka reist von New York nach Thailand, von Thailand nach Malay‐ sia, von Malaysia nach Hongkong usw., scheint sich für die fremden Kulturen zu interessieren, aber klemmt fest an seinem typischen Lifestyle, nämlich Instagram, Luxushotels, Whisky u. Ä. Die Langeweile und die Abenteuerlust („wir sind hier for some fun“, SŠ: 169) bewegen Stasys und seine Mitreisenden, den ebenfalls aus den USA eingereisten Kenneth Braun und den Neurussen Alex Lermontov, dazu, eine Dokumentation über die politische Korruption in Malaysia zu drehen, was zu immer neuen unmittelbaren Begegnungen mit Einheimischen führt. Die Gattung des Reiseberichts impliziert Radaelli zufolge fast immer eine Überschreitung sprachlicher Grenzen und das Betreten anderssprachiger Räume (Radaelli 2011: 76). Auch in Stasys Šaltoka offenbart sich durch Reisebeschreibungen ein mehrsprachiger kultureller und sozialer Raum, der sich mit seiner Vielstimmigkeit den Reisenden aufdrängt. Wenn der Erzähler nach einem 30-stündigen Flug in Bangkok landet, lautet sein erster Eindruck folgendermaßen: „Die Straße voll Hitze und glühender Gesichter, 137 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur hier ist immer Freitag, hier ist immer zu viel Whisky, zu viele Souvenirs, Schmutz und fremde Sprachen.“ (SŠ: 58) Obwohl die selbstverliebten Hipster auf ihre eigenen mehrsprachigen Stimmen, sei es auf Instagram oder in der alltäglichen Kommunikation, fixiert bleiben, lässt sich die Vielstimmigkeit der asiatischen Metropolen nicht überhören, wird aber im Roman nur durch den Erzählerbericht, also nicht explizit, wiedergegeben: Ich gucke beim Vorbeigehen auf all die Muslime und verstehe, wie leicht man Fremdenhass erwecken kann - plötzlich fühle ich mich durch ihre bunte, synthetische und billige Kleidung verärgert, aber auch dadurch, wie sie ihr fettiges Curry mit Händen essen, wie sie ihre verfluchte Barbarensprache sprechen. (SŠ: 164) An dieser Stelle wird deutlich, wie fremd und undurchdringlich auf den Erzähler die asiatischen Kulturen und Sprachen wirken, was auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem aus den USA eingereisten Bekannten Kenneth Brown, einem rothaarigen Iren, „geboren an den Ufern der Cardiganbucht“, aufgewachsen in Wales (SŠ: 36), einem Streber nach Ruhm und Anerkennung, hinweist. Kenneth wird vom Erzähler als bornierter Fremdenhasser dargestellt („Diese fuckin piece of shit Muslime…“, SŠ: 98), von dem er sich durch seinen spezifischen (post-)sowjetischen Lebenslauf, seinen Weltschmerz und seine existenzphilosophischen Reflexionen zu unterscheiden glaubt. Enttäuscht muss er aber zugeben, dass es gar nicht so viele Unterschiede zwischen ihm und Kenneth gibt: „Vielleicht hatten Kenny und ich vor allem das gemeinsam, dass sowohl Vilnius, die Stadt meiner Kindheit, als auch sein Wales nicht mehr exis‐ tieren. Im Laufe unseres gar nicht so langen Lebens haben die Strömungen der Geschichte viele Gedächtnisschichten weggeschwemmt, die Kanten entschärft […]“ (SŠ: 37-38). Stasys erkennt, dass er mit seinem medial vorgespielten Leben dem Waliser viel ähnlicher ist, als er das wahrhaben möchte, so etwa, wenn es um ihre scheinbare Sorge um die Welt, eigentlich aber nur um das eigene Image geht (SŠ: 113). Einen Vorteil glaubt er aber gegenüber Kenneth zu haben, nämlich seine Mehrsprachigkeit, während sich die Sprachkompetenz des Walisers auf das Englische sowie seine ganze Weltwahrnehmung auf „das Angelsächsische“ beschränkt (SŠ: 133). Die geteilten Lebenserfahrungen und Erinnerungen, so etwa an „die elek‐ trisch grüne Farbe der Flurwände in sowjetischen Schulen“ (SŠ: 65), nicht zuletzt auch die Mehrsprachigkeit verbinden Stasys mit dem Russen Alex Lermontov, den er zufällig in Bangkok trifft. Der Name Lermontov kann nicht nur als ironische Anspielung auf die russische Literaturklassik, sondern auch als eine weitere, latente Form literarischer Mehrsprachigkeit gelten. Im Hinblick auf den Sprachwechsel, der durch die Einführung fremdsprachiger 138 Rūta Eidukevičienė Eigennamen geschieht, spricht Radaelli von den Worten, „die stärker als andere mit Bedeutung aufgeladen sind und grundlegende Sinnbeziehungen, ja ganze Vorstellungswelten entstehen lassen“ (Radaelli 2011: 100). Dem Stereotyp eines reichen Oligarchensohns entsprechend, verweist Alex’ Familienname zwar auf das in russischer Sprache verfasste Weltliteraturgut (SŠ: 61), aber sein erstsprachlicher Wortschatz beschränkt sich in der aktuellen Kommunikation auf die wenigen Schimpfwörter, wie etwa „Geh nahui“ (SŠ: 93). Die Bedeutung dieser Schimpfwörter ist nur für Alex und Stasys, aber nicht für Kenneth erschließbar und somit können sie als Mittel zur Markierung osteuropäischer Verbundenheit betrachtet werden (auch Stasys selbst reagiert spontan auf einen schlecht schmeckenden Kaffee mit „Nx bl“ (SŠ: 97), was eine Abkürzung vom üblen russischen Schimpfwort „Nahui blyat“ ist und so etwas wie „Hau ab“ oder „Verpiss dich“ bedeutet). Es ist häufig der Fall, dass in den Migrationsromanen, die das Leben litauischer bzw. osteuropäischer (Arbeits-)Migranten schildern, z. B. der Roman Wir waren gestern auf der Insel (2011) von Aleksandra Fomina, das Russische als die einzige Verständigungssprache und als Mittel zur Überwindung vom Integrationsschock präsentiert wird. In dem Roman von Grušaitė scheinen die beiden aus dem (post-)sowjetischen Raum stammenden Figuren, Stasys und Alex, sich auf Eng‐ lisch zu verständigen (SŠ: 63). Dies soll unter anderem als Beweis dafür gelten, wie weit der Transformationsprozess aus einem Osteuropäer in den englisch‐ sprachigen Global Player im Fall von Stasys bereits fortgeschritten ist, sodass er für das Denken und Handeln von Alex häufig genauso wenig Verständnis findet wie für die Malaysier oder Thailänder. Das Verhältnis von Stasys zu dem Russen Alex ist insgesamt als ambivalent zu bewerten: Manchmal braucht er ihn als Identifikationsfigur, mit der man gewisse Lebenserfahrungen teilen und in russischer Sprache schimpfen kann, manchmal aber distanziert er sich von Alex, um sich als „richtiger“ New Yorker fühlen zu können (die Kommunikation in englischer Sprache ist offenbar ein Mittel, diese Distanz zu bewahren). Die Autorin präsentiert einen Litauer, der sich auf seinen Reisen von westli‐ chen fremdenfeindlichen Stereotypen und Klischees leiten lässt oder, was auch ziemlich häufig geschieht, sich die ganze Schuld der „weißen privilegierten Männer“ (SŠ: 291) für Diskriminierung, Ausbeutung, Armut, Hunger usw. auf die eigenen Schultern legt. Die Identifikation mit der „westlichen“ Schuld soll, genauso wie die fortgeschrittene Zweisprachigkeit, die Integration in den westlichen mentalen Raum bestätigen. Grušaitė bringt die Selbstidentifizierung eines Litauers mit der westlichen Welt zum Ausdruck, indem sie sein Verhältnis bzw. seine stereotypische Wahrnehmung des Ostens (Thailand, Malaysia, Hong‐ kong) präsentiert. Der Romanprotagonist kann seine kulturelle Zugehörigkeit 139 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur bestätigt bekommen, wenn er merkt, dass er den Osten auf eine westliche Art, nämlich als „weißer privilegierter Mann“, konsumieren kann (Repečkaitė 2018). Während er in New York immer noch von den Erinnerungen an seine Jugend in Vilnius heimgesucht wird, personifiziert in der Gestalt einer imaginierten Unbekannten, und eine gewisse Distanz zum amerikanischen oberflächlichen Lifestyle empfindet (SŠ: 19), hört er in Südostasien aufgrund seiner Rasse und unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten auf, ein „Osteuropäer“ zu sein. Die Literaturbloggerin Daiva Repečkaitė hat bemerkt, dass die Konsumierung des Ostens auch durch den unterschiedlichen Umgang der Autorin mit ver‐ schiedenen, im Roman explizit oder latent vorkommenden Fremdsprachen geschieht: So werden z. B. die englischen Eigennamen konsequent ins Litaui‐ sche transkribiert („Džanet“; „Izabelė“, etc.), die südostasiatischen Toponyme dagegen stehen meistens in englischer Sprache, als ob Grušaitė nicht wüsste, wie man sie aussprechen soll (Repečkaitė 2018). Ähnliches gilt auch für asiati‐ sche Eigennamen, die sogar durch kreative Alternativen ersetzt werden, so etwa der Name eines Zimmermädchens: „wir nennen sie Mel, weil wir ihren Namen nicht aussprechen können“ (SŠ: 279). Aus imagologischer Sicht ist immer die Frage, ob die Stereotypisierungen auf der Textebene dekonstruiert oder im Gegenteil verstärkt werden, was im Fall des Romans Stasys Šaltoka im Zusammenhang mit seiner Mehrsprachigkeit diskutiert werden kann. Die sarkastischen Bemerkungen über den westlichen Konsum des Ostens, z. B. die Fremde sei nur als „exotische Lokation“ für Instagram-Bilder interessant (SŠ: 107), sollen die im Roman enthaltene Kritik an so einer begrenzten Per‐ spektive betonen; die weitgehend zum Schweigen gebrachte Sprachenbzw. Varietäten-Vielfalt und die Reduzierung der Kommunikation auf Englisch als globale Verständigungssprache zeugen jedoch von sprachlicher und kultureller Hegemonie, wie sie auch aus der Kolonialzeit für die Region bekannt ist, und somit von gewisser Inkonsequenz des auf Überwindung von Stereotypen aufbauenden Romankonzepts. 5 Schlusswort Der gegen konventionellen Sprachpurismus gerichtete kreative Sprachge‐ brauch belegt, dass die junge litauische Autorengeneration gerne Sprach- und Kulturgrenzen bricht. Die Autorinnen Unė Kaunaitė, Gabija Grušaitė u. a. zeigen, was das literarische Spiel mit der Mehrsprachigkeit vermag, nämlich subversiv sein, Komik erzeugen, zugleich aber auf Probleme sprachlicher Do‐ minanz und somit der politischen, sozialen und kulturellen Diskriminierung verweisen, Gruppenzugehörigkeit ausdrücken etc. Wie die litauische Literatur 140 Rūta Eidukevičienė mit Mehrsprachigkeit umgeht, diese explizit oder implizit in den Texten klingen lässt, ist auch ein Zeichen dafür, inwieweit sich bestimmte Texte als transkul‐ turell bezeichnen lassen und den aktuellen Ton der europäischen bzw. globalen Migrations- und Mobilitätsliteratur treffen. Der Roman Stasys Šaltoka von Gabija Grušaitė verdeutlicht einen bewussten Versuch, sich von den Zwängen der Provinzialität zu befreien, was sowohl auf der Handlungsals auch auf der Ausdrucksebene zu beobachten ist. Auf der Handlungsebene fallen der ironische Umgang der Autorin mit dem neuen sozialen Typus der Instagram-Generation, die geographisch besonders breite Gestaltung des Handlungsraums und das für die litauische Literatur untypische Interesse an globalen Themen, so etwa die politische Korruption in Malaysia, das Hochwasser in Bangkok, der Wettkampflauf der internationalen Bericht‐ erstattung etc. auf. Stilistisch zeichnet sich der Roman durch seinen umgangs‐ sprachlichen Ton, vor allem aber durch seine explizite Zweisprachigkeit aus, die möglichst authentisch die Stimme der eigenen Generation illustrieren soll. Für die medienbesessenen Global Player stellt Englisch kein Kommunikations‐ hindernis dar, im Unterschied etwa zu den litauischen bzw. osteuropäischen (Arbeits-)Migranten, deren unzureichende Fremdsprachenkompetenz als Ursa‐ che für Missverständnisse gilt (Paulina Pukytė). Ganz im Gegenteil scheint der Romanprotagonist sich mittels des Englischen nicht nur mit seinen amerikani‐ schen Freunden, sondern auch mit allen auf Reisen getroffenen Menschen, seien sie aus der Mongolei oder aus Thailand, verständigen zu können. In diesem Sinne inszeniert die Autorin eine Art Auseinandersetzung mit der „überlegenen“ Sprache, die einerseits kulturelle Polyphonie verstummen lässt, andererseits aber die bereits vollzogene Integration des Protagonisten in die westliche Kulturwelt beweisen soll. Solche Texte wie Stasys Šaltoka setzen auch mehrsprachige Leser voraus, denen das Verständnis fremder Sprach- und Kulturelemente zugetraut werden kann und die in der Lage sind, anderssprachige Passagen als spezifischen Sozi‐ olekt oder mediale Anspielung zu interpretieren. Der literarische Sprachwechsel erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr als Normbruch, als Verrat an der Erstsprache, auch nicht mehr als Quelle der Misskommunikation, sondern trägt zur Realisierung der Absicht der Autorin bei, „eine Art anthropologischen Text“ zu verfassen, der sich nicht nur als transsprachlich, sondern auch als transkulturell und transmedial bezeichnen lässt. 141 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur Literaturverzeichnis Dagnino, Arianna (2015). Transcultural Writers and Novels in the Age of Global Mobility. West Lafayette: Purdue University Press. Dembeck, Till (2020). Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit. In: Till Dem‐ beck/ Rolf Parr (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 123-166. Dembeck, Till (2020). Mehrsprachigkeit in der Figurenrede. In: Till Dembeck/ Rolf Parr (Hrsg.). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 167-192. 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Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen u. Neumann. Vyšniauskas, Karolis (2018). Ką daryti, kai tau 30, turi butą prestižiniame rajone, kalną instagramo sekėjų, bet viduje - tuščia: Pokalbis su rašytoja Gabija Grušaite. Abrufbar unter: www.moteris.lt/ lt/ veidai/ g-28095-ka-daryti-kai-tau-30-turi-buta-pre stiziniame-rajone-kalna-instagramo-sekeju-bet-viduje-tuscia (Stand 20/ 07/ 2020) 143 Sprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur 1 This article was developed in the framework of the project No. lzp-2019/ 1-0294 National identity: Gastropoetic aspect. Historical, international and interdisciplinary contexts, funded by the Latvian Council of Science. Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity 1 Mārtiņš Laizāns Abstract: Phenomena related to gastronomy form an important part of both individual and collective identities. The gastronomical dimensions of literature can often be perceived as a commentary on the political, historical and societal, going beyond just the food. As cuisines are becoming more mixed globally, languages describing gastronomical scenes in literature are also becoming more multilingual. The novel Mock Faustus (1973), by the Latvian writer Marģers Zariņš, fuses the gastronomical and the multilingual to the extreme, producing a utopian linguistic hybrid of the Latvian language to which a mix of foreign languages and countless intertextual references are added. This is achieved by the gastronomical vocabulary and imagery omnipresent in the narrative of writing a fictional cookbook. The depiction of gastronomical phenomena allows Zariņš to indirectly comment on Latvian history from the 1930s to 1945 and the confused and fragmented identities of these times. Keywords: gastropoetics, Faustus, gastronovel, multilingualism, identity, Marģers Zariņš 1 Shopping List Studying food in literature is an enjoyable experience. However, it is also a challenging one. In cooking, every ingredient and every step of a recipe are important. The same applies to food in literature - regardless of whether a gastronomical passage in a text is intentional or accidental, it can be of great significance for the reader, allowing them to interpret both the direct message of a text and the one contained between the bites. The gastronomical dimension of literature, also called gastropoetics (Parama 2002), shows how food-related phenomena function in literary texts and cultures and what the depicted gastronomical phenomena reveal about individuals and society. A seminal starting point for gastropoetical research is an essay by Roland Barthes, Pour une psycho-sociologie de l’alimentation contemporaine (1961), in which the gastronomical realm of culture is characterised as a sign system that produces its own cultural meanings, and by this description, it is possible to draw conclusions about a particular society in more general terms. A counterpart to this essay is the Mythologiques (1964-1971), by Claude Lévi-Strauss, where the role of food as an essential component of any culture is established. The term culinary text denotes any type of text that deals with gastronomy (e.g. cookbooks, restaurant reviews), whereas gastronovel (Radu 2011) refers to novels in which the gastronomical is of major significance. The term recipistolary prose (Witt 1999: 11) is applied to texts in which the narrative is interspersed with recipes, e.g. Šampinjonu derība (The Champignon Testament, 2002), by the Latvian writer Laima Muktupāvela - the migrant experience in an Irish champignon factory is also narrated through recipes at the end of every chapter. For the sake of the argument of this article, all literary texts that have a considerable amount of the gastronomical can be called gastroliterary texts. The role of food varies in different literary texts - it can be central to the work (e.g. Gargantua et Pantagruel (1532-1564), by the French writer François Rabelais) or be only of marginal importance but still reveal important meanings for the whole text. Roland LeBlanc, in his article on Nikolai Gogol’s Dead Souls (1842), writes that ‘indeed, it would be impossible to extract gastronomy from Dead Souls without destroying its meaning’ (LeBlanc 1988: 77). Speaking about the ever-more-present mixing of cuisines and languages (also in gastroliterary texts), the semiotician Fabio Parasecoli adds that ‘as the level of complexity grows, in order to be decoded, food codes must be interpreted in connection with wider cultural “texts”’ (Parasecoli 2011: 655). For texts in which the gastronomical prevails, an interdisciplinary (and at times eclectic) approach must be adopted; this is indicated by the German literary scholar Gerhard Neumann both in a general article, Jede Nahrung ist ein Symbol (Neumann 1993b), and with a gastronomical analysis of the story Babette’s Feast by Karen Blixen (Neumann 1993a). A narrower approach, although still widely applicable, is outlined in the article Kulinaristik als Kultursemiotik by Roland Posner and Nicole Wilk (Posner 2008). 146 Mārtiņš Laizāns The food writer Kyla Wazana Tompkins concludes about gastroliterary texts that the meal is a cultural text in and of itself, which can be read formally - through the differential relationships between their separate parts - and in terms of the larger narratives of national/ cultural identity that surround it. (Tompkins 2005: 252) The close connection between food and (national) identity is also indicated by Annette Cozzi in the foreword to her monograph on food in nineteenth-century British literature: ‘food is one of the most fundamental signifiers of national identity, and literary representations of food […] reveal how that identity is culturally constructed’ (Cozzi 2010: 5). Pina Palma also states that ‘in literature as in the visual arts food by its very presence performs a complex, multilayered function’ (Palma 2013: 17). The movie critic Anne Bower also notes the pleni‐ tude of the gastronomical as a sign, mentioning ‘food’s ability to serve as a remarkably concentrated signifier - a powerful semiotic system that effectively communicates ideas about cultural formation and identity’ (Bower 2004: 10). She adds that ‘when food appears in a film it is loaded with much more than calories’ (Bower 2004: 12), an idea borrowed from the article Edible Ecriture by Terry Eagleton, where, speaking about food representation in literature, he states: ‘If there is one sure thing about food, it is that it is never just food […] Like the post-structuralist text, food is endlessly interpretable’ (Eagleton 1997). The literary critic Gitanjali Shahani also points to the gastronomical as being both extra-textual and extra-gastronomical at the same time, in the virtue of condensing all of the realms of interpretation inescapably together: ‘To study the gastronomic interjection is then to study the literary, material, and cultural contexts in which it was uttered’ (Shahani 2018: 4). The volume Essen und kulturelle Identität (1997) also points out how food shapes identity and how it is in turn portrayed in various media. 2 To Each Language its Own Tongue As the societies we live in are becoming increasingly multilingual, communities are also becoming more multiculinary than ever. Globalisation has made the ingredients or restaurants of various cuisines available in most parts of the world. Thus, it is not only cuisines that mix and create hybrids - the introduction of foreign cuisines brings with it linguistic changes, and menus, as a rule, are multilingual. One recent example of where the mix of both cuisines and languages is apparent is the ‘Latvian’ food knapas - small entrées made from traditional Latvian products. The name is a mix of the Spanish word tapas and 147 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity 2 Throughout this article, for the sake of brevity, the shortened title Mock Faustus will be used; in some quotations, the abbreviation P.P.P. will be used in place of Pārlabota un papildināta pavārgrāmata. The P.P.P. is an imaginary cookbook in the novel that was published in 1880 by Jānis Vridriķis Trampedahs, one of the main characters of the novel. a widely used Latvian loanword from German, knapp, thus producing a novel Latvian bite-sized snack and a linguistic hybrid at the same time. To illustrate the language use in the novel Mock Faustus, the Latvian translator of James Joyce’s Ulysses Dzintars Sodums should be quoted: ‘Man garšo valoda kā kūka’ (‘I enjoy language just as a cake’; LSM.lv 2017). The gastronovel Mock Faustus brings with it a mix of many languages, and the reading of it can be regarded as having a cake from a linguistic standpoint. But Mock Faustus is not only a dessert, but tapas, entrée, Hauptgericht, and digestivo all at the same time. Zariņš uses mealtimes and everything related to them - food, drink, preparation of the meal, recipes, mealtimes etc. (i.e. ekphrases on the dining room interior, Tafelmusik, kitchen utensils and pseudohistorical and pseudoliterary reminiscences related to food) - as the ultimate cultural experience. For this reason, the prevalence of gastronomical imagery and language related to it poses certain challenges for the comprehension of the text. To paraphrase a commonplace idea in (literary) food studies expressed by Mary Douglas (Douglas 1972), it should be argued that in Zariņš’ case, it is a task of ‘deciphering a literary meal’. 3 Getting Groceries The Latvian composer and writer Marģers Zariņš was born in 1910 (and died in 1993). In 1969, at the age of 59, he made his debut as a writer with the publication of the story Elizejas lauku Mocarts (Mozart of Elysian Fields). His first story collection, Saulrietu violetās ērģeles (The Purple Organ of Sunsets), was published in the subsequent year, and his first novel, Viltotais Fausts, jeb, Pārlabota un papildināta pavārgrāmata (Mock Faustus, or, The corrected complemented cookbook), 2 appeared in print in 1973. The 30,000 copies of the book sold out within a few hours (Silova 2004: 48), and it was only republished in 2003 and 2015. The first reactions to the novel indicated the utter incomprehensibility of the language used in the novel, with readers demanding explanations for a lot of words and expressions. Three years later, in 1976, a supplement (or, to play by the rules of Mock Faustus, a complement) to the novel was published that 148 Mārtiņš Laizāns contained about 1,350 entries, making this novel as postmodern (Silova 2003: 84-85) as possible, as well as unintentionally interactive. The literary style of Zariņš was in strong opposition to the prevailing poetics of Latvian literature of the sixties and seventies. He remained true to his metafictional style, hybrid genres and interplay of languages throughout his literary career. Still, the most oversaturated of his works linguistically and in terms of cultural history is Mock Faustus, and this is still the prime example of Latvian postmodern prose (Berelis 1999: 231) - a work hardly comparable to any other piece of Soviet Latvian literature. The Slovak literary critic Jana Tesařová says that the novel is thoroughly polystilistic (Tesaržova 1984). Mock Faustus is a standalone and a standout novel in Latvian literature - from the perspective of language use it can be deemed a close relative to the hardly legible Finnegans Wake by James Joyce. The gastronomical, linguistic and intertextual complexity of Mock Faustus is one reason why there is not a lot of research on this novel. Nevertheless, two dissertations on Zariņš’ literary works in general are available (Silova 2003; Veide 2005), as well as one in-depth study on the transformation of Faustian motives in Mock Faustus (Leinerts 2007). Still, Wayne Booth’s comment on Joyce’s Ulysses and Finnegans Wake that these texts ‘cannot be read; they can only be studied’ (Booth 1961: 325) also applies to Mock Faustus by Zariņš. A generic term that only partially does justice to the novel by Zariņš, drawing on the terms gastronovel and recipistolary prose, would be recipistonovel - a novel where recipes of food play a major role in the narrative. In addition, the play on poiētikē should be indicated in the context of Mock Faustus. Although poiētikē is a neutral term in Ancient Greek that can be applied to any field of practice or knowledge (it means literally ‘making/ creating’), most common contemporary associations are with literature in general, as poetics are concerned with poetry and literary theory and with the rhetorics of language use. Thus, in the context of Mock Faustus, the Greek term opso-poiētikē (it means literally ‘cooking, preparation of food’), which denotes cooking and an interplay of the literary and the gastronomical, becomes apparent, thus rendering the novel an example of the gastroliterary. A few examples to illustrate this are as follows: ‘Grāmata būs filozofiski gastronomisks traktāts, gandrīz kulinārijas un diētiskās medicīnas kandidāta disertācija, pasniegta laikmeta morāles un tikumu mērcē ar emociju salātiem’ (‘The book will be a philosophical-gastronomical tractatus, almost a dissertation of a candidate in culinary and dietary medicine, presented in the sauce of the morals and virtues of the times along with emotion salad’; Zariņš 1973: 9); ‘Jaču mana P.P.P. jums būs ne tikai pavāra gudrība, bet arīdzan rāmana palasīšanās […] solos, ka viss šis rosols jebšu, kā tautieši saka, - dārzeņu juceklis tiks ar stingru roku kopā satibēts’ (‘My P.P.P. will not only 149 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity be the cook’s wisdom, but also a pleasant read […] I promise that all this Olivier salad, or as my fellow compatriots say - vegetable mix, will be tied together with a strong hand’; Zariņš 1973: 113). The attention of the reader of Mock Faustus is drawn not only to the gastronomical, but also to the words used to denote the gastronomical, thus making the reader constantly have to shift between the poiētikē and opso-poiētikē levels. In addition, an important peculiarity should be mentioned - the use of the expression latviešu mēle (Zariņš 1973: 7) to talk about the Latvian language throughout the novel instead of latviešu valoda. The first term indicates both the tongue (as a physical and as an abstract entity) and the language, but the latter term is only used in the context of language. This serves the fact that the novel confounds both the gastronomical (one that is experienced by the tongue) and the linguistic (where the tongue is also an important object, at least if the spoken part of the language is taken into account). The Latvian literary critic Jānis Čākurs sees these two phenomena as the ones contributing the most to the hybridity of the novel - he calls the novel a ‘kulināri valodniecisk[s] eksperiment[s]’ (‘culinary linguistic experiment’; Čākurs 1973). The protean multilingual poetics of Mock Faustus uses phrases from foreign languages, dialects, different historical phases of the Latvian language, neolo‐ gisms and non-literary expressions to name just a few linguistic aspects of the novel. Mixing them all together was a daring approach in Soviet Latvian literature when even minor deviations from the official literary language in literary works were rarely considered acceptable. Although most of the words present in the novel are attested in (older) dictionaries and cookbooks, when indiscriminately put together, they give the impression of Jabberwocky. Furthermore, the notion of neliterārs (Latvian for ‘non-literary’) was considered almost a curse word during Soviet times with respect to literature (Zariņš even wrote an article in his defence called Literārajā valodā pieļaujamais un nepieļaujamais [The acceptable and unacceptable in literary language] in 1972). The multilingualism of Mock Faustus can be described as two separate multilingualisms that are mixed throughout the novel. The first is the internal multilingualism of the Latvian language itself - the different layers and epochs made into a hybrid Latvian. The second is the presence of expressions and dialogues in foreign languages. If we take into account the ways in which multilingualism is used intratex‐ tually in novels according to Georg Kremnitz (Kremnitz 2004), then Zariņš mixes all three of the provided types: it portrays a certain realism (e.g. the presence of Latvian, German and Russian in everyday life, as well as Latin, Italian and French when there is reference to certain cuisines or arts); it achieves a 150 Mārtiņš Laizāns strong Verfremdung (estrangement) effect; and the author exhibits his linguistic and cultural erudition. Multilingualism in narrative literary texts can be made visible if there is a Grundsprache (main language) present in the text (Kremnitz 2004: 14). Similarly to Finnegans Wake, where English is at least nominally the main language, in Mock Faustus, the Latvian language is only the foundation nominally. One could also agree that the use of multilingualism in novels is a strategy that shows the fragmentation of identities, both on the individual and societal levels (Kremnitz 2004: 16). Regarding the Verfremdung aspect, another parallel with Finnegans Wake should be mentioned; as Daniel Ferrer speaks about the ‘English’ language in Finnegans Wake, ‘Joyce va puissamment la transformer, y injecter de l’étrangeté, la rendre, en quelque sort, étrangère à elle-même’ (‘Joyce strongly changes it [i.e. the English language] by introducing strangeness to it, and in a way making it strange to itself ’; Ferrer 2012: 110). This is exactly what Zariņš has done to Latvian according to almost all literary critics and scholars who have written on this novel. Thus, by estranging and defamiliarizing the language, the regime-torn individual is also shown as being in a state of confusion. This will be made clearer with some examples on the protagonist of the novel, Kristofers Mārlovs, further on in the article. The hybrid linguistic and gastronomical jungle can be held together only by the plot. The novel depicts events in Latvia from 1933 to 1945, during which time the governing regime changed five times. The novel consists of three parts, which can be summarised thus: 1) early 1930s - independent Republic of Latvia; 2) First Soviet occupation (1940-1941) and German occupation of Latvia (1941-1945) with a lot of analepses to the second half of the 1930s, when Latvia was still independent but was under the authoritarian regime of Kārlis Ulmanis; 3) the end of the German occupation of Latvia and the beginning of the Second Soviet occupation of Latvia, which lasted for 45 years (from 1945 to 1991). 4 Literary Menu à la carte From one perspective, the most prominent references in the novel are the ones connected to many reworkings of the Faustiad. Mock Faustus, being a satirical novel of phantasmagorical expression, is regarded as a local version of The Master and Margarita (1966) by Mikhail Bulgakov (Silova 2003: 49; Gaižūns 1985). Also undeniable is the reference to Thomas Mann’s Doktor Faustus (1947), as the young composer in Zariņš’ novel, Kristofers Mārlovs, is not understood, just as Adrian Leverkühn is misunderstood in Mann’s novel. In addition to that, Mārlovs, who is complementing and correcting the P.P.P. in order to produce his Mock Faustus, is not understood as a writer, as cookbooks, even those containing 151 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity entertaining plots, are not considered real art in the world that the novel portrays. Here, Zariņš’ own biography also comes into play: he is a composer who does not fit in (although Zariņš was not exactly an outcast, his extravagance at times was too exotic for Soviet Latvia, so the fictional autobiography also becomes a certain type of commentary on the relationship between the artist and the regime). Goethe’s Faust is also an apparent reference - this is true of both parts of Faust (1808, 1832), of which the second could be interpreted as a complement to the first part; for Zariņš it is a replay of this situation, as his Mock Faustus is, in a way, Der Tragödie zweiter Teil, as the P.P.P. is being rewritten into the Mock Faustus in the narrative of the novel. Both versions of Christopher Marlowe’s The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus are also of importance for Zariņš; the second version (1620) is a fuller version of the first (1604), and the same is played out in Mock Faustus: the first version of P.P.P. is not complete in Mārlovs’ opinion, as he adds, ‘Lai būtu jaukāka lasīšana, tad esmu to visu uz mākslīgu vīzi ar sarunāšanos starp Jāni Vridriķi, mani pašu […] jaunajā grāmatā licis, arīdzan mīlestības asaras un priekus aprakstījis’ (‘For a more pleasant read, I have artfully presented the conversation between Jānis Vridriķis and myself […] in the new book, also tears and joys of love I have described’; Zariņš 1973: 8). The word ‘mock’ in the title points to several aspects of the novel. First is that the archetypal roles of Faustus and Mephistopheles are reversed during the events. Moreover, from the culinary perspective, cookbooks are a genre that undergoes the most changes over time, and they also signal a change of times, as the Latvian cookbook historian Astra Spalvēna argues (Spalvēna 2016). Kristofers Mārlovs is the narrator and protagonist of Mock Faustus - both the biographical events from the sixteenth century and the fictional ones from the twentieth century are mixed together. Third, in the manner of Marcel Proust’s À la recherche du temps perdu and André Gide’s Les Faux-monnayeurs, Zariņš talks about a different book, one that is in fact the book one is already reading/ writing - a completely unusual meta-fictive experience for the Soviet Latvian reader. In this way, the reader is mocked as to what he is actually reading. The Latvian literary critic Guntis Berelis classifies it as a metaliterary novel (Berelis 1989: 16). Beyond these, there are uncountable other references and influences in this thoroughly intertextual work, including Shakespeare, E. T. A. Hoffmann, Rabelais and Dante, as well as Reinis and Matīss Kaudzīte, the writers of the first Latvian novel Mērnieku laiki (The Times of the Land Surveyors, 1879). The importance of food in Latvian identity was already obvious in this first Latvian novel. One of its main plot lines and themes is the wait for the honorary feast. 152 Mārtiņš Laizāns 3 For more on the utopian gastronomical grotesque, see Laizāns 2020. Of special importance is the scene where the peasant imagination is brought to the extreme when the possible menu of the honorary feast is announced - a grotesque ridicule of the mid-nineteenth-century Latvian peasants’ knowledge about the world (Kaudzīte 1964: 211-212) 3 - and the description deals with foods as phantastical as unicorn brain, thus producing a literary menu with Rabelaisian qualities. Mock Faustus can be understood as an expansion of this passage, showing that the Latvian worldview is strongly shaped by the palate and the stomach, and thereby the work comments on the Latvian way of life that eating well means a lot. This self-irony is also not a typical mark of Latvian Soviet literature. Moreover, the changes to the menu under the different regimes are the most prominent indicators of different circumstances that come with them. Zariņš has frequently admitted that among his inspirations for his literary gastrosymphony, both linguistically and in the use of gastronomy as a narrative vehicle, were old dictionaries - Latviešu valodas vārdnīca by Kārlis Mīlenbahs (which, ironically enough, was complemented later by Jānis Endzelīns and Edīte Hauzenberga-Šturma), Jacob Lange’s Vollständiges Deutsch-Lettisches und Lettisch-Deutsches Lexikon (1777) and Georg Mancelius’ Lettus, das ist Wortbuch sampt angehengtem täglichem Gebrauch der Lettischen Sprache (1638) - and sources of Livonian and Prussian languages (Silova 2004: 31), along with ancient cookbooks in the context of Latvian written language, such as Christoph Harder’s Ta pirma Pawaru Grahmata no Wahzes Grahmatahm pahrtulkota (The first [Latvian] cookbook, translated from the German books; 1795). To this Zariņš owes the gastrolinguistical style of Mock Faustus; in many parts of the book, he recreates how a Baltic German from the seventeenth or eighteenth century would have written in Latvian to the best of his knowledge. Zariņš also reverts the situation of when Baltic Germans were writing in Latvian - himself being a Latvian, he adopts the style of how Baltic Germans wrote in Latvian, but not as a comicality or derision, which would usually be the case, but as a means of defamiliarizing the Latvian language. 5 The Words on the Table The multilingualism of the novel is also a reflection on the different societies it portrays - the historical presence of peoples of both Baltic German and Russian origin has influenced everyday Latvian speech. By the variation of expressions from several languages, Zariņš illustrates the changes of the regimes, and the 153 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity social and political changes are most vividly expressed by the gastronomical imagery. An example of both the hybridity of language and the intertextual references made throughout the novel is the following. A popular food in Latvia, viltotais zaķis (meatloaf, Hackbraten, falscher Hase), is among the references in the title. Zariņš explains the title in one passage of the book to be understood in gastronomical terms. A food called Mock Faustus had been invented by Erasmus of Rotterdam - a Brabantian duck grilled in tar (Zariņš 1973: 317) - a dish that is made up. In a way, Zariņš tries to assert that the food is both imaginary and a literary reference, thus trying in a grotesque manner to make one think that nothing should be taken seriously. At the same time, as with all satire and grotesque, if one reads behind the imagery, one can see the political commentary and identity questions that Zariņš explores in his novel. The references to other cultures and languages, particularly those to ancient literature, are also produced via gastronomical references. An important note on how the novel should be perceived can be inferred from both the mention of Erasmus who supposedly invented the dish Mock Faustus and Pseudo-Virgil’s work Moretum, and Zariņš interprets the moretum to be a kind of vinaigrette. That is an example of localisation, as in Latvia vinaigrette (Latv. vinegrets) is a food that consists of beetroots, carrots and pickled cucumbers. Zariņš refers to this work by Pseudo-Virgil as Ars optima ad faciendo [sic] vinegretum divinum (The best way to prepare a divine vinaigrette) (Zariņš 1973: 316). Erasmus, in his Encomium Moriae, refers to Pseudo-Virgil’s Moretum when talking about composing literary works as an entertaining rather than serious endeavour (Erasmus 1648: 11). Therefore, Zariņš makes it obscure whether his novel should be taken seriously or not by referencing a satirical text of gastronomical content and does so by recalling how Erasmus treats it as a leisurely activity. Thus, this passage by Zariņš opposes the socialist realist assumptions that literature cannot be just a game (as Zariņš treats it) but must serve a serious ideological goal. In the context of the gastronomical aspect, which plays a major role in the commentary on various facets of social and political life in the novel, the Faustian motif must be mentioned. In this novel, it has been reduced to a sort of comicality - the highest knowledge for Mārlovs is gastronomy and cookery. Also, the invented gastronomical romanticism (Zariņš 1973: 123) - the genre of the novel - shows the attitude towards the Latvian language. The attitude mainly consists of considering Latvian only as the ķēķa valoda (the language of the kitchen), i.e. not a serious one from the perspective of all foreign occupant regimes. Although Zariņš shows the richness of the Latvian language in his 154 Mārtiņš Laizāns novel, the extremes he linguistically conflates leave the readers perplexed, and this works as a trap for snobs, for who would ever consider a (literary) cookbook to be of any respectable and great worth as a piece of literature? Jānis Vridriķis Trampedahs is the counterpart to Mārlovs and the author of P.P.P. Mārlovs wants to acquire the rights to this book from Trampedahs to up‐ date it once more. But it turns out that Trampedahs had only stolen from former cookbooks and had not complemented them with anything, only rearranged them - an exposure of the Baltic German hypocrisy from the perspective of Soviet ideology. Trampedahs is also a caricature of a Baltic German aristocrat (his real German name in the novel is given as Johann Friedrich Trampedach) who lives abundantly; all the pleasures of life are available to him, in contrast to the common people of Latvia, although this also points to the lavish lives of the bourgeoisie of the independent Latvia, which also brings excess. In contrast, for Mārlovs, cooking is a form of artful expression, a spiritual endeavour that can be transferred into his life’s work, namely the gastronovel P.P.P. This contrast becomes apparent in the second and third parts of the novel, where Trampedahs corrupts Margarēta Šella (the Gretchen of Mock Faustus) with the new Saldā dzīve (La dolce vita). The first meal with her has to be something exceptional and extraordinary: ‘Maltītei jākļūst par epigrāfu, par vadmotīvu visām turpmākajām maltītēm’ (‘The first meal must be an epigraph, a Leitmotiv for all the future meals’; Zariņš 1973: 190). Still, in time, Mārlovs wins over Šella’s heart, and thus Zariņš shows that true love does not need a full belly, as her life with Mārlovs is the exact opposite of the abundance that Trampedahs offers to her. The second part of the novel can, from a gastronomical perspective, be divided into two. Both the Soviet and German regimes bring with them shortages in food supply and changes to the menu. As the development and abundance of independent Latvia have ceased to exist, the narrator’s attention to food diminishes, and he fails to update the P.P.P. for several years. Now everything is being prepared in the simplest way possible from the most basic ingredients available. Only in the flashbacks do recipes and extensive details of food and its consumption in the ‘good old days’ appear. These memories, which are mostly tied to food, function as a solace of a paradise lost. However, at the very end of this part, for the first time in the novel, something appears that is not delicious and enjoyable: ‘No apakšstāva rien lētas eļļas un kāpostu dvaka’ (‘From the floor below comes a smell of cheap oil and cabbages’; Zariņš 1973: 310). This is also a signal of the changing times and is in contrast to the abundance during independence. The third part is even less preoccupied with food than the second. The gastronomical, or rather the lack of it, shows disturbance and deficit, and the 155 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity linguistic and narrative style differs considerably from the first part. The only good alimentary items the people have must be handed over to the Nazi Germans (Zariņš 1973: 330), and in return, the people get Bezugscheine - called cūkšeines in the novel (Zariņš 1973: 314-316). This is an example of a parody in tragedy. Cūka means ‘pig’ in Latvian, and in this context, it is used to denote both the attitude towards the Nazis (as pigs) and the attitude towards oneself - as if one is being treated as a pig, getting only what is suitable for pigs and, in more gastronomical terms, only getting rationed food. Mārlovs even hallucinates about food in good times and comes to the conclusion that ‘Pārlasot P.P.P. lappuses, viss, kas tur rakstīts, sāk likties fantastisks un nereāls.’ (‘upon rereading the pages of “P.P.P.” now, everything written there seems phantastical and unreal’; Zariņš 1973: 315). It is also important to note the attitude to P.P.P. by different characters throughout the novel. In the first part, it is praised as a precious artefact by both Trampedahs and Mārlovs. In the second part, Šella, echoing her leftist and socialist past, criticises the book for being idiotic - ‘Bet tas taču idiotiski! Noņemties ar pavārgrāmatu’ (‘But that is idiocy! To occupy oneself with a cookbook’; Zariņš 1973: 184) - as these books bring no real change for society. In the third part, the book is criticised by a ‘war prisoner’ who turns out to be a Soviet spy, and the criticism is done in the classic hyper-didactic manner of socialist realism: Gribēdams izbēgt no atbildības par to, kas pasaulē notiek, jūs sacerat pavārgrāmatu. Nospriedāt laikam tā: valdības nāk un iet, bet pavārgrāmatas paliek. Tā dara strauss tuksnesī, iebāž galvu smiltīs. Vai tiešām jums nekad nav bijuši draugi un lieli mērķi? (Wanting to escape responsibility about the events in the world you compose a cookbook. You must have thought thus: the governments come and go, but cookbooks remain. An ostrich in a desert does so by putting his head in the sand. Haven’t you ever had friends and great goals? Zariņš 1973: 330) Thus, a cookbook, however entertaining, is not considered something one should occupy oneself much with. Again, with these assessments, Zariņš shows irony about his own work and anticipates the possible criticism towards his Mock Faustus. The grand finale of the novel in both political and gastronomical terms is the Second Soviet occupation. The Nazi Germans have been just driven out, and a bowl of kharcho soup is offered to Mārlovs, who has been starved for ten days by Trampedahs. ‘Kharcho’ is the last word of the novel (Zariņš 1973: 355). It signals a new era in Latvian history as well as a new cuisine. Although known before Soviet times, kharcho became a well-known dish in Latvia only during Soviet times, along with other foods from the Caucasus region, such as 156 Mārtiņš Laizāns shashlik, which is now an undisputable part of Latvian cuisine. The offering of kharcho in the novel is a sign of the beginning of a beautiful friendship that is to be developed between the nations under the hammer and the sickle. It also recalls the Aristotelian golden mean; through food, the Republic of Latvia was portrayed as excessive and luxurious, and the First Soviet occupation and the German regime were portrayed as extremes of deficiency, but the Second Soviet occupation with the kharcho, whose ingredients are not too simple and not too exotic, should finally bring balance to the land and to the stomach, as well as intercultural and supranational mutual understanding. Still, critics of the novel after the fall of the Soviet Union have reconsidered some of its qualities. For example, Rimands Ceplis says that a contemporary re-reading and re-evaluation clearly show that there were too many compromi‐ ses made in the novel in political terms, and the author ‘zaudē […] kompromisos ar ideoloģiju’ (‘loses […] when compromising with ideology’; Ceplis 2000). 6 Satur venter or Palatal Criticism of Words The Latvian linguist Alberts Sarkanis mentioned that, although the language of the novel is ‘raib[ais] dzeņa vēder[s]’ (‘the motley belly of a woodpecker’; Sarkanis 1986), it ‘nevajadzētu analizēt tikai no valodnieciskā viedokļa’ (‘should not be analysed from the linguistic perspective alone’; Sarkanis 1986). This is understandable, as the linguistic incomprehensibility was the most criticised aspect of the novel. He adds that ‘Leksiskā materiāla raibums kā groteskas elements M. Zariņam ir nepieciešams laikmeta, vides un varoņu raksturojumam’ (‘The lexical palette as a grotesque technique for M. Zariņš is necessary to characterise the epoch, environment and heroes’; Sarkanis 1986). A very precise and concise assessment of the novel is given by Čākurs, who says that Mock Faustus is ‘uzrakstīts kā šķietami konglomerātiska pavārgrāmata par buržuāziskās sabiedrības sadzīvi, uzskatiem, tikumiem un mākslu’ (‘seemingly a compilatory cookbook about the life, opinions, virtues and art of the bourgeois society’ (Čākurs 1973). He also refers to a mystical jester who has said that ‘atzinis Viltoto Faustu par izdevušos daiļdarbu, tikai - to vajagot pārtulkot latviešu valodā’ (‘the Mock Faustus is a great novel, but it should be translated into Latvian’; Čākurs 1973) - a remark that found (and still finds) a lot of support among readers and critics, and, in fact, is one of the most acute remarks this novel could have ever obtained. The Latvian poet Gunars Saliņš, retelling the paper delivered by Jautrīte Saliņa at the Northeast Modern Language Association conference of 1974, mentions that it is a ‘nesaderīgu valodas slāņu rasols’ (‘Olivier salad of incompatible linguistic layers’; Saliņš 1974). Although one 157 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity could agree on it being a salad and being incompatible, it is hard to agree with the unfavourable opinion in terms of how it is expressed if we take into consideration the opinions mentioned at the beginning of the subsection. The novel is perceived as a grotesque by the Czech literary scholar Radegast Parolek, who says that the novel is ‘īsts asprātību, kulturālas erudīcijas, fantā‐ zijas un stilistiskas rotaļības koncerts’ (‘a real concerto of playfulness in terms of wit, cultural erudition, phantasy and style’; Paroleks 1980: 147). He also argues that it is one of the pinnacles of all Soviet grotesque and satirical literature. Latvian literary scholar Rimands Ceplis praises the novel for being a literary text that had dismantled traditional attitudes towards what could be considered a literary text - ‘Izārdīta tradicionāli nopietnā attieksme pret tekstu, pasludinot pavārgrāmatu par literāru darbu’ (‘The traditionally serious attitude towards a text has been destroyed by claiming that a cookbook can be a literary text’; Ceplis 2000). In 2003, literary critic Eduards Silkalns said, ‘Uz padomju laika stipri vienveidīgās, proletariāta masām viegli izprotamās socreālistiskās daiļprozas pelēcīgā fona pēkšņi parādījās šis krāsainais plankums’ (‘Against the thoroughly homogeneous and grey socialist realist belles-lettres backdrop that was easily understood by the proletarian masses, suddenly a colourful splash appeared’; Silkalns 2003). Both of these opinions echo the 1986 view of the Latvian linguist Ildze Kronta, who says that this novel is valodas zemestrīce mūsu mierīgajos platuma grādos, un, lai arī te viss nepavisam nav latvietim saprotams, tas ir vajadzīgais impulss, grūdiens ārā no standartizētas vienveidības, tā sakot, mazliet huligānisks iespēju atgādinājums. (a linguistic earthquake in our tranquil meridian, and although there is not much for a Latvian to understand in this novel, it is a necessary impulse, a push outside the standardised homogeneity, so to speak, a somewhat hooliganic reminder of the possibilities; Kronta 1986: 170) Marģers Zariņš himself, after the first reactions to the publication of a fragment of the novel, said that ‘Uzskaitītie vārdi nav paši par sevi miruši, bet gan tikai pārvietojušies. Vecākajai paaudzei - atmiņā, jaunākajai paaudzei - vārdnīcās’ (‘The provided words are not dead per se, but just have moved elsewhere. For the older generation - into memories, for the younger one - into dictionaries’; Zariņš 1972). Zariņš forecasts the possible criticism already in the text of the novel, and in this way, he also intertwines the first full translation into Latvian of Goethe’s Faust (1898), by the Latvian poet Rainis, into the text by forecasting the same reproaches that the Latvian linguist Kārlis Mīlenbahs made to Rainis - for 158 Mārtiņš Laizāns 4 For example, the conceptual poetry collection Mīļākais tētis pasaulē (The Loveliest Dad in the World) by Einārs Pelšs in 2016 was a threshold event in Latvian poetry; see Laizāns 2019 for a more elaborate discussion. example, the use of incomprehensible words and dialects (Gaižūns 1985), which is one of the trademarks of Mock Faustus. The translation of Goethe’s Faust into Latvian by Rainis was a seminal event in the history of the Latvian language - it was considered the foundation of the contemporary Latvian literary language (see Grīnuma 1999). So, along with other influences, this translation was an important source of inspiration for Zariņš in how he constructed the language of his novel, although it would be hard to argue that it marked a turning point in Latvian literature. 4 As a follow-up to the previous passage, the Swedish-Latvian poet Juris Kronbergs says that Mock Faustus was ‘pirmais spilgtākais literārās valodas identitātes problēmas pieteikums latviešu pēckara literatūrā’ (‘the first vivid example of the problem of identity of literary language in post-war Latvian literature’; Kronbergs 1994). The exiled Latvian literary critic Eduards Silkalns is one who also sees that the linguistic mannerisms of the novel not only express the possibilities of the Latvian language but also ridicule them: Zariņa aizrautība ar senvārdiem un lokālismiem - un, ko var zināt, varbūt arī vienu otru pašdarinātu, it kā tautiski skanošu vārdu - arī uzskatāms par milzīgu, gardu smieklu par 1930.-iem gadiem raksturīgo latviešu valodas latviskošanu. (The obsession of Zariņš with archaisms and localisms - and, what can one know, maybe even a few self-made, although folk-sounding words - is to be regarded as one big, delicious laugh about the 1930s when it was characteristic to Latvianise the Latvian language; Silkalns 2003) Regarding the ‘Latvianisation of the Latvian language’, the fact that the gastro‐ nomical language and imagery is more ample and colourful in the parts of the novel that describe the events before WW2 is also an indirect evaluation of the times. The first part of the novel, which takes place in independent Latvia, a time when, according to myth, everything was idyllic, presents an abundance of talk about food, recipes, meals and both local and global cuisine. Though at times hyperbolic, this is in stark contrast to the chaos that follows in the subsequent two parts, in which the gastronomical reality is portrayed in bleak tones and is expressed less vividly. When Mārlovs rereads his version of the P.P.P., everything in it seems to be phantastical and unreal to him. Thus, the image of a great past has been shattered, and the future does not seem bright. Although the politics, regimes and sudden changes in relationships are addressed directly, the gastronomical side of the novel tells another story. At 159 Dinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity times, the story is quite different from the directly addressed one, which can even be opposing to the Soviet regime under which it was written, censored and published. The aforementioned internal multilingualism, the hyperbolised mix of many varieties of Latvian and the omnipresent use of expressions from other lan‐ guages reflect the constant changes to the political regimes and point to confusion in identity. However, the fact that both Mārlovs and Trampedahs are portrayed as ‘eternal’ figures (both are involved in sixteenth and early seven‐ teenth century events as Christopher Marlowe and Ben Johnson, respectively) shows that living for several centuries brings with it an abundant thesaurus of linguistic and cultural references, which in turn confuse the reader, who has not spent so much time on this earth. The approach to poetics adapted by Zariņš also portrays that a homogeneous national Latvian language is a fiction, as is also proven by the aforementioned reactions of readers and critics: if you make something too Latvian, it does not make sense to any Latvian. Silkalns also does not fail to identify the challenges a reader faces: ‘Zariņš no sava lasītāja liekas sagaidām visu, proti - ka viņš būs talantīgs lingvists, vēsturnieks, literātūrvēsturnieks, orientēsies mūzikā, glezniecībā, teoloģijā…’ (‘Zariņš expects from his reader everything, namely that he will be a talented linguist, historian, literary scholar, and will be well acquainted with music, painting, theology…’; Silkalns 2003). Joyce had a similar requirement, expecting that an ideal reader would suffer from ideal insomnia ( Joyce 1975: 120). Although Silkalns admires the qualities of Zariņš’ novel, his sympathy is on the side of the reader: ‘Lasītājs, ja viņš nav gluži superģēnijs, dabū ar šo romānu apieties kā ar mīklu, skatoties, ko tādu viņš sapratīs pilnīgi, ko tādu pa pusei un ko tādu nemaz’ (‘The reader, if he is not a supergenius, must handle this novel as an enigma, and see for himself, what he will understand, what he will understand partially, and what he will not understand’; Silkalns 2003). 7 Aftertaste Although the novel is a mix of gastropian and linguopian qualities and is fairly incomprehensible to a native Latvian speaker, it was translated partially or fully into eight languages between 1979 and 1988 (into English by Raissa Bobrova in 1987). Just as in reality, the changes to political regimes in fictional narratives bring about the presence or absence of certain foods, and, with it, different influences on cuisine. These changes, in turn, influence language, particularly the aspects relating to gastronomy. As different regimes are inevi‐ tably tied to different nations, ethnicities and their respective languages, the 160 Mārtiņš Laizāns portrayal of changes to political regimes through the gastronomical, however phantasmagorical, point to a reality beyond just the food on the table. To paraphrase an expression from the German linguist Viktor Klemperer, Mock Faustus shows how the Linguae Triorum Imperiorum (Republic of Latvia, Soviet Union, Imperium Tertium - all the regimes portrayed in the novel) change the multilingual setup of Latvia, and as a fictional cookbook, these changes are shown most vividly by gastronomical imagery. Anyhow, the only real and significant conclusion one can ever make when researching food in literature and culture is Mahlzeit! Bibliography Barthes, Roland (1961). Pour une psycho-sociologie de l’alimentation contemporaine. Annales. 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Konzepte wie Nationalliteratur, literarisches Feld, literaturwissenschaftliche Forschung und deren Institutionalisierung in Nationalbzw. zumindest ein‐ sprachigen Philologien stoßen bei einer prinzipiell mehrsprachig gedachten Literatur schnell an ihre Grenzen. Der Aufsatz diskutiert in einem zweiten Teil anhand der Aspekte Literaturpreise, Literaturwissenschaft und Zugang zum literarischen Feld die Probleme, die dies mit sich bringt - es sind oft konkrete Auswirkungen auf Individuen, denen zum Beispiel der Zugang zum literarischen Feld verwehrt wird. Keywords: Barbi Marković; literarische Mehrsprachigkeit; literarisches Feld; Literaturpreise; Grenzüberschreitungen 1 Teile dieses Artikels stellen eine stark überarbeitete Fassung von Vlasta (2020) dar. 2 Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer verwenden dafür den Begriff der Exophonie (vgl. 2007). 1 Einleitung 1 In der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung setzt sich immer mehr die Ansicht durch, dass Literatur an sich mehrsprachig sei, egal ob diese Mehrsprachigkeit sich innerhalb einer Sprache findet, wie in Michail Bachtins (1985) Konzept der Polyphonie und dem Konzept der Anderssprachigkeit von Literatur mit Bezug auf Viktor Šklovskij (1973; vgl. Arndt/ Naguschewski/ Stock‐ hammer 2007) 2 oder ob sie (auch) traditionelle Sprachgrenzen überschreitet, wie zum Beispiel in Rainier Grutmans (1997) Modell des hétérolinguisme. Till Dembeck (2017b) hat sogar eine Philologie der Mehrsprachigkeit eingefordert, die der Mehrsprachigkeit der Literatur(en) auch auf literaturwissenschaftlicher Ebene Rechnung trägt. Solche Ansätze von literarischer Mehrsprachigkeit haben nicht zuletzt großes politisches Potential bzw. sie stellen uns auf ver‐ schiedenen Ebenen vor politische Herausforderungen, die sich zu Zeiten eines „monolingual paradigm“ (Yildiz 2012) nicht ergeben. Wenn wir Literatur prinzi‐ piell mehrsprachig denken, stoßen Konzepte wie Nationalliteratur, literarisches Feld, literaturwissenschaftliche Forschung und deren Institutionalisierung in Nationalbzw. zumindest einsprachigen Philologien schnell an ihre Grenzen. Im Gegensatz dazu zeichnen sich mehrsprachige Texte oft durch Prozesse von Grenzüberschreitung aus: in sprachlicher, medialer, formaler sowie kultureller Hinsicht. Einem mehrsprachigen Konzept von Literatur wohnt damit großes politisches Potential inne, das Herausforderungen und Probleme mit sich bringt, die ich im Folgenden ausloten möchte. Als Grundlage dafür diskutiere ich im ersten Teil Begriffe und Konzepte sowie Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit anhand eines Textbeispiels - Barbi Marković’ Roman Super‐ heldinnen (2016). Schließlich thematisiere ich konkrete Herausforderungen literarischer Mehrsprachigkeit und bespreche anhand von Literaturpreisen, dem Zugang zum literarischen Feld und der Literaturwissenschaft beispielhaft die Grenzen der (einsprachig ausgerichteten) Institutionen, wobei ich gleichzeitig das politische Potential und die Möglichkeiten zur Veränderung mitdenke. 2 Mehrsprachige Autorinnen und Autoren - Barbi Marković Literarische Mehrsprachigkeit kann verschiedene Formen und diverse Funktio‐ nen haben, wie ich im Folgenden anhand der Autorin Barbi Marković und ihrer Texte zeige. Marković, geboren 1980 in Belgrad, 2006 zum Germanistikstudium 166 Sandra Vlasta nach Wien übersiedelt, wo sie auch heute lebt, schreibt in verschiedenen Sprachen: vor allem auf Serbisch und Deutsch, in ihren Texten finden sich aber auch englische und italienische Elemente und die Figuren in ihrem 2014 uraufgeführten Theaterstück InBetween sprechen Deutsch und Türkisch. Sie kann deshalb mit Steven G. Kellman (2000) als translinguale Autorin bezeichnet werden, d. h. als eine Schriftstellerin, die in einer Sprache, die nicht ihre Erst‐ sprache ist, schreibt (und zudem in mehreren Sprachen). Der Begriff literarische Mehrsprachigkeit kann sich dementsprechend auf die Literatur mehrsprachiger Autorinnen und Autoren beziehen. Beispiele dafür gibt es viele, von Adelbert von Chamisso über Joseph Conrad, Vladimir Nabokov, Elias Canetti und Joseph Brodsky bis zu zeitgenössischen Autorinnen und Autoren wie dem japanisch-britischen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, der deutsch-türkischen Autorin Emine Sevgi Özdamar oder der somalisch-italienischen Schriftstellerin Igiaba Scego. „Mühsam, aber möglich und auch schön“, so beschreibt Barbi Marković (2020: 195) das Schreiben von Literatur in anderen Sprachen. Trotz der Mühen hat sich die Autorin mit ihren Texten von Beginn an über Sprachgrenzen hinweg bewegt, erstmals mit ihrer serbischen Adaption von Thomas Bernhards Gehen (1971), die 2006 unter dem Titel Izlaženje [Ausgehen] erschienen ist, und, neben zahlreichen kleineren Publikationen, zuletzt in ihrem 2016 auf Deutsch erschienenen Roman Superheldinnen. Izlaženje - eine von der Erzählinstanz selbst als Remix bezeichnete Version des ursprünglichen Texts von Bernhard, den Marković in die Belgrader Clubbing Szene übertragen hat und dessen Protagonistinnen junge Frauen (statt älterer Herren) sind - fand schnell den Weg in die deutschsprachige Literatur: 2009 wurde die deutsche Übersetzung von Mascha Dabić unter dem Titel Ausgehen beim renommierten Suhrkamp Verlag veröffentlicht, dem Verlag, bei dem auch Thomas Bernhards Werke erscheinen. Marković hat für diese Adaption bzw. deren Übersetzung große Aufmerksamkeit von der Literaturkritik erhalten. Der zuletzt von Barbi Marković publizierte Roman Superheldinnen ist auf Deutsch erschienen, und zwar beim österreichischen Residenz Verlag. Das Buch handelt von drei jungen Frauen - Mascha, Direktorka und die Ich-Erzählerin -, die bei samstäglichen Arbeitstreffen im Café Sette Fontane in Wien, „der Stadt unserer Wahl“ (7), ihre Superkräfte koordinieren und deren Wirkung auf folgende Weise vorausplanen: In einer gemeinsam verfassten wöchentlichen Kolumne in der Wochenzeitschrift Astroblick bitten sie ihre Leserinnen und Leser um die zeitgleiche (z. B. am Mittwoch um 18 Uhr) Konzentration auf eine Person in schwierigen Lebensumständen, um diese aber eigentlich mit den auf diese Weise verstärkten „dark[en]“ Kräften des „Blitz[es] des Schicksals“ und 167 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute der „Auslöschung“ (21) aus dem Leben zu holen - und zwar komplett: Von den Personen bleibt keine Spur mehr, niemand kann sich an sie erinnern. Der Text erzählt von einem dieser Treffen, das gleichzeitig das letzte darstellt, bevor die drei bei einem Casino-Besuch, wiederum dank des Einsatzes ihrer Superkräfte, viel Geld gewinnen und damit endlich auch finanziell den ersehnten Aufstieg in die bürgerliche Mittelschicht schaffen. Mit diesem Buch, das neben Wien auch in Belgrad, Berlin und Sarajevo angesiedelt ist, hat sich die junge Autorin einerseits ein weiteres Mal in die deutschsprachige Literatur eingeschrieben. Andererseits ist der Roman teilweise auf Deutsch und teilweise auf Serbisch entstanden (die Übersetzung der serbischen Teile hat wiederum Mascha Dabić übernommen), und der Text kann damit als Fortsetzung von Marković’ mehrsprachigem Schreiben gesehen werden. 3 Barbi Marković’ Roman Superheldinnen als mehrsprachiger Text Marković’ Roman Superheldinnen zeichnet sich auf mehreren Ebenen durch Mehrsprachigkeit aus: Neben der Autorin sind auch die Figuren einschließlich der Ich-Erzählerin sowie der weiteren, nicht näher spezifizierten Erzählinstanz, die sich in einigen Kapiteln findet, mehrsprachig, außerdem gibt es auf der Ebene des Textes Beispiele für manifeste sowie für latente Mehrsprachigkeit, was nicht zuletzt mit der Technik der Montage zusammenhängt, mit der Marković arbeitet. Ich übernehme die Unterscheidung zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit von Giulia Radaelli (2011 und 2014), die damit tatsächlich auf der Textoberfläche wahrnehmbare Mehrsprachigkeit (manifest) von nur angedeuteter (latent) differenziert. Mit Bezug auf Radaelli definiert Dembeck manifeste Mehrsprachigkeit als eine Form der Mehrsprachigkeit, die als tat‐ sächlicher Sprachwechsel zwischen „einander wechselseitig intransparenten Idiomen“ (2017a: 150) im Text sichtbar wird. Die manifeste Mehrsprachigkeit entspricht damit dem linguistischen Begriff des code-switching. Bei der latenten Mehrsprachigkeit wird hingegen z. B. durch Hinweise wie ‚sagte er auf Englisch‘ deutlich, dass in der Figurenrede gerade in einer anderen Sprache gesprochen wird als jener, in der das Gespräch im Text wiedergegeben wird. Auch z. B. Textstellen, die im Rahmen der Diegese offensichtlich in anderen Sprachen verfasst sind (z. B. ein fremdsprachiger Brief, diverse Aufschriften, die einem auf Reisen begegnen), aber in der Hauptsprache des Textes wiedergegeben werden, sind Beispiele für latente Mehrsprachigkeit. Ferner ist der Roman Superheldinnen, ebenfalls auf verschiedenen Ebenen, von Übersetzungsvorgängen gekennzeichnet, wie ich im Weiteren ausführe. 168 Sandra Vlasta Die drei Hauptfiguren Mascha, Direktorka und die Ich-Erzählerin sind mehr‐ sprachig, was zu Beginn des Romans nicht zuletzt durch ihre Herkunft deutlich gemacht wird: „An sich war unsere Geschichte klassisch. Wir drei waren aus den Hauptstädten ärmerer benachbarter Länder hierhergezogen [d. i. nach Wien] und hielten uns nach Kräften über Wasser […]“ (34). Deutsch sprechen zumindest zwei der drei mit Akzent: „Direktorka und ich waren mit einem bereits fertig ausgebildeten Sprechapparat nach Österreich gekommen, und so stand unser ausländischer Akzent einem normalen Leben im Wege, denn fast jede zufällige Bekanntschaft führte unweigerlich zu einem Gespräch über unsere Herkunft.“ (34) Während Mascha trotz ihres ‚Migrationshintergrundes‘ ein „normales Leben“ führen kann, ist das Sprechen mit Akzent für Direktorka und die Ich-Erzählerin eine tägliche Hürde: Immer wieder werden sie auf ihre Herkunft reduziert und Gespräche konzentrieren sich auf diesen Aspekt. Es liegt nahe, dass ihre Anderssprachigkeit mit ein Grund für ihr ökonomisch prekäres Leben ist - wegen ihrer Anderssprachigkeit stoßen die Protagonistin‐ nen an eine ausschließende gesellschaftliche Grenze. Die Mehrsprachigkeit der Protagonistinnen gibt auf diese Weise Anlass zur Reflektion über Sprache, Mehrsprachigkeit, Sprechen und Leben - sie stellt damit eine Form der litera‐ rischen Mehrsprachigkeit dar, die ich als Metamehrsprachigkeit bezeichnen möchte (vgl. Vlasta 2019a). Aus diesen metamehrsprachigen Hinweisen ergeben sich Verweise auf ver‐ schiedene Konzepte von Ein- und Mehrsprachigkeit. So wird Mehrsprachigkeit im Roman außerhalb der samstäglichen Arbeitstreffen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, im Sinne des „monolingual paradigm“ dargestellt, wie Yasemin Yildiz (2012) jene Einsprachigkeitsnorm bezeichnet hat, die aus ihrer Sicht ab dem 18. Jahrhundert im Rahmen der Ausbildung nationaler Sprachen, Kulturen und Nationalstaaten propagiert wurde. Die Idee, dass man sich nur in seiner Erstsprache, der ‚Muttersprache‘, gut, korrekt und tatsächlich ausdrü‐ cken könne, verweist jedes Sprechen in Fremdsprachen auf eine Position mit geringerer Kompetenz. ‚Muttersprache‘ wird damit zu einem Konzept, das im Rahmen des monolingual paradigm eine nicht zuletzt ausschließende Wirkung entfaltet. Selbst wenn die beiden Protagonistinnen „fertig ausgebildet“ (eine Aussage, die sich schlussendlich nicht nur auf den Sprechapparat bezieht) nach Öster‐ reich kommen, so stehen die Wahrnehmung des Akzents und die Reaktionen darauf jeder Anerkennung dieser Ausbildung im Wege. Diese Aussage kann implizit auch als Kommentar über die Autorin und ihr Schreiben bzw. deren Möglichkeiten und Rezeption im deutschsprachigen Feld gelesen werden, denn schließlich steht das monolingual paradigm auch für eine Vorstellung von 169 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute 3 Vgl. dazu auch Gramling 2016. Literatur in der ‚Muttersprache‘, für die Idee, dass man nur in einer, der ‚eigenen Sprache’ schreiben und auch nur in diese eine Sprache übersetzen könne. Nicht zuletzt ist Steven G. Kellmans Idee einer „translingual imagination“ (2000) als Gegenreaktion auf solche Vorstellungen zu verstehen, genauso wie das aktuelle generelle literaturwissenschaftliche Interesse an literarischer Mehrsprachigkeit. Letzteres wird jedoch gleichzeitig auf gespenstische Weise, wie es David Gram‐ ling bezeichnet, von einem „einsprachigen Über-Ich“ begleitet, das immer noch als Norm fungiert, wenngleich es „den alltäglichen Erfahrungen, Repertoires, Referenzen und Praxen der mehrsprachigen Welt kaum Rechnung trägt“ (2017: 37). Allerdings, wie David Martyn festhält, „mehren sich [inzwischen] die Zeichen einer perspektivischen Umkehrung: Nicht die mehrsprachige Literatur ist das Sonderphänomen, sondern die einsprachige.“ (2014: 40) 3 Wie viele andere Autorinnen und Autoren schreibt Barbi Marković mit ihren Texten gegen Vorstellungen von literarischer Einsprachigkeit an und legt dabei gleichzeitig offen, welche Hindernisse und Hürden Mehrsprachigkeit (in der Literatur, aber auch in der Lebenswelt z. B. in Form eines Akzents) mit sich bringt. Neben den mehrsprachigen Figuren finden sich auf der Textoberfläche For‐ men manifester Mehrsprachigkeit. Im Falle von Superheldinnen ist der Großteil des Textes auf Deutsch wiedergegeben, Abweichungen davon in Form von Sprachwechsel und Sprachmischung sind ein Fall von manifester Mehrsprachig‐ keit. Diese tritt bei Marković vermischt mit Formen von Mehrsprachigkeit auf, die Rainier Grutman (1997) als hétérolinguisme bezeichnet hat: Dieses Konzept erweitert ein traditionelleres Verständnis von Zwei- oder Mehrsprachigkeit um Michail Bachtins Konzept der Polyphonie und bietet damit eine umfassendere Sicht von literarischer Mehrsprachigkeit, zu der auch soziale, regionale und historische Sprachvarianten, also Dialekte, Soziolekte und nichtstandardsprach‐ liche Varianten gezählt werden. Literatur wird in diesem Sinne grundsätzlich als mehrsprachig verstanden. Bei Marković sind zahlreiche Beispiele für Sprachwechsel und Sprachmi‐ schung zu finden, vor allem in den sogenannten „Städte-Texten“ (Preis 2016: 24), wie die Autorin diese Abschnitte selbst bezeichnet. Für diese Städte-Abschriften hat die Autorin Beschriftungen gesammelt, die im Stadtraum sichtbar sind: Wer‐ beaufschriften, Lokal- und Firmennamen, Verbote, Gebote, Ankündigungen, etc.: Da reihen sich Werbesprüche an private Mitteilungen, Liebesbotschaften an öffentliche Bekanntmachungen - eine Form der Montage, mit der Marković „Städte oder dieses Stadtgefühl allgemein“ abbilden und „das Gefühl der Stadt 170 Sandra Vlasta 4 In einem Interview gibt Barbi Marković an, dass sie Teile des Grazer Stadt-Schrift-Pro‐ jekts, für das sie während ihres Aufenthalts als Grazer Stadtschreiberin 2011/ 2012 insgesamt sechs Städte „abgeschrieben“ hat, für den Roman Superheldinnen verarbeitet hat (vgl. Preis 2016: 24). 5 Vgl. die Kapitel „#Wien“ (12-15), „#Sarajevo“ (107-114) und „#Belgrad“ (148-155). 6 „Hast du eine Zigarette? “ - Die Aufschrift findet sich auf Mülleimern in der Stadt und soll Raucherinnen und Raucher daran erinnern, ihre Zigarettenstummel dort zu entsorgen, anstatt sie auf den Boden zu werfen. ins Buch“ (Preis 2016: 24) übertragen möchte. 4 In Superheldinnen finden sich drei Abschnitte, die auf diese Weise den drei Städten Wien, Sarajevo und Belgrad gewidmet sind. 5 Außerdem gibt es im Teil 2, in dem die Ich-Erzählerin über ihre Zeit in Berlin (bzw. vor allem am Alexanderplatz) berichtet, montierte Textteile, die ebenfalls die Form von Städte-Texten haben. In diesen Abschnitten werden die Städte-Texte zum Teil mehrsprachig (im Sinne von Grutmans hétérolinguisme) wiedergegeben. So werden Aufschriften und Werbungen in Wien im Dialekt zitiert, wie „Host an Tschick? “ 6 (12, 15), das sich durch den Wien-Stadt-Text zieht. In Berlin wird die Speisekarte eines Fastfood-Restaurants wiedergegeben: „Whopper 3,69 € Double Whopper 4,69 € Big King 3,69 € Big King XXL 4,69 € X-tra Long Chilli Cheese 4,25 € […]“ (74). In Sarajevo ist es einerseits ebenfalls die Werbung, die anderssprachig ist - „Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! Coca-Cola, refresh yourself! “ (108) - andererseits sind es Namen von Schriftstellern, die im „Volksbefreiungskrieg“ (111), d. h. im Zweiten Weltkrieg, gefallen sind: „Kalmi Baruh, Zija Dizdarević, Ilija Grbić, Hasan Kikić, Jovan Kršić, Safet Krupić, Džemo Krvavac, Velimir Kovačević, Veselni Masleša, Vasilije Medan, Ognjen Priča, Huso Salčić, Marcel Šnajder, Branko Zagorac.“ (111-112) Im Fall von Sarajevo und Belgrad werden viele der Beschriftungen übersetzt und auf Deutsch wiedergegeben (d. h. es handelt sich mit Radaelli gesprochen um latente Mehrsprachigkeit), so z. B. „Du weißt, ich weiß, in Wirklichkeit weiß niemand! “ (150) oder „Lade deinen Freund ins Team ein und gewinn mit ihm gemeinsam einen Preis.“ (151) in Belgrad. Die Städte sind also einerseits von Mehrsprachigkeit gekennzeichnet, was auch an die LeserInnen weitergegeben wird. Andererseits werden die Städte mehrmals übersetzt: Vom öffentlichen Raum in den literarischen Text sowie ins Deutsche. Marković gelingt damit einerseits die beabsichtigte Übertragung des „Gefühl[s] der Stadt“ (Preis 2016: 24) in den Text, andererseits nähert sie die Städte einander sprachlich an und bringt sie den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern näher. In diesen Stadtbildern werden außerdem zeithistorische Ereignisse verhandelt, vor allem in den Abschnitten zu Sarajevo und Belgrad, in denen Bezüge zu den Jugosla‐ 171 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute 7 Ein weiteres Beispiel für latente Mehrsprachigkeit in Superheldinnen ist die Figurenrede, speziell jene der drei Protagonistinnen: die direkten Reden von Mascha, Direktorka und der Ich-Erzählerin werden im Roman durchgehend auf Deutsch wiedergegeben, genauso wie die Ich-Erzählung selbst. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt zu den Übersetzungsebenen im Roman. wienkriegen hergestellt werden und deren Hineinwirken in die Gegenwart thematisiert wird. So repräsentieren die oben zitierten Namen der gefallenen Schriftsteller nicht zuletzt die vergangene kulturelle und ethnische Vielfalt Jugoslawiens. In Belgrad hört man Stimmen aus der Kanalisation, die den Menschen zurufen „Mobilisierung für alle Serben! “ (150). Diese Formen von latenter Mehrsprachigkeit, in der andere Sprachen nicht an der Textoberfläche sichtbar werden, sondern nur implizit wahrzunehmen sind, sichern in Marković’ Roman nicht zuletzt die Rezeption der eingearbeiteten zeitgeschichtlichen Bezüge. 7 Allerdings ist die Unterscheidung zwischen manifester und latenter Mehr‐ sprachigkeit in den Texten von Barbi Marković bisweilen schwierig und kann in die Irre führen. Denn Deutsch ist zwar die in Superheldinnen auf der Textober‐ fläche vor allem sichtbare Sprache, jedoch basiert dieses Original teilweise auf einer Übersetzung, wie Marković in einem Interview erzählt: Ich habe mit dem ersten Teil auf Deutsch begonnen, wurde dann aber unsicher. Also habe ich den bestehenden Text auf Serbisch übersetzt und neu überarbeitet. Im Prozess bin ich aber draufgekommen, dass ich das Buch doch auf Deutsch brauche, weil ich hier lebe. Die Übersetzerin hat also begonnen, während ich noch weitergeschrieben habe. (Preis 2016: 24) Das Deutsche stellt damit nur bedingt die Grundsprache des Romans dar, viel eher basiert das Buch auf mehreren Übersetzungsprozessen (die nicht zuletzt dem Zielpublikum geschuldet sind bzw. dem literarischen Feld, in dem sich Marković weiter platzieren möchte oder muss). Diana Hitzke hat gezeigt, dass sich Schreiben und Übersetzung in Marković’ erstem Werk Izlaženje vermischen: Übersetzung wird „on its way to writing“ (2016: 442) dargestellt, die Übersetzerin (Hitzke meint hiermit Marković) wird, entgegen üblicher Konventionen (vgl. Venuti 1995; Schahadat 2016), sichtbar „as a writer who shifts between quoting (in translation), variation and adaptation (as writing)“ (Hitzke 2016: 442). Auch für Superheldinnen kann solch eine Vermischung von Schreiben und Übersetzung festgestellt werden, da die Autorin selbst übersetzt und ihre eigene Übersetzung überarbeitet sowie nach der Übersetzung durch Mascha Dabić „noch intensiv mit der deutschen Fassung“ (Preis 2016: 25) gearbeitet hat. Bemerkenswert und kennzeichnend für Marković’ Schreiben und Arbeitsweise 172 Sandra Vlasta 8 Mascha Dabić ist Übersetzerin und zugleich selbst Autorin, ihr erster Roman Reibungs‐ verluste, der sich bezeichnenderweise ebenfalls mit Übersetzung bzw. dem Dolmetschen auseinandersetzt und in dessen Zentrum eine Übersetzerin steht, ist 2017 erschienen. 9 Für ein Beispiel für translationale Literatur und ein Projekt des Schreibens durch Übersetzung vgl. Christine Ivanovic’ (2018) Analyse von Peter Waterhouses Die, should sea be fallen in (2013/ 15). ist das deutliche Sichtbarmachen der Übersetzerin. Mascha Dabić wird auf dem Titelblatt als Übersetzerin genannt, auch eine der Figuren trägt den Namen Mascha - hier wird augenzwinkernd eine Brücke zwischen der Textebene und der Übersetzung hergestellt -, zudem spricht Marković in Interviews über die Rolle der Übersetzung und der Übersetzerin im Entstehungsprozess ihres Romans, wie die oben angeführten Zitate zeigen. Dieses Sichtbarmachen hat eine doppelte symbolische Bedeutung, da nicht nur generell der Übersetzer oft unsichtbar ist, sondern insbesondere die Übersetzerin, denn, wie Jacques Derrida (1988: 152; vgl. auch Hitzke 2016: 441) hervorhebt, übernehmen oft Frauen die Aufgabe des Übersetzens. Stärker als konkrete Textteile, die übersetzt wurden, steht bei Marković die Figur der Übersetzerin im Vordergrund bzw. die Figuren, denn schließlich übersetzt auch die Autorin ihren Text - vom Deutschen ins Serbische, vom Serbischen ins Deutsche, vom Stadtbild in den Text und so weiter. 8 Mit diesem Sichtbarmachen und Offenlegen von Übersetzungsprozessen schreibt sich Marković in eine Form der Literatur ein, für die Übersetzung (und damit eine Arbeit mit, zwischen und über die Sprachen hinweg) eine grundle‐ gende Praxis ist und die Waïl S. Hassan als „translational literature“ (Hassan 2006 und 2016) bezeichnet hat. Dieses translationale Schreiben stellt Übersetzung als grundlegende Praxis von Kommunikation und kulturellem Transfer dar ohne selbst Übersetzung im klassischen Sinne zu sein: „Translational literature calls into question the implicitness of translation, by expressing the possibilities and limits, the intentions and the consequences of translation in a diverse spectrum of literary forms“, wie es Christine Ivanovic und Barbara Seidl formulieren (2016: 958-959). 9 Auf diese Weise wird Übersetzung zu einem wesentlichen Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit und translationale Literatur zu einer typischen Form mehrsprachigen Schreibens. Uljana Wolf bezeichnet dies als „translationale Poetik“ (2018), die translingual, das heißt zwischen den Sprachen angesiedelt ist. Die daraus hervorgehenden Texte sind durch ihre translationale Natur, durch ihre Bewegung zwischen und durch die Sprachen gleichzeitig prädestiniert für das Zirkulieren im Feld der Weltliteratur, zu der David Dam‐ rosch „all literary works that circulate beyond their culture of origin, either in translation or in their original language“ (2003: 4) zählt. Barbi Marković’ 173 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute Literatur hat auf diese Weise von Beginn an die Grenzen des deutschsprachigen literarischen Feldes überschritten. 4 Grenzen und Herausforderungen literarischer Mehrsprachigkeit Die Grenzen, die mehrsprachige Autorinnen und Autoren wie Barbi Marko‐ vić’ überschreiten, sind gleichzeitig konkrete Herausforderungen literarischer Mehrsprachigkeit, denn sie sind in Institutionen und Konzepten abgebildet und haben konkrete Auswirkungen auf das mehrsprachige Schreiben. Ich möchte dies nun anhand folgender Aspekte erörtern: Literaturpreise, der Zugang zum literarischen Feld und die Literaturwissenschaft. Im deutschsprachigen Raum gibt und gab es Literaturpreise, die sich gezielt an nicht-deutschsprachige bzw. zugewanderte Autoren und Autorinnen richten (vgl. dazu auch Sievers/ Vlasta 2018a und 2018b). Der bekannteste davon ist si‐ cher der in Deutschland vergebene Adelbert-von-Chamisso-Preis, mit dem „die Robert Bosch Stiftung herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist, [ehrt]. Die Preisträger verbindet zu‐ dem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache“ (Robert Bosch Stiftung o. J.). Dieser Preis wurde 2017 zum letzten Mal vergeben, mit dem Hinweis der Robert Bosch Stiftung, dass der Chamisso-Preis eine große Erfolgsgeschichte sei, die man nun guten Gewissens abschließen könne (vgl. Trojanow und Oliver 2016, die sich in einer Reaktion sehr kritisch zum Ende des Chamisso-Preises äußern). Als eine Art ‚Nachfolgerpreis‘ gibt es seit 2019 den in Dresden vergebenen Chamisso-Preis/ Hellerau, mit dem „her‐ ausragende Beiträge zur Gegenwartsliteratur von Autorinnen und Autoren, die aus ihrer je persönlichen Erfahrung eines Sprach- oder Kulturwechsels heraus neue, eigenständige literarische Antworten auf den Wandel unserer modernen, pluralen und globalisierten Welt zu geben vermögen“ (Chamisso-Preis/ Hellerau o. J.) ausgezeichnet werden. In Österreich gibt es parallel dazu seit 1997 den Lite‐ raturwettbewerb ‚schreiben zwischen den kulturen‘ der edition exil (vgl. Böckel 2011; Pellegrino 2018; Schwaiger 2016). Er ist gedacht zur Förderung der Litera‐ tur von Autorinnen und Autoren, die aus einer anderen Kultur und Erstsprache kommen und in deutscher Sprache schreiben. Für die Autorinnen und Autoren können diese Preise eine Möglichkeit sein, Sichtbarkeit im Literaturbetrieb zu erhalten und von Verlagen und dem Publikum wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig bedeuten diese Preise aber eine gewisse Nischenzuordnung, zum Beispiel zur ‚Migrationsliteratur‘ (vgl. Sievers 2016; Vlasta 2013). Darüber sind viele der Autoren und Autorinnen nicht sehr glücklich, denn sie sehen sich in erster Linie als Schriftsteller und Schriftstellerinnen und wollen ihre Werke als 174 Sandra Vlasta 10 Unter allgemeinen Literaturpreisen verstehe ich hier solche, die, anders als der Cha‐ misso-Preis oder jener der edition exil, nicht aufgrund biographischer Voraussetzungen vergeben werden, sondern auf Basis literarischer Texte oder des Schaffens einer Autorin oder eines Autors in seiner Gesamtheit. Literatur (und nicht als soziologische Texte über Migration) gelesen wissen. Die Schubladisierung als Migrationsautor oder -autorin hingegen stellt für viele eine Trennlinie dar, die sie von der eigentlichen deutschsprachigen Literatur abgrenzt (vgl. Disoski 2010; Schwarz 2008). Alternativ dazu, und das wäre eine mögliche Umsetzung des politischen Potentials der Grenzüberschreitung von mehrsprachiger Literatur, lässt sich eine Öffnung von allgemeinen Literaturpreisen denken. 10 Als gelungenes Beispiel dafür möchte ich den Ingeborg-Bachmann-Preis nennen, bei dem 2017 auch Barbi Marković auf Einladung von Klaus Kastberger teilnahm. In einem breiteren Kontext spielt dieser Preis bzw. Wettbewerb seit mittlerweile gut zwei Jahrzehnten eine wichtige Rolle bei der Einführung bzw. der ver‐ stärkten Sichtbarmachung anderssprachiger Autorinnen und Autoren in der deutschsprachigen Literatur. Es gibt einige Beispiele für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. die mehrsprachig sind und die beim Ingeborg-Bachmann-Preis teilgenommen haben: So hat 1991 die deutsch-türkische Autorin Emine Sevgi Özdamar den Preis gewonnen, was nicht zuletzt zu einer verstärkten Wahrnehmung von deutsch-türkischer Literatur durch das Publikum, die Kritik und die Literaturwissenschaft geführt hat (vgl. Sievers/ Vlasta 2018a; Vlasta 2019b: 152). 2012 hat die gebürtige Russin Olga Martynowa den Preis erhalten, 2013 die Ukrainerin Katja Petrowskaja. 2013 nahm außerdem der gebürtige Brasilianer Zé do Rock am Wettlesen in Klagenfurt teil. Im Jahr 2016 traten neben dem israelischen Autor Tomer Gardi, der wie Marković auf Einladung des Grazer Germanisten Klaus Kastberger dabei war, Marko Dinić (serbisch-österreichischer Autor) und Selim Özdogan (gebürtiger Türke) an. Die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2016 war mit Sharon Dodua Otoo aus Großbritannien ebenfalls eine Autorin, deren Erstsprache nicht Deutsch, sondern Englisch ist. Auch 2018 ging der Preis an eine Autorin mit anderer Erstsprache, an die gebürtige Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die bislang nur auf Ukrainisch publizierte. Der Preis hat somit für allgemeine Bekanntheit und Sichtbarkeit der einzelnen Autorinnen und Autoren gesorgt, aber auch für Aufmerksamkeit für anderssprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller generell im deutschsprachigen literarischen Feld; auf diese Weise wird hier das monolingual paradigm in der deutschsprachigen Literatur aufgelöst. 175 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute Ähnlich haben in den letzten Jahren auch der Deutsche sowie der Schweizer Buchpreis zu einer entsprechenden Öffnung des deutschsprachigen Literatur‐ betriebs beigetragen: Immer wieder wurden Werke mehrsprachiger Autorinnen und Autoren, die auf Deutsch schreiben oder, neben anderen Sprachen, auch auf Deutsch schreiben mit diesen Preisen ausgezeichnet, wie z. B. kürzlich Saša Stanišić (2019), aber auch Terezia Mora (2013) und Melinda Nadj Abonji, die im Jahr 2010 sogar sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhielt. Diese Öffnung, die zum Beispiel durch Literaturpreise bewirkt werden kann, ist wichtig, denn der Zugang zum literarischen Feld ist für anderssprachige Autorinnen und Autoren zum Teil äußerst schwierig, wie sie selbst erzählen (vgl. den Interviewband Sievers/ Englerth/ Schwaiger 2017). So sagt zum Beispiel Tomer Gardi in einem aktuellen Interview, dass viele deutsche Verlage seinen in einer experimentellen, von Berliner Jugendslang und dem Deutsch der Einwanderer geprägten Sprache geschriebenen Roman broken german (2016) nicht drucken wollten. Erst der kleine Grazer Verlag Droschl, spezialisiert auf anspruchsvolle, ästhetisch innovative Literatur und situiert an der Peripherie des deutschsprachigen Raums, sei dazu bereit gewesen, so Gardi (vgl. Gardi/ Vlasta 2020: 218). Auch die Diskussion, die seinem Auftritt beim Ingeborg-Bach‐ mann-Preis folgte, kreiste unter anderem um die Frage, ob die Bedingung für die Teilnahme an einem Literaturwettbewerb nicht die Sprachkompetenz sein müsste und ob Gardi, der das titelgebende broken German nicht nur schreibt, sondern auch spricht, damit überhaupt teilnahmeberechtigt sei (vgl. Vlasta 2019b und Zusammenfassung Jurydiskussion Tomer Gardi 2016). Der als Kind von Russland nach Österreich eingewanderte Autor Vladimir Vertlib schreibt in einem Essay davon, wie seine ersten Texte von einer Lektorin sprachlich kritisiert wurden: „Regina [d. i. die Lektorin] bemängelte nicht nur den Inhalt meiner Geschichte, sondern vor allem die zahlreichen ‚sprachlichen Freiheiten‘, die ich mir bezüglich Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion und Idioma‐ tik erlaubt hatte“ (Vertlib 2012: 30). Sharon Dodua Otoo schließlich hat in ihrer Eröffnungsrede des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2020 einen respektvollen und zugleich freieren Umgang mit „unserer gemeinsamen deutschen Sprache“ eingefordert, der „souveräne Aushandlungsprozesse“ (Otoo 2020: 13) zulasse. Ihr Vorschlag gründet auf persönlichen Erlebnissen: Leider wird […] in den überwiegend weißen deutschsprachigen Redaktionen - progressiv wie konservativ - noch immer zu eng am Duden festgehalten. Viel zu oft habe ich die ärgerliche Erfahrung gemacht, dass ein Text von mir im Lektorat ‚korrigiert‘ und veröffentlicht wurde, obwohl ich mit meiner gewählten Schreibweise etwas ganz anderes hatte ausdrücken wollen. (Otoo 2020: 13 f.) 176 Sandra Vlasta Diese Aussagen zeigen, dass der deutschsprachige Literaturbetrieb durchaus noch vom monolingual paradigm geprägt ist und die Vorstellung einer deutsch‐ sprachigen Literatur als einer von deutsch(erst)sprachigen Autorinnen und Autorinnen geschriebenen, erst noch zu überwinden ist. Mehrsprachigkeit und Anderssprachigkeit führen in diesen Fällen zu Ausgrenzung bzw. lassen die betroffenen Autorinnen und Autoren die Grenzen des Literaturbetriebs deutlich spüren. Dass das nicht immer so war und zudem in verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten unterschiedlich ausgeprägt ist, wurde in jüngsten Untersuchungen gezeigt. So hat das Forschungsprojekt Literature on the Move (www.litmove.oeaw.ac.at) für den österreichischen Kontext gezeigt, dass anderssprachige Autoren wie Milo Dor oder György Sebestyén bis in die 1950er Jahre Zugang zum literarischen Feld hatten, ohne dass sie eine Ausgrenzung aufgrund ihrer Erstsprache erfahren hätten (vgl. Sievers 2016). In Schweden hingegen wird Literatur in der jeweiligen Muttersprache der Migranten und Migrantinnen staatlich gefördert, was ein größeres Interesse auch von Seiten der Verlage schafft (Gröndahl/ Rantonen 2018: 24). Die Grenzen betreffen aber auch uns als Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler und die Institutionen, in denen wir tätig sind. Diese Institutionen sind nicht zuletzt in der nach Yildiz ideologisch einsprachig geprägten Periode im späten 18. und 19. Jahrhundert entstanden bzw. dienten dazu, die Idee einer Nationalliteratur, geschrieben in jeweils einer bestimmten Sprache, zu institutionalisieren und zu verfestigen. Germanistik, Anglistik, Italianistik, Polonistik etc. sind jeweils einzelnen Sprachen und den Literaturen in diesen Sprachen gewidmet und gehen damit auch von einer solchen prinzi‐ piellen Einsprachigkeit der Literaturen aus. Das führt zu blinden Flecken, wie zum Beispiel im Fall von Barbi Marković. So wurde ihre erste Erzählung Izlaženje (Ausgehen) - nicht zuletzt aufgrund der Vorlage des mittlerweile kanonischen Autors Thomas Bernhard - zwar vereinzelt von der Literaturwissenschaft rezipiert (und dabei auf die deutsche Übersetzung zurückgegriffen), doch dabei wurden vor allem die formalen Methoden von Marković’ Bernhard-Adaption untersucht (Müller-Funk 2010; Simonek 2015). Erst im Rahmen einer stärker für Fragen der Übersetzung und Mehrsprachigkeit sensibilisierten und kompa‐ ratistisch arbeitenden Literaturwissenschaft hat Diana Hitzke (2016: 426-427; vgl. auch Hitzke 2019) konsequent die drei Texte - Bernhards Gehen, Marković’ Izlaženje und dessen deutsche Übersetzung Ausgehen - parallel gelesen und damit jenes Feld von Adaption, Übersetzung und Zirkulation aufgezeigt, das sich zwischen den drei Texten eröffnet. In diesem Feld werden Fragen zum Verhältnis von Original und Übersetzung sowie zu den Ähnlichkeiten und 177 Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute Unterschieden zwischen Schreiben, Übersetzen und Adaption aufgeworfen, wie Hitzke in ihrem Beitrag analysiert. Diese Fragen sind aus meiner Sicht nicht nur in Izlaženje zentral, sondern bil‐ den generell einen Schwerpunkt im mehrsprachigen, transkulturellen Schreiben wie dem von Marković. Eine Vorgangsweise wie die von Hitzke gewählte ist ein Beispiel für eine Philologie der Mehrsprachigkeit, wie Till Dembeck (2017b) sie vorgeschlagen hat. Eine solche Philologie geht von der prinzipiellen Mehr‐ sprachigkeit von Literatur aus, stellt das monolingual paradigm also quasi auf den Kopf. Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler stoßen hier allerdings auf Grenzen - nicht zuletzt auf solche der eigenen sprachlichen Kompetenz. Letzterem kann aber bis zu einem gewissen Grad entgegengewirkt werden, z. B. in Form von Kollaborationen von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern mit verschiedenen Sprachkompetenzen. Schwieriger erscheinen mir die institutionellen Grenzen, in deren Rahmen derzeit Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit nur bedingt gefördert wird und zum Beispiel Qualifikationsschriften zum Thema zwischen den Fronten stehen. Hier treffen, wie im Literaturbetrieb, die einsprachigen in‐ stitutionellen Wurzeln auf eine Welt, die von mehrsprachigen Individuen, Erfahrungen und Praxen geprägt ist. Das Erscheinen des Handbuchs zu Literatur und Mehrsprachigkeit (Dembeck/ Parr 2017), die Gründung der vorliegenden wissenschaftlichen Buchreihe zum Thema (ebenfalls herausgegeben von Till Dembeck und Rolf Parr), und die Veranstaltung zahlreicher wissenschaftlicher Konferenzen haben die Sichtbarkeit des Phänomens und des Forschungsgebiets wesentlich erhöht und lassen auf eine stärkere Verankerung in der traditionellen Literaturwissenschaft hoffen, die dadurch womöglich gleichzeitig transformiert wird, wie das in Ansätzen schon im Literaturbetrieb passiert (vgl. Vlasta 2018). Wie genau und zu welchen institutionellen Formen von Literaturwissenschaft dies führen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Literaturverzeichnis Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockhammer, Robert (2007). Einleitung. Die Un‐ selbstverständlichkeit der Sprache. In: Arndt, Susan/ Naguschewski, Dirk/ Stockham‐ mer, Robert (Hrsg.) Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kadmos, 7-27. 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Eliots The Waste Land das Nebeneinander der Sprachen in Europa als Herausforderung für die Verständigung und fordert dazu auf, (Sprach-)Grenzen lernend und poetisch zu überwinden. Peter Waterhouses Prosperos Land übertrifft und dynamisiert dies noch einmal. Hier wird die Möglichkeit der sprachlichen wie auch nationalen Grenzziehung in Frage gestellt, was sich bereits in der ambivalent zweisprachigen, intertextuellen und mehrdeutigen Anlage des Titels andeutet. Keywords: Lyrik; Sprachdynamik; Mehrdeutigkeit; Mehrsprachigkeit; Ein‐ sprachigkeitsparadigma; Nationalsprache Da Mehrsprachigkeit Grenzen überschreitet und Mehrdeutigkeit dazu anregt, Wirklichkeiten zu hinterfragen, wohnt dem Zusammentreffen von Mehrspra‐ chigkeit und Mehrdeutigkeit in modernen und zeitgenössischen Gedichten eine politische Sprengkraft inne. Im Folgenden soll im Vergleich von Peter Water‐ houses Prosperos Land mit T. S. Eliots The Waste Land herausgearbeitet werden, wie Mehrsprachigkeit und Mehrdeutigkeit auf verschiedene Weisen Dynamik erzeugen können. In T. S. Eliots The Waste Land, das die mehrsprachige Situation in Europa problematisiert, zeigt sich zunächst die Schwierigkeit des statischen Nebeneinanders von Sprachen. Eliot zitiert ausgiebig aus der europäischen Literatur und lässt die originalsprachlichen Fragmente nebeneinander stehen. Eliots Gedicht unterliegt etwas, das ich als Mehrsprachigkeitsparadigma bezeichnen möchte. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um die Vor‐ stellung, dass Mehrsprachigkeit durch das Nebeneinander von Einzelsprachen entsteht. Der Begriff bezeichnet also in globaler Perspektive dasjenige, was Yildiz als „monolingual paradigm“ (Yildiz 2014: 2) beschreibt. Dieses Einspra‐ chigkeitsparadigma besteht in der Annahme, dass es der natürliche Zustand des Menschen sei, in Denken, Fühlen und Ausdruck an eine einzelne, nämlich seine Muttersprache, gebunden zu sein (vgl. Yildiz 2014: 6-9). Diese Strukturierung von Sprache dient dann der Konstruktion von Subjektidentitäten, Disziplinen, Institutionen und Kollektiven wie Kulturen und Nationen (vgl. Yildiz 2014: 2). Nach Gramling erzeugt diese Vorstellung allerdings nicht nur die Differenz von Mutter- und Fremdsprache, sondern auch ein globales Raster diskreter Spra‐ chen, welche beschreib- und benennbar sind und sich im Verhältnis zueinander definieren (vgl. Gramling 2016: 10 f.). Die Mehrsprachigkeit in The Waste Land setzt ganz ähnlich zunächst eine Reihe abgrenzbarer Einzelsprachen voraus, für die hier sogar prinzipielle Unübersetzbarkeit suggeriert wird. Zugleich jedoch regt The Waste Land seine Leser dazu an, Sprachen und Bedeutungen als gewissermaßen lose Einheiten jenseits vom Raster des Mehr‐ sprachigkeitsparadigmas in immer neue Konstellationen zu bringen. Das Ge‐ dicht fordert ein aktiv lernendes und einfühlendes Lesen jenseits der Ein‐ zelsprachen, und erzeugt durch unerwartete inhaltliche Verbindungen eine Dynamik zwischen den Sprachen. Im Vergleich zu The Waste Land überschreitet Peter Waterhouses Langgedicht Prosperos Land zwar viel müheloser Sprach‐ grenzen, macht jedoch gerade diesen Akt bedeutsam, indem er ihn poetisch fruchtbar gestaltet. Ohne die Idee der Sprachgrenzen könnte der Text nicht seine besondere Poetik des Magischen entfalten, die unten vorgestellt werden soll. Das Gedicht arbeitet dabei in seiner sprachlichen Beschaffenheit sowohl mit als auch gegen die Grenzziehungen des Mehrsprachigkeitsparadigmas. Seine Mehrdeutigkeit sorgt für variable Relationen zwischen den Sprachen, und die teilweise fließenden Übergänge üben eine Dynamisierung gegenüber den starren Rastern des Mehrsprachigkeitsparadigmas wie des Textes. Für dieses letztlich paradoxe Projekt wird nicht nur Shakespeares Magier Prospero heraufbeschworen, sondern insbesondere die Wandlungsfähigkeit einer mehr‐ sprachig-mehrdeutigen Sprache. Unter ihrem Einfluss werden Text und Land vergleichbar der zweisprachig lesbaren Zeichenfolge „Land“ zwischen Englisch und Deutsch, aber auch über Ländergrenzen hinweg und durch Grenzgebiete 184 Dinah Schöneich hindurch in Spannungen versetzt. Das derart dehnbare Sprachmaterial nutzt und verstärkt die Dynamik jeglicher Sprache: die Fähigkeit, in ihrem ständigen Wandel auch das Wechselspiel und Ineinandergreifen von vermeintlich unter‐ scheidbaren Einzelsprachen einzubeziehen. Als imaginativ angepeiltes oder evoziertes Gegenstück des Mehrsprachigkeitsparadigmas bildet sich eine Form des Sprachgebrauchs heraus, die durch Mehrsprachigkeit die Grenzziehungen des Mehrsprachigkeitsparadigmas überschreitet und sich in diesem Überschrei‐ ten als wandelbar zeigt. T. S. Eliots Gedicht The Waste Land wird als ein wesentlicher Begründungstext der lyrischen Moderne gehandelt. Das über 400 Verse umfassende Gedicht ist überwiegend englisch, macht aber auch derart exzessiv Gebrauch von Zitaten und Anspielungen in verschiedenen Sprachen und Soziolekten, dass Eliot selbst es mit versbezogenen Kommentaren veröffentlichte. Gerade die in irgendeiner Form ‚fremdsprachlichen‘ Verse und Äußerungen in The Waste Land sind zeichengetreue Zitate. Es ist fast immer möglich, wie in Eliots eigenen Anmerkungen zum Gedichttext, eine Quelle anzugeben. Dies erzeugt den von der Kritik bemerkten Eindruck eines „museum of verse forms” (Litz 1972: 459): kleine Textsegmente, die eine fremde Sprache, ein bestimmtes Gefühl und einen konkreten Text verkörpern, liegen unkommentiert nebenein‐ ander: London Bridge is falling down falling down falling down Poi s’ascose nel foco che gli affina Quando fiam ceu chelidon — O swallow swallow Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie (426-429) Im kommentarlosen Nebeneinander der Textfragmente spiegelt sich der Zu‐ stand eines relativistischen Einsprachigkeitsparadigmas. Yildiz beschreibt die‐ ses als Gegenstück zu einer universalistischen Konzeption, in der Sprachen als essentiell äquivalent und ineinander übertragbar vorgestellt werden. Die relati‐ vistische Sichtweise, die Yildiz auf Humboldt zurückführt, rückt demgegenüber die sprachliche Form in den Vordergrund, da sie wesentlich die Bedeutung be‐ einflusse. In einer Zuspitzung des relativistischen Einsprachigkeitsparadigmas würden demnach die verschiedenen Sprachen als unübersetzbar voneinander abgeschlossen gedacht (vgl. Yildiz 2014: 8). Die Sprach- und Zitatgrenzen Eliots produzieren nicht nur handliche Einheiten, in denen Sprache, Herkunft und Inhalt praktisch verschweißt sind. Mit Buckley lässt sich eine Verbindung ziehen von der Gefängnis-Metapher der letzten Zeilen des Gedichtes zu der Vorstellung des Solipsismus bei Frances Herbert Bradley, über dessen Philosophie Eliot promovierte. Bradley zufolge leben die Menschen in einer prinzipiellen Abge‐ 185 Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land schiedenheit voneinander in Bezug auf ihre Erfahrungen, woran die Sprache selbst Schuld trägt: ihre Begriffe gehören dem Bereich der intellektuellen Konzepte an und verfälschen die unmittelbare Erfahrung der Realität, die damit sprachlich nicht mitteilbar ist (vgl. Buckley 2017: 4). Demnach sind die Menschen Gefangene ihrer eigenen „world as it is understood by intellectual concepts“ (Buckley 2017: 4). Eliot wiederholt diese Vorstellung auf der Ebene von Einsprachigkeit und Unübersetzbarkeit: wer nur eine Sprache versteht, bleibt zunächst vom Verständnis ausgeschlossen, da die Verse nicht übersetzt werden. So gelesen bleiben die sprachlichen Einheiten von The Waste Land verschlossen und schotten die Menschen vom Verständnis und voneinander ab. In einer Rede über „The Social Function of Poetry“ gibt Eliot selbst zu bedenken, dass gerade Dichtung der höchstmögliche Grad an Unübersetzbarkeit zu eigen sei, und folgert daraus ihren Nationalismus: „Therefore no art is more stubbornly national than poetry.“ (Eliot 1957: 19) Die Schwierigkeit, Verbindungen zu ziehen, erzeugt den Eindruck einer Sinnlosigkeit des „Waste“ in The Waste Land. In der Forschung wird immer wieder in Kategorien des Mangels oder Verlustes von dem Gedicht gesprochen. Laut Gillum etwa beklagt das Gedicht einen „loss of intelligible meaning“ (2010: 286). „Waste“ kann jedoch auch auf ‚Überfluss‘ verweisen, wie Davidson bemerkt: And this poem is wasteful in exactly this sense of excess, of plenitude beyond consumption. The Waste Land suggests too much, so that any attempt to define a meaning for the poem must necessarily waste multiple other meanings. (Davidson 1985: 1) Die sprachlichen Einheiten in The Waste Land gehen mehr Verbindungen untereinander und über die Textgrenzen hinaus ein, als in einer abgeschlossenen Kritik dargestellt werden können. Betrachten wir die folgenden Verse, von denen der erste auf das Volkslied (den Kinderreim) „London Bridge“ verweist, und der zweite aus Dantes Purgatorio stammt: London Bridge is falling down falling down falling down Poi s’ascose nel foco che gli affina (426 f.) Im zweiten Vers geht es um Arnaut Daniel, einen okzitanischen Dichter. Kurz zuvor wurde Daniel in der Divina Commedia als „miglior fabbro del parlar materno“ (Purgatorio XXVI 117) bezeichnet, und auch wenn er offenbar um das Fegefeuer nicht herumkommt, ehrt Dante hier diesen dialektalen Dichter. Nicht nur die Widmung „For Ezra Pound/ il miglior fabbro“, die Eliot seinem Gedicht nachträglich hinzufügte (vgl. Parker 1997), sondern auch diese sprachgetreu 186 Dinah Schöneich 1 Ob dieses Beispiel repräsentativ oder ein zitierfähiges Original ist, ist unerheblich für meine Überlegungen. Mir scheint gerade die Tatsache interessant, dass The Waste Land ein Zitat Dantes mit dieser flexiblen mündlich-spielerischen Tradition verbindet. Das Lied taucht in diversen Formen auf, es ist sprach- und kulturübergreifend verbreitet. Dabei sind häufig einstürzende Brücken das verbindende Element, aber selbst diese können wegfallen (vgl. Opie/ Opie 1985: 65-67). italienische Wiederholung der Worte Dantes zeugen davon, dass Eliot sich vor der Einführung der gesprochenen Sprachen in die geschriebene Literatur verneigt, ebenso wie vor Dante, dem dieses Verdienst für das Italienische zugeschrieben wird. Auch der Gebrauch von slang und Volkslied in The Waste Land bringt Sprachmaterial aus mündlichen kulturellen Praktiken zur Geltung. Damit stellt sich das Gedicht gegen eine Tradition, die nur die gedruckten „great authors“ (Whitworth 1998: 54) als zitierbar behandelt (vgl. Thormählen 1978: 41). Die Gegenüberstellung von Dante und Kinderreim wird zum Ausdruck einer Sprachkritik, welche Zitierbarkeit, Dauer und Wert sprachlichen Materials hinterfragt. Die sehr variable Tradition des London-Bridge-Liedes spielt die Unmöglich‐ keit durch, ein Material zu finden, welches für eine neue London Bridge geeignet wäre. Ein Ausschnitt eines Beispiels für den Text zeigt beispielhaft das charakteristische Auflisten von Materialien, wobei keines den Anforderungen der „fair lady“ genügt: Iron and steel will rust away, Rust away, rust away, Iron and steel will rust away, My fair lady. […] Bricks and clay will wash away, Wash away, wash away. Bricks and clay will wash away, My fair lady. (Opie/ Opie 1985: 61-62) 1 Im Kontext von The Waste Land drückt der Kinderreim das ‚waste‘-Potential oder die Nutzlosigkeit allen Sprachmaterials aus, mit dem der Dichter ans Werk geht, um Werke von dauerhafter Schönheit und Wert zu schaffen. In diesem übertragenen Sinne stellen sich alle verfügbaren Worte als ‚waste‘ heraus, da sie kaum nützen, um Werke von dauerhafter Schönheit und Wert zu schaffen, geschweige denn um eine Brücke der Verständigung zu bauen. Dadurch kommentieren sich die beiden Prätexte innerhalb von The Waste Land gegenseitig. Denn zusätzlich zu ihrer verschiedenen Nationalsprachigkeit 187 Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land und Gattung divergieren sie gerade in diesem Punkt: der durch Kursivdruck hervorgehobene Dante ist zitierbar (geworden), die mündliche Überlieferungst‐ radition hingegen ist unfixierbar. In der Tat verweist bereits Dante auf diese Abhängigkeit der Volksliedtradition von der Mode und knüpft ihre Dauer an den Gebrauch und Verfall der Sprachen. Das Lied gefällt so lange, wie seine Sprachen gesprochen werden: „quanto durerà l’uso moderno“ (Purgatorio XXVI 113). Jedes Fragment von The Waste Land tritt potentiell mit jedem anderen in solche Verbindungen: das Volkslied verbindet sich, um nur wenige Beispiele zu nennen, mit dem Unterschichts-Soziolekt, mit den provenzalischen Dichtern und mit der von Dante entlehnten Widmung an Ezra Pound. In diesen Verbin‐ dungen entsteht ein Land der Dichte und der Interaktion, oder mit Pinkney (vgl. 1994) im Sinne von Bachtin eine endlose Reihe von dialogischen Situationen. Um die schillernde Eigenheit und Neuartigkeit des dialogischen ‚Waste Land‘ zu visualisieren, können die beiden besprochenen Zeilen aneinandergefügt gelesen werden. Es lässt sich mehr oder weniger grammatisch korrekt (sofern man das bei der Zweisprachigkeit überhaupt bestimmen kann, denn man müsste ja ein entsprechend zweisprachiges Regelwerk zugrundelegen) eine zusammen‐ hängende Erzählung lesen mit einer finsteren Vision von einer Brücke, die zahllose Soldaten des Weltkrieges, Dichter, Sünder und Londoner mit sich reißend bricht und direkt in das Fegefeuer stürzt. „London Bridge is falling down falling down falling down/ Poi s’ascose nel foco che gli affina“ (426 f.) liest sich dann etwa wie: ‚Die Londoner Brücke stürzt hinab (und) taucht ein in das Feuer, das verbessert‘. Dabei nimmt das italienische ‚s’ascondere‘ die zwei Bedeutungskomponenten des ‚Versteckens‘ und des ‚Ein-‘ oder ‚Untertauchens‘ an. Der Ort des Schauspiels - London - wird mit dem Fegefeuer überblendet, Feuer und Wasser spiegeln einander, und das Objekt der Aussage verwandelt sich in ein Kippbild aus „London Bridge“ und Sünder. Die beiden Sprachen ergänzen sich ohne zu verschmelzen zu einem neuen, katastrophischen und ambivalenten Grundgefühl. Somit initiiert The Waste Land trotz aller negativen Vorzeichen sprach- und kulturverbindende Verständigung, überlässt das Herstellen der Verbindungen aber zugleich in hohem Maße seinen engagierten Lesern: The spiritual communication between people and people cannot be carried on without the individuals who take the trouble to learn at least one foreign language as well as one can learn any language but one’s own, and who consequently are able, at a greater or less degree, to feel in another language as well as in their own. (Eliot 1957: 23) 188 Dinah Schöneich Die enge Verknüpfung von Gefühl und Sprache zeigt auf, dass Eliot beeinflusst ist vom Phänomen der ‚Muttersprache‘, das Yildiz beschreibt als einen Ver‐ such „to obscure the possibility that languages other than the first or even primary one can take on emotional meaning“ (Yildiz 2014: 13). Abweichend von einem solchen konservativen Einsprachigkeitsparadigma jedoch spricht Eliot von der Möglichkeit zu lernen. Für ihn ist „poetry […] the vehicle of feeling“ (vgl. Eliot 1957: 19), Dichtung kann also Gefühl vermitteln und dadurch vermag sie insbesondere interkulturelle Verständigung zu ermöglichen. Europäische Kultur ist für Eliot durch die Notwendigkeit des aktiven Lernens und des sich-Einfühlens in eine je andere Welt geprägt. Dies ist offenbar die primäre Funktion von Dichtung und zugleich ihre Herausforderung vor dem Hintergrund eines relativistischen Mehrsprachigkeitsparadigmas, welches zumindest für die europäischen Kulturen Unübersetzbarkeit und Solipsismus annimmt. Aus diesem Spannungsverhältnis von Mehrsprachigkeitsparadigma einerseits und Dynamik interkultureller Verständigung andererseits entsteht der fragmentarische Charakter von The Waste Land, aber auch die exponentiell vielen potentiellen Verknüpfungen, das Dialogische, die Aufforderung zur Annäherung an ‚andere Welten‘, sowie die Fülle an Bildungsmaterial im Gedicht in Form von Anspielungen, Zitaten und Kommentaren, die zum Nachvollziehen, Lesen und Entdecken einladen. Im Folgenden ist nun zu fragen, wie ein Gedicht aussehen kann, das diese Herausforderung entschärft und doch weitergehend produktiv macht, weil sein Sprachverständnis die vermeintlichen Grenzen tendenziell verwischt und seinen Lesern mit einer stärkeren Eigendynamik des Sprachlichen entgegen‐ kommt. Peter Waterhouses Prosperos Land wurde knapp 80 Jahre später, 2001, veröf‐ fentlicht. Das 200 Seiten lange, mehrsprachige, aber überwiegend deutsche Gedicht erscheint in Form von Einheiten, deren Form lose an das fernöstliche Haiku angelegt ist, so dass bereits eine weitergehende Reise angedeutet wird. Innerhalb Europas beschreibt Prosperos Land von Dialekten und Mehrspra‐ chigkeit gekennzeichnete Regionen, die eigentlich kein „Land“ sind, sondern Küstengebiet, Flusstal und grenzüberlappende Gegend, nämlich das südöster‐ reichische Jauntal, das teils in Italien, teils in Slowenien liegende Friaul, und die italienische Hafengegend in Venedig. Dementsprechend verflüssigen sich die Grenzziehungen, die in The Waste Land noch unüberwindlich erscheinen. Die Sprache selbst erweist sich als wandlungsfähig, befremdlich und derart dehnbar, dass einzelne Zeichenfolgen zum ‚common ground‘ für verschiedene Sprachen werden können. 189 Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land Im direkten Vergleich zur Mehrsprachigkeit von The Waste Land fällt auf, dass Prosperos Land einen in seiner Sprachigkeit und Referenz mehrdeutigen Titel hat. Liest man den Titel als Anspielung auf Eliots Gründungswerk der lyrischen Moderne, bewirkt die Logik des Kontrasts, dass aus dem deutschsprachigen „Prosperos“ das englische ‚prosperous‘ wird, und somit das hier betrachtete Land zu einer Gegenwelt: blühend und lebendig, statt „[ö]dʼ und leer“ (Eliot 1922: 42). Sobald der Verdacht auf eine intertextuelle Anspielung etabliert ist, wird die Sprachigkeit dieses Titels ambig, also sein „Verhältnis […] zu spezifischen Idiomen (etwa vom Typ der ‚Nationalsprachen‘ oder ‚Dialekte‘)“, wie Stockhammer diesen Neologismus definiert (2017: 15), denn die Titelworte beginnen, je nach Intonation zwischen verschiedenen Sprachen zu changieren. Anstelle nebeneinanderstehender Sprachfragmente sind die zwei Sprachen hier in einer einzigen Zeichenfolge realisierbare Wahlmöglichkeiten. Kontextuell werden diese Wahlmöglichkeiten zudem in ein Gleichgewicht gebracht: Die Zeichenfolge „Land“ wird im Englischen und Deutschen nicht nur gleich ge‐ schrieben (in Titeln), sondern bedeutet auch Ähnliches, und Prospero als Name ist in jeder Sprache bekannt, die Shakespeares The Tempest kennt. Und während Prosperos Land wie ein Großteil von Waterhouses Werk zwar mehrsprachig, aber „vor allem auf Deutsch geschrieben“ (Radaelli 2014: 162) ist, führt die Assoziation von Eliots Text ebenso wie die von Shakespeare zum Englischen. Aus dem Gleichgewicht der intertextuell begründeten, sprachübergreifenden Mehrdeutigkeit kann das Gedicht seinen Frage-Charakter entwickeln. So wirft der ambige Titel anstelle einer Aussage über das porträtierte Land eine Frage über seinen Charakter auf: In welches Land trete ich hier ein? Eine ähnliche Frage stellt sich im Kapitel „Jauntal-Übersetzung“. Auch wenn das Jauntal sug‐ geriert, dass das Kapitel in Österreich verortet ist, kommt hier das slowenische Wort für ‚Dorf ‘ vor, „vás“, und assoziiert das in Venetien liegende Dorf Vas. Das Gedicht formuliert: „Ich werde eingetaucht/ in vás“? (Waterhouse 2001: 15) Das klangliche Überlagern von „vás“ mit dem deutschen Fragepronomen macht aus dieser Feststellung eine Frage und parallelisiert den Eintritt in das grenzübergreifende Dorf mit der Frage ‚in was gerate ich hier? ‘. Da die klangliche Mehrsprachigkeit beim Lesen als Mehrdeutigkeit erfahrbar und die Verortung des Geschehens infragestellt wird, entwickelt sich diese Frage auch zur Meta-Frage im Sinne von ‚in welche Welt werde ich als Leser hier hineingezogen? ‘ Sowohl im Englischen als auch im Deutschen wird „Land“ eng mit Besitztum konnotiert, und diese Assoziation provoziert auch der Genitiv in den verschie‐ denen Lesarten des Titels Prosperos Land. Im Mehrsprachigkeitsparadigma wird diese Vorstellung auf Sprache erweitert, indem zu einem Land unmittelbar 190 Dinah Schöneich eine durch Regelwerke der Grammatik und Wörterbücher kontrollierbare Nationalsprache gehört und umgekehrt das Durchsetzen einer kontrollierbaren Amtssprache eine Form der Machtergreifung darstellt. In The Tempest werden diese Zusammenhänge dadurch reflektiert, dass es die Worte Prosperos sind, genauer seine magischen Zaubersprüche, die ihm ermöglichen, die Schiffbrü‐ chigen auf seiner Insel zu beeinflussen und schließlich Mailand wieder für sich zu beanspruchen. In Prosperos Land hingegen werden die Zusammenhänge von Sprache und Macht bzw. Besitz verunsichert, da sich sowohl über die sprachliche Herkunft, als auch die räumliche Referenz der Worte streiten lässt. Dass die Sprachfragmente von The Waste Land in ihren sprachlichen Rahmen eingeschlossen bleiben, äußert sich in der buchstäblich korrekten Zitierweise Eliots. Waterhouse hingegen erreicht Effekte der Ambiguität durch Abweichun‐ gen im Detail, die Sprachregeln strapazieren ohne jedoch an Verständlichkeit einzubüßen. Feinste Abweichungen im Schriftbild erlauben den Worten, aus ihrem Kontext auszubrechen und Grenzen zu überschreiten. Nachdem das Land durch den Titel bereits assoziativ in den Besitz eines Zau‐ berers gerückt wurde, weist es bei genauerer Betrachtung magische Qualitäten auf, denn seine Elemente sind belebt und treten als Geister auf, die vielgestaltig sind. So vollzieht bereits die sprachübergreifende Umdeutung des Titels ins englische ‚prosperous land‘ eine Verwandlung: aus den Besitz-Konnotationen einer Nominativ-Genitiv-Verbindung wird die adjektivische Beschreibung der ‚lebenden‘, ‚blühenden‘ Qualitäten des Landes selbst. Als Shakespeares Prospero den Zauberkünsten abschwört, um in die Realität des Festlandes zurückzukehren, verspricht er auch, seinen Zauberstab zu zer‐ brechen und sein Buch tiefer zu versenken, als je ein Ton reichte (vgl. 5.1.56-57). Auf Ebene der poetischen Selbstreflexion beendet hier ein Schriftsteller seine Karriere: er zerbricht den Stift, schweigt still und schließt das Buch. Prosperos Rede beginnt mit einer Ansprache: „Ye elves of hills, brooks, standing lakes and groves“ (5.1.33). Diese Worte werden in Prosperos Land zitiert und verwandeln sich durch Enjambements in ein Kurzgedicht. Direkt hierauf folgt in gleicher Form, aber anderer Sprache, eine Anrufung an die Elemente des Landes: Ihr Anhöhen und Weglein und du Fischladen (Waterhouse 2001: 162) Die Verse beenden keineswegs das magisch-schriftstellerische Tun, wie die Shakespeare’sche Vorlage suggerieren könnte, sondern verwandeln ganz im Gegenteil die Elemente der dargestellten Landschaft in angerufene Geister und markieren den Beginn einiger Verse, welche die Landschaft sprachlich 191 Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land transformieren. Vielleicht hat Waterhouse beim Verfassen seines Textes an die vermutliche genealogische Nähe der Lyrik zum Zauberspruch gedacht (vgl. Schlaffer 2008: 26). Darüber hinaus ist Mehrsprachigkeit, wie Martín Arista in Bezug auf The Waste Land bemerkt, traditionell ein Kennzeichen für Zaubersprüche, in denen oft eine fremde Stimme spricht (vgl. Martín Arista 1989: 112). In jedem Fall erzeugt die nun zu beschreibende Anrufung in Prosperos Land anstelle eines „Waste Land“ einen „zauberhafte[n] Ort“ (Noël 2007: 202). Es passt ganz gut, dass das Deckblatt des Kapitels dieser Verse als Motto Shakespeares Prospero zitiert: „being transported/ And rapt in secret studies”. (1.2.76-77) Denn in Waterhouses Anrufung bekennt sich das lyrische Ich zu eben solchen Studien: Fischladen […] In einer geheimen Studie schau ich dich an […] Leuchtest nicht bist ein fast unsichtbarer Fischladen (Waterhouse 2001: 163 f.) Und tatsächlich scheinen die Anrufung und der magische Blick zu wirken, denn der hier beschworene Fischladen erscheint kurz darauf als verwandelter slowenischer Name: Ribanica wie in unaufgeklärter Frühe (Waterhouse 2001: 164) Das „Ribanica“ ist eine Schöpfung Waterhouses, ein vielgestaltiges Wort, insofern es sich leicht mit zwei bestimmten anderen Worten verwechseln lässt. Es imitiert die visuelle und etymologische Nähe des Namens einer Stadt in Süd-Slowenien (‚Ribnica‘) zu slowenisch ‚Ribarnica‘ (Fischladen). Das Leuchten des Fischladens verweist auf die Gründungslegende Ribnicas, derzufolge die Stadt auf dem Gelände eines Sees entstanden ist, den ein leuchtender Fisch bewohnt hat (vgl. „Legende Über Die Entstehung von Ribnica“). Die „unaufgeklärte […] Frühe“ verweist einerseits auf den Morgen, an dem das Licht des leuchtenden Fisches nicht aufzufinden ist, wodurch die Entstehung der Stadt ihren Lauf nimmt. Spä‐ testens durch das Auftauchen von Prosperos Tochter Miranda im wiederum direkt folgenden Dreizeiler, „Hier ist/ Miranda/ hier ist der Fischladen“ (Waterhouse 2001: 192 Dinah Schöneich 164), wird die „unaufgeklärte […] Frühe“ jedoch auch zu einem weiteren Verweis auf Shakespeare als Dichter der sogenannten ‚frühen Neuzeit‘. Diese Anspielungen auf Neu-Anfänge deuten auf eine wesentliche Eigen‐ schaft der Poetik des Magischen bei Waterhouse hin: eine vor allem klanglich begründete Zeugungskraft von Sprache. Waterhouses Fehlschreibungen und was Radaelli seine „Klangübersetzungen“ (Radaelli 2014: 178) nennt, können auf bereits existierende, etymologische oder mythologische Verbindungen „über Sprachgrenzen hinweg“ (ebd.) aufmerksam machen. Meist jedoch entsteht dabei auch eine zu einem neuen Wort wie „Ribanica“ gehörende, neue Verbindung, eine bedeutungsstiftende und -konkretisierende Zusammenstellung. In diesem Sinne nennt Prosperos Land an Stellen wie „Musik/ tauft mich“ (27) „[d]ie performative Äußerung par excellence“, das „Taufen und Benennen“ (Noël 2007: 231). Die Benennung kann gewissermaßen von einer musikalischen ‚Sprache der Landschaft‘ ausgehen: „Taufschalenrundung/ des Tals/ und die Klänge wech‐ seln“ (14), sie wirkt bidirektional: „Jeder/ tauft jeden“ (15), und sie bezieht den Betrachter mit ein: „Ich werde eingetaucht“ (15). Waterhouses Poetik zufolge begegnet dichterische Sprache uns wie Kindern, die dem noch-nicht-Bekannten im Klang eines Wortes lauschen und so über Sprache Neues entdecken, wobei das Neue vor allem Verbindungen sind. Dichterische Sprache, so Waterhouse, kann eine „realisierende Sprache“ sein (Waterhouse 1998: 35), ihr Klang hat eine „Namenskraft oder Hervorbringer‐ kraft“ (Waterhouse 1998: 42): Das Englische wurde wirksam unterhalb der deutschen Sprache, durchstieß diese, durchlautete sie, durchfremdete sie, durchsprach und durchflüsterte sie. So stelle ich mir den poetischen Satz (so es einen solchen gibt) vor als durchflüstert von einem anderen Satz, auch durchflüstert von falscher Übersetzung. Als ich schon etwas älter war und das Wort „Blendung“ kannte und ebenso das englische Wort „to blend“, da begannen die beiden Worte miteinander zu sprechen. (Waterhouse 1998: 33) In diesem ‚miteinander Sprechen‘ zeigt sich die Ähnlichkeit der poetischen Idee Waterhouses zu den Äußerungen Eliots, der die Kommunikation der Kulturen untereinander gefordert hat. Bei Waterhouse stehen die vermeintlich fremden Worte jedoch nicht mehr als durch Versgrenzen getrennte Zitate untereinander. Stattdessen werden Fehler im Sinne von kleinen Veränderungen, Missverständnissen und Fehlübersetzungen als poetische Mittel wirksam und stellen unerwartete Verbindungen her. Dabei wird das Einsprachigkeitspara‐ digma unter Verwendung von Mehrdeutigkeiten verwandelt: die Sprachigkeit der Worte wird veränderlich. Sie werden sich selbst fremd und erlauben da‐ durch, dass das Fremde das vermeintlich Eigene „durchflüstert“. Das Mehrspra‐ 193 Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste Land chigkeitsparadigma bei Waterhouse wirkt dementsprechend der Bildung von Verbindungen nicht im Sinne einer Herausforderung oder eines Hindernisses entgegen, sondern erweist sich im Gegenteil als ideale Voraussetzung für das magische ‚Herauswachsen‘ aus dem Denken in Sprachgrenzen, und deswegen wirkt die Sprache von Prosperos Land dynamisch. Waterhouses wandlungsfähige Sprache sorgt auch für die Mobilität des Lan‐ des. Der Titel des letzten Abschnittes von Prosperos Land lautet „dār aṣ-ṣinā ‘a“, ein Titel, der auf die Hafengegend Venedigs, die Arsenale, verweist, deren Name aus dem Arabischen stammt (vgl. De Felip 2016: 133). In diesem Abschnitt lesen wir folgende Zeilen: Maghera läutet läutet wie viele Kirchen Città dove si può dire che sono l’Indie Die mede die Leuchttürme Minarette bis in die mediterranen Indien (Waterhouse 2001: 179) In Venedig gibt es zwar ein ‚Marghera‘ mit ‚r‘, „Maghera“ jedoch liegt in Nord‐ irland. Zugleich ist „mede“ eine Stadt in Italien (Mede) und eine in Bosnien-Her‐ zegowina (Međe). Sie erinnert aber auch an die Heilige Stadt der Moslems, Medina (vgl. De Felip 2016: 134), so dass klanglich erklärbar wird, wie die vielen Kirchtürme zu Minaretten werden. Kurz vorher blitzen sie jedoch noch einmal als Leuchttürme auf, die die Ufer des Industriehafens in Venedig markieren, der Handelsverbindungen in alle Welt unterhält. Die mediterranen Indien (von Sanskrit ‚sindhu‘, Fluss) sind hier die Gewässer, die Italien umspülen, und sie assoziieren auch Indien. Ausgehend von einer bereits in sich mehrsprachigen und interkulturellen Region erweitert sich Prosperos Land durch seine Sprache insbesondere über Meerverbindungen und Flüsse bis nach Asien. Wenn The Waste Land die inter-nationalsprachliche Verständigung anstrebt, ist die Diversität europäischer Mehrsprachigkeit zunächst eine Herausforderung. Die Abgeschlossenheit der Sprachen erstreckt sich über das Nationalsprachliche hinaus, auch etwa auf Dialekte und auf überzeitliche Verständigung (etwa zwischen Dante und Pound). Dabei wird nicht nur die Dichtung aufgrund ihrer Angewiesenheit auf sprachliches Material infrage gestellt, sondern es erscheint darüber hinaus sämtliche Verständigung als zumindest fraglich, so 194 Dinah Schöneich dass Menschen und Gedanken in ihrem je eigenen sprachlichen Gefängnis des Solipsismus eingeschlossen bleiben. In dieser Situation weitgehender Sprach‐ skepsis, relativistischer Einsprachigkeit und kultureller Isolation erscheinen engagierte, neugierige und lernwillige Leser als Hoffnungsträger. Wer den nötigen Einsatz aufbringt, fremde Sprachen tiefgreifend zu lernen und zu ver‐ stehen, vermag mithilfe der Dichtung als „the vehicle of feeling“ eine ungeahnt verbindungsreiche Welt der dialogischen Verständigung und des Überflusses zu erkunden. Dass dem Engagement der Leser hier bei der Erzeugung von Dynamik eine derart wichtige Rolle zukommt, liegt vor allem an der Statik des dem Text zugrundeliegenden Mehrsprachigkeitsparadigmas. Während Eliot auf einen herausfordernden Lernprozess setzt, lenkt Water‐ house die Aufmerksamkeit darauf, wie jedes Kind im Zuge des Spracherwerbs die Fähigkeit zeigt, Fremdes zu verstehen und Neues zu entdecken. Verständi‐ gung ist aus dieser Perspektive also keine Arbeit für Privilegierte, sondern gewissermaßen kinderleicht, sofern es möglich ist, eine kindliche Neugier zu behalten. Dies gelingt dadurch, dass Prosperos Land die Möglichkeit grenzüber‐ greifender Bewegungen im veränderlichen Charakter und den klanglichen, magischen Qualitäten der Sprache selbst verortet. Das Gedicht nimmt sich die Freiheit heraus, mit dem sprachlichen Material so zu arbeiten, dass Fehler und Abweichungen fruchtbar werden, und vermeidet damit die Statik von Eliots korrekt zitierten Sprachgefängnissen. Anstelle einer Sprachskepsis tritt die Dynamik einer inhärent mehrsprachig-mehrdeutigen, magisch-prosperie‐ renden Sprache, in der das Diverse und Unerwartete stets präsent ist. Diese Sprache ist daher von ihrer Veranlagung her dazu geeignet, jederzeit und überall Verbindungen und Veränderungen aktiv hervorzubringen (auch wenn die zahl‐ reichen Hinweise auf geschichtliche Ereignisse in Waterhouses Gedicht darauf hinweisen, dass Spuren der Vergangenheit der Sprache bei aller Veränderung eingeschrieben bleiben). Gegenüber dem Einsprachigkeitsparadigma, das als „key structuring principle“ (Yildiz 2014: 2) Individuen und soziale Einrichtungen sprachlich auf eine klar umrissene Ethnizität, Kultur und Nation festlegt, hat die Sprache von Prosperos Land grenzüberschreitende und wandlungsfähige Eigenschaften und damit ein politisch transformatorisches Potential. Literaturverzeichnis Buckley, Devin Jane (2017). T. S. Eliot ’s Aesthetics of Solipsism. 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Oliver zwischen Politik und Literatur: von Häusern, Müttern und Muttersprachen Tomás Espino Barrera Abstract: Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Analyse des Prosa‐ werks José F. A. Olivers als ein „language memoir“ (Kaplan/ Kramsch) - sie rekonstruiert Olivers nomadische Identität zwischen Regionen und Sprachen. Besonders wichtig in dieser Hinsicht ist Olivers Gebrauch von Mütter- und Hausmetaphern für Mehrsprachigkeit, der, im polemischen Gegensatz zur Exklusivität einer einzigen Muttersprache, für eine alternative affektive Beziehung zu einer Pluralität von Muttersprachen plädiert. Dabei wird die politische Dimension dieser Metaphorik untersucht, die als Infragestellung der deutschen Staatsbürgerschaftspolitik fungiert und das emanzipatorische und demokratische Potential transregionaler Identitäten jenseits des Natio‐ naldenkens ans Licht bringt. Keywords: José F. A. Oliver; Mehrsprachigkeit; Raum; Bewegung; Staatsbür‐ gerschaft. Das Leben und Werk des aus andalusischem Elternhaus stammenden und im Schwarzwald geborenen José F. A. Oliver (1961) ist stark von einer mehrspra‐ chigen Erziehung und einem polyglotten Selbstbewusstsein geprägt (Deutsch, Spanisch, Alemannisch und Andalusisch). Oliver ist Übersetzer von Federico García Lorca sowie Autor des dreisprachigen Buchs La Balada del duende/ Die Ballade vom Duende (1998) und inszeniert darüber hinaus in seinen Gedicht- und Essaysammlungen eine mehrsprachige Poetik nicht nur durch code-mixing und wortwörtliche Übersetzung, 1 sondern auch durch prägnante Metaphern für Mehrsprachigkeit: ein Haus, in dem verschiedene Sprachen (Alemannisch und Andalusisch) auf verschiedenen Stockwerken wohnen sowie eine (nur 2 In dieser Hinsicht definiert Thiérard das Prosawerk Olivers als eine „réflexion sur le rôle de la matérialité du langage dans la constitution du sujet“ [eine Überlegung über die Rolle der Sprachmaterialität in der Konstitution des Subjekts] (2018: 124). anscheinend) paradoxe Ich-Figur mit zwei Müttern (einer aus Málaga, einer aus Baden). Indes wird Olivers mehrsprachige Poetik zu einer wahrhaftigen Politik der Sprache und der Identität, die Kategorien wie ‚Muttersprache‘, ‚Heimat‘ und ‚das Fremde‘ kreativ untergräbt und neu gestaltet. Der vorliegende Aufsatz, ausgehend von der Analyse sowohl der Mutter- (Bonfiglio 2010, Yildiz 2012, Guldin 2020) als auch der Raummetaphern für translinguale Literatur (Kellman 2018) und der Lektüre des Werks José F. A. Olivers als „Literatur ohne festen Wohnsitz“ (Ette 2019) und „mehrsprachiges Ich-Schreiben“ (Thiérard 2018), widmet sich der Untersuchung des politischen Potentials von Olivers Metaphern im Kontext zeitgenössischer Debatten um regionale, nationale und europäische Identität, Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik und der Auseinandersetzung mit dem Fremden in Deutschland. Dabei wird dem Prosawerk José F. A. Olivers - das in den Sammlungen Mein andalusisches Schwarzwalddorf (2007) und Fremdenzimmer (2015) erschienen ist - besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es lässt sich zum Teil als brüchige „language memoir“ im Sinne der aus eigener Lern- und Schreiberfahrung geprägten Bezeichnung Alice Kaplans (1994) lesen. Kramsch (2004) definiert „language memoirs“ als retrospektive Ich-Erzählungen, die besonders Kind‐ heits- und Jugendereignissen gewidmet sind und fragmentarische sprachliche Erlebnisse in die kohärente Form einer literarischen Erzählung bringen. Klas‐ sische Beispiele dafür sind neben Kaplans French Lessons (1993) etwa Elias Canettis Die gerettete Zunge (1977), Eva Hoffmans Lost in Translation (1989) oder Ilan Stavans On Borrowed Words. A Memoir of Language (2002). In diesem Sinne könnte man autobiographische Essays wie „Mein Hausach“, „wortein, wortaus“, „In jedem Fluss mündet ein Meer“, „Zwei Mütter“, „Schimpf und Widerstand“ oder „D Hoimet isch au d Sproch“, die die Entdeckung, Erlernung und Mischung (aber auch die von der Schulobrigkeit gezwungene Abgrenzung und Repression) der verschiedenen Sprachen, die Olivers Kindheit und Jugend in den 1960er und 1970er Jahren in der Kleinstadt Hausach prägen, als „language memoir“, d. h., als eine retrospektive Verflechtung von Mehrsprachigkeit und Leben, bezeichnen. 2 Olivers nomadische Sprachidentität wird in den Essays durch Erinnerun‐ gen an die Gespräche an festliche Sonntagsspaziergänge und pfiffige Famili‐ enanekdoten auf Andalusisch, Lieder und Gedichte auf Spanisch, schnurrige Fastnachtsprüche auf Alemannisch und die spätere Verdrängung des Dialekts im Deutschunterricht durch „Goetheaner Hochdeutsch“ (2015a: 32) rekonstruiert. Aber all diese Spracherlebnisse aus Olivers Lehrjahren sind nicht einfach in 200 Tomás Espino Barrera 3 Neben diesen Hauptsprachen tauchen gelegentlich kurze Zitate und Redewendungen auf Englisch, Französisch, Italienisch, Finnisch, Latein, Niederländisch, Portugiesisch, Arabisch, südamerikanischem Spanisch und sogar Altflämisch in Olivers Lyrik auf. Die Einflechtung dieser Fremdsprachen ist häufig durch biographische Erlebnisse (Reisen, Widmungen an Freunde, usw.) veranlasst. So spiegelt die mehrsprachige Textur von Olivers Texten seine nomadische Identität und Lebensweise wieder. 4 Vgl. Ruiz 2016: 207 zur „ausgeprägten Mündlichkeit“ von Olivers Dichtung. 5 Für eine Einführung in die zeitgenössischen Debatten um Unübersetzbarkeit, vgl. Cassin (2004) und Apter (2013). Der 2002 vom Sprachwissenschaftler M.A.K. Halliday entworfene Unterschied zwischen verschiedenen Vorstellungen der Sprachvielfalt als „Glossodiversität” (Vielfalt von sprachlichen Codes mit denselben Bedeutungen) oder „Semiodiversität“ (Vielfalt von nicht austauschbaren Bedeutungen) wurde im Rahmen der Forschung der Mehrsprachigkeit in der Literatur durch Kramsch (2006) genutzt. Die Vorstellung, dass jede Sprache nur einmalige, auf keinen Fall in anderen Sprachen übertragbare Bedeutungen innehat, ist kennzeichnend für das mehrsprachige Schreibverfahren José F. A. Olivers. 6 Die Transkription der andalusischen Aussprache (die implosiven / s/ immer aspiriert und fast alle Endkonsonanten verstummt) wird nebst der Repräsentation der Sprach‐ losigkeit der ersten Migrantengeneration poetisch ausgenutzt etwa in „s’isch november wore“: „estumialei/ aber/ ichhabeniverstande/ wasSiegesachthabe“ (1993: 99). Die anda‐ lusische Mundart kommt auch bei spanischsprachigen Zitaten vor: „yo nací gitano y eh einem einsprachigen hochdeutschen Text niedergegeben, sie werden vielmehr im Text selbst durch eine komplexe Vernetzung textinterner Mehrsprachigkeit inszeniert. So entsteht ein Geflecht spanischer, andalusischer und alemanni‐ scher Zitate und Redewendungen, 3 die in Olivers späteren Werken anhand von Fußnoten und Glossaren durch Erläuterungen und annähernde Übersetzungen erklärt werden. Olivers mehrsprachige Technik ist dabei stark aufs Auditive, 4 das Einmalige und damit auf eine radikal unübersetzbare Semiodiversität angewiesen. 5 So kann der hochdeutsche Leser in manchen Fällen vermuten, dass die im Text vorliegende Übersetzung geflissentlich nicht imstande ist, die nur geahnten Nachklänge des alemannischen Originals zu reproduzieren: Als Kind hörte ich auf die Frage „Was hast du mir denn mitgebracht? “ oft die Antwort: „E goldigs Nixle un e silbrigs Wart-e-Wiile! “ Das ist alemannisch und heißt poetisch übersetzt soviel wie: den puren Glanz der Sterblichkeit. (2015a: 86) In den seltenen Fällen, in denen Oliver keine hochdeutsche Übersetzung hin‐ zufügt, wird der Leser ermahnt, sich den Text laut vorzulesen: „Dann klingt das Alemannische auch Ihnen ins Ohr. Ich würdige diese eigenwillige deutsche Sprache unübersetzt, weil es sie so gibt: Besuchen Sie sie! S isch e Erläbnis“ (2015a: 36, n. 1). Dazu kommt noch die Transkription von der andalusisch gefärbten Aussprache von Olivers spanischen Eltern: „Hausach“ wird zu „Ausa“, „Gastarbeiter“ zu „Gahtabaita“. 6 So könnte auch von einer weiteren Hauptspra‐ 201 José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur mi trihte sino/ ih por loh caminoh a buhcá parné/ so sangen wir/ so schwiegen wir/ & war kein wir in wir“ („herkunftsstimmen. I vision in Kairo & erinnere I namenloses grab in Málaga“, 2006: 47). Interessanterweise wird bei diesem Liedzitat das Wort „parné“ (Geld, Kohle) erwähnt, ein Substantiv, das aus der Calósprache stammt und fast ausschließlich in den Mundarten der spanischen Zigeuner vorkommt. So wird Olivers textinterne Mehrsprachigkeit auf verschiedenen Ebenen geschachtelt (Deutsch>Spanisch>Anda‐ lusisch>Caló), was einerseits ein extrem ausgeprägtes Sprachbewusstsein bezeugt und andererseits die immanente Mehrsprachigkeit jeglicher Sprache ans Licht bringt. 7 Zum Einsatz von Doppelpunkt- und Bindestrichwörtern wie „m: enge“, „w: erden“, „auf-bruch“ oder „ur-laub“ als Stil- und Denkmittel, vgl. Ruiz (2016: 209). 8 Zur Geschichte der Vorstellung nationaler Sprachen als statische Geographien, vgl. Guldin (2014). che, das heißt von einem kreolischen „Gastarbeiterdeutsch“, die Rede sein (De la Torre 2017: 371). Kurzum, Oliver kann, wie er selbst behauptet, „nicht nur an den dudenkorrekt ausgelegten Richtschnüre [sic] einer Sprache entlang schreiben“ (2007: 54). Diese in Spracherlebnissen verankerte Schreibweise, die zwischen Sprachen pendelt, ist vor allem als Kampf - „Nur die Wörter zeichnen weiter Wunden auf. Erfahrene Leiber. Narben“ (2020: 286) -, als ständige Bewegung in Sprachtopographie und Sprachbiographie zu verstehen: Ein Verkämpfen in Sprache, die wird und Wörter anrichtet: Ich lernte Andalucía, Wunderfitz, Madengele, Amapola, Akkordarbeit und Stempeluhr. Heimat, Gastling, patria. Matrosenanzug, Lederarsch, Transitnächte: Fragmente künftiger Orte, die heuer die Finger ins Bildgestöber strecken, als müssten die Wege nachgeplundert werden. (2007: 32) So vermischen sich sprachlich und biographisch Wörter mit bestimmten Orten, eine Idee die sich in der in den letzten Jahren von Oliver häufig verwendeten Schreibweise „W: ort“ 7 kondensiert. Nach Thiérard unterstreicht „W: ort“ die Vorstellung, dass Sprache von einem im Raum tief verwurzelten Erleben untrennbar ist (2018: 132). Aber diese räumliche Verankerung der Sprache ist keineswegs, wie in national-einsprachigen Sprachmythen, als Absteckung und Abgrenzung von Ursprungsorten zu verstehen. Sprachrepertoires, so der Sprachwissenschaftler Jan Blommaert, werden oft als „indicative of origins, defi‐ ned within stable and static (‚national‘) spaces“ angesehen. 8 Trotzdem reflektiert ein Sprachrepertoire eigentlich die Gesamtheit des Lebens und die räumlichen Bewegungen eines Einzelnen: „someone’s linguistic repertoire reflects a life, and not just a birth, and it is a life that is lived in real socio-cultural, historical and political space“ (2010: 171). Es ist daher nicht erstaunlich, dass translinguale Autoren oft ihren bewegten sprachlichen Lebenslauf durch räumliche Metaphern zu erklären versucht ha‐ 202 Tomás Espino Barrera 9 Diese von Semprún oft wiederholte Aussage ist für eine postum erschienene Interview‐ sammlung (2013) titelgebend. ben (Kellman 2018: 18). Interessanterweise folgen manche dieser Schriftsteller, die häufig eine durch Exil unterbrochene Karriere im Ausland wiederaufge‐ nommen haben, die durch das Einsprachigkeitparadigma (im Sinne von Yildiz 2012) geprägte Vorstellung der Gleichsetzung von Sprache und territorialisierter Nation. Genau in diesem Sinne könnte man die von Steven G. Kellman zitierte Aussage Czesław Miłoszs, „language is the only homeland“ (2018: 19 [1998]), interpretieren. Andere hingegen haben das Unbehaustsein des Schreibens in jeder Sprache betont, wie zum Beispiel J.M. Coetzee oder Edward Said (Kellman 2018: 20), während der Frankoamerikaner Julian Green betonte (in einem zweisprachigen Essayband! ), dass man sich nur in einer einzigen Sprache richtig zu Hause fühlen könne: „a man may speak half a dozen languages fluently and yet feel at home in only one“ (1987: 166). Schließlich haben einige translinguale Autoren für eine Vielfalt von sprachlichen Heimaten oder für einen sprachlichen und räumlichen Kosmopolitismus plädiert. Laut dem aus Spanien stammenden und auf eine Mischung von (hauptsächlich) Französisch und Spanisch schreibenden Jorge Semprún sei „le langage“ im Singular, also keine bestimmte langue, seine „patrie“. 9 Auch im deutschsprachigen Raum hat die Idee von Mehrsprachigkeit als grenzüberschreitendem Zuhausesein eine lange Tradition: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei“, schlug Goethe in einer seiner Maximen und Reflexionen vor (508), oder ferner Julia Kissina: „Heimat ist für mich meine Sprache - ganz egal welche: Russisch, Ukrainisch oder Deutsch“ (zit. nach Kellman 2018: 19 [2006]). Neben einem diffusen Heimatgefühl kann Sprache (und können Sprachen) auch ein konkretes Gebäude aufbauen. Nicht nur ist Sprache (im Singular) „das Haus des Seins“ nach Heidegger (zit. nach Kellman 2018: 20 [1947]), vielmehr können seit der Renaissance bestimmte Sprachen (im Plural) entweder einen herrlichen aber entlegenen Palast oder eine bescheidene aber gemütliche Hütte bildhaft aufbauen, wie das Lateinische und die Volksprache für Pietro Bembo (in 1966: I. iii). Die Metapher des sprachlichen Hauses verbindet in einem vertrauten Raum (der auch einen bestimmten ästhetischen Anspruch haben mag) eine praktische Organisation im Innern (Küche, Wohnzimmer, Flur, Schlafzimmer usw.) mit durch Fenster und Türen vermittelten Ausblicken oder Aussichten auf das Äußere. So kann man eine Sprache als einen affektiven Raum voll praktischer und stilistischer Möglichkeiten ansehen, der auch eine eigene Weltansicht (in 203 José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur 10 Zu einer Lektüre von Olivers Sprachauffassung aus einer humboldtschen Perspektive, vgl. Thiérard (2018). 11 Zum vorwiegend in der Mehrsprachigkeitsdidaktik geläufigen Begriff der „additiven Mehrsprachigkeit“, nach dem im Gegensatz zur „substraktiven Mehrsprachigkeit“ der Erwerb von mehreren Sprachen die Entwicklung der vorliegenden Sprachen nicht negativ beeinträchtigt (oder sogar befördert), vgl. González (2008). der Tradition Humboldts 10 ) anbietet. Aber wie kann man eine mehrsprachige Identität in einem einzigen, in sich geschlossenen Raum repräsentieren? In einer jüngst veröffentlichten Überlegung gibt Oliver eine additive 11 Antwort kund: Sprachen seien schwerlich auf einer Karte abzustecken, sie bildeten ein „Mehr“: „wo lag das Andalusische? Wo das Alemannische? Auf welcher Karte meiner Phantasie? Ich stelle mir 1 Mehr vor“ (2020: 288). Genau in diesem additiven Sinne muss Olivers wiederkehrendes Bild eines zweistöckigen Hauses verstanden werden. Diese Metapher taucht in zwei fast identischen Texten auf, die allerdings ein fast zehnjähriger Zeitabstand trennt: da war ein Haus, das zwei Häuser war. Zwei Häuser, die zwei Kulturen verleibten. Ein Haus und zwei Stockwerke, zwei Sprachen. Offene Fenster und Türen, Luken in Rei‐ sen. Längst im Mehrfachen angekommen. Der alemannische Dialekt im ersten Stock, das Andalusische im zweiten. Dazwischen Treppenstufen ohne grammatikalisches Geschlecht. Entwurf ins Spiel um die Bedeutungen: Wortes Körper und Wortes Seele. Ein paar Treppenstufen nur, die trennten und verbanden Mondin & Mond: la luna, 1 Mond. Weiblich die eine, männlich der andere. (2007: 19) Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das zwei Stockwerke hatte. Im ersten Stock wurde alemannisch gesprochen, also annähernd deutsch, und im zweiten andalusisch, also annähernd spanisch. Wenn sich eine sternenklare Nacht abzeichnete und man den Mond am Himmel sah, hieß er im zweiten Stock „la luna“ und war weiblich. Betrachtete man la luna vom ersten Stock aus, war sie plötzlich männlich und hieß „der Mond“. Ein paar Treppenstufen genügten, und aus der Frau wurde ein Mann - oder umgekehrt. (2015a: 16-17) Bei Oliver wird die architektonische Metapher zu einem autobiographischen Sprach- und Raumerlebnis gestaltet, in dem zwei Sprachen in einem und demsel‐ ben Gebäude (das sich darüber hinaus in einer Gemeinde eben namens Hausach befindet) harmonisch koexistieren, einander befördern und durch eine Treppe ständig miteinander kommunizieren. Gerade diese Bewegung kennzeichnet Olivers Werk als ein „ZwischenWeltenSchreiben“ im Sinne Ottmar Ettes (2019), das heißt, als eine Literatur, die räumliche und sprachliche Distanzen weder aufhebt noch befestigt, sondern immer neu gestaltet, denn nach Oliver ist „ein Dichter […] immer auch Nomade, und seine eigentliche Behausung ist 204 Tomás Espino Barrera 12 Das zwischensprachige Gleiten des Genus bei den Nomina „Sonne/ Sol“ und „Mond/ Luna“, die die verschiedensten Konnotationen auf Deutsch und Spanisch auslöst, aber gleichzeitig eine bestimmte Geschlechterkomplementarität bewahrt, wird häufig in Olivers Gedichten mit Beziehung auf ein Haus poetisch und erkenntnistheoretisch ausgewertet: „gegen/ den raum/ nimmt die mondin/ ab/ die sonne/ der sonne/ brennt das glashaus ein“ („anatomie der zeit“, 1993: 66). 13 Analog gleiten das weibliche Wort „la muerte“ ins Männliche („el muerte“) (2015a: 88) und das männliche „Tod“ ins Weibliche („die Tödin“) (2020: 283). 14 Das dichterische Potential der verschiedenen Genusvalenzen des Meeres (sächlich auf Deutsch, entweder hauptsächlich männlich oder - besonders in der Matrosenbzw. poetischen Sprache - weiblich auf Spanisch) werden etwa in „El mar la mar Das Meer Die Meerin Der Meer“ (2007: 53-64) und dem Bild, in dem ein „emigrante“ voll Sehnsucht sich nach „der meer“ (weiblich) zurücksehnt (1991: 52), freigesetzt. 15 Oder besser gesagt, durch die vertraute Organizität der Sprache Málagas. Eine „casa mata“ (diminutiv „casita mata”) ist ein bescheidenes einstöckiges Einfamilienhäuslein mit einem kleinen Vor- oder Hinterhof, das bis vor wenigen Jahrzehnten typisch für die Arbeiterfamilien Málagas war. Die Bezeichnung „casa mata“ kommt in anderen anda‐ lusischen Provinzen, geschweige in anderen Regionen Spaniens bzw. Lateinamerikas, nicht vor. Diese ultralokale Bezeichnung, die sich übrigens durch die Wiederholung des Vokals / a/ als eine besonders weibliche auszeichnet, könnte als Paradigma der Behausung im Stockwerk der Elternsprache fungieren. die BeWEGung und damit die Sprache, die sich Neuem öffnet“ (zit. nach Ruiz 2016: 209). Diese „BeWEGung“ zwischen Sprachen und Stockwerken eröffnet verschiedene und überraschende Ausblicke in die Wirklichkeit. So, zum Beispiel, genügten „ein paar Treppenstufen […] und aus der Frau wurde ein Mann - oder umgekehrt“. Der Mond/ la luna, 12 aber auch der Tod/ la muerte, 13 das Meer/ el mar/ la mar, 14 oder auch implizit das Haus/ la casa. Die Behausung oder die Unterkunft bleibt für Oliver jedoch überwiegend weiblich, wie zum Beispiel im Gedicht „1934“: […] Eine casita mata. Die weibliche Unterkunft einer Behausung. Das Weibliche aus Lehmziegel und Stroh. Geduldete Schoßwärme. Ein im Wenigen, ein im Winzigen des Teilbaren wärmender W: ort. Hogar La casa ist für Oliver ein weiblich-mütterlicher Raum, in dem das deutsche unpersönliche Neutrum durch das spanische organische Femininum ergänzt wird. 15 Aber die durch den Rekurs auf das Spanische betonte Weiblichkeit der Behausung schließt andere affektive Spracherfahrungen nicht aus. Der weib‐ lich-mütterliche Raum des Hauses ermöglicht, dass die verschiedenen Sprachen in Olivers Biographie lebendig werden und die Fähigkeit erwerben, affektive 205 José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur 16 In den letzten Jahren sind mehrere einflussreiche Publikationen erschienen, die die Geschichtlichkeit und die politische Tragweite der Muttersprache zu untersuchen versucht haben. Tabouret-Keller (2003) weist auf die Verflechtung affektiver und politischer Metaphern im Begriff der „Muttersprache“ hin. Bonfiglio (2010) analysiert die Begriffsgeschichte des „native speakers“ seit der Antike mit Hinblick auf die Entstehung einer politisch aufgeladenen Vorstellung von „Muttersprache“ in der Moderne. Yildiz (2012) untersucht die geschichtspolitische Relevanz der „Mutter‐ sprache“ im Kontext des „Einsprachigkeitsparadigmas“ und des darauffolgenden „Postmonolinguismus“, in dem der neuen mehrsprachigen Praxis noch einsprachige Vorstellungen anhaften. 17 Der organischen Natur der Muttersprache steht seit Dante die Künstlichkeit und Unvollkommenheit später erworbener Sprachen gegenüber (Bonfiglio 2010: 72). Der Unterschied Natur/ Künstlichkeit ist damit ausschlaggebend für die Entwicklung einer affektiv und politisch aufgeladenen Vorstellung von Muttersprache. 18 Die Bezeichnung „Stiefmuttersprache” wurde in verschiedenen Anthologien und Monographien im englischsprachigen Raum benutzt, um eine Alternative zur „Mut‐ tersprache“ zur Verfügung zu stellen (Skinner 1998; Novakovich und Shapard 2000). Auch wenn eine Stiefmutter entgegen der traditionellen, durch Märchen und Rollen neben derjenigen der Herkunft zu erfüllen. Insofern der Rekurs auf die Mutter im Substantiv „Muttersprache“ die Unaustauschbarkeit des organischen Ursprungs - und damit eine familiengebundene Brücke in der Vorstellung einer nationalen ethnisch-sprachigen Gemeinschaft - betont, 16 ermöglicht die Aussicht alternativer „Familienromane“ (Yildiz 2020: 12) die Vorstellung neuer affektiver Beziehungen zwischen Sprachen und Sprechern über die bloße Nationalität und Blutherkunft hinaus. Der Essay „Zwei Mütter. Wie ich in der deutschen Sprache ankam“ skizziert in gewissem Maße einen solchen Famili‐ enroman. Neben der andalusischen Muttersprachigkeit, die sich Oliver durch Lieder und Redewendungen aufprägt, steht eine andere Muttersprachigkeit, die ebenfalls durchs Singen ins Gedächtnis und den Gefühlshaushalt der Kinder eindringt und die für die zärtliche Gastlichkeit einer wirklich existierenden badischen Frau namens Emma Viktoria steht: Kindheit war das ungefährdete Glück, mit zwei Müttern groß zu werden. Die leibliche, die sich, bevor sie unserem Vater von Andalusien aus folgte, um in Deutschland Arbeit zu finden, ferntrauen lassen musste und die uns ihre Weisen sang. […] Die andere, Emma Viktoria, die weder meine Geschwister noch ich jemals „Mutter“ riefen, war diejenige, die schon im Schwarzwald lebte, die unserer Familie Zuflucht wurde im Unbekannten und Vertraute in die [sic] Fremde und die auch gerne sang, so dass uns weitere Lieder wurden. (2015a: 9-10) Das politische Potential einer provokativen Zweimuttersprachigkeit ist kaum zu unterschätzen. Die alemannische ist keine zweite, künstlich erworbene Spra‐ che, 17 auch betont keine Stiefmuttersprache, 18 sondern eine weitere, natürliche 206 Tomás Espino Barrera Romane vermittelte Vorstellung, nicht unbedingt lieblos und grausam sein muss, scheint die Bezeichnung „Stiefmuttersprache“ etwas Sekundäres und Abweichendes zu implizieren (Guldin 2020: 163). Auf jeden Fall ist der Titel des Essays und die Widmung des Bandes - „A mi madre - la que me queda“ (Meiner Mutter - der, die ich immer noch habe) - eindeutig: Oliver war mit zwei Müttern bzw. Muttersprachen großgeworden. 19 Es besteht bis dato kein Abkommen zwischen Deutschland und Spanien, das die doppelte Staatsbürgerschaft zuließe. Seit 2014 ist es möglich für Deutsche, neben der deutschen auch die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes oder der Schweiz anzuneh‐ men. Das spanische Recht genehmigt bisher aber nur die doppelte Staatsbürgerschaft mit den iberoamerikanischen Ländern, Andorra, Äquatorialguinea, Philippinen und Portugal. Ein Spanier, der die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen möchte, muss zuerst laut spanischem Gesetz die spanische Staatsbürgerschaft aufgeben - und umgekehrt. Muttersprache, die keineswegs das Andalusische verdrängt und gleichfalls auf einer affektiven Frau-Kind Beziehung basiert: „Denke ich an Emma Viktoria, ist es immer ihre Sprache, die mir einfällt“ (2015a: 9-10). Blutsverwandtschaft ist also nicht der einzige Zugang in eine affektive Muttersprachigkeit und in eine mitbestimmende Menschengesellschaft, die ausdrücklich transregional (nicht eigentlich transnational) funktioniert: „Mein andalusisches Schwarzwalddorf ” nenne ich diesen Ort. Nicht aus Übermut oder Koketterie, eher eins mit mir im Widerspruch. Zuneigung der Eigenfremde im Balanceakt eingelebter Biographien. (2007: 10) Für Oliver ist seine transregionale Heimat - sowohl im räumlichen als auch im sprachlichen Sinne - keine selbstverständliche Verankerung (wie etwa die vom Reisepass angegebene Staatsangehörigkeit), sondern eine widersprüchli‐ che Bewegung, die politische und kulturelle Kategorien wie das Eigene und die Fremde durch ein neologisches Kompositum - die „Eigenfremde“ - selbst auf sprachlicher Ebene in Frage stellt. Dieser Wohnort befindet sich nach Olivers Aussage „zwischen den Stühlen. Als Möglichkeit in beWEGung zu bleiben“ (zit. nach Ruiz 2016: 200 [2007]). Ganz anders auf der Staatsebene, wo eine doppelte, in sich widersprüchliche Identität ausbleibt. Wie oben beschrieben, verstößt die Möglichkeit einer sogenannten Zweimuttersprachigkeit gegen das Prinzip der vermeintlichen Exklusivität der Muttersprache. Dabei bleibt Staatsbürgerschaft ein Mechanismus von Inklusion und Exklusion, der dop‐ pelte Angehörigkeiten nur schwerlich - oder gar nicht - toleriert. 19 Kurzum, eine alternative, transregionale Affektivität reicht nicht, um einen Zugang in eine „mitbestimmende Menschendemokratie“ zu eröffnen: 207 José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur 20 Zur Geschichte der Einbürgerungspolitik in Deutschland, vgl. Brubaker (1992), Nathans (2004) und Mushaben (2008). [es wurde mir klar] dass die Demokratie in Deutschland noch Jahrzehnte benötigen sollte, um auch die Zugewanderten an ihrer mitbestimmenden Staatsform auf dem Weg in 1 Menschendemokratie zu beteiligen. […] Wie könnte es anders sein. Ius sanguinis - nicht so leicht abzuschütteln, die Blutherkunft. (2007: 104) Obwohl Oliver an dieser Stelle keine explizite Kritik am Zusammenhang zwi‐ schen Sprache und Blutherkunft („Ius sanguinis“) äußert, bleibt die Konstellation von Familie und Sprache in seinen Reflexionen über Staatsbürgerschaft und die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund an der zeitgenössischen deutschen Demokratie immer anwesend. Schon 1991, d. h., in einer Epoche, in der seine Dichtung „durch ein Gefühl von Beklommenheit, Sorge, Angst und Bitternis charakterisiert wird, ausgelöst durch die brodelnde politische Realität“ (Ruiz 2000: 94), hatte Oliver im Gedicht „das lied der sprache“ die Aporien der deutschen ethnischen und sprachigen Identität in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung offengelegt, indem eine Ich-Figur, die Wörter wie „Liebe“, „Sehnsucht“ und „Freund“, aber auch „Hass“ und „Demut“ lernt, endlich das Wort „Ausländergesetz“ und den Satz „Deutschland den Deutschen“, die er in einer Zeitung gelesen hat, langsam buchstabiert (1991: 50-51). Bekanntlich stellen die 1990er Jahre, nicht nur der Wiedervereinigung und deren tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen wegen, eine Scharnierzeit in der Definition der deutschen kulturellen Identität und juridischen Staatsbürgerschaft dar. Seit dem frühen 19. Jahrhundert und beson‐ ders ab 1913 orientierte sich die deutsche Staatsbürgerschaftspolitik an Blut und Herkunft. 20 Obwohl grundsätzlich alle kontinentaleuropäischen Länder ebenfalls dem Prinzip des jus sanguinis folgen - nach welchem neugeborene Kinder die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern bekommen -, machte Deutschland bis in die 1990er Jahre im Unterschied zu fast dem gesamten restlichen Europa keine Ausnahmen für die Einbürgerung von in diesem Land geborenen Kindern mit Migrationshintergrund (Brubaker 1992: 33). Bei dieser extrem restriktiven Haltung galt ab 1949 eine äußerst inklusive Einbürgerungspolitik gegenüber den sogenannten „Volksdeutschen“ aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjet‐ union (82-84). Diese Tatsachen reflektieren nach Brubaker eine ethnokulturelle Vorstellung von Staatsangehörigkeit, die Volkszugehörigkeit voraussetzt (51). Obwohl die Einbürgerungspolitik ab 1999 durch eine vom jus solis inspirierte Reform gelockert wurde, bleibt die Identitätsfrage im heutigen Deutschland noch stark von einer Blutherkunftslogik geprägt. Nach David Gramling (2009, 2016) wurde seit den späten 1990er Jahren in Deutschland das traumatisch 208 Tomás Espino Barrera gewordene ethnische Identitätsparadigma durch ein neues kulturelles und einsprachiges Zugehörigkeitsideal nur bedingt verdrängt. Die deutsche Staats‐ bürgerschaftspolitik, so Gramling (2016: 205), basiert seitdem auf einem soge‐ nannten jus linguarum, das heißt, auf einem Sprachenrecht, das Integration mit dem exklusiven Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit gleichsetzt. Die Exklusivität der Blutherkunft bleibt so unter der Exklusivität einer einzigen öffentlichen Sprache implizit getarnt. Ein Schriftsteller mit Migrationshintergrund, der, wie oben erwähnt, nicht ausschließlich binnen der Grenzen einer „dudenkorrekten“ Einsprachigkeit bleibt, ist noch nicht dem neuen öffentlichen Integrationsideal angepasst. Für Oliver ist „jedes schreiben wanderschrift“ (2006: 53) sowohl im sprachlichen als auch im politischen Sinne, wie er schon 1989 programmatisch formuliert hatte: Meine Sprache ist eine Absage an die offizielle Sprache eines Landes, das uns nicht anzunehmen vermochte und vermag. Durch diesen Akt der Verweigerung wird unsere Sprachlosigkeit besiegt und es werden Fragen aufgeworfen. (11) Entgegen der sprachlichen und demokratischen Beschränkung des nationalen Denkens bietet das metaphorische Modell eines konkreten transregionalen zwei‐ stöckigen Hauses mit zwei Müttern in vielerlei Hinsicht eine affektive Alternative im Kontext der Krise der europäischen Nationalidentitäten. Olivers Entwurf ist nicht zu trennen von einem zutiefst biographischen „language memoir“. Wenn das Andalusische ausdrücklich „eine Lebensform“ (2015a: 32) ist, so sind Olivers andere Sprachen nicht minder ins Leben verflochten. Am sichtbarsten wird dies sowohl in den Müttern, die für den zeitlichen Ursprung sowohl der Sprache als auch des Lebens stehen, als auch im Raum des zweistöckigen Hauses, die eine stän‐ dige Kommunikation zwischen der andalusischen und alemannischen Sprache - oder, besser gesagt, deren „Lebensformen“ - additiv gestaltet: Ein zweistöckiges Haus ist (poetisch und erkenntnistheoretisch) mehr als zwei isolierte einstöckige Häuser, denn in diesem einzigen Haus können außergewöhnliche Begegnungen zwischen den Sprachen und den damit verbundenen Lebensgeschichten zustande kommen. Dieser alternative Familienroman ist dabei ein Paradebeispiel für eine affektive Semiodiversität, die die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven bzw. Vorstellungswelten betrachtet und auch dichterisch nutzen kann: „Ob jemand sein Haus verloren hat oder si Hiisle (alemannisch: sein Häuschen) spricht Bände“ (2015a: 42). Besonders, könnte man hinzufügen, wenn dieses emotional aufgeladene, sächliche Hiisle gleichzeitig eine weibliche casa mit zwei Stockwerken und zwei Müttern ist. 209 José F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur Literaturverzeichnis Apter, Emily (2013). Against World Literature: On the Politics of Untranslatability. London: Verso. Bembo, Pietro (1966 [1525]). Prose della volgar lingua. In: Dionisotti, Carlo (Hrsg.) Prose della volgar lingua, Gli Asolani, Rime. Turin: Utet. Blommaert, Jan (2010). The Sociolinguistics of Globalization. Cambridge: Cambridge University Press. Bonfiglio, Thomas P. (2010). Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker. Berlin/ New York: De Gruyter. Brubaker, Rogers (1992). Citizenship and Nationhood in France and Germany. Cam‐ bridge: Harvard University Press. 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New York: Fordham University Press. 212 Tomás Espino Barrera Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen Marko Pajević Abstract: Yoko Tawada ist aus guten Gründen eine der meistbesprochenen Beispiele für exophone Literatur. Ihre Schriften stellen eine Ethnographie der deutschen Weltansicht dar, wie Wilhelm von Humboldt Sprachen nannte. Dieser Beitrag demonstriert am Beispiel dreier Gedichte, wie Exophonie uns zu einem gesteigerten Bewusstsein dessen führen kann, auf welche Weise Sprachen unsere Denkmuster prägen. Von einer völlig anderen Sprache kommend, kommentiert Tawada spielerisch die mitschwingenden Bedeutungselemente im Deutschen und vergleicht diese mit dem Japanischen. Das ermöglicht ihr große Kreativität und ihrer deutschsprachigen Leserschaft, ihre eigene Sprache und sich selbst mit anderen Augen zu sehen. Translinguales Schreiben, selbst wenn es bei Tawada auch in einer wirklichen Sprachmischung auftritt, erscheint hier darüber hinaus als eine Möglichkeit, zu verstehen, wie sehr unsere Vorstellungen von unseren Sprachstrukturen geprägt sind und dass es alternative Weltansich‐ ten gibt. Derart trägt es zu einer Relativierung der eigenen Perspektive bei und verhilft zu einer Öffnung hin auf Verschiedenheit und Kreativität. Keywords: Yoko Tawada; exophone Literatur; translinguales Schreiben; Weltansicht; Mehrsprachigkeit; Abenteuer 1 Abenteuer und Sprache Abenteuer sind spannend: sie holen uns aus unserer alltäglichen Routine heraus und geben uns das Gefühl intensiv gelebten Lebens. Sie sind Herausforderungen, die uns an unsere Grenzen bringen und uns die befriedigende Erfahrung erlauben, mutig unabgestecktes Gebiet zu betreten, die Grenzen unserer Welt zu weiten, und derart, indem wir das Unbekannte meistern, wachsen wir über uns hinaus und entwickeln unsere Persönlichkeit. Es gibt einen ganzen Bereich der Pädago‐ gik, der auf diesem Gedanken aufbaut, dass Abenteuer die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben herausbilden. Das hat dann Begriffe hervorgebracht wie Abenteuerspielplatz, Abenteuertourismus und sogar Abenteuerautobahnrast‐ stätte. Heutzutage, vor allem im Deutschen, wird der Ausdruck Abenteuer häufig für eine kurzzeitige Liebesgeschichte eingesetzt, ein Liebesabenteuer - der Begriff vermittelt einen Hauch von Frivolität, zumindest einen Mangel an Ernsthaftigkeit. Ursprünglich jedoch stammt eine aventiure aus der französischen Ritterkultur und bezeichnete ein ernsthaftes Unternehmen von kultureller Bedeutung, für welches Risiken eingegangen werden. Im 13. Jahrhundert bezeichnete es auch ein Wunder. Ein Abenteuer - das Wort führt das mit sich - ist etwas, was uns widerfährt, ein Advent, also die Ankunft eines Ereignisses. Wir können es suchen, aber es ist immer das Abenteuer, das uns findet. Wir haben keine Kontrolle darüber. Es ist unbekannt und unvorhersehbar. All dies wird nicht unmittelbar an Grammatik denken lassen, zumindest die meisten Leute nicht. Yoko Tawada jedoch hat Abenteuer der deutschen Grammatik geschrieben, so der Titel eines Zyklus’ von 20 Gedichten (Tawada 2010). Tawada ist eine sowohl in Deutschland als auch in Japan hochangesehene Schriftstellerin, die in beiden Sprachen schreibt. 1960 geboren, kam sie 1982 nach Hamburg, um dort zunächst zu arbeiten und später deutsche Literatur zu studieren. Ihre Promotion wurde von Sigrid Weigel betreut, mit der sie eine enge Freundschaft verbindet. Sie veröffentlichte 1987 ihr erstes Buch auf Deutsch, allerdings noch in Übersetzung. Seither hat sie weit über 1000 Lesungen in der ganzen Welt gegeben, Dutzende von Büchern veröffentlicht - Romane, Dramen, Gedichte und, meines Erachtens am Interessantesten: Essays - und viele Preise und Ehrungen in beiden Ländern erhalten. 2006 zog sie von Hamburg nach Berlin, wo sie bis heute lebt, allerdings verbringt sie auch viel Zeit in den USA, wo sie sowohl von Germanisten als auch von Japanologen hofiert wird. Ihr Werk wird viel studiert als herausragendes Beispiel transnationaler und exophoner Literatur, also Literatur, die in einer Zweitsprache geschrieben wurde und in der Spuren der ersten Sprache in irgendeiner Form vorkommen und thematisiert werden. Ihre Schriften stellen eine Spielart der Ethnographie dar, die deutsche Sprache und Kultur von außen betrachtet und durch diesen ungewöhnlichen Blickwinkel erhellende Einblicke in das bietet, was von Innen zu offensichtlich ist, um gesehen zu werden. Sie erlaubt uns, unsere Welt neu zu entdecken, die „Zeichen der Welt neu lesen zu lernen“, wie Jürgen Wertheimer formulierte (im Nachwort zu Tawada 2001: 61). Die meisten dieser Beobachtungen spielen sich innerhalb des Sprachlichen ab, was verdeutlicht, dass und wie wir „aus Sprachzeichen Wirklichkeitskörper formen“ (Wertheimer in Tawada 2001: 62). Sie beschreibt etwa ihre Verlegenheit, als ihr bewusst wurde, dass ein Bleistift 214 Marko Pajević 1 Vgl. auch Talisman, p. 52: „das Gesprochene gelangt durch das Gehirn ins Fleisch“. im Deutschen männlich ist - im Japanischen gibt es keine Geschlechter - diese Sexualisierung der Welt war für sie mit Scham verbunden (Tawada 2011: 9-12). 2 Tawadas mehrsprachiges Denken Ein Kind, oder eine Person, die eine Fremdsprache spricht, nimmt die Sprache beim Wort (vgl. Tawada 2011: 13). Was auch bedeutet, dass die Welt in der Sprache erschaffen wird. Das führt zu der Frage, ob ich eine andere Person werde, wenn ich eine andere Sprache spreche. Oder ob ich die Welt in einer anderen Sprache anders sehe? Sieht zum Beispiel ein Seepferdchen im Deutschen anders aus als ein tatsu-no-otoshigo? - Das ist das japanische Wort für Seepferdchen und bedeutet wortwörtlich „das verlorene Kind des Drachens“ (Tawada 2016: 29). Es ist offensichtlich kein Zufall, dass eine Nicht-Muttersprachlerin den Gedanken von Abenteuern der deutschen Grammatik hervorbringt. Unsere erste Sprache ist natürlich auch unsere erste Fremdsprache, wie Tawada betont. Wir müssen sie als kleine Kinder lernen und dann verwundert sie uns wohl mindestens ebenso sehr wie jedwede andere Sprache, die wir uns später aneignen. Sobald wir diese Erstsprache jedoch gelernt haben, stellt sie unser Denkuniversum dar. Sie wird die natürliche Perspektive auf die Welt - solange, bis wir mit alternativen Weisen die Welt zu sehen konfrontiert werden, das heiβt, mit anderen Sprachen, die wir lernen. Eine neue Sprache lehrt uns, dass unsere Vorstellungen von der Welt nicht die einzig möglichen sind, dass wir andere Perspektiven einnehmen können - auf die Dinge, auf die Beziehungen zwischen den Dingen, oder zwischen uns und den Dingen bzw. uns und anderen, das heißt auf Beziehungen allgemein. Sprache ist tatsächlich das Medium all unserer sozialen Beziehungen, einschließlich derjenigen zu uns selbst (vgl. Joseph 2019: 16). Insofern ist es Sprache, die unser Leben bestimmt. Tawada geht so weit zu behaupten, dass Sprache in ihrer physischen Vibration unser Fleisch durchläuft und die sprechende Person körperlich transformiert, was erklärt, warum die Gesichter von Emigranten in den Nachfolgegenerationen anders aussehen als die der im Vaterland verbliebenen - unsere Gesichtszüge sind nicht nur durch Genetik bestimmt, sie werden dadurch geformt, was die Sprache mit uns macht (vgl. Tawada 2001: 8). 1 Tawada formuliert sogar, dass es die Sprache ist, die die Menschen schreibt, nicht umgekehrt (vgl. Heimböckel in Gutjahr 2012: 157). Die Sprache prägt sich demzufolge also ganz konkret dem Geist und dem Körper der Sprechenden ein. Die Bedeutung des Klangkörpers der Sprache ist ein wiederkehrendes Thema: Tawada betont die grammatische Relevanz des Tonfalls 215 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen 2 Dirk Weissmann, zum Beispiel, lenkt ebenfalls die Aufmerksamkeit auf diese semantische Dimension in der lustvollen Beschäftigung mit Klang und Gesten. Hören beinhaltet eine Offenheit gegenüber anderen semantischen Bedeutungsdimensionen (vgl. Weissmann in Dembeck/ Uhrmacher 2016: 188-189). 3 In den Bühnenanweisungen zu ihrem Theaterstück Till, in dem Japaner und Deutsche auf der Bühne stehen und in ihrer jeweiligen Sprache sprechen, fordert sie ausdrücklich, dass beide Sprachen unübersetzt bleiben, selbst wenn Teile des Stückes damit für nahezu das gesamte Publikum unverständlich bleiben. Sie stellt dem jedoch musikalische oder visuelle Zugänge zum Bühnengeschehen entgegen (vgl. Tawada 1998: 43-44). Und in Tawada 2018: 150 behauptet sie, dass für sie nichts schöner sei als stundenlang in einem Theater zu sitzen und einer Sprache zuzuhören, die sie nicht versteht. und auch die herausragende Bedeutung von Klang und Intonation für Kinder beim Spracherwerb (vgl. Tawada 2001: 8 -9), 2 ebenso wie die musikalische Dimension für Erwachsene, die eine neue Sprache erlernen. Wenn sie Deutsch spricht, stellt Tawada fest, fühlt sie sich wie ein Komponist, der den Klang von Waldvögeln hört, schreibt und nachahmt (Tawada 2001: 22). 3 Der Körper der Sprache, aber auch der eigene Körper findet in seine Kraft in einer Fremdsprache, wir erhalten „Körperbewusstsein“ (vgl. Tawada/ Gutjahr 2012: 28-29). Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die viel klareren Umrisse und die Kon‐ kretion in Fremdsprachen, im Vergleich zu unserer Erstsprache, in welcher die Selbstverständlichkeit uns davon abhält, solche Dinge zu bemerken (vgl. Tawada 2001: 7). Das folgende Zitat verdeutlicht das noch weiter: „Die Schwierigkeiten werfen Licht auf den Sprachkörper und machen ihn auf diese Weise sichtbar. Dagegen bleibt man meistens blind in einer Sache, die man beherrscht.“ (vgl. Tawada 2001: 25) Dinge, mit denen wir zu vertraut sind, sehen wir nicht. In einer neuen Sprache setzen wir uns also dem Unbekannten aus, neuen Lebens‐ formen. Und wir werden bewusster. Das ist in der Tat ein Abenteuer. Wenn wir uns derart mit neuen Formen und Perspektiven konfrontieren - oder, um es mit Wilhelm von Humboldts Ausdruck für Sprachen zu sagen: mit Weltansichten - dann gehen wir Risiken ein. Wir müssen eventuell komfortable Gewissheiten aufgeben, unsere Überzeugungen mögen erschüttert werden. Nicht jeder mag Abenteuer, wenn sie Wirklichkeit werden und Konsequenzen für unser eingerichtetes Leben zeitigen. Solche Abenteuer können allerdings auch unseren Geist öffnen und weiten. Es ist ein wenig wie Jakobs Kampf mit dem Engel (Genesis 32: 22-32): indem wir uns dem Unbekannten aussetzen, werden wir beeindruckt, erhalten wir eine Prägung, und werden, derart, verwandelt. Jakob hinkte nach seinem Kampf mit dem Engel, aber er gewann auch einen neuen Namen, Israel, ein bleibender Eindruck, und schuf so die Grundlage für sein zukünftiges Volk. Er gewann Bewusstsein und Perspektive. Tawada sieht das Element der Abstraktion und Entfremdung in diesem erweiterten Bewusstsein des Lebens in einer Fremdsprache. Sie kommentiert 216 Marko Pajević 4 Monika Schmitz-Emans analysiert Tawadas Einsatz der Schrift und wie diese Präsentation die Lesenden sensibilisiert: „Die Sensibilität für Gestalt und Faktur von Geschriebenem wird allerdings: „Aber ich sehe eine Chance in dieser zerstörten Beziehung zur Mut‐ tersprache und zur Sprache überhaupt. Man wird ein Wortfetischist (Tawada 2016: 32).“ Es geht um die Präzision unserer Sichtweise. Tawada beschreibt die Unmöglichkeit, sich Leben und Denken in einer anderen Sprache vorzustellen, wenn man einsprachig ist (vgl. Tawada/ Gutjahr 2012: 19). Wenn man jedoch erst einmal einen mehrsprachigen Geist entwickelt hat, wird es unvorstellbar, ohne Mehrsprachigkeit zu leben. Sie betrachtet sich selbst jetzt als ein zweisprachiges Wesen, in dem Sinne, dass beide Sprachen gegenseitig wichtig sind und sie nicht mehr ohne die je andere Sprache sein kann, da beide einander erhellen (vgl. Tawada/ Gutjahr 2012: 19). Folglich gibt es auch den Genuss in diesem Abenteuer des Wandelns auf ungewohnten Pfaden, etwas, was Tawada mit dem schönen Wort Heimatlust bezeichnet, ein Wort, welches Heimatverlust anklingen lässt und es zugleich verdreht, aber ebenso auf die Wanderlust in solchen Abenteuern anspielt, und sie definiert folgendermaßen: „Das ist die Lust, die man empfindet, wenn man die eigene Heimat mit einem neuen Blick betrachtet.“ (Tawada 2011: 119) 3 Das Beispiel der Personalpronomina Lassen Sie uns jetzt also diese Wanderlust genießen und auf eine kleine Aben‐ teuerreise mit Yoko Tawada gehen, einen genaueren Blick auf ihre Abenteuer mit der deutschen Grammatik werfen, um dann ein paar Schlussfolgerungen dafür zu ziehen, was das für Mehrsprachigkeit bedeutet, für uns selbst, sogar für das Menschsein, denn, wenn die Sprache das menschliche Dasein bestimmt, dann gibt es auch immer eine anthropologische Dimension in dem, was im Sprachlichen geschieht. Leibniz hat Sprachen bereits „le meilleur miroir de l’esprit humain“ genannt (Leibniz 1966: 290), den besten Spiegel des menschli‐ chen Geistes: sie verdeutlichen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und Leibniz betonte ebenfalls die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für unseren Geist, indem er „la merveilleuse variété de ses opérations“, also die wunderbare Vielfalt seiner Operationen, als wünschenswert pries (Leibniz 1966: 239). Tawada bestätigt das: „Das wichtigste Erbe der Menschheit besteht jedoch aus den Sprachen mit ihrer Unterschiedlichkeit. Warum sollte man sie nicht mit anderen teilen? Durch das Teilen wird das Erbe nicht weniger, sondern mehr.“ (Tawada 2016: 21) Der Gedichtzyklus Abenteuer der deutschen Grammatik ist palimpsestartig auf dem Hintergrund eines deutschen Grammatikbuches gedruckt. 4 Allein diese 217 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen vom Befremden angesichts eines unvertrauten Schriftbildes stimuliert“ (Schmitz-Emans in Gutjahr 2012: 284). Aufmachung verdeutlicht die Überlappungen von Grammatik und Dichtung und suggeriert, dass wir uns auf fremdem Boden bewegen, wo Begegnungen und unerwartete Verbindungen stattfinden können. Tawada hebt eine Reihe von Besonderheiten der deutschen Grammatik hervor, die für einen deutschen Mutter‐ sprachler ganz natürlich scheinen und normalerweise unhinterfragt bleiben, etwa die Großschreibung gewisser Worte (7), Nominalisierungen (10), Aussprache (12), Zeichensetzung (13), Anglizismen (14) und Wortstellung (18). Ich werde mich im Folgenden auf die Personalpronomen am Beispiel dreier Gedichte konzentrieren. Tawada spricht in ihrem Werk immer wieder über ihre Beziehung zum deutschen Wort Ich. Sie behauptet, ihr japanisches Ich unterscheide sich vom deutschen. Der Grund dafür liegt in unterschiedlichen Traditionen der Subjek‐ tivität und von Sinn. Im Haiku etwa gibt es kein beobachtendes Ich, keine Dualität zwischen Sehen und Gesehen-Werden, zwischen Subjekt und Objekt. Ein Haiku stellt ausschließlich einen Moment dar, ohne beobachtende Person. Im Japanischen gibt es viele Wörter für Ich, jedes verweist auf eine andere Identität, einen anderen Status oder ein anderes Geschlecht. Im Deutschen ist Ich einfach Ich, es bezieht sich ausschließlich auf die sprechende Person, unabhängig von allen Eigenschaften dieser Person - weshalb es Tawadas Lieblingswort ist (vgl. Tawada 2018: 55 und 59). Wenn sie das deutsche „Ich“ verwendet, bedeutet dies für sie keine soziale Rolle oder Position, es stellt für sie eine Linse dar, welche ihr das Sehen ermöglicht. Aus diesem Grund betrachtet sie das Ich auch nicht als schwierig, wie Deutsche es wohl tun mögen, für sie ist es nicht mit Geschichte und Verantwortung aufgeladen. Sie rät dazu, das Ich rein grammatikalisch zu betrachten, dann wäre es befreiend (vgl. Tawada/ Gutjahr 2012: 26-27). Das ist, was sie im folgenden Gedicht macht. Die zweite Person Ich Als ich dich noch siezte, sagte ich ich und meinte damit mich. Seit gestern duze ich dich, weiß aber noch nicht, wie ich mich umbenennen soll. (Abenteuer der deutschen Grammatik, 8 © Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke) Der Titel des Gedichts ist bereits eine Provokation, indem es die erste Person Ich als zweite bezeichnet. Das Ich erhält hiermit den Status eines Anderen, jemand, 218 Marko Pajević der von außen betrachtet werden kann, vom Selbst losgelöst oder ganz ohne diese Instanz des Selbst. Das führt auch den Umstand mit sich, dass es mehr als ein Ich gibt, was die traditionelle westliche Vorstellung vom determinierten selbstbestimmten Subjekt von sich weist. Das Gedicht thematisiert den Unterschied zwischen dem formellen Siezen und dem informellen Duzen. Das lyrische Ich gesteht seine oder ihre Verwirrung bezüglich des Status und der Bezeichnung des Ich, wenn es die Beziehung zu einem Du verändert. Das das Du formell ansprechende Ich muss, so das Gedicht, anders sein als das das Du informell ansprechende Ich. Jedoch ändert sich nichts am Wort Ich. Dieser Umstand ruft tatsächlich die Frage nach unserer Konzeption des Ich auf den Plan - existiert es überhaupt auch für sich allein oder ist es nicht eher immer durch seine Beziehungen bestimmt? Sind wir einfach, oder können wir nur in Beziehung zu einem Anderen sein, dialogisch? Solche Fragen verdeutlichen die Relevanz grammatischer Figuren für unsere Weltansicht und, folglich, für die grundlegendsten philosophischen Begriffe. Barbara Cassins philosophisches Wörterbuch der Intraduisibles, der Unübersetz‐ barkeiten, hat viel zur Bewusstwerdung beigetragen, dass Begriffe aus Wörtern bestehen und dass diese unterschiedlich in verschiedenen Sprachen sind, was bedeutet, dass auch die Begriffe nicht dieselben sind, selbst wenn sie direkte Übersetzungen zu sein scheinen (Cassin 2004). Das bedeutet wiederum, dass in verschiedenen Sprachen tatsächlich anders gedacht wird, dass sie andere Vorstellungen von der Welt transportieren bzw. schaffen. Sprachen sind nicht einfach Werkzeuge für die Kommunikation, sie sind in erster Linie Kognition. Das basiert sehr stark auf Humboldts Begriff der Weltansicht. Tawadas Gedicht macht diesen in den Sprachstrukturen inhärenten Unterschied im Denken evi‐ dent, den deutschen Lesern wird das Deutschsein ihres Denkens unter die Nase gerieben und derart treten sie aus dem festen Rahmen ihrer Weltansicht hinaus und sie werden befähigt, außerhalb ihrer gewohnten Pfade zu denken. Beide Seiten unternehmen ein Abenteuer: die japanische Schriftstellerin, die versucht, die Konzeption des ‚Ich‘ im Deutschen zu begreifen, und die deutschen Leser, die ihre Vorstellungen vom Ich erweitern. Grammatik ist hier eine Möglichkeit, neue Denkräume zu betreten - das ist riskant, weil es alte Überzeugungen destabilisiert, aber auch aufregend, weil es neue Perspektiven eröffnet. Das wird noch weiter verkompliziert durch den Umstand, dass das „ich“ das „mich“ und das „dich“ durchzieht (vgl. Ette in Gutjahr 2012: 328). Ich, dich und mich sind verbunden durch die Sprachform. Sowohl mich und dich enthalten das ich: man kann dich und mich nicht ohne das Ich denken. 219 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen Tawada kommentiert, dass das Ich dieses Gedicht nichts mit ihr selbst zu tun habe. Es sei inszeniert, um eine Kohärenz zu schaffen, aber ‚natürlich‘ ist es nicht kohärent, da es Mehrfaches bedeuten kann (Tawada/ Gutjahr 2012: 27). Das folgende Gedicht baut diese Frage nach den Personalpronomen und nach der Identität aus: Die zweite Person Du hast ein Geschlecht. „Du“ hat kein Genus. Du da! Meinst du mich? Ja! Dann ist dein „Du“ heute weiblich. „Ich“ hat kein Genus. Und das ist ein Genuss für mich. „Ich“ sagt mein Freund, der einen Freund hat. Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt. Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören. Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben, immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos. (Abenteuer der deutschen Grammatik, 23 © Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke) Dieses Gedicht legt den Schwerpunkt auf die zweite Person, das Du, aber es hat auch Implikationen für das Ich, selbstverständlich. Das Gedicht lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass eine Person ein Geschlecht hat, aber das Pronomen ‚Du‘ hat keines. Das Gleiche gilt für das Ich. Die gleiche Person ist ein Ich oder ein Du, je nachdem ob man spricht oder zuhört. Das erste und das zweite Personalpronomen im Deutschen sind vorurteilslos in Bezug auf Homo- oder Heterosexualität. Wenn wir von einem Ich und einem Du und deren Beziehung sprechen, hat Geschlecht dabei keine Bedeutung, wenigstens grammatikalisch. Das nächste Gedicht gibt einen Einblick in die dritte Person: Die dritte Person Er trägt seinen alten Hosenträger, sie ihren weißen Busenhalter. Ein Ich hingegen läuft nackt herum. Ein Ich kann Marie, Marika oder Mario heiβen. 220 Marko Pajević Er erträgt seine unerträgliche Mutter, sie ihren Vater. Sie trägt eine Gebärmutter in sich, er seine Hoden. DU trägst nichts bei dir auβer den Buchstaben D und U. Ein Du kann Kain, Cathy oder Keika heißen. „Ich“ muss keine Steuern zahlen, denn ICH ist kein bürgerlicher Name. „Du“ musst nicht zur Bundeswehr. Ein Soldat, der DU heißt, tötet nicht. (Abenteuer der deutschen Grammatik, 24 ©Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke) Dieses Gedicht weist darauf hin, dass die dritte Person, im Gegensatz zur ersten und zweiten Person, gegendert ist. Im Deutschen, anders als im Französischen etwa, bezieht sich das Possessivpronomen auf das Subjekt, nicht auf das Objekt. Die Pronomen der ersten und zweiten Person können von allen gebraucht werden - solange sie nicht als dritte Person betrachtet werden, sind sie nicht zum Objekt gemacht. Das bedeutet, sie können nicht biopolitisch betrachtet werden. Für den Staat und die Institutionen gibt es keine Ichs oder Dus. Die letzte Zeile betont auch die dialogische Dimension der ersten beiden Personen, ganz im Sinne von Martin Bubers dialogischem Prinzip (Buber 1962): es ist unmöglich, in einer Ich-Du-Beziehung zu töten, die Voraussetzung für Krieg ist ein objektivierter ‚Feind‘ in der dritten Person. Das waren nur einige wenige Beispiele, wie Grammatik eine Erkundung des Lebens, ein Abenteuer des Geistes sein kann. Um uns unserer Denkmuster - und -begrenzungen - bewusst zu werden und sie derart zu überwinden, ist eine Außenperspektive sehr hilfreich. Eine neue Sprache ist deshalb eine Denkschule. Eine neue Sprache zu lernen ermöglicht es uns, auf neue Weise zu denken, aber auch um das Alte zu denken, und es anders zu denken, es zu überdenken. Eine andere Weltansicht erlaubt mehr Freiheiten, wie Tawada explizit sagt (Tawada/ Gutjahr 2012: 35). 4 Die Konsequenzen für ein mehrsprachiges Denken Das daraus folgende Bewusstsein von anderen Denkweisen und von der Vielfalt der Möglichkeiten kann in der Tat befreiend wirken, wenn die betreffende Person Differenz erträgt und nicht angst- oder hasserfüllt ist - in dem Falle allerdings mag das Andere als Bedrohung empfunden werden und müsste dann bekämpft werden. Aber nichtsdestotrotz, ein Bewusstsein, dass unterschiedliche Weltansichten existieren, sollte eher zu mehr Toleranz führen und zu dem 221 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen 5 Historizität ist ein wichtiger Begriff in der Theorie Henri Meschonnics, im Glossar zu The Henri Meschonnic Reader definiere ich ihn folgendermaβen: „Historicity: This key term means the situatedness and subjectivity of any discourse, implying also that the critique itself is situated and part of the discourse. In Meschonnic’s theory of language, this term captures the contradiction that an activity is situated and circumstantial, but can constantly leave this situation and remain active in the present, in new presences. It is opposed to historicism, which is the completed, the past of meaning and a reduction of meaning to its conditions of production. Historicity designates a relation, the indefinitely renewed encounter between past and present moments of meaning. As such, it is unpredictable. This is a central term for poetics, since it creates the specificity of a literary work and shows that the sense of literature is not limited to the sense of the words at the time of their production. This implies the necessity of a theory of discourse for all disciplines of meaning because it shows the interaction between the theory of language and the theories of literature, art, the subject, ethics and politics. This is why Meschonnic’s theory of rhythm is a historical anthropology of language.“ (Pajević 2019) Bedürfnis, Sichtweisen auszutauschen, um zu wachsen und den menschlichen Geist in seiner Fülle zu verstehen. Wir sprechen hier weniger über Mehrspra‐ chigkeit als über die Fähigkeit, eine andere Sprache zu bewohnen, eine andere Weltansicht zu leben. Mit einer solchen Haltung deckt die Vielfalt die Unend‐ lichkeit des Lebens auf und bietet die Möglichkeit, anders zu denken, neue Perspektiven einzunehmen. Tawada entwickelt eine Antwort auf ihre Frage, ob wir eine andere Person in einer anderen Sprache sind. Sie zieht es vor zu sagen, dass wir uns eher als ein Netz betrachten sollten, dessen Struktur immer dichter wird, indem wir neue Elemente aufnehmen und derart neue Muster schaffen, mit mehr Knoten und Unregelmäßigkeiten. Mehrsprachigkeit ermöglicht dann, mit diesem Netz den kleinsten Plankton zu fischen (vgl. Tawada 2016: 30). Yoko Tawadas exophone Literatur ist eine Ethnographie, die es den deutschen Lesern und Leserinnen ermöglicht, ihre eigene Sprache als Fremdsprache zu erfahren, indem sie eine Außenperspektive einnehmen. Das ist die klassische Situation der Selbstreflektion und damit die Definition des Denkens und des Bewusstseins selbst. Eine Sprache ist immer eine Theorie, das heißt, wie die griechische Wurzel des Wortes impliziert, eine Weise, die Dinge zu sehen, eine Weltansicht. Max Horkheimer unterschied zwischen traditioneller Theorie, die über etwas außerhalb ihrer selbst nachdenkt, und kritischer Theorie, die sich ih‐ rer eigenen kulturellen und historischen Determiniertheit bewusst ist und diese mit einbezieht (Horkheimer 1992), sich also ihrer eigenen Historizität bewusst ist, wie Henri Meschonnic das nennt. 5 Tawadas Texte könnten deshalb kritische Texte in diesem Sinn genannt werden, da sie ein Bewusstsein ihrer eigenen 222 Marko Pajević Voraussetzungen darstellen. Sie spielen auf selbstreflektive und bewusste Weise mit den den Sprachen eingeschriebenen Voraussetzungen und Vorannahmen. Exophone Literatur wie diejenige Tawadas zeigt, was eine mehrsprachige Geisteshaltung für unsere Weltansicht bewirkt. In ihrer bahnbrechenden Studie Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition behauptet Yasemin Yildiz, dass das Paradigma der Einsprachigkeit als Norm aus einer relativ jungen Entwicklung resultiert, die am Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzte. Dieser Zustand sei in unserer Zeit im Umbruch begriffen, so Yildiz, sodass sie in diesem Rahmen ihre These der postmonolingual condition als Kampfbegriff gegen das immer noch dominante Paradigma der Einsprachigkeit aufstellen kann (Yildiz 2012: 3-4). Till Dembeck und Anne Uhrmacher stellen aus linguistischer und literarischer Perspektive sogar die Existenz der Einsprachigkeit schlechthin in Frage und stellen fest, dass es nur Mehrsprachigkeit gibt, lediglich mehr oder weniger sichtbar (Dembeck/ Uhrmacher 2016: 9). In ihrem Kapitel zu Tawada (Yildiz 2012: 109-142) verweist Yildiz auf die besondere Situation eines „politically charged, reemergent multilingualism“ (Yildiz 2012: 115) in Japan, gegen die ideologische Aufzwingung des Tokioter Dialekts als einziger Sprache des japanischen Nationalstaats zu Beginn des frühen 19. Jahrhunderts. Selbst wenn Tawada nicht offen politisch sein mag, so nehmen ihre Schriften an solchen gesellschaftlichen Verschiebungen teil. Yildiz sieht ebenfalls Tawadas Entscheidung, Japan zu verlassen, als repräsentativ für viele japanische Frauen an, die in den 1980ern und 1990ern das Gleiche getan haben, „yearning for the foreign“, um ihren Lebensbedingungen als Frau in Ja‐ pan zu entkommen (Yildiz 2012: 122). Aus diesem Grunde betrachte Tawada „the move to a new language environment, undertaken individually and voluntarily, as liberating and enabling“ (Yildiz 2012: 120). Yildiz präsentiert Tawada als ein Beispiel für die Weise, wie Mehrsprachigkeit „affects the monolingual paradigm from within. Through homophones and homonyms, Tawada points to structures that look alike but are not, and that look like one word but are not. Multiplicity and multilingualism are thus not necessarily visible, yet they constitute our world“ (Yildiz 2012: 141). Yildiz’ Vorstellung von Schreiben jenseits der Muttersprache bedeutet „wri‐ ting beyond the concept of the mother tongue.“ (Yildiz 2012: 14) Ihre Erklärung für das Aufkommen des Einsprachigkeitsparadigmas und ihre Schuldzuweisung an die deutschen Romantiker und ihre neu entwickelte Sprachvorstellung scheint mir jedoch problematisch zu sein (vgl. Yildiz 2012: 6-10). Die Etablierung der Einsprachigkeit als Norm hat einen gänzlich anderen Hintergrund: Es ist ein biopolitisches Interesse (in Michel Foucaults Vorstellung des Begriffs), welches zur gleichen Zeit aufkam. Der Staat erzwang Einsprachigkeit mit dem Ziel einer 223 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen effizienteren Verwaltung seiner Untertanen und einer einheitlichen Nation. Dementsprechend gab es auch in Japan zu jener Zeit vergleichbare Tendenzen, die wohl damals nicht durch die deutschen Romantiker angeregt wurden. Yildiz hingegen nennt Herder, Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher als Hauptverantwortliche für das Einsprachigkeitsparadigma, aufgrund von deren Vorstellung der Bedeutung der Sprache für das Denken, wodurch die prägende Kraft der Muttersprache betont wurde. Allerdings gesteht Yildiz diesen Denkern zu, dass ihre Sprachkonzeption das Studium anderer Sprachen gefördert und zu einer größeren Anerkennung der Sprachenvielfalt geführt habe (Yildiz 2012: 6-7). Die weitverbreitete Kritik an dieser relativistischen Sprachauffassung, die Yildiz hier aufgreift und weiterführt, vor allem, dass diese zu der Vorstellung des voneinander Abgetrenntseins der Sprechenden verschiedener Sprachen führe, ist in der Tat ein „extreme end“ (Yildiz 2012: 8), eine drastische Schlussfolgerung, die von keinem der genannten Denker in dieser Form gezogen wurde. Sie sollten nicht für extremistische Positionen verantwortlich gemacht werden. Sie haben, ganz im Gegenteil, eine Sprachauffassung entwickelt, die es ermög‐ licht, den Wert von Mehrsprachigkeit und von exophoner Literatur zu würdigen, als eine Bereicherung des menschlichen Geistes, da Sprachen in ihrer Vielfalt verschiedene Weltansichten darstellen. Die entgegengesetzte universalistische Ansicht, die den Unterschieden in den Sprachen jegliche Bedeutung abspricht und, im Interesse ungehinderter Kommunikation, immer häufiger offen für eine einsprachige Welt eintritt (eine Englisch-sprachige Welt natürlich), macht alle jene Vorzüge der Mehrsprachigkeit unmöglich, die Yildiz befördern möchte. Exophone Literatur zeigt die Komplexität und Kontingenz unserer Welt auf. Das mag Einige beängstigen und einfache Wahrheiten schwieriger machen, aber diese Konsequenzen sind schlicht Anzeichen dafür, wie dringlich wir mehr über diese Komplexität und Kontingenz wissen müssen. Deshalb braucht die Welt Kunst im Allgemeinen, zumindest wenn wir an einem Menschenbild mit Tiefendimension festhalten wollen. Sprache, auch unsere Erstsprache, als ein Abenteuer zu erfahren, gibt uns die Frische der Sprache zurück und macht uns bewusst, wie sehr Sprache unsere Lebensbeziehungen bestimmt, folglich: wie sehr Sprache Leben ist. Friedrich Nietzsche, in „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, hatte die Erkenntnis, dass Sprache eine doppelte Metaphorisierung ist, was bedeutet, dass wir nur einen sehr vermittelten Zugang zur ‚Realität‘ haben können. Aber wir vergessen diese Tatsache meistens und nehmen die Wörter à la lettre, als eine feststehende Wahrheit - für Nietzsche ist das eine lächerliche Illusion, Zeichen der größten Verlogenheit in der Menschheitsgeschichte (Nietzsche 2005: 873). Für Nietzsche führt das zu der Schlussfolgerung, dass die Welt nur ästhetisch 224 Marko Pajević gerechtfertigt werden kann. Diesen Gedanken der metaphorischen Bedingtheit von Sprache und damit von der Konstruiertheit unserer Welt weiterführend, behauptet der Vertreter des Russischen Formalismus Viktor Šklovskij in seinem Text „Auferweckung des Wortes“, dass wir die ursprünglich lebendigen Bilder der Worte, ihre Tropikalität, verloren haben, und dass wir Neuheit in die Sprache bringen müssen, um diese wieder zu spüren und um der Sprache ihre Kraft und Schönheit zurückzugeben. Ein Verfremdungselement erlaubt es, die Kraft des Wortes erneut zu spüren (Šklovskij 1973). Tawada setzt der Sprachpolizei die Spielpolyglotte entgegen und demonstriert, wie, durch die Transgression der Grammatik, ein Dialog eröffnet wird: Ich breche die Grammatik durch, den Stab der Sprachpolizisten. Ich durchbreche die Schlachtlinie und finde dort meine Feinde. Wie sehen sie aber aus? Ich muss sie erst erfinden. Ich finde sie er. Ich verstehe sie nicht. Ich stehe sie nicht ver. Ich spreche sie nicht an. Ich anspreche sie. (Tawada 2007: 28) Ihr Spiel mit den Besonderheiten der deutschen Grammatik mit ihren trenn‐ baren und nicht trennbaren Präfixen, die die Bedeutung der Wörter jeweils verändern, und mit Geschlecht, verweist auf die Merkwürdigkeiten und Impli‐ kationen solcher Grammatik und verwandelt sie in ein Spiel, um letztlich bei einer Ansprache des Anderen anzukommen. Im Folgenden sagt sie, wie sie „von einer groβen Lust ergriffen (ist), die Buchstaben durcheinanderzubringen, um dem Spielplatz Wörterbuch seine poetische Ausstrahlung zurückzugeben“ (Tawada 2007: 37). Kommen wir zum Abschluss nochmals auf das Abenteuer zurück. Die Geburt der ritterlichen Abenteuerideologie vom 11. bis zum 13. Jahrhundert lässt sich als eine der entscheidenden Wandlungen im menschlichen Selbstverständnis ansehen, da damit zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Vertraute systematisch preisgegeben wird, um das Fremde kennenzulernen. Neben dieser Überschreitung des kulturellen Horizontes wird auch das Zufällige der Existenz bejaht. Diese Haltung wird jetzt kultiviert als dem Menschen wesentlich und ihn auszeichnend. Darin ist die Möglichkeit des Wandels und der willentlichen Veränderung der Zustände bereits angelegt, also die Überwindung und Neuge‐ staltung der Weltordnung, der Drang nach Neuem und Entwicklung, Fortschritt. Mit der Akzeptanz des Zufalls als konstitutivem Element ist das moderne Individuum geboren und der Gottesglaube untergraben (Sandkühler 1990). Jetzt ist der oder das Andere als konstitutives Element des Seins - und zwar als potentiell positives - anerkannt. Das ist eine Entwicklung, neben der laut Sandkühler Reformation und Französische Revolution zu bloβen Anekdoten der menschlichen Mentalitäts- und Sozialgeschichte verblassen. 225 Sprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen 6 Dieser Aufsatz ist eine leicht überarbeitete Version eines auf Englisch erschienenen Artikels (Pajević 2019b). Sprache als Abenteuer zu begreifen, ist also nichts Geringes. Eine andere Sprache zu erlernen wird in dieser Optik ein wesentliches Element des Mensch‐ seins. Es verweist ebenso auf die Möglichkeit einer Welt, in der ein Miteinander des Verschiedenen denkbar wird. Exophone Literatur weist uns den Weg. Grammatik als Abenteuer zu leben bedeutet, unsere geistigen Prozesse als Abenteuer zu leben, was wiederum bedeutet, uns selbst als Abenteuer zu leben. Es führt zu einem intensiven und bewussten Leben. Erkenne dich selbst, γνῶθι σεαυτόν - seit der griechischen Antike ist dieser Imperativ wesentlicher Teil der Definition des Menschseins. Das ist wohl auch das, worauf Kafka sich in einem Brief vom 27. Januar 1904 an seinen Freund Oskar Pollock bezog, als er eine Literatur forderte, die die Axt darstellt, mit der das gefrorene Meer in uns aufgebrochen wird. Literatur sollte neue Perspektiven öffnen, uns die Welt anders denken lassen und derart ermöglichen, die Zustände in Frage zu stellen, und ebenso uns selbst. Das ist, was Sprachdenken, wie dasjenige Tawadas etwa, uns zwingt zu tun. Das ist in der Tat abenteuerlich. Abenteuer können gefährlich sein, sie können uns auf dem falschen Fuβ erwischen, aber solche Texte regen uns zum Denken an - und das ist in gewisser Weise, Immanuel Kant folgend, die Definition der Schönheit. 6 Literaturverzeichnis Buber, Martin (1962 [1923]). Ich und Du. In: Werke in drei Bänden. München/ Heidelberg: Kösel/ Lambert Schneider, I: 77-170. Cassin, Barbara (Hrsg.) (2004). Vocabulaire européen des philosophies: Dictionnaire des intraduisibles. Paris: Seuil/ Le Robert. 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New York: Fordham University Press. 228 Marko Pajević Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“. Die politische Relevanz von poetischem Sprachdenken heute Hélène Thiérard Abstract: In der aktuellen Debatte um Universalität und die Notwendigkeit, nach dem europäischen Universalismus und seinem disqualifizierten Weltge‐ sellschaftsmodell diese neu zu definieren, nehmen die Stimmen von Barbara Cassin und Souleymane Bachir Diagne eine besondere Stellung ein. Beide verfolgen die „Pathologie des Universellen“ (Cassin) - bei Diagne „Universa‐ lität von oben“ genannt - in ihrer epistemischen Dimension innerhalb des europäischen Sprachdenkens zurück und stellen den universellen Logos der Philosophie auf den Prüfstand der Übersetzung. Diese Strategie der intradui‐ sibles tritt in mehrsprachigen Literaturen immer prägnanter in Erscheinung; unter diesem Gesichtspunkt untersucht mein Beitrag das heutige politische Potential ihres poetischen Denkens. Wenn SchriftstellerInnen anhand von translingualen Poetiken imstande sind, diese auf Übersetzungsprozessen beruhende, „komplexere“ (Cassin) bzw. „laterale“ (Diagne) Universalität er‐ fahrbar zu machen, so sind sie privilegierte Akteure in der oben skizzierten intellektuellen Debatte. Keywords: Universalität, Übersetzungstheorie, translinguale Poetik, Barbara Cassin, Souleymane Bachir Diagne, Yoko Tawada 1 Hintergrund Der Titel meines Beitrags bezieht sich auf die aktuelle Debatte in den Geisteswis‐ senschaften um eine neue Definition von Universalität, oder wie es Immanuel Wallerstein 2006 in seinem epochalen Buch European Universalism. The Rhetoric of Power formuliert, um einen (wirklich) „universellen Universalismus“. Diesen müssen wir in Angriff nehmen, wollen wir mitbestimmen, „wie das künftige 1 Dieser Artikel ist als Teil des Projekts „Minor Universality“ entstanden, das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert wird (EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“, Grant-Agreement Nr. 819931). Zur Webseite des Projekts: https: / / www.uni-saarland.de/ forschen/ minor-universality.html. 2 In diesem Zusammenhang müsste auch die Position François Julliens (2008) berück‐ sichtigt werden, was leider hier nicht möglich ist. Weltsystem, das in den nächsten fünfundzwanzig bis fünfzig Jahren eintritt, strukturiert sein wird“ (Wallerstein 2007: 8-9). Ausgehend von der Kritik am europäischen Universalismus, wie sie in postkolonialen Ansätzen sowie in Theorien der Moderne und der Globalisierung artikuliert wird (Chakrabarty 2000; Appadurai 1990; Conrad/ Randeria 2002), geht es darum, die Kategorie des Universalen neuzudenken, um das Feld des Denkens und des politischen Handelns nicht den „mörderischen Identitäten“ des Kulturrelativismus und der Ethnonationalismen zu überlassen (Balibar 2016, Mbembe 2016, Messling 2019). 1 In dieser Debatte nehmen die Stimmen von Barbara Cassin und Souleymane Bachir Diagne eine besondere Stellung ein, da sie die „Pathologie des Universel‐ len“ (Cassin 2016) in ihrer epistemischen Dimension innerhalb des europäischen Sprachdenkens zurückverfolgen und den universellen Logos der Philosophie auf den Prüfstand der Übersetzung stellen. 2 Übersetzung ermögliche im Hin und Her zwischen den Sprachen die Produktion einer komplexeren Universalität - wie der Titel von Cassins Buch Éloge de la traduction. Compliquer l’universel andeutet - als diejenige, die von einer kulturell dominierenden Sprache aus behauptet wird. Diese komplexere, aus der Sprachenvielfalt heraus gedachte Universalität nennt Diagne (mit Merleau-Ponty) „lateral“ im Gegensatz zur „Universalität von oben“ (universel de surplomb), da sie sich nicht hierarchisch durchsetzt, sondern das gegenseitige Verhandeln von zwei partikularen Standpunkten voraussetzt (Diagne 2014). Das Problem, das Cassin und Diagne hier auf theoretischer Ebene artikulie‐ ren, tritt in mehrsprachigen Literaturen immer prägnanter in Erscheinung - darin scheint mir heute ihre politische Relevanz vorwiegend zu liegen. Wenn SchriftstellerInnen anhand von translingualen, sprachmischenden Poetiken imstande sind, diese auf Übersetzungsprozessen beruhende, komplexere bzw. laterale Universalität erfahrbar zu machen, so sind sie privilegierte Akteure in der oben skizzierten intellektuellen Debatte. Sie haben durch ihre Praxis eines poetischen Sprachdenkens, wie im Übrigen LiteraturübersetzerInnen auch (vgl. Thiérard 2019), einen spürbaren Einfluss auf die Gestaltung der Welt von morgen. Es erscheint daher fruchtbar, eine Brücke zwischen der philosophischen Übersetzungstheorie von Diagne und Cassin und dem, was man heute in der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit als Überwin‐ 230 Hélène Thiérard 3 Meschonnics wichtigste Texte zu Humboldt sind in Meschonnic (2012: 624-682) im Kapitel „Penser Humboldt aujourd’hui“ nachgedruckt. Für eine deutsche Fassung dieser Texte, siehe das Kapitel „Humboldt heute denken“ in Trabant (1995: 67-89). 4 Siehe das Kapitel „Le dispositif Humboldt“ in Cassin (2016: 177-226). 5 Zur Gründung einer Sprachanthropologie bei Trabant und Meschonnic, siehe Pajević (2012: 124-191). 6 Den gleichen Vorwurf erhebt Trabant gegen Chomskys neo-aristotelische Position, die zur Indifferenz gegenüber Vielfalt und Materialität der Sprachen führt (Trabant 2003: 279-283). dung des monolingualen Paradigmas bzw. der neuzeitlichen Erfindung von Einsprachigkeit versteht (Yildiz 2012; Gramling 2016; Dembeck/ Mein 2014; Dembeck/ Parr 2017), zu schlagen. Als paradigmatisches Beispiel nehme ich das Werk der zeitgenössischen Schriftstellerin Yoko Tawada, deren Poetik zwi‐ schen den Sprachen gewisse Ähnlichkeiten mit der Strategie der „produktiven Unübersetzbarkeiten“ (la productivité des intraduisibles) aufweist, die Cassin auf philosophischer Ebene entwickelt. 2 In Sprachen denken: gegen den europäischen Sprach-Universalismus Die ethischen und politischen Implikationen des europäischen Sprachdenkens wurden in den letzten Jahrzehnten von Philosophen und Kritikern, wie Henri Meschonnic (1982), 3 Jürgen Trabant (1990; 1986) und Barbara Cassin (2016), 4 die in der sprachanthropologischen Tradition Humboldts stehen, verstärkt aufgezeigt. 5 Insbesondere decken sie die verhängnisvollen Folgen der vorherr‐ schenden dualistischen, auf Aristoteles zurückgehenden Sprachaufassung für die Gestaltung unserer Gesellschaft auf, die unter dem Deckmantel der Uni‐ versalität von Sprache (langage) die Überlegenheit einer bestimmten Sprache (langue) bzw. Sprachfamilie begründet. In De interpretatione postuliert Aris‐ toteles universell abstrakte Konzepte, als ob Wörter bloße Kleider wären, unbeteiligt am Erkenntnisprozess. In diesem „- nach den Bibel-Passagen - sicher einflußreichsten europäischen Text über die Sprache“ wird „Sprache zum Mittel für die Kommunikation des sprachlos Gedachten degradiert“, so Trabant (2003: 30, 34). Diese vermeintliche Universalität des Logos, die auf der radikalen Trennung von conceptus und vox, von Kognition und Kommunikation, beruht, ist stark ethnozentrisch, da sie zwangsläufig von einer bestimmten Sprache aus gedacht ist: 6 Griechisch erklärt sich dabei zur Sprache der Vernunft und des Seins, indem sie Anderssprachige („Barbaren“) von der Teilhabe an der Vernunft ausschließt. Diese „Universalität von oben“ ist „die Position desjenigen, der seine eigene Partikularität als Universalität deklariert“ [la position de celui qui déclare 231 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ universelle sa propre particularité] (Diagne 2018: 68- 69) und Alterität nur als Minderwertigkeit deuten kann. Je nach Epoche heißt die selbsterklärte Sprache der Vernunft Griechisch, Französisch oder Englisch - die „Barbaren“ werden dann entsprechend in „Primitive“ oder „Subalterne“ umbenannt. Diagne warnt vor einer solchen Verwechslung zwischen Universalismus und Universalität und verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass afrikanische Sprachen gegenüber europäischen immer noch oft als defizitär (miss)verstanden werden: ihnen fehle die Schrift, abstrakte Begriffe, das Futur, das Verb „sein“ etc. (Diagne 2018: 69 -70). Muss man daran erinnern, dass Philologen im 18. und 19. Jahrhundert Argumente für ein Denken der europäischen Sprach- und Kultur-Überlegenheit lieferten, die die Kolonialherrschaft der Europäer über den Rest der Welt weitgehend rechtfertigte und als einer „mission civilisatrice“ nicht zuletzt gesellschaftliche Akzeptanz verschaffte (Messling 2016)? Um es mit Meschonnic zu sagen, die aristotelische, das Abendland prägende Sprach‐ auffassung ist gefährlich, weil Sprachtheorie immer schon Gesellschaftstheorie impliziert (Meschonnic 2009). Gegen diese dualistische Tradition der Sprachphilosophie und das ihr inne‐ wohnende „pathologische Universelle“ mobilisiert Cassin Humboldts Auffas‐ sung der Sprache als eine dynamische Synthese von Laut und Gedanke, von Kommunikation und Kognition, in der das materielle Wort am konkreten For‐ mungsprozess der Gedanken teilhat. Im Gegensatz zu Aristoteles hält Humboldt die Verschiedenheit der Sprachen für hoch interessant, denn es handelt sich für ihn nicht um eine rein materielle („eine von Schällen und Zeichen“) und demnach für das Erkennen gleichgültige Verschiedenheit, „sondern [um] eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt 1903-1936: IV, 27). Wenn Sprache „das bildende Organ der Gedanken“ ist (Humboldt 1903-1936: VII, 53), so verläuft diese geistige Aneignung der Welt notwendigerweise auch historisch-partikular bedingt in bestimmten Sprachen. Basierend auf diesem Verständnis der Einzelsprachen als Weltansichten will Cassin Universalität epistemisch „komplexer“ auffassen, was zunächst heißt, sich vom Postulat einer abstrakt vorgegebenen Universalität der menschlichen Sprache - wie bei Aristoteles, aber z. B. auch in Chomskys Vorstellung einer angeborenen Universalgrammatik - zu lösen. Damit Universalität nicht zur Reduktion auf das Gleiche einer dominierenden Sprache führt, soll sie als ein Arbeitsprogramm betrachtet werden, ein Tun in Richtung auf eine gemeinsame Welt, die von den ernst genommenen Unterschieden der konkreten Einzelsprachen aus gedacht wird. In diesem Sinne versteht Cassin Übersetzung als philosophische Methode: Das von ihr koordinierte, monumentale Sammelwerk Vocabulaire européen des 232 Hélène Thiérard 7 Jedes Lemma befasst sich mit einer mehrsprachigen Stichwort-Gruppe, so dass es im Vocabulaire insgesamt um ca. 4000 philosophische Stichworte aus 15 europäischen Sprachen geht. 8 Diagne (2014: 252) zitiert die berühmte Stelle aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (Abs. 20) und verweist auf Crépons Lektüre davon (vgl. Crépon 2000). 9 Eine Art der Pluralbildung übrigens, die zum Neologismus in der Übersetzung führt, wodurch die Idee der „intraduisibles“ nicht nur benannt, sondern auch performativ umgesetzt wird. philosophies. Dictionnaire des intraduisibles (2004), dessen Entstehung über 10 Jahre und die Mitarbeit von etwa 150 Mitarbeitern erforderte, bietet 400 Lem‐ mata, 7 die als wichtige Symptome der Differenz zwischen (europäischen) Spra‐ chen behandelt werden, da sie merkliche Übersetzungwiderstände aufzeigen. Philosophische Texte in Übersetzung wimmeln von solchen „Unübersetzbarkei‐ ten“, ob sie in Form von Neologismen auftreten oder einfach als Fremdwörter in der Übersetzung übernommen werden (Heideggers Dasein, Hegels Aufhebung). Andere Fälle sind weniger offensichtlich: „[M]eint man mit mind dasselbe wie mit Geist oder esprit? Ist pravda nun Gerechtigkeit oder Wahrheit? Und was geschieht, wenn man mimesis mit imitation/ Nachahmung wiedergibt? “ (Cassin 2013 [2004]: Abs. 3) Dieser historische und komparatistische Ansatz macht zum einen das Vocabulaire zu einem unerlässlichen Nachschlagewerk für die heutigen Geisteswissenschaften, zum anderen fördert es ein Bewusstsein dafür, dass man in Sprachen philosophiert, d. h. dass unsere Denkkategorien von unseren Sprachkategorien bis zu einem gewissen Grad abhängig sind, wie schon Nietzsche feststellte. 8 Somit geht die epistemologische Geste des Vocabulaire auch mit einer (sprach)politischen einher: Das Bekenntnis zu einer (reichen) vielzüngigen, europäischen Tradition des Philosophierens setzt sich vehement der zunehmenden Monolingualisierung des Wissenschaftsbetriebs unter Verwendung von Englisch als (europäischer und weltweiter) Lingua Franca (Globish) entgegen (Cassin 2016, 55-60). Darüber hinaus greift Cassin damit auch explizit einen Teil der analytischen Philosophie angelsächsischer Tradition an, der sich mit seiner monolingualen Herrschaftshaltung ein Armuts‐ zeugnis ausstelle (Cassin 2016, u. a. 59-60). Wohlgemerkt steht „intraduisibles“ im Plural, 9 Cassin beruft sich also nicht auf Unübersetzbares (l’Intraduisible) im Namen eines absoluten Sprachrelativis‐ mus, der Sprachdifferenz als Opazität sakralisieren würde - „Unübersetzbar ist vielmehr das, was man nicht aufhört, (nicht) zu übersetzen“ (Cassin 2013 [2004], Abs. 3). Als Nachfolgerin Humboldts schätzt Cassin die Zonen von Inkommensurabilität zwischen den Sprachen als Chance für die Arbeit des Geistes, denn „[d]ie Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschli‐ chen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen“ (Humboldt 1903- 233 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ 10 In Cassins Ansatz wird die vorherrschende universalistische Tradition des europäi‐ schen Logos von innen aus kritisiert, unter Rückgriff auf poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theoriebildung, insbesondere Derrida, Lacan und Deleuze (vgl. Cassin 2016: 64-67, 122-123). 11 Zur Adaption des Vocabulaire in den verschiedenen Ausgaben durch den Prozess der Übersetzung (auch ins Rumänische, Arabische, Ukrainische, Russische, Italienische), vgl. Cassin 2016, 70-76. 12 Diagne bezieht sich häufig auf den Schriftsteller Ngũgī Wa Thiong’o (Decolonizing the Mind, 1986). 1936: IV, 27). Wenn die Auffassung von Einzelsprachen als Weltansichten eine perspektivische Begrenzung des Erkennbaren bedeutet, so kann Dezentrierung nur produktiv wirken. Aus dieser Dezentrierung stammt die Produktivität der „intraduisibles“, die, als Methode eingesetzt, alte philosophische Probleme in ein neues Licht zu rücken vermag. Es geht im Grunde darum, die Sprache der europäischen Philosophien - von Aristoteles bis Heidegger - zu de-essen‐ tialisieren, d. h. die Position eines „National-Essentialismus“ (Meschonnic 1990) zurückzuweisen, die einer bestimmten Sprache (Griechisch, Deutsch…) einen ontologischen Status zuerkennt (Cassin 2016, 60-62). In Sprachen philosophieren bedeutet daher auch, von den Übersetzungswiderständen der kanonischen philosophischen Texte ausgehend diese Form von Universalität „von oben“ als eine historisch-partikulare Konstruktion aufzuzeigen. Wenn das Vocabulaire an sich kein postkoloniales Projekt darstellt, so kann man doch in seinem inne‐ wohnenden Impetus eine weitreichende Resonanz mit Achille Mbembes Kritik am europäischen Universalismus erkennen (Syrotinsky 2019). In diesem Sinne verweist Syrotinsky auf die englische, sowie vor allem auf die spanische und portugiesische Ausgabe des Vocabulaire, die in den USA (2014), Mexiko (2018) und Brasilien (2018) erschienen und welche die ursprünglich innereuropäische Dimension der Kritik 10 in einen postkolonialen Kontext versetzen. 11 In diesem Zusammenhang ist auch das Folge-Projekt Cassins zu erwähnen, Les intradui‐ sibles du patrimoine en Afrique subsaharienne (Cassin/ Wozny 2014), das die sprachlichen Vorurteile der UNESCO in der Bestimmung des Weltkulturerbes hinterfragt. Diagne, der sich für eine Dekolonisierung des Wissens/ Denkens einsetzt und dafür plädiert, dass afrikanische Sprachen (wieder) zu Sprachen der philo‐ sophischen Produktion werden, 12 zeigt aber auch die mögliche Gefahr innerhalb der Postcolonial Studies auf, wenn die Kritik am europäischen Universalismus dazu führe, auf Universalität schlechthin zu verzichten. Zur Verdeutlichung dieser Gefahr stellt er in seinem Aufsatz „L’universel latéral comme traduction“ die Ansätze zweier afrikanischer Philosophen, Alexis Kagamé und Kwasi Wi‐ 234 Hélène Thiérard 13 Zur Ergänzung empfiehlt sich Diagnes Kapitel „De l’universel et de l’universalisme“ (Diagne 2018: 69-72) in dem gemeinsam mit dem Anthropologen Jean-Loup Amselle herausgegebenen Band En quête d’Afrique(s). Universalisme et pensée décoloniale. Hier greift Diagne die Argumentation des Aufsatzes von 2014 auf und behandelt das Problem im Rahmen des zwischen Amselle und ihm initiierten Dialogs zu ihren respektiven Auffassungen von Universalität expliziter. redu, einander gegenüber (Diagne 2014). 13 Kagamé zeigt schon ab 1955 den epistemologischen Imperialismus der europäischen Sprachen am Beispiel der aristotelischen Ontologie auf, die mit ihren acht oder neun Kategorien des Seins eindeutig den grammatischen Kategorien der griechischen Sprache verpflichtet sei, und deren Übersetzung in indoeuropäische Sprachen sich ziemlich unpro‐ blematisch gestalte. Hätte Aristoteles in einer der Bantu-Sprachen gedacht, würde seine Ontologie mit großer Wahrscheinlichkeit eher vier Kategorien des Seins aufweisen. Ist es aber deswegen vertretbar, gegen eine griechisch-euro‐ päische Ontologie eine Bantu-Ontologie aufzustellen, wie Kagamé es vorschlägt und damit droht, einen National-Essenzialismus durch den anderen zu ersetzen? Dieser relativistischen Position zieht Diagne diejenige von Wiredu vor, die seiner und Cassins Vorstellung einer lateralen bzw. komplexeren Universalität viel näher steht. Wiredu hinterfragt nämlich den Wahrheitsbegriff der Logiker, ausgehend von seinen Übersetzungsschwierigkeiten aus dem Englischen in die Akan-Sprache (Ghana). Dabei stellt er dem keinen partikular ghanaesischen Wahrheitsbegriff entgegen, sondern nutzt diese Inkommensurabilitätszone zwi‐ schen den Sprachen kritisch, um das philosophische Problem neu zu stellen - um einen lateralen Einstieg zu finden, der weniger ethnozentrisch, dafür aber universeller ist. 3 Die Strategie der intraduisibles in mehrsprachigen Literaturen: Gegen das monolinguale Paradigma als Universalität von oben Die in den vergangenen Jahren zunehmende Forschung zur Mehrsprachig‐ keit hat dazu geführt, die mangelnde Konzeptualisierung von Einsprachigkeit zu hinterfragen (Yildiz 2012; Dembeck/ Mein 2012; Gramling 2016), und dar‐ über hinaus eine komplexere Auffassung von Mehrsprachigkeit, entsprechend M.A.K. Hallidays soziolinguistischer Unterscheidung zwischen „glossodiversity (a diversity of linguistic codes) and semiodiversity (a diversity of meanings conveyed)“, vorzuschlagen (Gramling 2016: 31). Ich möchte hier argumentieren, dass diese aktuelle Unterscheidung aus dem Bereich der angewandten Lingu‐ istik im Grunde die zwei im europäischen Sprachdenken ungleich repräsen‐ tierten Hauptpositionen gegenüber Sprachenvielfalt in enthistorisierter Form 235 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ 14 Gramling wundert sich im übrigen in dieser Fussnote, dass Cassin den Begriff „Semio‐ diversity“ selbst nicht verwendet. 15 Zur sprachkritischen Dimension mehrsprachiger Literaturen, siehe Heimböckel 2014. gegenüberstellt: die heute herrschende Vorstellung von Glossodiversität als technokratischer Mehrsprachigkeit, wie sie zum Beispiel in der Europäischen Union institutionell zum Vorschein kommt („a diversity of codes in service of common meaning-making“), spiegelt die aristotelische Indifferenz gegenüber der vermeintlich neutralen Materialität der Sprachen wider; Semiodiversität dagegen greift die (etwas vernachlässigte) humboldtsche Auffassung einer Ver‐ schiedenheit der Sprachen als Weltansichten wieder auf. In dieser Hinsicht ist es nicht überraschend, wenn Gramling auf Barbara Cassin und das Vocabulaire des intraduisibles verweist und es „an extended experiment around semiodiversity in comparative intellectual history“ (Gramling 2016: 32, Fußnote 29) nennt. 14 Wenn Yasemin Yildiz in Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition (2012) behauptet, dass mehrsprachige, zeitgenössische Schriftsteller wie Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Feridun Zaimoglu das „monolin‐ guale Paradigma“ von innen untergraben, das sich im Laufe der modernen Nationenbildung durchgesetzt hat, so bedeutet das, dass diese literarischen Werke eine die Vorstellung von Glossodiversität sprengende Art von Mehr‐ sprachigkeit performativ vorführen. Die bloße Präsenz mehrerer Sprachen in ein und demselben literarischen Text, wie zum Beispiel in Tolstois Krieg und Frieden die Integration des Französischen, die zur sozialen Charakterisierung der russischen Offiziere aus dem Adel beiträgt, hat nicht unbedingt diese subversive Kraft. Was die besondere Brisanz mehrsprachiger Literaturen heute meines Erachtens ausmacht, ist ihre Fähigkeit, in ihrem poetischen Sprachdenken eine erkenntnistheoretische und eine kulturpolitische Sprachkritik 15 engmaschig zu verschränken: so machen mehrsprachige Literaturen die enge Verwandt‐ schaft des monolingualen Paradigmas mit dem, was Cassin als pathologische Universalität des europäischen Logos erkennt, nicht nur greifbar, sondern untergraben beide zugleich. Auf die verheerenden gesellschaftlichen Folgen einer ein einziges erkenntnistheoretisches Modell postulierenden Sprachauf‐ fassung wurde bereits hingewiesen. Was kulturpolitisch bei einer Subversion des monolingualen Paradigmas auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die De-Essentialisierung des Verhältnisses zwischen Sprache und Nation. Die scharfe Gegenüberstellung von Muttersprache und Fremdsprache, das heißt die Vorstellung, dass Individuen natürlich im Besitz von nur einer Sprache sind, in der sie sich authentisch ausdrücken können und die ihre Subjektivität prägt, ist ein Kernstück des monolingualen Paradigmas. Historisch gesehen ist dies eines der wirkmächtigsten Erfindungen der Moderne, entsteht doch aufgrund dieser 236 Hélène Thiérard 16 Zur Konstitution der Nationalliteratur als national-transnationalen Prozess in Deutsch‐ land und Frankreich siehe Jurt 2009. 17 Casanovas Unterscheidung zwischen littératures majeures bzw. pacifiées, die sich als universell verstehen, und littératures mineures bzw. combatives, die noch am nationalen Kampf teilhaben, führt auf dieses Verschwindenlassen der Spuren nationaler Konstruk‐ tion zurück (Casanova 2011). Gemeinschaft des Gefühls in der Muttersprache die Idee des Volkes. In ihrem makrohistorischen Kontext betrachtet, hat Herders Idee des Volkes ursprünglich ein emanzipatorisches Ziel: Sie soll die Auflösung einer auf aristokratischer Legitimität basierenden politischen Ordnung zugunsten einer neuen politischen Ordnung hervorbringen, die das Volk als neues Kriterium der Legitimität postu‐ liert (Thiesse 1999). Die Rolle der Literatur in diesem Prozess besteht bekanntlich darin, die jeweiligen Völker mit kulturellem Kapital auszustatten (Casanova 2011), damit sie sich gegen die über alle legitime symbolische Gewalt verfügende Aristokratie behaupten können. Wichtig dabei ist, dass Literatur die Existenz der Völker als Kollektiv bis in eine möglichst weitreichende Vergangenheit attestiert, denn was die Nation als „imagined community“ (Anderson 1983) ins Leben ruft und am Leben hält, ist ja der Glaube an die Gemeinschaft. Wenn die nationalen Identitäten in Europa als relationale Ko-Konstruktionen wie etwa aus Reibungen unter Nachbarn entstehen, an denen die Ausformung der jeweiligen Nationalliteraturen auch teilhat, 16 so werden später die Spuren ihrer historischen Konstruktion getilgt 17 und diese wirkmächtig essentialisiert: Die ausschließende Dimension der Gemeinschaft funktioniert nämlich besser, wenn diese zu einer von Natur aus Gegebenen erklärt wird (Anderson 1983). Die Idee der Nation als neue kollektive Identifikationsform dient politisch nicht nur dazu, Völker zusammenzuschweißen sondern auch gegeneinander abzugrenzen, denn es soll einem auch im Ernstfall selbstverständlich vorkommen, aus Solidarität für seine Landsleute in den Krieg zu ziehen. Die Engführung sprachlicher, kultureller und nationaler Identität erfolgt aus der Ideologie der Muttersprache, die im Zentrum der neuzeitlichen Erfindung von Einsprachigkeit steht (vgl. Dembeck/ Parr 2017: 27-33). Sie wird dabei von zwei weiteren, eng miteinander korrelierten Postulaten unterstützt, welche das moderne Verständnis von Sprachenvielfalt und Übersetzung bestimmen (vgl. dazu Sakai 2009). Das erste Postulat stellt die Vorstellung von Einzelsprachen als homogene, in sich geschlossene Sprachsysteme dar - eine Vorstellung, auf die die Nationalphilologien im 19. Jahrhunderts mit ihren linguistischen Beschreibungs- und Normierungswerkzeugen (Grammatiken, Wörterbücher) gewissenhaft hinarbeiten. Phänomene von Sprachkontakt werden systematisch außer Acht gelassen, um so für klare, unmissverständliche Konturen zu sorgen. 237 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ 18 2010 für die französische Übersetzung von Christophe Mileschi, die Meneghellos Roman wieder zur Gegenwartsliteratur macht. 19 Zu diesem wirkungsästhetischen Verfahren bei Tawada und Oliver, siehe Thiérard 2018. Auch in den Nationalliteraturen setzt sich diese Homogenitätsvorstellung im Laufe des 19. Jahrhunderts durch und drängt langsam die internen Traditionen mehrsprachigen Schreibens zurück (Anokhina/ Dembeck/ Weissmann 2019). Das zweite Postulat etabliert die Austauschbarkeit der Einzelsprachen im Sinne einer problemlosen, „systematischen Transponierbarkeit“ (Gramling 2014) der Äußerungen von einem Sprachsystem zum anderen. Mit dieser Vorstellung von Übersetzung zeigt sich das monolinguale Paradigma am deutlichsten dem eurozentrischen Universalismus des Logos verpflichtet: sie setzt eine rationalistische, auf das Ideal der Mathematik hinstrebende Auffassung der Sprache (langage) voraus (Dembeck/ Mein 2012: 137-138). In diesem modernen Verständnis von Mehrsprachigkeit als Glossodiversität, sind also Sprachen (langues) zwar an der kulturellen Identität der Individuen beteiligt, bleiben aber in epistemologischer Hinsicht gleichgültig. Die Strategie der intraduisibles, ob in der Philosophie wie u. a. bei Cassin, Diagne und Wiredu eingesetzt, oder auch in mehrsprachigen Literaturen, untergräbt nicht nur eine der wichtigsten Annahmen des monolingualen Para‐ digmas, sondern arbeitet auch auf einen anderen, komplexeren bzw. lateralen Produktionsmodus von Universalität hin. In translingualen Poetiken der Ge‐ genwart stehen häufig textinterne Übersetzungsprozesse im Vordergrund, die die dabei entstehenden Übersetzungswiderstände, Bild-Verschiebungen und weitere Sinn-Entgleisungen produktiv für eine poetische sowie sprachkritische Kraft bzw. auch zugunsten einer interkulturellen Kritik nutzen. Sei es in der Form von Gedichten (Yoko Tawadas Abenteuer der deutschen Grammatik, 2010), von autobiographischen Essays ( José F.A. Olivers Mein andalusisches Schwarzwalddorf, 2007; Fremdenzimmer, 2015) bzw. Sprachbiographien (Eva Hofmanns Lost in Translation, 1989) und Sprachlerner-Fiktionen (Xiaolu Guos A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers, 2008), oder auch sprachreflexiven Romanen (Luigi Meneghellos Libera nos a Malo, 1969 18 ) und Übersetzerfikti‐ onen (Annette Hugs Wilhelm Tell in Manila, 2016), diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen erforschen Bereiche der Inkommensurabilität zwischen den Sprachen-als-Weltansichten. In ihrem poetischen Sprachdenken reflektieren sie nicht nur den problematischen, konfliktträchtigen Perspektivwechsel, der in der Suche nach einer lateralen Universalität stattfindet, sondern lassen diesen auch die LeserInnen am eignen Leib erfahren, 19 um eine Veränderung des Sprachbewußtseins beim Rezipienten zu bewirken. In dieser Hinsicht geht die poetische Strategie der intraduisibles vielleicht einen Schritt weiter als 238 Hélène Thiérard 20 Siehe in diesem Band den Beitrag von Marko Pajević, der „Tawadas exophonen Erkundungen des Deutschen“ gewidmet ist. 21 Da diese Dimension in der Tawada-Forschung gut dokumentiert ist, verzichte ich im Folgenden auf eine eingehende Textanalyse und verweise auf die entsprechenden Beiträge in Gutjahr 2012; Ivanovic 2010; Banoun/ Ivanovic 2015. die philosophische, wenn man das Potential auf gesellschaftliche Veränderung betrachtet. 4 Yoko Tawadas poetische Strategie der intraduisibles und die Erforschung einer lateralen Universalität Die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada ist als promovierte Literaturwissenschaftlerin durch eine umfassende Bildung auf dem Gebiet der Philosophie und der Kulturwissenschaft geprägt, welche auch in ihre mehrsprachige Schreibpraxis einfließt. Mit ihrer kreativen Verarbeitung von sprach-, kultur- und übersetzungstheoretischen Ansätzen von Walter Ben‐ jamin bis Jacques Derrida über Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss entwickelt sie eine der komplexesten translingualen Poetiken in der deutschen Gegenwartsliteratur. Fast könnte man behaupten, sie verfolge in ihrer fiktio‐ nalen Kurzprosa, ihren literarischen Essays sowie Gedichten programmatisch das Ziel, das monolinguale Paradigma auf den Kopf zu stellen. Dabei geht sie meist von der konkreten Erfahrung des Alltagslebens aus und macht die Folgen der Inkommensurabilitätszonen zwischen den Sprachen für das Denken poetisch greifbar. 20 Anhand ihrer Werke Überseezungen (2002), Talis‐ man (1996), Sprachpolizei und Spielpolyglotte (2007), Abenteuer der deutschen Grammatik (2010) und Akzentfrei (2016) kann man sich einen Überblick über die vielfachen textuellen Verfahren verschaffen, die Tawada im Rahmen ihrer poetischen Strategie der intraduisibles einsetzt und wie sie dabei alle Annahmen des monolingualen Paradigmas konterkariert. 21 Dem Postulat der Muttersprache als natürliches und am besten geeignetes Ausdrucksmedium setzen Tawadas sprachreflexive Erzählungen häufig die heimtückische Gewalt der Muttersprache entgegen, die das konventionelle Verhältnis zwischen Wort und Ding essentialisiert, ohne dass die SprecherInnen es merken. Die inkorporierte Gewalt des Personalpronomens „ich“ (boku, ore, watashi, watakushi) in der japanischen Muttersprache wird zum Beispiel in der Erzählung „Eine leere Flasche“ vorgeführt (Tawada 2002: 53-57). In dieser Vorstellung der Muttersprache „klammern sich die Gedanken so fest an die Worte“ (Tawada 1996: 15), dass die Weltansicht Humboldts zu einem 239 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ 22 In Fritz Mauthners epochemachenden Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache ist Sprache kein geeignetes Werkzeug zur Erkenntnis, denn sie denkt in dem Menschen, statt ihn denken zu lassen (vgl. Mauthner 1923). 23 Zum Verhältnis von Originalgedicht, Übersetzung und réécriture, siehe Ette (2012: 318-323). Sprachgefängnis im Sinne Mauthners 22 zu entarten droht. Die Ich-Erzählerin Tawadas befreit sich aber immer wieder von der Muttersprache durch das Erlernen einer Fremdsprache, die wie ein „Heftklammerentferner“ funktioniert: „Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert“ (ebd.). Das Verfremden des eigenen Sprachbewusstseins wird als Befreiung von einem auf Gewöhnung und Automatisierung zurückführenden Sprachdeterminismus nar‐ rativ inszeniert, der Denk- und Wahrnehmungsvermögen einschränkt. Mutter- und Fremdsprache verbleiben aber bei Tawada keineswegs in einem statischen Verhältnis, in dem ein essentialisierendes und ein emanzipatorisches Prinzip einander gegenübergestellt werden. Eine Essentialisierung der sprachlichen Konventionen findet auch in der Fremdsprache statt, wenn diese nicht mehr als fremd empfunden wird. In Überseezungen zeigt Tawada, wie das durch die Zweitsprache Deutsch geprägte Sprachbewusstsein der Ich-Erzählerin wie‐ derum im Kontakt zu weiteren Fremdsprachen wie Englisch („Porträt einer Zunge“), Französisch („Musik der Buchstaben“) und Afrikaans („Bioskoop der Nacht“) verfremdet wird. Diese Wiederholung des Verfremdungsverfahrens ist notwendig, will man nicht von einem nationalen Sprachontologismus in den nächsten fallen - eine Gefahr, die bereits mit dem Einwand Diagnes gegenüber Kagamés philosophischem Programm angedeutet wurde. Es geht Tawada nämlich nicht nur darum, dass Einzelsprachen kulturelle Identitäten prägen, sondern vielmehr darum, dass sie Archive einer produktiven Aneignung der Welt bilden und somit auch an gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse gebunden sind. Die postulierte Homogenität und Abgeschlossenheit von Einzelsprachen dekonstruiert Tawada mit Vorliebe am Beispiel der japanischen Sprache und verwendet dazu textinterne Übersetzung als Veranschaulichungsstrategie. Das mehrschriftliche Gedicht Die Mischsprache des Mondes (Tawada 2010: 41), das Peter Pörtners deutsche Übersetzung ihres Gedichts Die Flucht des Mondes zur Grundlage nimmt, 23 verdeutlicht die dem japanischen Schriftsystem inne‐ wohnende Heterogenität. Im Japanischen schreibt man Wortstämme anhand von chinesischen Ideogrammen, während japanische Zeichen „Hände und Füsse der Wörter“ phonetisch notieren. Tawadas mischschriftliche, lateinische Buchstaben und chinesische Ideogramme kombinierende réécriture des Gedichts zeigt, so die Anmerkung der Autorin, „dass man mit dieser Mischmethode 240 Hélène Thiérard 24 Zur Mehrschriftlichkeit bei Tawada als Unübersetzbarkeit der Schrift siehe Schmitz-Emans 2012. 25 Zum Verfahren der Oberflächen-Übersetzung, auch homophone Übersetzung genannt, siehe Dembeck 2015. 26 Ursprünglich von Salman Rushdie geprägt und in den 1990er Jahren zu einem zentralen Konzept der Postcolonial Studies geworden, verweist der writing back-Begriff auf eine gegendiskursive Strategie, die für postkoloniale Texte konstitutiv ist. Writing Back unterminiert unter anderem die vermeintliche Wissenshegemonie der (ehemaligen) Kolonialmacht und deren Konstruktion des kolonialen „Anderen“ (vgl. Ashcroft/ Grif‐ fiths/ Tiffin 1989). auch Deutsch schreiben kann“. Dabei fordert sie die deutschen LeserInnen auf, die vermeintliche Homogenität der deutschen Sprache ebenfalls zu de‐ konstruieren. 24 Darüber hinaus machen viele Kurzerzählungen Tawadas auf eine zweite Heterogenität der japanischen Sprache aufmerksam, die auf die zweigleisige Bedeutungskonstitution - phonisch und visuell - in Sprachen mit Ideogrammen zurückzuführen ist. Diese Art von sprachinterner Semiodiversität ist für europäische Sprecher besonders befremdend, da sie ihrer geläufigen, an alphabetischen Schriftsystemen orientierten Auffassung von Schrift zuwi‐ derläuft: Schrift halte nur das Gesagte fest, ohne am Denken teilzuhaben. Vor allem durch das narrativ inszenierte Verfahren der Oberflächen-Übersetzung, 25 wie exemplarisch in „Die Botin“ (Tawada 2013[2002]: 44-50) zu sehen, wird diese sprachinterne Semiodiversität nahegelegt und dabei die bedeutsame Materialität der Sprachen gefeiert. Hier kann man eine weitere Parallele zu Cassins Vorliebe für Homophonie- und Homonymie-Beziehungen innerhalb der griechischen Sprache ziehen, die sie auch zur methodischen Untergrabung von Aristoteles’ dualistischer Auffassung der Sprache verwendet (Cassin 2016: 87-145). In Tawadas poetischen Sprachdenken ist der kulturpolitische von dem epis‐ temologischen Aspekt ebensowenig zu trennen wie in Diagnes Strategie der intraduisibles. Dieter Heimböckel (2015) weist auf die Dimension des writing back  26 in Tawadas „fiktiver Ethnographie“ hin, die sich als Aneignung und Umschreibung des europäischen ethnographischen Diskurses über Japan bzw. über den Orient, wie man ihn zum Beispiel aus Roland Barthes’ Empire des Signes kennt, artikuliert. Tawadas „interkulturelle Sprachkritik“ sollte man daher in Zusammenhang mit ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeit Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur: Eine ethnologische Poetologie (2000) lesen. Ihre fiktive Ethnographie fällt ebenso wenig in die Dichotomien eines orientalistischen Diskurses zurück, wie sie diesen Diskurs in einen Okzidentalismus umkehrt. Vielmehr dekonstruiert sie kulturelle Iden‐ 241 Mehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“ 27 Siehe dazu Amselle 2018. 28 Zur Auffassung der Sprache als Organ bei Humboldt siehe Trabant (1986: 51-61). titäten und macht die konstitutive Relationalität von Sprachen als diskursive Konstrukte (vgl. Sakai 2009) - für die LeserInnen ästhetisch erfahrbar. Wenn Diagnes Vorstellung einer durch Übersetzung zu produzierenden late‐ ralen Universalität sicherlich nicht auf die Notwendigkeit eines interkulturellen Dialogs im postkolonialen Zeitalter zu reduzieren ist, 27 so beruht sie doch auf einer „ethnologischen Erfahrung“. Diese wird bei Maurice Merleau-Ponty, bei dem Diagne diese Idee eines Wechsels von der Universalität von oben zu einer lateralen Universalität vorgefunden hat, folgendermaßen beschrieben: […] l’appareil de notre être social peut être défait et refait par le voyage, comme nous pouvons apprendre à parler d’autres langues. Il y a là une seconde voie vers l’universel: non plus l’universel de surplomb d’une méthode strictement objective, mais comme un universel latéral dont nous faisons l’acquisition par l’expérience ethnologique, incessante mise à l’épreuve de soi par l’autre et de l’autre par soi. (Merleau-Ponty, zitiert nach Diagne 2014, 245) […] der Apparat unseres sozialen Wesens kann durch Reisen aufgelöst und wie‐ derhergestellt werden, wenn wir andere Sprachen lernen. Es geht hier um einen zweiten Weg zum Universalen: nicht um die Universalität von oben samt ihrer streng objektiven Methode, sondern um eine laterale Universalität sozusagen, die wir durch ethnologische Erfahrung erlangen, durch eine unaufhörliche Prüfung von uns selbst durch den anderen und des anderen durch uns selbst. (meine Übersetzung, HT) Diese subjektivitätsverändernde Kraft, die Merleau-Ponty dem Erlernen anderer Sprachen zuschreibt, zeugt von einer inkorporierten Auffassung von Sprache (langage) als Organ, die historisch durch Humboldt geprägt wurde: „Als Organ ist die Sprache enger in die Leiblichkeit des Menschen verwoben, […] auf einer tieferen Stufe des Bewusstseins angesiedelt als in der Werkzeug-Auffassung.“ (Trabant 1986: 59) 28 Diese tiefe Transformation der Subjektivität im Kontakt mit anderen Spra‐ chen, um die es in Tawadas poetischem Sprachdenken geht, bringt unter ande‐ rem die Metapher der „Fleischbrille“ zum Ausdruck in dem Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“: Ich muss mir, um Europa sehen zu können, eine japanische Brille aufsetzen. Da es so etwas wie eine „japanische Brille“ nicht gab und gibt - und für mich ist das keine bedauerliche Tatsache -, ist diese Brille zwangsläufig fiktiv und muss ständig neu hergestellt werden. […] Meine japanische Brille ist aber kein Instrument, das man einfach in einem Laden kaufen kann. Ich kann sie auch nicht nach Laune aufsetzen 242 Hélène Thiérard oder abnehmen. Diese Brille ist durch meine Augenschmerzen entstanden und wuchs in mein Fleisch hinein, so wie mein Fleisch in die Brille hineinwuchs. (Tawada 2015 [1996]: 51) Obwohl sofort als fiktiv aufgehoben, wird die Metapher der „interkulturellen Brille“ dennoch durch die physische Dimension des Schmerzes reaktiviert. Ta‐ wadas translinguale Poetik zwingt nicht nur den Leser, die von Merleau-Ponty beschriebene „ethnologische Erfahrung“ zwischen den Sprachen selbst beim Lesen zu machen. Vielmehr erinnert sie uns daran, dass der von Diagne und Cassin vorgeschlagene epistemologische Perspektivenwechsel ein schmerzhaf‐ ter, nie endender Prozess ist, denn laterale Universalität wird nicht abstrakt wie die Universalität von oben, sondern am eigenen Leib produziert. Literaturverzeichnis Amselle, Jean-Loup (2018). 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New York: Fordham University Press. 246 Hélène Thiérard „Die Sprache hat also ihren Ort.“ Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck „Jede Sprache […] bildet sich einen Satz möglicher Welten und Geographien des Gedächtnisses.“ (George Steiner: Nach Babel) Abstract: Auf dem Tableau der philologischen Mehrsprachigkeitsforschung und im Kontext von Maja Haderlaps literarischem Œuvre untersucht der Beitrag die spezifische Mehrsprachigkeit ihres Romans Engel des Vergessens (2011) und kommt zu folgenden Ergebnissen: Der literarische Text themati‐ siert nicht nur die territorialen und historischen Bedingungen der Mehrspra‐ chigkeit in Kärnten, sondern diese sind in den Roman eingeschrieben und wirken sich auf die Erzählweise und sprachliche Verfasstheit des Romans aus. Obwohl er das Ergebnis eines Sprachwechsels der Autorin vom Slowe‐ nischen zum Deutschen ist, kommt seine Mehrsprachigkeit im Verhältnis von discours- und histoire-Ebene, über kulturelle Codes der slowenischen Sprache sowie generell darin zum Ausdruck, dass er aus zwei Sprachen bzw. aus dem Niemandsland zwischen den Sprachen heraus geschrieben ist. Ihm kann somit neben manifester und latenter Mehrsprachigkeit auch Mehr-Sprachlichkeit attestiert werden. Keywords: Mehrsprachigkeit, territoriale und historische Bedingungen von Mehrsprachigkeit, Kärntner Slowenen, Sprachwechsel, Sprachen- und Erin‐ nerungspolitik, Erinnerungspoetik Die Schriftstellerin Maja Haderlap, geboren 1961 in Bad Eisenkappel/ Železna Kapla, Österreich, ist mehrsprachig aufgewachsen; in Kindesjahren zunächst in der slowenischen Sprachgemeinschaft im österreichischen Kärnten, wo man 1 Brigitta Busch und Ursula Doleschal weisen darauf hin, dass sich die Sprachensituation in Kärnten seit den 1990er Jahren grundlegend geändert hat, dass „einerseits Slowenisch in einer größeren Vielzahl an Varietäten präsent ist und dass andererseits gelebte Mehrsprachigkeit eine größere Rolle spielt.“ Busch/ Doleschal 2008: 7 f. 2 Die Frage nach der Mehrsprachigkeit von Texten beantwortet die Forschung unter‐ schiedlich. Manfred Schmeling möchte Autoren, die zwar „mehrere Sprachen sprechen, aber trotzdem ihre konkreten Texte monolingual gestalten“, ausschließen (Schmeling 2004: 225). Die Gegenposition leitet sich aus der radikalen Infragestellung der Einspra‐ chigkeit ab; danach wäre jeder Text mehrsprachig. David Martyns luzide Analyse hat erstens nachgewiesen, dass Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit (und historisch auch das Muttersprachenkonzept) sich jeweils voraussetzen (Martyn 2014: 44) und als solche begriffliche Konstruktionen sind (Martyn 2014: 45). Da es zweitens Texte gibt, die in dieses binäre Raster nicht passen und sich einer ohnehin historisch bedingten Sprachigkeit, also der Zuordnung zu einer oder auch mehreren Sprachen, entziehen, schlussfolgert er - im Rückgriff auf Robert Stockhammers Begriff der Sprachigkeit -, dass es „unterschiedliche Grade an Sprachigkeit [gibt]“ und dass diese „Grade an Sprachigkeit von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Text zu Text“ sowie historisch variieren (Martyn 2014: 49 f.). in einigen Dorfgemeinschaften noch einsprachig slowenisch geprägt werden konnte. 1 In der Schule eignete sie sich Deutsch als zweite Sprache an. In einem Interview mit Michael Kerbler betont die Autorin, sie habe die deutsche Sprache nie als Fremdsprache empfunden. Auch sei ihr slowenischer Sprach‐ hintergrund bereits nach einem Jahr in der Schule nicht mehr aufgefallen, und sie sei mit solch einer Zuschreibung erst wieder konfrontiert worden, als man ihren Roman Engel des Vergessens unter Migrationsliteratur eingeordnet habe (Haderlap/ Kerbler 2012). In einer Rede bekennt sie: „Die deutsche Sprache ist mir zugewachsen, sie ging mir zur Hand“ (Haderlap 2013: 3). Ihr stehen also zwei Schreibsprachen potentiell zur Verfügung. Doch sind die Texte von Maja Haderlap ebenfalls mehrsprachig? 2 „Mein literarisches Werk ist zweisprachig“, urteilt die Autorin in ihrer Selbstvorstellung vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Haderlap 2016). Ist hier mit Mehrsprachigkeit gemeint, dass sie monolinguale Texte in der einen als auch in der anderen Sprache schreibt, oder dass die Sprachen innerhalb ein und desselben Textes wechseln? Diese Frage soll im Folgenden an Maja Haderlaps Roman Engel des Verges‐ sens (2011) angelegt werden mit dem Ziel, die spezifische Mehrsprachigkeit dieses Textes herauszuarbeiten. Der Romananalyse sei eine genauere Bestim‐ mung und Kontextualisierung von Haderlaps literarischem Schaffen unter dem Blickwinkel der Mehrsprachigkeit vorangestellt. In die Romananalyse ist ein kurzer historischer Exkurs zur slowenischen Minderheit in Kärnten eingelagert. 248 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 3 Bei der manifesten Mehrsprachigkeit kann man zwischen Sprachwechsel und Sprach‐ mischung in einem Text unterscheiden. „Wenn in einem Text Segmente, die unter‐ schiedlichen Idiomen zuzuordnen sind, aufeinanderfolgen“, so bezeichnet dies einen Sprachwechsel, hingegen meint Sprachmischung, dass sich Idiome unterschiedlicher Sprachen nicht „einzelnen Segmenten zuordnen“ lassen (Dembeck 2017: 125). Wann genau ein Text das Prädikat ‚manifest mehrsprachig‘ verdient, ist nicht abschließend geklärt. Vorgeschlagen wurde etwa, eine signifikante Häufigkeit als Kriterium zu neh‐ men. Vgl. Zemanek/ Willms 2015: 8 („in signifikanter Menge fremdsprachige [oder auch dialektale] Einsprengsel und Zitate“). Neben der bloßen Quantität wäre ein qualitatives Kriterium denkbar, etwa ob die anderssprachigen Idiome signifikant die Bedeutung verändern oder eine klare ästhetische Funktion haben und nicht nur dekorativ oder kolorierend eingesetzt sind. So stammt etwa bei Haderlaps Gedicht „home“ nur der Titel aus dem Englischen, so dass von einer signifikanten Häufigkeit nicht gesprochen werden kann. Doch entscheidend ist hier, dass das Wort ‚home‘ ein spezifisches Konzept aufruft. Allerdings könnte man sich auch fragen, ob das Wort ‚home‘ nicht ein Beleg für die Problematik der Sprachgrenze(n) ist; kurz gesagt, ob der Idiom-Begriff, wie er in der Mehrsprachigkeitsforschung Verwendung findet, hier überhaupt noch greift. 4 Alexander Nebrig, aus der Warte der Komparatistik und hinsichtlich der Weltliteratur argumentierend, stellt fest: „Mehrsprachigkeit muss nicht immer […] direkt in den Text eingeschrieben sein, sondern kann auch verdeckt bleiben und doch die Aussageabsicht des Textes lenken.“ (Nebrig 2012: 136). Weitere terminologische Ausdifferenzierungen stehen bei der latenten Mehrsprachigkeit noch aus. 1 Zur Mehrsprachigkeit von Text und Territorium Maja Haderlap debütierte 1983 mit Gedichten auf Slowenisch (Žalik pesmi). Es folgten die Gedichtbände Bajalice (1987) und Pesmi Poems (1998). 2011 wechselte sie mit dem Roman Engel des Vergessens die Schreibsprache und verfasste den folgenden Gedichtband langer transit. Gedichte (2014) ebenfalls auf Deutsch. Im Roman sowie insbesondere in den Gedichten finden sich allerdings Elemente manifester Mehrsprachigkeit. 3 Im Gedichttitel „! trieste trst triest“ (Haderlap 2014: 8) etwa verbinden sich die Namen der ,Stadt der drei Winde‘ aus dem Italienischen, Slowenischen und Deutschen klanglich zu einem eigenen Idiom und markieren sowohl die Unterschiede als auch die Verwandtschaft. Hingegen wechselt das Gedicht „barje“ (Haderlap 2014: 32) vom slowenischen Titel ins Deutsche und endet mit dem Wort ‚Moor‘, also der deutschen Ent‐ sprechung von ‚barje‘. Formen latenter Mehrsprachigkeit bieten ein weites und begrifflich noch nicht sicher abgestecktes Untersuchungsfeld. Grundsätzlich geht es um die vielfältigen Formen der „Mehrsprachigkeit einsprachiger Texte“ (Nebrig 2012: 136). 4 Dies ist bei Haderlap beispielsweise der Fall, wenn in ihrem Roman offenkundig wird, dass die vielen Gespräche mit der Großmutter, die meistens in indirekter Rede wiedergegeben werden, auf Slowenisch stattfinden. Das wird nach wenigen Seiten manifest: als das erzählende Mädchen sagt, 249 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens 5 Die individuelle bzw. personale Mehrsprachigkeit erscheint auf den ersten Blick für Fra‐ gen der Mehrsprachigkeit von literarischen Texten irrelevant. Doch die Texte Haderlaps reflektieren eine Sprachauffassung, die auch Fragen der individuellen Mehrsprachigkeit berührt. 6 Man kann verschiedene Typen der Bilingualität unterscheiden. Vgl. beispielsweise Müller 2006: 44f. 7 Bei der territorialen spricht man auch von der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit - neben der individuellen und institutionellen. Zur weiteren Ausdifferenzierung der territorialen Mehrsprachigkeit siehe Riehl 2004: 53-55. es habe „sonci gre“ (Haderlap 2011: 9) gerufen, also Slowenisch gesprochen. Oder wenn die Erzählerin als Studentin von ihren Schreibversuchen und ihrem Sprachmangel berichtet und sagt, sie „schreibe auf Slowenisch“ (Haderlap 2011: 175), oder wenn es heißt, „[i]n den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur, Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln“ (Haderlap 2011: 75), so wird damit das Wortkonzept erläutert, das sich aus den spezifischen Kollektiverfahrungen in die Sprache eingeschrieben hat. Weitere Formen der latenten Mehrsprachigkeit sind etwa Metaphern oder Syntaxstrukturen, die kreativ von einer Sprache in eine andere übertragen werden; bei dem Roman ließe sich etwa auch überlegen, ob sich der Dual der slowenischen Sprache in die durch Gespräche geprägten Erzählung eingeschrieben hat. Nimmt man die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Texten hinzu, so eröffnen sich zwei weitere Untersuchungsfelder der Mehrsprachigkeit. In diesem Sinne wäre Haderlaps Werk schon allein deshalb mehrsprachig zu nennen, weil die Autorin aus einer Mehrsprachigkeit heraus schreibt, bzw. weil ihre Werke potentieller Gegenstand der Sprachkontaktforschung sind. Mehr‐ sprachigkeit bei Maja Haderlap umfasst demnach unterschiedliche Aspekte. Hier wäre zunächst die individuelle Mehrsprachigkeit 5 zu nennen, wobei kein eindeutiger Fall von bilingualem Erstspracherwerb vorliegt, gleichwohl von einer klaren Bilingualität ausgegangen werden kann. 6 Obwohl Haderlap bekennt, ihre Zweisprachigkeit selber immer als Bereicherung empfunden zu haben, weist sie zugleich darauf hin, dass ihr die in Kärnten „beheimateten Sprachen als ideologische, politische Kategorie vorgeführt“ wurden, ja, als „zwei einander ausschließende Pole, zwischen denen […] [sie sich] entscheiden müsste“ (Haderlap 2011b). Diese spezifische Situation einer territorialen Mehr‐ sprachigkeit  7 in Österreich mit ihren historischen und politischen Implikationen besitzt große Bedeutung. Das Slowenische ist trotz verfassungsrechtlich zuge‐ sichertem Minderheitenstatus einem Verdrängungsdruck durch die Dominanz der deutschen Sprache in Österreich ausgesetzt, der nicht nur Hintergrund ihrer Texte ist, sondern auch Haderlaps Sprachwechsel betrifft. Zudem werden hier grundsätzliche Fragen der Sprachkontaktforschung aufgeworfen - so etwa nach 250 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 8 Im Roman findet sich die rhetorische Frage: „Aber ist Friede in dieser Gegend überhaupt heimisch geworden oder tragen die hier gesprochenen Sprachen immer noch Uniform? “ (Haderlap 2011: 220). 9 Eva Schörkhuber weist darauf hin, dass „die politische Dimension und die politische Bedeutung des Buches oftmals gegen seinen poetischen Tonfall, gegen seine Literari‐ zität ausgespielt“ werde, und fordert eine Kontextualisierung der Lektüre von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens ein (Schörkhuber 2017: 114). den Inklusions- und Exklusionsmechanismen von Sprache, Identitätsfragen, Machtasymmetrien zwischen Sprachen, Ideologisierung und Instrumentalisie‐ rung von Sprachen etc. Im Falle Kärnten birgt das Verhältnis zwischen den beiden Sprachen schwere historische Lasten. 8 Bei einer solchen Politisierung und den damit einhergehenden Machtasymmetrien und Diskriminierungen kann literarische Mehrsprachigkeit nicht als bloßes ästhetisches Mittel betrach‐ tet werden. 9 Damit ist das Feld der Mehrsprachigkeit kursorisch abgesteckt. Die folgende Untersuchung wird sich allerdings auf die Frage nach dem Sprachwechsel Haderlaps konzentrieren, wie er sich in Engel des Vergessens eingeschrieben hat, dabei werden sämtliche hier genannte Felder berührt. Im Zentrum stehen in erster Linie der Text und die Protagonistin des Romans, nur in zweiter Linie die Autorin selbst. Der Roman erzählt nicht nur das - in die Lebens- und Familiengeschichte eingelagerte - tragische Schicksal der Kärntner Slowenen, sondern auch seine Genese und Intention, die ambivalenten Bedingungen seiner Möglichkeiten, seine eigene Topographie. Haderlap selbst umreißt diese Frage in ihrer Rede Übergänge wie folgt: Einen nicht auf den ersten Blick erkennbaren Erzählfaden aus meinem Roman „Engel des Vergessens“ möchte ich an dieser Stelle aufnehmen. Es ist die Erzählung vom Verlassen einer Sprache und vom Hinübergleiten in eine andere, die schon immer da war […], es ist die Geschichte eines Übergangs, einer Metamorphose, eines Verlusts vielleicht […]. (Haderlap 2013) 2 Der Roman Engel des Vergessens als Entwicklungsgeschichte Der Roman erzählt eine Lebensgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte - wie ein Kind in dem engen Gebirgstal Lepena groß wird, als Mädchen die Schule im benachbarten Klagenfurt besucht, zum Studium nach Wien zieht, im Theater zu arbeiten und Gedichte zu schreiben beginnt. Am Ende deutet sich an, dass die inzwischen erwachsene Frau den Roman, den die Leserinnen und Leser in den Händen halten, schreiben wird. Er erzählt also letztlich die Geschichte, wie es dazu kam, dass er geschrieben werden wird. Das bedeutet nicht, dass 251 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens 10 Die Figur des Engels fungiert geradezu als Chiffre des Romans. Die beiden katholischen Engelbildchen stehen dem Engel der Geschichte, einer Denkfigur Walter Benjamins, und dem titelgebenden Engel des Vergessens gegenüber. Letzterer wird, so heißt es am Ende des Romans, die „Engelsbildchen über […] [ihrem] Kinderbett endgültig entfern[en].“ (Haderlap 2011: 287) wir eine literarische Autobiographie der zum Schreiben gekommenen Autorin sehen, wenngleich hinter der Protagonistin Haderlaps alter ego angenommen werden kann. Die Idee ist vielmehr, dass der Roman seinen poetologischen Ausgangspunkt beschreibt. Die Handlung setzt in der Küche der Großmutter ein, als das Kind noch nicht zur Schule geht, und endet im Jahre 2003, als die Protagonistin - nunmehr erwachsen und 41 Jahre alt - das Konzentrationslager Ravensbrück besucht, wo ihre Großmutter, zu der sie eine sehr enge Beziehung hatte, interniert war. Vom Lager, von denen, die „überlebt haben oder in den Lagern ums Leben gekommen sind“ (Haderlap 2011: 142), hat die Großmutter ihr erzählt. Deren Sohn wird der Tochter erzählen, wie er als zehnjähriger Junge gefoltert wurde und zu den Partisanen in den Wald flüchten musste. Zwischen diesen traumatisierten Menschen wächst die Tochter auf in einem Land, in dem dieses Leid und Schicksal zum Tabu wurde und keinen Platz im offiziellen kulturellen Gedächtnis haben durfte. Der Roman jedoch erschafft diesen Erinnerungsort, indem er die Geschichte erzählt, in der es diesen noch nicht gibt. Am Anfang ist da nur die Küche, wo die Großmutter dem Kind von „jenen zwei Jahren ihres Lebens, die sie am tiefsten gezeichnet haben“ (Haderlap 2011: 118) erzählt. Das Kind versteht die Dinge auf seine Art und versteht noch wenig. Die Küche des Hauses scheint mit der Küche des KZ in Ravensbrück zu verschmelzen: „Ich höre ihr zu, wenn sie erzählt, für wie viele Menschen sie schon gekocht hat, damals zu Hause, […] damals, als sie die Kessel gewaschen hat, das war noch ein Glück, sagt sie, dass sie dahin gekommen sei, in die Küche, im Lager“ (Haderlap 2011: 6 f.). Was ein Partisan sei, fragt sie die Mutter, weil sie weder das Wort kennt noch vom Widerstandskampf der Slowenen etwas weiß: „Hat dir Großmutter wieder Geschichten erzählt? “ (Haderlap 2011: 31), fragt die Mutter, offensichtlich wenig begeistert von dem Einfluss ihrer Schwiegermutter auf das Kind. Selbst streng katholisch, befestigt sie „zwei gerahmte Engelbildchen“ (Haderlap 2011: 13) 10 über dem Bett des Kindes, um es zu beschützen. Sie möchte die alten Geschichten hinter sich lassen, kauft einen Kühlschrank, der symbolisch für Fortschritt und Wohlstand und Veränderung steht. Zwischen der Großmutter, die den Hof nur für den Gottesdienst oder eine Hochzeit verlässt, und der Mutter, die immer davon redet, fortgehen zu wollen, wächst das Kind auf und wird seinen Weg finden müssen. 252 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 11 Vgl. zur Geschichte Kärntens auch Burz 2014. 12 Wie dabei verfahren wurde und was blieb, zeigt verdichtet eine Passage im Roman: „Was bleibt, sind Kinder […] Was bleibt […] ist der Gestank in den Schulen, in der sie geschlagen werden, weil sie nicht Deutsch können. Kärntner, sprich Deutsch! , und alles geht in die Hose, die deutsche Sprache mit Ohrfeigen und Stockhieben in ihre Finger und Köpfe geprügelt. Sie grüßen sich heute noch, Scheißer du, du mit dem stinkenden Hintern, Plärrer, hast du noch Angst? “ (Haderlap 2011: 239 f.) 13 So kommt die Großmutter ins KZ Ravensbrück, weil ihr Mann zu den Partisanen ging; ihr Sohn, der spätere Vater der Erzählerin, wird als Zehnjähriger mehrere Tage lang von Polizisten gefoltert. Der Roman referiert fast dokumentarisch die historischen Fakten, so etwa auch das Massaker an Zivilisten auf dem Peršman-Hof wenige Tage vor Kriegsende. Dabei werden Schwarz-Weiß-Schemata wie Heroisierung auf der einen und Schuldzuweisungen auf der anderen Seite tunlichst vermieden und ein differenziertes Bild der Historie entfaltet. 3 Historischer Exkurs 11 Nach dem Ersten Weltkrieg entscheidet bei einer Volksabstimmung die Mehr‐ heit - auch der Slowenen - in Kärnten, Teil Österreichs sein zu wollen. In der Verfassung werden Minderheitenrechte festgeschrieben. Die Slowenen südlich der Grenze werden Teil eines Serbisch-Kroatisch-Slowenischen Staates, aus dem Jugoslawien hervorgehen wird. Nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich im März 1938 verschärft sich die Lage der Slowenen aufgrund der nationalsozialistischen Sprachenpolitik - das Slowenische soll aus dem öffentlichen Leben, so auch den Schulen, 12 verschwinden. Nach dem Angriff der Wehrmacht auf Jugoslawien im April 1941 radikalisieren sich die Maß‐ nahmen zur ‚Germanisierung‘. Die ersten Deportationen finden statt und als Reaktion entsteht eine Partisanenbewegung, die grenzübergreifend auch mit Titos Widerstandsbewegung in Jugoslawien kooperiert. Gegen die Partisanen geht man mit aller Härte vor, verhängt Sippenhaft, foltert, um Informationen zu erhalten. Interniert oder ermordet wird, wer in Verdacht gerät, die Partisanen zu unterstützen. 13 Nach Kriegsende etabliert sich in Österreich sehr schnell das Opfer-Narrativ; demnach war Österreich das erste Opfer Hitlers. Für die Erinnerung an die Kärntner Slowenen, die Widerstand geleistet hatten und von den österreichischen Behörden deportiert, verfolgt, interniert und ermordet worden waren, war in diesem Narrativ kein Platz. Stattdessen beschwor man eine kommunistische Bedrohung durch Jugoslawien herauf, verdächtigte alle Slowenen in Kärnten der heimlichen Kollaboration und sah schon im Gebrauch der slowenischen Sprache eine Provokation. Den Kampf um die Erinnerung und die Fortsetzung der Verdrängung der slowenischen Sprache bezeichnet man auch recht verharmlosend als Kärntner Sprachenstreit, als dessen Höhepunkt der Streit um die zweisprachigen Ortsschilder 1972 gilt, „wo in Kärnten die 253 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens zweisprachigen Ortstafeln abgerissen werden“ (Haderlap 2011: 138). Erst mit der Waldheimaffäre 1986 wächst die Kritik an dem Opfermythos und ein Umdenken setzt langsam ein. Waldheim, bis 1992 Präsident in Österreich, war im Krieg an Massakern an der Zivilbevölkerung in Jugoslawien beteiligt. Er hatte diesen Teil seiner Vergangenheit verschwiegen - ganz dem österreichischen Narrativ folgend. 4 Zum Verhältnis von Sprache und Erzählweise des Romans Diesen historischen Hintergrund erschließt sich die Leserin bzw. der Leser, die resp. der die Welt mit dem Blick des Kindes kennenlernt, erst nach und nach. Doch je mehr das Kind versteht, desto mehr ist es verstört. Der Besuch mit der Großmutter in einem ehemaligen Gefängnis, wo den Opfern der dort von der Gestapo ermordeten Menschen gedacht wird, geht dem Kind unerträglich nahe: Der Schrecken hat mittlerweile die Stärke eines Sturms erreicht. Als wir wieder ins Freie treten, habe ich das Gefühl, dass mir die Hälfte des Kopfes fehlt, dass ich von außen betrachtet wie ein Haus aussehe, dem der Sturm das Dach weggerissen hat. (Haderlap 2011: 48). Obwohl die Erzählung sich immer wieder in solchen poetischen Bildern kristallisiert, in denen die Dinge verdichtet zur Sprache kommen, sind die Entwicklungen des Kindes aus dessen Innensicht dargestellt. Selbst der kundige Leser wird vom Text in die Erfahrung des Kindes zurückversetzt. So wird, als das Mädchen zur Schule kommt und nun Deutsch als weitere Sprache kennenlernt, dies nicht explizit gesagt; vielmehr wird gezeigt, wie die neue Sprache wirkt und dem Kind erscheint: Ich kann nicht ergründen, was ich wirklich lebe. Meine Gefühle sind nicht mit den Wörtern vertraut, die ich spreche. Konnte ich früher mit den Wörtern nach Gegenständen, Gefühlen und Gräsern werfen und sie treffen, prallen die Wörter jetzt von den Gegenständen und Gefühlen ab. (Haderlap 2011: 100) Doch in der Schule irritieren das Kind nicht nur die neuen Wörter. Es realisiert zudem, dass seine bisherige (slowenische) Welt in der Schule keinen Platz hat. Den Kindern in den Schulbüchern stößt immer anderes zu. Ich komme darin nicht vor. Ich denke daran, mich aus der Kindheit zurückzuziehen, weil ihr Dach undicht geworden ist, weil ich Gefahr laufe, mit ihr unterzugehen. (Haderlap 2011: 100) Das weggerissene Dach verbindet hier leitmotivisch Museums- und Schul‐ besuch. Steht das Museum für die das Kind verstörenden Erzählungen der 254 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 14 Zum Motiv des Waldganges bzw. der Waldgänger, vgl. Pruzzi 2014. Großmutter, so steht die Schule für den neuen Sprachraum. Das Kind erfährt eine Grenze, die die Sprache des Romans durch die Chiffre Dach unterläuft. Die semantische Aufladung von Orten der Handlung wie etwa der Küche oder der Kammer der Großmutter, von Landschaften wie dem Wald 14 oder den engen Gräben im Gebirgstal, die sich geradezu zu einem poetischen Sprachteppich entfalten, erzeugen eine eigene Sprachlandschaft und eigene Bedeutungen, die sich dem Leser nach und nach erschließen. Die Sprache des Romans weiß immer schon mehr als die Erzählung, in der sich die Zusammenhänge erst nach und nach ergeben. So sagt die Sprache gleich zu Anfang, dass die Großmutter die „Bienenkönigin“ und das Kind ihre „Drohne“ sei (Haderlap 2011: 7). Erst hundert Seiten später wird deutlich werden, wie stark und wodurch die Großmutter das Kind geprägt hat, und die folgende Formulierung wird verständlich: Großmutters Schlafzimmer ist ein Gedächtnisort, eine Königszelle, […] eine Brutzelle, in der ich mit Großmutters Nährflüssigkeit gefüttert werde. In dieser Keimzelle werde ich, wie ich erst Jahre später begreifen werde, geformt. (Haderlap 2011: 117) Die Vorausdeutung, dass die Protagonistin später die Dinge verstehen wird, erklärt, warum die Sprache des Romans, die die Sprache der Autorin sein wird, mehr sagt als das, was aus der Sicht des Kindes erzählt wird. Die Bienen, die der Vater züchtet, sind auch metaphorisch zu verstehen; wenn der Vater hofft, „dass die geschwächten Bienen vom Nachbarvolk aufgenommen werden“ (Haderlap 2011: 20), so steht dies gleichsam für die Frage, ob die Slowenen in Österreich eine Heimat finden. Sobald das Mädchen die Schule besucht, wird ihm vermittelt, als Slowenin in Österreich keinen Platz zu haben. Das Mädchen erfährt, dass eine Grenze gezogen wurde zwischen ihm und den Kindern in den Büchern, zwischen der einen und der anderen Sprache, und es überlegt, ob es „in etwas hinüberwech‐ seln müsste, wofür […] [es] keinen Begriff habe.“ (Haderlap 2011: 101) „Wo ist eigentlich die Grenze“, das fragt das Kind den Vater, nachdem es in die Grundschule gekommen war (Haderlap 2011: 78). Der Vater zeigt ihr, wo die Staatsgrenze verläuft. Diese können sie jedoch nicht nur unbemerkt überqueren; auf der anderen Seite wird auch dieselbe Sprache gesprochen und sie werden herzlich empfangen. Nun erfährt das Kind eine andere Art von Grenze, eine Grenze, die durch das eigene Land verläuft - und bald durch ihr Leben - eine Sprachgrenze, bei der die Sprachen ideologisch aufgeladen sind. 255 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens 15 Gräben oder auch Grape - so nennt man die engen Gebirgstäler in Südkärnten. Dort konzentrierte sich die slowenische Minderheit. 16 Der Roman enthält sehr viele Absätze und ist darüber hinaus noch in 50 Abschnitte von sehr unterschiedlicher Länge untergliedert, die jeweils mit einem Initial beginnen. Nach dem Willen der Mutter soll das Mädchen auf das Gymnasium geschickt werden, soll also die slowenische Enklave in den Gräben 15 verlassen. Der Vater ist dagegen und die Uneinigkeit der Eltern überträgt sich auf das Kind. Der Text wechselt plötzlich die Erzählsituation von der Ich-Form zum personalen Erzähler: Am Abend bleibt das Kind hinter dem Haus auf der Wiese stehen, am geöffneten Tor zur Nacht, die als Königspalast aufgeht über der Landschaft, mit klingendem Stern‐ gefunkel, mit dem Atem des Waldes und dem Plätschern des Baches am Grabengrund. (Haderlap 2011: 133) Die Paläste stehen den Gräben gegenüber, und das Kind weiß nicht, wohin es gehört. Der Wechsel zur 3. Person kann entwicklungspsychologisch gedeutet werden; die Protagonistin kann zu sich in Distanz treten und über sich selbst reflektieren. Doch im folgenden Abschnitt 16 deutet sich darin zudem eine Spaltung der Person an, die mehr beinhaltet als eine natürliche psychologische Entwicklung. Das Mädchen […] dürfte wohl ich sein, das fremde Ich, das das Weinen entdeckt, als Quelle, die alles aus der Tiefe des Körpers schwemmt, was sich dort angesammelt hat, […] ein Metall […], das es vergiftet und nährt. (Haderlap 2011: 134) 5 Das Leben im Niemandsland zwischen zwei Welten Das Kind wird nicht nur zum Mädchen. Wollte es sich zuvor aus dem „Empfin‐ dungskörper zurückziehen“ (Haderlap 2011: 117), aus der Kindheit ausziehen, erkennt es in dieser Nacht, dass diese ein Teil von ihr ist und bleiben wird, ihre Herkunft, die sie ernährt hat, die sie vergiftet hat. Sie gehört zu den Menschen, die von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden, und sie hat zugleich die Vorstellung, die Vision, zu etwas Samtigem und Warmem vorzudringen, zu etwas Dunklem und Hellem, das mich zermalmt und versöhnt, das mich das Kind sehen lässt, fern von mir, wie in mir. Von da an bin ich das falsch zusammengewachsene Mädchen, kommt mir vor, das Mädchen mit ausgerenkten Gliedern, mit hochtrabenden Gedanken. (Haderlap 2011: 134) 256 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 17 Die Mutter lebt zwar auch im engen Tal, aber eigentlich zieht es sie fort. Nach dem Tod der Großmutter kauft sie sich ein Motorrad und fährt für Einkäufe sogar in die entlegene Bezirksstadt, will sogar nach Klagenfurt ziehen und ihren Mann verlassen. Die Mutter war es auch, die mit ihr übte, slowenische Gedichte auswendig zu lernen, und die sogar die katholischen Bücher gegen moderne Literatur austauscht, als die Tochter studiert. Von dem Vater hatte sich die Tochter bereits nach einem seiner zahlreichen Selbstmordversuche abgestoßen gefühlt: „Ich wende mich von ihm ab, wie ich mich nie wieder von ihm abwenden werde.“ (Haderlap 2011: 99) Zurücklassen wird sie ihn so wenig, wie die Mutter ihn verlässt, aber ihr ist die verzweifelte Hoffnung eigen, sich durch einen „Schulwechsel gegen die Umgebung abschließen“ zu können. (Haderlap 2011: 101 f.). 18 Das Wort Niemandsland taucht das erste Mal mit der Schulzeit auf und wird von Haderlap auch in Reden verwendet: In ihrer Bachmannpreisrede heißt es, es sei ein Ort, „den man nur mit äußerster Vorsicht als Niemandsland bezeichnen könnte, weil er selten so unbelebt und unbehaust wirkt, wie der leere, drohende Sicherheitsstreifen Sie wird in den anderen Sprach- und Kulturraum einziehen und doch ihre Kind‐ heit mitnehmen und den Traum hegen, die getrennten Welten zu verbinden. Gegen den Willen von Vater und Großmutter wechselt die nun Zehnjährige auf das Gymnasium. Dort entwächst sie den Gräben und entfremdet sich von der Großmutter. „Großmutter und ich beginnen uns voneinander zu entfernen […] und ich gehe auf etwas zu, das verschwommen in der Zukunft liegt“ (Haderlap 2011: 139). Ihre Herkunft, „[d]ie Angst um [den] Vater und die Erzählungen der Großmutter formen sich zu einer von [ihr] sorgsam gehüteten Gedankenwelt“ (Haderlap 2011: 143), deren Ort die slowenische Studienbibliothek wird. Dort ist ihr Rückzugsraum, weil das „Slowenische […] etwas Unerwünschtes im Land“ (Haderlap 2011: 143) ist. Sie versteckt ihre Herkunft also in sich oder verlagert sie in Rückzugsräume wie die slowenische Bibliothek oder die Literatur. Nach außen hin nimmt sie den verheißungsvollen Weg zum „Königspalast“, zum „Sterngefunkel“ (Haderlap 2011: 133), also den einzigen Weg, der in Österreich Erfolg verspricht, den Weg der Anpassung und Assimilation. Nach der Matura zieht sie nach Wien, studiert Theaterwissenschaft und promoviert. Schließlich arbeitet sie am Theater als Dramaturgin. Sie scheint den Weg der Mutter 17 genommen zu haben und die Erzählungen der Großmutter, die Angstzustände des Vaters und seine posttrau‐ matischen Anfälle hinter sich gelassen zu haben, und am Ziel ihrer „[h]eimlichen Gedanken“, die in der Schule als „blank geputzte, zaghafte Wünsche“ (Haderlap 2011: 101) in ihrem Kopf zu kreisen begannen, angekommen zu sein. In Wirklichkeit lebt sie weiterhin in zwei Welten, oder zwischen zwei Welten, zwischen denen sich ein „Niemandsland [erstreckt], in dem man verloren gehen kann“ (Haderlap 2011: 185). 18 257 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens zwischen zwei Staaten“ (Haderlap 2013). Der Ausdruck meint also etwas, das ambiva‐ lent zu begreifen ist. Die Reisen zwischen Wien und meinem Heimatort entwickeln sich zu Zeitexposi‐ tionen, zu Fahrten durch unterschiedliche Zeitläufe und Geschichtsvarianten, die nebeneinander existieren. […] Ich sehe mich zwischen einem dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreich und seinen hellen, reich ausgestatteten Räumlich‐ keiten hin- und herpendeln. Niemand in den hellen Räumen scheint zu ahnen […], dass es in diesem Gebäude Menschen gibt, die von der Politik in den Vergangenheitskeller gesperrt worden sind, wo sie von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden. (Haderlap 2011: 185 f.) Schon in der Schulzeit auf dem Gymnasium war in ihr der Gedanke aufgekom‐ men, über diesen Keller, über den in diesem Land niemand sprechen wollte, zu schreiben. Initialzündung war der Tod der Großmutter. Die Enkelin war zur Beerdigung nach Hause zurückgekehrt. Bei der Totenwache beginnen die Leute zu erzählen, und erstmals kann der Vater seine Geschichte erzählen, und seine Tochter erfährt den Grund für seine Ängste und posttraumatischen Anfälle. Er war als Zehnjähriger nicht nur zu den Partisanen gekommen, er war vor den Behörden geflohen, nachdem Polizisten ihn mehrere Tage gefoltert hatten, weil sein Vater zu den Partisanen übergelaufen war. Seine Erzählung, so hat sie danach „das Gefühl“, sei zu der ihren geworden, als habe er ihr „einen Teil […] [ihrer] eigenen Geschichte erzählt“ (Haderlap 2011: 155). Leni, die im Hause die Rolle der Großmutter übernommen hatte, als jene im KZ inhaftiert war, erzählt danach ihre Geschichte, die Angst vor Denunziation und Deportation, und ihr folgt Cyril und schildert, wie das Leben der Partisanen im Wald wirklich war. Nichts wird beschönigt oder heroisiert, und doch stellt Leni am Ende fest: Sie glaube, dass das eine besondere Totenwache gewesen sei, bei der die Mitzi [die Großmutter] zugehört haben könnte. Sie sei stolz darauf, dass das slowenische Volk in der Nazizeit nicht klein beigegeben habe, dass es begann, für sein Überleben zu kämpfen. […] Da werde ihr bewusst, dass sie, die Älteren, die Verpflichtung hätten, ihr Wissen an die Jugend weiterzugeben, damit sie nicht eines Tages ohne Erinnerung an ihre Familien zurückblieben. (Haderlap 2011: 159 f.) Am nächsten Tage hat die Enkelin und Erzählerin erstmals den Gedanken, das Erfahrene, ihre Vergangenheit, ihre Herkunft zur Sprache zu bringen: „Ich blicke in den Talgraben und beginne zu überlegen, ob ich nicht anfangen sollte, aufzuschreiben.“ (Haderlap 2011: 163) Doch es ist ein Prozess des Scheiterns. Sie findet keine Sprache: „Meine Sprechversuche bleiben ein kleinlautes Stammeln und Schweigen“ (Haderlap 258 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 19 Vgl. hierzu auch ihre Rede Übergänge: „Auch habe ich mich erst über die deutsche Spra‐ che den schmerzlichen Erinnerungen annähern können, habe wieder zum Gedächtnis meines Körpers zurückgefunden und bin zu den Gerüchen der Kindheit zurückgekehrt. Über die Sprache ist mir ein neuer Nervenstrang gewachsen, der die emotionalen Verschüttungen und Verkrustungen überwinden und überlisten konnte.“ (Haderlap 2013: 4). 2011: 167). Während des Studiums nimmt sie die Schreibversuche auf Slowe‐ nisch wieder auf. Doch die „Sätze sind ungelenk, als wären sie aus herausgeris‐ senen Buchstabenreihen zusammengestellt. Sie wirken wie Briefe, die […] ihren wahren Verfasser nicht verraten wollen.“ (Haderlap 2011: 175) 6 Sprachwechsel im Roman Maja Haderlap ist es gelungen, den Roman zu schreiben. Sie verschweigt auch nicht, dass sie die Lebensgeschichte mit der Protagonistin teilt, und sie hat für den Roman die Sprache gewechselt, also auf Deutsch - nicht in der Sprache der Täter, vielmehr in der deutschen Literatursprache - ihre Lebensgeschichte, ihre Familiengeschichte, ihre Herkunftsgeschichte zur Sprache gebracht. In einem Gespräch mit Michael Kerbler nennt sie drei Gründe für ihren Wechsel der Schreibsprache. Erstens einen psychologischen Grund: Die deutsche Sprache habe sie geschützt. Deutsch also als Distanzsprache, die erst ermöglicht, sich dem Stoff zu nähern, weil die Erzählungen der Familie und auch die eigene Erfahrung der Ausgrenzung zu eng mit dem Slowenischen verbunden sind. 19 Zweitens einen literarischen Grund: Es gibt eine Tradition deutschsprachiger Erinnerungsliteratur, an die sie anschließen konnte. Drittens einen kulturpoli‐ tischen Grund: Sie habe in den deutschsprachigen Kulturraum sprechen und etwas bewirken wollen, also in den Raum, der bisher diesen Erinnerungen keinen Platz im kulturellen Gedächtnis zugestanden und der slowenischen Sprache ihr Recht abgesprochen hatte, in ihm beheimatet zu sein. Doch die Entscheidung, „mutwillig aus einer Schreibsprache auszuziehen“ (Haderlap 2011b), ist höchst ambivalent. In diesem Falle erscheint sie wie ein Verrat an der eigenen Sache. Affirmiert dies nicht den Verdrängungsprozess des Slowenischen durch die deutsche Sprache? Widerspricht es nicht der eigenen Intention, jenen Generationen eine Stimme zu geben, die sich zu ihrer Sprache bekannt und gegen ihre Vernichtung Widerstand geleistet haben? Beide Fragezeichen spricht Haderlap selbst mehrfach in Reden und Interviews an. Sie weiß aber nicht nur um die Ambivalenz ihrer Entscheidung, sondern weist zugleich darauf hin, dass man zwar immer nur in einer Sprache schreiben könne, nicht zwischen den Sprachen, dass gleichwohl ihre Texte 259 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens 20 Haderlap 2011b: „Es ist doch so, dass man nicht zwischen den Sprachen schreibt, sondern nur in der Sprache schreiben oder sich eine Sprache erschreiben kann. Man befindet sich, solange man schreibt, nie außerhalb einer Sprache und ihrer Traditionen.“ nach einer Verortung suchen, nach einem Ausgangsort, dass sie somit ihre eigene Topographie haben. 20 So spricht und schreibt sie von der Peripherie des deutschen Sprach- und Kulturraums aus. Sie nimmt die Topographie der Berge mit ihren engen Tälern und Bergkämmen zum poetologischen Ausgangspunkt. Und sie schreibt nicht aus einer Sprache, sondern aus ihrer Mehrsprachigkeit heraus. 7 Zur Mehrsprachigkeit von Text und Sprache Dieser Ausgangspunkt des Romans sei abschließend bestimmt. Der erste Satz des Romans spricht von einer schweigenden Gebärde: „Großmutter gibt mir ein Zeichen mit der Hand, ich solle ihr folgen.“ (Haderlap 2011: 5) Die Geste taucht in der Mitte des Romans erneut auf, wenn es heißt, die „Großmutter […] [gebe ihr] wiederholt Zeichen, […] [sie] solle zu ihr kommen, sie müsse […] [ihr] etwas verraten“ (Haderlap 2011: 117), und ebenso im letzten Satz: „Großmutter gibt mir mit der Hand zu verstehen, dass ich leise sein soll. Nicht so laut, sagt sie, sonst kann man nichts hören.“ (Haderlap 2011: 287) Hören soll man die Stimmen, die die Großmutter in einem Traum der Enkelin in „gesponnen[en] […] trichterförmige[n] Baldachinen“ (Haderlap 2011: 287) eingefangen hat. Bezieht man dieses poetische Bild vom Ende auf den ganzen Roman, so wird der Text vom Sprechakt zum potentiellen Hör-Akt und die Erzählerin zur Empfängerin. Da wir sodann in dem Roman die „Stimmen“ (Haderlap 2011: 287) hören, diese ihre Geschichten jedoch auf Slowenisch erzählten, erklingt in dem auf Deutsch geschriebenen Roman die slowenische Sprache. Dies ist weniger paradox, als es zunächst erscheint. Erstens zeigt sich in dem Roman neben der schon erwähnten manifesten und latenten Mehrsprachigkeit eine weitere Form, wenn man - mit Genette gesprochen - zwischen der Ebene des discours und der der histoire unterscheidet, zweitens sind kulturelle Codes der slowenischen Sprache in den Text überge‐ gangen und drittens ist der Text mehr-sprachlich, da er aus zwei Sprachen bzw. aus dem Niemandsland zwischen den Sprachen heraus geschrieben ist. Zum ersten Punkt: Im Roman finden Sprachwechsel statt; in der Story gibt es code-switching, Gespräche werden auf Deutsch oder auf Slowenisch geführt und es ist ein Sprachwechsel der Protagonistin in den Roman eingeschrieben. 260 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 21 Das längste Gespräch, das auf Deutsch geführt wird, findet in einem Gasthaus in Eisenkappel, also im öffentlichen Raum, statt. Obwohl damit implizit schon klar ist, dass die Kommunikationssprache Deutsch ist, markiert der Text dies noch explizit in Form der direkten Rede: „Ich treffe Vater tatsächlich dort [im Gasthaus] an. Er begrüßt mich mit einem lauten Ja hallo! Die gehört zu mir, strahlt er, sie ist aus Wien gekommen, um mich zu holen! “ (Haderlap 2011: 176) Es gibt nur noch ein längeres Gespräch, jenes mit Johi, das auf Deutsch stattfindet (Haderlap 2011: 216-219). Allerdings sind die Markierungen dort weniger eindeutig. Die auffälligste Markierung eines Sprachwechsels findet sich im Kontext des Sprachenstreits: „Ich bin ein Mensch, schreit Vater auf Deutsch“ (Haderlap 2011: 138). 22 „Die Namen der Lager hängen an den Umgebrachten und Überlebenden wie kleine Beschriftungstäfelchen und verblassen […] verschwinden, werden überwuchert, un‐ sichtbar, kaum noch Spur“ (Haderlap 2011: 142). 23 Das geflochtene Netz kann auch mit dem gesponnenen Trichter in der letzten Passage des Romans verbunden werden. Offen bleibt jedoch hier wie dort, wie erfolgreich die Erinnerungsarbeit ist. Auch Haderlap spricht bei ihrem Roman von einem Versuch. 24 Die Großmutter hat der Enkelin die Kraft der Beschwörung als kulturelle Praxis vermittelt. Vgl. beispielsweise erklärend (Haderlap 2011, 28-30) oder durch praktische Anwendung (Haderlap 2011, 116). Die meisten Gespräche in der erzählten Welt werden auf Slowenisch geführt, 21 jedoch, sieht man von slowenischen Einsprengseln ab, auf Deutsch wiedergege‐ ben. Auf der Ebene der histoire ist der Text also über weite Strecken Slowenisch, auf der Ebene des discours ist er Deutsch. Zum zweiten Punkt: Hier sei auf eine Aussage der Autorin hingewiesen und sodann ein Text-Beispiel gegeben. Ich habe in Engel des Vergessens den Versuch unternommen, das in der slowenischen Sprache beheimatete Gedächtnis, die in ihr innewohnende kollektive Erfahrung der Slowenen, in die deutsche Sprache zu transferieren. (Haderlap 2013) Die Zeugen und Zeugnisse der historischen Erfahrung der Kärntner Slowenen verschwinden unweigerlich und die slowenische Sprache in Kärnten droht ebenfalls zu sterben, so dass sich die Frage stellt, welche Form das kulturelle Gedächtnis annehmen kann. 22 Zuvor stellt sich überhaupt die Frage, was Zeugnis für solch ein Grauen sein kann - als das Mädchen nach den Erzählungen der Großmutter deren Körper absucht, „ob vom Entsetzen Spuren auf der Haut geblieben sind“, stellt sie fest, „das Grauen zeichnet sich nicht ab“ (Haderlap 2011: 122). Der Großmutter jedoch gelingt es, indem sie „alle nachbarlichen Anwesen mit den ehemals dort ansässigen Menschen […], die das Lager überlebt haben oder in den Lagern ums Leben gekommen sind“, aufzählt und auf diese Weise „ein feines Netz von Hof zu Hof “ (Haderlap 2011: 141) flicht. 23 Dem folgt im Roman ein Absatz, in dem die Namen der Großmutter geradezu beschwörend 24 aufgezählt werden. Es entsteht ein literarischer Gedenkstein 261 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens 25 Vgl. Riehl 2014: 13. slowenischer Namen, der in das Archiv nicht nur der deutschen Sprache eingehen wird. Zum dritten Punkt: Da Maja Haderlap zweisprachig ist, wirkt, wenn sie in einer Sprache schreibt, die andere Sprache im Hintergrund mit, weil die Sprachen im Sprachzentrum untereinander vernetzt sind. Um zu erklären, wie bei mehrsprachigen Menschen Wortschätze mehrerer Sprachen im Gehirn abgespeichert bzw. funktional geordnet sind, hat der Linguist Uriel Weinreich „zwischen drei Typen unterschieden“: 25 zum einen der zusammengesetzten Zweisprachigkeit, bei der wir ein Konzept haben, das wir jeweils auf ein Wort in der einen und in der anderen Sprache beziehen. Zum zweiten der koordinierten Zweisprachigkeit, bei der jedes Wort in der jeweiligen Sprache sein eigenes Konzept hat. Und zum dritten die untergeordnete Zweisprachigkeit, bei der die Konzepte an Wörter aus einer Sprache gebunden sind und über diese in die andere Sprache übersetzt werden. Haderlap sei hier kein Typ zugeschrieben, entscheidend ist vielmehr, dass bei allen Typen die Sprachen in ein Verhältnis zueinander treten; wer mehrsprachig ist, kann also nicht mehr rein einsprachig denken. Haderlap selbst meint hierzu: „In meiner Schreibbewegung gedenke ich immer wieder meiner slowenischen Erstsprache.“ (Haderlap 2013) Als Beispiel nennt sie das Gedicht gedächtnis, vergissmeinicht, monument. […] in meiner stimme kristallisiert die erste sprache und memoriert die chiffren der erinnerung: spomin, spominčica, spomenik. gedächtnis, vergissmeinnicht, monument. (Haderlap 2014: 75) Die Chiffren der Wortstämme im Slowenischen erzeugen im Deutschen eine Wortzusammenstellung, in der sich die slowenischen Chiffren semantisch kristallisieren. Dabei entsteht eine spannungsvolle Beziehung zwischen den Sprachen. Eine solche Beziehung ergibt sich allerdings nicht nur durch eine Verknüpfung der Sprachen, sondern auch aus der Aufhebung jeglicher Ver‐ knüpfungen, wie sie im semiotischen Dreieck für Sprachen expliziert sind. Danach sind in jeder Sprache die Signifikanten über die Codes (Vorrat an Zeichen) mit den Signifikaten in je spezifischer Weise verbunden, und auf der Grundlage dieser Verknüpfung bezieht man sich auf Phänomene in der Welt. Da jedoch diese Verknüpfungen zwischen den Sprachen nicht gleich sind, begreifen mehrsprachige Menschen, dass Verknüpfungen nur bezogen auf die jeweilige Sprache ihre Gültigkeit besitzen und in Wirklichkeit lediglich eine 262 Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck 26 George Steiner bringt dies in einem Satz auf den Punkt: „Jede Sprache - und es gibt keine ‚kleinen‘ oder geringeren Sprachen - bildet sich einen Satz möglicher Welten und Geographien des Gedächtnisses.“ (Steiner 2004: 8). 27 Schreibakt bezieht sich hier auch auf Übersetzer, die sich bei ihrer Tätigkeit ebenfalls in diesem Sprachraum zwischen den Sprachen aufhalten. 28 Diesen Terminus hat Silke Pasewalck ergänzend zu Robert Stockhammers ‚Sprachig‐ keit‘ vorgeschlagen, um hervorzuheben, dass es sprachliche Elemente oder sprachliche Strukturen geben kann, bei denen erstens der Grad der Zugehörigkeit nicht klar ist und die zweitens auf eine Sprache verändernd einwirken können. Ihre Sprachigkeit ist unterbestimmt, weil sie einerseits eine Verfremdung bezogen auf eine Sprache aufweisen, andererseits diese nur in einer Sprache realisieren können. Maja Haderlap formuliert dies in aller Deutlichkeit: „Es ist doch so, dass man nicht zwischen den Sprachen schreibt, sondern nur in der Sprache schreiben […] kann.“ (Haderlap 2011b) In einer Sprache gibt es also ein ‚Mehr‘ als die Sprachigkeit, etwas, das nicht mehr‐ sprachig, sondern ‚mehrsprachlich‘ ist, bei dem ein Sprachausdruck eben nicht nur in der Zugehörigkeit graduell zwischen zwei Sprachen zu verorten ist, sondern in einer Sprache neue Formen und Bedeutungspotentiale von Sprache eröffnet. Zweitens zeigt der Terminus mit seiner typographischen Zuspitzung auf, dass mehr-sprachliche Elemente oder Strukturen auf eine Sprache einwirken und diese kreativ verändern bzw. deren Grenzen erweitern können. Dies meint unseres Erachtens auch Haderlap, wenn sie davon spricht, dass sie sich eine Sprache erschreibe oder erfinde. Womit eben keine Konstruktion einer neuen Sprache, sondern - in Anlehnung an den russischen Formalismus - Poetizität gemeint ist. Vgl. hierzu Pasewalck 2014 und Pasewalck 2018. mögliche Welt darstellen. 26 Einerseits entsteht hierdurch eine Unsicherheit, weil die Sprachregeln, die Gebote und Verbote einer Sprache zu bloß möglichen Sprachkonventionen werden, und zudem die Gefahr besteht, dass man die unterschiedlichen Vereinbarungen der Sprachen vermischt oder verwechselt. Andererseits entsteht in diesem Niemandsland zwischen den Sprachen, in dem die Verknüpfungen ihre Selbstverständlichkeit verlieren, im Schreibakt 27 eine Freiheit zur Verknüpfung. Silke Pasewalck hat hierfür - am Beispiel der Autorin Ilma Rakusa - den Begriff „Mehr-Sprachlichkeit“ 28 vorgeschlagen. Maja Haderlap bezieht sich auf Ilma Rakusa und erläutert diesen Raum bzw. Ort der Sprache wie folgt: Ilma Rakusa hat einmal geschrieben, dass man als Mehrsprachige lernt, dass es nichts Selbstverständliches gibt, dass alles auf Differenz beruhe. Es gibt keinen Ort, der so sehr nach einem Wortwechsel, nach einer Übersetzung verlangt wie die Sprachgrenze. Einen solchen Ort, vielmehr einen solchen Raum, bewohne auch ich. Er ist nicht sichtbar und gleicht einem verdunkelten Korridor, den ich als Verbindungsweg zwischen meine bestimmenden Sprachen gebaut oder gegraben habe. […] Im Korridor lege ich alles Bezeichnende und Bezeichnete ab, werde frei von Zuschreibungen. Außerhalb des Korridors sehe ich die Sprachen leuchten. (Haderlap 2011b) 263 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens Literaturverzeichnis Burz, Ulfried (2014). Kärnten, Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Abrufbar unter: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/ 54127.html (Stand: 17.07.2020) Busch, Brigitta/ Doleschal, Ursula (2008). 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Bachmann Verlag 2015, 7-17. 265 Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens Sprach- und Weltalternativen: Mehrsprachigkeit als Ideologiekritik in kontrafaktischen Werken von Quentin Tarantino und Christian Kracht Michael Navratil Abstract: Mehrsprachigkeit und das Alternate History-Genre haben etwas gemeinsam: Beide Phänomene basieren wesentlich auf der Bildung von Alternativen, im Falle der Mehrsprachigkeit den Alternativen zwischen verschiedenen Sprachen und Sprachsystemen, im Falle der Alternate History den Alternativen zwischen Fakten der realen Welt und ihrer Variation innerhalb einer fiktionalen Welt. Der vorliegende Aufsatz widmet sich der Verbindung dieser beiden Formen des Alternativendenkens in Quentin Taran‐ tinos kontrafaktischem Kriegsfilm Inglourious Basterds (2009) und Christian Krachts Alternate History-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008). Es soll dabei gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit Sprachalternativen in den genannten Werken zur Genrereflexion der Alternate History selbst beiträgt und dabei zugleich eine politische Dimension entfaltet: Mehrsprachigkeit erfüllt bei Tarantino und Kracht eine ideologie‐ kritische Funktion, insofern sie dazu beiträgt, die politische Problematik eines starren Alternativendenkens herauszustellen. Am Schluss des Artikels wird für eine stärkere Berücksichtigung möglicher Verbindungen zwischen Fiktionstheorie und literarischer Mehrsprachigkeit in der Forschung plädiert. Keywords: Mehrsprachigkeit; Kontrafaktik; das Politische; Fiktionstheorie; Quentin Tarantino; Christian Kracht 1 Alternativen: Sprachen, Welten und das Politische Kontrafaktische Spekulationen haben in der Geschichtswissenschaft einen schlechten Ruf. Obwohl seit den 1980er Jahren immer wieder Versuche einer Verteidigung des kontrafaktischen Denkens unternommen wurden, steht die 1 Mit dem Konzept der Kontrafaktik werden die Bedingungen und Funktionen des kontrafaktischen Erzählens speziell in fiktional-künstlerischen Medien fokussiert. Ich habe folgende Definition vorgeschlagen: „Kontrafaktik liegt vor, wenn in einem fiktionalen Medium realweltliches Faktenmaterial auf signifikante Weise variiert wird.“ (Navratil 2019: 366) Derartige Faktenvariationen der Kontrafaktik finden sich nicht Mehrzahl der Fachvertreter Überlegungen des Typs „Was wäre gewesen, wenn Napoleon die Schlacht von Waterloo gewonnen hätte“ nach wie vor kritisch gegenüber (vgl. Neitzel 2003: 312). Die Einwände betreffen dabei nicht nur methodische Probleme des kontrafaktischen Denkens, etwa die Schwierigkeit, plausible Alternativen zum realen Geschichtsverlauf zu modellieren, oder die Gefährdungen der wissenschaftlichen Objektivität durch bloßes „Wunschden‐ ken“ (Evans 2014: 17-58). Kontrafaktische Szenarien haben im Lager der Geschichtswissenschaft auch mehrfach ethisch-politische Bedenken hervorge‐ rufen. Tristram Hunt etwa kritisiert, dass das kontrafaktische Denken mit seiner Formulierung simpler historischer Alternativen die Bedeutung individueller Handlungen überbetone und darüber die Bedeutung sozialer Verhältnisse und ökonomischer Strukturen ignoriere. Die kontrafaktische Geschichtsschreibung erweise sich damit nicht nur als wissenschaftlich fragwürdiges, sondern auch als politisch reaktionäres Unterfangen (vgl. Hunt 2004). In eine ähnliche Kerbe schlägt Richard J. Evans - der derzeit wohl prominenteste Kritiker kontrafakti‐ schen Denkens -, wenn er konstatiert: „Tatsächlich gibt es, wenn überhaupt, kaum kontrafaktische Szenarien, die aus einer linken Perspektive verfasst sind. […] In der Praxis sind kontrafaktische Szenarien […] mehr oder weniger ein Monopol der Konservativen.“ (Evans 2014: 62 f.) Evans plausibilisiert diese These dabei unter anderem mit der Beobachtung, dass sich historische kontrafaktische Spekulationen „fast ausschließlich mit traditioneller, altmodischer Politik-, Militär- und Diplomatiegeschichte von der Art [beschäftigten], wie sie in den 1950er Jahren vorherrschte.“ (Evans 2014: 171) Betont würden also vor allem die Biografien und Taten ‚großer Männer‘, Kriege, Schlachten, Attentate und Morde. Die reale Komplexität historischer, sozialer und politischer Determinati‐ onsprozesse, deren Berücksichtigung von einer politisch eher links orientierten oder postAlternativmodernen Geschichtstheorie angemahnt wird, trete somit in der kontrafaktischen Historiografie zurück hinter die Imagination simpler, monokausaler Alternativen des Geschichtsverlaufs. Blickt man nun auf das künstlerisch-fiktionale Parallelphänomen zum kon‐ trafaktischen Denken in der Geschichte, nämlich auf Romane und Filme des Alternate History-Genres wie Philip K. Dicks The Man in the High Castle oder Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara, so lassen sich zunächst einige Gemein‐ samkeiten erkennen: Werke der fiktionalen Kontrafaktik 1 basieren ebenfalls auf 268 Michael Navratil nur in alternativgeschichtlichen Romanen und Filmen, sondern auch in utopischen und dystopischen Texten, in Doku- und Autofiktionen, Satiren oder im Schlüsselro‐ man. Eine ausführliche fiktionstheoretische Fundierung und Funktionserläuterung der Kontrafaktik findet sich in meiner Dissertationsschrift: Kontrafaktik der Gegenwart. Politisches Schreiben als Realitätsvariation bei Christian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt (Navratil, in Vorbereitung). 2 Anders als genuin postmoderne Genres wie etwa die historiografische Metafiktion (vgl. Hutcheon 1988; Nünning 1995) ziehen Werke der historischen Kontrafaktik also nicht prinzipiell die Möglichkeit historischer Wahrheit in Zweifel. Zum spannungsreichen Verhältnis von alternativgeschichtlichem Denken und Postmoderne siehe Singles (2013: 7), Rosenfeld (2005: 6 f.). 3 Auch Kathleen Singles diskutiert die genannten Werke Krachts und Tarantinos als Beispiele eines ‚hyper-selbstreflexiven‘ Umgangs mit dem Genre der Alternate History. Vgl. Singles (2013: 247-278). einer eindeutigen Alternativbildung zwischen Fakten der realen Welt und ihrer künstlerischen Variation innerhalb einer fiktionalen Welt. 2 Darüber hinaus zeigt auch die Kontrafaktik in Literatur und fiktionalem Film eine starke Affinität zum Politischen (vgl. Navratil 2019). Eine Verbindung von kontrafaktischem und konservativ-reaktionärem Denken jedoch, wie sie innerhalb der Geschichtswis‐ senschaft mitunter moniert wurde, wird man mit Blick auf das literarische oder filmische Alternate History-Genres kaum plausibel finden können. Zwar ist die politische Problematik eines simplen Alternativendenkens auch im fiktionalen Bereich nicht einfach ausgesetzt; doch ergeben sich im Rahmen einer „Politik der Literatur“ - also unter der Bedingung einer, wie Jacques Rancière schreibt, „wesentliche[n] Verbindung zwischen der Politik als spezifischer Form kollek‐ tiver Praxis und der Literatur als bestimmte[r] Praxis der Kunst des Schreibens“ (Rancière 2011: 13) - ganz eigene Möglichkeiten des ästhetischen und reflexiven Umgangs mit dieser Problematik. So nehmen avanciert-postmoderne Beispiele des Alternate History-Genres mitunter gerade das eigene, erzählstrukturelle Alternativendenken zum Ausgangspunkt, um über die politische Problematik starrer Alternativbildungen nachzudenken. Im vorliegenden Aufsatz sollen zwei Beispiele einer solchen avanciert-post‐ modernen, historischen Kontrafaktik in den Blick genommen werden: Quen‐ tin Tarantinos kontrafaktischer Kriegsfilm Inglourious Basterds von 2009 und Christian Krachts Alternate History-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von 2008. 3 Es soll gezeigt werden, dass das Konzept der ‚Alternative‘ für die genannten Werke nicht nur qua Genre von Bedeutung ist, sondern auch binnenfiktional thematisch wird. Die immanente Reflexion des Alternativendenkens dient dabei nicht allein der Genrereflexion, sondern erfüllt darüber hinaus eine politisch-kritische Funktion. 269 Sprach- und Weltalternativen 4 Im vorliegenden Aufsatz wird von einem Begriff des ‚Literarischen‘ ausgegangen, der nicht so sehr auf ein spezifisches Medium, sondern eher auf den Aspekt des Künstlerischen abhebt. Begriffe wie ‚literarische Mehrsprachigkeit ‘ oder ‚Politik der Literatur‘ können entsprechend auch Autorenfilme wie Tarantinos Inglourious Basterds umfassen. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt speziell auf dem Einsatz der literarischen Mehrsprachigkeit in den genannten Werken. 4 Eine Verbindung von Kontrafaktik und Mehrsprachigkeit liegt insofern nahe, als sich beide Phänomene als Formen des Alternativendenkens begreifen lassen: im Falle der Mehrsprachigkeit den Alternativen zwischen verschiedenen Sprachen oder Sprachformen, im Falle der Kontrafaktik zwischen Fakten der realen Welt und deren Variation innerhalb einer fiktionalen Welt. Nun trägt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs zwingend dazu bei, bestehende politische, natio‐ nale oder identitäre Oppositionen und Alternativen zu zementieren oder zu naturalisieren: Im Gegenteil steht der Einsatz literarischer Mehrsprachigkeit in der Moderne und Postmoderne für gewöhnlich im Zeichen eines „vertieften Bewußtseins von der Kontingenz und Umgestaltbarkeit sprachlicher und an‐ derer Zeichen- und Regelsysteme“ (Schmitz-Emans 2004: 16), einer erhöhten Sprachreflexivität (vgl. Radaelli 2011: 38) sowie eines ethisch motivierten „Interesse[s] für eine Hermeneutik der Differenz und der Fremdheit“ (Sepp 2020: 53). Genau diese Eigenschaften ermöglichen es der Mehrsprachigkeit in den kontrafaktischen Werken Krachts und Tarantinos, auf die politische Problematik eines starren Alternativendenkens hinzuweisen und damit zugleich auch jene harten Oppositionen, die dem kontrafaktischen Genre der Alternate History erzählstrukturell zugrunde liegen, binnenfiktional zu unterlaufen. 2 Quentin Tarantino: Inglourious Basterds Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds verfolgt eine Reihe unterschied‐ licher Erzählstränge in den Jahren zwischen 1941 und 1944. Im Zentrum der Handlung steht eine fiktive, jüdisch-amerikanische Guerilla-Truppe namens ‚Inglourious Basterds‘ unter der Führung von Lieutenant Aldo Raine (gespielt von Brad Pitt), die im besetzten Frankreich Jagd auf Nazis macht, sowie SS-Standartenführer Hans Landa (gespielt von Christoph Waltz), genannt ‚the Jew Hunter‘, der die Inglourious Basterds ausfindig zu machen sucht. Während der Premiere eines von Joseph Goebbels gedrehten Kriegsfilms in einem französischen Kino, bei der auch Adolf Hitler zugegen ist, lassen sich einige Mitglieder der Basterds ins Kino einschmuggeln und erschießen Hitler, Goebbels und einen großen Teil der versammelten Nazi-Prominenz, wobei sie 270 Michael Navratil bei ihrem Anschlag durch eine jüdische Holocaust-Überlebende sowie Hans Landa unterstützt werden. Der Vielzahl an politischen, nationalen und ideologischen Parteien korres‐ pondiert im Film eine Vielzahl an Sprachen: Inglourious Basterds ist ein vier‐ sprachiger Film (deutsch, englisch, französisch, italienisch), wobei die einzelnen Figuren des Films jeweils unterschiedlich - und mitunter auch gar nicht - polyglott sind. Politisch semantisiert wird dabei nicht so sehr die einzelne Sprache, sondern vielmehr die Pragmatik des strategischen Sprachwechsels: Mehrsprachigkeit fungiert in Inglourious Basterds vor allem als Mittel der Manipulation und politischen Gewaltausübung. Die Möglichkeit eines Missbrauchs von Mehrsprachigkeitskompetenz kommt bereits in der Eingangsszene des Films eindrücklich zur Darstellung: SS-Stan‐ dartenführer Hans Landa trifft während der deutschen Besatzung Frankreichs mit seinen Soldaten auf dem Hof des Landwirts Perrier LaPadite (gespielt von Denis Ménochet) ein. In fließendem Französisch wendet sich Landa an LaPadite und lässt sich in dessen Haus einladen. Dort teilt er dem Landwirt jedoch mit, dass sein Französisch zu schlecht sei, um eine Konversation sicher manövrieren zu können, und bittet LaPadite, ins Englische wechseln zu dürfen - welches er, Landa, sodann mit ähnlicher Geläufigkeit spricht wie zuvor das Französische. Im Laufe des Gesprächs, welches zunächst ohne erkennbare Spannungen verläuft, kann Landa LaPadite dann zu dem Geständnis bewegen, dass letzterer eine jüdische Familie in seinem Haus versteckt hält. Die folgende Passage aus dem Drehbuch gibt den Wendepunkt des Gesprächs sowie den damit verbundenen Sprachwechsel wieder. In eckigen Klammern ist dabei der im Film tatsächlich zu hörende französische Text angegeben: The farmer, pipe in mouth, stares across the table at his German opponent. COL. LANDA: You are sheltering enemies of the state, are you not? PERRIER: Yes. COL. LANDA: You’re sheltering them underneath your floorboards, aren’t you? PERRIER: Yes. COL. LANDA: Point out to me the areas where they’re hiding. The farmer points out the areas on the floor where the Dreyfuses are underneath. COL. LANDA: Since I haven’t heard any disturbance, I assume that while they’re listening, they don’t speak English? PERRIER: Yes. COL. LANDA: I’m going to switch back to French now, and I want you to follow my masquerade - is that clear? PERRIER: Yes. 271 Sprach- und Weltalternativen 5 Anders als in Tarantinos früherem Filmschaffen lässt sich in Inglourious Basterds - wohl aufgrund des historischen Themas - ein verhaltener identitärer Essenzialismus beobachten, insbesondere in Bezug auf Fragen der ethnischen Zugehörigkeit: „Whereas True Romance, Reservoir Dogs, and Pulp Fiction had (to varying degrees) suggested that individuals could transcend ethnic and racial barriers by enacting effective performan‐ ces, Inglourious Basterds contends that one’s actual ethnic background greatly aids or restricts his or her ability to perform different identities.“ (Cavallero 2011: 148). Col. Landa stands up from the table and, switching to FRENCH, says, SUBTITLED IN ENGLISH: COL. LANDA: [Monsieur LaPadite, je vous remercie pour le lait et votre hospitalité. Il me semble que nous en avons terminé.] Monsieur LaPadite, I thank you for your milk and your hospitality. I do believe our business here is done. The Nazi officer opens the door and silently motions for his men to approach the house. COL. LANDA: [Ah, mesdames, je vous remercie pour le temps que vous m’avez consacré. Nous n’ennuierons pas votre famille plus longtemps.] Madame LaPadite, I thank you for your time. We shan’t be bothering your family any longer. The soldiers enter the doorway. Col. Landa silently points out the areas of the floor the Jews are hiding under. COL. LANDA: [Donc, Monsieur, Mesdemoiselles, je prends congé de vous et je vous dis adieu.] So, Monsieur and Madame LaPadite, I bid you adieu. He motions to the soldiers with his index finger. They TEAR UP the wooden floor with MACHINE-GUN FIRE. (Tarantino 2009: 15 f.; Tarantino [Regie] 2009) Das gesamte Gespräch sowie der mehrfache Sprachwechsel hatten offenbar al‐ lein dem Zweck gedient, den Aufenthaltsort der jüdischen Familie von LaPadite in Erfahrung zu bringen. Da die Familie Dreyfus der englischen Konversation nicht zu folgen vermag, ist sie im Anschluss dem Angriff durch die Nazi-Sol‐ daten schutzlos ausgeliefert. Mehrsprachigkeit erweist sich hier letztlich als Werkzeug zur umso effizienteren Menschenjagd. Der initiale Eindruck Hans Landas als charmantem, polyglottem Weltbürger und freundlichem Gesprächs‐ partner wird damit Lügen gestraft. Ein Nazi, so ließe sich die politische Aussage der Szene etwas lapidar zusammenfassen, bleibt eben auch dann ein Nazi, wenn er elegant Französisch parliert. Auch im weiteren Verlauf von Inglourious Basterds wird Mehrsprachigkeit wiederholt in Verbindung gebracht mit den Versuchen einer strategischen Identitätsbemäntelung. In immer neuen Varianten entwirft der Film Situationen, in denen die Figuren ihr Gegenüber dadurch zu täuschen oder zu manipulieren suchen, dass sie eine Sprache sprechen, die nicht die eigene ist (wobei diese Versuche bezeichnenderweise häufig scheitern). 5 Die Opposition zwischen 272 Michael Navratil verschiedenen Sprachen steht bei Tarantino allerdings in keiner klaren Parallele zur Opposition der politischen Lager. Die simple Alternative etwa von (bösen) Nazis und (guten) Amerikanern, wie sie für den amerikanischen Film über den Zweiten Weltkrieg geradezu topisch ist, wird in Inglourious Basterds beständig unterlaufen (vgl. Butter 2015). In bewusster Vermeidung nationalistischer Meto‐ nymien verläuft die politische Trennlinie in Inglourious Basterds nicht zwischen bestimmten Sprachen und Nationen, sondern vielmehr im politischen Bereich selbst, also im Feld der politischen Ideologien und vor allem der konkreten politischen Handlungen, die im Film häufig Gewalthandlungen sind. Indem Inglourious Basterds die Versuche einer strategischen Identitätskonstruktion qua Sprachwechsel immer wieder scheitern lässt, redet der Film mithin keinem sprachlichen Essenzialismus oder gar Nationalismus das Wort. Problematisiert werden Sprachwechsel lediglich da, wo sie substanziellere Oppositionen im politischen Bereich bemänteln sollen. Im obigen Beispiel etwa sind ja sowohl Landa als auch LaPadite zum Sprachwechsel befähigt; nur setzt letzterer seine Mehrsprachigkeitskompetenz eben nicht zur Verfolgung Unschuldiger ein, son‐ dern im Gegenteil, um die jüdische Familie zu schützen - und wird entsprechend als positive Figur aufgebaut. Der Film macht somit deutlich, dass politische Handlungen sich zwar sprachlich verleugnen lassen, durch bloße sprachliche Verleugnung aber nicht ungeschehen gemacht werden können. Die Fähigkeit, Sprachen beliebig zu wechseln, wird am Ende des Films enggeführt mit dem Versuch, die Geschichte selbst umzuschreiben. Als der ‚Jew Hunter‘ Landa erkennen muss, dass ein Sieg der Deutschen zusehends unwahrscheinlich wird und er somit Gefahr läuft, sich nach dem verlorenen Krieg vor einem jüdischen Tribunal für seine Taten verantworten zu müssen, schließt er einen Deal mit den Basterds und der englischen Regierung: Im Gegenzuge für eine Beteiligung am Hitler-Attentat sollen Landas Verbrechen an den Juden öffentlich als notwendige Tarnaktionen ausgegeben und er selbst in den Status eines - finanziell wohlversorgten - Kriegshelden erhoben werden. Die Option einer für Landa opportunen Geschichtslüge wird dabei in Verbindung gebracht mit seiner Fähigkeit, sich mühelos durch unterschied‐ liche Sprachsysteme zu bewegen: Die Umdeutung von Landas Verbrechen als Heldentaten würde schließlich das Meisterstück unter seinen vielfältigen Verstellungsversuchen darstellen; auch bildet Landas perfekte Beherrschung des Englischen die Bedingung, um allererst mit der englischen Regierung sowie mit den sprachlich weitgehend inkompetenten Basterds verhandeln zu können. Anhand des Themas der Geschichtsumschreibung wird darüber hinaus eine metareflexive Verbindung zum Alternate History-Genre hergestellt: Tarantinos Film, der als Werk der Kontrafaktik strukturell auf einer Variation der Realge‐ 273 Sprach- und Weltalternativen 6 Mit dem Begriff Metafaktizität (engl. metafactuality) bezeichne ich Reflexionen über Wahrheit, Lüge oder Fälschung innerhalb der fiktionalen Welten der Kontrafaktik (vgl. Navratil, im Druck). Derartige metareflexive Faktenreflexionen und -variationen haben in Alternate History-Werken mittlerweile den Status einer Genre-Konvention erlangt (vgl. Hellekson 2001, 30 f.), finden sich aber auch in anderen Genres der Kontrafaktik: Man denke etwa an das ‚Ministry of Truth‘ in George Orwell’s dystopischem Roman Nineteen Eighty-Four, dessen Funktion gerade in der Manipulation und Verfälschung historischer Tatsachen besteht. 7 Ein nur scheinbares Paradox liegt hier vor, weil es sich bei Lügen und verwandten Phänomenen wie Geschichtsfälschungen oder auch Fake News strenggenommen nicht um Spielarten des Kontrafaktischen handelt. Zwar sind die Aussagegegenstände von Lügen und kontrafaktischen Aussagen beide fiktiv. Auf einer pragmatischen Ebene lassen sich die Phänomene jedoch eindeutig voneinander unterscheiden: Während Lü‐ gen Täuschungsabsicht verfolgen, operieren kontrafaktische Aussagen mit Annahmen, welche „sowohl für diejenigen, die sie vortragen, als auch für diejenigen, an die sie sich richten, offensichtlich falsch sind.“ (Danneberg 2009: 287) Siehe zum Verhältnis von Lüge und Kontrafaktik auch Navratil (im Druck). schichte beruht, wirft innerhalb der kontrafaktischen Diegese - also gleichsam metafaktisch 6 - die Frage auf, ob eine Geschichtslüge, welche sich metonymisch auf den totalen Signifikanten Auschwitz verlängern lässt, jemals gerechtfertigt sein kann. Die Antwort auf diese Frage fällt im Film entschieden negativ aus: Nachdem Hitler und die Nazi-Eliten dem Attentat zum Opfer gefallen sind, schneidet Aldo, der Anführer der Basterds, dem ‚Jew Hunter‘ Landa mit einem gewaltigen Fleischermesser ein Hakenkreuz in die Stirn. Die Wahrheit über Landas Verbrechen wird somit dem Körper selbst in Form eines politischen Kainsmals eingeschrieben, sodass die Option der bloß sprachlichen Gegenbe‐ hauptung hinfällig wird. Aldo kündigt Landa diese Verstümmelung mit den im Film leitmotivisch verwendeten Worten an: „I’m gonna give you a little something you can’t take off.“ (Tarantino 2009: 163) Letzten Endes besteht der Film auf der unbedingten Gültigkeit und politi‐ schen Relevanz historischer Wahrheit, und zwar unter bewusster Ausnutzung des (scheinbaren) Paradoxes, dass es sich bei Inglourious Basterds um ein Werk der Kontrafaktik handelt. 7 So wie Mehrsprachigkeit im Film auf der Handlungsebene als potentielles Mittel eines problematischen Machthandelns desavouiert wird, der Film selbst - als mehrsprachiges Kunstwerk betrachtet - aber zugleich die Pluralität der Sprachen sowie die künstlerischen Einsatz‐ möglichkeiten der Mehrsprachigkeit zelebriert, so nutzt Inglourious Basterds auch die Möglichkeiten einer Etablierung kontrafaktischer Weltalternativen im Genre der Alternate History ausgerechnet dazu, um sich auf der Handlungsebene entschieden gegen die Option der Geschichtsklitterung zu verwahren. 274 Michael Navratil 8 Die folgenden Überlegungen bilden einen Auszug aus der umfänglicheren Analyse von Krachts Roman in meiner Dissertationsschrift (Navratil, in Vorbereitung). 3 Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Die Geschichte des Dritten Reichs, der Zweite Weltkrieg sowie der Holocaust bildeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifellos die dominierenden Themen des Alternate History-Genres (vgl. Rosenfeld 2005). Auch Tarantinos Inglourious Basterds lässt sich noch als späte, hochgradig metareflexive An‐ knüpfung an diese Gattungstradition begreifen (vgl. Singles 2013: 247). Etwa seit Ende des Kalten Krieges finden sich nun vermehrt Werke des Alternate History-Genres, die auch auf andere historische Stoffe zurückgreifen. Eines der prominentesten Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum ist Christian Krachts dritter, im Jahr 2008 veröffentlichter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. 8 In der fiktionalen Welt des Romans befindet sich die kontrafaktisch von Lenin gegründete Schweizer Sowjet-Republik - die SSR - bereits seit fast einhundert Jahren im Krieg, unter anderem mit dem faschis‐ tischen Deutschland im Norden. Der namenlose Protagonist des Romans, ein schwarzer, ursprünglich aus Afrika stammender hochrangiger Militär der SSR, reist durch die winterlichen Landschaften der Schweiz und gelangt schließlich zum Réduit, dem gigantischen Tunnelsystem in den Schweizer Alpen. Nachdem er allerdings die umfassende Dekadenz im untertunnelten Herzen der Schweiz erkannt hat, kehrt er als Messias mit leuchtend blauen Augen nach Afrika zurück und führt die Menschen aus den Kolonialstädten zurück in die Savanne. Im Zentrum von Ich werde hier sein… steht die Frage, ob Alternativen zu den Ideologien der Moderne möglich sind. Bei der künstlerischen Auseinan‐ dersetzung mit dieser Frage wird auch das Verhältnis von Sprache, Realität und politischer Gewalt verschiedentlich durchdekliniert (vgl. Nover 2012: 177- 286). So erinnert sich der ursprünglich aus Afrika stammende Protagonist folgendermaßen an seine militärische Ausbildung: Nach einer Weile sprachen wir auch untereinander kein Chiwa mehr, sondern Schweizer Mundart. Wir hörten die in Wachs eingebrannten Stimm-Schriften von Karl Marx und die Geschichte des grossen Eidgenossen Lenin, der, anstatt in einem plombierten Zug in das zerfallene, verstrahlte Russland zurückzukehren, in der Schweiz geblieben war, um dort nach Jahrzehnten des Krieges den Sowjet zu gründen […]. (Kracht 2008: 57 f.) 275 Sprach- und Weltalternativen Der Übergang vom „Chiwa“ zum Schweizerdeutsch bildet für den afrikanischen Soldaten die Grundvoraussetzung für das Vertrautwerden mit der europäischen Geschichte sowie für den Eintritt in eine militaristische Weltanschauung. Berührt wird in diesem Textausschnitt ferner das Thema der medialen Codier‐ barkeit von Sprache, welches für den gesamten Roman von großer Bedeutung ist. Die Repräsentationen von Geschichte erfolgen in der SSR vorwiegend auf mündlichem Wege. In Krachts Roman ist die Schweiz generell auf eine Kultur‐ stufte der Schriftlosigkeit regrediert, wobei das Verlernen der schriftlichen Kommunikation einen „Prozess des absichtlichen Vergessens“ (Kracht 2008: 43) bildet, welcher die ohnehin dominante Mündlichkeit der Dialekte exklusiv werden lässt: „Unsere Mundarten sind schon immer ausschließlich orale Spra‐ che gewesen, es gab die Niederschrift nur in Hochdeutsch. Die Mundarten sind unser Koiné, der Grund, warum wir nicht Deutsch sprechen.“ (Kracht 2008: 43) Der ursprünglich aus Afrika stammende Kommissär ist einer der wenigen Schweizer, der die schriftliche Kommunikation noch beherrscht. Seine überlegene Produktivität beweist dabei die Fragwürdigkeit eines dogmatischen Rückzugs auf Dialekt und Oralität. Neben Mündlichkeit und Schriftlichkeit werden im weiteren Verlauf des Ro‐ mans vom Kommissär noch zwei weitere Sprachformen erprobt: die sogenannte „Rauchsprache“ (erstmals Kracht 2008: 42) sowie die „Morpheme[…] der Erde“ (Kracht 2008: 144). Die Rauchsprache, welche der Protagonist vom Dissidenten Brazhinsky erlernt, ermöglicht es, das Gesprochene selbst gegenständlich wer‐ den zu lassen: „[W]ir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. […] Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon.“ (Kracht 2008: 44) Mit dem Begriff ‚Noumenon‘ wird auf die Erkenntnistheorie Immanuel Kants angespielt: In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant das ‚Noumenon‘ für einen zwar denkmöglichen, letztlich aber problematischen Begriff erklärt, da dasjenige, was außerhalb der Erfahrungs‐ möglichkeiten des Menschen liege, eben nicht erkannt werden könne (vgl. Kant 1974 [1781]: 279-282). Die Annahme einer strikten Trennung von Erscheinung und ‚Ding an sich‘, die Kant noch transzendentalphilosophisch begründet hatte, wurde in der modernen Semiotik - etwa in der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures - sowie im Rahmen des linguistic turn und der Dekonstruktion dann auch sprachphilosophisch produktiv gemacht: Ähnlich wie in der kantschen Epistemologie der direkte Schluss von der bloßen Erscheinung auf das ‚Ding an sich‘ unzulässig ist, so erlaubt auch die Sprache als abgeschlossenes semiotisches System keinen unmittelbaren Rückschluss auf das Wesen der Dinge. In Krachts Roman soll diese Trennung von Erscheinung und Ding an sich nun durch eine utopische Form der Sprache zurückgenommen werden. Die 276 Michael Navratil Möglichkeit einer neuen, unmittelbar dinghaften Sprache wird in Ich werde hier sein… allerdings nur aufgerufen, um schlussendlich wieder verworfen zu werden. Medial betrachtet bildet die Rauchsprache zwar eine Alternative zu den früher erprobten Kommunikationstechniken Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In ihrer Funktion als Instrument des Krieges jedoch stimmt sie mit den anderen beiden weitgehend überein: Bereits in der ersten Szene ihres Gebrauchs im Roman dient die Rauchsprache dazu, eine Gruppe von Militärs zu entwaffnen: Mit der „neue[n] Sprache“ versetzt Brazhinsky den Soldaten einen „gewaltigen Stoß“ und bringt sie dazu, ihre Revolver fallenzulassen (Kracht 2008: 108). Auch werden die scheinbar neuen Erkenntnismöglichkeiten der Rauchsprache sym‐ bolträchtig konterkariert, wenn sich Brazhinsky letztlich die Augen aussticht, sodass seine vormalige Verblendung - ähnlich wie bei König Ödipus (vgl. Schöll 2014: 301) - am Körper selbst manifest wird. Auf seiner Reise zurück nach Afrika lässt der Protagonist des Romans denn auch die von Brazhinsky erlernte Sprachform hinter sich: „Es war die Sprache der Weissen, ein Idiom des Krieges, und ich brauchte sie nicht.“ (Kracht 2008: 138) Nach Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Rauchsprache greift der Protagonist am Ende von Ich werde hier sein… noch auf eine vierte Kommunikationsform zurück: [I]ch legte mit Schilfhalmen meinen Namen in endlosen Bändern auf die staubige Strasse, ich schrieb Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein - die Geschichte der Honigameisen, die Enzyklopädie der Füchse, das Geblüt der Welt […]. Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphemen der Erde. (Kracht 2008: 143) Mittels dieser neuerlichen utopischen Sprachform, welche die Differenz von Kultur und Natur aufzulösen scheint und damit einen Ausstieg aus den Verwick‐ lungen menschlicher Kultur und menschlicher Grausamkeit verspricht, wird hier auf den utopischen Schluss des Romans vorausgedeutet, wenn die Men‐ schen die modernen Städte verlassen und in der Savanne Afrikas verschwinden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Unmöglichkeit einer radikalen Alter‐ native, welche anhand der vorangegangenen Sprachformen vorgeführt wurde, nicht auch noch die Natursprache betrifft. So bildet die Alternative von „Tusche“ und „Schrift“ keine semantisch plausible Opposition; auch scheinen Ausdrücke wie „Geschichte der Honigameisen“ oder „Enzyklopädie der Füchse“ bereits rein lexikalisch tief durchtränkt von überkommenen kulturellen Vorstellungen. Tatsächlich verweist der Schluss des Romans denn auch auf die Unmöglich‐ keit eines forcierten Austritts aus der Moderne. Der letzte Satz des Protagonisten im Roman lautet: „Und die blauen Augen unserer Revolution brannten mit 277 Sprach- und Weltalternativen der notwendigen Grausamkeit.“ (Kracht 2008: 147) Bei diesem Satz handelt es sich um eine Übersetzung zweier Verse aus Louis Aragons Front Rouge: „Les yeux bleus de la Révolution/ brillent d’une cruauté nécessaire“ (Aragon 1931: 16). Der Aufbruch in eine vermeintlich neue Natürlichkeit wird hier mit den Worten eines surrealistischen - und mithin genuin modernen - Dichters charakterisiert. Die Verkündigung des Austritts aus Zivilisation und kommunistischer Ideologie erweist sich somit selbst als intertextuelles Zitat, welches darüber hinaus ausgerechnet auf einen Text referiert, mit welchem der Autor Aragon den Stalinismus zu rechtfertigen suchte (vgl. Lorenz 2018: 435). Aber auch, wenn man den intertextuellen Verweis beiseiteließe, würde das letzte Wort, das der messianische Protagonist im Buch spricht, immer noch „Grausamkeit“ lauten. In der Rechtfertigung dieser Grausamkeit hallen just jene Legitimationsversuche für die Kriege der SSR nach, die der Protagonist doch eigentlich zu überwinden getrachtet hatte. Der Ausbruch aus der Moderne scheint somit letztlich in die Antinomien der Moderne zurückzuführen: in Weltanschauung, Krieg und Unterdrückung. Entsprechend werden auch die unterschiedlichen Sprachen und Sprachsysteme in Ich werde hier sein… nicht angeführt, um eine Hierarchisierung zwischen ihnen vorzunehmen. Krachts Roman deutet vielmehr darauf hin, dass der Versuch, die eine, einzig wahre Sprache oder Sprachform jenseits der Ideologien zu finden, selbst immer schon ideologisch ist. Das Scheitern der sprachlichen und der politischen Alternativen korrespon‐ diert in Krachts Roman konsequenterweise mit der Dekonstruktion des Alter‐ nate History-Genres selbst. Anders als konventionellere Beispiele des Genres kontrastiert Ich werde hier sein… nicht mehr die reale Geschichte mit einem normativ deutlich schlechteren oder deutlich besseren alternativen Geschichts‐ verlaufs. Stattdessen macht der Roman darauf aufmerksam, dass gerade die Sehnsucht nach klaren Alternativen, wie sie im ästhetischen Bereich unter anderem dem Erzählverfahren der Kontrafaktik selbst zugrunde liegt, den Nährboden für die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgegeben hat. Entsprechend wägt Kracht in seinem Roman keine politischen und historischen Alternativen mehr gegeneinander ab, sondern verfasst vielmehr, wie Dietmar Dath es in einer Rezension ausdrückte, „ein Buch gegen die Geschichte als solche.“ (Dath 2008) Damit bringt Kracht in Ich werde hier sein… das wahrhaft postmoderne Kunststück zustande, eine Alternate History-Erzählung zu präsen‐ tieren, welche die Option klarer politischer, sprachlicher, künstlerischer oder anderweitiger Alternativen ebenso zu Irrtümern und Unmöglichkeiten erklärt wie die Idee des historischen Fortschritts: eine ‚Alternativgeschichte‘ also, aber ohne Alternativen und ohne Geschichte. 278 Michael Navratil 4 Tarantino und Kracht: Ein Vergleich Sowohl bei Tarantino als auch bei Kracht wird die Thematisierung sprachlicher Alternativen genutzt, um auf die politische Bedenklichkeit starrer Alternativ‐ bildungen hinzuweisen. Tarantinos Inglourious Basterds vermeidet bewusst eine national-sprachessentialistische Bewertung seiner Figuren, weist aber zugleich auf die politischen Grenzen und Bedenklichkeiten rein sprachlicher Konstruktionen hin. Kalkulierte Sprachwechsel werden im Film in Verbindung gebracht mit den Themen der politischen Manipulation und der Geschichtslüge. Ausgerechnet innerhalb eines Werkes der Kontrafaktik wird somit letztlich die unbedingte Relevanz historischer Fakten verteidigt. Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten hingegen exponiert anhand sprachlicher Alternativen die Problematik eines starren Alternativendenkens überhaupt: Ideologie, so führt der Roman vor, besteht nicht darin, in einem ‚falschen‘ politischen Weltbild oder sprachlichen System befangen zu sein; Ideologie be‐ steht vielmehr in der Vorstellung, dass sich die Mehrstimmigkeit menschlichen Lebens in Richtung nur einer Sprach- und Weltalternative überwinden lasse. Die konkreten Manifestationsformen literarischer Mehrsprachigkeit und ihre politischen Implikationen unterscheiden sich in den genannten Werken allerdings beträchtlich: In Tarantinos Film kommen vier natürliche Sprachen vor. Aufgeworfen werden in diesem Zusammenhang immer wieder die Fragen, wer welche Sprachen wie gut versteht, wie über (fehlende) sprachliche Kompe‐ tenzen Ein- und Ausschlüsse produziert werden und bis zu welchem Grade sich Konzepte von einer Sprache in eine andere Sprache übertragen lassen - ein Problem, das auf der Rezeptionsebene nicht zuletzt die Untertitelung des Films betrifft (vgl. Ávila-Cabrera 2013). Der politisch-kritische Impetus des Films richtet sich dabei weder gegen eine bestimmte Sprachgemeinschaft noch gegen Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit als solche (die auf Seiten der Zuschauerinnen und Zuschauer ja durchaus als lustvoll erlebt werden). Alternativbildungen zwischen verschiedenen Sprachen werden lediglich dort kritisiert, wo sie von den Figuren des Films zur Verschleierung substanziellerer Alternativen im Bereich des politischen Gewalthandelns genutzt werden. Die prinzipielle Möglichkeit gelingender sprachlicher Kommunikation stellt Taran‐ tinos Film dabei ebenso wenig in Frage wie die Unterscheidbarkeit zwischen gutem und schlechtem politischen Handeln oder zwischen Wahrheit und Lüge. Wie so häufig im Rahmen postmoderner Politik (man denke nur an das derzeit so intensiv diskutierte Thema der Fake News) wird auch bei Tarantino der dekon‐ struktive Impuls nicht unendlich weiterverfolgt, sondern kennt und respektiert gewisse Grenzen: etwa die Materialität des Körpers, politische Grundsätze oder 279 Sprach- und Weltalternativen 9 Ausnahmen bilden Helvetismen wie „Nastuch, verzeigen, Velo, Camion, Beiz für ‚Kneipe‘“ (Menke 2010: 93). bestimmte historische Wahrheiten, deren willkürliche Umdeutung sich aus ethischen Gründen schlicht verbietet. In Krachts Ich werde hier sein… wird demgegenüber die Dekonstruktion po‐ litischer Ideologien sowie anderer Essenzialismen konsequent zu Ende geführt - um den Preis allerdings, dass der Roman selbst keine positive politische Bot‐ schaft mehr zu formulieren vermag. Zwar thematisiert auch Krachts Roman ver‐ schiedene natürliche Sprachen, insbesondere Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Chewa; anders als bei Tarantino nimmt diese inhaltlich behauptete Vielzahl der Sprachen jedoch kaum mehr Einfluss auf die manifeste Gestalt des Roman‐ textes (eines der konstitutiven Paradoxa des dominant autodiegetisch erzählten Romans besteht ja gerade darin, dass der Erzähltext des Schweizer Kommissär auf Hochdeutsch verfasst ist 9 ). So wie die inhaltlich behauptete Mehrsprachig‐ keit auf der Textoberfläche von Ich werde hier sein… weitgehend nivelliert wird, so fallen auch die verschiedenen Sprachformen letztlich funktional in eins: Trotz aller behaupteten Differenz führen sie immer nur wieder zu Krieg und Zerstörung. Im kontinuierlichen Wechsel sowie im konstanten Scheitern der Sprachsysteme wird dabei die generelle Unmöglichkeit symbolisiert, aus den ideologischen Verstrickungen der Moderne auszusteigen, wobei eine zusätzli‐ che, gleichsam anti-performative Volte des Romans darin besteht, dass die utopischen Kommunikationssysteme der Rauch- und Natursprache - in ihrer Eigenschaft als fiktive Kommunikationssysteme - noch nicht einmal vorstellbar sind. Während also in Inglourious Basterds die (politische) Wahrheit letztlich durch alle ästhetischen und sprachlichen Verstellungen hindurchscheint, bildet Mehrsprachigkeit in Ich werde hier sein… nur noch ein Thema unter anderen, anhand derer die Hoffnung auf klare epistemische, sprachliche oder politische Alternativen reflexiv ins Nichts gedreht wird. 5 Ausblick: Für eine Fiktionstheorie literarischer Mehrsprachigkeit Verbindungslinien zwischen Mehrsprachigkeit mit dem Politischen werden in der philologischen Mehrsprachigkeitsforschung häufig gezogen (Sepp 2020: 53). Über diese eher konventionelle Assoziation hinaus wurde im vorliegenden Aufsatz der Versuch unternommen, literarische Mehrsprachigkeit in Beziehung zu setzen mit einem fiktionstheoretisch beschreibbaren Phänomen, nämlich der basalen Referenzstruktur der Kontrafaktik. Derartige Verbindungen von Mehrsprachigkeit mit fiktions- oder erzähltheoretischen Fragestellungen finden 280 Michael Navratil sich, wie Rüdiger Zymner bemerkt, in der bisherigen Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit nur selten: Zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Erzählen bzw. zur Mehrsprachigkeit in Erzähltexten gibt es nur wenige wissenschaftliche Arbeiten. Mehrsprachigkeit und Erzählen bzw. Mehrsprachigkeit in Erzähltexten ist bislang kein Thema der Narrato‐ logie und steht nicht im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Komparatistik. […] Vielfach interessiert […] die Thematik der Fremdheit und Fremdheitserfahrungen oder ‚des Fremden‘ in den Erzähltexten mehr als Textstrategien und Verfahren in der narrativen Darstellung von Mehrsprachigkeit. Außerdem ist festzustellen, dass Mehrsprachigkeit in Erzähltexten als textstrukturell-semiotischer Sachverhalt häufig mit der Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren als kognitiv-epistemischer Sachverhalt vermischt oder verwechselt wird. (Zymner 2020: 294) Zymners Befund lässt sich noch einmal verschärfen, wenn man speziell den Be‐ reich der Fiktionstheorie fokussiert (der mit der Narratologie zwar signifikante Überschneidungen aufweist, aber nicht mit ihr identisch ist): Im von Till Dem‐ beck und Rolf Parr herausgegebenen Handbuch Literatur und Mehrsprachigkeit kommen die Begriffe ‚Fiktionalität‘, ‚Fiktivität‘ oder ‚Fiktionstheorie‘ gar nicht erst vor. Bedauerlich - oder aber, mit Blick auf zukünftige Forschungsarbeiten: gerade erfreulich - ist diese einstweilen fehlende Verbindung zwischen Fiktionstheorie und literarischer Mehrsprachigkeit deshalb, weil sich hier durchaus eine Reihe interessanter Forschungsfragen auftut. Die interpretatorische Vermittlung lite‐ rarischer Mehrsprachigkeit mit spezifischen Erzähl- und Referenzstrukturen - also etwa eine Kopplung von Mehrsprachigkeit und Kontrafaktik - bildet dabei nur eine von zahlreichen Optionen. Zu fragen wäre beispielsweise auch danach, wie das erschwerte Verständnis - oder mitunter auch die (kalkulierte) Unverständlichkeit - mehrsprachiger Texte sich auf die Imagination fiktio‐ naler Welten auswirkt. Welchen Einfluss nehmen generell unterschiedliche Sprachkompetenzen auf die Imagination fiktionaler Welten? Mit Blick auf die Gattungstheorie wäre ferner zu fragen, ob eine funktionale oder anderweitige Differenz vorliegt zwischen dem Einsatz literarischer Mehrsprachigkeit in fiktionalen Kunstformen wie dem Roman oder dem fiktionalen Film und dem Einsatz literarischer Mehrsprachigkeit in nicht (eindeutig) fiktionalen Kunst‐ formen wie der Lyrik (vgl. Zipfel 2016). Einen besonders reizvollen Forschungsgegenstand im Grenzbereich zwi‐ schen Fiktionstheorie und Mehrsprachigkeitsforschung bilden fiktive Sprachen 281 Sprach- und Weltalternativen 10 In der Forschung werden solche Sprachen oft als ‚fiktionale Sprachen‘ bezeichnet. Plausibler wäre aber die Bezeichnung ‚fiktive Sprachen‘, da hier ja die Erfundenheit der jeweiligen Sprache (Ontologie) und nicht eine bestimmte, institutionalisierte Form des Umgangs mit bestimmten Medien (Pragmatik) relevant ist. Unsinnig erscheint die Bezeichnung ‚fiktionale Sprachen‘ auch deshalb, weil derartige Sprachen ja mitunter durchaus in der wirklichen Welt gesprochen und mithin in einen faktualen Kontext eingebettet werden. wie Elbisch, Klingonisch oder Na’vi, 10 die speziell für fiktionale Welten entwor‐ fen wurden, dabei aber mitunter linguistisch hochgradig ausdifferenziert sind und auch von Sprecherinnen und Sprechern in der realen Welt erlernt und verwendet werden. So wurden beispielsweise während der frühen Phase der Corona-Krise das Elbische und Klingonische genutzt, um an der staatlichen Zensur in China vorbeizukommunizieren, die fiktive Sprachen nicht auf dem Radar hatte (vgl. Deuber 2020): Gerade die partielle Unverständlichkeit dieser ursprünglich aus fiktionalen Welten stammenden Sprachen ermöglichte somit die Entfaltung subversiver politischer Potentiale in der realen Welt. Ausgehend von der Beobachtung, dass derartige Sprachen insbesondere im Genrebereich der Fantasy und Science-Fiction zum Einsatz kommen (vgl. Kremer 2020: 326), wäre aus fiktionstheoretischer Perspektive danach zu fragen, welche Korre‐ spondenz zwischen der Fiktivität bestimmter Sprachen in Literatur und Film und der rationalen (Un-)Möglichkeit oder der (Un-)Vorstellbarkeit fiktionaler Welten besteht (vgl. Odendahl 2015). Im Anschluss an das oben erwähnte Thema der Unverständlichkeit mehrsprachiger Texte wäre darüber hinaus zu untersuchen, wie unterschiedliche Manifestationen sprachlicher Unverständlichkeit rezeptionsseitig erlebt und bewertet werden, welche Unterschiede also etwa gemacht werden zwischen fiktiven - und mithin unverständlichen - und natürlichen, dabei aber subjektiv unbekannten - also letztlich ebenfalls unverständlichen - Sprachen? Ein reizvolles Mischphänomen bilden hier fiktive Sprachen, die zwar aus natürlichen Sprachen zusammengesetzt sind oder auf solche zurückgehen, in toto aber fiktiv sind, wie etwa die russisch-englische Hybridsprache Nadsat in Anthony Burgess’ A Clockwork Orange oder das Neusprech in George Orwells 1984 (das sich wiederum kontrafaktisch auf Aspekte der nationalsozialistischen und stalinistischen Sprachpolitik bezieht [vgl. Young 1991]). Die systematische Entfaltung möglicher Verbindungen zwischen Fiktionsthe‐ orie und Mehrsprachigkeit muss zukünftigen Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben. Jenseits etwaiger Spezialfragen soll an dieser Stelle aber vor allem deshalb für eine Fiktionstheorie literarischer Mehrsprachigkeit plädiert werden, weil eine derartige Forschungsperspektive zur Beantwortung einer der grundle‐ genden Fragen der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung beitragen könnte: 282 Michael Navratil der Frage nämlich, worin denn nun eigentlich das Proprium literarischer Mehr‐ sprachigkeit besteht. Als einer der - gar nicht sehr zahlreichen - Bereiche der Literaturwissenschaft, die sich systematisch mit der Frage beschäftigen, worin die Strukturen und Funktionspotentiale künstlerischer Diskurse und nur dieser bestehen (vgl. Bunia 2007: 12 f.), vermag die Fiktionstheorie den Blick zu schärfen für die Potentiale genuin literarischer Mehrsprachigkeit. Ein solcher Fokus auf die Spezifika literarischer Mehrsprachigkeit wäre dabei mit einer Adressierung moralischer, ethischer oder politischer Fragen durchaus vereinbar - vorausgesetzt eben, dass man unter „Politik der Literatur“ nicht einfach die Darstellung von Politik in der Literatur oder die „Politik der Schriftsteller“ versteht, sondern vielmehr die Art und Weise, wie „Literatur als Literatur Politik betreibt“ (Rancière 2011: 13). Literaturverzeichnis Aragon, Louis (1931). Persecuté persécuteur. Paris: Editions surréalistes. Ávila-Cabrera, José Javier (2013). Subtitling Multilingual Films: The Case of Inglourious Basterds. In: Revista electrónica de lingüística aplicada 12, 87-100. Bunia, Remigius (2007). Faltungen: Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt. Butter, Michael (2015). American Basterds: The Deconstruction of World War II Myths in Steven Soderbergh’s The Good German and Quentin Tarantino ’s Inglourious Basterds. In: Herrmann, Sebastian M. u. a. (Hrsg.) 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I One important trait of poetic language - as well as of conscious human life - is its love for implicit or explicit analogies, expressed as similes, metaphors and other related devices. Whether the metaphor flickers for one moment in an otherwise ordinary sentence or is extended into a novel-length allegory: they constitute some kind of model, a representation of a system using concepts. Although a scientific hypothesis can have poetic qualities, the kind of model-making at the core of the poetic language is far from being limited to vehicles for expressing testable hypotheses. Rather than seeking the mini‐ malistic clarity of the testable hypotheses, they tend to operate at different levels simultaneously and are appreciated for their beauty and their intuitive meaningfulness. One important and perhaps defining trait of human beings is self-awareness. In the spirit of love for analogies: poetic language displays a similar quality. Language becoming aware of itself has the potential of dissolving its meaning, spiraling it into layers of irony, becoming a game of hide and seek. But it also has the potential of leaving the meaning and sincerity of the basic utterances intact while introducing new layers of awareness, increasing its depth. Our train of thought has already left the station. As a metaphor for language, the train has already found its place among my personal analogical devices. In English, the train of thought existed as an expression long before steam locomotives and it is first attested in 1651, when Thomas Hobbes writes: By Consequence, or train of thoughts, I understand that succession of one thought to another which is called, to distinguish it from discourse in words, mental discourse. When a man thinketh on anything whatsoever, his next thought after is not altogether so casual as it seems to be. Not every thought to every thought succeeds indifferently. (Hobbes 1651: 18) I did not know the origin of the expression. However, the age of the quotation did not surprise me, intuitively the expression felt so internalised that a living metaphor imagining an actual train in the modern sense felt like something playful, something not already part of the meaning, but present as a potential. However, the fact that English is not my first language may well be part of the reason why I am reflecting on this potential at all. II My book debut as a poet was in a language I learned as an adult. It turned out to be more than a mere experiment: the Betti Alver literary prize for 2019 acknowledged its literary value. From the reception of the work: “Without wishing to make any discount for the book itself, which deserves to be read without this added value - it is an extremely rare occasion that a foreigner creates a true literary work in Estonian.” (Väli 2019) I thus often am confronted with the (rhetorical) question: how am I able to create literature in a language that is not my mother tongue? And having reflected on this, I am prone to turn the question around: would I have been able to create literature at all, had it not been for the fact that I simultaneously reside inside and outside of the language? Could it be that becoming an exophonic writer is what has made me a published writer at all? In order to address this question, I have to use the kind of introspection that cannot be objective. My honesty in addressing this question depends on the reader accepting this premise: it is to be expected that the following text will be a subjective account. 288 Øyvind Rangøy Sources cited are therefore to be taken as illustrations or objects of comparison, not as building blocks in an academic treatise. So, how did I become an exophonic writer? I am born in Norway and learned my first Estonian word at the age of 19 - eventually also the title of my first collection of poems, Sisikond (Entrails). Firstly, I spent approximately ten years in Estonia, inter alia acquiring an education in Estonian language, secondly ten years back in Norway, primarily working in the management of a fish factory whilst also pursuing translation and both personally and professionally maintaining my ties with Estonia and its language. Finally, I returned to Estonia to assume a teaching position at the University of Tartu. Studying Estonian is not by any means a common education path for a Norwegian. As such, I always viewed translation as an important way of putting the acquired skills and forms of knowledge to use. In 2005, I assisted in translating some poems by Kristiina Ehin, a major Estonian poet, and this assignment led me to acknowledge the fact that I had no idea about what poetry is. I felt insecure, intimidated, scared and also challenged by having to translate something which I felt I did not understand or grasp. Partially, the failure to grasp poetry was also a result of the disconnection of language from my own emotions that I have later come to see as not uncommon among persons inclined to philosophical reasoning. As such, the quest of translating poetry challenged me at different levels. First, I used different materials to get an overview of common characteristics of poetry and verse, which mainly increased my confusion. This led me to a Norwegian Internet forum for poetry writing, Diktkammeret, that is still active and that under the supervision of the poet Helge Torvund has functioned as a poetry school for a considerable number of Norwegian poets. My first poem to attract public attention was selected as the poem of the month in that forum. It was about gutting salmon. From 2011, after moving back to Norway, creative writing became increas‐ ingly personally important to me. In addition to the poetry forum, the new social media channels provided venues for sharing my poetry outside of the established literary channels. I mainly wrote in Norwegian. In 2016, I attended a seminar for translators of Estonian literature in Käsmu. The explosively multilingual and yet so Estonian atmosphere was one of wonder and inspiration, and I took notes in the form of poetry. This led to an unexpected chain of events, where my attempts to write in Estonian entered into a discourse with Estonian poets who encouraged me to pursue it seriously. First, this led me to publish Estonian translations of Knut Ødegårds poems, edited by Veronika Kivisilla and published by Igor Kotjuh (Ødegård 2018), and then to the publication of my very own 289 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly original debut work in 2019, edited and published by Kaur Riismaa (Rangøy 2019). III Following a TV interview where I touched upon my poetics, a friend gave me the shortest feedback I have received, and still, it felt complete. He simply said: “Credible! ” This occurred to me when I watched how a singer-poet like Leonard Cohen in London in 2008 could capture the audience with a performance like this: We’re so privileged to be able to gather in moments like this when so much of the world is plunged into darkness and chaos. So: Ring the bells that still can ring Forget your perfect offering There is a crack in everything That’s how the light gets in. (Cohen 2008) I watched the video from the performance many times and was touched and moved by it. “I can’t run no more with that lawless crowd/ while the killers in high places say their prayers out loud.” (Cohen 2008) Then, for a split second, as in a glimpse, I saw the performance as hollow. The perceived credibility disappeared and changed the entire situation. Then, it returned, like in Adam Zagajewski’s beautiful poem: “the gentle light that strays and vanishes/ and returns.” (Zagajewski 2002) What was this gentle light that vanished and returned in me? What was it in my subjective perception that disappeared when it all seemed hollow, ultimately leaving me with the options of indifference and anger, and then reappeared as renewed faith in the performer’s credibility? In one word: ethos, like in Aristotle’s On Rhetoric about the modes of persuasion: “The first kind depends on the personal character of the speaker; […] Persuasion is achieved by the speaker's personal character when the speech is so spoken as to make us think him credible.” (Aristotle 350: book 1, part 2) This perceived quality is distinct from the content of the poem, it is distinct from the technical performance. It is also distinct from the text as pure structure, from the orphaned concept of text following the death of the author. It is not an aspect of the text as a structure, but rather an experienced relationship between souls, where the ability to move and touch the listeners (or readers) depends on a sense of sincerity. 290 Øyvind Rangøy What is the source of this gentle light of (potential) credibility in creating and performing poetry? Certainly, con artists and demagogues are able to simulate credibility (or distract the audience from requiring it) with great technical perfection, and the same can supposedly be done in poetry. There is, however, a simpler answer: by being truthful. By this, I mean having integrity in the sense of not isolating the truthfulness to a narrow context, but rather anchoring it to your entire being, or to paraphrase Descartes: I think this, therefore I am. IV In 2012, I was still struggling with grasping the concept of poetry. At the same time, I had the unapologetic grandiosity to formulate a manifest that perhaps most of all illustrates my perceived rhetorical position at the time: 1. Reality is reinforced concrete creating butterflies. 2. Do not fear the beautiful. It is dangerous and hence needed. 3. Not everything is said. You knew that. 4. The distinction between experience, empathy and lived life is not com‐ pulsory. Revisiting this younger self, I recognize some aspects that have survived in my poetics and represent some kind of stability or core. Perhaps even more of that core I recognize when reading Adam Zagajewski’s essay A Defense of Ardor (Zagajewski 2004). Zagajewski, himself a Polish-writing poet who has lived in Poland, France, Germany and the USA, describes himself as being a passenger on a submarine with four periscopes, being able to compare the Polish, German, French and English literary landscapes. With the exception of certain tendencies in Polish poetry, he perceives them all as ironic, sceptical landscapes. Zagajewski takes issue with this irony: “Too long a stay in the world of irony and doubt awakens in us a yearning for different, more nutritious fare.” (Zagajewski 2004: 9) I very much recognize this yearning. Regardless of the actual, objective dominance of irony and scepticism in the contemporary literary environment, of which I am not a competent judge, I have certainly subjectively experienced such dominance as a position that has challenged me: I have thought of it as some kind of default position, so that deviations from it carry the burden of justification. Since my discovery of poetry, I have been acutely aware of the potential for sincerity to be perceived as cliché or naive. If I say “I love you” to a person I really care for, it is sincere and beautiful. If I present it as a literary work without modifying context, it is a cliché, regardless of my sincerity in writing it. Writing 291 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly literary text, and certainly poetry, is concerned with avoiding clichés, as every literary language will have exhausted the basic possibilities and require some freshness in ideas, context or style in order to be assigned literary value. The use of irony is one possible way of avoiding being interpreted as cliché. It introduces levels of meaning and a certain playfulness. The reader is assigned with the task of finding the real meaning and intention, and irony can be applied in many layers. Zagajewski ironically notes that irony comes in handy when we do not know what to do. While acknowledging its usefulness as windows and doors, he does not consider it adequate as primary building blocks: “Irony knocks very useful holes into our walls, but without walls, it could perforate only nothingness.” (Zagajewski 2004: 12) This is thus what he defends: that “only ardor is a primary building block in our literary constructions.” (Zagajewski 2004: 11) True ardor, encompassing passion, enthusiasm, sincerity, is for Zagajewski a way of pursuing what Plato calls metaxu, the being ‘in between’: between the earth and the heavens, the rational and the mystical, the humanistic and the demonic. It is the sincerity and seriousness that avoids both fanaticism and fundamentalism. V So what is poetry? I will not define it, only mention some perceived properties. Poetry does not exist and still exists. Like mathematics, it is nothing, it is inaccessible and still the models and symbols give us some context. Like maths, it is nothing and the form of everything. And like maths, it is often transferred through symbols that tend to alienate readers not accustomed to the form. In his essay The Hatred of Poetry (Lerner 2016) Ben Lerner tries to circle in the sources of his experience: that poetry is hated and despised from different sides, from poets and non-poets alike, from the traumatic experiences with unintelligible gibberish in school as well as the poet's sense that poetry is failing. In Plato’s republic, poetry is denounced as being dangerous and irrational, today, the denouncement is often rooted in disappointment directed at poetry’s perceived lack of dangerousness. Poetry, thinks Lerner, is impossible. He introduces the concept of ‘virtual poetry’. Poetry is present as a sense of the possibility of something that is never completely achieved in actual verse. Both the best and the worst poetry can tell us something about what poetry is: the best by almost achieving it, and the worst by the distance from the ideal, thus making us see it. Poetry, then, is not actual songs. “The actual song of my early youth might be eighties synthpop, but the impulse that gives rise to it, I maintain, is 292 Øyvind Rangøy Poetry.” (Lerner 2016: 82) He describes how he during a mediocre outdoor opera performance happened to see a single firefly slowly flashing around the orchestra, being simultaneously in the time of the performance in Seville - the present tense of art - and in clock time in Santa Fe. All I ask the haters - and I too, am one - is that they strive to perfect their contempt, even consider bringing it to bear on poems, where it will be deepened, not dispelled, and where, by creating a place for possibility and present absences (like unheard melodies), it might come to resemble love. (Lerner 2016: 85) In this, Lerner again makes me think of Zagajewski, who discusses his choice of language: Writing in Polish - but does it finally matter what language we write in? Can’t any language, properly used, open the road to poetry, the world? The writer ordinarily sits alone with a blank piece of paper or a pale computer screen staring boldly and intently back at him. He’s alone although he doesn’t write for himself, but for others. Inspired and impeded by tradition, that great tumult of dead voices, he struggles to see into the future, which is always mute. The thoughts he hopes to express seem at times not to be part of any language; they roar within him like another element, alongside air, water and fire. (Zagajewski 2004: 198) VI I have presented Zagajewski and Lerner not as original sources of my poetics, but as examples of my discoveries of others discovering and capturing things I recognize. I am an inventor of the wheel. I once showed my wife how to roll the drum of the washing machine an extra time upon emptying to make sure that all socks have fallen down. She made me realize that I was not the first person in the world to notice this. What was real, however, was my joy of discovery. This has intrinsic value independent of its novelty to a larger audience: it is the kind of joy that makes the world endurable and happiness possible. It should never be underestimated. There is nothing naive about the joy of such simple discoveries. What may be naive, is overestimating the interest it will have for the general public. Poetry, for me, should convey something sincere, some emotion or passion intertwined with a thought: an entire experience. It should do so in a way that effectively includes the form, the sound, the rhythm as part of the (re)experience. In doing this, both clichés and naivety reduce the value for an audience and increase the experienced distance between intention and form. The experience itself is not the issue: if it is human, it could potentially interest human beings. 293 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly My kind of poetry should therefore be conscious about the language, playful, but also sincere and not overusing irony. It should convey something universal, the inside of human experience, in a way that gives a sense of having seen something new - and its form should support this experience of freshness, insight and clarity. The possibility of writing poetry in a non-native language that is acknowl‐ edged as having literary value, returns us to the question: could the creative mastery of a second language be part of what gives the poetry some of its valued characteristics? I will first give some examples of aspects of my poetic language, and then try to approach the question by offering perspectives on being between languages. VII Following Lerner’s thought, if real poetry is impossible outside the ideal, virtual domain, examples of actual verse are but approximations and hints. If so, the difference between original and translation is not measured between the actual texts, but by comparing their distance from the perceived ideal. I will try to give a hint of my poetry through my own rough translation of the opening poem of Sisikond: There was a time when vessels came home. Rolling on waves they came home, the boots of the fathers were big then. Still the rock slopes are present, steeply plunging from under their heather duvets dotted with dry yellow grass down through the black and slippery slopes where ebb exposes the sea tangle beards of unshaven adults. With rollers in their backs they came home and under the piers were barnacles waving like angels and tired mothers in waters flowing and ebbing. And eyes were seeking and finding, colourful balls and flags, floats and nets up on walls and the sweet smoke of diesel. There was a future in all of this that wasn't. And still 294 Øyvind Rangøy 1 Oli aeg, kui laevad tulid koju (my translation) is the flow coming home, stroking the seaweeds, as original liquid light stored in dark places. (Rangøy 2019) 1 The poem opens “There was a time”. This is key, in the sense that the poem has multiple times, and the opening establishes three of them at once. If there “was a time”, it means that it no longer is. However, it also makes an observant reader - consciously or unconsciously - keep track of this time together with the time of writing (the moment the poet says “there was a time”) and the time of the reading. When “Still the rock slopes are present”, this is at the time of writing, and this time is compared to the mythical light of the childhood memories, while the reader also gets an outside view of the poet’s time: the time of this comparison. The reader watches from her time the poet watching from his time - a third time. But it does not stop there: “There was a future in all of this/ that wasn't.” establishes a future of the great fisheries, a future where the child experiences being part of a culture and industry in a time imagined and present inside the “time that was”. And then, it states the negation of that time, that it wasn’t, thus implying that at some point, it became clear that the childhood dreams of becoming a fisherman were not to be fulfilled. The point of this realization, the change of the imagined future, would thus be a fifth time in the same poem. The complexity of the presence of all these times will likely not be consciously analysed by the reader. It is, however, a recreation of a common experience, the simultaneous existence of different times in us, like Galadriel in The Lord of the Rings: “things that were, and things that are, and things that yet may be.” (Tolkien: 471) The time of the reading is especially interesting: the poem also has a built-in clock that ticks during the reading, regulating the flow, the timed distribution of intensity, and this supports the emotion. These characteristics are not unique to this poem, but serve as an example of the often unnoticed complexity that builds the structure of mirrors that reflect the light that the poem is filled with, and this light comes through the recreation of sensing. Because of the times, the reader will be aware that a child is sensing, and this will make it resonate with childhood memories. The end of the poem even gives a sixth time: the time of darkness, identified as the storage time of the memories. This is a poetics of light and time. 295 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly VIII As already mentioned, the fact that I had two languages as part of my identity, Norwegian and Estonian, is closely tied to the fact that I started writing poetry at all. Thus, my intimacy with poetry has always been related to more than one language. I have noticed that some of my favorite poets, like Zagajewski, but also Knut Ødegård, exhibit some of the same: not exophonic writing per se, but a life inside several languages and societies at once, becoming interpreters and ambassadors between different systems. During summer, I spend considerable time in the hammock. I talked to a Norwegian friend about this and mentioned the suspension berth - or the net swing, as we call it in Estonian. We realised that my mentioning this piece of linguistic trivia was a consequence of becoming conscious of the fact that I actually conceptualize the same physical quilted hammock in two different ways. In my Norwegian thought, it is a bed or berth, as a function, that is suspended akin to a suspension bridge. In my Estonian thought, it is a swing, however, it is made of net, even though it is not, it is quilted: still, the original net swing is present as some kind of prototype, and the quilted, comfortable material is thus a modification of the original concept. Also, the Norwegian concept focuses on the hammocks potential for not moving, like a bed, while the Estonian concept focuses on the potential for swinging it, more like a cradle. In practice, I will use it in both ways, thus realizing some of the potential of the Norwegian concept and some of the potential of the Estonian concept. Zagajewski mentioned Plato’s metaxu, the “in between” (Zagajewski 2004). I am certainly pursuing this ideal of being between the lofty heights and the plain earth, but the poetic practice thus exposes even another way of being “in between”. I am always between languages. Bilingual life both personally and professionally, the never-ending code-switching, has created an almost constant state of being present in both languages at once. I will think simultaneously of suspension berths and net swings, and occasionally even of hammocks, when the situation requires it. IX The metaxu of language is not only about words and concepts, however. It is also being between environments. In the quoted poem from Sisikond, the original Estonian text places it inside the Estonian literary tradition: not in the sense of 296 Øyvind Rangøy 2 Väljaspool keelt (my translation) 3 Pehme muld (my translation) being typical for it, but in the sense of belonging to it and inviting to comparisons with other Estonian works. The fact of the text placing itself inside the Estonian language and literature does something with what is described. Revisiting the times of the poem: the time of the reader is a distinct Estonian time. It is a time spent inside the Estonian language and very likely in an Estonian landscape. What is described, however, the sensations and memories, are from outside of the Estonian. The impressions, memories, sensations have once been conceptualized in Norwegian and then re-conceptualized in Estonian. This is not done in order to achieve any literary effect, it’s just the way it is. In another Sisikond poem, Outside of language (Rangøy 2019) 2 , becoming rooted in another language is compared to a backwards marriage: one becomes two. It poses the question of who I am outside of language - do I even exist there? Perhaps only as the one who dreams? In a third Sisikond poem, Soft soil, my relationship with the two countries, and their relationship within me, is thematised: “I come from a land of granite. A land of storms. A land of cliffs and shipwrecks […] Here, the soil is soft and the stories hard.” The poem concludes: “I am at home here, and foreign, like I at home am foreign and at home. And from time to time, as in a glimpse behind mountains, the world is the same.” (Rangøy 2019) 3 There is a yearning in this, a wish for the two worlds to become one. These are just examples of the total effect of being between languages: it is being torn, being confused, being inspired, being in different times and societies at once. It is constantly being in between. It thus is as if I have two cores, longing to be one. This is a state of interference between the cores, but also the constant pressing question of who I am in all this - in Leonard Cohen’s words: And who shall I say is calling? X The interference of languages. The mingling and mangling of concepts from different languages. The constant question of who I am, and where I belong, which is closely tied to the ethos: who am I to say this? And to whom am I saying it? Returning to our starting point, language has become aware of itself. It is a language conscious about the fact that things can be conceptualised in different ways. This dissolves the naive idea of one single possible form. 297 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly Being sensitive of conflict, I have always been inclined to reconcile. Recon‐ ciling things on the surface is of little use in long term relationships, because the achieved peace is not sustainable. Reconciliation is still possible, however, on a deeper level. One of the internal conflicts bothering me has concerned the nature of language - and in a certain sense, it is a conflict that has concerned the entire Western civilisation. We are socialised to identify language with reality, and in a certain sense, this is correct. The language that we inhabit is our reality. What happens when this reality is no longer one? It is not a problem as long as the domains of the different linguistic realities are separate, because we are good at compartmentalising. The constant unease of code-switching, however, makes it impossible to be too comfortable in the reality of one language. Still, the fact that building personal integrity is possible, seems to reconcile something. There is reality in language, but there is also potential outside of language: the same dreamer can dream into both languages. The fact that personal integrity, and a poetic ethos, can be built regardless of surface, even regardless of the concepts, is an insight that renews the sense of being able to say something truthful, thus having ethos, whilst reminding the sayer that truth does not arise from the language but from its function in relationships. It is the constant need of reconciliation between two cores longing to be representations of the same integrity, the same ethos. There is a me and you in every language. Between us, there is a potential for truth. It is a poetics of time and light, but also of reconciliation at depth: between the metaphysical and the earthbound, rationality and mysticism, stability and inspiration, honesty and grace, the moment and the past. And just like the light from the childhood emerges in a new time, it is the realisation that in the end, it is all the same light. XI Thus, the interference between the languages retain a certain plasticity in the language, it functions as a defence against the petrification of thought. However, the interference also induces a playfulness arising from the fact that language is always seen from the inside and the outside at the same time. Ben Lerner talks about sources of the hatred of poetry. One such source could be the naive idea of the pure poetic self, the person untouched by other text and thereby producing text untouched by other text: the self-sufficient romantic genius. An opposite and equally naive idea is the death of the author: the text as only text, the irrelevance of the ethos of the author as a consequence of the 298 Øyvind Rangøy irrelevance of the author - and the resulting text as something that essentially cannot be experienced as essential. Both these ideas could work to undermine the ethos of the poet. How does it affect the ethos of the poet being constantly made aware of the fact that the language used to construct what you are trying to say is not the only possible system - not only in the sense of style, but in the sense of an entire ecosystem, an entire existence, history, society and a complete set of ways of conceptualising the world? One possible effect is the realisation that there is no real separation of the reflection about language and the use of language itself. This is in itself creating layers characteristic of poetry. And it is doing it without irony, still maintaining the freshness of language through a playfulness that depends on the tension between different linguistic worlds. This tension does not require things to be said in complicated ways. It just reminds us of the beauty of the potential for saying it just like this, simply because that is not the only way. The poetic ethos is not just an aspect, it is the point: I still have something to say because I am saying it with what I am, with who I am, longing for complete identification with the said, the identification between the sayer and the said, whilst keeping it universally open to be experienced by any human being - and the fact of this being impossible in actual language, the fact of us knowing it to be impossible and still putting up the fight, makes it credible. XII This is the twelfth and last wagon. The wagons are connected. The train of thought is approaching a station. “Not every thought to every thought succeeds indifferently”, said Thomas Hobbes (Hobbes 1651: 18). The train of thought in my poetry is a train of language. This train is affecting the writing not because the language once was a foreign language, but because I am aware of it being a train. A train moves on rails. Some things are to be expected because the rails of the language decide its course. Becoming aware of the train, however, is becoming aware of it having an inside and an outside. Language has become aware of itself. It has become aware of being a train, among all other things it also could be. And it knows about its potential of leaving the meaning and sincerity of the basic utterances intact while introducing new layers of awareness, increasing its depth. I can enter the train of language, and while it starts moving, I can climb up on the roof of the wagon and perhaps even lean down to see the light from its 299 Train of language, train of thought: Notes of an exophonic anomaly windows. It’s a poetics of time and light. And of being inside and outside of the same language, swinging in the net swing and dreaming in the suspension berth. Even though I may have a more external view of Estonian and thus experiment in slightly different ways, writing in Estonian and in Norwegian are not radically different acts. One being my native language, the other making me an exophonic writer, they both exhibit a state of self-awareness arising from the fact of constant code-switching. This is making my writing possible, as well as being a platform for mediating between worlds. And sometimes, in the glimpse of a dream, the world is one. Bibliography Aristotle (350). Rhetoric. Retrieved from: http: / / classics.mit.edu/ Aristotle/ rhetoric.1.i.ht ml (retrieved 31.05.2020) Cohen, Leonard (2008). Anthem, London 2008. Retrieved from: www.youtube.com/ watc h? v=48AJBXs5dNc (retrieved 31.05.2020) Hobbes, Thomas (1651). Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil. Lerner, Ben (2016). The Hatred of Poetry. New York: Farrar, Straus and Giroux Ødegård, Knut (2018). Olin imiku nutt varisenud keldris. Tallinn: Kite Rangøy, Øyvind (2019). Sisikond. Tallinn: Vihmakass ja kakerdaja. Tolkien, John Ronald Reuel (2008 [1954]). The Fellowship of the Ring. London, Harper Collins Publishers. Väli, Katrin (2019). Ühtaegu kerge ja raske “Sisikond”. Areen, 04.12.2019. Zagajewski, Adam (2004). A Defense of Ardor. New York: Farrar, Straus and Giroux. Zagajewski, Adam (2002). Try to Praise the Mutilated World. Without End: New and Selected Poems (Farrar, Straus and Giroux, 2002). Retrieved from: www.poetryfoun dation.org/ poems/ 57095/ try-to-praise-the-mutilated-world-56d23a3f28187 (retrieved 31.05.2020) 300 Øyvind Rangøy Autorinnen und Autoren Natalia Blum-Barth wurde 2020 im Fachbereich Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz habilitiert. Neben der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit hat sie zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur in der Bukowina und in Galizien, zur Literatur und Kultur der Russlanddeutschen, zur Geschichte der russischen Emigration in Deutschland sowie zur Literatur der Migration vorzuweisen. Till Dembeck ist seit 2017 Associate Professor für neuere deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Université du Luxembourg. Sein derzeit wichtigster Forschungsschwerpunkt ist literarische Mehrsprachigkeit. Ihn interessiert, wie (literarische) Texte mit (allen möglichen Formen von) Sprachvielfalt umgehen und wie sie in diesem Umgang mit Sprachvielfalt Kulturpolitik betreiben. Lang‐ fristig arbeitet er an einem Buch über die Mehrsprachigkeit der europäischen Romantik. Ein weiteres aktuelles Buchprojekt behandelt die Geschichte der Lyrik und der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert. In der Vergangenheit hat Till Dembeck vor allem zur Literatur um 1800, zur Kultur- und Literaturtheorie und zu den Medien der Literatur gearbeitet. Nach dem Studium der Germanistik, der Philosophie und der Mathematik in Bonn und Freiburg, einem Fulbright-Jahr an der University of Washington in Seattle sowie einer dreijährigen Förderung am Graduiertenkolleg „Klassizismus und Romantik“ in Gießen promovierte Till Dembeck 2007 in Siegen, arbeitete sodann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und leitete das DAAD-Informationszentrum in Riga, Lettland, bevor ihn sein Weg 2011 an die Universität Luxemburg führte. Rūta Eidukevičienė ist Dozentin für Germanistik und Dekanin der Geisteswis‐ senschaftlichen Fakultät der Vytautas Magnus Universität in Kaunas (Litauen). Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft, Kompara‐ tistik, Interkulturelle Kommunikation. Sie hat zahlreiche Aufsätze zur deutschen und litauischen Gegenwartslitera‐ tur sowie zu deutsch-litauischen Kulturbeziehungen veröffentlicht (Die Metro‐ pole aus der Perspektive der Provinz. Zur Wahrnehmung und Darstellung Berlins in der litauischen (Gegenwarts)Literatur, 2011; The Neman River: the Multicultural Diversity of the River’s Space, 2016; Berlin, Helsinki, Kaunas. Dynamische urbane Topographien der modernen Dichtung, 2017, etc.) und an der Herausgabe einiger Sammelbände mitgewirkt (Von Kaunas bis Klaipėda: deutsch-jüdisch-litauisches Leben entlang der Memel, 2007; Baltische Bildungsgeschichte(n), 2020). Tomás Espino Barrera ist seit November 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Université du Luxembourg im Rahmen des Forschungsprojektes ARSVI‐ VENDI. Er promovierte 2018 an der Universidad de Granada (Spanien) mit einer Dissertation über Mehrsprachigkeit und Sprachverlust in der Exilliteratur. In den letzten Jahren hat er mehrere Aufsätze und Buchkapitel über Jorge Semprún, Julia Kristeva und Mehrsprachigkeit aus komparatistischer Perspektive veröf‐ fentlicht. Aigi Heero ist Associate Professor für deutsche Sprache und Didaktik der Universität Tallinn. Ihre Forschungsinteressen gelten den Themen deutschspra‐ chige transkulturelle Literatur, Sprache in Literatur und Kultur, kulturelle Kontakte, deutschsprachige frühneuzeitliche Literatur, DaF und CLIL-Unter‐ richt (Deutsch und Geschichte). Weitere Informationen sowie die wichtigsten Publikationen können unter www.etis.ee/ CV/ Aigi_Heero/ est? tabId=CV_ENG abgerufen werden. Marin Jänes ist Doktorandin am Geisteswissenschaftlichen Institut der Uni‐ versität Tallinn und arbeitet als akademische Sekretärin am Under-und-Tu‐ glas-Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften. Ihre For‐ schungsthemen sind Mehrsprachigkeit, Deutschbaltische Literatur und Kultur, Soziolinguistik. Mārtiņš Laizāns is a doctoral candidate at the University of Latvia, his thesis, Texts of Basilius Plinius: poetics, rhetoric, aesthetics, is on the sixteenth-century humanist and Neo-Latin poet Basilius Plinius from Riga. Currently, Mārtiņš Laizāns is a researcher in the projects Riga Literata: Humanist Neo-Latin Heritage of Riga within European Respublica Literaria and National identity: Gastropoetic aspect. Historical, international and interdisciplinary contexts, both funded by the Latvian Council of Science. Recently, he was a research fellow at the Ludwig Boltzmann Institute for Neo-Latin Studies (2020) in Innsbruck, Austria. His research focus is on humanist Neo-Latin poetry, gastropoetics in litera‐ ture and translation studies. Recent publications include Ars scientiae gratia: Basilius Plinius and science in verse (2020) and “Mērnieku laiki” un vienradža smadzenes: gastrotulkojuma samērojums [“The Times of the Land Surveyors” and Unicorn Brain: Juxtaposition of Gastrotranslation] (2020). Liina Lukas (Ph.D. 2006, Das deutschbaltische literarische Feld, 1890-1918, Universität Tartu) ist Dozentin für Komparatistik am Institut für Kulturwis‐ senschaften an der Universität Tartu. Ihre Forschungsinteressen umfassen est‐ 302 Autorinnen und Autoren nisch-deutsche literarische Kontakte (gegenseitige Wahrnehmung, historischer Bilinguismus, gemeinsame Volksüberlieferung, das Volkslied als Inspirations‐ quelle, Frauendichtung usw.), deutschbaltische Literatur, europäische, darun‐ ter baltische Literaturen im 18. Jahrhundert, methodische und theoretische Fragen der vergleichenden Literaturwissenschaft aus der Sicht der kleinen Literaturen, literarische Übersetzung und Rezeption usw. Sie ist Leiterin der Digitalen Textsammlung älterer Literatur Estlands (https: / / utlib.ut.ee/ eeva/ ind ex.php? lang=de&do=index). Letzte Veröffentlichungen: Mitherausgeberin der Sammelbände Herder on Empathy and Sympathy/ Einfühlung und Sympathie im Denken Herders. Leiden: Brill, 2020 [Brill's Studies in Intellectual History]. Hrsg. Eva Piirimäe, Liina Lukas und Johannes Schmidt; Politische Dimensionen der deutschbaltischen literarischen Kultur. Berlin/ Münster: LIT Verlag, 2018. Hrsg. Liina Lukas, Michael Schwidtal, Jaan Undusk. Sie ist Präsidentin der Estnischen Goethe-Gesellschaft und gehört zum Vorstand der Estonian Comparative Lite‐ rature Association. Michael Navratil ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanis‐ tik der Universität Potsdam. Nach einem Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie an den Universitäten in Freiburg, Oxford und der Freien Univer‐ sität Berlin promovierte er 2020 an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zum Thema Kontrafaktik der Gegenwart. Politische Realitätsvariationen bei Christian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt. Er ist Mitherausgeber von Sammelbänden zu den Themen Daniel Kehlmann und die Gegenwartsliteratur. Dialogische Poetik, Werkpolitik und Populäres Schreiben (Berlin/ Boston 2020), Gesundheit erzählen. Ästhetik, Performanz und Ideologie (voraussichtlich Ber‐ lin/ Boston 2021) sowie Unerlaubte Gleichheit. Homosexualität und mann-männli‐ ches Begehren in Kulturgeschichte und Kulturvergleich (voraussichtlich Bielefeld 2021). Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Fiktionstheorie, politisches Schrei‐ ben, Literatur und Psychologie, Gender Studies sowie Literatur der Frühen Moderne und Gegenwartsliteratur. In aktuellen Buchprojekten beschäftigt er sich mit der Poetik der Neo-Moderne im Werk Daniel Kehlmanns sowie mit Ästhetik und Medialität der Undarstellbarkeit im Drama des Langen 19. Jahrhunderts. Dieter Neidlinger, seit 2018 freier Autor und Übersetzer, 2010-2018 Lehrbe‐ auftragter in der Germanistik in Tartu (Estland), Forschungsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit, Literatur und Erinnerung, Kulturelles Lernen. Ausgewählte Publikationen (alle gemeinsam mit Silke Pasewalck): Zum Thema Migration und Flucht und der Frage nach der Stellvertretung im deutschsprachigen Gegenwartstheater (In: Triangulum, 2019), Kulturelles Gedächtnis und Erinne‐ 303 Autorinnen und Autoren rungsorte - ein kulturdidaktisches Konzept und seine Relevanz für die baltische Germanistik (In: Triangulum, 2017), Die Redlichkeit des Betrugs - Literarische Erinnerung und Totalitarismus bei Herta Müller und Vladimir Vertlib (In: SCHRIFTsteller und DIKTATuren/ Writers and Dictatorship, 2013), Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (Mithrsg. 2014). Marko Pajević ist EU-finanzierter Professor für Germanistik an der Universität Tartu in Estland, nach Positionen an der Sorbonne, Queen’s University Belfast sowie Royal Holloway und Queen Mary, University of London. Er hat viel zur Poetik veröffentlicht, mit (Co-)Herausgeberschaften zu German and European Poetics after the Holocaust (Rochester, NY 2012) und zu Poésie et musicalité. Liens, croisements, mutations (Paris 2007). Er schrieb Monographien zu Paul Celan, Zur Poetik Paul Celans. Gedicht und Mensch - Die Arbeit am Sinn (Heidelberg 2000), und Franz Kafka, Kafka lesen. Acht Textanalysen (Bonn 2009). Seit einigen Jahren konzentriert er sich auf die Entwicklung einer poetologischen Anthropologie, siehe die Monographie Poetisches Denken und die Frage nach dem Menschen. Grundzüge einer poetologischen Anthropologie (Freiburg i.Br. 2012). Sein damit verbundenes Interesse am Sprachdenken führte zu Sondernummern von Forum for Modern Language Studies (Humboldt, 2017, 53/ 1) und Comparative Critical Studies (Meschonnic, 2018, 15/ 3) sowie zu The Meschonnic Reader. A Poetics of Society (Edinburgh 2019). Diese Arbeiten sind Teil seines übergeordneten Forschungsprojekts Academia for Poetic Thinking, siehe die Webseite: apt.ut.ee. Silke Pasewalck, seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) an der Universität Oldenburg, 2010-2018 assoziierte Professorin in der Germanistik in Tartu (Estland). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.-21. Jahrhunderts (insb. Aufklärung, Moderne und Gegenwartsliteratur), Baltische Literatur- und Kulturgeschichte, Alteritätsdiskurse in der Literatur, Mehrsprachigkeit, Literatur und Erinnerung. Ausgewählte Publikationen: Mit Sprache über Spra‐ che hinausgehen. Zum Sprachverständnis bei Wisława Szymborska und Ilma Rakusa (In: Komparative Ästhetik(en), 2018), Inszenierung kultureller Alterität als Vielstimmigkeit: Vladimir Vertlibs Letzter Wunsch und Melinda Nadj Abon‐ jis Tauben fliegen auf (In: Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften, 2017). „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“. Zu Ilma Rakusas Poetik der Mehrsprachigkeit (In: Philologie und Mehrsprachigkeit, 2014), Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (Mithrsg. 2014). Øyvind Rangøy is a visiting lecturer of Norwegian Language and Literature at the University of Tartu. He shares his time between Estonia and Norway. 304 Autorinnen und Autoren Following studies in Estonian as a Foreign Language (Tartu) and New Norwe‐ gian Written Culture (Volda), he has worked as a quality manager and software developer in the Norwegian salmon industry before returning to academic life. He has translated Estonian literature into Norwegian and vice versa, is a member of the Estonian Writer’s Union since 2018 and has published poems in Norwegian and Estonian, including the award-winning Sisikond (2019) and Kolm sõlme (2020). Maris Saagpakk ist als Assoziierte Professorin für deutsche Kulturgeschichte und Literatur an der Universität Tallinn tätig. Sie hat Deutsch, Englisch und Literaturwissenschaft an der Universität Tallinn studiert. Dort erfolgte auch die Promotion zu deutschbaltischen Autobiographien im Jahre 2007. Ihre For‐ schungsthemen sind deutschbaltische Literatur und Kultur, Postkolonialismus, deutsche Sprache im Baltikum, Linguistic landscape, Mehrsprachigkeit und Deutschdidaktik. Annika Saar und Marianne Laura Saar sind Studentinnen am Geisteswissen‐ schaftlichen Institut der Universität Tallinn. Dinah Schöneich ist seit Beginn 2019 Doktorandin am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg. Sie promoviert über die Verbindung von Mehrdeutigkeit und Mehrsprachigkeit in der modernen und zeitgenössischen Lyrik und Dichtung. Im Studium der Komparatistik an den Universitäten Paderborn und Bochum hat sie einen Schwerpunkt auf Literatur der Nachkriegszeit, Lyrik und Kurzformate gelegt und war an der Organisation des Studierendenkongress Komparatistik 2014 zum Thema „Literatur und Sexualität“ beteiligt. Für ihre Abschlussarbeit hat sie in einer vergleichenden Studie Akte der Raum-Zeugung in der Dichtung Paul Ce‐ lans und des exilierten französischen Diplomaten und Dichters Saint-John Perse untersucht. 2016 hat sie an der Ruhr-Universität Bochum über sexuelle Akte in der Literatur gelehrt. Veröffentlichungen: (2015) Wurzelkrone. Sexuelle Verei‐ nigung bei Celan. In: Canpalat, Esra u. a. (Hrsg.) Literatur und Sexualität. Berlin: Ch. A. Bachmann Verlag, 211-222; (2015) Gute Besserung. Wahnsinns-Kliniken bei E.A. Poe und Charlotte Perkins Gilman. In: von Bogen, Helene u. a. (Hrsg.) Literatur und Wahnsinn. Berlin: Frank & Timme, 115-125. Hélène Thiérard ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Ro‐ manische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation der Univer‐ sität des Saarlandes und Postdoctoral Researcher im Forschungsprojekt Minor Universality. Narrative World Productions After Western Universalism (ERC-Con‐ solidator Grant Prof. Messling). 2016 hat sie zum literarischen Spätwerk Raoul 305 Autorinnen und Autoren Hausmanns Hyle I + II an der Sorbonne Nouvelle und an der Universität Osnabrück promoviert (Publikation in Vorbereitung). Ihr Forschungsinteresse gilt literarischer Mehrsprachigkeit und Theorien der Übersetzung, Kunst und Literatur der Avantgarden mit Fokus auf Intermedialitätsforschung, deutsch‐ sprachiger Exilliteratur und Erzähltheorie. Sie hat verschiedene Artikel zu literarischer Mehrsprachigkeit veröffentlicht: Pensée du langage et pratique de la traduction chez Georges-Arthur Goldschmidt, in Traverser les limites (Ritte u. a. 2019); Récits du moi entre les langues chez Yoko Tawada et José Oliver, in Cahiers d’Études Germaniques 73 (2018/ 2); Negergedicht, Lautgedicht? Jedem das eigene Fremde, in Dada Afrika, Dialog mit dem Fremden (Burmeister u. a. 2016). Als Literaturübersetzerin publizierte sie u. a. Werke von Franz Kafka, Raoul Hausmann und Günter Brus auf Französisch. Sandra Vlasta ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes-Guten‐ berg-Universität Mainz, wo sie von 2017 bis 2020 als Marie-Skłodowska-Cu‐ rie-Fellow an dem Projekt „European Travel Writing in Context. The Socio-Po‐ litical Dimension of Travelogues 1760-1850“ arbeitete (siehe: https: / / travelwrit ing.uni-mainz.de). Sie ist Mitgründerin und Mitherausgeberin des Webportals Polyphonie: Mehrsprachigkeit_Kreativität_Schreiben www.polyphonie.at. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind literarische Mehrsprachigkeit, Litera‐ tur und Migration sowie Reiseliteratur/ Reiseberichte. Aktuelle Publikationen: • Hg. gemeinsam mit Barbara Siller: Literarische Mehr-Sprachreflexionen. Wien: Praesens Verlag, 2020. • Hg. gemeinsam mit Wiebke Sievers: Immigrant and Ethnic-Minority Writers since 1945: Fourteen National Contexts in Europe and Beyond. Leiden: Brill|Rodopi, 2018. • Contemporary Migration Literature in German and English. Leiden: Brill| Rodopi, 2016. 306 Autorinnen und Autoren Sachregister Adelbert-von-Chamisso-Preis 174f. Afrika 275-277 afrikanisch 232, 234, 276 Afrikaans 240 alemannisch 13, 199-201, 204, 206, 209 Alternate History 14, 267-270, 273-275, 278 Alternativgeschichte 278 alternativgeschichtlich 269 Alternative 17, 90, 140, 206, 209, 267-270, 273, 275, 277-280 alternativ 13, 127, 199, 206f., 209, 213, 215, 278 Alternativbildung 269, 279 Alternativdenken 14, 269 Alternativendenken 267, 269f., 279 Altflämisch 201 Altgriechisch 41 Alt-Livland 39-41 Amerika/ USA Amerikaner 203, 273 amerikanisch 88, 94, 110, 124, 133, 135, 140, 270, 273 Amerikanisierung 109 Amtssprache 42, 191 andalusisch 199-202, 204-207, 209, 238 anderssprachig 16, 23, 26, 66-69, 111, 121, 124, 127, 134f., 137, 141, 171, 175-177, 249 Anglizismen 89, 132, 218 Anthropologie 131, 231 anthropologisch 24, 76, 133, 141, 217 Apostelgeschichte 16 aptum 18 arabisch 194, 201, 234 Armenien 99-101, 105f., 111, 116 Armenier 81, 101, 108f., 111 armenisch 99-102, 106, 108, 111, 113, 116 Asien 107, 133, 135, 137, 140, 194 asiatisch 138, 140 Association LATGA 89 auditiv 93, 201 Auschwitz 274 Autofiktion 269 Baltikum 10-12, 39-42, 44, 46, 49, 51, 61, 76, 82, 87f. Baltisch 9-12, 25, 40, 43f., 51, 56, 61f., 64, 66, 71f., 74, 81f., 84, 110, 123 Baltizismus 72 Bantu 235 Bildungssprache 41-43, 68, 81 bilingual 92, 125, 250, 296 Bilingualismus 50f. Biographie 85, 88, 94, 202, 205, 207, 238, 252 biographisch 62, 67, 101, 175, 200- 202, 204, 209, 238 biopolitisch 221, 223 Buchdruck 25, 31, 81 burjatisch 83 Caló 202 Chamisso-Preis/ Hellerau 174 Chewa/ Chiwa 275f., 280 China 282 chinesisch 240 City of Vilnius 89 code-mixing 199 code-switching 107, 168, 260, 296, 298, 300 Corona 282 Dainas 15f., 25-28, 30f., 35 dänisch 39f. Dekonstruktion 276, 278, 280 dekonstruktiv 279 dekonstruktivistisch 234 Deutschbalten 10, 51, 60, 62-65, 71, 74, 91 Baltic German 153, 155 deutschbaltisch 10-12, 43f., 56, 59- 62, 64f., 70, 75f. Deutschbaltisch 11, 41, 43f. deutschbaltische literarische Kultur 59 deutschbaltische Varietät 60, 76 Deutschland 9, 40, 49f., 63, 65, 76, 85, 103, 174, 200, 206-208, 214, 237, 275 deutsch 9-11, 13, 22f., 34, 39, 42, 44- 46, 48-51, 56, 63f., 66, 68, 70-74, 76, 83, 85, 90f., 95, 100f., 112, 167, 172, 174-177, 189f., 193, 199, 201, 204-209, 213-215, 217-225, 231, 238-241, 248-250, 253, 259-262, 271 Deutsch 8, 10f., 18, 21, 26, 41-44, 47-49, 51, 53, 62f., 66-70, 72, 74- 76, 83, 85, 90f., 95, 103, 113, 129, 133, 148, 150, 153, 167-176, 184, 190, 199, 202f., 205, 207, 213-216, 218-221, 234, 239-241, 247-249, 253f., 259-262, 276 Deutsche 9, 46, 48, 64, 75, 84, 107, 203, 208, 218, 273 deutschsprachig 9f., 12, 26, 41, 47- 49, 51, 59, 73f., 99, 103, 107, 112, 167-169, 171, 174-177, 190, 203, 213, 259, 275 Halbdeutsch 43-46, 64 Hochdeutsch 41, 43f., 65, 200f., 276, 280 Niederdeutsch 40f., 43f., 64 Wacholderdeutsch 43, 64 Dialekt/ Mundart 13, 15, 21, 27-30, 40f., 43f., 51, 53, 72, 80, 85, 126f., 170f., 186, 189f., 194, 200-202, 204, 223, 249, 275f. Dialog 45f., 111, 150, 189, 225, 235, 242 dialogisch 188, 195, 219, 221 Drittes Reich 275 dualistisch 231f., 241 Dualität 218 Dynamik 13, 133, 183-185, 189, 195 Dynamisierung 15, 184 edition exil (Literaturpreis) 174f. eigensprachlich 131 Einsprachigkeit 8, 20-22, 25, 31-33, 170, 177, 186, 195, 209, 223, 231, 235, 237, 248 einsprachig 32, 165f., 170, 177f., 201f., 217, 248, 262 Einsprachigkeitsparadigma/ Einsprachigkeitsnorm 32, 169, 184f., 189, 193, 195, 206, 223f. Einzelsprache 19-21, 31, 33f., 125f., 184f., 223, 232, 234, 237f., 240 Elbisch 282 Emanzipation 11, 15, 26, 31 Englisch/ English 8, 10, 49, 51-55, 68, 89, 92, 94, 96, 99, 102, 109-111, 116, 121-124, 128f., 131f., 134-136, 138-141, 167f., 175, 184f., 190f., 193, 201, 224, 226, 232-235, 240, 249, 271-273, 282 Epistemologie 276 epistemisch 229f., 232, 280 epistemologisch/ erkenntnistheoretisch 205, 209, 233, 235f., 238, 241, 243 Erstsprache 43, 122f., 129, 134, 141, 167, 169, 174f., 177, 215f., 224, 262 308 Sachregister Essenzialismus 235, 272f. Essentialiserung 236, 240 essentialisierend 240 essentialistisch 279 Estland/ Estonia 9-12, 14, 39-44, 48-56, 59, 61-64, 66, 69, 74, 81, 99-106, 109, 116, 289 estnisch 11, 14, 29, 39, 42-54, 56, 60, 62-65, 69, 72-74, 100-103, 105f., 108-111 Estnisch/ Estonian 14, 21, 41, 43-55, 61-63, 65f., 69-76, 81, 99, 101- 103, 109, 288f., 296f., 300 Ethnie 80, 82, 84 ethnisch 43, 60, 66, 91, 208, 272 Ethnographie 13, 213f., 222, 241 ethnographisch 29, 241 ethnologisch 24, 241-243 ethnozentrisch 231, 235 etymologisch 192f. Europa 8, 10, 26f., 31, 39, 42, 183f., 189, 208, 237, 242 europäisch 11, 13, 15, 25f., 33, 56, 87, 89, 91, 113, 124, 141, 184, 189, 194, 200, 209, 229-236, 241, 276 eurozentrisch 238 Exil 50, 85f., 88, 203 Exklusionsindividualität 32 Exophonie 9, 13, 44, 49-53, 56, 166, 213 exophon/ exophonic 9f., 12-14, 53, 56, 107, 213f., 222-224, 226, 239, 287-289, 296, 300 Fake News 274, 279 Fantasy 282 Faust/ Faustus 12, 91, 145, 148-159, 161 Faustiad 151 Faustian 149, 154 Fiktionalität 281 fiktional 67, 76, 239, 268f., 281f. fiktionstheoretisch 269, 280, 282 Fiktionstheorie 267, 280-282 Fiktivität 281f. fiktiv 65, 74, 132, 241-243, 270, 274, 280, 282 Finnisch 66, 201 finno-ugrisch 39, 60 Form, sprachliche 185 Formalismus, Russischer 225, 263 Frankreich 85f., 122, 237, 270f. Französisch 21, 41f., 49, 60, 65-70, 75, 96, 116, 201, 203, 221, 225, 232, 236, 240, 271f. Fremdheit 50, 270, 281 befremdlich 189 fremd 24, 30f., 35, 42, 49f., 99, 105, 112, 123, 125, 128, 134, 137f., 141, 185, 193, 195, 240, 256 Fremde 104, 115, 140, 193, 200, 203, 206f., 225 Fremdes 195 Fremdheitserfahrungen 281 Verfremdung 151, 263 Fremdsprache 51, 108, 122f., 125, 129, 140, 169, 184, 201, 215f., 222, 236, 240, 248 fremdsprachlich 108, 111, 125, 128- 131, 185 Gastarbeiterdeutsch 202 gastroliterary 146f., 149 gastronovel 146, 148f., 155 gastropoetics 146 gastropoetical 146 Gegenwart 15f., 25, 79, 105, 172, 238, 269 Gegenwärtigkeit 15, 19 Gegenwartsbezug 15, 17f., 27, 32 Genetik 215 Glossodiversität/ glossodiversity 33f., 201, 235f., 238 Gorki Staatspreis 79, 82f. 309 Sachregister Grammatik 42, 80, 176, 191, 214f., 217-221, 225f., 237-239 grammatikalisch 43, 46, 204, 218, 220 grammatisch 46, 68, 111, 188, 215, 219, 235 Griechisch 68, 231, 234 griechisch 8, 68, 102, 222, 226, 235, 241 Haiku 189, 218 Hanse(bund) 40, 90 Hebräisch 84f. Heimat 57, 86, 109, 134, 200, 202f., 207, 217, 255 beheimatet 250, 259, 261 Herkunftssprache 83 Hétérolinguisme 166, 170f. historiografische Metafiktion 269 historisch 10-13, 20f., 25, 39, 50f., 61, 67, 76, 91, 95, 109, 128, 133, 170, 222, 233, 236f., 242, 247f., 250f., 253f., 261, 268f., 272, 274f., 278-280 Historizität 222 Holocaust 271, 275 Hongkong 137, 139 Hybridität 103, 122, 124, 131 hybrid 106f., 122, 149-151 Hybridsprache 111, 145, 147f., 282 Identität/ identity 12f., 32, 41, 46, 52, 65, 77, 101, 104, 106f., 121-123, 131, 133, 147, 199-201, 204, 207f., 218, 220, 230, 237f., 240f. identitär 270, 272 Ideologie 84, 237, 273, 275, 278-280 ideologisch 53, 80, 82, 85, 87, 95, 104, 177, 223, 250, 255, 271, 278, 280 Idiom 27, 33, 49, 108, 124-126, 168, 190, 249, 277 Idiomatik 176 Indoktrinierung 80, 82 Ingeborg-Bachmann-Preis 175f. Ingermanländer 48 inkorporiert 239, 242 Interaktion 107, 188 Interferenz 5, 8, 94, 111 interkulturell 107, 189, 194, 238, 241-243 interlinguales Wortspiel 94 inter-nationalsprachliche 194 intertextuell/ intertextual 20, 113, 115, 145, 149, 152, 154, 183, 190, 278 Intonation 190, 216 Isolation, kulturelle 195 Italien 189, 194 Italienisch 68, 167, 187-189, 201, 249, 271 Japan 214, 223f., 241 Japanisch 13, 213, 215, 218f., 223, 239-242 Jiddisch 41, 48, 84f. Jude/ Jew 109, 270, 272-274 jüdisch 271-273 Kalter Krieg 275 Kärnten 13, 247f., 250, 253, 261 Kärntner 251, 253, 261 Kinderreim 186f. Klang 87, 92, 193, 216 klanglich 190 Klangübersetzung 193 Klingonisch 282 Kognition 22, 219, 231f. Koiné 276 Kolonialismus Antikolonialismus 15, 23, 26 Dekolonisierung 234 kolonial 13, 40, 75, 241 Kolonialherrschaft 232 Kolonialisierung 42 Kolonialkultur 41 310 Sachregister Kolonisten 40 postkolonial 31, 48, 90, 123f., 230, 234, 241f. Kommunikation 40, 89, 105, 109, 123, 132, 135, 137-141, 173, 193, 209, 219, 224, 231f., 261, 276f., 279f. Komparatistik 249, 281 Kontrafaktik 14, 268-270, 273f., 278-281 kontrafaktisch 32f., 267-270, 274f., 282 Körper 204, 215, 256, 259, 261, 274, 277, 279 Körperbewusstsein 216 Kurisch 40, 42 Landessprache 81f., 105, 109 language memoir 199f., 209 langue 19-22, 31f., 203, 231, 238, 242 Latein 60, 66, 68-70, 75, 90, 99, 110, 201 Lateinisch 40, 42, 46f., 68, 80, 102, 110, 203, 240 latent 66, 69f., 73, 75f., 94, 125f., 129, 138, 140, 168, 171f., 247, 249f. Leib 202, 238, 243 Leiblichkeit 242 Lettgallisch 40, 42, 44 Lettland/ Latvia 9-11, 16, 39f., 42, 48, 56, 59f., 74, 79, 81, 89-92, 94-96, 151f., 154- 157, 159, 161 Latvianisation 159 lettisch 11f., 15f., 25f., 28f., 34f., 42- 44, 46, 49, 56, 60, 70, 90-92, 94-96, 123, 132 Lettisch/ Latvian 11, 15f., 26-28, 41- 45, 47-49, 65f., 70, 75, 81, 90-94, 145-154, 156-160 lettisch-deutsch 51, 90 Lied 15f., 24, 26, 28-31, 74, 187f., 200, 206 linguistic turn 276 Linguistik 19-22, 31-33, 235 Litauen 9-12, 79, 81, 84-90, 92, 95f., 121f., 128, 132 Litauer/ -in 123, 129f., 133, 135, 139 litauisch 12, 25, 84-90, 95f., 121-124, 128f., 131f., 134f., 137, 139-141 Litauisch 8, 81, 84-89, 121, 128f., 133, 140 literarische Mehrsprachigkeit 59 Literatursprache 53, 80, 85, 259 Literaturtransfer 44 Literaturwissenschaft 21, 49, 104, 123, 131, 165f., 174f., 177f., 283 Lithuanian Council for Culture 89 Livisch 40, 42 Livland 41, 44 Logos 89, 229-231, 234, 236, 238 lyrische Moderne 185, 190 magisch 101, 191f., 194f. makkaronisch 44 Malaysia 131, 137, 139, 141 Materialität 231, 236, 241, 279 materiell 232 Medialekt 136 Medien 31, 34, 54, 92, 131, 268, 282 Medium 22-25, 32, 42, 215, 239, 268, 270 Mehrdeutigkeit 13, 183f., 190, 193 Mehrsprachigkeit 7-14, 21, 43f., 46, 48f., 56, 59, 61, 65-67, 69, 75f., 79, 82, 91, 93- 96, 99, 102, 107f., 111, 113, 115, 121-123, 125-134, 138, 140, 165f., 168-174, 177f., 183-185, 189f., 192, 194, 199-201, 203, 217, 222-224, 230, 235f., 238, 247-251, 260, 267, 270-272, 274, 279-282 additive Mehrsprachigkeit 204 latente Mehrsprachigkeit 94, 111, 168, 249f., 260 311 Sachregister literarische Mehrsprachigkeit 9, 12, 76, 79, 84, 90, 124, 166f., 169, 251, 270, 280f. manifeste Mehrsprachigkeit 168 mehrsprachig 8-10, 12f., 49, 56, 59f., 79, 82f., 95, 102f., 108, 111f., 115, 124-128, 133f., 137f., 141, 165- 171, 173-176, 178, 183f., 189f., 194f., 199-201, 204, 206, 215, 217, 221, 223, 229f., 233, 235f., 238f., 247-250, 262f., 274, 281f. Mehrsprachigkeitsparadigma 183- 185, 189f., 193, 195 Mehrsprachigkeitsphilologie 21, 166, 178 metamehrsprachig 169 Metamehrsprachigkeit 169 multilingual 39, 107, 116, 145, 147, 150, 161, 289 multilingualism 150f., 153, 160, 223 textexterne Mehrsprachigkeit 79, 82-84, 86f., 94f. textinterne Mehrsprachigkeit 82, 94, 202 textübergreifende Mehrsprachigkeit 82 mehr-sprachlich 14, 247, 260, 263 Melodie 87, 293 Metapher/ metaphor 13, 17, 19, 73, 185, 199f., 202-204, 206, 242f., 250, 287f. metaxu 292, 296 Migrant/ in 12, 104, 113, 121, 123, 129-131, 133, 137, 139, 141, 146, 177 Migration 99, 103, 122, 128, 131, 175 Migrationsautor 175 Migrationserfahrung 104, 108 Migrationshintergrund 102f., 123, 169, 208f. Migrationsliteratur 122f., 133, 174, 248 Minderheit 41, 48, 59, 62, 65, 80, 84, 248, 250, 253, 256 Mischsprache 44, 240 mischsprachig 125 Mobilität 12, 121-124, 127-129, 141, 194 mobil 122 modernaus meno centras 89 Mongolei 141 monolingual 223, 233, 238f., 248 monolinguales Paradigma 165f., 169, 175, 177f., 184, 223, 231, 235f., 238f. Mündlichkeit 25, 42, 74, 201, 276f. mündlich 39-44, 65, 76, 111, 113, 187f., 276 Muttersprache/ mother tongue 19, 21-23, 32, 50, 52-54, 80f., 83f., 95, 104, 106, 112, 129, 132, 169f., 177, 184, 189, 199f., 206f., 217, 223f., 236f., 239f., 288 Stiefmuttersprache 206f. Na’vi 282 Nadsat 282 Narratologie 281 Nation 32f., 35, 80, 122, 184, 195, 203, 224, 236f., 273 national 11, 13, 21, 23f., 26, 30, 35, 43, 48, 62f., 80, 85, 95, 183, 200, 206, 209, 237, 240, 270f. Nationalismus 25, 186, 273 nationalistisch 273 Nationalsprache 7, 26, 35, 111, 125, 183, 190f. Nazi 156, 270, 272-274 nationalsozialistisch 253, 282 Neue Strömung 91 Neusprech 282 non-native language 287, 294 312 Sachregister Norwegen/ Norway 14, 289 Norwegisch/ Norwegian 14, 289, 296f., 300 Oralität 276 oral 276 Orbita 92-94, 96 Originalität 22-25 Originalitätsästhetik 15, 22, 25 Orthographie 28-30, 72 Österreich 9, 169, 174, 176, 190, 247, 250, 253, 255, 257f. Osteuropa 50, 62, 208 Osteuropäer 139f. osteuropäisch 130, 133, 135, 139, 141 parole 19f. Partikularität/ particularité 29, 231f. historisch-partikular 232, 234 partikular 230, 235 Performanz/ performance 92, 290, 293 performativ 92, 193, 233, 236, 280 Pfingstwunder 16 Philologie 26, 165f., 178 poetic language 287, 294 Poetik/ poetics 7, 134, 149f., 160, 173, 184, 193, 199f., 222, 231, 243, 290f., 293, 295, 298, 300 poetisch 11, 13, 15, 21-23, 94, 183f., 191, 193, 199, 201, 205, 209, 225, 229f., 236, 238f., 241f., 251, 254f., 260 poetologisch 14, 252, 260 Polen 85, 130 polnisch 42, 83, 85, 88, 95 Polnisch/ Polish 41, 55, 60, 84f., 89, 95, 291, 293 Politik/ politics 9f., 16f., 39, 80, 109f., 159, 200, 222, 258, 268-270, 279, 283 Kulturpolitik 26, 34, 99 kulturpolitisch 11, 15f., 128, 236, 241, 259 politisch/ political 9-13, 15-19, 21, 23, 25f., 34, 39, 48, 50, 56, 60-62, 64, 66, 70, 76, 79, 82, 86-89, 95, 106, 121, 127, 130, 137, 140f., 145, 154, 156f., 160f., 165f., 175, 183, 195, 199f., 202, 206-209, 223, 229- 231, 237, 250f., 267-275, 278-280, 282f. Politische, das 8f., 267, 269, 280 Verwurzelungspolitik 80 polyglott 128, 199, 271f. Polyphonie 111, 141, 166, 170 Popularisierung 85, 87, 89 portugiesisch 201, 234 Postmoderne 269f. postmodern 12, 107, 149, 268f., 278 postmonolingual condition 223, 236 quersprachig 131 radijo ir televizijos rėmimo fondas 89 recipistolary 146, 149 recipistonovel 149 relativistisch 185, 189, 195, 224, 235 Kulturrelativismus 230 Sprachrelativismus 233 Rhetorik/ rhetoric 18, 149, 229, 290 Rhythmus/ rhythm 7, 29, 87, 94, 106, 222, 293 Robert Bosch Stiftung 174 Russifizierung 41, 50, 63, 80, 95 Russland 41, 69, 87, 90, 101, 103, 106, 176, 275 russisch 26, 41f., 44, 50, 52-54, 56, 62, 64f., 67-70, 79-84, 86-89, 91-96, 100-104, 106-108, 110-113, 116, 130, 132, 138f., 236, 263, 282 Russisch/ Russian 10, 12, 41, 43, 48- 53, 55f., 60, 63-70, 75f., 80-96, 313 Sachregister 99-103, 106, 109, 111, 116, 135, 139, 150, 153, 203, 225, 234 schreiben zwischen den kulturen (Literaturwettbewerb) 174 Schrift 11, 17, 22, 39f., 42, 47, 68, 114, 171, 213f., 217, 223, 232, 241, 275, 277 schriftlich 39-44, 276 Schriftlichkeit 17, 39f., 42, 276f. Schriftsprache 29, 41f., 47f., 53 Schweden 48f., 64, 177 schwedisch 41, 49, 66, 90 Schwedisch 41, 48f., 60, 66f. Schweiz 9, 64, 85, 207, 275f. Schweizer 275f., 280 Schweizerdeutsch 276, 280 Schweizer Buchpreis 176 Science-Fiction 101, 282 Selonisch 40, 42 Semgallisch 40, 42 Semiodiversität/ semiodiversity 34, 201, 209, 235f., 241 serbisch 167f., 175 Serbisch 167f., 172f., 253 skandinavisch 91, 95, 105 slang 176, 187 Slowenien 189, 192 Slowene/ Slowenin 251-253, 255, 261 slowenisch 13, 190, 192, 247-250, 253f., 256-262 Slowenisch 247-250, 253, 257, 259- 262 socialist realism 156 Solipsismus 185, 189, 195 somalisch 167 Sowjetunion 50, 79-83, 88, 99, 102f., 105, 113, 208 postsowjetisch 11, 90, 102, 133, 138f. sowjetisch 88, 90f., 95, 101, 111 sowjetisch/ Soviet 10f., 49, 79-83, 85, 87f., 91, 95f., 106, 115, 138, 149- 153, 155-158, 160f. Sowjetisierung 100 Sowjetmacht 100, 115 Sowjetzeit 50, 60, 81, 84, 92 Soziolekt 21, 126f., 141, 170, 185, 188 Spanien 203, 205, 207 Spanisch 96, 111, 116, 199f., 202f., 205 südamerikanisches Spanisch 201 Spaudos 89 Sprachalternative 14, 267 Sprachdifferenz 127, 129, 233 Sprache, fiktiv 281f. Sprache, gesprochene 40-42, 66, 75, 187, 251 Sprache, natürliche 279f. Sprachenstreit 253, 261 Sprachenvielfalt 69, 224, 230, 235, 237 Spracherwerb 195, 250 Sprachgebrauch 18, 33, 43, 140, 185 Sprachgefängnis 195, 240 Sprachgrenze 131, 166f., 184, 193f., 249, 255, 263 Sprachgrenzüberschreitung 122, 132 Sprachigkeit 190, 193, 248, 263 Sprach-Inspektion 89 Sprachkenntnisse 42, 123, 131, 137 Sprachkollektiv 123, 130 Sprachkommission 90 Sprachkompetenz 138, 176, 178, 281 Fremdsprachenkompetenz 123, 130, 137, 141 Sprachkonflikt 131 Sprachkonstitution 8 Sprachkontakt 69, 72, 123, 237 Sprachkonvention 7, 131, 263 Sprachkörper 216 314 Sachregister Sprachkritik 122, 187, 236, 241 Sprachlandschaft 193, 255 Sprachlatenz 94 Sprachmaterial 23, 66, 86, 185, 187 Sprachmaterialität 200 Sprachmischung 66, 69f., 73, 124-126, 128, 134-137, 170, 213, 249 Sprachpolitik 10, 17, 32, 34, 80, 90, 109, 111, 282 Sprachenpolitik 79, 253 sprachpolitisch 25, 84, 96, 127 Sprachpolizei 90, 225, 239 Sprachpurismus 124, 140 Sprachreflexion 122, 126 Sprachregeln 191, 263 Sprachskepsis 195 Sprachstrukturen 7, 13, 19, 213, 219 Sprachvielfalt 15-19, 21f., 25-28, 31, 34, 131, 201 Sprachwechsel 12, 56, 66, 69, 75, 83, 85f., 95, 121, 124-126, 128, 132, 134-136, 138, 141, 168, 170, 247, 249-251, 259- 261, 271-273, 279 Sprachwechsler 86 Sprachzensur 90 Stalinismus 278 stalinistisch 104, 282 Standard 28, 32, 51, 53, 110 Standardisierung 25, 31-33 Stimme, fremde 192 Vielstimmigkeit 137f. Subjekt 200, 218f., 221 Subjektivität 218, 236, 242 Synchronie 16, 19, 31, 34 Synchronisierung 15f., 30f., 35 Synchronizität 31f., 34 Thailand 137, 139, 141 Thailänder 135 Transgression 225 Transkulturalität 104, 122 transkulturell 12, 59f., 99, 102-106, 112, 115f., 137, 141, 178 translational 173 translingual 167, 200, 202f., 229f., 238f., 243 transmedial 141 transnational 13, 122, 127, 207, 214, 237 Türkei 113 türkisch 107, 112f., 167, 175 Übersetzung/ translation 8, 11, 13, 15, 23, 27f., 32-34, 42, 53, 61, 65, 67, 69-71, 74, 76, 79, 83, 85-89, 92-96, 100f., 107, 111, 125f., 131, 133, 158f., 167f., 172f., 177, 190, 193, 199, 201, 214, 219, 229f., 232-235, 237f., 240-242, 263, 278, 289, 294f., 297 Fremdübersetzung 83f. Lehnübersetzung 69, 71, 94 Selbstübersetzung 83 unübersetzbar 108, 185, 201 Unübersetzbarkeit 184, 186, 189, 201, 241 Unübersetzbarkeit/ intraduisibles 219, 229, 231, 233-236, 238f., 241 Unübersetzbarkeiten/ intraduisibles 13, 219, 231, 233 Wort-für-Wort-Übersetzung 96 Ukrainisch 83, 175, 203, 234 Umsiedlung 50, 60 Ungarisch 18 Universalität 13, 229-232, 234-236, 238f., 242f. Universalismus/ universalisme 13, 24, 229-232, 234f., 238 universalistisch 185, 224, 234 universell/ universel 229-232, 234f., 237, 242 315 Sachregister utopisch 94, 269, 276f., 280 Variante 27, 29, 170, 272 Varianz 28 Varietät 65f., 126, 140, 248 Sprachvarietät 125, 127 verschiedensprachig 124 Vielsprachigkeit 107 Volk 11, 23f., 28f., 31, 40, 71f., 75, 216, 237, 258 volksaufklärerisch 47 Volksdeutsch 208 Volkslied 11, 15f., 21, 23-27, 30, 72, 85, 90, 95, 186-188 Volkssprache 39f., 85 Waliser 138 Weißrussland 81, 84 weißrussisch 84f. Welt, fiktionale 267, 269f., 274f., 281f. Weltalternative 274, 279 Weltanschauung 91, 276, 278 Weltansicht 7-9, 13, 203, 213, 216, 219, 221-224, 232, 234, 236, 238f. Weltkrieg 188 Erster Weltkrieg 10, 63, 253 Zweiter Weltkrieg 12, 49, 53, 57, 60, 64, 88, 91, 104, 121, 171, 273 Weltliteratur 84, 95, 100, 102f., 113, 115, 127, 173, 249 Woten 48 Zeitgemäßheit 17 Unzeitgemäßheit 30 zeitgemäß 16, 18, 24-26 Zitat 28, 82, 94, 103, 108, 110f., 113, 127f., 132, 136, 173, 185, 187, 189, 193, 201, 216, 249, 278 Zitatgrenze 185 Zitatwort 65 Zitierbarkeit 187 zitierbar 187f. Zweisprachigkeit 43f., 46, 51, 83, 88, 92, 94f., 113, 121-123, 136f., 139, 141, 188, 250, 262 zweisprachig 43, 46, 51, 83, 86, 92- 94, 96, 102, 116, 131, 134, 183f., 188, 203, 217, 248, 253f., 262 Zweitsprache 9, 101, 107, 111, 214, 240 316 Sachregister Personenregister Aistis, Jonas 85 Aivars, Eduards 94 Alexander III 41 Alunāns, Juris 11, 15f., 25f., 31f., 34 Anderson, Benedict 31, 237 Apter, Emily 201 Aragon, Louis 278 Aristoteles/ Aristotle 290 Aristotelisch/ Aristotelian 157 Bachmann, Ingeborg 175f. Bachtin, Michail 20, 46, 166, 170, 188 Balmont, Konstantin 86 Baltakis, Algimantas 87 Baltrušaitis, Jurgis 86f. Baranauskas, Antanas 84f. Barons, Krišjānis 11, 15f., 25-32, 34 Barthes, Roland 146, 239, 241 Beckett, Samuel 83 Bembo, Pietro 203 Benjamin, Walter 239, 252 Benveniste, Émile 7 Bernhard, Thomas 167, 177 Bernotas, Albinas 87 Blaumanis, Rūdolfs 90 Brazdžionis, Bernardas 85, 87 Braziūnas, Vladas 87 Brjussow, Waleri 86f. Brockmann, Reiner 47 Brodsky, Joseph 88, 167 Buber, Martin 221 Bulgakov, Michail 102, 114f., 151 Burgess, Anthony 282 Byron, George Gordon 87 Čak, Aleksandr 91 Canetti, Elias 125, 167, 200 Cassin, Barbara 13, 201, 219, 229-234, 236, 238, 241, 243 Celan, Paul 83, 96 Chamisso, Adelbert von 167 Chanin, Semjon 92, 94 Chodsher, Georgij 83 Chomsky, Noam 231f. Coetzee, J.M. 203 Cohen, Leonard 290, 297 Conrad, Joseph 167 Dabić, Mascha 167f., 172f. Damdinov, Nikolaj 83 Danilov, Semjon 83 Dante, Alighieri 152, 186, 188, 194, 206 Dath, Dietmar 278 Davainė, Elvyra 130 Deleuze, Gilles 234 Derrida, Jacques 20, 173, 234, 239 Descartes, René 291 Diagne, Souleymane Bachir 13, 229f., 232- 235, 238, 242f. Dick, Philip K. 268 Dinić, Marko 175 Dor, Milo 177 Draguns, Pēteris 94 Eco, Umberto 8 Efremow, Georgi 87 Ehin, Kristiina 289 Eliot, T.S. 13, 184-186, 188-190, 195 Elsbergs, Jānis 94 Enzensberger, Hans Magnus 96 Erasmus of Rotterdam 154 Faehlmann, Friedrich Robert 47 Filip, Ota 83 Fleming, Paul 44, 47 Foucault, Michel 223 Gaidar, Arkadi 83 Gardi, Tomer 175f. Gira, Liudas 88 Glazova, Jelena 92 Goebbels, Joseph 270 Goethe, Johann Wolfgang von 152, 158, 203 Gogol, Nikolai 146 Goldschmidt, Georges-Arthur 83 Goll, Yvan 83 Gramling, David 33f., 170, 184, 208, 231, 235f., 238 Green, Julian 203 Grušaitė, Gabija 12, 121, 123, 131-134, 137, 139-141 Guo, Xiaolu 238 Haderlap, Maja 13, 247-263 Halliday, M.A.K. 201, 235 Hamsun, Knut 87 Harder, Christoph 153 Hauptmann, Gerhart 87 Heidegger, Martin 203, 234 Heine, Heinrich 18, 91 Herder, Johann Gottfried 10f., 15f., 21-26, 29, 32, 34, 62, 224, 237 Hesse, Carl Hermann 63 Hesse, Hermann 63 Hitler, Adolf 91, 270, 273f. Hobbes, Thomas 288, 299 Hoffman, Eva 200 Homer 114f. Horkheimer, Max 222 Hug, Annette 238 Humboldt, Wilhelm von 7, 20, 185, 213, 216, 224, 231-233, 242 Hunnius, Monika 12, 61f., 69, 71f. Ibsen, Henrik 87 Ionesco, Eugène 83 Ishiguro, Kazuo 167 Ivask, Ivar 49 Iwanow, Wjatcheslaw 86 Johnson, Ben 160 Joyce, James 113, 148f., 151, 160 Kafka, Franz 226 Kalkun, Andreas 53 Kallas, Axel 48 Kaminer, Vladimir 113 Kant, Immanuel 10, 226, 276 Kaplan, Alice 200 Kaplinski, Jaan 54-56 Kaudzīte, Matīss 152 Kaunaitė, Unė 129, 140 Kellman, Steven G. 167, 170, 200, 203 Kierkegaard, Søren 87 Kissina, Julia 203 Kitzberg, August 45 Klemperer, Viktor 161 Kmitas, Rimantas 90 Koidula, Lydia 46 Korsakas, Kostas 88 Kotjuh, Igor 52f., 101, 116, 289 Kotzebue, August von 46 Kracht, Christian 14, 267, 269f., 275-280 Kramsch, Claire 199-201 Kreutzwald, Friedrich Reinhold 46 Kross, Jaan 51 Kulbak, Moische 85 Kuliew, Kajsyn 83 Lacan, Jacques 234 Langa, Liana 94 Lange, Jacob 153 Leibniz, Gottfried Wilhelm 217 Lermontov, Michail 83, 88, 137f. Lerner, Ben 110, 287, 292-294, 298 Lévi-Strauss, Claude 146, 239 318 Personenregister Lotman, Juri 56 Luce, Johann Wilhelm Ludwig 47 Mačiulytė-Guilford, Irena 122 Majakowski, Wladimir 91 Maljartschuk, Tanja 175 Malm, Jacob Johann 45f. Mancelius, Georg 153 Marčėnas, Aidas 87 Marcinkevičius, Justinas 87 Markosjan-Käsper, Gohar 12, 99-104, 106-108, 111-114, 116 Marković, Barbi 12, 165-168, 170-175, 177f. Marlowe, Christopher 152, 160 Martinaitis, Marcelijus Teodoras 87 Martynov, Leonid 88 Martynowa, Olga 175 Mauthner, Fritz 240 Mbembe, Achille 230 Meneghello, Luigi 238 Ménochet, Denis 271 Merleau-Ponty, Maurice 230, 242f. Meschonnic, Henri 7f., 222, 231, 234 Mickiewicz, Adam 83 Mieželaitis, Eduardas 87f. Miłosz, Czesław 88, 203 Mora, Terezia 176 Muktupāvela, Laima 146 Müller, Georg 46 Nabokov, Vladimir 83, 167 Nadj Abonji, Melinda 176 Nėris, Salomėja 85, 88 Niedra, Andrievs 90 Nietzsche, Friedrich 18, 224, 233 Nyka-Niliūnas, Alfonsas 85 Ødegård, Knut 289 Ödipus 277 Oliver, José F.A. 13, 174, 199-202, 204f., 207-209, 238 Orwell, George 274, 282 Ostashevsky, Eugene 94 Otoo, Sharon Dodua 175f. Özdamar, Emine Sevgi 112, 167, 175, 236 Özdogan, Selim 175 Papievis, Valdas 122, 128 Parmakson, Priit 53 Peterson, Kristian Jaak 47 Petrowskaja, Katja 175 Pitt, Brad 270 Platon/ Plato 292, 296 Praniauskaitė, Karolina 84 Pseudo-Virgil 154 Pujāts, Marts 94 Pukytė, Paulina 130, 141 Punte, Artur 92f. Puschkin, Alexander 83, 88, 91 Putrius, Birutė 122, 128 Rabelais, François 146, 152 Radauskas, Henrikas 85 Rainis 91, 158 Rakusa, Ilma 263 Rancière, Jacques 269, 283 Rangøy, Øyvind 14, 51, 53, 6, 290, 295, 297 Ransmayr, Christoph 268 Raups, Edvīns 94 Rilke, Rainer Maria 49, 56 Rokpelnis, Jānis 94 Rytcheu, Jurij 83 Saarsen, Karin 49 Said, Edward 203 Salējs, Māris 94 Saussure, Ferdinand de 16, 19f., 276 Scego, Igiaba 167 Schaper, Edzard 12, 61, 64, 69-71, 73f., 76 Schewtschenko, Taras 83 Schickele, René 83 Schiller, Friedrich 91 Schleiermacher, Friedrich 224 319 Personenregister Schultz-Bertram, Georg Julius von 12, 48, 61f., 66, 68f., 71f., 76 Sebestyén, György 177 Semprún, Jorge 83, 203 Senocak, Zafer 107, 113 Şenocak, Zafer 107, 113, 116 Shakespeare, William 91, 152, 190f., 193 Šileika, Antanas 122 Šklovskij, Viktor 166, 225 Słowacki, Juliusz 85 Sodums, Dzintars 148 Sruoga, Balys 85 Stanišić, Saša 176 Staponkutė, Dalia 122, 128f. Stavans, Ilan 200 Steiner, George 247, 263 Stender, Gotthard Friedrich 47 Strielkūnas, Jonas 87 Strindberg, Johan August 87 Suits, Gustav 56 Tagore, Rabindranath 87 Tarantino, Quentin 14, 267, 269f., 272f., 275, 279f. Tawada, Yoko 13, 112, 213-223, 225f., 231, 236, 238-243 Timofejew, Sergej 92 Toona, Elin 49 Torvund, Helge 289 Trabant, Jürgen 7, 231, 242 Uallik, Zhorzh 92 Ülle, Kauksi 53 Under, Marie 43 Unt, Mati 51 Urbonaitė, Audronė 130 Veiknys, Aivaras 87 Venclova, Antanas 88 Venclova, Tomas 88 Vērdiņš, Kārlis 94 Vertlib, Vladimir 176 Veteranyi, Aglaja 112 Wallerstein, Immanuel 229 Waltz, Christoph 270 Waterhouse, Peter 13, 173, 183f., 189f., 192-195 Webermann, Otto Alexander 57 Werner, Johannes 62, 67, 124 Wilde, Oscar 87 Wittgenstein, Ludwig 8 Yildiz, Yasemin 25, 32, 165f., 169, 177, 184f., 189, 195, 200, 203, 206, 223f., 231, 235f. Zagajewski, Adam 287, 290-293, 296 Zapol, Alexander 91f., 94 Zariņš, Marģers 12, 145, 148-160 Zé do Rock 175 320 Personenregister Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg), Rolf Parr (Duisburg-Essen) Bisher sind erschienen: Band 1 Marion Acker / Anne Fleig (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2019, 286 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8657-1 Band 2 Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext 2019, 317 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8676-2 Band 3 Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur 2020, 320 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8712-7 ISBN 978-3-7720-8712-7 www.narr.de Dieser Band vermittelt Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Der besondere Schwerpunkt liegt auf der Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit und dem Politischen. Der politische Aspekt bleibt dabei nicht auf das politische Engagement der Autorinnen und Autoren oder die erzählten politischen Hintergründe beschränkt, sondern das Politische des Literarischen selbst wird in dem Sinne miteinbezogen, dass der politische Raum durch kulturelle Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten. Mit Yoko Tawada, José FA Oliver, Christian Kracht, Peter Waterhouse, Barbi Marković, Marģeris Zariņš und Gohar Markosjans sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.